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German Pages [389] Year 2018
Stephan Meder
Der unbekannte Leibniz Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie
Böhlau Verlag wien Köln weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Fotografie: David. B. Erhardt Motiv: Aus Leibniz‘ handschriftlichen Aufzeichnungen für eine zweite Ausgabe der Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae vom Januar 1695, 1 Bogen folio (Signatur der GWLB: LH II, I Bl. 1r) Korrektorat : Ina Krückeberg, Hannover Einbandgestaltung : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz : Michael Rauscher, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50065-8
Inhaltsübersicht
Vorwort Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Einleitung I. TEIL Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph 2. Kapitel Das Corpus Iuris Reconcinnatum 3. Kapitel Die Lehre von den drei Stufen des Naturrechts 4. Kapitel Blick auf die Gegenwart : Aequitas, ›Natur der Sache‹ und 5. Kapitel 6. Kapitel
›Materialisierung‹ des Rechts Leibniz’ Idee der Souveränität : Einheit in der Verschiedenheit Inhalte von Leibniz’ Reformbestrebungen : Das Urheberrecht als Beispiel
II. TEIL
Korrelate von Metaphysik und Jurisprudenz bei Leibniz unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit 7. Kapitel Metaphysische Fundierung der Billigkeit 8. Kapitel Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik 9. Kapitel Die Monadologie als Grundlegung einer Metaphysik des Rechts 10. Kapitel Der Anteil des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit und strengem Recht III. TEIL Rezeption von Leibniz’ Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert 11. Kapitel Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen
Rechtsschule : Savigny und Hugo
12. Kapitel Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen
Rechtsschule : Jhering und Gierke
Schlussbemerkung Verzeichnis der Quellen und Literatur Personenregister Sachregister
Vorwort
Gottfried Wilhelm Leibniz gehört zu jenen Denkern, die heute wieder zunehmend in den Fokus der Wissenschaften treten. Dass wir über ihn eigentlich nicht viel wissen, hat mindestens drei Gründe: Die unglückliche Editionsgeschichte seiner Schriften, die Trivialisierung seiner Lehre durch die sogenannte Leibniz-Wolff ’sche Schule, der Mangel an Übersetzungen. Erst in den letzten Jahren beginnt die Wissenschaft zu entdecken, dass sich auf Grundlage von Leibniz’ Philosophie ‚Modernität‘ in besonderer Weise verstehen und erklären lässt. Dies gilt auch für seine Philosophie des Rechts und der Politik, die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden. Mein Dank gebührt Wenchao Li (Potsdam) und Hartmut Rudolph (Hannover), die mich auf meinen ersten Schritten in Richtung Leibniz begleitet und ermutigt haben. Ich danke darüber hinaus Matthias Armgardt (Konstanz), Hubertus Busche (Hagen) und Ursula Goldenbaum (Atlanta) für die lebhaften, nicht selten kontroversen, Diskussionen am Rande der Tagungen anlässlich des 300. Todestages 2016 in Konstanz, Mainz, Hannover, Hagen und Zürich. Im Übrigen habe ich von vielen Seiten Hilfe erfahren. Herrn Cedric Kühn danke ich für seine bisweilen diffizilen Literaturrecherchen, Frau Janina Schaffert für die Unterstützung bei der Erstellung der Literaturverzeichnisse, Frau Ina Krückeberg für die kompetente Redaktion des Manuskripts einschließlich der Korrekturen und Herrn Alexander Ihlefeldt für die Anfertigung der Register. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Niedersächsischen Landesbibliothek (GWLB) habe ich für die Unterstützung bei der Ermittlung der Quelle des Covermotivs zu danken. Und schließlich danke ich Herrn David B. Erhardt für die Gestaltung seiner Fotografie einer Seite aus Leibniz’ handschriftlichen Aufzeichnungen für eine zweite Ausgabe der Nova methodus vom Januar 1695. Hannover, im Juni 2018
Stephan Meder
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Kapitel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15 15 17 21 24
I. Teil Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph. . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2. Kapitel Das Corpus Iuris Reconcinnatum. . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 33 35 36 39 42
I. II. III. IV.
Stationen seines Lebens. . . . . . . . . . . . . . . Entdeckung der Jurisprudenz durch Philosophie . Der unbekannte Leibniz.. . . . . . . . . . . . . . Gang der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . .
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I. II. III. IV. V. VI.
Leibniz als Rechtsreformer in Mainz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reconcinnation als Rechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mängel des gegenwärtigen Rechtszustands als Ausgangspunkt .. Die Durchführung des Kodifikationsplans.. . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis : Zur Fallorientierung der Rechtswissenschaft.. . . Dogmatik als Methode : Leibniz’ und Jherings ›Rechtsalphabet‹ im Vergleich . . . . . . . . . . VII. Das Corpus iuris Reconcinnatum – ein Projekt moderner Staatlichkeit ?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46 50 54
3. Kapitel Die Lehre von den drei Stufen des Naturrechts . . . . . . . . . .
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56 56
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58 59
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60
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64
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66
I. Die drei praecepta iuris als Einteilung des Rechts . . . . . . . . . . . II. Zur Vorgeschichte der Stufenlehre : Römische, mittelalterliche und humanistische Jurisprudenz . . . . . 1. Das ius strictum in der altrömischen Periode . . . . . . . . . . . . 2. Ius strictum und aequitas in der klassischen bzw. nachklassischen Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ius strictum versus aequitas non scripta : Die mittelalterliche Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von der humanistischen Jurisprudenz zum ›modernen‹ Staatsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III. Leibniz’ ius strictum als Element der Rechtsquellenlehre . . . . . . . . IV. Leibniz’ ius strictum innerhalb der Abstufungen des Naturrechts . . . 1. Das Verhältnis des ius strictum zu aequitas und pietas . . . . . . . . 2. Das Schema von Regel und Ausnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Durchsetzung und Erzwingbarkeit von ius strictum und aequitas .. V. Der subsidiäre Charakter des Naturrechts im zeitgenössischen System der Rechtsquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel Blick auf die Gegenwart : Aequitas, ›Natur der Sache‹ und ›Materialisierung‹ des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Von der aequitas zur ›Natur der Sache‹.. . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologische Petitessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Siegeszug der ›Natur der Sache‹.. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Entwicklungslinien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verletzung des Gebots einer Trennung von Sein und Sollen durch die ›Natur der Sache‹ ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gegenwärtigen Diskussionen über eine fortschreitende ›Materialisierung‹ des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Liberales« Privatrecht im 19. und »soziales« Privatrecht im 20. und 21. Jahrhundert ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Zurückverwandlung« eines Sozialmodells ? Ein schiefes Bild der Privatrechtsgeschichte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur Aktualität der zweigliedrigen Rechtsquellenlehre von Leibniz.. 1. Das »ius strictum« als Bollwerk gegen die politische Vereinnahmung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pro ratione stat voluntas versus pro voluntate stat ratio. . . . . . . IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
68 72 72 77 80 83 85
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87 87 89 90 95
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96
. 100 . 101 . 102 . 107 . 108 . 110 . 113
5. Kapitel Leibniz’ Idee der Souveränität : Einheit in der Verschiedenheit .. 115 Das Postulat einer geteilten Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Kritik des politischen Voluntarismus.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 ›Moderner‹ Einheitsstaat, Bundesstaat oder Staatenbund ? . . . . . . . 120 Das Heilige Römische Reich als corpus und persona . . . . . . . . . . 123
I. II. III. IV. V.
Die Körpermetapher als Grundlage von Leibniz’ politischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheit in der Vielheit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Thematisierung von Dysfunktionalitäten . . . . . . . . . . 3. Steuerung multipler Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . .
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125 125 126 128
Inhaltsverzeichnis
VI. Die Kirche als »persona iuris« . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Das Heilige Römische Reich als ›Modell‹ für ein Europa der Nationen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . 129 . . . . . 135 . . . . . 135 . . . . . 137
6. Kapitel Inhalte von Leibniz’ Reformbestrebungen : Das Urheberrecht als Beispiel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Das Projekt eines »Nucleus librarius semestralis«. . . . . . . . . . . . 140
II. Begründung des ›Urheberrechts‹ auf Basis von Billigkeit und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Argument der Billigkeit in der Briefstelle vom 19. Dezember 1669 . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Veröffentlichung des »Codex Juris Gentium Diplomaticus«. . . . Zur Marktmacht der Verleger um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Unerlaubter Nachdruck des Codex Juris Gentium Diplomaticus in den Niederlanden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Scheitern aller Rettungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhöhnung durch die niederländischen Verleger . . . . . . . . . . . VI. Schutz geistiger Werke durch Selbstregulierung der Wissenschaft. . . 1. Gruppenbildung zur Verteidigung gegen die Marktmacht der Verleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leibniz als Vorläufer der Lehre vom ›Geistigen Eigentum‹ ?. . . . . . VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Teil
143 145 147 148 149 151 152 154 157 157 159 160
Korrelate von Metaphysik und Jurisprudenz bei Leibniz am Beispiel der Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 163
7. Kapitel Metaphysische Fundierung der Billigkeit. . . . . . . . . . . . . . 169 I. Die Lehre von den beiden Reichen als Grundlage der Metaphysik. . . 169 II. Die Lehre von den beiden Reichen und das Konzept der Billigkeit .. 174 III. Exkurs : Leibniz’ Kritik des theologischen Voluntarismus . . . . . . . 175
IV. Funktionen der Billigkeit zwischen mechanistischer und organologischer Staatsauffassung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Staat – eine künstliche oder eine natürliche Maschine ?.. . . . . 2. Exkurs : Die Kontroverse mit Bayle über das autonome Fahren. . . . 3. Funktionen der Billigkeit zwischen Mechanismus und Organismus .. 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 180 184 186 188
11
12
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Inhaltsverzeichnis
V.
Die Billigkeit zwischen strengem Recht und höherer Gerechtigkeit .. 1. Divergenzen und Konvergenzen zwischen aequitas und ius strictum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konvergenzen und Divergenzen zwischen aequitas und pietas . . . . VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189 190 192 194
8. Kapitel Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 I. Der doppelte Charakter der Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 II. Billigkeit zwischen personaler Verantwortung und Heilsgeschehen .. 200 III. Ausgleich von Bosheit, Übel, Ungerechtigkeit im Reich der Gnade .. 203
IV. Unabhängigkeit normativer Gehalte des Naturrechts von der Theologie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit . . . . . . . . VI. Hermeneutische Billigkeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristische Hermeneutik in der Nova methodus . . . . . . . . 2. Das hermeneutische Moment in Leibniz’ Metaphysik . . . . . VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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205 209 213 214 217 223
9. Kapitel Die Monadologie als Grundlegung einer Metaphysik des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Die Monadologie als eine Rechtsphilosophie revisited ? . . . . . . . . 224 II. Kritik des »Influxionismus« und »Okkasionalismus«. . . . . . . . . . 227 III. Wechselbeziehungen zwischen Monaden : Das Leib-Seele-Problem .. 228 1. Wahrnehmung trotz operativer Geschlossenheit. . . . . . . . . . . . 231 2. Das Konzept wechselseitiger Repräsentationen und Expressionen .. 233 3. Verlangen nach Ausdehnung und dynamische Ausbreitung. . . . . . 237
IV. Beispiele aus der Jurisprudenz : Gottesurteil, Einflusstheorie und Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit als eingeborene Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Kapitel
I.
. . 240 . . 242 . . 244 . . 248
Der Anteil des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit und strengem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Erste Antworten der Metaphysik auf eine rechtsphilosophische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Das Streben nach Gerechtigkeit als Lust an der Vollkommenheit . . . 255
Inhaltsverzeichnis
III. Die Ordnungsfunktion der Gerechtigkeit : Vereinigung von Individual- und Kollektivwohl . . . . . . . . . . . . 1. »Liebe« – das erste Prinzip der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 2. »Weisheit« – das zweite Prinzip der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . 3. Glückseligkeit, Ordnung, Vollkommenheit und Harmonie zwischen Recht und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Individuum als Medium zur Verwirklichung der Gerechtigkeit .. 1. Vom Akt der Rechtsanwendung zum Akteur der juristischen Entscheidungsfindung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jan Klabbers’ Entwurf einer neuen Tugendethik. . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fortsetzung : Der ›Akteur‹ als Spiegel der notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Teil
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257 257 259 261 263 264 267 269 271 274
Rezeption von Leibniz’ Rechtsphilosophie im 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 277
Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule : Savigny und Hugo . . . . . . . . . . . . . . . . 279 I. Konvergenzen im Rechtsdenken von Savigny und Leibniz . . . . . . . 280 1. Mit den »Begriffen rechnen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Theoria cum praxi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3. Didaktische Funktionen der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4. Die römischen Juristen als »fungible Personen« . . . . . . . . . . . . 287 5. Ablehnung des Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 6. Praecepta iuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7. Unterschiede zwischen Leibniz und Savigny. . . . . . . . . . . . . . 294 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 II. Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm.. . 295 1. Hugos »drey Punkte« der Jurisprudenz.. . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Innere und äußere Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3. Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 11. Kapitel
12. Kapitel
I.
Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule : Jhering und Gierke. . . . . . . . . . . . . . . . 302 Jhering liest Leibniz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Ars combinatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Der »Ort unseres Auges« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
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14
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Frage der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 4. Die Nützlichkeit des Sittlichen – ein göttliches Wunder ? . . . . . . . 309 II. Sonstige Autoren und Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 IV. Leibniz’ politische Philosophie als Fußnote der Rechtsgeschichte : Die Kritik von Gierke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Die Kontroverse zwischen Gierke und Ruck über Leibniz’ Staatsidee . 312 2. Würdigung von Gierkes Leibniz-Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Der Staat als politischer Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Juristische Fiktion und Verdoppelung des politischen Körpers . 317 c) ›Natürlicher Körper‹ und ›Maschine‹ als Imaginationen des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 4. Weitere Äußerungen von Gierke über Leibniz : Relative Souveränität, Föderalismus, Bundesstaatstheorie . . . . . . . . . . . 323 5. Eher Leibniz als Althusius ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Schlussbemerkung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 I. Hat uns Leibniz als Jurist heute noch etwas zu sagen ? . . . . . . . . . 329 II. Metaphysische Fundierung des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 III. Zu den Errungenschaften von Leibniz’ Metaphysik. . . . . . . . . . . 333 Verzeichnis der Quellen und Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Quellen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 1. Briefe und Eingaben von Leibniz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2. Briefe an Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Schriften von Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 a) Datierte Schriften.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 b) Undatierte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 4. Weitere Primärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 II. Verwendete Sammelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 III. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
I.
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
1. Kapitel
Einleitung
Ist Leibniz der letzte Vertreter barocker Universalgelehrsamkeit, Initiator ›moderner‹ Staatlichkeit oder der erste Globaldenker und damit Vorbote einer neuen Zeit ? Die Diskussionen über das Leibniz-Bild sind wieder in Fluss gekommen.1 Dabei herrscht Einigkeit, dass Leibniz mit seinen Arbeiten in den Gebieten von Philosophie, Theologie, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft zu den wichtigsten Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens zählt. Aber gilt dies auch für seine Leistungen in den Rechtswissenschaften ? Leibniz’ juristische, rechtsphilosophische und politische Schriften werden oft nur als Ergänzung seiner Beiträge zum Fortschritt in der Mathematik, Logik oder Metaphysik wahrgenommen. Dieses Bild ist schief und bedarf der Korrektur. Als Vordenker der Kodifikationsidee und des politischen Pluralismus hat Leibniz eine Methodologie des Rechts mit großer Wirkungsmacht entwickelt. In seiner Rechtsphilosophie trifft er eine kategoriale Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht, so dass er imstande ist, Antworten auch auf aktuell diskutierte Fragen zu geben. Beispiele wären die Kontroverse um das Verhältnis von formalen und materialen Elementen im Recht oder die Diskussionen über eine Abgrenzung von Recht und Nicht-Recht. Aus unserer heutigen ›globalen‹ Perspektive muss darüber hinaus interessieren, dass Leibniz in transnationalen Größenordnungen dachte. Er gehört zu den ersten Theoretikern einer europäischen Föderation, ohne es zu versäumen, Respekt vor außereuropäischen Völkern anzumahnen. Eurozentrismus lag ihm fern. In seinen Schriften über die chinesische Kultur äußerte er einmal sogar den Wunsch, dass ihre Vertreter den Okzident bereisen, um die Europäer den richtigen Gebrauch der Vernunft zu lehren.
I. Stationen seines Lebens Als Rechtsdenker kennen Leibniz selbst die meisten Juristen heute nicht mehr. Dies steht in einem eklatanten Missverhältnis zur zentralen Rolle, welche die Jurisprudenz in seinem Leben, und zwar vom Studium bis zum ›Sterbebett‹ gespielt hat : Leibniz wurde als Sohn einer Juristenfamilie zwei Jahre vor dem Ende 1 Siehe die Beiträge von Michael Kempe und Maria Rosa Antognazza, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 11–37 und S. 401–410.
16
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Einleitung
des Dreißigjährigen Krieges 1646 in Leipzig geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in Leipzig und Jena. 1667 ist er von Johann Wolfgang Textor (1638–1701) an der 1526 in Nürnberg gegründeten Universität Altdorf zum Doctor juris utriusque promoviert worden. Bereits 1665 hatte er der juristischen Fakultät in Leipzig eine zivilrechtliche Arbeit über die Lehre von den Bedingungen (doctrina conditionum) vorgelegt und 1666 mit seiner Dissertation De arte combinatoria den Titel eines Doktors in Philosophie erlangt. Angesichts dieser Vorarbeiten bot ihm der Leiter des Unterrichtswesens der Stadt Nürnberg, Johann Michael Dillherr (1604–1669), im Anschluss an seine mit Bravour bestandene juristische Promotion 1667 eine Professur an. Leibniz lehnte die Berufung jedoch ab : »Mein Geist bewegte sich in eine ganz andere Richtung.« Ob er schon damals ahnte, dass die praktische Jurisprudenz sein »eigentliches Berufsfach« werden sollte, wissen wir nicht.2 1668 findet Leibniz eine erste Anstellung am Hofe des Kurfürsten und Reichskanzlers Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) in Mainz, dem er sich durch seine Ende 1667 verfasste »Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren« (Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae) empfohlen hatte. Dort verfolgte er, 1670 zum Revisionsrat am Oberappellationsgericht ernannt, ein wahrhaft pionierartiges Vorhaben. Es handelte sich um nichts Geringeres als die Vorbereitung der ersten modernen Kodifikation, des sogenannten Corpus Iuris Reconcinnatum. In den Jahren von 1672 bis 1676 führten ihn Reisen nach Paris und London, wo er vornehmlich naturwissenschaftliche und mathematische Studien betrieb. Ende 1676 folgte er einem Ruf von Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Calenberg (1625–1679) auf eine Hofrats- und Bibliothekarsstelle nach Hannover.
2 Vgl. Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 3–150, 48. Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 27–117 ; Klaus Luig, Leibniz, in : Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon (2001), S. 384–386, 385. Das Standardwerk über das Leben von Leibniz ist nach wie vor die Arbeit von Guhrauer, G.W. Leibnitz. Eine Biographie, 2 Bde. (1842–1846). Einen Überblick über die jüngere biographische Literatur geben Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (1996), S. 278, und Maria Rosa Antognazza, Leibniz : An Intellectual Biography (2009). Dass Leibniz selbst in der Jurisprudenz sein »eigentliches Berufsfach« gesehen hat, ist einem Brief an Herzog Johann Friedrich vom Februar (?) 1677 zu entnehmen, in : Akademie-Ausgabe (im Folgenden AA) I 2, S. 19–21, 20. In seinen »Selbstbiographischen Aufzeichnungen«, welche die ersten zwanzig Lebensjahre umfassen, äußert er sich über seine Berufswünsche mit den Worten : »Ich fand nämlich Freude am Amte des Richters«, Leibniz, Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata, in : Onno Klopp, Die Werke von Leibniz (1864– 1884), Bd. I, S. XXXII–XLV, XXXVII. Dt. Übersetzung in : Wolf von Engelhardt (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz, Schöpferische Vernunft (1951), S. 397–410 und S. 518–522.
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In Hannover entfaltet Leibniz in den folgenden vierzig Jahren bis zu seinem Lebensende auf fast allen Gebieten der Wissenschaften eine rege Tätigkeit, die sich besonders in seinen berühmten Schriften, der Theodizee und der Monadologie, aber auch in einem ausgedehnten Briefwechsel mit über 1000 Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens niederschlug. Die Beschäftigung als Hofrat brachte es mit sich, dass die Jurisprudenz abermals sein »eigentliches Berufsfach« wurde. Dabei entstanden Schriften, die, wie Relationen oder Urteile, unmittelbar der Tätigkeit in der Justizkanzlei entsprungen sind, aber auch wichtige rechtshistorische, rechtsdogmatische und rechtsphilosophische Arbeiten, von denen als Beispiele hier nur die Ausarbeitungen der Tria Praecepta, die Schrift De Jure Suprematus, der Codex Juris Gentium Diplomaticus und die aus Gesprächen mit der Königin Charlotte Sophie von Preußen (1668–1705) hervorgegangene Méditation sur la notion commune de la justice genannt seien. Hinzu kamen Reisen und Aktivitäten als Mitglied der Akademien in Paris und London, die Gründung der Akademie in Berlin und eine ausgedehnte Tätigkeit als politischer Berater, nicht zuletzt von Zar Peter dem Großen (1672–1725), der ihn 1712 zum Geheimen Justizrat ernannte. Auch sein Kodifikationsprojekt verfolgte Leibniz in Hannover weiter. Nach Berichten von Augenzeugen fand sich auf seinem Sterbebett ein Exemplar der Nova methodus, die er überarbeiten und in einer zweiten Auflage publizieren wollte.3
II. Entdeckung der Jurisprudenz durch Philosophie Warum haben Leibniz’ Rechtsideen, zumal unter Juristen, bis heute so wenig Resonanz gefunden ? Die Ursachen sind vielfältig. Sie liegen wohl zunächst in der Interdisziplinarität seines Denkens, das nicht nur für viele Zeitgenossen, sondern auch für die moderne Rechtswissenschaft eine große Herausforderung 3 Guhrauer, Leibniz-Biographie, Bd. II (Fn. 2), S. 330. In den Jahrzehnten nach Erscheinen der Nova methodus hat Leibniz wiederholt versucht, den Text zu revidieren. Eine völlige Umgestaltung ist jedoch nicht erfolgt. Ebenso wenig existiert das Manuskript einer zweiten Auflage. Es gibt aber eine Reihe von Bemerkungen und Korrekturen, die in der Akademie-Ausgabe (in den Fußnoten zum Text der ersten Fassung) mit abgedruckt sind. Vgl. die Einleitung zum ersten Band der sechsten Reihe der Akademie-Ausgabe, S. XI–XXIV, XVIII, sowie die Briefe an den Theologen und Historiker Friedrich Wilhelm Bierling (1676–1728) vom 16. März 1712 und vom 19. April 1712, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz (1875–1890), Bd. VII, S. 503–505. Dazu näher Roberto Palaia, Dreißig Jahre später : Korrekturen und Anmerkungen an der Nova Methodus, in : Herbert Breger, Jürgen Herbst, Sven Erdner (Hg.), Natur und Subjekt (2011), S. 208–213.
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darstellt.4 So ist schon die Tatsache, dass der junge Leibniz mit zwei Double-Degrees in die Welt der Wissenschaft eintrat, heute selbst den meisten Juristen nicht mehr bekannt. Den Anfang bildet eine Arbeit, mit welcher Leibniz 1664 den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie erlangt. Sie steht bereits im Spannungsfeld von Philosophie und Jurisprudenz, was auch im Titel zum Ausdruck kommt, der in deutscher Übersetzung lautet : »Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind«.5 Seine Entdeckung des Rechts durch die Philosophie erläutert Leibniz mit den Worten : »Von der Philosophie genährt, hatte ich meinen Geist der Jurisprudenz zugewandt.«6 Anschließend versuchte er, seine Kenntnisse in dieser Disziplin immer weiter zu vertiefen : Sobald ich nämlich eingesehen hatte, daß ich für das Studium der Rechte bestimmt war, ließ ich alles andere und wandte meinen Geist dorthin, wo sich der größte Gewinn für meine Studien zeigte.7
Das Ergebnis ist die erwähnte Monographie über das Bedingungsrecht (De conditionibus), mit der Leibniz 1665 den Grad des »Bakkalaureus« beider Rechte (iuris utriusque baccalaureus) erwirbt.8 Dass das Werk sowohl auf der Euklidi4 Auf die aktuellen Diskussionen über disziplinären Isolationismus und Provinzialismus der Rechtswissenschaft in Deutschland kann hier nur hingewiesen werden. Den Stein des Anstoßes bildet jener zentrale Arbeitsmodus der Jurisprudenz, welcher hierzulande als »Dogmatik« bezeichnet wird. Siehe dazu etwa die überwiegend in Sammelbänden publizierten Beiträge : Christoph Engel, Wolfgang Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) ; Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie (2008) ; Rolf Stürner (Hg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung (2010) ; Eric Hilgendorf, Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft (2014) ; Matthias Jestaedt, Wissenschaft im Recht. Rechtsdogmatik im Wissenschaftsvergleich, in : JZ (2014), S. 1–12. 5 Specimen Quaestionum Philosophicarum ex Jure collectarum (1664), in : AA VI 1, S. 69–96. 6 Specimen Quaestionum Philosophicarum ex Jure collectarum (Fn. 5), S. 73. 7 Leibniz, Vita Leibnitii (Fn. 2), S. XXXVII. 8 Die zum Erwerb des »Bakkalaureats« verfassten Texte hat Leibniz später überarbeitet und 1669 als ein Specimen juris publiziert. Siehe Matthias Armgardt, Das rechtslogische System der Doctrina Conditionum von G.W. Leibniz, 2001 (mit Übersetzung), S. 11–120. In Philosophie schloss Leibniz das Bakkalaureatsexamen bereits 1663 mit einer Disputation über De principio individui ab (AA VI 1, S. 9–19). Den Vorsitz hatte der Philosoph, Philologe und Humanist Jakob Thomasius (1622–1684), der ihm großes Lob spendete (Thomasius’ Vorrede ist in AA VI 1, S. 5–8, abgedruckt). Jakob Thomasius, der Vater des Philosophen und Juristen Christian Thomasius (1655–1728), hat ein Jahr nach dem Tod von Leibniz’ Vater, Friedrich Leibniz (1597–1652), dessen Nachfolge auf den Lehrstuhl für Moralphilosophie in Leipzig übernommen (1653). Sein Einfluss auf den jungen Leibniz dürfte kaum zu überschätzen sein. Leibniz besuchte von 1661 bis
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schen Methode als auch auf den Lehren der klassischen römischen Juristen fußt, bedeutet für Leibniz keinen Widerspruch. Denn er erblickt in den Rechtslösungen der römischen Juristen jene Art von mathematischer Rationalität, die den Leistungen der großen Geometer durchaus gleichkomme.9 Die Philosophie bildet abermals den Auftakt, als Leibniz kurz darauf den zweiten Doppelabschluss mit der berühmt gewordenen Promotionsschrift De arte combinatoria (1666) absolviert. Auch sie führt über die Grenzen des Fachs hinaus, wenn Leibniz die Frage aufwirft, wie die »kombinatorische Wissenschaft« eine Rationalisierung des Rechts bewirken könne.10 Noch im gleichen Jahr promoviert er mit der heute weitgehend unbekannten, aber ebenfalls wichtigen Arbeit De casibus perplexis zum Doktor iuris utriusque. Der Titel ist Programm : De casibus perplexis handelt von den verwickelten, dunklen, unklaren und umstrittenen Fällen, deren Lösung nicht einfach aus den Gesetzen abgeleitet werden kann. Noch heute unterscheidet die Rechtstheorie Standardfälle von den sogenannten hard cases, in denen der Jurist eine Entscheidung jenseits der konventionellen Regeln begründen muss.11 Schon in jungen Jahren zeigt sich also die Neigung, den konkreten Fall zum Ausgangspunkt zu nehmen und vom Besonderen aus auf das Allgemeine zuzugehen. Diese Herangehensweise kommt auch in seiner Wertschätzung der Praxis zum Ausdruck : Ich merkte aber, daß meine früheren historischen und philosophischen Studien mir eine große geistige Gewandtheit für die Jurisprudenz verschafften. Ich verstand aus diesem Grunde die Gesetze ohne alle Schwierigkeit und wandte meine Aufmerksamkeit auf die Praxis des Rechts, da ich mich nicht lange bei der Theorie aufzuhalten brauchte, auf die ich als auf etwas ganz Einfaches herabsah. Ich hatte einen Freund, der am Leipziger Hofgericht Assessor Consiliarius war. Dieser nahm mich oft mit zu sich, gab mir Akten zu lesen und lehrte mich an Beispielen,
1663 die Vorlesungen von Jakob Thomasius und bekannte auch in späteren Jahren, dass er seinem Lehrer viel geistige Anregung zu verdanken habe, näher Guido Aceti, Jakob Thomasius ed il pensiero filosofico-giuridico di Goffredo Guglielmo Leibniz, in : JUS – Rivista di scienze giuridiche 8 (1957), S. 259–318, 289–316. 9 So noch im Brief an Kestner vom 1. Juli 1716, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, IV 3 (1768), S. 15 (dazu näher im 2. Kapitel III und im 11. Kapitel I). 10 De arte combinatoria (1666), in : AA VI 1, S. 163–230. Siehe Theodor Viehweg, Die juristischen Beispielsfälle in Leibnizens Ars combinatoria, in : Georgi Schischkoff (Hg.), Beiträge zur Leibniz-Forschung (1947), S. 88–95. 11 De casibus perplexis (1666), in : AA I 6, S. 231–258. Siehe nur Hanina Ben-Menahem, Leibniz on Hard Cases, in : ARSP 79 (1993), S. 198–215.
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auf welche Weise die Urteile abzufassen sind. So drang ich schon früh bis in das Innerste dieser Wissenschaft ein.12
Mit seinen Vorstößen »in das Innerste« der Jurisprudenz beabsichtigte Leibniz freilich keineswegs, die Philosophie zu verlassen. Im Gegenteil : »Ich sprang zur [Philosophie] zurück, sooft sich eine Gelegenheit bot. Und neugierig hielt ich fest, was entweder aus beiden Wissenschaften selbst kam oder mit ihnen verwandt war.«13 Dabei ist zu beachten, dass er Jurisprudenz nicht als Brotberuf oder bloße Fachdisziplin, sondern – ganz im Sinne des römischen Juristen Ulpian (gest. 223 n. Chr.) – als »Kenntnis von den göttlichen und menschlichen Dingen« begriffen hat.14 Von Ulpians »Juriszentrismus« war es nur ein kleiner Schritt zur Ausweitung des Rechtsdenkens auf andere Wissenschaften : So meinte Leibniz, die Theologie sei lediglich »eine gewisse Unterart der Jurisprudenz«.15 Ja, er ging sogar so weit anzunehmen, die Jurisprudenz würde auch die Naturwissenschaften umfassen, weil diese ebenfalls dazu beitragen könnten, die Welt als gerechte Verfassung der göttlichen Ordnung zu erklären.16 Ob er mit Ulpian am Ende für die Jurisprudenz den Platz der Philosophie einfordern wollte, mag hier dahingestellt bleiben. Mindestens aber glaubte er, das Naturrecht sei in zwei Disziplinen verankert, und zwar sowohl in der Philosophie als auch im Recht, wobei er vornehmlich an das römische Recht dachte : »Denn viele haben zwar das Naturrecht behandelt, doch waren hierbei nur wenige von ihnen unterrichtet vom Inneren der Philosophie und zugleich von der Kenntnis des römischen Rechts.«17 Interdisziplinarität und Universalität sind aber nicht die einzigen Barrieren, die einer Annäherung an das juristische und
12 Vita Leibnitii (Fn. 2), S. XXXVII. 13 Specimen (Fn. 5), S. 73 ; Vita Leibnitii (Fn. 2), S. XXXVII. 14 D. 1.1.10.2 ; Inst. 1.1.1. Siehe auch D. 1.1.1.1, wonach das Wirken der Juristen eine wahre und nicht bloß vorgetäuschte Philosophie (vera, non simulata philosophia) sei. Die in das Corpus Iuris aufgenommenen Aussagen stehen in einer Traditionslinie, welche die Philosophie als »Liebe zur Weisheit«, als »Wissen um die göttlichen und menschlichen Dinge« begreift, Marcus Tullius Cicero, De officiis, 2.5 (gerade diesen Platz will Ulpian aber für die Jurisprudenz reklamieren). 15 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), in : AA VI 1 S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 5 (S. 29). Dieser Gedanke findet sich bereits in der Ars combinatoria, vgl. dazu Werner Schneiders, Respublica optima, in : Studia Leibnitiana 9 (1977), S. 1–26, 7, 18. 16 Näher Busche, Einleitung, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 15), S. XI–CXII, LV–LVII (dort auch zu Leibniz’ »Juriszentrismus«). 17 Brief von Leibniz an den Florentiner Gelehrten Antonio Magliabechi (1633–1714) vom 20./30. September 1697, in : Philosophische Schriften II (Fn. 3), S. 4 (Auszug).
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politische Denken von Leibniz im Wege stehen. Hinzu kommen weitere Gründe, die es nahelegen, von einem »unbekannten Leibniz« zu sprechen.18
III. Der unbekannte Leibniz An erster Stelle wäre die oft beklagte unglückliche Editionsgeschichte von Leibniz’ gigantischem Nachlass mit seinen rund 75.000 wissenschaftlichen Manuskripten und 15.000 Briefen zu nennen. Die Texte sind, da sie unmittelbar nach Leibniz’ Tod durch den Hannoverschen Hof versiegelt wurden, zwar erhalten geblieben. Doch waren sie bis weit in das 20. Jahrhundert nur in Bruchstücken zugänglich. Es bedürfte einer eigenen Studie, um zu klären, auf welcher Textbasis die Rechtsgelehrten im 18. oder 19. Jahrhundert ihre Interpretationen von Leibniz’ Methodologie eigentlich formuliert haben. Eine solche Untersuchung würde gewiss so manches Missverständnis zu Tage fördern, das mit einer mangelhaften Quellenlage zu entschuldigen ist.19 Der Leibniz-Forscher Gaston Grua (1903–1955) hat, um ein weiteres Beispiel zu nennen, im Jahre 1948 nach fast zehnjähriger Arbeit im Leibniz-Nachlass in Hannover zahlreiche, bislang völlig unbekannte Texte juristischen, rechtsphilosophischen und rechtspolitischen Inhalts herausgegeben.20 Die Auswertung dieser Schriften ist freilich noch längst nicht abgeschlossen. Ähnliches gilt für die 1930 publizierten frühen Entwürfe zum Naturrecht. Dass auch diese Texte, so Hubertus Busche im Jahre 2003, »nach über 70 Jahren noch kaum erschlossen sind, mag sich […] dadurch erklären, daß sie philosophisch höchst anspruchsvoll sind«.21
18 Zu Leibniz’ Interpretation der berühmten Areopagrede des Paulus über den »unbekannten Gott« (Apg. 17, 22–31) siehe die Ausführungen im 9. Kapitel III 2. 19 Ein Beispiel bilden die Fehldeutungen von Samuel von Cocceji (1679–1755), vgl. Schneider, Justitia universalis (Fn. 2), S. 223–240, 232. Ebenso wären die Interpretationen von Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741) zu nennen, vgl. Armgardt, Heineccius and Leibniz, in : Knud Haakonssen, Frank Grunter (eds.), Love as a Principle of Natural Law (im Erscheinen). 20 Gaston Grua, Textes inédites d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre (1948), 2 Bde. (936 Seiten) ; siehe auch Busche, Einleitung (Fn. 16), S. XV f. 21 Busche, Einleitung (Fn. 16), S. XII. Ein wichtiger Grund dürfte freilich auch darin liegen, dass z.B. die von Grua publizierten Texte überwiegend in lateinischer Sprache verfasst, bisher unübersetzt geblieben und daher (auch nach ihrer Aufnahme in die Akademie-Ausgabe) nur einem verschwindend kleinen Leserkreis zugänglich sind. Anders gesagt : Es gibt kaum jemanden, der diese Texte heute noch lesen kann. Ohne Übersetzung werden sie wohl auch in Zukunft weiter brach liegen (dazu sogleich unten).
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Die Editionsgeschichte spielt vor allem deshalb eine so große Rolle, weil Leibniz zu Lebzeiten wenig selbst publiziert hat : »Wer mich nur aus meinen veröffentlichten Schriften kennt, der kennt mich nicht.«22 Stattdessen hoffte er, in dem von ihm protegierten Philosophen und Mathematiker Christian Wolff (1679–1756) einen kongenialen Partner zur Verbreitung seiner Ideen gefunden zu haben. Heute wäre hingegen zu fragen : Hat Wolff den Zugang zum originären Rechtsdenken von Leibniz nicht eher verstellt als erleichtert ? Zwar sorgte der Philosoph und Mathematiker, der im Gebiet der Jurisprudenz immerhin mit acht stattlichen Bänden zum Natur- und vier zum Völkerrecht hervorgetreten ist, dafür, dass Leibniz’ Philosophie als Philosophia Leibnitio-Wolfiana allseits in Erinnerung blieb.23 Doch wurde auch schon frühzeitig vermutet, dass Wolffs Interpretation eine Verflachung und Trivialisierung des an die Nachwelt übermittelten Leibniz-Bildes bewirkte. Sonia Carboncini-Gavanelli hat die Problematik jüngst mit den Worten auf den Punkt gebracht : Wolff und seine Schüler befanden sich in der außergewöhnlich günstigen Lage, als Medium der Verbreitung der Leibnizschen Philosophie zu wirken. Genauer gesagt, sie waren das Medium einer bestimmten Interpretation der Leibnizschen Philosophie, die aber für über ein Jahrhundert auch die einzige bleiben sollte. Man darf eine heikle Tatsache nicht übersehen : Der große und geniale Philosoph, den wir heute immer intensiver untersuchen, ist uns erst durch den Nachlass in seiner Originalität wiedergegeben worden […]. Der wahrhafte und genuine Leibniz blieb für über ein Jahrhundert unbekannt und übersprang sozusagen die Geschichte der deutschen Philosophie, die seinen originellen Beitrag zum größten Teil entbehren musste.24 22 An den Hamburger Gelehrten Vincent Placcius (1642–1699) vom 21. Februar 1696, in : Dutens (Fn. 9), VI 1, S. 65. 23 Wolffs Autobiographie ist zu entnehmen, dass die Bezeichnung Philosophia Leibnitio-Wolfiana nicht von ihm selbst, sondern von seinen Zeitgenossen stammt, die »überhaupt meine Philosophie Leibnitio-Wolfianam geheißen« : Heinrich Wuttke (Hg.), Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung (1841), S. 107–201, 142. Wolff stellte Ansprüche auf Eigenständigkeit, er strebte nach Unabhängigkeit von Leibniz und nach Anerkennung der eigenen Meriten. Die Bezeichnung Philosophia Leibnitio-Wolfiana musste ihm daher ein Dorn im Auge sein (siehe auch die folgende Note). 24 Sonia Carboncini-Gavanelli, Vorwort, in : Gottfried Wilhelm Leibniz, Kleinere Philosophische Schriften (2010), S. 5–16, 9 ; zum Verhältnis von Leibniz’scher und Wolff ’scher Philosophie siehe auch die Beiträge von Hans Poser, Wenchao Li und Ursula Goldenbaum, in : Alexandra Lewendoski (Hg.), Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert (2004), S. 49–103. Das Verhältnis zwischen Leibniz und Wolff ist bereits zu Lebzeiten nicht ohne Spannungen gewesen, vgl. Poser, »Da ich wider Vermuthen gantz natürlich auf die vorher bestimmte Harmonie des Herrn von Leibnitz ge-
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Hätte Leibniz das geahnt, hätte er vielleicht gesagt : Wer mich nur aus den Schriften der Philosophia Leibnitio-Wolfiana kennt, der kennt mich nicht.25 Rezep tionshindernisse bereitet schließlich ein Umstand, der bereits erwähnt wurde, nämlich, dass seine Werke überwiegend in lateinischer Sprache verfasst sind und es an Übersetzungen, insbesondere der juristischen Schriften, mangelt. Zwar wurden durch die Akademie-Ausgabe, deren Abschluss um die Mitte des 21. Jahrhunderts zu erwarten ist, große editorische Fortschritte erzielt. Doch können darin Texte nur in Originalsprache aufgenommen werden. Leibniz’ lateinische Fachterminologie, seine komplizierten Satzkonstruktionen und der elliptische Notizenstil gelten als der »Albtraum eines jeden Übersetzers«.26 Angesichts des Niedergangs der ›toten Sprachen‹ und der allgemein beklagten Krise des ›Römischen Rechts‹ sind heute auch Juristen mit ihrem Latein schnell am Ende. Trotz editorischer Großleistungen vermag oft nur jener verschwindend kleine Gelehrtenkreis Leibniz noch zu lesen, der nicht auf Übersetzungen angewiesen ist. Es bleibt festzuhalten : Weder den Zeitgenossen noch den in drei Jahrhunderten folgenden Generationen stand jemals das gesamte Werk vor Augen. Die Textbasis ist dank der unermüdlichen Tätigkeit von Editoren in den letzten Jahrzehnten zwar erheblich erweitert worden. Für Übersetzungen gilt das aber nur mit Einschränkungen. So existiert in Deutschland bis heute nicht einmal eine vollständige Übersetzung der berühmten Programmschrift Nova methodus. Die wichtige Ausgabe von Hubertus Busche aus dem Jahre 2003 bietet lediglich eine auszugsweise Übersetzung.27 Dagegen verfügen der angloamerikanische Sprachraum oder Länder wie Frankreich und Italien längst über vollständige Überführet ward, so habe ich dieselbe beybehalten«, in : Leibnizbilder (a.a.O.), S. 49–64 ; Wolffs eigene Lebensbeschreibung (Fn. 23), S. 142 (zu seiner Abneigung, über gewisse Themen mit Leibniz zu korrespondieren) ; Wuttke, Ueber Christan Wolff den Philosophen, in : Wolffs eigene Lebensbeschreibung (Fn. 23), S. 1–106, 85 f. (Leibniz sprach »seine Ansichten zerstreut in Briefen und kleinen Aufsätzen aus, während Wolff die Muße […] hatte, ein größeres systematisches Ganze auszuarbeiten. Will man beide Männer vergleichen, so darf man nicht vergeßen, daß Wolff nicht im gleichen Grade begabt war […]. Wenn er zu weit ging, indem er sich als von Leibniz unabhängig betrachtet wißen wollte, so muß man berücksichtigen, wie sehr es ihm schmerzen machte, wenn Selbstdurchdachtes und Wohlgeprüftes von Halbwissern als völlig entlehnt ausgeschrien wurde und wie sehr ihre beiderseitige Methode abwich«). 25 Vgl. oben den Brief an Placcius (Fn. 22). 26 Busche, Einleitung (Fn. 16), S. XII ; Babin, van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 53. 27 Im Folgenden wird regelmäßig die Ausgabe von Busche (Fn. 15) zitiert ; soweit es sich um Stellen handelt, die in der Übersetzung ausgespart sind, wird der in der Akademie-Ausgabe abgedruckte lateinische Originaltext herangezogen.
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setzungen der Nova methodus. Dieser Befund lässt mutatis mutandis an ein oft zitiertes Diktum des französischen Enzyklopädisten Denis Diderot (1713–1784) erinnern, der gut vierzig Jahre nach Leibniz’ Tod zur der Feststellung gelangte : Es hat vielleicht nie ein Mensch so viel gelesen, so viel studiert, mehr nachgedacht, mehr geschrieben als Leibniz. Es ist erstaunlich, daß Deutschland, dem dieser Mann allein so viel Ehre macht wie Platon, Aristoteles und Archimedes ihrem Heimatland zusammen, noch nicht das gesammelt hat, was aus seiner Feder hervorgekommen ist.28
IV. Gang der Untersuchung Der erste Teil (2. bis 6. Kapitel) der in drei Teile gegliederten Studie ist einer Darstellung von Leibniz’ Rechtsdenken gewidmet, der zweite (7. bis 10. Kapitel) den Korrelaten von Metaphysik und Jurisprudenz und der dritte (11. und 12. Kapitel) der Rezeption seiner Rechtsphilosophie durch Autoren der Historischen Rechtsschule im 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert. Das folgende (zweite) Kapitel handelt von Leibniz’ eigentlichem Anliegen, nämlich einer Reform der Jurisprudenz durch Kodifikation. Wiederholt klagt er über die unübersichtliche Stoffanordnung, veraltete Vorschriften und kaum noch überschaubare Interpretationen, die den geltenden Normenbestand zu einer Quelle von Ungerechtigkeiten machen würden. Ihm fehle, was von jeder Gesetzgebung zu erwarten sei : Einfachheit, Klarheit und Kürze. Leibniz wollte eine Vereinfachung dadurch erreichen, dass das geltende Recht auf seine Prinzipien reduziert werde. In Anlehnung an Euklid nennt er diese Prinzipien »Elemente«, die kombiniert und auf einer Tafel »etwa in Größe einer Holländischen Landcharte« festgehalten werden können. So sei es möglich, die ganze »geographische Karte der Wissenschaft« auf »einen einzigen Blick« zu übersehen und ihre »einzelnen Provinzen [zu] durchwandern«.29 Auf Grundlage dieser Methode glaubte Leibniz, die Stoffmassen des Rechts in einem einzigen Corpus Iuris Reconcinnatum vereinigen zu können. Nun herrscht in den Wissenschaften die Auffassung, Leibniz habe als »Initiator moderner Staatlichkeit« in Mainz ein Projekt begonnen, das erst mit den drei großen Naturrechtskodifikationen und dem Bürgerlichen Gesetzbuch 28 Zitiert nach Eberhard Knobloch, Die Kunst, Leibniz herauszugeben, in : Spektrum der Wissenschaft (2011), S. 48–57, 48. 29 Brief an Kaiser Leopold I., August (?) 1671, in : AA I 1, S. 57–62, 60.
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(BGB) seinen Abschluss gefunden habe.30 Derartige Aussagen werden den Unterschieden zwischen Leibniz’ Corpus Iuris Reconcinnatum und den anderen Gesetzgebungswerken nicht gerecht. Sein Kodifikationsvorhaben darf weder mit den Naturrechtskodifikationen noch dem BGB verwechselt werden. Es zielt vornehmlich auf ›Rationalisierung‹, die Leibniz auch anderswo zu verwirklichen sucht. Beispiele bilden seine Überlegungen zur Erstellung von ›Indices‹ in den Buchwissenschaften oder von ›Staatstafeln‹ in den Verwaltungswissenschaften.31 Überall schwebt Leibniz die Entwicklung von Suchsystemen vor, wie sie uns im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung selbstverständlich geworden sind. Doch ist er sich auch darüber im Klaren, dass Rationalisierung im Recht aufgrund der Individualität der Fälle mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sein kann. Angesichts der stürmischen Entwicklungen im sogenannten Legal-Tech-Sektor müssen seine diesbezüglichen Überlegungen heute wieder auf besonderes Interesse stoßen. Gegenstand des dritten Kapitels ist Leibniz’ berühmte Lehre von den Stufen des Naturrechts. Sie beruht auf einer Kombination aus drei Elementen, dem strengen Recht (ius strictum), der Billigkeit (aequitas) und der Frömmigkeit (pietas). Im strengen Recht erblickt Leibniz das Recht im eigentlichen Sinne. Es ist durch das Gebot bestimmt, niemanden zu schädigen (neminem laedere), und hat die Aufgabe, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Die nächsthöhere Stufe, die Billigkeit (aequitas), erstreckt sich auf Einbußen oder Verdienste, die für die Betroffenen nicht immer einklagbar, juristisch nicht in allen Fällen erzwingbar sind. Auf der dritten und höchsten Stufe thront die Frömmigkeit (pietas). Sie umfasst das individuelle Gewissen und die innere Gerichtsbarkeit mit dem Gebot, dass wir ein rechtschaffenes Leben führen sollen. Mit der Annahme einer Mehrgliedrigkeit der Quellen opponiert Leibniz gegen die Rechtsphilosophie von Hobbes, der den Fehler begangen habe, lediglich das »strenge Recht«, also nur die Formalstruktur in Erwägung zu ziehen. Gleichwohl hat Leibniz in seiner Naturrechtslehre dem ius strictum eine fundamentale Bedeutung beigemessen. Anders als die Anhänger eines staatsrechtlichen Positivismus meint er aber, das Formalrecht müsse durch materiale Prinzipien ergänzt werden. Aequitas und
30 Ernst Molitor, Leibniz in Mainz, in : Jahrbuch für das Bistum Mainz 5 (1950), S. 457–472, 472 ; Hans-Peter Schneider, Leibniz und der moderne Staat, in : Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.), Leibniz und Niedersachsen (1999), S. 23–34, 30 ; Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005), S. 67–160, 67 ; Wolfgang Burgdorf, Securitas publica, in : Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.), Umwelt und Weltgestaltung (2015), S. 57–79, 64. 31 Von nüzlicher Einrichtung eines Archivi (1680), in : AA IV 3, S. 332–340 ; Entwurff gewisser Staats-Tafeln (1680), in : AA IV 3, S. 340–349.
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pietas qualifiziert er als die jeweils höheren Stufen, die »im Streitfalle« das ius strictum unter bestimmten Voraussetzungen derogieren können. Während das dritte Kapitel vom Verhältnis zwischen formalen und materialen Elementen im Recht handelt, ist das vierte Kapitel der Anschlussfähigkeit von Leibniz’ Rechtsphilosophie an die aktuellen Diskussionen über eine ›Materialisierung‹ des Rechts gewidmet : »Von der formalen zur materialen Rationalität !« So lautet die Devise, die heute zu den meistdiskutierten Thesen der Privatrechtstheorie gehört. Grundlage bildet Franz Wieackers (1908–1994) Unterscheidung des Formalismus der Pandektenwissenschaft vom heutigen Privatrecht, das zu den materialen Grundlagen des Naturrechts »zurückgekehrt« sei. Die Untersuchungen im vierten Kapitel werden Wieackers Thesen nicht bestätigen. Denn Naturrechtsdenker wie Hobbes, Pufendorf oder Kant vermochten nicht einmal der Billigkeit (aequitas) einen würdigen Platz zuzuweisen. Lediglich Leibniz hat in seiner Auseinandersetzung mit Hobbes beanstandet, das säkulare Naturrecht würde nur das formale Recht in Erwägung ziehen. Leibniz bildet aber eine Ausnahme unter den Naturrechtslehrern, und es gibt keinerlei Anzeichen, dass Wieacker sich auf ihn berufen wollte. Die Aktualität von Leibniz’ Rechtsphilosophie liegt darin, dass sie uns vor den Einseitigkeiten bewahren kann, die mit der Behauptung einer ungebremsten ›Materialisierung‹ verbunden sind. Denn auf ihrer Grundlage lässt sich gut erklären, warum das Wechselspiel zwischen formalen und materialen Elementen zum Proprium des Rechts gehört und warum das Recht auch in Zukunft keineswegs nur material werden, sondern auch formal bleiben möchte. Das fünfte Kapitel kommt zurück auf die These, Leibniz sei einer der Initiatoren moderner Staatlichkeit gewesen. Zu den Grundlagen ›moderner‹ Staatlichkeit gehört das Narrativ vom Naturzustand. Naturrechtslehrer wie Hobbes, Pufendorf, Thomasius oder Kant gehen davon aus, der Naturzustand sei erst durch Abschluss eines Gesellschaftsvertrags beendet worden, dessen Zweck darin bestehe, durch einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän die Rechtsordnung zu begründen. Leibniz meint dagegen, bereits im Naturzustand habe es Recht gegeben. Wenn seine politische Theorie auf einem gegliederten Aufbau der Gesellschaft beruht, so ist es die Idee einer geteilten Souveränität, die seine Staatsrechtslehre von den zentralistischen Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus unterscheidet.32 Während die ›moderne‹ Staatlichkeit unter Souveränität die Fähigkeit zu ausschließlicher rechtlicher Selbst32 Leibniz (unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius), De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae (1677), in : AA IV 2, S. 3–270 ; Divisio Societatum (1680), in : AA IV 3, S. 907– 912.
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bestimmung versteht, beschreibt Leibniz die Gesellschaft auf Basis eines funktionalen und territorialen Föderalismus. Leibniz’ Naturrecht ist nicht nur das Werk eines spekulativen Philosophen, sondern auch das eines Juristen, der die Lösung praktischer Fälle im Auge hat. Die von ihm oft betonte Maxime theoria cum praxi muss als ein Leitmotiv angesehen werden, das bis in die Studienzeit zurückführt. Wie bereits angedeutet, hatte sich Leibniz schon in Jugendjahren von der juristischen Fachtheorie abgewandt und »auf die Rechtspraxis verlegt«.33 Es ist also kein Zufall, wenn seine Promotionsschrift De casibus perplexis nicht von allgemeinen Gesetzen, sondern von konkreten Fällen ihren Ausgang nimmt. Mit der Maxime theoria cum praxi harmonieren zudem seine rechtsdogmatischen Entwürfe : Leibniz hat auf fast allen Gebieten der Privatrechtsdogmatik Reformvorschläge unterbreitet. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den materialen Elementen des Rechts, die nur in begrenztem Maße positivierbar und als Norm »difficillime generaliter« zu bestimmen sind.34 Dabei begibt er sich auf eine Expedition in wenig erschlossene Rechtsbereiche, um Kohärenzen oder kausale Verknüpfungen in einer kaum übersehbaren Fülle einzelner Tatsachen ausfindig zu machen. Im Hintergrund steht Leibniz’ Streben nach einer Verbindung von ›Idee‹ und ›Empirie‹, das auch außerhalb der Jurisprudenz zur Geltung kommt.35 Leibniz hat sich also nicht nur mit den zu seiner Zeit bereits bekannten, sondern auch mit noch gänzlich unbekannten Gebieten befasst, wofür das im sechsten Kapitel behandelte Urheberrecht ein Beispiel bildet. Als Autor ist er schon frühzeitig mit den Missständen des Buchhandels in Berührung gekommen. So plante er die Herausgabe einer Zeitschrift, die über die neuesten Veröffentlichungen im Gebiet der Wissenschaften berichten soll. Die Ablehnung eines zum Schutz vor Plagiaten beantragten kaiserlichen Privilegs zwang Leibniz zur Aufgabe des Projekts. Diese und andere Erfahrungen brachten ihn dazu, sich Gedanken über eine Verbesserung des Schutzes von Autoren zu machen.36 Weil er dabei die geistige Schöpfung des Urhebers in den Mittelpunkt rückte, darf er als ein, bislang freilich unbekannter, Vorreiter des modernen Urheberrechts angesprochen werden. Im Übrigen bilden Leibniz’ Überlegungen zum Schutz von ›Immaterialgüterrechten‹ ein Beispiel für sein reges Interesse an Fragen in 33 Leibniz, Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata (Fn. 2), S. XXXVII (oben II bei Note 12). 34 Elementa Juris naturalis (1669–1671), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485), Nr. 3, S. 455–458, 455 ; dt. Übersetzung, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 15), S. 89–319, 200–213, 203. 35 Ursula Goldenbaum, It is not experience that matters in the battle of rationalism and empiricism, in : Arnaud Pelletier (Hg.), Leibniz’s experimental philosophy (2016), S. 41–67 (siehe 9. Kapitel V und VI). 36 Z.B. im Brief an den Reichsvizekanzler vom 19. Dezember (?) 1669, in : AA I 1, S. 37.
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den Schnittfeldern von Recht, Politik und Ökonomie. Sie geben Anlass, unter Gesichtspunkten wie Eigentum, Staatsintervention, Selbstregulierung oder Rationalisierung im sechsten Kapitel auch auf die Verbindungen mit seinem »wirtschaftspolitischen Lehrer«, dem Merkantilisten Johann Joachim Becher (1635– 1682), einzugehen. In jungen Jahren hat Leibniz seine Entdeckung des Rechts durch Philosophie mit den Worten beschrieben : »Von der Philosophie genährt, hatte ich meinen Geist der Jurisprudenz zugewandt.«37 Im reiferen Alter kommt es erneut zu einer Entdeckung, und zwar sowohl der Jurisprudenz als auch der Politik durch Philosophie. Das Merkmal dieser zweiten ›Entdeckung‹ besteht darin, dass jetzt die Metaphysik die Führung übernimmt. Demgemäß handelt der zweite Teil (7. bis 10. Kapitel) von den Korrelaten zwischen Metaphysik und Jurisprudenz. Einen Ausgangspunkt bildet dabei der Satz, es fehle »zwischen dem strengen Recht und der Billigkeit das physische Band«.38 Leibniz nimmt also davon an, dass ius strictum und aequitas in verschiedene Richtungen streben können, sodass sich die schwierige und bis heute umstrittene Frage stellt, wie ein derartiger Konflikt zu lösen wäre. Dieser Befund berührt aber ein noch grundsätzlicheres Thema, welches in dem Postulat zum Ausdruck kommt, »daß alles, was öffentlich, d.h. für das Menschengeschlecht und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es auch für die einzelnen nützlich ist«.39 Im Hintergrund steht der Gedanke, dass, wie strenges Recht und Billigkeit, auch der individuelle Nutzen und das solidarische Handeln in spannungsreiche Beziehungen treten können. Mit dieser oft missverstandenen Feststellung verlängert Leibniz ein fachjuristisches Thema in die Gebiete von politischer Philosophie und Gerechtigkeitstheorie.40 Die Metaphysik kommt nun dort ins Spiel, wo Leibniz die Frage aufwirft, ob und wie eine Verbindung zwischen den beiden Polen hergestellt werden kann – zwischen dem ius strictum, das eigennütziges Verhalten ermöglichen soll, und der an gesellschaftlicher Solidarität orientierten aequitas : Das siebte Kapitel skizziert verschiedene Arten der Billigkeit im Kontext von Leibniz’ Metaphysik. Gegenstand des 8. Kapitels ist eine Sonderform der Billigkeit, nämlich ihre Funktion als Prinzip des religiösen Ausgleichs. Zudem werden darin die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit und die Idee einer hermeneutischen Billigkeit erörtert. Letztere gibt Anlass, eine knappe Skizze einiger Momente der bislang fast unbekannten Hermeneutik von Leibniz zu entwerfen. Dabei soll, 37 Specimen Quaestionum Philosophicarum ex Jure collectarum (Fn. 5) S. 73 (oben II bei Note 6). 38 Nova methodus (Fn. 15), § 75 (S. 83). 39 Nova methodus (Fn. 15), § 75 (S. 83). 40 Missverstanden wurde sie namentlich durch Rudolf von Jhering, vgl. 12. Kapitel I 3 und 4.
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obwohl sich die beiden Gebiete nicht fein säuberlich trennen lassen, zwischen der juristischen Hermeneutik in der Nova methodus und dem hermeneutischen Moment in Leibniz’ Metaphysik unterschieden werden. »Jede Monade ist auf ihre Art ein Spiegel des Universums.«41 Und »die Monaden haben keine Fenster, durch die irgendetwas ein- oder austreten könnte«.42 Diese Sätze gehören zu den bekanntesten und schwierigsten metaphysischen Aussprüchen von Leibniz. Im neunten und zehnten Kapitel wird die Frage aufgeworfen, wie es unter der Prämisse einer Fensterlosigkeit der Monaden überhaupt zu Interaktionen, Einflüssen oder Einwirkungen auf das Subjekt kommen kann. Ihre Beantwortung ist auch für die Jurisprudenz von großer Wichtigkeit. Das Thema wurde im siebten Kapitel im Zusammenhang mit jener Unterscheidung von Billigkeit und strengem Recht bereits berührt, die Leibniz in der Nova methodus getroffen hat : Zwischen beiden fehle das »Band«, sagt er, welches Gott »durch seinen Beistand« herstelle.43 Wie ist diese Aussage zu verstehen ? Wirkt Gott auf die Subjekte unmittelbar ein ? Dagegen spricht, dass Leibniz weder naturrechtliche Inhalte noch deren Verbindlichkeit vom Willen Gottes ableitet. Dies gilt auch für die Beispiele, in denen er Konflikte zwischen formalem und materialem Recht erörtert. Zwar ist die Billigkeit auf eine höhere Gerechtigkeit angewiesen. Die Fragen, die sie an diese adressiert, werden aber nicht durch eine direkte Antwort Gottes oder eine okkasionelle Steuerung der Rechtspraxis gelöst. Vielmehr vermag es das Individuum selbst, die in ihm gespiegelten universalen Wahrheiten des Naturrechts zu erkennen. Im Übrigen legt Leibniz großen Wert auf die Feststellung, dass im normativen Gehalt der römischen Digesten eine Rationalität verborgen ist, die mit diesen Wahrheiten korrespondiert. Positives Recht und Naturrecht können sich also sehr nahe kommen. Von hier aus fällt ein Licht auf die Verbindungen zwischen dem »Inneren der Philosophie« und dem »römischen Recht«, wovon in dem eingangs erwähnten Brief an den italienischen Gelehrten Antonio Magliabechi die Rede ist. Sie rühren daher, dass viele Regeln des römischen Rechts mit jenen Prinzipien des Naturrechts harmonieren, die vom Willen Gottes zwar unabhängig sind, als ewige Wahrheiten der Gerechtigkeit aber im Subjekt gespiegelt werden. So wirken sie als Bedingung der Subjektivität, als eine Art Objektivität, die der menschliche Geist in sich selber trägt. Bei Defiziten im Normenbestand wäre das Individuum unter bestimmten Voraussetzungen also selbst in der Lage, die ewigen Wahrhei41 Monadologie von 1714 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008), § 63 (S. 47) und § 56 (S. 41). 42 Monadologie (Fn. 41), § 7 (S. 13). 43 Nova methodus (Fn. 15), § 75 (S. 83).
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ten der Gerechtigkeit zu realisieren. Allerdings wird Leibniz auch nicht müde zu betonen, dass hier größte Vorsicht geboten ist. Die beiden Kapitel des dritten Teils (11. und 12. Kapitel) handeln von Leibniz’ Rezeption im Gebiet der Rechtswissenschaften im 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert sind die Lehren des Naturrechts bekanntlich weitgehend auf Ablehnung gestoßen. Savignys Verdikt über die »ungeschichtliche Schule« des Naturrechts ist oft zitiert worden. Kaum Beachtung fanden dagegen die im elften Kapitel zu erörternden Gemeinsamkeiten. Denn auch Leibniz führte einen Kampf gegen ›das‹ Naturrecht, und zwar gegen jene Richtung, die wir heute als säkulares oder profanes Naturrecht zu bezeichnen pflegen. Ihr setzt er sein ›historisches‹ Naturrecht entgegen, das auch vielfältige Berührungspunkte mit den Lehren etwa von Gustav Hugo (1764–1844) oder Rudolf von Jhering (1818–1892) aufweist. Entgegen gängiger Vorstellungen sind es vornehmlich Autoren des romanistischen Zweigs der Historischen Schule, die Leibniz’ Rechtsdenken im 19. Jahrhundert wiederentdeckt haben. Ebenso wenig ist beachtet worden, dass Otto von Gierke das Verdienst gebührt, an Leibniz’ politische Philosophie erinnert zu haben, worauf im zwölften Kapitel näher eingegangen wird. Die eingangs gestellte Frage wäre vorläufig wie folgt zu beantworten : Leibniz darf als der erste Globaldenker und damit als Vorbote einer neuen Zeit angesprochen werden, weil er über die eigene Nation und Europa hinaus in transnationalen Größenordnungen dachte. Dabei ging er davon aus, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Kontinuum stehen und eng verwoben sind. Ihm können auch die Errungenschaften antiker und mittelalterlicher Kulturen als Grundlage für ein politisches Programm der Zukunft dienen. So hat er zwischen ›prämoderner‹ und ›moderner‹ Staatlichkeit einen neuen Souveränitätsbegriff entwickelt, der es ihm gestattet, für seine Epoche eine eigene Antwort auf die Frage nach den Beziehungen zwischen formalen und materialen Elementen des Rechts zu geben. Sie könnte uns heute, auf der Suche nach einer für unsere Zeit angemessenen Lösung, vor den Einseitigkeiten bewahren, die mit der Behauptung einer ungebremsten ›Materialisierung‹ des Rechts verbunden sind.
I. Teil
Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph
Leibniz hat in den Jahren zwischen 1668 und 1670 in drei verschiedenen Gebieten Vorschläge für eine Rechtsreform unterbreitet. Überall bildet die sorgfältige Analyse einer Krisensituation den Ausgangspunkt. Am Anfang steht eine Reform der Jurisprudenz durch Kodifikation : Leibniz will der übergroßen Stofffülle zum Teil veralteter und widersprüchlicher Normen mit dem Projekt eines Corpus Iuris Reconcinnatum beikommen. Kurz darauf beginnt er mit der Vorbereitung eines zweiten Projekts, und zwar den Planungen für eine Zeitschrift, die dem Publikum als Leitfaden in dem verwirrenden Angebot wissenschaftlicher Neuerscheinungen dienen soll. Mit dem sogenannten Nucleus librarius semestralis sammelt Leibniz erste Erfahrungen in einem Gebiet, das wir heute als Immaterialgüterrecht zu bezeichnen pflegen. Das gegen den kommerziellen Charakter des Buchhandels gerichtete Zeitschriftenprojekt führte ihn zu der Frage, wie der im 17. Jahrhundert nur schwach ausgeprägte Schutz von Autoren verbessert werden könnte. Das dritte Vorhaben fällt in die Gebiete von Politik und Staatsphilosophie. Im Hintergrund steht die Gefahr, dass die Einheit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation durch einen Angriff auswärtiger Truppen zerstört werden könnte. Diese Umstände nimmt Leibniz zum Anlass für eine zukunftsweisende Reformulierung des Souveränitätsbegriffs. Überall sucht Leibniz Elemente, Prinzipien, Maximen oder Grundregeln ausfindig zu machen, die als Mittel zur Orientierung bei der Problemlösung dienen können. Dabei weiß er Altes und Neues in geschickter Weise zu verbinden, um die Überzeugungskraft seiner Vorschläge zu steigern. Stichwortartig seien nur einige der Vorbilder genannt, die er für seine Reformvorhaben jeweils fruchtbar macht : Klassische römische Jurisprudenz, Edictum perpetuum, Excerpte des Pothius, Breviarium Imperii. Ähnliches gilt für die Lehren, die Leibniz aus der antiken Republik- und aus der mittelalterlichen Reichsidee für die künftige Gestaltung der Rechtsordnung zieht. Hier ist es ihm gelungen, zwischen neuzeitlicher Staatlichkeit und mittelalterlichem Reichsgedanken zu einem neuen Souveränitätsbegriff hindurchzusteuern. Sein Anliegen, nämlich in der größtmöglichen Verschiedenheit die größtmögliche Einheit zu denken, ist auch gut 300 Jahre nach seinem Tod aktuell. Dass Leibniz seinen Platz im Kanon des juristischen und politischen Denkens noch finden muss, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass viele seiner Werke mit juristischer Relevanz bislang nur einem verschwindend kleinen Leserkreis zugänglich sind. Im Unterschied zu Ländern wie den USA, Frankreich oder Ita-
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Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph
lien fehlt es in Deutschland noch immer an einer vollständigen Übersetzung seines vielleicht wichtigsten juristischen und rechtsphilosophischen Werks – der Nova methodus. Grundlegende Schriften wie De casibus perplexis, Ars combinatoria, Ratio corporis iuris reconcinnandi oder De legum interpretatione sind hierzulande bislang völlig unübersetzt geblieben. Das gleiche gilt für die (unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius) verfasste zentrale staatsphilosophische Schrift De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae, um nur einige Beispiele zu nennen. Lägen die entsprechenden Übersetzungen vor, so wäre es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Leibniz’ Reformideen eine Renaissance erleben.
2. Kapitel
Das Corpus Iuris Reconcinnatum
Vier Jahre war Leibniz in Mainz, von 1668 bis 1672. Gemessen an den vierzig Jahren in Hannover (1676–1716) ist das nur ein kurzer Zeitraum. Gleichwohl kann die Bedeutung der Mainzer Jahre, auch für Leibniz’ Arbeiten als Rechtsreformer, nicht hoch genug veranschlagt werden. Eine Schlüsselrolle spielt sein Freund und Förderer, Freiherr Johann Christian von Boineburg (1622–1672). Auf Empfehlung von Boineburg trat Leibniz in Briefwechsel mit dem Polyhistor und Begründer der deutschen Rechtsgeschichte Hermann Conring (1606– 1681).1 Von Boineburg kam die Anregung, den Namen »Leibniz« im Ausland bekannt zu machen, und er war es, der Leibniz riet, mit Herzog Johann Friedrich von Hannover (1625–1679) in Verbindung zu treten. Nicht nur die Aufenthalte in Paris und London, sondern auch der Wechsel nach Hannover sind also über Mainz vermittelt worden.
I. Leibniz als Rechtsreformer in Mainz In Mainz ist Leibniz in die großen politischen Themen der Epoche eingeführt worden. Mit Boineburg teilt er die Auffassung, dass ein allgemeiner Weltfrieden nur über eine Wiedervereinigung der Kirchen und eine Stabilisierung des in viele Fürsten- und Herzogtümer zersplitterten Heiligen Römischen Reichs zu erreichen sei. Auf Boineburg geht wahrscheinlich auch die Idee zurück, sich dem ranghöchsten katholischen Reichskirchenfürsten, dem Mainzer Erzbischof und Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) mit einer Abhandlung zu Fragen einer Rechtsreform zu empfehlen.2 Diese Schrift hat Leibniz bekannt-
1 Zu Conring siehe Hole Rößler, Polyhistorie und Polymathie, in : Herbert Jaumann, Gideon Stiening (Hg.), Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit (2016), S. 635–676 ; Rosanna Schito, Zum Machiavelli Hermann Conrings, in : Cornel Zwierlein, Annette Meyer (Hg.), Machiavellismus in Deutschland (2010), S. 95–107 ; Alberto Jori, Hermann Conring (1606– 1681). Der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte (2006) ; Constantin Fasolt, The Subject : Hermann Conring, in : ders. (Hg.), The Limits of History (2004), S. 46–91 ; Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 482–483. 2 Zu den Verbindungen zwischen Leibniz und Boineburg noch immer lesenswert Gottschalk Eduard Guhrauer, Gottfried Wilhelm Leibnitz. Eine Biographie, Bd. I (1846), S. 47–132.
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Das Corpus Iuris Reconcinnatum
lich kurz vor seinem Amtsantritt in Mainz unter dem Titel »Nova methodus« publiziert.3 Leibniz arbeitete in Mainz überwiegend als Jurist. Die Grundlage seiner amtlichen Tätigkeit bildete nichts Geringeres als eine Reform der Gesetzgebung, die »Reconcinnation« des Corpus Iuris, die er seit 1668 gemeinsam mit dem Hofrat Hermann Andreas Lasser in Angriff nahm.4 Zwei Jahre später, im Sommer 1670, ernannte ihn Johann Philipp von Schönborn zum kurfürstlichen Rat am Oberrevisionskollegium in Mainz. Diese Aufgabe war nicht minder anspruchsvoll, handelte es sich doch um die Tätigkeit an einem höchsten Gericht, das mit einem privilegium de non appellando ausgestattet war. Die Tätigkeitsfelder von Leibniz gingen über den engeren Bereich der Jurisprudenz freilich weit hinaus. Sie umfassten auch politische Themen, die sich unter dem Stichwort »Reichsreform« zusammenfassen ließen. Reichsreform und Rechtsreform hängen zusammen. Eine Neugestaltung des rechtlichen Rahmens ist immer auch im größeren Kontext einer Reichsreform zu begreifen. In den Mainzer Jahren war Leibniz mit drei Reformvorhaben beschäftigt : Über die erwähnte »Reconcinnation« des Corpus Iuris hinaus fasste er 1669 den Plan, eine nationale Allgemeinbibliographie ins Leben zu rufen. Das bibliographische Vorhaben, das eigentlich die Wissenschaften im Reich stärken sollte, hat auch juristische Relevanz. Denn Leibniz sah sich dadurch veranlasst, Reformideen in einem Gebiet zu entwickeln, das wir heute als Urheberrecht bezeichnen.5 Das dringendste Anliegen der Reichsreform zielte freilich auf die Gewährleistung von Sicherheit gegen auswärtige Bedrohungen, wovon Leibniz’ »Sekuritäts-Bedenken« von 1670 handelt.6 Im Zentrum dieser Schrift steht der 3 Leibniz, Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 25–87. 4 Vgl. Ratio corporis iuris reconcinnandi (1668), in : AA VI 2, S. 93–113. Zu Leibniz’ Zeit in Mainz : Paul Wiedeburg, Der junge Leibniz. Das Reich und Europa, I. Teil : Mainz, 2 Bde. (1962) ; Eckhart Pick, Mainzer Reichsstaatsrecht (1977), S. 47–52 ; Ernst Molitor, Leibniz in Mainz, in : Jahrbuch für das Bistum Mainz 5 (1950), S. 457–472 ; Gottschalk Eduard Guhrauer, Kur-Mainz in der Epoche von 1672, 2 Bde. (1839) ; Matthias Armgardt, Leibniz als Rechtsphilosoph – die Errungenschaften der Mainzer Jahre, in : Irene Dingel, Wenchao Li, Michael Kempe (Hg.), Leibniz in Mainz (im Erscheinen) ; Stephan Meder, Leibniz als Rechtsreformer in Mainz, in : Leibniz in Mainz, a.a.O. (im Erscheinen) ; siehe ferner : Kurt Huber, Leibniz (1951), S. 33–71 ; Clodius Piat, Leibniz (1915), S. 5–8. 5 Siehe nur das Schreiben von Leibniz an den Reichsvizekanzler vom 19. Dezember (?) 1669, in : AA I 1, S. 36–42 (dazu näher im 6. Kapitel I–III). 6 Der Titel der zur Verteidigung des Reichs gegen französische Truppen verfassten Denkschrift (1670) lautet : Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens
Reconcinnation als Rechtsreform
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ambitionierte Gedanke, das deutsche Verfassungsgefüge durch die Schaffung eines engen Bündnisses von Reichsfürsten zu konsolidieren. Leibniz’ Reformbestrebungen waren also nicht auf das Privatrecht beschränkt, sondern umfassten auch das öffentliche Recht. Vorläufig bleibt festzuhalten : Die Mainzer Überlegungen zu einer Rechtsreform sind in einem weiteren Zusammenhang zu begreifen. Im Folgenden sollen sie unter den Gesichtspunkten einer Reform von Gesetzgebung und juristischer Methode behandelt werden.7
II. Reconcinnation als Rechtsreform Das Wort »concinnare« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »zusammensetzen«, »ordnen«, »formen«. Die im klassischen Latein nicht gebräuchlichen Ausdrücke »reconcinnare« oder »reconcinnatio« sind von hier aus leicht zu erschließen. Sie bedeuten soviel wie »wieder-zusammensetzen«, »neu ordnen«, »re-formieren«. Mit dem Begriff »Reform« hat die »Reconcinnation« ein temporales Element gemeinsam : Ein ehemals vorhandener Zustand soll unter veränderten Gegebenheiten wiederhergestellt, eine ursprüngliche Einheit soll dergestalt rekonstruiert werden, dass sie für zukünftige Herausforderungen gerüstet ist.8 ›Reform‹ ist ein oft gebrauchtes, fast schon abgegriffenes Schlagwort, das seit Jahrzehnten in Politik und Wirtschaft dominierend wirkt. Die Diskussionen in der modernen ›Reformgesellschaft‹ täuschen leicht darüber hinweg, dass ›Reim Reich iezigen Umbständen nach auf festen Fuß zu stellen, in : AA IV 1, S. 132–173 (1. Teil vom 6.-8. August 1670) und S. 174–214 (2. Teil vom 21. November 1670). Darauf ist im 5. Kapitel zurückzukommen. 7 Die Reform des Staatsrechts (1670) wird im 5. Kapitel und die Reform des Urheberrechts (1669) im 6. Kapitel erörtert werden. 8 In diesem Sinne verwendeten Gelehrte in der Epoche des Renaissancehumanismus bisweilen das Wort »reconcinnare«. So sieht der von Leibniz gelobte humanistische Philosoph Lorenzo Valla (1405/07–1457) seine Aufgabe in der Wiederherstellung der Dialektik und der Grundlage aller Philosophie, was er schon in Titeln seiner Werke zum Ausdruck bringt (Reconcinnatio totius dialectice et fundamentorum universalis philosophie), vgl. nur Lorenzo Valla, Repastinatio Dialectice et Philosophie, hg. von Gianni Zippel, Bd. I (1982), z.B. S. XIII, XXVIII, XXXI, XXXIV, XXXVI (Introduzione). Dass der Umbruchcharakter der Renaissance und das Aufkommen des Humanismus auf Leibniz eine große Faszination ausgeübt haben, wird in der Literatur nur selten erwähnt. Eine Ausnahme bildet insoweit Gerhard Stammler, Die unerforschte Tiefe der Leibnizschen Philosophie, in : Georgi Schischkoff (Hg.), Beiträge zur Leibniz-Forschung (1947), S. 26–36, 30–36. Speziell zu Leibniz’ Bewunderung der humanistischen Jurisprudenz und seinen Bezügen auf Valla siehe das 3. Kapitel II 3 und das 11. Kapitel I.
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Das Corpus Iuris Reconcinnatum
form‹ mehr bedeutet als eine bloße Anpassung an veränderte Gegebenheiten oder eine Strategie zur Kurskorrektur. Die Idee einer ›Reform‹ erscheint bereits in den Paulus-Briefen des Neuen Testaments und ist im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch die katholische Kirche näher ausformuliert worden. So haben frühe Befürworter einer Kirchenreform die Rückkehr zum Paradies oder die Wiedergewinnung eines idealisierten Zustandes der Urkirche gefordert. Auch Martin Luther (1483–1546) hat an die Vorstellung einer »reformatio ecclesiae« angeknüpft.9 In Parallele zu den Reformbestrebungen innerhalb der Kirche sollte für das Heilige Römische Reich ebenfalls eine ursprünglich vorhandene Einheit, Gestalt oder Form zurückgewonnen werden, von der man glaubte, dass sie im Lauf der Zeit verloren gegangen sei. Ein bekanntes Beispiel bildet die durch den »Reformreichstag« zu Worms (1521) beschlossene Reichsreform.10 Einiges spricht dafür, dass Leibniz diese Zusammenhänge vor Augen standen, als er in Mainz mit den Arbeiten an einer Verbesserung des römischen Rechts begann.11 Der von ihm gewählte Ausdruck »Reconcinnation« wäre dann in einem erweiterten Sinn von »Reform« zu verstehen.
III. Die Mängel des gegenwärtigen Rechtszustands als Ausgangspunkt Den Anstoß für eine Reform der Gesetzgebung boten Leibniz die offenbaren Mängel des zeitgenössischen Rechtswesens. Seine Suche nach den Ursachen führt ihn zurück bis zu den Kompilatoren der Justinianischen Kodifikation. Wieder 9 Der Begriff ›Reform‹ wird meist in Zusammenhang mit der Körpermetapher erörtert (siehe unten 5. Kapitel VI) : Jörg Pfeifer, Reform an Haupt und Gliedern (1997) ; Karl Augustin Frech, Reform an Haupt und Gliedern (1992) ; Karl-Heinz zur Mühlen, Reformation und Gegenreformation, Teil 1 (1999) ; Bernd Ch. Schneider, Ius Reformandi (2001) ; Gerhart B. Ladner, The Idea of Reform, 1959 (vgl. auch die Nachweise in der folgenden Note). 10 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Auflage (2009), § 15 I 1 (S. 102). Siehe ferner Wolfgang Durner, Die Idee der »Reform an Haupt und Gliedern«, in : ders., Franz-Joseph Peine (Hg.), Reform an Haupt und Gliedern (2009), S. 1–23. 11 Leibniz ging es um eine grundlegende Erneuerung des Staats an Haupt und Gliedern auf nahezu allen Gebieten der Politik, wobei Fragen der Reichsreform den Ausgangspunkt bildeten. Seine wichtigste, in der Mainzer Zeit verfasste Reformschrift dürfte die bereits erwähnte Securitas publica (Fn. 6) sein, in der nicht nur Fragen der Stärkung militärischer Abwehrkräfte, sondern auch der Reorganisation von Regierung und Verwaltung, der Verbesserung des Rechts und der Modernisierung von Wirtschaft und Finanzen erörtert werden (siehe 5. Kapitel III–VI). In diesem Zusammenhang spricht Leibniz von einer »öffentlichen reformation der Republic«, z.B. Securitas publica (Fn. 6), S. 137 (Hervorhebung im Original).
Die Mängel des gegenwärtigen Rechtszustands als Ausgangspunkt
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holt klagt er über die unübersichtliche Stoffanordnung, Redundanzen, veraltete Vorschriften und kaum noch überschaubare Interpretationen, die den geltenden Normenbestand zu einer Quelle von Ungerechtigkeiten machen würden. Dem Corpus Iuris fehle, was von jeder Gesetzgebung zu erwarten sei : Klarheit und Kürze. Dessen »Methode« beschreibt er sehr plastisch mit einem Vergleich. Sie sei so, also würde man einfach »10 Handelsbücher zusammen drucken laßen«, um die »Rechen- und Buchhalterkunst zu lehren«.12 Diese Monita harmonieren mit der Rechtskritik der eleganten Jurisprudenz, worauf sich Leibniz wiederholt bezogen hat.13 Auch er steht der Scholastik und mittelalterlichen Autoritäten wie Bartolus oder Baldus ablehnend gegenüber. Sein Interesse ist darauf gerichtet, den Text durch eine Korrektur der Stoffanordnung so zu rekonstruieren, wie ihn Justinian idealiter hätte erlassen müssen. Mit den Humanisten ist er der Meinung, dass an den überlieferten Fragmenten selbst dann nichts geändert werden soll, wenn diese keine unmittelbare Geltung mehr besitzen.14 Trotz der Mängel des Corpus iuris will Leibniz an der römischen Jurisprudenz als Grundlage seiner Rechtsreform festhalten. Von den verschiedenen Argumenten, die er zugunsten einer Fortgeltung des römischen Rechts anführt, ist vor allem seine Wertschätzung der römischen Juristen hervorzuheben. Deren Leistungen seien durch Eingriffe römischer Kaiser und spätere Anbauten von Glossatoren und Kommentatoren eher verdeckt als verständlich gemacht worden. Leibniz unterscheidet also zwischen der Stoffanordnung im Corpus Iuris und der ursprünglichen Gestalt der klassischen römischen Jurisprudenz.15 Wenn er betont, dass die Vorschriften des Naturrechts mit den Regeln der Pandekten in auffallender Weise übereinstimmen und er die begriffliche Schärfe, logische 12 Auf die Mängel des Corpus Iuris hat Leibniz öfter hingewiesen, vgl. z.B. Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (1671), in : Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 256–263, 259 ; Nova methodus II (Fn. 3), § 10 (S. 39–41). Siehe auch die Nachweise unten IV bei Note 21. 13 Vgl. z.B. den Rekurs auf Jacques Cujas (1522–1590) und Dionysius Gothofredus (1549–1622) im Brief an Jean Chapelain (?), 1. Hälfte 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 349– 373, 359 ; Ratio corporis iuris reconcinnandi (Fn. 4), §§ 119–123 (S. 104–105). 14 Ratio corporis iuris reconcinnandi (Fn. 4), §§ 84–86 (S. 101). Zu den innerhalb der humanistischen Jurisprudenz diskutierten Ansätzen siehe Hans Erich Troje, Graeca Leguntur (1971), S. 106–108 ; ders., Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in : ders. (Hg.), Humanistische Jurisprudenz (1993), S. 19–44 ; ders., »Crisis digestorum« (2011), S. 151 f., 169 passim. 15 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Hinweise auf den Vorbildcharakter des edictum perpetuum, z.B. in den »Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen« (Fn. 12), S. 258.
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Das Corpus Iuris Reconcinnatum
Klarheit und rationale Methode der klassischen Jurisprudenz lobt, so bewundert er vor allem die Fähigkeiten der römischen Juristen. In ihren Rechtslösungen erblickt Leibniz Emanationen der ratio, deren Kern er zu rekonstruieren und neu zu formulieren sucht. Immer wieder hat er betont, die römischen Juristen hätten ein Maß an Schärfe und Überzeugungskraft erreicht, das den Untersuchungen der großen Lehrer der Geometrie vergleichbar wäre.16 Wenn nun Leibniz glaubt, die Stoffmassen des römischen Rechts in einem einzigen Buch vereinigen zu können, geht er über die Ziele der humanistischen Jurisprudenz freilich weit hinaus. Woher nimmt er den Optimismus, dass sich ein solch ambitioniertes Projekt realisieren lässt ? Seine Zuversicht rührt aus den hohen Erwartungen an die geometrische Methode. Zu Leibniz’ Zeiten kam der Glaube auf, das Recht ließe sich mit Hilfe der ars Euclidis in ein geometrisches Begriffsgebilde bringen, wodurch die Probleme von Unklarheit, Verwirrung und Dunkelheit ein für allemal zu überwinden seien. Simplicitas lautete die Devise, zunächst in den Naturwissenschaften und dann auch in den Rechtswissenschaften.17 Leibniz wollte eine Vereinfachung dadurch erreichen, dass das geltende römische Recht auf seine Prinzipien reduziert werde. »Wir haben soviel methodus«, klagt er in einem Brief an den Kaiser, »und doch ist keiner der zu wege bringe daß eine jede lex […] unter ihren Grund und ration, daraus sie fließet, gebracht werde, da doch solches der einzige Weg die gleichsam luxuriirende Strahlen wie durch ein fernglas abzuschneiden«.18 16 So noch im Brief an den Naturrechtslehrer Heinrich Ernst Kestner (1671–1723) vom 1. Juli 1716, wenige Monate vor seinem Tod, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, Bd. IV 3 (1768), Nr. 15 (S. 267–269, 267 f.). Für die Zeit in Mainz sei auf die folgenden Briefe hingewiesen : An Conring vom 13./23. Januar 1670 und vom 9./19. April 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 323–337, 331, und S. 339–347, 345 ; an den Utrechter Philologen Johann Georg Graevius (1632–1703) vom 6./16. April 1670, in : AA II 1, S. 58–61, 60 ; an den Utrechter Arzt und Philosophen Lambert van Velthuysen (1622–1685) vom 6./16. April 1670, in : AA II 1, S. 62–64, 63. Siehe ferner Suite des Reflexions sur le livre intitulé loix civiles dans leur ordre nature (1695–96 ?), in : Gaston Grua, Textes inédites d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, Tome 2 (1948), S. 649–652 (zur Bedeutung des römischen Rechts als ratio scripta ; Gleichsetzung der römischen Jurisprudenz mit Natur, Liebe, Ewigkeit und Göttlichkeit ; Schilderung der Mängel des Corpus iuris und zur Frage, wie sie zu beheben seien). Aus der Sekundärliteratur sei vor allem auf die Schrift von Fritz Sturm hingewiesen, Das römische Recht in der Sicht von Gottfried Wilhelm Leibniz (1968), S. 21–23 (weitere Nachweise im 11. Kapitel I). 17 Siehe Clausdieter Schott, Einfachheit als Leitbild des Rechts und der Gesetzgebung, in : ZNR 5 (1983), S. 121–146. 18 Brief an Kaiser Leopold I., August (?) 1671, in : AA I 1, S. 57–62, 60. Zu Leibniz’ Prinzipialismus (auch unter dem Gesichtspunkt der Verbindungen mit Euklid) noch immer lesenswert : José
Die Durchführung des Kodifikationsplans
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IV. Die Durchführung des Kodifikationsplans Über den an den Mainzer Hofrat Herrmann Andreas Lasser ursprünglich erteilten Kodifikationsauftrag ist kaum etwas bekannt geworden.19 Es darf vermutet werden, dass sich dieser im Rahmen der damals üblichen Bemühungen um eine Anpassung der örtlich stark abweichenden Gewohnheitsrechte an das römische Recht bewegte. Das war die Aufgabe, die auch benachbarte rheinische Kurstaaten damals in Angriff nahmen, von denen namentlich das kurtrierische Landrecht von 1668 hervorzuheben wäre. Eine Kodifikation des gesamten Rechts enthielten sie nicht und hatten eine solche auch nicht geplant.20 Die Entwürfe, die Leibniz nach seinem Amtsantritt in Mainz vorlegte, gingen weit über die zeitgenössischen Gesetzgebungsvorhaben hinaus. Obwohl das Corpus iuris Reconcinnatum niemals zum Abschluss gebracht wurde, können wir uns ein ziemlich genaues Bild von seiner Durchführung machen. Denn Leibniz hat sich in den Jahren von 1668 bis 1672 häufiger dazu geäußert, wobei die »Ratio« von 1668 und die »Bedenken« von 1671 zu den wichtigsten Texten gehören.21 Im August des Jahres 1671 schreibt er an den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Leopold I. (1640–1705) : »Allerdurchleuchtigster, Großmächtigster Ortega y Gasset, Der Prinzipienbegriff bei Leibniz und die Entwicklung der Deduktionstheorie (1947), dt. München 1966. 19 In einem Brief an Conring vom 22. April 1670 spricht Boineburg von einer »richtigeren Anordnung des Rechts«, in : Johann Daniel Gruber (Hg.), Commercii Epistolici Leibnitiani (1745), S. 1285–1288, 1287 ; siehe auch Guhrauer, Leibniz (Fn. 2), S. 55. 20 Vgl. den Überblick bei Otto Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Bd. 2 (1864), S. 397–402. 21 Ratio corporis iuris reconcinnandi (Fn. 4). Diese Schrift enthält zweifellos viele Gedanken von Leibniz, ist aber von Lasser zumindest mitverfasst worden, worauf auch Form und Stil des Textes schließen lassen (später wird Leibniz bekennen : die »Ratio Corporis Juris Reconcinnandi non est ex toto mea«, Brief an Vincent Placcius vom 10. Mai 1676, in : AA II 1, S. 406–409, 407). Als Ergänzung dieser lateinischen Programmschrift sollen die »Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen« (Fn. 12), dienen. Hinzu kommt der wissenschaftliche Briefwechsel, wovon vor allem die beiden Briefe an Conring von 1670 (Fn. 16) sowie der Brief an Louis Ferrand vom 31. Januar 1672, in : Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), Werkplan für die Rechtsreform, S. 375–379, hervorzuheben wären. Einen guten Überblick über Leibniz’ Schilderung des Vorhabens bietet Kurt Dickerhof, Leibniz’ Bedeutung für die Gesetzgebung seiner Zeit (1941), S. 28, 109. Eine Darstellung des Projekts enthält auch die Eingabe an Kaiser Leopold I. vom August (?) 1671 (Fn. 18). Dieser Text stimmt mit den oben erwähnten »Bedenken« (Fn. 12) an vielen Stellen fast wörtlich überein. Die posthum unter dem Titel »Auszug aus des seel. Herrn von Leibnitz zu Mayntz in seiner Jugend an einen Freund datiertem Schreiben, von den Mängeln der römischen Gesetze, und Verbesserung der Rechts-Gelehrsamkeit«, in : Deutsche Acta eruditorum (1719), S. 287–296, veröffentlichte Schrift ist eine Rückübersetzung (aus dem Latei-
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und Unüberwindlichster Kaiser«, ich »erachte mich schuldig allerunterthänigst« von einem Vorhaben zu berichten, das auf eine Verbesserung der Jurisprudenz gerichtet ist.22 Sein Ziel ist, wie schon angedeutet, nichts Geringeres als »eine jede lex unter ihren Grund« zu bringen. In Anlehnung an Euklid nennt er diese Gründe »Elemente«, die kombiniert werden können und deren Summe dem Gesetzgeber alle regelungsbedürftigen Fälle vor Augen führe. Ihre Bedeutung soll durch Definitionen erklärt und auf einer Tabelle festgehalten werden. Die Elemente »können bestehen in einer einzigen Tafel, etwa in größe einer großen Holländischen Landcharte, darinnen alle Hauptregeln also begriffen, daß aus deren combination alle vorfallende fragen entschieden […] werden können, dergleichen noch nie vorgenommen, viel weniger gesehen worden«.23 Von einer solchen »Tafel« oder »Tabelle« erhoffte sich der gerade einmal 25-jährige Leibniz, die ganze »geographische Karte der Wissenschaft« auf »einen einzigen Blick« übersehen und ihre »einzelnen Provinzen durchwandern« zu können.24 Das Gesetzeswerk sollte nach seinen Vorstellungen in zwei Hauptkomplexe gegliedert sein, und zwar in einen »Ausbund« kurzer und klarer Rechte und in eine »Justification«.25 Für den Ausbund verwendet Leibniz unterschiedliche Bezeichnungen, etwa »Elementa juris Romani hodieque attendendi, brevis et certe« oder »Elementa juris civilis communis«.26 Gemeint ist damit jene Tafel, Tabelle oder Landkarte, die er auch in seiner Eingabe an den Kaiser beschrieben hat. Diese Tabula Elementorum soll durch einen Gesetzeskern (Nucleus legum Romanarum) ergänzt, verstärkt, authentifiziert werden. Der nucleus bildet den ersten Teil des zweiten Hauptkomplexes, der Justification. Durch ihn soll das Skelett der Tafel, wie Leibniz sich einmal ausdrückt, mit Fleisch bekleidet werden.27 Leibniz charakterisiert den nucleus, dessen Bestimmungen im Wortlaut wiedergegeben sind, als eine Art Rechtswörterbuch, ein »Compendium der Worte«, welches aus nischen) der »Bedenken« (Fn. 12), mit diesen also identisch (zu den Hintergründen Dickerhof, a.a.O. S. 28). 22 Brief an Kaiser Leopold I. (Fn. 18), S. 57. Da das Projekt als Privatarbeit das als Reichsrecht subsidiär geltende römische Gemeinrecht tangierte, sah Leibniz sich offenbar genötigt, den Kaiser zu informieren. 23 Brief an Kaiser Leopold I. (Fn. 18), S. 60 (Hervorhebung im Original). 24 So schon in der Nova methodus II (Fn. 3), § 7 (S. 33). 25 Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (Fn. 12), S. 261– 262. 26 Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (Fn. 12), S. 261 ; Brief an Ferrand (Fn. 21), S. 376, 377. 27 Brief an Ferrand (Fn. 21), S. 377.
Die Durchführung des Kodifikationsplans
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dem Corpus iuris all das versammelt, was wirklich »naturam legis und vim novi alicujus dispositivam hat«.28 Das Corpus iuris Reconcinnatum bildet den zweiten und ausführlicheren Teil der Justification. Es enthält sämtliche Worte der Gesetze, ohne dass irgendetwas hinzugefügt oder weggelassen worden wäre.29 Die Anordnung des Corpus iuris Reconcinnatum folgt der Systematisierung, die in der Tafel und im nucleus vorgenommen wurde. Das »Hauptsächlichste« des Corpus iuris Reconcinnatum sieht Leibniz darin, dass es alle Gesetze als Conclusiones unter ihre Principia, und nehmlich jeden Legem oder nach Gelegenheit, Paragraphum, unter seine Regulam in Tabula Elementorum positam, davon sie dependiret, bringet, und heraus führet, also zugleich rationem legis giebt, daraus denn deren Verstand und Erklärung Extension und Restriction in casu cessantis vel similis rationis klärlich hanget, und also nichts, so zu Verbesserung Römischer Rechte, (so lange sie ungeändert behalten werden sollen) nöthig sey, unterlassen wird.30
Wie schon in der Eingabe an den Kaiser angekündigt, zielt die von Leibniz geplante Rechtsreform also vor allem darauf, »eine jede lex unter ihren Grund« zu bringen. Um dies erreichen zu können, müssen mehrere Schritte vollzogen werden, denen die drei Bestandteile der geplanten Kodifikation entsprechen, und zwar die Tafel, der nucleus und das Corpus iuris Reconcinnatum. Das neue 28 Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (Fn. 12), S. 261– 262 (siehe auch unten V zu Leibniz’ Idee eines Rechtsalphabets und seinem Streben nach Rationalisierung durch juristische Methode). 29 Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (Fn. 12), S. 261 (»behält haarklein alle Worte«). Siehe auch die Angaben vorstehend III bei Note 14. 30 Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (Fn. 12), S. 261– 262 (Hervorhebungen im Original) ; siehe auch De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (1678/79 ?), in : AA VI 4 C, S. 2782–2791, 2791. Wie die Anordnung des Corpus iuris Reconcinnatum im Einzelnen aussehen sollte, hat Leibniz nicht näher beschrieben. Einen Überblick gibt er in den §§ 39 und 90 ff. der Ratio, wonach das große neue Corpus, statt aus sieben aus neun Teilen bestehen soll : Der erste Teil ist eine Zusammenfassung von allgemeinen Grundregeln (generalia Iuris et Actionum), dann folgen die nächsten Teile : (II) Iura Personarum, (III) Iudicia, (IV) Iura Realia, (V) Contractus, (VI) Successiones, (VII) Delicta, (VIII) Ius Publicum und (IX) Ius Sacrum, vgl. Ratio corporis iuris reconcinnandi (Fn. 4), § 92 (S. 101–102) ; siehe auch die ausführlichere Übersicht im Anhang der Ratio (a.a.O., S. 109–113). Diese Einteilung nach allgemeinen Materien macht deutlich, dass das Corpus iuris Reconcinnatum auch das Straf- und Öffentliche Recht enthalten sollte (für letzteres war eine zweite Tafel geplant). Dabei versäumt Leibniz es auch in der Ratio nicht, auf den Vorbildcharakter des Edictum perpetuum hinzuweisen, a.a.O., § 40 (S. 96).
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Werk soll das Corpus iuris, solange es noch Geltung hat, nicht ersetzen, sondern begleiten.31 Seine Funktion besteht darin, der Praxis im unermesslichen Gebiet des Rechts eine Orientierung zu bieten. In dem Gesetzgebungsprojekt finden Wissenschaft und Praxis also zusammen. Die Wissenschaft operiert hier nicht als Beobachterin, sondern als Teilnehmerin am Prozess der Rechtsgewinnung.32 Es sind besondere Situationen, etwa das Schweigen des Gesetzes, »perplexe« Fälle oder der Konflikt zwischen formalen und materialen Elementen, die den Rechtsanwender in einem Spannungsfeld zwischen der Bindung an das Gesetz und dem Erfordernis der Rechtserzeugung zurücklassen.33 In solchen Situationen soll das Werk als Kompass dienen. Leibniz trennt also zwischen jenem Teil, den man als Gesetz bezeichnen könnte, und den Prinzipien, auf deren Grundlage eine Erklärung der Gesetze gegeben und über Extension, Restriktion und letztlich über Anwendung entschieden wird. Sein Interesse gilt damit in erster Linie jenem Zwischenbereich von Einzelfall und Norm, den wir heute unter dem Stichwort »Dogmatik« zu diskutieren pflegen. Das zeigen auch seine Überlegungen zur »Methode«, worauf sogleich zurückzukommen ist (VI).
V. Zwischenergebnis : Zur Fallorientierung der Rechtswissenschaft Leibniz wollte eine Vereinfachung dadurch erreichen, dass das Recht auf seine Prinzipien reduziert werde. In Anlehnung an Euklid nennt er diese Prinzipien »Elemente«, die kombiniert werden können und deren Summe dem Gesetzgeber alle regelungsbedürftigen Fälle vor Augen führe. Bei den Elementen oder Prinzipien handelt es sich um jene Schicht ›zwischen‹ Gesetz und Einzelfall, ›zwischen‹ heteronom Entschiedenem und autonom zu Entscheidendem, welche in der aktuellen rechtstheoretischen Diskussion mit dem Begriff der ›Dogmatik‹
31 Siehe auch Ratio corporis iuris reconcinnandi (Fn. 4), § 195 (S. 103) : »Denique illud efficere ut Corpus reconcinnatum veteris non Successor, sed Comes habetur« (Hervorhebungen im Original). 32 Zur Unterscheidung der Perspektiven von Beobachter und Teilnehmer in den aktuellen Diskussionen über Rechtswissenschaft siehe Matthias Jestaedt, Wissenschaft im Recht, in : JZ (2014), S. 1–12 ; Oliver Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen im öffentlichen Recht, in : Eric Hilgendorf, Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft (2014), S. 53–92, 73 ; Hubert Rottleuthner, Methodologie und Organisation der Rechtswissenschaft, in : Selbstreflexion der Rechtswissenschaft (a.a.O.), S. 207–222, 212. 33 Näher zu diesen Situationen, insbesondere zum Konflikt zwischen formalen und materialen Elementen des Rechts, im 3. und 4. Kapitel sowie im II. Teil.
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in Zusammenhang gebracht wird.34 Ihre Funktion besteht nach heutiger Auffassung in einer »Entlastung« des Rechtsanwenders, während Leibniz von »Vereinfachung« spricht, was aber auf das gleiche hinausläuft.35 Wer heute nach den Anfängen der modernen Dogmatik fragt, könnte also mit Leibniz beginnen. Vor diesem Hintergrund muss auch der eigentümliche Anwendungsbezug seiner Methodologie interessieren : Unter dem Stichwort »theoria cum praxi« kommt die Verknüpfung von Theorie und Praxis in den verschiedensten der von Leibniz bearbeiteten Wissensgebiete zum Tragen. In den Rechtswissenschaften bedeutet »Praxis« für ihn, den konkreten Fall zum Ausgangspunkt zu nehmen, um von hier aus die allgemeine Regel, das Prinzip oder »Element« herauszudestillieren. Diese Richtung, nämlich vom Besonderen auf das Allgemeine zuzugehen, zeigt sich nicht nur in frühen Schriften wie der Dissertation De casibus perplexis oder der Nova methodus, sondern auch in späteren Werken, von denen der Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693) oder die Mantissa Codicis Juris Gentium Diplomaticus (1700) als Beispiele zu nennen wären.36 34 Z.B. Martin Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, in : Gregor Kirchhof, Stefan Magen, Karsten Schneider (Hg.), Was weiß Dogmatik ? (2012), S. 80–96, 81. Hervorhebung verdienen in diesem Zusammenhang Leibniz’ Versuche, konkrete Anwendungsregeln für die Billigkeit zu formulieren (insbesondere während der Arbeiten am Corpus iuris Reconcinnatum, vgl. 3. Kapitel IV 2 und 7. Kapitel V 2). Ähnliches gilt für die Ermittlung elementarer Rechtsbegriffe anlässlich seines Projekts eines Corpus Leopoldinus (siehe die Nachweise unten VIII a.E.). 35 Siehe unten VI. Kritisch zur Selbstermächtigung von Wissenschaft zur Normsetzung durch eine Berufung auf Prinzipien Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in : Was weiß Dogmatik ? (Fn. 34), S. 39–62, 59. 36 Eine Übersetzung der wichtigen und oft zitierten Einleitungen (praefationes) des Codex und der Mantissa findet sich bei Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211 (Codex) und S. 211–217 (Mantissa). Auf den Zusammenhang der »exempla« im »Codex« und des Aufbaus nach Fällen in der Mantissa mit »Praxis« hat jüngst Heinhard Steiger aufmerksam gemacht, Supremat – Außenpolitik und Völkerrecht bei Leibniz, in : Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.), Umwelt und Weltgestaltung (2015), S. 135–206, 164–165, 191, 199. Dazu auch Adolf Trendelenburg, Das Verhältniss des Allgemeinen zum Besondern in Leibnizens philosophischer Betrachtung und dessen Naturrecht (1848), in : ders. (Hg.), Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 (1855), S. 233–256, 239, 253. Siehe ferner im 12. Kapitel III zu Leibniz’ Kritik an Hobbes, der den umgekehrten Weg eingeschlagen habe, indem er von allgemeinen Kategorien auf das Besondere schließe und dabei die Bedingtheit aller menschlichen Verhältnisse verkenne. Zu beachten bleibt freilich, dass die Erkenntnis des Rechts und der Gerechtigkeit auch vom Wissen um die Substanz abhängt, sich das Recht (im weiteren Sinne) also zur Metaphysik wie »die Praxis zur Theorie« verhält, Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. III (zweite Hälfte), IV. Buch : Von der Erkenntnis,
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Leibniz meinte, der Jurist könne von einer Beobachtung individueller Fälle am meisten lernen. So gelangte er zu der Feststellung, dass unter den jüngeren juristischen Autoren in erster Linie die Verfasser von Konsilien (Rechtsgutachten) die Wissenschaft bereichert hätten.37 Vor allem in der Nova methodus hat er die Notwendigkeit unterstrichen, rechtswissenschaftliche Fragen vom konkreten Fall her zu entwickeln.38 Von hier aus führen mehrere Linien in die Gegenwart : An erster Stelle wäre die Lehrmethode der »praktischen Übungen« zu nennen, die dann über die 1847 erstmals von Rudolf von Jhering herausgegebenen »Civilrechtsfälle« bis heute zu einer festen Größe des Rechtsunterrichts wurde.39 Hinzu kommt die aktuell viel diskutierte Konkurrenz zwischen Rechtswissenschaft und Gesetzgeberkompetenz, wonach die in der Wissenschaft formulierten Prinzipien wie Sätze der entscheidungsbefugten Rechtspraxis auftreten : Leibniz will sich auf die Rolle eines Beobachters nicht beschränken. Er behandelt juristische Problemstellungen auch aus der Perspektive eines Teilnehmers, wenn er Anwendungsregeln für die Entscheidungstätigkeit des Rechtspraktikers zu formulieren sucht. Das Phänomen ›Wissenschaftliches Recht‹, dessen Eigenarten vor allem im 19. Jahrhundert durch die Historische Rechtsschule herausgearbeitet wurden, ist auch aktuell wieder unter Stichworten wie »Proprium des Rechts« oder »Steuerungsfunktion der Rechtswissenschaft« in den Fokus rechtstheoretischer Diskussion getreten.40 Schließlich sei noch auf zwei wirkungsmächtige S. 223–681, 423. Auf die Frage nach den Konsequenzen der vor allem nach 1686 ausgearbeiteten Metaphysik für die Fallorientierung von Leibniz’ juristischer Methodologie ist unten (9. Kapitel VI und VII) noch zurückzukommen. 37 Nova methodus II (Fn. 3), in : AA VI 1, S. 348 (§ 82). Auf die Fall- und Anwendungsorientierung seines Rechtsdenkens hatte bereits Savigny aufmerksam gemacht, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 127. Zu Leibniz’ Vorhaben einer Systematisierung des Fallrechts durch Entscheidungssammlungen siehe Hans-Peter Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« bei Leibniz, in : ARSP 52 (1966), S. 553–578, 567–570. 38 Siehe auch den Brief an den Hamburger Juristen, Bibliothekaren und Philosophen Vincent Placcius (1642–1699) vom März 1679 : »Itaque si quis jurisprudentiam factorum ordine persequi velit is primum de actionibus aget quae ex re potius sive casu quam personae voluntate nascuntur, inde ad delicta perget, denique leges, nempe contractus et ultimas voluntates tractabit. Et quae ex unoquoque facto nascuntur actiones enumerabit. Sed alia plane ratione rem instituet, qui jus quod ex facto nascitur, et conclusiones ex narratione libelli deductas primo spectabit« (AA II 1, S. 462–465, 463). Auf die Folgen der Fall- und Praxisorientierung für die Lehrmethode ist im 11. Kapitel I 2 noch einmal zurückzukommen. 39 Dazu auch Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« (Fn. 37), S. 559–560. Dass es sich hier um einen ›deutschen Sonderweg‹ handele, wird gegenwärtig wieder häufiger betont, z.B. Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik (Fn. 35), S. 47 (siehe 11. Kapitel I 2). 40 Vgl. die Beiträge in dem von Christoph Engel und Wolfgang Schön herausgegebenen Band : Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007). Zur Jurisprudenz als Steuerungswissenschaft siehe
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Abschnitte aufmerksam gemacht, welche in der Nova methodus mit dem Titel »Einteilung und Methode« enthalten sind. Leibniz unterscheidet darin vier Teile der Jurisprudenz, nämlich Didaktik, Geschichte, Exegese und Polemik : Alles was zur Unterrichtung des vollkommenen Rechtsgelehrten gehört, kann genau wie in der Theologie eingeteilt werden, nämlich in einen didaktischen oder positiven Teil, der alles dasjenige enthält, was in den als echt geltenden Schriftquellen ausdrücklich vorhanden ist und zum sicheren Recht gehört, in einen historischen Teil, der den Ursprung, die Verfasser, die Veränderungen und Aufhebungen der Gesetze aufzählt, in einen exegetischen Teil, der die als echt geltenden Schriften selbst auslegt, und schließlich, als Gipfel aller übrigen, in einen polemischen oder kontroversen Teil, der die durch den vorhandenen Bestand an Normen unentschiedenen Fälle gemäß der Vernunft und Ähnlichkeit löst. Von diesen Teilen sind der didaktische und der polemische Teil im eigentlichen Sinne Bestandteile der Jurisprudenz. Der historische und der exegetische aber sind bloße Bedingungen. Diese beiden sind theoretisch, jene beiden ersten praktisch, und das genügt dem Juristen als solchem, wenn er wissen will, was in einem vorliegenden Fall Rechtens ist.41
Bemerkenswert sind hier zunächst die beiden letzten Zeilen, in denen Leibniz die berühmte Frage »was ist Rechtens« stellt und vom »Juristen als solchem« spricht.42 Vorliegend interessiert vor allem der vierte Teil, nämlich die Polemik als der »Gipfel aller übrigen« Teile. Damit bringt Leibniz abermals zum AusBernd Grzeszick, Steuert die Dogmatik ?, in : Was weiß Dogmatik ? (Fn. 34), S. 98–109. Weitere Nachweise zur Diskussion über die Steuerungsproblematik bei Matthias Jestaedt, »Öffentliches Recht« als wissenschaftliche Disziplin, in : Das Proprium der Rechtswissenschaft, a.a.O., S. 241–281, 259–261 ; Christian Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in : Was weiß Dogmatik ? (Fn. 34), S. 17–37, 17. 41 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 3), §§ 2 und 3, S. 27 f. (Hervorhebungen im Original). Die vier Teile finden in den folgenden Abschnitten der Nova methodus eine eingehendere Erörterung : §§ 6–27 (Didaktik), §§ 38–61 (Geschichte), §§ 62–68 (Exegese), §§ 69–70 (Polemik). Zur Frage, inwieweit Leibniz in der Theologie ein Modell für die juristische Methode gesehen hat : Jérémie Griard, Theological Inspirations of Leibniz’s Nova Methodus Jurisprudentiae, in : Herbert Breger, Jürgen Herbst, Sven Erdner (Hg.), Natur und Subjekt (2011), S. 148–152. 42 Gustav Hugo wird gut hundert Jahre später auf die Frage »was ist Rechtens« mit »Dogmatik« antworten und damit den Begriff Dogmatik in einem fachwissenschaftlichen Sinne erstmals in die Jurisprudenz einbringen. Zu den Verbindungen zwischen Leibniz und Hugo siehe unten 11. Kapitel II sowie Meder : Was bedeutet Dogmatik ?, in : FS Kurt Ebert (im Erscheinen). Was die Rede vom »Juristen als solchem« angeht, so fällt es schwer, nicht an das berühmte Diktum Windscheids zu denken, dass bestimmte Problemstellungen »nicht Sache des Juristen als solchen« seien.
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Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph
druck, dass er gerade in den »perplexen«, schwierigen, zweifelhaften und kontrovers diskutierten Fällen, den sogenannten hard cases, die eigentliche Herausforderung der Wissenschaft erblickt.43
VI. Dogmatik als Methode : Leibniz’ und Jherings ›Rechtsalphabet‹ im Vergleich Während der Arbeiten am Corpus Iuris Reconcinnatum knüpfte Leibniz an seine in der Nova methodus formulierten Überlegungen zur juristischen Methode an und entwickelte diese weiter. Davon zeugt auch ein Brief, den er im Jahre 1670 an den französischen Kritiker und Dichter Jean Chapelain (1595–1674) verfasst hat.44 Er charakterisiert hier seine Methode als »analytisch«, weil sie darauf gerichtet sei, die kaum übersehbaren »Vielfalten« des Stoffes »in ihre elementaren Prinzipien aufzulösen«.45 Doch will Leibniz sie nicht auf eine »höchst mühsame« Analyse beschränken, sondern die isolierten Teile in einer »Ordnung« auch wieder neu zusammenfügen.46 Genau genommen handelt es sich also um eine »analytisch-synthetische Methode«.47 Ihre Besonderheit besteht nun drin, dass sie auf nichts Geringeres als den Entwurf eines Rechtsalphabets zielt : Denn die Sache muß überall so angelegt werden, daß die ersten Prinzipien, aus deren Kombination jedoch fast unendliche Vielheiten hervorgehen, gleichsam als Alphabet des Wissens weder aufgebläht noch blendend noch schwierig sind.48
Zu den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen eines solchen Alphabets hat Leibniz sich kurze Zeit später in einem Brief an Herzog Johann Friedrich näher geäußert : 43 Zu Leibniz’ Konzept einer jurisprudentia polemica siehe auch Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« (Fn. 37), S. 556, 559, 567. Auf die Verbindungen von Fallorientierung und Metaphysik ist noch zurückzukommen (9. Kapitel VII) ; zur folgenreichen Aussonderung der Polemik durch Hugo siehe 11. Kapitel II 1. 44 Der Brief an Chapelain wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des Jahres 1670 verfasst (Fn. 13). Es ist nicht ganz sicher, dass Chapelain tatsächlich der Adressat des wohl nie angekommenen Schreibens war, siehe Busche, Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 485 f. (dort auch zur Person des wahrscheinlichen Adressaten). 45 Brief an Chapelain, 1. Hälfte des Jahres 1670 (?), Fn. 13, S. 361. 46 Brief an Chapelain, 1. Hälfte des Jahres 1670 (?), Fn. 13, S. 359, 361. 47 Zutreffend Busche, Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 487. 48 Brief an Chapelain, 1. Hälfte des Jahres 1670 (?), Fn. 13, S. 361.
Dogmatik als Methode
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In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Artitmetica et Geometria gethan, in allen scientien zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kirchner zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein wenig gebahnet wird. Welche invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen von mir vor das importanteste gehalten wird, ob sie gleich das ansehen noch zur zeit nicht haben mag.49
Ein Vergleich von Leibniz’ Methode mit jüngeren Konzeptionen ergibt verblüffende Übereinstimmungen. Ein Beispiel bildet die Lehre von der juristischen Konstruktion, wie sie Rudolf von Jhering (1818–1892) rund zweihundert Jahre nach Leibniz formuliert hat. Drei »Fundamental-Operationen« sind bei Jhering zu unterscheiden, nämlich erstens die »Zersetzung« des Stoffs, zweitens seine Konzentration (mit der Unterscheidung von Peripherie und Zentrum) und drittens die systematische Anordnung.50 Die erste Operation, die Leibniz’ »Analyse« entspricht, soll auch bei Jhering dazu dienen, »die Idee des Alphabets auf das Recht« zu übertragen.51 Von »Combination« ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die Rede : Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zersetzung, Zurückführung des Zusammengesetzten auf seine Elemente, das Alphabet ist aus der Beobachtung hervorgegangen, daß die Sprache ihren ganzen Reichtum an Worten durch eine verschiedene Combination gewisser Grundlaute gebildet hat.52
49 An Herzog Johann Friedrich, 2. Hälfte Oktober (?) 1671, in : AA II 1, S. 159–165, 160. Zu Leibniz’ sprachphilosophischer Idee einer lingua universalis, dem in der Ars combinatoria formulierten Gedanken einer scriptura universalis, der Charcteristica universalis und ähnlichen Projekten siehe Detlev Blanke, Leibniz und die Lingua Universalis, in : Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 13 (1996), S. 27–35 ; Gerhard Stammler, Leibniz (1930), S. 103–108 (Sprachforschung) ; Bernhard Jansen S.J., Leibniz, erkenntnistheoretischer Realist (1920), S. 7 f. (unter dem Gesichtspunkt der Methode von Analysis und Synthesis). 50 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, 4. Auflage (1880), S. 334 (§ 39). 51 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 334 (§ 39). Siehe hierzu auch das 12. Kapitel I. 52 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 334 (§ 39). An anderer Stelle heißt es : »Glücklicherweise ist das Neue nur zum kleinsten Theil wirklich neu […], das Neue ist nur eine Combination oder eine Modification gewisser Grundbegriffe, der einfachen Elemente des Rechts« (a.a.O., S. 325).
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In einem ersten Schritt erfolgt also, wie bei Leibniz, eine Reduktion des Stoffes durch Abstraktion. Der zweite Schritt, die Konzentration, lässt an die Orte denken, welche Leibniz kartographieren wollte. Und die dritte »Operation«, die systematische Anordnung, entspricht der Synthese, wovon auch bei Leibniz immer wieder die Rede ist. Übereinstimmungen bestehen aber nicht nur hinsichtlich der Abfolge einzelner Verfahrensschritte, sondern auch in Bezug auf die Ziele, die mit der Methode erreicht werden sollen. Und diese harmonieren weitgehend mit den Funktionen, die gewöhnlich der Dogmatik zugeschrieben werden, nämlich Entlastung, Ordnung und System, Stabilisierung, Koppelung der Praxis mit Wissenschaft, Rechtsfortbildung.53 Es ist immer wieder gesagt worden, Jhering sei der Begründer der modernen Rechtsdogmatik.54 Daran ist richtig, dass Jhering nach Gustav Hugo als einer der ersten den Begriff »Dogmatik« in die Jurisprudenz eingebracht hat. Erinnert sei nur an den Titel der Zeitschrift »Jahrbücher der Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts«, die er mit dem befreundeten Germanisten und späteren Staatsrechtler Carl Friedrich Gerber (1823–1891) ins Leben gerufen hat. Seine Einleitung des neuen Periodikums stellt er unter die Überschrift »Unsere Aufgabe« und formuliert darin das Programm einer konstruktiven Jurisprudenz, deren methodischen Grundlagen er in den Bänden des »Geistes des römischen Rechts« später weiter ausarbeitete.55 Nach dem erwähnten Diktum von Leibniz darf das Alphabet des Wissens als Rechtsalphabet weder »aufgebläht« noch »schwierig« sein.56 Ebenso hofft Jhering das »Hauptproblem« juristischer Arbeit durch seine Methode lösen zu können, nämlich »die Erleichterung der Herrschaft über den Stoff durch Vereinfachung desselben«.57 Die »Vereinfachung« folgt dem »Gesetz der Sparsamkeit« und darin »erblicke ich eins der Lebensgesetze aller Jurisprudenz«.58 Darüber hinaus ließen sich noch viele weitere Gemeinsamkeiten mit Leibniz’ juristischer Methode und deren Zielen ausmachen. So stand auch bei Leibniz 53 Siehe nur den Überblick bei Andreas Voßkuhle, Was leistet Dogmatik ?, in : Was weiß Dogmatik ? (Fn. 34), S. 111–114. 54 Z.B. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik (Fn. 40), S. 29. Als Beispiel aus der älteren Literatur sei genannt : Semen V. Pachmann, Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft (1882), hg. v. Manfred Rehbinder (1986), S. 65. 55 Jhering, Unsere Aufgabe, in : Jahrbücher der Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 1 (1857), S. 1–52, 7 (»ich wende mich jetzt dem eigentlichen Gegenstande der vorliegenden Betrachtung zu, der Dogmatik«). 56 Leibniz, Brief an Chapelain, 1. Hälfte des Jahres 1670 (?), Fn. 13, S. 361. 57 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 334 (§ 39). 58 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 330, § 38 (Hervorhebung im Original).
Dogmatik als Methode
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der Anwendungsbezug jeder juristischen Methode ganz im Vordergrund. Dies zeigt sich z.B. darin, dass er meinte, juristische Probleme sollten vom konkreten Fall her gelöst werden.59 Es gibt es aber auch bedeutungsvolle Unterschiede, die daher rühren, dass Jhering seine methodologischen Überlegungen auf die »Technik des Rechts« beschränken möchte.60 Er räumt zwar ein, dass »der materielle Inhalt des Rechts von größtem Einfluß auf dessen Verwirklichung« sei. Doch habe der Jurist über die materielle Angemessenheit »keine Macht«, eine derartige Macht habe nur der Gesetzgeber. Zwar handele auch seine Methode von einer Angemessenheit. Doch sei diese nicht materieller, sondern lediglich formaler Art : Sie liegt beschlossen in der Frage : wie soll das Recht, ganz abgesehen von seinem Inhalt, eingerichtet und gestaltet sein, damit es durch die Art seines Mechanismus die Anwendung der Rechtssätze auf den concreten Fall möglichst vereinfache, erleichtere, sichere ?.61
Zur Lösung eines Konflikts zwischen formalen und materialen Elementen des Rechts würde Jherings Methode also kaum etwas beitragen können. Wer in dieser Lage ein Urteil zu fällen hat, müsste die Klage ablehnen oder den Gesetzgeber anrufen und dessen Entscheidung abwarten.62 Bei Leibniz spielen dagegen gerade die materiellen Elemente des Rechts eine wichtige Rolle.63 Seine Nova methodus kreist um die Frage, wann und in welchen Situationen der Jurist als Normproduzent auftritt. Dies verdient Hervorhebung, weil gerade in der jüngsten Zeit wieder lebhaft darüber diskutiert wird, ob Rechtsdogmatik eine Rechtsquelle sein kann.64 Nachgefragt werden dabei methodologische Entwürfe, die zur Lösung von Steuerungsproblemen etwas beitragen können. Ein Beispiel bil59 Siehe dazu oben V, wo ausgeführt wird, dass Leibniz, wie Jhering, mit der Praxisorientierung einen hochselektiven Zugang zum Phänomen Recht wählt. 60 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 325, § 38 (Hervorhebung im Original). 61 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 325, § 38 (Hervorhebung im Original). 62 Jhering, Geist II/2 (Fn. 50), S. 325, § 38 (Hervorhebung im Original). Umgekehrt darf Jhering zufolge der Gesetzgeber nicht konstruieren, d.h. keine Dogmatik betreiben, dazu näher Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung (2010), S. 38–39 (mit weiteren Nachweisen). 63 Ein Thema, das im 3. und 4. Kapitel unter Stichworten wie Differenz, Zweigliedrigkeit oder Dualismus des Rechts behandelt werden wird. 64 Zur Diskussion über das Thema ›Rechtsdogmatik als Normwissenschaft, als Steuerungswissenschaft‹, vgl. die Nachweise bei Matthias Jestaedt, Wissenschaft im Recht (Fn. 32), S. 1–12, 8 (bei Note 55 und 47). Siehe ferner : ders., »Öffentliches Recht« als wissenschaftliche Disziplin (Fn. 40), S. 266 ; Gregor Kirchhof, Stefan Magen, Dogmatik, in : Was weiß Dogmatik ? (Fn. 34), S. 151–172, S. 160, 161 ; Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik (Fn. 35), S. 52 (mit dem kritischen Hinweis auf die Selbstermächtigung zur Rechtserzeugung, die mit der Dogmatik verbunden sei).
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det das Konzept ›Jurisprudenz als Steuerungswissenschaft‹, worauf hier freilich nicht näher eingegangen werden kann.65
VII. Das Corpus iuris Reconcinnatum – ein Projekt moderner Staatlichkeit ? Es ist behauptet worden, Leibniz habe vor allem in seiner Mainzer Zeit jene eigentümliche Richtung des Naturrechts entwickelt, die im 18. Jahrhundert die vorherrschende wurde und bei der ihr innewohnenden starken Neigung zur Kodifikation die Grundlagen schuf für die drei großen Kodifikationen am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen, Frankreich und Österreich, die bis in die Gegenwart für die Kodifikationen aller Kulturländer vorbildlich und führend geworden sind.66
Diese Aussage harmoniert mit der These, Leibniz müsse, »nicht zuletzt« wegen seiner Bemühungen um eine »einheitliche rationale Kodifizierung des Rechts im Reich« zu den »Initiatoren und Promotoren moderner Staatlichkeit« gezählt werden.67 Im Hintergrund steht der Gedanke, dass Leibniz nach seinem Amts65 Siehe die Nachweise oben V (bei Note 40). Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, dass Jhering die Beschränkung seiner Methode auf die technische und formale Seite des Rechts nach seiner Abkehr von der ›Begriffsjurisprudenz‹ in Zweifel gezogen hat. Er meint nun : »Über dem bloß Formalen […] steht als Höheres und Höchstes die substantielle Idee der Gerechtigkeit«, Geist II/2 (Fn. 50), S. 361 (bei Note 506a). Diese Formulierung erinnert an Leibniz’ Dreistufenlehre, die vom bloß formalen Recht (ius strictum) ein höheres (aequitas) und höchstes Recht (pietas) unterscheidet (vgl. 3. Kapitel I). Allerdings hat Leibniz den Konflikt zwischen den Stufen von Anfang an in den Mittelpunkt seiner Rechtsphilosophie gerückt. Dagegen meint der junge Jhering : »Allein mit bona fides und aequitas könnten wir das ganze Recht über den Haufen werfen. Die heutige Jurisprudenz darf keine bona fides und aequitas mehr kennen ; daß sie es nicht darf, ist ihr Vorzug vor der römischen«, Abhandlungen über das römische Recht (1844), S. 51 (Hervorhebung im Original). Im Geist II/1, 4. Auflage (1880), S. 93 f., hat Jhering dann etwas mildere Formulierungen gefunden (siehe 3. Kapitel II 2). 66 Molitor, Leibniz in Mainz (Fn. 4), S. 472 ; ders., Der Versuch einer Neukodifikation des Römischen Rechts durch den Philosophen Leibniz, in : L’Europa e il diritto romano, Bd. I (1954), S. 357–373 (in dieser Schrift revidiert Molitor seine Auffassung von 1950, dazu unten bei Note 79). 67 Wolfgang Burgdorf, Securitas publica, in : Umwelt und Weltgestaltung (Fn. 36), S. 57–79, 64. Siehe auch Friedrich Beiderbeck, Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das politische Denken von G.W. Leibniz, in : ders., Stephan Waldhoff (Hg.), Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G.W. Leibniz (2011), S. 155–173, 160.
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antritt in Mainz begonnen habe, ein Projekt zu planen, das »erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem Jahre 1900« (BGB) zum Abschluss gekommen sei.68 Auch außerhalb von Deutschland ist die Annahme verbreitet, dass sich Leibniz’ »lifelong dream of a new imperial code« erst mit den drei großen Naturrechtskodifikationen und namentlich mit Inkrafttreten des BGB von 1900 erfüllt habe.69 Derartige Aussagen werden den Zielen von Leibniz’ Kodifikationsprojekt nicht gerecht. Sie legen einen Schleier über die fundamentalen Differenzen zwischen dem Corpus iuris Reconcinnatum und jüngeren Kodifikationen, nämlich den um die Wende zum 19. Jahrhundert entstandenen Naturrechtskodifikationen einerseits und dem auf einer völlig verschiedenen Regelungstechnik beruhenden BGB andererseits. Die Differenzen haben verfassungsrechtliche Gründe : Unter den Prämissen des mit Bodin, Hobbes oder Pufendorf zur Herrschaft gelangten ›modernen‹ Staatsverständnisses erhebt der allein der Vernunft und dem Gemeinwohl verpflichtete absolute Monarch Anspruch auf das Rechtsetzungsmonopol.70 Die Zentralisierung des Rechts im Gesetz sucht jede andere Rechtsbildung, Gewohnheit, Rechtsprechung oder Wissenschaft auszuschließen. Dieser Ansatz hat auch in den drei großen Naturrechtskodifikationen einen Niederschlag gefunden, wofür das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 mit seiner »ängstlichen Kasuistik« das vielleicht bekannteste Beispiel ist. Leibniz hält es dagegen nicht für erstrebenswert, im Gesetz das Recht zu monopolisieren. Ebenso wenig glaubt er, dass es möglich sei, ein vollständiges Gesetzbuch zu verfassen.71 Den Hauptgrund hierfür sieht er darin, dass Juristen 68 Hans-Peter Schneider, Leibniz und der moderne Staat, in : Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.), Leibniz und Niedersachsen (1999), S. 23–34, 30 (auf diese Schrift rekurrieren die in der vorstehenden Note genannten Autoren). 69 Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005), S. 67–160, 67. 70 Dazu näher im 3. Kapitel III und im 5. Kapitel. Auch der Voluntarismus des Vordenkers der preußischen Justizreform (mit dem ALR als Resultat), Samuel Freiherr von Cocceji, wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Leibniz hat ihm entschieden widersprochen, z.B. Observationes de Principio Juris (1700), in : Dutens, IV 3 (Fn. 16), S. 270–275 ; dazu näher Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 223–240. 71 Leibniz spricht bisweilen von ›Vollständigkeit‹, etwa in De casibus perplexis (AA VI 1, S. 231–258, 240), in der Nova methodus II (Fn. 3, § 21, S. 57), in der Eingabe an den Kaiser (Fn. 18) oder in den Bedenken (Fn. 12). Doch hat er dann die Vollständigkeit des Naturrechts (De casibus perplexis, a.a.O.) oder die Kombination der Elemente im Auge, und nicht jene Art von Vollständigkeit, welche z.B. das Preußische ALR mit seinen über 19.000 Vorschriften zu verwirklichen sucht. Das ist ›modern‹, weil auch heute kaum noch jemand glauben würde, es sei möglich, das gesamte Recht in einem Gesetzbuch abzubilden. In diesem Punkt gingen bereits die BGB-Verfasser über die Naturrechtskodifikationen hinaus, weil sie, was in der aktuellen Diskussion oft übersehen
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immer wieder mit Fällen in Berührung kommen, in denen das Gesetz schweigt. Nicht selten handelt es sich um Sachverhalte, die der Gesetzgeber wegen des Wandels sozialer Gegebenheiten gar nicht hätte vorhersehen können. Der Jurist ist dann gezwungen, selbständig eine Entscheidung zu treffen. Denn täglich tauchen neue Fälle auf. Indessen muß sich der Rechtsgelehrte die Arbeit machen, zumindest die bekannten Regionen zu durchqueren, d.h. die bereits durchgesegelten Fälle zu sichten und zu entscheiden. Wenn er vom Sturm an neue Gestade geworfen wird, d.h. auf neue Fälle stößt, so wird er mit Hilfe eines Kompasses, nämlich des Naturrechts, leicht hindurchfinden.72
Leibniz denkt nicht daran, mit einem Corpus iuris Reconcinnatum das Recht in staatlicher Gesetzgebung zu fixieren. Das neue Werk soll vielmehr als Kompass dienen, wenn der Jurist auf Fälle stößt, die sich auf Grundlage der herkömmlichen Instrumentarien nicht lösen lassen.73 Bereits dem Titel der Nova methodus (discendae docendaeque Jurisprudentiae) lässt sich entnehmen, dass Leibniz seiner Methode in erster Linie didaktischen Charakter beimisst. Er möchte einen »Leitfaden« (compendium discendorum) verfassen, der knapp und klar formuliert sein muss, damit »man die unendlichen Sonderfälle auf einen Schlag« lernen kann.74 An dieser Zielsetzung hat sich auch nach seinem Amtsantritt in Mainz wenig geändert. Im Brief an Ferrand beschreibt er die Grundlage des Corpus iuris Reconcinnatum, die von ihm für so wichtig erachtete Tafel mit den Worten : Was die Elemente des heutigen gemeinen bürgerlichen Rechts betrifft, so wage ich zu versprechen, daß man mit ihnen einen jungen Mann im Zeitraum von wenigen Wochen durch Spiel und Scherz so unterrichten kann, daß er mit eben diesen Elementen alle ihm vorgelegten Fälle ohne große Mühe beurteilen und
wird, die Wissenschaft ausdrücklich zur Normschöpfung ermächtigt haben (näher Meder, Was bedeutet Dogmatik ?, Fn. 42). 72 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 3), § 69 (S. 71), sowie die beiden Briefe an Conring von 1670 (Fn. 16). 73 Dazu gehören nicht nur neue oder bislang unbekannte, sondern auch »perplexe« Fälle, die Leibniz in seiner Dissertation De casibus perplexis von 1666 (in : AA VI 1, S. 231–258) zum Gegenstand der Untersuchung gemacht hat. 74 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 3), § 11 (S. 41–43) ; § 70 (S. 71, 75). Im Hintergrund steht abermals das Thema, welches vorstehend (V) unter Stichworten wie »Vereinfachung« oder »Entlastung« erörtert wurde.
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selbst die hitzigsten Kontroversen zwischen den Gelehrten nach festen Grundlagen entscheiden kann.75
Leibniz hält am didaktischen Charakter seiner Rechtsreform also fest. Doch will er nicht nur Lernenden, sondern auch Lehrenden, Gesetzgebern und praktischen Juristen einen Leitfaden an die Hand geben. Eine Rechtsbildung außerhalb des Staates ist dadurch keineswegs ausgeschlossen : was aber, wenn das Gesetz über einen vorliegenden Fall nichts sagt, d.h. wenn es sich weder ausdrücklich damit befaßt noch eine Folgerung aus ihm zu ziehen erlaubt ? Dann allerdings, meine ich, werdet ihr es nicht bestreiten, daß der Richter seine Entscheidung ebenso, gleichsam außerhalb der Staatsverfassung, verkünden muß, wie ein gewählter Schiedsmann (arbiter) zwischen zweien, die durch keine Gemeinschaft bürgerlichen Rechts verbunden sind, seinen Schiedsspruch fällen muß.76
Während nach dem ›modernen‹ Staatsverständnis, wie es im Anschluss an Bodin, Hobbes oder Pufendorf zur Herrschaft gelangt ist, der Souverän das Recht im Gesetz zu monopolisieren sucht, räumt Leibniz dem Richter eine freiere Stellung ein.77 Hinzu kommt, dass Leibniz eine außerstaatliche Normsetzung, etwa durch Gewohnheitsrecht oder Verbände ohne Weiteres anerkennt.78 Die Gründe für diese aus heutiger Sicht bemerkenswerte rechtsquellentheoretische Position liegen in seiner politischen Philosophie und seinem anderen Souveränitätsverständnis, worauf noch zurückzukommen ist. Hier genügt es festzuhalten, dass die Ziele von Leibniz Mainzer Kodifikationsvorhaben weder mit denen der erwähnten Naturrechtskodifikationen noch dem BGB verwechselt werden dürfen. Die Ursachen für die Unterschiede liegen auch nicht in dem »besonderen
75 Brief an Ferrand (Fn. 21), S. 377. 76 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 16), S. 341. 77 Dazu näher unten im 10. Kapitel IV 2. 78 Dazu hat er sich in späteren Schriften, vor allem in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie von Hobbes, eingehender geäußert, vgl. z.B. Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81 ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit, hg. v. Wenchao Li (2014), S. 47 (in Bezug auf die Verbände folgt dies aus deren Einordnung als persona civilis, siehe unten 5. Kapitel IV und V). Unter den Prämissen einer Rechtsquellenvielfalt stehen auch Leibniz’ bahnbrechende Überlegungen zum Völkerrecht, vgl. Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts (2016), S. 221–225, 223.
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Styl«, der Leibniz’ Kodifikationsvorhaben kennzeichnen soll.79 Es sind vielmehr verfassungsrechtliche Gründe, auf denen die fundamentalen Differenzen zwischen dem Projekt eines Corpus iuris Reconcinnatum und jenen Kodifikationen beruhen, in denen wir heute einen Ausdruck ›moderner‹ Staatlichkeit zu sehen pflegen.
VIII. Resümee und Ausblick In Mainz bot sich Leibniz erstmals die Gelegenheit, seine Reformüberlegungen in die Praxis umzusetzen. Dort wurde ihm die Aufgabe übertragen, die Hauptquelle des damaligen Rechts, das Corpus Iuris Civilis in einem knappen übersichtlichen Gesetzbuch zusammenzufassen. Der Akzent dieses Kodifikationsprojekts, des sogenannten Corpus Iuris Reconcinnatum, lag auf der Systematisierung. Das römische Recht sollte, wie Leibniz wiederholt betonte, nicht angetastet werden. In der Mainzer Zeit hat Leibniz intensiv an der Kodifikation gearbeitet, ohne sie dort freilich jemals abzuschließen. Die Ankunft in Hannover verbindet er mit der Hoffnung, die Arbeit an dem Werk fortsetzen zu können.80 Bald aber modifiziert er das Konzept : Sein zweites Kodifikationsprojekt, das sogenannte Corpus Leopoldinus, soll neben römischem und kanonischem auch deutsches Recht, in Europa geltende Landesrechte und Leitsätze der Rechtsprechung enthalten. Leibniz erweitert in Hannover jedoch nicht nur die Quellengrundlage, er will auch neue Ziele erreichen : Anders als das ursprüngliche Corpus Iuris Reconcinnatum soll das Corpus Leopoldinus das Justinianische Gesetzbuch nicht nur rechtssystematisch erschließen, sondern ablösen.81 79 So aber Molitor, Der Versuch einer Neukodifikation des Römischen Rechts durch den Philosophen Leibniz (Fn. 66), S. 373, der 1950 (Leibniz in Mainz, Fn. 4) noch die Parallelen mit den großen Naturrechtskodifikationen betont hat. In der vier Jahre später (1954) publizierten Schrift gelangt der Autor dagegen zu der Einsicht, »dass die Kodifikation, wie Leibniz sie erstrebte, eine im Kern ganz andere war, als die grossen Kodifikationen der drei mitteleuropäischen Grossmächte Preussen, Frankreich und Österreich am Ausgang des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts«. Trotz »äusserer Ähnlichkeiten im juristischen Denken« läge der Unterschied zwischen Leibniz’ Corpus iuris Reconcinnatum und den modernen Kodifikationen in dessen »besonderen Styl«, Der Versuch einer Neukodifikation des Römischen Rechts durch den Philosophen Leibniz (Fn. 66), S. 373. 80 Brief an einen Unbenannten von 1677 (?), in : AA I 2, S. 306–308, 307 (Hervorhebung im Original). 81 Vgl. den Brief an den kaiserlichen Hofkanzler in Wien, Baron Hocher, vom 7. Juli 1678, in : AA I 2, S. 346–352. Dazu Dickerhof, Leibniz’ Bedeutung für die Gesetzgebung seiner Zeit (Fn. 21), S. 39–52 ; Sturm, Das römische Recht in der Sicht von Gottfried Wilhelm Leibniz (Fn. 16), S. 10
Resümee und Ausblick
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Zwischen 1677 und 1682 versucht Leibniz, für elementare Rechtsbegriffe seines Corpus Leopoldinus Definitionen zu finden.82 Nach längeren Unterbrechungen sind die Arbeiten an dem Kodifikationsprojekt 1698 so weit fortgeschritten, dass es vielleicht nur noch eines kaiserlichen Auftrags bedurft hätte, um das Werk zur Publikationsreife zu bringen.83 Ein solcher Auftrag ist aber nie erteilt, auch dieses Projekt also nicht vollendet worden. Gleichwohl hat Leibniz an seiner Idee einer Rechtsreform bis an sein Lebensende festgehalten. Dass auf seinem Sterbebett ein Exemplar der Nova Methodus gefunden wurde, die er überarbeiten und erneut publizieren wollte, ist bereits erwähnt worden.84
f.; Schneider, Justitia universalis (Fn. 70), S. 90–92. ›Vollständigkeit‹ im Sinne der Naturrechtskodifikationen hat Leibniz aber auch mit dem Corpus Leopoldinus nicht angestrebt (vgl. die Nachweise bei Dickerhof, Leibniz’ Bedeutung für die Gesetzgebung, a.a.O., S. 45–47). 82 Siehe nur die erstmals bei Grua, Textes inédites II (Fn. 16), abgedruckten Texte : Rationale digestorum (S. 629–632), Definitionum Juris Specimen (S. 721–743), De obligatione (S. 743–745), Capita Jurisprudentia (S. 745), De querelis (S. 749) ; De postulationibus (S. 750–760) ; De Systemate Juris Romani (S. 763–767) ; De securitate (S. 878–880). 83 Vgl. Schneider, Justitia universalis (Fn. 70) S. 91. Leibniz selbst hat sich freilich mit seinen Aufgaben als Historiograph entschuldigt, siehe Luig, Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in : Okko Behrends (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition (1985), S. 213–256, 255. Wahrscheinlich hat er generell die Schwierigkeiten seiner Kodifikationsprojekte unterschätzt. 84 Vgl. 1. Kapitel I.
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3. Kapitel
Die Lehre von den drei Stufen des Naturrechts
Gottfried Wilhelm Leibniz hat in zahlreichen Schriften, Fragmenten und Briefen eine allgemeine Rechtslehre formuliert, die unter Bezeichnungen wie »Dreistufenlehre« oder »Naturrechtstrilogie« bekannt geworden ist.1 Die Naturrechtstrilogie beruht auf einer Kombination aus drei Elementen – oder genauer : aus den drei obersten Rechtsvorschriften (praecepta iuris), welche die klassische römische Jurisprudenz mit den Worten honeste vivere (ehrenhaft leben), neminem laedere (niemanden verletzen) und suum cuique tribuere (jedem das Seine gewähren) umschrieben hat.2 Leibniz knüpft an diese Einteilung an, bringt sie aber in eine neue Reihenfolge. Das neminem laedere stellt er auf die erste Stufe und unterscheidet davon die beiden anderen praecepta : das suum cuique tribuere und honeste vivere, die er als zweite und dritte Stufe auf einer höheren Ebene ansiedelt.
I. Die drei praecepta iuris als Einteilung des Rechts Dass diese Anordnung durchaus originell ist – dass sie keine Vorläufer und auch keine Nachfolger zu haben scheint, hängt mit der komplexen Wechselwirkung 1 Leibniz, Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, §§ 73–75 (S. 79–83) ; Brief an Hermann Conring vom 13./23. Januar 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht, a.a.O., S. 323– 337 ; Brief an Hermann Conring vom 9./19. April 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (a.a.O.), S. 339–347 ; Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 169– 171 ; Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81 ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit, hg. v. Wenchao Li (2014), S. 44–51. Aus der reichhaltigen Literatur zur Dreistufenlehre, die sich allerdings weitgehend auf skizzenhafte Überblicke beschränkt, ragen zwei Studien von Hubertus Busche heraus : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (1997), S. 297–403 ; Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 29–53. Grundlage für die Ausführungen in diesem und im folgenden Kapitel bildet mein Beitrag The Role of ›ius strictum‹ in the Legal Philosophy of Leibniz, in : Wenchao Li u.a. (Hg.), »Für unser Glück oder das Glück anderer«, Bd. VI (2017), S. 581–616. 2 Ulpian in D. 1.1.10 ; Inst. 1.1.3 (in dieser Reihenfolge).
Die drei praecepta iuris als Einteilung des Rechts
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von ius strictum und aequitas zusammen.3 Im »strengen Recht« (ius strictum) erblickt Leibniz das Recht im eigentlichen Sinne. Es ist durch das Gebot bestimmt, niemanden zu schädigen (neminem laedere), und hat die Aufgabe, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Die nächsthöhere Stufe, die Billigkeit (aequitas), gewährt dagegen nur ein Recht »im weiten Sinne des Wortes«. Sie erstreckt sich auf Einbußen oder Verdienste, die für die Betroffenen nicht immer einklagbar, juristisch nicht in allen Fällen erzwingbar sind.4 Hier herrscht das Gebot, »allen zu nutzen, freilich in dem Maße, wie es einem jedem angemessen ist oder wie er es verdient, da man ja nicht alle gleichermaßen begünstigen kann« (suum cuique tribuere). Auf der dritten und höchsten Stufe thront die Frömmigkeit (pietas) mit dem Gebot, dass wir ein rechtschaffenes Leben führen sollen (honeste vivere). Diese Stufen bringt Leibniz noch mit einer anderen Dreiteilung in Zusammenhang, nämlich mit Aristoteles’ berühmter Lehre von der Gerechtigkeit, die auf der Unterscheidung von ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia commutativa), zuteilender Gerechtigkeit (iustitia distributiva) und universaler Gerechtigkeit (iustitia universalis) fußt.5 Dabei stellt er die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) auf die Stufe strengen Rechts, während er die zuteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) und die universale Gerechtigkeit (iustitia universalis) auf den jeweils höheren Ebenen ansiedelt.6 Zudem erörtert Leibniz das ius strictum im Zusammenhang mit den Quellen des positiven Rechts. Hier erscheinen die Abstufungen des Naturrechts in einer zweigliedrigen Gestalt. Das ius strictum steht für die ›formale‹ Seite des Rechts, während aequitas und pietas seine materialen Elemente umfassen. Sie liegen an der Grenze des Rechts zur Moral und wer ihre Gebote verletzt, kann von irdischen Gerichten nicht immer 3 Näher unten IV (wobei der Akzent auf dem ius strictum liegt ; aequitas und pietas werden im II. Teil eingehender erörtert). Zur umstrittenen Frage, ob Leibniz’ Dreistufenlehre originär und ausschließlich Leibniz’sches Gedankengut enthält, siehe die Nachweise in der Einleitung von Busche, Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. XI–CXII, LXVIII. Ulpians Einteilung ist in der Literatur oft erörtert worden, auch von so verschiedenen Autoren wie Kant oder Savigny. Ihre Darstellungen dürfen als Beispiele dafür angesehen werden, wie unterschiedlich die praecepta iuris aufgefasst werden können. Savigny behandelt sie im Anhang seines »Systems«, weil diese »Klassification« von »neueren Schriftstellern« nicht mehr angewendet worden sei, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 407–410 (näher im 11. Kapitel I 6). Eine kritische Würdigung von Kants Rezeption der praecepta iuris findet sich bei Philipp-Alexander Hirsch, Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784 (2012), S. 58–62 passim. 4 Z.B. Nova methodus (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81) ; Praefatio (Fn. 1), S. 168, 169 (als Beispiele für nicht erzwingbare ›Rechte‹ nennt Leibniz »Dankbarkeit« oder »Erbarmen«). 5 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Fünftes Buch, Kap. 1–8. 6 Siehe die Nachweise in Fn. 1 (insbesondere den Brief an Conring vom 13./23. Januar 1670, S. 331).
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Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph
belangt werden. Aequitas und pietas fallen, wenn überhaupt, in das Gebiet des öffentlichen Rechts, während das ius strictum vornehmlich Privatrecht ist. Mit seiner ›dualen‹ Gliederung der Quellen opponiert Leibniz gegen jene Autoren, die ihre Rechtsquellenlehre auf das ius strictum beschränken und damit nur eine, nämlich die formale Struktur des Rechts anerkennen wollen. Die Einteilung in strenges und unstrenges Recht ist noch heute aktuell. Nach wie vor pflegen die Rechtswissenschaften zwischen »formalen« und »materialen« Elementen zu unterscheiden.7 Mit seinem Konzept des ius strictum ist es Leibniz gelungen, Altes und Neues in glücklicher Weise zu verbinden. Im Kern handelt es sich dabei um eine philosophische Darstellung von Strukturen, die bereits im römischen Recht angelegt sind. Mit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit haben diese Strukturen eine Wiederbelebung, Fortsetzung und Weiterentwicklung erfahren. Die folgende Skizze des Zusammenspiels der Epochen will einen Eindruck von dem Bild vermitteln, welches Leibniz vor Augen gestanden haben mag, als er seine Lehre von den drei Stufen des Naturrechts formulierte.
II. Zur Vorgeschichte der Stufenlehre : Römische, mittelalterliche und humanistische Jurisprudenz Der Begriff des ius strictum kommt in den praecepta iuris nicht vor. Doch entstammt auch er dem römischen Recht. Seine Bedeutung hat in der langen Spanne von der Zwölftafelgesetzgebung (5. Jahrhundert v. Chr.) über die klassische Jurisprudenz bis zur Auflösung des weströmischen Reichs (5. Jahrhun7 Dazu näher im 4. Kapitel II und III. Eine Zweigliedrigkeit der Quellen darf angenommen werden, wenn aequitas und pietas zu einer materialen Einheit zusammengezogen werden. Einen alternativen Weg zur ›Dualität‹ eröffnet Leibniz’ Unterscheidung von iustitia particularis und iustitia universalis. Danach gliedert sich die erste in das formale (ius strictum) und das materiale Recht (ius aequum), während die letztere (pietas) als das Gebiet des Gewissens, der inneren Gerichtsbarkeit oder Moral aus dem Recht weitgehend ausgesondert wird, z.B. Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (1680 ?), in : AA VI 4, C, S. 2862–2871, 2864 (est autem justitia particularis duplex commutativa et distributiva) ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 45 ; näher Busche, Leibniz› Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 309–310, 319 (zur iustitia particularis) ; S. 304, 331 (Motivierung der pietas durch religiöse Ausgleichsmechanismen). Von der pietas führt mithin eine Linie zu § 89 der Monadologie, vgl. Matthias Armgardt, Die Monadologie als Vollendung der Rechtstheorie von G.W. Leibniz, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 343–353, 351–353 (siehe dazu im II. Teil insbesondere das 8. Kapitel).
Zur Vorgeschichte der Stufenlehre
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dert n. Chr.) und den Untergang des byzantinischen Reichs (15. Jahrhundert) vielfältige Wandlungen erfahren. Verkürzt ließe sich zwischen dem ius strictum der altrömischen (vorklassischen) und dem ius strictum der klassischen (bzw. nachklassischen) Periode unterscheiden. 1. Das ius strictum in der altrömischen Periode
Wie andere frühe Rechtskulturen war auch das altrömische Recht durch strukturelle Mündlichkeit geprägt. Das ius strictum erscheint hier als Problem der Form im Recht. Es darf vermutet werden, dass es in einer oralen Kultur ohne Formalismus überhaupt kein Recht geben kann. Wo eine schriftliche Aufzeichnung nicht oder nur in Ausnahmefällen vorkommt, erinnern Gesellschaften mit Hilfe von Ritualen, Gebärden, Spruchformeln ihre Vergangenheit. Dazu bedarf es vor allem der Wiederholung durch häufigen Gebrauch und der Eingängigkeit durch Sprichwörter, kurze und formelhafte Ausdrücke oder memorierbare Gedanken. Der durch Formeln oder Gebärden äußerlich wahrnehmbare Rechtsritus entscheidet über die Wirkung einer Rechtshandlung : Jedes Sichversprechen beim Gebrauch der vorgeschriebenen Formel, jede falsche Körperhaltung und Gebärde kann zum Verlust von Rechtspositionen führen (qui cadit a syllaba, cadit a causa). Der Gegner achtet auf jeden Fehler, auf jedes Stottern und Zögern, auf jede Lockerung der Haltung. Im alten Recht ist es oftmals gar nicht Aufgabe der Gerichte, nachträglich festzustellen, was tatsächlich geschehen ist. Vielmehr geht es darum, das Recht sich selber aussprechen und verwirklichen zu lassen. Hierfür reicht die Kenntnis der Formen aus – nicht ganz unähnlich der Kenntnis des Rituals oder der Liturgie im religiösen Bereich. Daher bestand in der römischen Frühzeit eine durch den korrekten Gebrauch der Spruchformeln begründete Zahlungsverpflichtung des Schuldners selbst dann, wenn der Gläubiger das Darlehn in Wahrheit gar nicht ausbezahlt oder die Ware nicht geliefert hatte.8 Auch das Gerichtsverfahren konnte zu einer Quelle von Ungerechtigkeiten werden, weil die Parteien in genau festgelegten Spruchformeln ihre Rechte geltend machen mussten. In seinen »Institutionen« schildert Gaius die Probleme einer auf strukturelle Mündlichkeit gegründeten 8 Vgl. Meder, Schriftlichkeit, Papier und Recht, in : SZ (GA) 132 (2015), S. 219–250, 222–229. Siehe nur das Beispiel bei dem römischen Juristen Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.), Institutionen (hg. v. Emil Seckel, Bernhard Kübler, 7. Auflage, 1935 ; dt. Ulrich Manthe, Die Institutionen des Gaius, 2004) IV, 116 (dazu auch unten 2). Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht auch das altrömische Recht schon Milderungen kannte (als Beispiele seien nur der Schutz von Minderjährigen oder die Berücksichtigung unabsichtlichen Handelns genannt).
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Rechtsordnung und die Bemühungen der klassischen römischen Jurisprudenz um eine Vermeidung irrationaler Ergebnisse durch Beseitigung der alten Formenstrenge.9 Nach archaischer Vorstellung ist Recht nicht deshalb Recht, weil es eine Wahrheit ausspricht, sondern weil die Form gewahrt bleibt. Auf den ersten Blick scheint es hier Verbindungen mit dem neuzeitlichen Satz auctoritas non veritas facit legem zu geben, der anzeigt, dass ein Gesetz nicht wegen seiner Wahrheit oder Vernünftigkeit, sondern aus anderen Gründen Gesetz sein würde. Danach wäre jedes Werturteil über das Gesetz zu vermeiden, weil juristische Normen weder gut noch schlecht sein können und sich durch ihre bloße Existenz zu rechtfertigen vermögen. Mit unübertroffener Klarheit hat der Staats- und Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881–1973) das Credo des modernen staatsrechtlichen Positivismus formuliert : Die Forderung, Recht von Moral und Rechtswissenschaft von Ethik zu unterscheiden, bedeutet, daß vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Erkenntnis des positiven Rechts dessen Legitimierung durch eine von der Rechtsordnung verschiedene Moralordnung irrelevant ist, da Rechtswissenschaft ihren Gegenstand weder zu billigen noch zu mißbilligen, sondern nur zu erkennen und zu beschreiben hat.10
Diese Argumente sind von den Gründen des altrömischen Rechts sehr verschieden : Während die Formalstruktur früher Rechtskulturen durch »strukturelle Mündlichkeit« eine Art ›medientheoretischer‹ Erklärung findet, ist sie im neuzeitlichen Recht auf den Befehl einer souveränen Staatsgewalt zurückzuführen. 2. Ius strictum und aequitas in der klassischen bzw. nachklassischen Periode
Das ius strictum überschneidet sich mit dem alten ius civile, das seit jeher denjenen Bereich der Rechtsordnung umfasst, der allein für die römischen Bürger gilt. Der Abbau von Förmlichkeiten ist der gemeinsame Gesichtspunkt, unter dem sich die rasch anwachsenden Verflechtungen des durch strukturelle Münd 9 Gaius, Institutionen (Fn. 8), z.B. III, 18–25 ; IV, 11 ; IV, 116. Wenn Gaius hier von »iniquitates« (Unbilligkeiten) spricht, wird deutlich, dass der Kampf mit der Formenstrenge alten Rechts einen der Ausgangspunkte für die Entwicklung der römischen aequitas bildete. Weitere Quellenangaben bei Hermann Gottlieb Heumann, Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 11. Auflage (1907), S. 558 (strictus) ; Alfred Manigk, Ius strictum, in : Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. X, 2 (1919), Sp. 1301. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage (1960), S. 70 (zu den staatsphilosophischen Prämissen des aufgeklärten Positivismus siehe das 5. Kapitel).
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lichkeit geprägten ius civile mit den jüngeren Rechtsschichten des ius honorarium und des ius gentium betrachten lassen.11 Das ius gentium darf als eine Art »Naturrecht« (ius naturale) des römischen Rechts aufgefasst werden – als ein überzeitliches Recht, das auf der natürlichen Vernunft (naturalis ratio) beruht und unabhängig vom Bürgerrecht der Beteiligten für alle Menschen gelten soll. Gaius hat das ius gentium mit den bekannten Worten umschrieben : Alle Völker, welche durch Gesetz und Gewohnheit regiert werden, bedienen sich teils ihres eigentümlichen, teils des allen Menschen gemeinsamen Rechtes. Dasjenige Recht nämlich, welches sich jedes Volk selbst setzt, ist sein eigentümliches und wird bürgerliches Recht (ius civile) genannt, gleichsam das eigentümliche Recht dieses Staates ; was dagegen das natürliche Rechtsbewußtsein (naturalis ratio) unter allen Menschen festsetzt, das wird bei allen Völkern gleichmäßig beachtet und Weltrecht (ius gentium) genannt, welchen Rechts sich gleichsam alle Nationen bedienen. Daher bedient sich das römische Volk teils seines eigentümlichen, teils des allen Menschen gemeinsamen Rechts.12
Mit dem Siegeszug des ius gentium kam also eine (mindestens) zweigliedrige Rechtsquellenlehre zur Herrschaft. Zwar wollten Gesetze weiterhin strikt ausgelegt werden, doch war es nun möglich, das ius civile zu korrigieren, wenn auf seiner Grundlage Ergebnisse erzielt wurden, die mit der naturalis ratio in Konflikt gerieten. Für diese zweite Rechtsquelle sind über ius gentium oder ius honorarium hinaus ganz unterschiedliche Begriffe, etwa ius aequum (Billigkeit), humanitas (Menschlichkeit) oder bona fides (Treu und Glauben) zum Einsatz gebracht worden.13 11 Zu den Begriffen siehe Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 62–68. Dass die aequitas häufig über den Prätor Eingang in die Rechtsordnung gefunden hat und großenteils als ius honorarium zu qualifizieren ist, wurde in der romanistischen Literatur oft hervorgehoben, vgl. etwa Fritz Pringsheim, jus aequum und jus strictum, in : SZ (RA) 42 (1921), S. 643–668, 644 ; Ulrich von Lübtow, Das römische Volk (1955), S. 454 ; Vojtech Polacek, Zum Gerechtigkeitsgedanken im römischen Recht, in : SZ (RA) 77 (1960), S. 160–181, 174 ; Max Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt (1971), 2. Auflage, S. 195 ; Ulrike Babusiaux, Zur Funktion der aequitas naturalis in Ulpians Ediktslaudationen, in : Dario Mantovani, Aldo Schiavone (Hg.), Testi e problemi del giusnaturalismo romano (2007), S. 300–322 (weitere Nachweise unten bei Note 17). Dieser Befund spielt, wie noch zu zeigen ist, in Leibniz’ Stufenlehre eine wichtige Rolle (IV 3). 12 Gaius, Institutionen (Fn. 8), I, 1. Zur vereinheitlichenden Tendenz der naturalis ratio, die es (als naturalis aequitas) den spätklassischen Juristen ermöglichte, das römische Recht auf alle Bürger des Weltreichs zu erstrecken, siehe Babusiaux, Zur Funktion der aequitas naturalis in Ulpians Ediktslaudationen (Fn. 11), S. 604 (mit weiteren Nachweisen). 13 Einen guten Überblick über terminologische Schattierungen (naturalis aequitas, naturalis ra-
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Die römische aequitas kann verschiedene Funktionen und Inhalte haben. Im Folgenden seien, mit Blick auf das ius strictum und Leibniz’ Stufenlehre, einige Beispiele genannt : Dass mit der aequitas dem ius eine regulierende, kontrollierende, zuweilen auch berichtigende Größe gegenübersteht, darf als eine gesicherte Erkenntnis der Romanistik bezeichnet werden.14 Darüber hinaus kommt sie ins Spiel, wenn es bei Interessenkonflikten mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt oder irgendwelche gesetzlichen Bestimmungen unsicher, instabil, provisorisch und unvollständig sind.15 Zudem wirkt sie als eine Art Gleichheit oder Gleichgewicht, wenn sie herangezogen wird, um ähnlich gelagerte Situationen nach gemeinsamen Gesichtspunkten zu entscheiden.16 In nochmals anderer Bedeutung tritt sie auf, wenn es darum geht, die Grenzen für Regeln strengen Rechts zu ermitteln. Gaius nennt folgendes Beispiel : Oft kommt es nämlich vor, daß jemand nach bürgerlichem Recht haftet, es aber unbillig (iniquum) ist, daß er im Prozeß verurteilt wird, etwa, wenn ich mir durch tio, aequum, iniquum, iniustum, bonum et aequum) gibt Wolfgang Waldstein, Equitá e ragione naturale nel pensiero giuridico nel I secolo d.C., in : Testi e problemi del giusnaturalismo romano (Fn. 11), S. 300–322, 300–301. 14 Siehe die Beispiele in D. 23.2.67.1 ; C. 3.42.8 (sowie die Angaben in Fn. 9). Die Literatur hierzu ist nahezu unübersehbar, Pringsheim, jus aequum und jus strictum (Fn. 11), S. 644 f. (Pringsheims Ausführungen zum Begriff des ius strictum stehen freilich im Zeichen der in den 1880er-Jahren aufgekommenen Interpolationenkritik, die heute in vieler Hinsicht als überholt betrachtet wird, vgl. nur die Antikritik bei Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, 1988, S. 180–182) ; Alexander Beck, Zu den Grundprinzipien der bona fides im römischen Vertragsrecht, in : FS August Simonius (1955), S. 9–27, 11, 13, 24–26 ; von Lübtow, Das römische Volk (Fn. 11), S. 453 f.; Polacek, Zum Gerechtigkeitsgedanken im römischen Recht (Fn. 11), S. 174 f.; Kaser, Das römische Privatrecht I (Fn. 11), S. 194 f., und II (1975), S. 60–63 ; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I, a.a.O., S. 506–509, und II (2006), S. 89 f.; Theodor Mayer-Maly, Juristische Reflexionen über ius II, in : SZ (RA) 119 (2002), S. 1–28, 6 f. passim ; Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts, 3. Auflage (1989), dt. 2. Auflage (1998), S. 223 (mit Hinweis auf die Beziehungen zur griechischen epieikeia) ; Waldstein, Equitá e ragione naturale nel pensiero giuridico (Fn. 13), S. 306 ; Ulrike Babusiaux, Papinians Questiones (2011), z.B. S. 244, 255, 262 (jeweils mit Quellenbelegen). 15 Nachweise bei Bretone, Labeone e l’ordine della natura, in : Testi e problemi del giusnaturalismo romano (Fn. 11), S. 249–269, 250 ; ders., Aequitas. Prolegomeni per una tipologia, in : Belfagor 61 (2006), S. 338–343, 340–341 (für den Hinweis auf diese beiden Arbeiten danke ich Gloria Viarengo). 16 Nachweise bei Bretone, Geschichte des römischen Rechts (Fn. 14), S. 224. Den Gesichtspunkt der Gleichheit hat bereits Rudolf von Jhering hervorgehoben, der, ganz positivistisch, in der Billigkeit vor allem die Gefahr sah, dass sich unter ihrem Deckmantel »Willkür und Partheilichkeit« breit machen, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Zweiter Theil, Erste Abtheilung, 4. Auflage (1880), S. 93 f. (§ 29).
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Stipulation habe Geld versprechen lassen, als ob ich es als Darlehn auszahlen würde, es aber nicht ausgezahlt habe ; es ist nämlich sicher, daß dieses Geld von dir herausverlangt werden kann, du mußt nämlich zahlen, weil du aus der Stipulation haftest ; aber weil es unbillig (iniquum) ist, daß du dazu verurteilt wirst, ist anerkannt, daß du mit der Einrede der Arglist verteidigt werden mußt.17
Ferner ist die Aufgabe der aequitas darin gesehen worden, für einen Schutz des Schwächeren zu sorgen oder dem Satz zur Geltung zu verhelfen, dass des einen Vorteil nicht des anderen Nachteil sein darf.18 Schließlich kann sie zu einem kritischen Blick auf die Rechtsordnung als solche führen und Anlass zur Rechtsfortbildung geben. Dabei wäre eine engere aequitas civilis von einer weiteren naturalis aequitas zu unterscheiden : Während sich die erste innerhalb der Grenzen des Systems bewegt, ermöglicht es die zweite, zur Lösung eines Problems aus dem Rahmen des bisher geltenden Rechts auszubrechen, die bestehende Ordnung schöpferisch weiter zu entwickeln und an veränderte Gegebenheiten anzupassen.19 Mit den Funktionen und Inhalten hängt die Frage nach dem Verhältnis von ius und aequitas zusammen, worauf das römische Recht in verschiedenen Epochen unterschiedlich geantwortet hat. So gibt es Autoren, die, wie Gaius, dazu neigen, die Gegensätze zu betonen, während sich im 3. Jahrhundert das Bemühen zeigt, die Konvergenzen von aequitas und ius herauszustellen.20 Diese gemäßigte Zone des klassischen und nachklassischen Rechts liegt zwischen der unbeugsamen Strenge des altrömischen und der großen Milde des byzantinischen
17 Institutionen (Fn. 8), IV, 116. Häufig wird es sich also um einen Konflikt zwischen zwei Berechtigungen gehandelt haben. Er wurde über die Einschaltung von exceptiones, die zumeist ein Akt des Magistrats gewesen sind, oft zugunsten der aequitas entschieden, vgl. Max Kaser, Karl Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Auflage (1996), S. 260–266, 261 ; siehe auch das Beispiel bei Babusiaux, Papinians Questiones (Fn. 14), S. 230. 18 Nachweise bei Babusiaux, Papinians Questiones (Fn. 14), S. 244. Speziell zu den für Leibniz besonders wichtigen Funktionen von Güterabwägung und Vorteilsausgleichung : Jakob Fortunat Stagl, Die Ausgleichung von Vorteil und Nachteil als Inhalt klassischer aequitas, in : Testi e problemi del giusnaturalismo romano (Fn. 11), S. 675–712. 19 Vgl. Mario Bretone, Labeone e l’ordine della natura (Fn. 15), S. 252–264 (die engere aequitas nennt Bretone aequitas intrasistemica und die weitere aequitas extrasistemica) ; ders., Geschichte des römischen Rechts (Fn. 14), S. 224–225 (unter dem Gesichtspunkt der Rhetorik). Allgemein zur rechtskritischen Funktion der aequitas : Dieter Nörr, Rechtskritik in der römischen Antike (1974), S. 113–120. Die mittelalterliche Jurisprudenz hat die engere aequitas als aequitas scripta von einer (weiteren) aequitas non scripta unterschieden (siehe unten II 3). 20 Siehe den Überblick bei Mayer-Maly, Juristische Reflexionen über ius (Fn. 14), S. 6–16.
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Rechts.21 Dies verdient Hervorhebung, weil Leibniz’ oft darüber nachdenkt, wie ius und aequitas konvergieren, ob das ius in der aequitas enthalten und wie zu entscheiden ist, wenn beide in Konflikt geraten. Für die extreme Strenge des altrömischen Rechts und die überzogene Milde des byzantinischen Rechts hegt er dabei wenig Sympathie. Festzuhalten ist, dass das römische Recht im Laufe der Zeit eine ›doppelte‹ Struktur angenommen hat, wobei das ius civile vor allem eigennützige Interessen schützte, während über das ius aequum auch fremden Interessen Rechnung getragen und Rücksicht auf den Schwächeren genommen werden konnte.22 Dabei bleibt aber zu beachten, dass die römische aequitas nicht mit ›freier Rechtsfindung‹ oder einem vagen Rechtsgefühl verwechselt werden darf, das den Richter bei seinen Entscheidungen leiten soll.23 Jede Art von »Kadijustiz« war der römischen Welt fremd. Und auch Leibniz’ Bewunderung hätte sich wahrscheinlich sehr in Grenzen gehalten, wenn die klassische römische Jurisprudenz ›Quellen‹ anerkannt hätte, die außerhalb jeder Beziehung zu einer festen und stabilen Ordnung wirksam werden können. 3. Ius strictum versus aequitas non scripta : Die mittelalterliche Jurisprudenz
Dürfen Juristen das Corpus iuris mit Hilfe der aequitas schöpferisch fortbilden ? Über diese Frage ist im Mittelalter lebhaft diskutiert worden, weil zwei Codex-Stellen sich unversöhnlich gegenübertraten : In C. 3.1.8 findet das von den spätantiken christlichen Kaisern behauptete Primat der aequitas seinen klassischen Ausdruck : Man hat angenommen, dass in allen Dingen die Rücksicht auf die Gerechtigkeit und Billigkeit höher stehe als die auf das strenge Recht (placuit in omnibus rebus praecipuam esse iustitiae aequitatisque quam stricti iuris rationem).24 21 Zur pejorativen Bedeutung des ius strictum und dem einseitigen Vorrang der aequitas in der byzantinischen Gedankenwelt siehe Pringsheim, jus aequum und jus strictum (Fn. 11), S. 661–667 ; Paolo Pinna Parpaglia, Aequitas in libera Republica (1973), S. 233–238, 244–246. 22 Dazu näher Okko Behrends, Struktur und Wert (1990), in : ders. (Hg.), Institut und Prinzip, Bd. I (2004), S. 55–89, 56–60 ; ders., Gesetz und Sprache (1995), in : Institut und Prinzip (a.a.O.), S. 91– 224, 151–155 ; ders., (Hg.), Rudolf von Jhering, 2. Auflage (2009), S. 196–202. Siehe ferner ders., Überlegungen zum Vertrag zugunsten Dritter im römischen Privatrecht (1984), in : Institut und Prinzip (a.a.O.), Bd. II, S. 839–878. 23 Pringsheim, jus aequum und jus strictum (Fn. 11), S. 667 ; Bretone, Geschichte des römischen Rechts (Fn. 14), S. 223. 24 Billigkeit ist hier (wie Leibniz sie verstanden hat) in einem über den Einzelfall hinausgehenden
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Dagegen soll nach C. 1.14.1 allein der Kaiser den Konflikt zwischen aequitas und ius strictum entscheiden können.25 Die eine Stelle will dem Richter also Freiheiten gewähren, während es die andere der Staatsgewalt vorbehält, die aequitas zu berücksichtigen. Verwirrung stiftet darüber hinaus, dass Justinian nicht müde wird, die Widerspruchsfreiheit des Corpus iuris zu betonen.26 Die Glossatoren nahmen diese Behauptung bekanntlich für bare Münze, ja, sie zollten ihr so großen Respekt, dass sie die Harmonisierung abweichender Passagen zu ihrer Hauptaufgabe erklärten. Die Antinomie zwischen den beiden Codexstellen glaubten sie, mit Hilfe einer Art Kollisionsregel auflösen zu können, wonach die aequitas nur zur Geltung kommen dürfe, wenn sie durch einen Quellentext autorisiert sei, im ius scriptum also irgendwie Ausdruck gefunden habe. Die Kommentatoren bzw. Postglossatoren schlossen sich dieser Lösung an und differenzierten damit ebenfalls zwischen zwei Arten von Recht innerhalb des ius scriptum.27 Eine Ausnahme wollten sie lediglich im Falle eines Schweigens des Gesetzes zulassen : Hier durfte die ungeschriebene aequitas zur Anwendung kommen, solange sie im Einklang mit der naturalis ratio stand.28
allgemeinen Sinn von Gerechtigkeit gemeint. Die mittelalterlichen Juristen konnten sich darüber hinaus auch auf andere Stellen, z.B. auf D. 50.17.90 stützen (»in omnibus quidem, maxime tamen in iure aequitas spectanda est«). 25 »Inter aequitatem iusque interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere (nur wir sind berechtigt und berufen, den Konflikt zwischen strengem Recht und Billigkeit zu lösen)«. Dass am geschriebenen Recht auch dann festgehalten werden muss, wenn dies im Einzelfall als hart erscheint, bringen auch andere Quellen zum Ausdruck (z.B. D. 40.9.12.1 oder D. 42.1.21). 26 Näher Meder, Rechtsgeschichte (Fn. 11), S. 111 f. 27 Die Spannungen zwischen Billigkeit (C.3.1.8) und Gesetzestreue (C.1.14.1) sind in der Literatur häufiger erörtert worden : Sebastian Lohsse, Aequitas bei den frühen Glossatoren, in : Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Recht und Billigkeit – Zur Geschichte der Beurteilung eines Verhältnisses (im Erscheinen) ; Hermann Lange, Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. II (2007), S. 340 ; Jan Schröder, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit, in : Quaderni Fiorentini 26 (1997), S. 265–305, 267 ; Norbert Horn, Aequitas in den Lehren des Baldus (1968), S. 20–27 ; Hermann Lange, Ius aequum und ius strictum bei den Glossatoren, in : SZ (RA) 71 (1954), S. 319–347 ; Amedeo Giannini, L’equità, in : Archivio Giuridico CVI (1931), S. 45–83, 49–53. Guido Kisch hatte bereits 1960 angemahnt, »das Aequitasproblem bei den Glossatoren [ist] einer umfassenden neuen Monographie würdig«, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit (1960), S. 46. Ein solches Buch fehlt der Wissenschaft bis heute. 28 Siehe die Nachweise bei Horn, Aequitas (Fn. 27), S. 22 (eine erstaunliche Nähe zwischen aequitas und naturalis ratio lassen bereits die Aussagen der römischen Juristen erkennen ; sie kommt vor allem im Begriff der naturalis aequitas zu Ausdruck, die ungeschrieben und »extrasistemica« sein kann, vgl. oben II 2).
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›Autoritätstreue‹ wird meist als das zentrale Merkmal der im Mittelalter herrschenden scholastischen Methode bezeichnet. Die mittelalterlichen Juristen sind also Kinder ihrer Zeit, wenn sie verlangen, dass die aequitas im ius scriptum irgendeinen Anhalt gefunden haben muss. Die genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Dinge komplizierter liegen. Über die Quellenlehre hinaus muss auch die Interpretationstheorie in den Blick genommen werden. Die Kommentatoren haben sich im Rahmen ihrer Auslegungslehre nämlich erhebliche Freiheiten gegenüber dem ius scriptum gestattet. Ähnliches ist von den Glossatoren behauptet worden.29 Doch gingen nach heutigem Wissensstand diese Freiheiten wohl nicht so weit, dass sie die Billigkeit als selbständige Rechtsquelle betrachtet hätten. 4. Von der humanistischen Jurisprudenz zum ›modernen‹ Staatsverständnis
In der Frühen Neuzeit und insbesondere in der Epoche des juristischen Humanismus beginnt sich das Verhältnis von strengem Recht und Billigkeit zu wandeln. Den Auftakt bildet das juristisch einflussreichste Werk des französischen Humanisten Guillaume Budé (1468–1540) : Die Annotationes in Pandectas, die 1508 erstmals erschienen und mehr als 25 Ausgaben erlebten.30 Budé knüpft darin an die Lehren des Humanisten Lorenzo Valla (um 1405–1457) an, der in Italien den Kampf gegen die Scholastik – gegen Accursius, Bartolus, Baldus und andere mittelalterliche Autoritäten eröffnete. Dies verdient Hervorhebung, weil Leibniz Valla ebenfalls oft erwähnt und bewundert hat.31 Die Bedeutung der Annotationes für die aequitas liegt darin, dass sie der aristotelischen epieikeia den Weg in die humanistische Rechtslehre geebnet haben.32 Dadurch wurde die Regel brüchig, welche die mittelalterlichen Juristen zur Harmonisierung der beiden widersprüchlichen Codexstellen formuliert hatten. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis kritische Fragen zu C. 3.1.8 gestellt wurden : Darf ein Richter wirklich lediglich die aequitas scripta berücksichtigen ? Haben die Legisten das
29 Nachweise bei Horn, Aequitas (Fn. 27), S. 27–30 ; Lange, Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter (Fn. 27), S. 340. 30 Guido Kisch, Aristoteles’ Epieikeialehre bei Gulielmus Budaeus, in : ders., Erasmus (Fn. 27), S. 177–193, 180. 31 Siehe die Nachweise im 2. Kapitel II und III sowie im 11. Kapitel I 4. 32 Der Text ist abgedruckt bei Kisch, Erasmus (Fn. 27), S. 495–503. Zur Epieikeialehre, wie Aristoteles sie in der Nikomachischen Ethik und in der Rhetorik entwickelt hat, siehe jüngst : Christoph Horn, Epieikeia bei Platon und Aristoteles, in : Recht und Billigkeit, Fn. 27 (auch das Mittelalter hatte bereits Kenntnis von den Lehren der griechischen Philosophen ; welche Rolle diese für die Jurisprudenz spielten, ist jedoch umstritten).
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Erfordernis der Schriftlichkeit nicht einfach nur in C. 3.1.8 hineinphantasiert ? Denn von Schriftlichkeit ist in der Codexstelle keine Rede ! In Deutschland hat zuerst Johann Oldendorp (1487–1567) Konsequenzen aus den Annotationes gezogen, wenn er in seiner Schrift Wat byllich unn recht ys zu der Feststellung gelangt : »Denn es ist jetzt und war auch schon früher bewährt, daß man die Billigkeit nicht eigentlich in Schrift verfassen kann.«33 Einige Jahrzehnte später haben der flämische Jurist Matthias Wesenbeck (1531–1586) und seine Schüler die aequitas als eine Art ›Quelle‹ verstanden, die »von unserem Recht abgesondert oder jedenfalls in keinem besonderen Gesetz ausgedrückt« ist.34 Leibniz hat sich sowohl auf Oldendorp als auch auf Wesenbeck bezogen.35 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es zwar noch Autoren, die den mittelalterlichen Positionen nahestanden und einen Rückgriff auf die ungeschriebene aequitas nur für zulässig hielten, wenn es dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht an einer Regel fehlte. Überwiegend wurde nun jedoch die aequitas als eine Art selbständige Quelle betrachtet, die als ius non scriptum neben das geschriebene Recht tritt. Diese Sichtweise war freilich nicht von langer Dauer : Mit der Wende zum 17. Jahrhundert kommt es erneut zu einem Wandel im Verhältnis zwischen ius strictum und aequitas. Als Stichwort sei nur das ›moderne‹ Staatsverständnis genannt, wonach es die vornehmste Aufgabe eines Fürsten sein soll, das Recht im Gesetz zu monopolisieren. Die Folge ist eine weitgehende Verbannung des ius non scriptum und damit auch der ungeschriebenen aequitas aus dem Recht.36 Daneben gab es freilich immer auch Autoren oder 33 Johann Oldendorp, Wat byllich unn recht ys (1529), hochdt. Übersetzung von Erik Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (1949), S. 49–68, 57 (»jetzt« enthält eine Anspielung auf Budé, während mit »früher« die klassische römische Jurisprudenz gemeint sein dürfte). Zu Oldendorps Idee der Billigkeit und seinen Verbindungen mit Budaeus : Kisch, Johannes Oldendorps Aequitas, in : ders., Erasmus (Fn. 27), S. 227–259. 34 Siehe die Nachweise bei Schröder, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit (Fn. 27), S. 270. Der französische Humanist Claudius Cantiuncula (um 1496–1560) spricht in seinem erstmals 1543 in Basel gedruckten Werk De officio iudicis zwar noch von der geschriebenen Billigkeit, unterscheidet davon aber eine ungeschriebene Billigkeit, deren Handhabung dem Richter obliege. Die Nähe zu Oldendorp und Wesenbeck besteht u.a. darin, dass er der aequitas non scripta (freilich im Rahmen der Interpretation) die Funktion einer Lenkung oder Verbesserung des Gesetzes und damit einer schöpferischen Fortbildung durch den Richter ausdrücklich zugesteht, vgl. Kisch, Cantiunculas erweiterte, aristotelisch orientierte Aequitaslehre, in : ders., Erasmus (Fn. 27), S. 260–279, 277–279. 35 Z.B. in der Nova methodus II (Fn. 1), § 26 (S. 69). Siehe auch Lorenz Kähler, Billigkeit versus Gerechtigkeit im Naturrecht von Leibniz, in : Tilman Altwicker, Francis Cheneval, Matthias Mahlmann (Hg.), Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (im Erscheinen). 36 Näher Meder, Ius non scriptum, 2. Auflage (2009), S. 63–65 (sowie unten III und 5. Kapitel).
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Gruppierungen, z.B. innerhalb der Reichspublizistik, die andere staatsrechtliche Positionen vertraten und daher auch der aequitas non scripta weiterhin großes Gewicht beimaßen. Von hier aus zieht sich eine Linie bis ins 18. und 19. Jahrhundert, worauf noch zurückzukommen ist.37 Juristischer Humanismus, mittelalterliche Jurisprudenz und römisches Recht bilden den Humus, auf dem Leibniz’ Lehre von den Stufen des ius strictum und der aequitas gewachsen ist. Dabei bleibt zu beachten, dass er sich gegenüber den eingefahrenen Denkmustern der Scholastik, der überzogenen Milde des byzantinischen Rechts und dem archaischen Rigor der altrömischen Periode ablehnend geäußert hat. Seine Sympathien galten der klassischen römischen Jurisprudenz und dem juristischen Humanismus. Hier fand er jene Selbständigkeit des Rechts gegenüber dem Gesetz, worauf seine Konzeption des Naturrechts angewiesen war. Dennoch hat er in der aequitas keine ›Quelle‹ gesehen, die mit dem strengen Recht auf gleicher Ebene liegt. Die Billigkeit gewährt aus seiner Sicht nur ein Recht »im weiten Sinne des Wortes«. Im Unterschied zum ius strictum ist sie auf Forderungen beschränkt, die nicht immer einklagbar, juristisch nicht in allen Fällen erzwingbar sind.
III. Leibniz’ ius strictum als Element der Rechtsquellenlehre Wie eingangs angedeutet, erörtert Leibniz den Begriff des ius strictum in zwei verschiedenen Kontexten, und zwar einmal als Element der Quellen des geltenden Rechts und einmal als Stufe innerhalb seiner Naturrechtstrilogie. Was die Rechtsquellenlehre anbelangt, so gebietet es deren ›duale‹ oder ›zweigliedrige‹ Struktur, über die formale Seite des ius strictum hinaus auch die materialen Elemente ins Auge zu fassen.38 Das gilt im Grundsatz sowohl für das positive Recht als auch für das Naturrecht. Wo aber liegen die Unterschiede ? Leibniz erläutert sie am Beispiel des Rechtsunterrichts : Während die Abstufungen des Naturrechts »genau gelehrt werden« können, ohne dass »das heutige Recht erwähnt wird«, sei das »umgekehrt« nicht möglich.39 37 4. Kapitel I (dort auch zu den Problemen der Behauptung von Schröder, die aequitas sei spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus der gesamten Rechtsquellenlehre eliminiert worden ; würde diese These zutreffen, hätte es die Rechtsphilosophie eines Leibniz’ gar nicht geben dürfen). 38 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 343 (different, doppelt, dual oder zweigliedrig in dem Sinne, dass dem ius strictum auf der einen aequitas und pietas auf der anderen Seite gegenübertreten). 39 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 343. Zu den Funktionen der »Umkehrung« in
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Der positiven Ordnung mangelt es also an jener Selbständigkeit, die das Naturrecht auszeichnet. Der Unterschied rührt daher, dass das durch die vernunftbestimmte Natur geschaffene Recht über die Beschränkungen eines souveränen Willens hinausweist. Hier liegt zugleich der Grund, warum das positive Recht auf das Naturrecht angewiesen ist. Insoweit besteht eine Parallele mit der entwickelten römischen Jurisprudenz, die neben dem ius civile auch das ius gentium, das ius aequum oder die naturalis ratio beachtet hat. Der Fehler von Hobbes liege nun darin, dass er lediglich das »strenge Recht«, also nur die Formalstruktur des geltenden Rechts in Erwägung ziehe. Diese Art des strengen Rechts charakterisiert Leibniz auch als »willkürliches Recht« (ius voluntarium), wovon das durch die vernunftbestimmte Natur geschaffene Recht zwar nicht getrennt, aber unterschieden werden muss.40 Als positives Recht erlangt das strenge Recht seine Wirksamkeit von demjenigen, der »innerhalb eines Staatswesens« die »höchste Gewalt« (summam potestatem) innehat.41 Im Hintergrund steht jene Idee personaler Herrschaft, die im 16. Jahrhundert durch den ›modernen‹ Souveränitätsbegriff eine neue Legitimationsgrundlage gefunden hat. Schon Bodin sah das Hauptmerkmal des Souveräns darin, die Gesetze vorzuschreiben und nach seinem Belieben zu ändern : Sie hängen nämlich allein »vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat« und damit »alle seine Untertanen binden kann«.42 Ähnliche Überlegungen finden sich bei so unterschiedlichen Repräsentanten säkularen Naturrechts wie Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant.43 Leibniz fragt nun, inwieweit Recht Leibniz’ »Lehrsätzen des Naturrechts« siehe Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 395. 40 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 173. Der menschliche Willensentschluss bildet also das Kriterium zur Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht. In diese Richtung auch Hans-Peter Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« bei Leibniz, in : ARSP 52 (1966), S. 553–578, 562. 41 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 173. Auch die Geltung nichtstaatlicher Quellen wie Gewohnheit, Gerichtsgebrauch oder Autonomie muss der Souverän nach neuzeitlichem Staatsverständnis durch einen Willensakt ausdrücklich bestätigen, vgl. Meder, Ius non scriptum (Fn. 36), S. 63–66 (näher im 5. Kapitel II). Das römische Recht, in dessen Architektur die drei Stufen des Naturrechts verankert sind, hängt danach ebenfalls vom Souverän ab, der seiner subsidiären Anwendung jederzeit einen Riegel vorschieben kann (siehe unten V). Es ist also die prinzipielle Abhängigkeit des positiven Rechts vom souveränen Willen, welche die Selbständigkeit des Naturrechts bedingt. Nur unter den Prämissen dieser Selbständigkeit kann das Naturrecht seine kritische Funktion gegenüber dem positiven Recht bewahren. 42 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch (1981), I 8 (S. 216) sowie I 10 (S. 292) und I 8 (S. 223). 43 Dazu näher Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 127–128.
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und Gerechtigkeit vom Willen des Souveräns, d.h. von der Macht abhängig sind. Dabei nimmt er an, dass die Anhänger des ›modernen‹ Staatsverständnisses das Recht als willkürlichen Befehl begreifen, mit welchem der Herrscher den Untertanen verpflichtet, dem Gesetz zu gehorchen. Als positives Recht ist das strenge Recht auf Macht gegründet, die nach Leibniz einen ambivalenten Charakter hat. Sie kann ein hohes Gut bedeuten, wenn »sie mit Weisheit und gutem Willen verbunden ist«.44 Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass die ihr entsprungenen Gesetze mit dem durch die Vernunft geschaffenen Naturrecht übereinstimmen. Nicht selten fehlt es der Macht aber an Weisheit und an Güte. Sie läuft dann Gefahr, den Willen über die Vernunft zu setzen. Die Folge ist, dass sehr »schlechte Gesetze erlassen und aufrecht erhalten« werden.45 Leibniz wendet sich gegen jene Autoren, die, wie Hobbes, den Begriff des Rechts aus dem Phänomen der Macht ableiten oder von ihr abhängig machen wollen. Hier handele es sich um einen Irrtum, der zu einer Beschneidung der Rechtsquellen führe. Wegen der Gefahren des Voluntarismus warnt Leibniz vor einer Beschränkung des Rechts auf das Gesetz, vor einer Ausschaltung des Naturrechts : Wenn die Macht auftritt, verwandelt sie »das Recht in ein Faktum«, das von einer höheren Gerechtigkeit sehr verschieden sein kann. Zwischen Gesetz und Recht muss differenziert, Gesetz und Recht dürfen nicht verwechselt werden, weil nur das Gesetz, nicht aber das in Gott gegründete Recht ungerecht sein kann.46 Leibniz hat also gute Gründe, um gegenüber Hobbes den Einwand zu erheben, er würde nur das »strenge Recht« in Erwägung ziehen. Im Hintergrund steht der Vorwurf, Hobbes würde die Grundbedingung allen Rechts, namentlich den Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen in der Weise auflösen, dass nur noch eine Rechtsstruktur übrig bleibt. Leibniz’ Kritik des Rechtsquellenmonismus hat grundsätzliche Bedeutung ; sie führt über Hobbes weit hi44 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 30 ; dazu näher Hartmut Schiedermair, Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1970). 45 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 29. 46 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 29–30 ; Nova methodus II (Fn. 1), § 70 (S. 71–75). Leitend für seine Unterscheidung zwischen quaestio iuris und quaestio facti ist der Gedanke, dass, solange nur vom positiven Privatrecht aus argumentiert wird, kein Rekurs auf eine der höheren Stufen der Legitimität möglich sei (zur Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten siehe unten 9. Kapitel VI). Vgl. auch Peter König, Das System des Rechts und die Lehre von den Fiktionen bei Leibniz, in : Jan Schröder (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis 18. Jahrhundert (1998), S. 137–161, 145–152 (Sätze wie »auctoritas, non veritas facit legem« oder »stat pro ratione voluntas« hält Leibniz für die Maximen »d’un tyran«, vgl. 5. Kapitel II ; 7. Kapitel III).
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naus und trifft die gesamte ›moderne‹ Staatstheorie. So verschwindet bereits bei Bodin die Billigkeit hinter dem Befehl des Souveräns : »Ein gesetzliches Verbot ist stärker als selbst offenbare Forderungen der Billigkeit.«47 Auch Kant hat die Billigkeit als ein »Recht ohne Zwang« ausgesondert, weil »ein Richter nach unbestimmten Bedingungen nicht sprechen kann«.48 Leibniz kritisiert, dass solche Lehren auf eine lediglich negative Auffassung der Gerechtigkeit hinauslaufen. Und wer sich, wie Hobbes, auf den engeren Begriff der Gerechtigkeit beschränke und die Billigkeit außer Betracht lasse, nehme in Kauf, dass das höchste Recht zur höchsten Rechtsverletzung führt (summum jus summa est injuria).49 Vorläufig bleibt festzuhalten : Das ius strictum kann nicht nur Stufe des Naturrechts, sondern auch Quelle des positiven Rechts sein. In Anknüpfung an jenen ›Dualismus‹, den das entwickelte römische Recht auszeichnet, hat Leibniz eine zweigliederige Rechtsquellenlehre formuliert. Er hält es daher für ausgeschlossen, das »heutige Recht« unabhängig vom Naturrecht zu lehren.50 Hobbes habe irrtümlich geglaubt, das zweigliedrige Rechtsquellenkonzept verabschieden zu können, wenn er nur das strenge Recht in den Blick fasst und das formale Recht von seinen materialen Elementen abkoppelt. Während positives Recht und Naturrecht also verbunden bleiben müssen, kann das Naturrecht auch isoliert gelehrt werden.51 Denn es ist vom ius voluntarium, von den Geboten der höchsten Staatsgewalt völlig unabhängig. Dies hat vor allem für das ius strictum und sein
47 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (Fn. 42), I 8 (S. 231). 48 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in : Werksausgabe, Bd. VIII, 10. Auflage (1993), S. 341–342 (Einleitung § E). 49 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 46. Am Beispiel der Billigkeit und der Parömie summum ius summa iniuria lässt sich leicht zeigen, dass die Rechtsphilosophien von Kant und Leibniz unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Gegenposition zu Leibniz hat Kant mit den bekannten Worten formuliert : »Der Sinnspruch (dictum) der Billigkeit ist nun zwar : ›das strengste Recht ist das größte Unrecht‹ (summum ius summa iniuria) ; aber diesem Übel ist auf dem Wege Rechtens nicht abzuhelfen, ob es gleich eine Rechtsforderung betrifft, weil diese für das Gewissensgericht (forum poli) allein gehört, dagegen jede Frage Rechtens vor das bürgerliche Recht (forum soli) gezogen werden muß, Metaphysik der Sitten« (Fn. 48), S. 342 (Hervorhebungen im Original). Dazu etwa Max Rümelin, Die Billigkeit im Recht (1921), S. 7–10 ; Kisch, Summum ius summa iniuria, in : ders., Erasmus (Fn. 27), S. 1 (mit weiteren Nachweisen). 50 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 343 (siehe oben). Siehe auch Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts (Fn. 1), S. 29–53, 37 (Charakterisierung der Zweigliedrigkeit von Leibniz’ Rechtsquellenlehre als »second-order-Prinzip«). Diese Zusammenhänge verkennt z.B. die Kritik von Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (1970), S. 104, 108. 51 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 343 (weil hier eine solche Verbindung innerhalb der Stufen vorausgesetzt ist).
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Verhältnis zu den anderen beiden Stufen Bedeutung, worauf im Folgenden näher einzugehen ist.
IV. Leibniz’ ius strictum innerhalb der Abstufungen des Naturrechts Die Normen des ius strictum als Naturrecht hat Leibniz in verschiedenen Schriften behandelt.52 Den Angelpunkt bildet hier nicht der Wille des Souveräns, sondern das allgemeine Gebot des neminem laedere. Dass man niemanden schädigen darf, begreift er als die Vorschrift des eigentlichen oder »reinen Rechts« (iuris meri).53 Bisweilen bezeichnet er das ius strictum auch als Eigentumsrecht (ius proprietatis). ›Eigentum‹ ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen. Denn es umfasst sowohl das Sachen- oder Vermögensrecht als auch die unveräußerlichen Grundrechte der Freiheit und Gleichheit sowie das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Grunde ist das ›Eigentum‹ als ius proprietatis gleichbedeutend mit dem Gebot des neminem laedere, was Leibniz einmal so ausdrückt : ius proprietas cuius est neminem laedere.54 1. Das Verhältnis des ius strictum zu aequitas und pietas
Die Begriffe von Eigentum und Schädigungsverbot haben aber noch eine andere Bedeutung, welche die Einteilung des Rechts betrifft. Leibniz will damit zum Ausdruck bringen, dass das ius strictum im wesentlichen Privatrecht ist, während aequitas und pietas eher in das Gebiet des Öffentlichen Rechts fallen.55 In Übereinstimmung mit dem entwickelten römischen Recht unterscheidet Leibniz also zwischen den individuellen Teilen des ius strictum und den ›kollektiven‹ Zielrichtungen der beiden anderen Stufen. Daher charakterisiert er das Prin52 Z.B. Nova methodus II (Fn. 1), § 73 (S. 79–81) ; Praefatio (Fn. 1), S. 168–171 ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 44–51. 53 Praefatio (Fn. 1), S. 168 f. Bemerkenswert sind die terminologischen Parallelen mit Savigny, der (wie später Kelsen) in diesem Zusammenhang ebenfalls das Wort »rein« gebraucht (dazu näher im 11. Kapitel I). 54 Leibniz, Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (Fn. 7), S. 2867. 55 Leibniz, Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (Fn. 7), S. 2865 (dort bezeichnet er z.B. die iustitia particularis als »commutativa in privato, distributiva in publico«). Siehe auch Praefatio (Fn. 1), S. 168–171 (»auf die Billigkeit beziehen sich im Staat die politischen Gesetze, die für die Glückseligkeit der Untertanen sorgen«) ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 45 ; Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts (Fn. 1), S. 37.
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zip, welches das ius strictum beherrscht, auch als »utilitas propria«.56 Diese Feststellung harmoniert ebenfalls mit der Sichtweise des entwickelten römischen Rechts, wonach das Privatrecht als ius strictum die eigennützigen Interessen schützt.57 Nach Leibniz hat das formelle Recht also fundamentale Bedeutung für die staatliche Ordnung. Seine Beseitigung würde jede menschliche Gemeinschaft ins Chaos stürzen. Im Gegensatz zu Hobbes und anderen Protagonisten eines staatsrechtlichen Positivismus meint er aber, das Formalrecht müsse durch ein materiales Prinzip ergänzt werden, damit die Rechtsordnung auch fremdnützigen Interessen adäquat Rechnung tragen könne. Die zentrale Rolle, die Leibniz dem ius strictum beimisst, führt zur Frage nach dem Verhältnis des strengen Rechts zu den beiden anderen Stufen. Die Auffassung, das ius strictum stehe auf der untersten Stufe, ist weit verbreitet und ihre Anhänger können sich zum Teil auf Leibniz selbst berufen.58 Die genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Dinge komplizierter liegen. Denn die Billigkeit muss das ius strictum respektieren. Sie darf sich nicht, nur weil sie »höher« ist, über das strenge Recht einfach hinwegsetzen. So gesehen gebührt der ersten Stufe ein Vorrang vor der zweiten. Zudem gibt es Fälle, in denen die höheren Stufen der Jurisprudenz mit den privaten Rechten in besonderer Weise kooperieren.59 Wie sich Leibniz das Zusammenwirken der drei Rechtsprinzipien denkt, sei im Folgenden am Beispiel des Privateigentums erläutert. Der Blickwinkel, aus dem er die Legitimationsproblematik des Eigentums erörtert, ist durch sein Bild 56 Leibniz, De legum rationibus inquirendis (1678/79 ?), in : AA VI 4, C, S. 2775–2780, 2778. 57 Behrends, Struktur und Wert (Fn. 22), S. 56 ; ders., Überlegungen zum Vertrag zugunsten Dritter im römischen Privatrecht (Fn. 22), S. 848, 852, 857, 859 (mit Abgrenzung zum bona fides-Prinzip) ; Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts (Fn. 1), S. 37. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass »Eigennützigkeit« oder »Vorteilhaftigkeit« bei Leibniz dadurch eine besondere Bedeutung gewinnen, dass er sie mit der Ehrenhaftigkeit verbunden sieht, näher Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 299–303. Bereits Cicero hatte den Gegensatz von nützlich und gut, von utilitas und honestas bekämpft (De officiis, 1.9). 58 Nachweise bei Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 409 ; Klaus Luig, Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in : Okko Behrends (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition (1985), S. 213–256, 213. 59 Diese materialen Elemente der aequitas (und pietas) sind zwar, wie erwähnt, öffentlich-rechtlicher Art, soweit sie umverteilend wirken und auf die allgemeine Solidargemeinschaft bezogen sind. Dies geschieht (anders als heute) aber innerhalb des Privatrechts, wo, in den Worten Savignys, nicht nur »reine«, sondern auch »gemischte« Elemente in Form von staatlichen Zwecken zur Geltung kommen können (System I, Fn. 3, S. 54–56). Strukturen dieser Art sind nicht auf das Privatrecht beschränkt, sie gibt es auch im Strafrecht oder öffentlichen Recht, wo ebenfalls formale durch materiale Elemente ergänzt und korrigiert werden können.
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von einem idealen Staat bestimmt. Darüber, wie dieses Bild zu deuten ist, gibt es allerdings sehr verschiedene Meinungen. Die Skala reicht von »Kommunismus« über »Tugendstaat«, »christliches Naturrecht«, »Philosophie des Nächstenrechts« bis zum »entschiedenen Liberalismus«.60 Die Differenzen rühren daher, dass Leibniz die Frage nach der Legitimation des Privateigentums in verschiedenen Kontexten unterschiedlich beantwortet hat. In einem idealen Staat, so meint er, sollten, wie bei den Mönchen, alle Güter im Gemeineigentum stehen.61 In Wirklichkeit müsse aber jeder »seinen eigenen Bereich haben«, den er »in einen guten Zustand bringen kann«. Wettbewerb sei dem Gemeinwohl förderlich : »Wenn nämlich alles allen gehörte, würde es von den Einzelnen vernachlässigt.« Von diesen Grundsätzen mag es Ausnahmen geben, etwa im Steuerrecht. Doch sind Eingriffe in das Eigentumsrecht nur selten zulässig und müssen gut begründet sein.62 Das strenge Recht weist die Ideen eines christlichen Wohlfahrtsstaates oder Nächstenrechts also in ihre Grenzen. Es ist nicht erlaubt, »die Reichen ihrer Besitztümer zu berauben, um damit die Armen zufriedenzustellen«.63 Denn auf der Stufe des ius strictum sind alle Menschen »als gleich« anzusehen. Sie werden so behandelt, als seien sie gleichermaßen fähig, ihre Angelegenheiten autonom und selbstherrlich wahrzunehmen : »Unterschiede zwischen den Menschen dürfen hier nicht in Anschlag kommen.«64 Zur Erläuterung der Idee ›abstrakter‹
60 Vgl. Werner Schneiders, Respublica optima, in : Studia Leibnitiana 9 (1977), S. 1–26, 16, 22–23 (Kommunismus, Tugendstaat) ; Schneider, Justitia Universalis (Fn. 58), S. 333 (christliches Naturrecht) ; Luig, Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts (Fn. 58), S. 256 (Nächstenrecht) ; Gerhard Otte, Leibniz und die juristische Methode, in : ZNR 5 (1983), S. 1–21, 21 (entschiedener Liberalismus). 61 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 51 ; dazu näher Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence. Justice as the Charity of the Wise (1996), S. 202–205 ; Schneiders, Respublica optima (Fn. 60), S. 1–26. Siehe ferner Kiyoshi Sakai, Leibniz’ Begriff der »Justitia«. Mit Schwerpunkt auf der »aequitas«, in : »Für unser Glück oder das Glück anderer«, Bd. VI (Fn. 1), S. 747–760, 755–760. 62 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 50 f. 63 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 50. 64 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 170, 171. Georg Friedrich Puchta hat das Problem der Rechtsgleichheit unter dem Gesichtspunkt der »Abstraction« knapp 200 Jahre später wie folgt auf den Punkt gebracht : »Welch eine Abstraction gehört dazu, das Verhältnis eines [durch Krankheit unverschuldet in Armut geratenen] Mannes und das des Reichen, der, um durch eine neue Speculation Tausende zu seinen Tausenden zu gewinnen, ein Capital aufnimmt, als gleiche zu betrachten, wie sie es rechtlich in der Tat sind.« Dennoch ist nach Leibniz durch den Grundsatz der Gleichheit die Rücksicht auf Gesichtspunkte der Imparität nicht ausgeschlossen. Darauf ist (IV 2) noch zurückzukommen.
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Gleichheit bezieht Leibniz sich auf den griechischen Philosophen Xenophon, der vom Streit zwischen zwei Knaben Folgendes berichtet hat : Kyros war zum Richter erwählt worden, um den Streit zwischen zwei Knaben zu schlichten, von denen der stärkere den anderen gezwungen hatte, mit ihm das Kleid zu tauschen, weil er befunden hatte, daß das fremde Gewand seiner eigenen Statur besser angemessen war als der des anderen und umgekehrt. Kyros hatte zugunsten des Räubers entschieden, wurde aber von seinem Erzieher darauf hingewiesen, hier handele es sich nicht darum, wem die Toga am besten stünde, sondern wem sie gehörte.65
Unter den Prämissen des ius strictum ist es also völlig irrelevant, wem das Kleid besser stünde. »Unterschiede zwischen den Menschen« oder das »Ansehen der Person« dürfen beim »Austausch von Gütern« nicht berücksichtigt werden.66 Vom Grundsatz der iustitia commutativa kann nur in Ausnahmefällen abgewichen werden, nämlich, »wenn die Erwägung eines höheren Rechtsguts ins Gewicht fällt«.67 Wie ist dieser Vorrang des strengen Rechts (iustitia commutativa) gegenüber der Billigkeit (iustitia distributiva) zu erklären ? Als Teilgebiete des ius strictum sollten das Eigentums- oder Vertragsrecht doch auf der untersten Stufe stehen ? 65 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 170, 171 (vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, 1625, lib. 1, cap. 1, § VIII). Leibniz’ Interpretation dieser Episode kann auch als Kritik des Utilitarismus gelesen werden. Auf Basis eines utilitaristischen Nutzenkalküls lässt sich nämlich nicht erklären, warum Individuen Güter auch dann für sich beanspruchen dürfen, wenn andere größeren Nutzen daraus ziehen würden (»wem die Toga besser stünde«). Ohne das »Bollwerk« des ius strictum (4. Kapitel IV 1) können Individuen nicht als getrennte Entitäten anerkannt und ihre (subjektiven) Rechte nicht als Grenzen wahrgenommen werden (siehe nur die Kritik des Utilitarismus bei John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971, dt. 1979, S. 40–45). Ebenso wenig lässt sich vom Boden der »Innentheorie« (4. Kapitel IV 2) eine solche Grenze ziehen, woraus letztlich ihre Ideologieanfälligkeit herrührt. 66 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 170, 171. 67 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 170, 171 (derartige »Gewichte« müssen auch in anderen Gebieten, etwa im Vertragsrecht gemessen werden, worauf im nächsten Abschnitt zurückzukommen ist). Im Hintergrund steht das aktuell diskutierte Problem der »Abwägung« (z.B. Robert Alexy, On Balancing and Subsumption, in : Ratio Iuris 16/4, 2003, S. 433–449). Unter den Prämissen einer ›dualen‹ Strukturierung kann diese aber innerhalb des Privatrechts selbst erfolgen, während Verhaltenswerte heute häufig nur im Wege einer (umstrittenen) Verfassungsauslegung zur Geltung gebracht werden dürfen. Mit den romanistischen Grundlagen von Leibniz’ Rechtsphilosophie lassen sich also auch die jüngst immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Zurückgewinnung der »Autonomie« des Privatrechts und einer Entlastung der Verfassungsgerichtsbarkeit begründen (siehe auch oben bei Fn. 59).
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Leibniz scheint Einwänden zuvorkommen zu wollen, wenn er sagt, die Billigkeit gebietet, »das strenge Recht zu beachten«.68 Da aber bisweilen das strenge Recht auch hinter der Billigkeit zurückstehen muss, bleibt die Frage, ob diese Aussage nicht auf eine petitio principii hinauslaufen könnte. Jedenfalls dürfen die verschiedenen Stufen des Rechts nicht einfach voneinander getrennt werden, sie überschneiden sich und wirken in vielfältiger Weise zusammen. Die Wechselwirkungen zwischen den drei Stufen zeigen sich namentlich dort, wo die »höheren« Prinzipien dem ius strictum Schranken auferlegen. Ein Beispiel bildet die im 17. Jahrhundert umstrittene Frage, ob Eigentumsrechte an Kindern erworben werden können. Hobbes und einige Zeitgenossen haben dies bejaht. Leibniz will nicht bestreiten, dass Eltern Macht über ihre Kinder haben, meint aber, der Begriff des Eigentums würde »zu weit getrieben«, wenn er auch auf Kinder erstreckt werde. Denn Kinder haben, anders als »Pferde oder Hunde«, das Recht »der vernunftbegabten Seelen, die natürlich und unveräußerlich frei sind«.69 Daher könne auch an Sklaven kein Eigentum erworben werden. Die Billigkeit gebiete, »auf die gleiche Weise Sorge für das Wohlergehen eines anderen zu tragen, wie er selbst dies von ihm verlangen würde«.70 Ebenso fordere die Nächstenliebe (caritas), »sich für das Glück anderer Menschen einzusetzen«.71 Diese Einschränkungen des Eigentumsbegriffs durch die Billigkeit (aequitas) werden auf der höchsten Stufe (pietas) noch einmal kontrolliert und im Ergebnis bestätigt : Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Daher genießen in seinem Reich »die Sklaven das gleiche Bürgerschaftsrecht wie ihre 68 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81) ; ähnlich Praefatio (Fn. 1), S. 169–171 (es sei ja die Billigkeit selbst, die uns nahelegen würde, in Geschäften das ius strictum anzuwenden) ; zum Problem einer Konkurrenz der verschiedenen Stufen siehe auch die Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 50 (Primat des Eigentumsrechts gegenüber der Angemessenheit). Vgl. ferner oben II 2 zu den Vorstellungen der klassischen römischen Jurisprudenz über die Konvergenzen von ius strictum und aequitas. 69 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 48. 70 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 49. Im Hintergrund steht die negative Version der »Goldenen Regel« (»was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu«), auf die Leibniz auch in anderen Zusammenhängen wiederholt zurückgegriffen hat, siehe z.B. Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81). Zum abweichenden Verständnis der »Goldenen Regel« etwa bei Pufendorf, Thomasius oder Kant siehe Hans-Ulrich Hoche, Regel, goldene, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 8 (1992), Sp. 450–464, 454–455 (dazu näher im 8. Kapitel V). 71 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 49. Gemeint ist hier die caritas als Unterfall der Billigkeit (angustiore vocis sensu caritas), Praefatio (Fn. 1), S. 168, die mit der (hier nicht erörterten) caritas sapientis nicht verwechselt werden darf (zu »Liebe« und »Weisheit« als Elemente der Gerechtigkeit siehe 10. Kapitel III).
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Herren«.72 Der Begriff des Eigentums weist über die Stufe des ius strictum also hinaus. Sein Inhalt und seine Grenzen können nur bestimmt werden, wenn auch die aequitas und pietas mit in den Blick genommen werden. Dies gilt mutatis mutandis auch für andere private Rechte. Da bei Leibniz unklar bleibt, wie bestimmte Konflikte zwischen den Prinzipien zu lösen sind, vermutete Adolf Trendelenburg : »Denn wenn die Billigkeit vertheilende Gerechtigkeit ist, so bedarf sie an dem Allgemeinen eines Maasses für den Unterschied des Besondern.«73 Wie hat sich Leibniz das Verhältnis von formalen und materialen Elementen im Recht also vorgestellt ? Einiges spricht dafür, dass ihm das Schema von Regel (ius strictum) und Ausnahme (aequitas) als Maßstab diente. Diese Hypothese soll nun einer näheren Betrachtung unterzogen werden. 2. Das Schema von Regel und Ausnahme
Leibniz hat, wie ausgeführt, dem ius strictum eine fundamentale Bedeutung für die Ordnung des Rechts beigemessen. Anders als die Anhänger eines staatsrechtlichen Positivismus ist er aber der Auffassung, das Formalrecht müsse durch materiale Prinzipien ergänzt werden. Aequitas und pietas qualifiziert er als die jeweils »höheren« oder »vollkommeneren« (perfectior) Stufen, die »im Streitfalle« das ius strictum aufheben können.74 Leibniz bringt die Abstufungen des Naturrechts also in ein hierarchisches Verhältnis. Welche Folgerungen sind daraus für die Rechtsanwendung zu ziehen ? Will Leibniz sagen, dass den »höheren« und »vollkommeneren« Stufen bei der juristischen Entscheidung die Führung übergeben werden sollte ? Diese Frage ist zu verneinen, und zwar aus den folgenden Gründen. Freiheit, Gleichheit, Eigentum, körperliche Unversehrtheit oder Frieden gehören zu den Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens. Sie verkörpern Werte, die durch das ius strictum gesichert und auf den beiden »höheren« Stufen bestätigt und bekräftigt werden. Unterschiede zwischen den drei Stufen lassen sich zunächst also kaum feststellen. Sie treten erst zu Tage, wenn eine rechtliche Entscheidung auf Basis des ius strictum mit der aequitas oder pietas Konflikt gerät. Wie ist dieser Konflikt zu lösen ? Auf welchen Wegen kann eine höhere 72 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 48 ; dazu auch Schiedermair, Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz (Fn. 44), S. 114–115. 73 Adolf Trendelenburg, Das Verhältniss des Allgemeinen zum Besondern in Leibnizens philosophischer Betrachtung und dessen Naturrecht, in : ders. (Hg.), Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 (1855), S. 233–256, 241–250, 247, 249. 74 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 1), § 73 (S. 78, 79) ; Praefatio (Fn. 1), S. 168–171.
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gegenüber einer niedereren Stufe zur Geltung kommen ? Leibniz erläutert seine Vorstellungen am Beispiel der »Gleichheit«. Dabei betont er, dass es nicht nur das strenge Recht, sondern auch die Billigkeit gebietet, »von der Gleichheit aller Menschen auszugehen«, es sei denn (nisi), ein höheres Rechtsgut würde so stark ins Gewicht fallen, dass eine Abweichung vom Gleichheitsgrundsatz gerechtfertigt erscheint.75 Eine ähnliche Formulierung findet sich in den Entwürfen zur zweiten Auflage der Nova methodus. Hier wiederholt Leibniz zunächst den bereits in der ersten Auflage betonten Grundsatz, dass »die Billigkeit selbst« es fordere, »das strenge Recht zu beachten«.76 In der geplanten zweiten Auflage fügt er zur Klarstellung noch die Einschränkung hinzu : »falls nichts im Wege steht« (si nil obstet).77 Es ist also das noch heute anerkannte Schema von »Regel und Ausnahme«, auf dessen Grundlage Leibniz das Verhältnis der verschiedenen Stufen zu bestimmen sucht.78 Dieses Schema sagt zunächst, dass die Rechtsordnung auf einer dualen Struktur beruht, wobei die »Regel« in das Gebiet des ius strictum und die Ausnahme in das von aequitas und pietas fällt. Ob formalen oder materialen Elementen der Vorrang gebührt, lässt sich pauschal nicht beantworten. Es darf aber angenommen werden, dass für die ›Anwendung‹ der »Regel« (ius strictum) die Vermutung ihrer Richtigkeit spricht. Diese Vermutung entlastet denjenigen, der sich auf das strenge Recht berufen möchte, weil er die Werte, auf denen es fußt, nicht in jedem Fall neu herleiten oder begründen muss. Doch gibt es auch Situationen, in denen eine Anwendung strengen Rechts zu Ungerechtigkeiten
75 Leibniz, Praefatio (Fn. 1), S. 170, 171. 76 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81). 77 Leibniz, Nova methodus II, Anm. in : AA VI 1 zu § 74 (S. 344, Z. 26). 78 Vgl. den Brief an Conring vom 13./23. Januar 1670 (Fn. 1) : Gemäß dem Naturrecht führt die Billigkeit »nur zur Ausnahme« (S. 331). Siehe auch De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (1678/79 ?), in : AA VI 4 C, S. 2782–2791 : Omnis enim Lex praesumtionem habet, et in casu proposito locum habet, nisi emersisse probetur impedimentum aut contrarium, quod Exceptionem ex alia lege sumtam pariat. Atque hinc est quod onus probandi transfertur in eum qui allegat exceptionem (S. 2791). Einige Jahre vorher hatte Leibniz das noch anders gesehen. So heißt es in der Nova methodus (Fn. 1) : Denn sooft eine Regel durch eine Ausnahme »verletzt wird, geht auch ihr Sinn verloren« (§ 24, S. 63). Mit verblüffend ähnlichen Formulierungen glaubte gut 200 Jahre später Gierke, die »Trennung« von Regel und Ausnahme verwerfen zu können. Er hat in dieser Differenz ein Grundprinzip des römischen Rechts gesehen, das namentlich im Begriff der exceptio (Ausnahme) einen Ausdruck finde (Nachweise im 4. Kapitel IV 1). Es muss also angenommen werden, dass Leibniz seinen Standpunkt in Bezug auf dieses Thema innerhalb weniger Jahre geändert (oder den Terminus »Ausnahme«, je nach Kontext, unterschiedlich gebraucht) hat.
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führen würde (summum jus summa est injuria).79 Dann muss derjenige, der sich genötigt sieht, die Härten des ius strictum zu mildern, einleuchtende Gründe dafür angeben, warum er ein Abschwenken ausnahmsweise für geboten hält. Aus der Vermutung folgt also, dass derjenige, der sie widerlegen möchte, eine besondere Argumentationslast zu tragen hat. Würde dem ius strictum kein selbständiges Gewicht, kein eigener Rang zukommen, so wäre im Fall der Abweichung jede nähere Begründung überflüssig. Mit Auferlegung der Argumentationslast erschwert sich also die Möglichkeit einer Ausschaltung des ius strictum, sodass dieses selbst dort eine Bindungswirkung entfaltet, wo es mit Billigkeitserwägungen durchbrochen wird. Das Wechselspiel zwischen ius strictum auf der einen und aequitas (oder pietas) auf der anderen Seite lässt sich dahingehend präzisieren, dass die Strenge des formalen Rechts in bestimmten Fällen gemildert, dass es in seiner Ausübung oder Durchsetzung beschränkt und zugleich als fortbestehend gedacht wird.80 Das strenge Recht ist eher statisch, es »leitet sich«, in den Worten von Leibniz, »aus der Definition der Begriffe ab«.81 Wir würden heute von der »Subsumtion« des Sachverhalts unter einen Tatbestand sprechen.82
79 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 1), S. 46. 80 Dass die aequitas der Milde im Recht zur Geltung verhilft, ist oft hervorgehoben worden, siehe jüngst Gertrude Lübbe-Wolff, Das Dilemma des Rechts (2017), wo der Billigkeit nur eine, freilich lange (S. 48–50), Fußnote (67) gewidmet ist (dazu auch im 4. Kapitel). In diesem Zusammenhang sei der Theologe Johann Martin Chladenius (1710–1759) erwähnt, der im Anschluss an Leibniz erstmals eine allgemeine Hermeneutik verfasst hat (8. Kapitel VI), die 1742 unter dem Titel »Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften« erschienen ist (ND Düsseldorf 1969). Die Schrift enthält bemerkenswerte Abschnitte über Normenkollisionen (§§ 70–76). Als Beispiel nennt er u.a. das Verbot der Juden, am »Sabbath einige Arbeit zu verrichten«, während es das »Gesetz der Liebe« fordere, »einen krancken und nothleidenden Menschen mit Rath und Tat an die Hand zu gehen« (§ 71). Der folgende Abschnitt ist mit dem Titel »Was eine Ausnahme sei ?« überschrieben (§ 72). Auch hier stützt Chladenius die Ausnahme nicht auf die aequitas, sondern auf die »Liebe«. Von hieraus ließe sich ebenfalls eine Linie zu Leibniz ziehen : »Billig ist es, alle anderen zu lieben«, Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485), Nr. 4, S. 459–465, 465 (zur caritas siehe oben IV 1 bei Note 71 und 10. Kapitel III). Ein Unterschied besteht aber darin, dass Leibniz die Liebe an den rationalen Maßstäben der Weisheit orientiert (caritas sapientis), während bei Chladenius nicht ersichtlich wird, nach welchen Kriterien im Falle eines Konflikts zwischen strengem Recht und Liebe zu entscheiden wäre. 81 Z.B. Nova methodus II (Fn. 1), § 73 (S. 78, 79). 82 Siehe z.B. Ulfrid Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, in : Gottfried Gabriel, Rolf Gröschner (Hg.), Subsumtion (2012), S. 311–334. Leibniz hat wohl als erster in methodologischen Zusammenhängen von Subsumtion gesprochen, vgl. Nova methodus (Fn. 1), § 11 (S. 41).
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Die Vorteile des ius strictum liegen auf der Hand und sind oft betont worden : Es vermittelt dem Recht Klarheit, Sicherheit und Berechenbarkeit. Das unstrenge Recht zeichnet sich dagegen durch eine gesteigerte Dynamik und eine entsprechende Unschärfe aus.83 Das heißt nicht, dass es durch Typisierung nicht auch eine gewisse Verfestigung erreichen und, oftmals über Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, als aequitas scripta Eingang in die Gesetzgebung finden kann. Die in ihm verkörperten Werte wirken aber in offener Weise, sie bedürfen der Konkretisierung und können meistens nicht schematisch, sondern nur situativ und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gewogen werden.84 3. Durchsetzung und Erzwingbarkeit von ius strictum und aequitas
Leibniz versucht nun, die Gewichte von ius strictum und aequitas noch genauer gegeneinander abzumessen, indem er die Frage nach den Wegen stellt, auf denen die materialen Elemente zur Verwirklichung gelangen können.85 Als Beispiel dient ihm das Vertragsrecht, wo das Prinzip der Vertragstreue herrscht. Mit Sätzen wie »Vertrag ist Vertrag« oder »pacta sunt servanda« will die Rechtsordnung zum Ausdruck bringen, dass ein jeder Partner an die Erklärung seines Willens streng gebunden ist.86 Nur unter dieser Voraussetzung kann ein Gebiet, in dem sich große Teile der Gesellschaft frei, privatautonom und selbstregulierend bewegen, die nötige strukturelle Sicherheit und Stabilität erlangen. Das muss aber nicht heißen, dass nicht 83 In seinen »Elementen des Naturrechts« (Fn. 80) hat Leibniz den Versuch unternommen, Kriterien zu entwickeln, die Juristen helfen, Rechtsfälle zu entscheiden, in denen Billigkeitsgesichtspunkte eine besondere Rolle spielen. Doch seien solche Gesichtspunkte nur in begrenztem Maße rechtlich zu positivieren. Als Norm könne das Billige nur »difficillime generaliter« bestimmt werden (Elementa Juris Naturalis, Fn. 80, S. 455), näher Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 310, 340–346 (siehe auch 2. Kapitel V). 84 Diese situative Verflüssigung des Rechts pflegen wir heute unter Stichworten wie »Komplexität« oder »Grenzen der Subsumtion« zu erörtern, vgl. Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung (Fn. 82), S. 329–332. Dabei wird freilich einmal mehr deutlich, dass die moderne Methodenlehre angesichts ihrer ›Regelorientierung‹ der materialen Seite des Rechts nur mit Einschränkungen Rechnung tragen kann (a.a.O., S. 329). Mag dem Verfahren der »Subsumtion« für das ius strictum auch große Bedeutung zukommen, auf »Treu und Glauben«, aequitas oder ähnliche Verhaltenswerte lässt es sich nicht anwenden. Hinzu kommt die Frage, ob und inwieweit die für das Privatrecht so wichtige ›Dogmatik‹ mit dem in der Rechtstheorie verbreiteten Regelbegriff zu erfassen ist (siehe auch 2. Kapitel V). 85 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81, Z. 14–20). 86 Dass Leibniz in Übereinstimmung mit der römischen Jurisprudenz die Rechtsverbindlichkeit sogenannter »pacta nuda« ablehnt, darf im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben, dazu Meder, G.W. Leibniz : Reform des Privatrechts auf Grundlage historischen Naturrechts, in : ZEuP 2016, S. 687–707.
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auch hier materiale Erwägungen zur Geltung kommen können, die darauf zielen, im Rechtsverkehr ein gewisses Maß an Rücksicht walten zu lassen. Leibniz erörtert das Thema anhand von Fällen, in denen sich eine Partei durch »hinterlistige« (subtiles) Verträge oder »Vertragsraffinessen« Vorteile zu verschaffen hofft : Wer sich auf diese Weise seiner Pflichten zu entledigen sucht, ist mir »nichtsdestoweniger etwas schuldig«.87 Das Problem ist nur, wie der übervorteilte Gläubiger seine allein auf Billigkeit gegründeten Rechte durchsetzen kann. Er hat nämlich keinen eigenen »Verfolgungsanspruch«, weil eine Klage nur auf Grundlage des ius strictum erhoben werden kann. Gleichwohl ist jener, der hinterlistig gehandelt hat, verpflichtet mir etwas zu geben, und zwar nach Maßgabe der Verteilungsgerechtigkeit (suum cuique tribuere).88 Leibniz lässt offen, welche Billigkeitsargumente es im Einzelnen sind, die eine Durchbrechung des ius strictum hier rechtfertigen können. Ihn interessiert vielmehr die Frage, wie der übervorteilte Gläubiger seine Rechte realisieren kann. Dabei liegt es nahe, zunächst an das »Gesetz« (lex) zu denken.89 Leibniz ist der Überzeugung, dass auch materiale Elemente des Rechts typisiert und durch den Gesetzgeber ausdifferenziert werden können. Als Beispiele aus dem heutigen Recht wären etwa der Schutz eines gutgläubigen Erwerbers vor dem Herausgabeanspruch des Eigentümers im Sachenrecht, die Ausdifferenzierung von Sorgfaltsanforderungen im Deliktsrecht oder das Prinzip der Gefährdungshaftung zu nennen.90 87 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81, Z. 14–20). Eingehender befasst sich Leibniz mit dem Thema in den »Elementen des Naturrechts« (Fn. 80) : »Ungerecht handelt, wer einem anderen einen Nachteil um des eigenen Vorteils willen zufügt« (etwa durch unklare, überraschende oder intransparente Formulierungen). Nach Leibniz’ Stufenlehre können Gesichtspunkte der Imparität folglich durchaus in Anschlag gebracht werden. Allerdings hält er auch selbstschädigende Verfügungen über eigene Rechte für möglich, wie sie nach Maßgabe des Grundsatzes der Vertragsfreiheit noch heute allgemein anerkannt werden, siehe die Nachweise bei Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 311, 316. 88 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81, Z. 14–20). Sollte eine Durchsetzung dieses Rechts auf Erden nicht möglich sein, käme noch die heilsgeschichtliche Billigkeit in Betracht, die im 8. Kapitel I–III eingehender erörtert wird. 89 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 80, 81, Z. 14–20). 90 Zu Leibniz’ Versuchen, materiale Elemente so zu generalisieren, dass sie in die Gesetzgebung einfließen können, siehe oben Fn. 83. Auch das moderne Verbraucherrecht hat sich aus der aequitas scripta – aus Treu und Glauben entwickelt : Die Berufung auf das ius strictum (»Vertrag ist Vertrag«) muss bei einer unangemessenen Benachteiligung durch einen übermächtigen Vertragspartner eingeschränkt werden (z.B. § 307 BGB). Aus der legislativen Strukturierung darf aber nicht gefolgert werden, dass das Leitbild unabhängiger Freiheit nun durch »gebundene« Freiheit, das souveräne durch ein imperfektes Individuum abgelöst worden sei (unten 4. Kapitel IV). Die aus der materialen Seite des Rechts entwickelten Strukturen können im Übrigen ihren eigenen Formalismus entwickeln. So ist das moderne Verbraucherrecht zu einer Quelle neuer Formerfor-
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Weil die Billigkeit aber nur in begrenztem Maße positivierbar ist – weil das Gewicht ihrer Forderungen oft von der jeweiligen Situation und den Umständen des Einzelfalls abhängt –, muss es über das Gesetz hinaus noch andere Wege geben, auf denen sie Eingang in die Rechtsordnung finden kann. In einer ebenso pointierten wie erratischen Diktion spricht Leibniz von einem »Höheren« (superior), der imstande sei, vor allem über das Instrument der Einrede (exceptio), materialen Elementen zum Durchbruch zu verhelfen. Wer ist dieser »Höhere« ? Hubertus Busche gibt folgende Erklärung : Eine Forderung der Billigkeit kann gleichsam nicht von unten eingeklagt, sondern nur von oben eingeräumt werden. Der ›Höhere‹ ist ein von staatlicher Seite Befugter.91
Dieser völlig zutreffenden Interpretation der sprachlich schwierigen und in der deutschen Übersetzung sinnentstellten Aussage des jungen Leibniz wäre noch hinzuzufügen, dass der »Höhere« der römische Gerichtsherr, der Magistrat – der Prätor ist.92 Denn in einer bestimmten Epoche des entwickelten römischen Rechts kam eben diesem ›Gerichtsherrn‹ die Aufgabe zu, materiale Elemente, etwa in Form des bona fides-Gebots oder des dolus-Verbots so durchzusetzen, dass das formale Recht zwar nicht angetastet, in seiner Anwendung jedoch gemildert wurde.93 Da nach Leibniz der Mensch aber in einem dauernden Zeitfluss lebt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft also in einem Kontinuum stehen
dernisse geworden. Ein Beispiel bildet die Vermehrung von Widerrufsrechten, die ohne Angabe von Gründen ausgeübt werden können. Da diese Rechte oft missbräuchlich gehandhabt werden, stellt sich zunehmend die Frage, ob die Rechtsordnung eine Ausnahme von der »Ausnahme« machen darf (im Sinne mangelnder Schutzwürdigkeit und Rückkehr zum ius strictum der Privat autonomie). Das grundsätzliche Problem, ob es sich bei einigen der neuen Phänomene (AGB) überhaupt um Verträge und nicht um Normen handelt, muss hier ausgeklammert bleiben. 91 Anmerkungen des Herausgebers zur Nova methodus, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 430. Zur Frage der rechtlichen Durchsetzbarkeit und Erzwingbarkeit von Billigkeitsregeln siehe auch ders., Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 1), S. 318–320, 322, 345. Unter den Prämissen der Gewaltenteilung lässt sich freilich darüber streiten, wie weit diese Befugnis reicht. Zu den rechtsquellentheoretischen Problemen von Richterrecht und wissenschaftlichem Recht vgl. Meder, Was bedeutet Dogmatik ?, in : FS Kurt Ebert (im Erscheinen), V 3. 92 Z.B. D.44.4.1.1 (der Prätor gewährt dem Beklagten über die Einrede eine Verteidigungsmöglichkeit, um zu verhindern, dass der Kläger die Härten des strengen Rechts zum eigenen Vorteil ausnutzt ; siehe oben II 2 mit weiteren Nachweisen zum römischen Recht). 93 Behrends, Struktur und Wert (Fn. 22), S. 57 f.; ders., Das Werk Otto Lenels und die Kontinuität der romanistischen Fragestellungen (1991), in : Institut und Prinzip (Fn. 22), S. 271–309, 272–273.
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und eng miteinander verwoben sind, darf vermutet werden, dass der »Höhere« auch ein moderner Richter sein kann.94
V. Der subsidiäre Charakter des Naturrechts im zeitgenössischen System der Rechtsquellen Von den Stufen des Naturrechts unterscheidet Leibniz noch einmal drei andere Stufen, die das positive Recht betreffen. Es handelt sich um eine Gliederung der vielfältigen Quellen, die zu Leibniz’ Zeiten im Alten Reich in Geltung waren. Danach steht auf der ersten Stufe das Gemeinderecht (ius municipale). Wenn auf seiner Grundlage ein Rechtsfall nicht zu lösen sei, müsse Reichsrecht herangezogen werden und wenn auch das Reichsrecht keine Regelung enthalte, habe auf der dritten Stufe »das römische Recht in Kraft zu treten«.95 Diese Liste ist freilich keineswegs abschließend. Denn über das geschriebene Recht hinaus soll auch das ungeschriebene Recht Anwendung finden.96 Über die Rangfolge dieser beiden Quellengruppen hat Leibniz sich nicht geäußert. Es ist aber zu vermuten, dass er – in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Lehre – das (ungeschriebene) Gewohnheitsrecht auf der ersten und das geschriebene Recht auf den jeweils ›höheren‹ Stufen angesiedelt hätte.97 Auch bei dieser Einteilung kann die ›untere‹ Stufe also einen gewissen Vorrang für sich in Anspruch nehmen. Da jedoch das Gewohnheits-, Gemeinde- oder Reichs-
94 Jedenfalls gestatten es die Prämissen, auf denen Leibniz’ politische Philosophie beruht, dem Richter eine viel größere Macht einzuräumen, als dies etwa Bodin, Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant vermocht hätten (dazu näher im 10. Kapitel IV 2). 95 Leibniz hat das Thema wiederholt erörtert, am ausführlichsten wohl im Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 341. 96 Leibniz, Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 341 (dabei ist vorausgesetzt, dass das ungeschriebene Recht und die ›unteren‹ Stufen des Rechts [spezielles Recht] ebenfalls jene ›duale‹ Struktur aufweisen, die vorstehend am Beispiel des geschriebenen Rechts skizziert wurde). 97 Auch das römische Recht bzw. das Ius commune stuft Leibniz, durchaus in Übereinstimmung mit der zu seiner Zeit herrschenden Auffassung, als »geschriebenes« Recht ein, vgl. z.B. den Brief an Louis Ferrand vom 31. Januar 1672, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 375–379, 376, 377 (»Kern der römischen Gesetze«) ; Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (a.a.O.), S. 345 (»Wald der römischen Gesetze«). Zwar hatte Conring mit seiner Widerlegung der Lothar-Legende die Frage nach dem Geltungsgrund des Ius Commune neu aufgeworfen (Meder, Rechtsgeschichte, Fn. 11, S. 244, 252). Doch sollte es noch einige Zeit dauern, bis daraus eine rechtsquellentheoretische Konsequenz gezogen und das Ius Commune als (ungeschiebenes) Gewohnheitsrecht qualifiziert wurde, näher Meder, Ius non scriptum (Fn. 36), S. 130–132.
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recht oftmals keine brauchbaren Regeln enthielten, hat die Rechtspraxis auch im 17. Jahrhundert noch häufig auf das römische Recht zurückgegriffen.98 Leibniz’ Schilderung der Abstufungen des positiven Rechts stimmt weitgehend mit den Kerngedanken der mittelalterlichen Statutentheorie überein, die das Verhältnis konkurrierender Rechtsquellen regelte. Als Formel für die Rangordnung galt im Mittelalter : Statut bricht Landrecht, Landrecht bricht Reichsrecht, Reichsrecht bricht Gemeines Recht (ius commune). Neben dem spezielleren Recht wie Gewohnheits- oder Statutarrecht soll das allgemeinere Recht (ius commune) also nur subsidiäre Bedeutung haben : Römisches Recht darf nur zur Anwendung kommen, wenn Normen des engeren Kreises nicht zur Verfügung stehen.99 Nun kann es aber geschehen, dass der Richter in keiner dieser Quellen eine Regelung findet. In einem Brief an Conring stellt Leibniz daher die Frage : Was aber, wenn das Gesetz über einen vorliegenden Fall nichts sagt, d.h. wenn es sich weder ausdrücklich damit befaßt noch eine Folgerung aus ihm zu ziehen erlaubt ? Dann allerdings, meine ich, werdet Ihr nicht bestreiten, daß der Richter seine Entscheidung ebenso, gleichsam außerhalb der Staatsverfassung, verkünden muß, wie ein gewählter Schiedsmann (arbiter) zwischen zweien, die durch keine Gemeinschaft bürgerlichen Rechts verbunden sind, seinen Schiedsspruch fällen muß.100
An diesem Punkt bringt Leibniz das Naturrecht ins Spiel.101 Der Richter dürfe auf seiner Grundlage dann eine Entscheidung treffen, wenn sich im Stufenbau der positiven Rechtsquellen keine Lösung finden lässt. Allerdings, so fügt er hinzu, müsse der Richter in einem solchen Fall zunächst auf das Naturrecht »im strengen Sinne« rekurrieren.102 Diese Einschränkung erscheint aus zwei Gründen konsequent : Ein 98 Es handelt sich hier um jene Rechtsquellensituation, in welcher die Germanisten sich gut 100 Jahre später anschickten, jenseits des römischen Rechts unter Rekurs auf die aequitas und die »Natur der Sache« ein subsidiäres deutsches Privatrecht zu erarbeiten (siehe 4. Kapitel I 2). 99 Siehe z.B. Reiner Schulze, Statutarrecht, in : Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Bd. IV (1990), Sp. 1922–1926 ; Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht (2002), S. 108–138 (in der Konkurrenzregel lex specialis derogat legi generali ist dieser Gedanke bis heute erhalten geblieben). 100 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 341. 101 Auf die »Natur« oder das »Naturrecht« haben sich Parteien freilich auch schon vor Leibniz im Prozess berufen, vgl. Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht (Fn. 99), S. 108, 135–138. Leibniz verleiht im Rahmen seiner Rechtsphilosophie dem Naturrecht aber eine neue, sowohl systematisierte als auch universale Geltungssphäre. 102 Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 1), S. 343 (mit dem allgemeinen Gebot des neminem laedere als ›Grundnorm‹, vgl. die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt). Dazu auch Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« bei Leibniz (Fn. 40), S. 565 (Natur-
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mal, weil das Naturrecht in solchen Situationen in die Funktion des positiven Rechts einrückt, das schon aus Gründen der Rechtssicherheit im wesentlichen »Regel« und damit ius strictum sein muss. Hinzu kommt, dass strenges Recht und Billigkeit konvergieren, die aequitas also selbst es fordert, das ius strictum zu beachten. Andererseits darf die Berücksichtigung »höherer Rechtsgüter« in besonderen Fällen durch die subsidiäre Anwendung des Naturrechts nicht ausgeschlossen bleiben. Dies folgt daraus, dass Leibniz sich, wie ausgeführt, gegen eine eingliedrige Rechtsstruktur ausspricht und die einzelnen Stufen des Naturrechts in der Weise zusammenwirken, dass sie sich nicht vollständig voneinander trennen lassen.
VI. Resümee Leibniz’ Konzept des ius strictum harmoniert weitgehend mit jener Differenz, die das römische Recht auf Basis des Schemas von Regel und Ausnahme entwickelt hat. Wie eng Leibniz sich der römischen Jurisprudenz verbunden fühlt, verdeutlicht sein Rekurs auf einen »Höheren« und dessen Funktion, durch die Gewährung von Einspruchsmöglichkeiten (exceptiones) materialen Elementen des Rechts zur Durchsetzung zu verhelfen. Das ius strictum mag auf der untersten Stufe des Naturrechts stehen. Die Hierarchisierung darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass Leibniz der aequitas (oder pietas) die Führung überlassen wollte. Das Gegenteil ist der Fall : Nach Maßgabe des Schemas von Regel und Ausnahme spricht für das ius strictum die Vermutung seiner Richtigkeit. Diese Vermutung kann nur in speziellen Fällen und mit einem gesteigerten Argumentationsaufwand durch die Darlegung von Billigkeitsgründen widerlegt werden. Abermals zeigt sich also, dass Leibniz auf Rechtssicherheit großen Wert legt. Als aufmerksamer Beobachter der juristischen Praxis ist er sich jedoch auch darüber im Klaren, dass der Souverän bestimmen mag, was er will. Sein Wille kann die Billigkeit nicht tilgen, sie wird immer und überall Wege finden, um sich mit elementarer Kraft zur Geltung zu bringen : Angesichts des gesellschaftlichen Wandels und der Vielfalt möglicher Situationen treten in der Praxis unablässig Fälle auf, in denen das positive Recht schweigt oder Gesetzestreue zu ungerechten Ergebnissen führen würde.103 recht als »Ausnahmenorm«, die aus Gründen der Rechtssicherheit restrikiv gehandhabt werden müsste). Zur Vermeidung von Missverständnissen sei kurz angemerkt, dass »Naturrecht« mit dem Terminus »Natur der Sache«, worauf sich nach der Wende zum 19. Jahrhundert auch die Protagonisten des romanistischen Zweigs der Historischen Rechtsschule bezogen haben, nicht verwechselt werden darf (siehe 4. Kapitel I 2 und 3). 103 Eine Aufgabe der Rechtsphilosophie sieht Leibniz also darin, den materialen Elementen in der Theorie jenen Raum zu gewähren, den sie in der Praxis benötigen. In diese Richtung hat sich
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In solchen Fällen erblickt Leibniz den eigentlichen Lebensnerv und Antrieb der Jurisprudenz. Sie ist in ständiger Entwicklung begriffen und kann angesichts ihrer Dynamik weder mit dem ius scriptum im Allgemeinen noch mit der aequitas scripta im Besonderen vollständig zur Deckung gebracht werden. Unter den Prämissen einer fallorientierten Methodologie lässt sich keine klare Grenze zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung ziehen. Einzelfallentscheidungen gehen, jedenfalls in den hard cases, über ein partikulares Interesse der Parteien, über die Bewältigung eines einmaligen, vergangenen, unwiederholbaren Geschehens oft hinaus. Wie das ius scriptum können sie eine generalisierende, vorwegnehmende Regelung von gleichgelagerten Fällen entwerfen und dadurch künftiges Geschehen programmieren. Die Erforschung ihrer leitenden Prinzipien mit den Mitteln der Wissenschaft soll sicherstellen, dass künftige Fälle nach gleichen Maßstäben entschieden werden. Die Resultate dieser Wissenschaft mögen, wie heute culpa in contrahendo oder positive Forderungsverletzung, bisweilen Eingang in das ius scriptum gefunden haben. Dies ändert aber nichts daran, dass eine Prognose künftigen Geschehens durch Gesetze nur beschränkt möglich ist – dass ius strictum und aequitas durch unvorhersehbare Fälle jederzeit in neue und spannungsreiche Verhältnisse gebracht werden können. Die im Mittelalter so lebhaft diskutierte Frage, ob die aequitas geschrieben sein muss, spielt dabei keine Rolle : Ob die aequitas schon geschrieben oder noch ungeschrieben ist, hängt vom Fluss der Legislative und damit vom Zufall ab. Leibniz’ Naturrecht ist, soweit es über das positive Recht hinausgeht, nicht nur niemals ›ungerecht‹, sondern auch immer ›ungeschrieben‹. Die Epieikeialehre hat bei Leibniz’ ebenfalls keine große Resonanz gefunden. Der Grund liegt darin, dass hier die Billigkeit vor allem in der Funktion auftritt, eine gerechte Einzelfallentscheidung zu ermöglichen. Das Anliegen von Leibniz geht darüber hinaus. Es ist auf die schöpferische Bearbeitung jener Schicht zwischen Einzelfall und Gesetz gerichtet, die wir heute als Dogmatik zu bezeichnen pflegen. Die aequitas dient dabei als Grundlage, worauf die Rechtswissenschaft aufbauen muss – als Einfallstor, Legitimation und Maßstab, woran sich die Anwendung ihrer Resultate messen lassen muss. So gesehen verfolgt Dogmatik das gleiche Ziel wie ein Gesetzgeber oder ein Richter, nämlich eine gerechte Entscheidung herbeizuführen. Verschieden sind aber die Akteure, die Mittel und die Wege, auf denen dieses Ziel erstrebt wird.
z.B. auch der Praktiker und BGB-Redaktor Gottlieb Planck geäußert : »Mochte die Gesetzgebung bestimmen, was sie wollte« ; alternative Rechtsquellen haben »sich immer und allenthalben mit elementarer Kraft durchgesetzt«, BGB, Bd. I, 4. Auflage (1913), Einleitung (S. XXXIX).
4. Kapitel Blick auf die Gegenwart : Aequitas, ›Natur der Sache‹ und ›Materialisierung‹ des Rechts Kann Milde strengem Recht Grenzen setzen ? Diese Frage beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden.1 Die klassische römische Jurisprudenz hat das milde Element des Rechts als aequitas vom strengen Recht (ius strictum) unterschieden. Mit der Gründung der Universitäten und der Rezeption des römischen Rechts kommt diese Differenz auch in der gelehrten mittelalterlichen Jurisprudenz zur Geltung. In der Neuzeit beginnt neben die lateinische aequitas zunehmend der Begriff der »Billigkeit« zu treten : Das Wort »billich«, das sich schon frühzeitig mit »recht« paart, ist seit dem 11. Jahrhundert belegt. Eine sachliche Änderung geht mit der Neigung zum Gebrauch der deutschen Sprache zunächst nicht einher. Nach wie vor wird die Billigkeit vom strengen Recht »wie aequitas und ius« unterschieden.2 Erst im 18. Jahrhundert kündigt sich ein bedeutsamer und oft verkannter terminologischer Wandel an. Im Folgenden soll das Konzept der Billigkeit, um das Leibniz’ Rechtsquellenlehre kreist, unter dem Gesichtspunkt eines rechtsphilosophischen Dualismus auf seine Aktualität hin befragt werden. Die These ist, dass die Idee einer Zweigliedrigkeit der Quellen im Begriff ›Natur der Sache‹ und in den Diskussionen über eine fortschreitende ›Materialisierung‹ des Rechts noch heute fortlebt.
I. Von der aequitas zur ›Natur der Sache‹ Mit der Dichotomie von Recht und Billigkeit gehen eine Reihe von weiteren Unterscheidungen einher, die wir heute unter Stichworten wie Einzelfall und Norm, formales und materiales Recht, Regel und Ausnahme, Recht und Gesetz oder 1 Vgl. Getrude Lübbe-Wolff, Das Dilemma des Rechts (2017) – mit der These, der Fortschritt des Rechts bestehe in seiner »sukzessiven Milde«, S. 15, 19, 70 (unter Berufung auf Leibniz). 2 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. II, 1860 (ND München 1984), S. 27 und 28. Dagegen legt Karl August Albrecht den Akzent auf die Unterschiede zwischen deutscher Billigkeit und römischer aequitas : Die Stellung der römischen Aequitas in der Theorie des Civilrechts (1834), S. 10, 13–26. Letztere deute auf den Zweck des »aequare jus facto«, sie ziele auf ein Gleichgewicht (aequilibrium), womit auch die ursprüngliche Bedeutung von aequum übereinstimme (S. 15). Diese Sichtweise (vgl. 3. Kapitel II 2) ändert aber nichts daran, dass es mangels Alternativen die Billigkeit war, die in deutschen Texten an die Stelle der aequitas trat und sich durch Sprachgebrauch anverwandelte.
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eigennütziges und solidarisches Handeln zu diskutieren pflegen.3 Die Zwillingsformel »recht und billig« ist also im breiteren Kontext einer Tradition zu verstehen, die von der Antike bis in die Epoche von Renaissance und juristischem Humanismus reicht. Eines ihrer Merkmale besteht darin, dass sie ›milden‹ gegenüber ›strengen‹ Elementen des Rechts eine selbständige Bedeutung zugesteht. In der Epoche von Aufklärung und Vernunftrecht kommt es zu einem Bruch mit dieser Tradition, dessen Folgen noch heute zu spüren sind.4 Dass so verschiedene Autoren wie Jean Bodin, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant entweder jede Berücksichtigung von Billigkeitsgesichtspunkten kategorisch ablehnen oder im Falle eines Konflikts mit dem Befehl des Gesetzes letzterem einen unbedingten Vorrang einräumen, ist bereits ausgeführt worden.5 Warum die meisten Natur3 Von einem »rechtsphilosophischen Dualismus« ist in diesem Zusammenhang z.B. bei Kurt Seelmann, Daniela Demko, Rechtsphilosophie, 6. Auflage (2014), die Rede (§ 3, Rn. 47, S. 99). Genau genommen handelt es sich aber eher um eine Inkommensurablität, und zwar um eine jener Dichotomien oder Differenzen, die im Zentrum von Leibniz’ Philosophie stehen. Im zweiten Teil wird zu zeigen sein, wie sich die Unterscheidung von ius strictum und aequitas über die Jurisprudenz hinaus in ›höhere‹, metaphysische Differenzen einpasst, wovon die beiden Reiche der Wirk- und Zweckursachen oder die Unterscheidung zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit nur als Beispiele genannt seien. Leibniz’ Differenzen können durchaus paradoxalen Charakter haben, sind aber nicht eigentlich Trennungen, sondern eher fundamentale Distinktionen, die in einer immerwährenden Spannung miteinander stehen. 4 Ein Beispiel bilden die Diskussionen über die Frage, ob die im Schuldrecht keineswegs nur über § 242 BGB anerkannten Grundsätze der Billigkeit auch im Sachenrecht und namentlich bei dinglichen Ansprüchen zur Anwendung kommen können oder ob z.B. § 985 »als strikt güterzuordnendes Instrument« zu begreifen ist, vgl. Otto Mühl, Treu und Glauben im Sachenrecht, in : NJW 1956, S. 1657–1662, 1662 (keine allgemeine Anwendung der Billigkeit im Sachenrecht) ; Jan Lieder, Die Anwendung schuldrechtlicher Regeln im Sachenrecht, in : JuS 2011, S. 874–879, 877 f.; Christian Baldus, in : Münchener Kommentar, BGB, Band 7, 7. Auflage (2017), Vor § 985 Rn. 66–75 ; § 985 Rn. 166–182. 5 Vgl. 3. Kapitel III. Hier liegt einer der Gründe, warum gegenüber der These von Lübbe-Wolff, der Fortschritt des Rechts bestehe in seiner »sukzessiven Milde« (Fn. 1), Zweifel anzumelden sind. Sie beruht auf der unter Juristen heute weit verbreiteten Vorstellung, das späte Mittelalter bilde eine Kontrastfolie für den Begriff der Moderne und damit auch für die Epochen des Fortschritts. Dazu passt, dass Lübbe-Wolff gerne Beispiele aus dem vorklassischen römischen Recht und dem frühmittelalterlichen germanischen Recht wählt, um die Fortschrittsthese zu illustrieren. Ihr muss freilich auch auffallen, dass »noch bei Kant« zu lesen ist, juridische Gesetzgebung müsse – bei einem konsequenten Ausschluss der Billigkeit – immer ›nötigend‹ sein (a.a.O., S. 30, 49). Für Leibniz würde es dagegen keine Überraschung bedeuten, dass ein Protagonist säkularen Naturrechts (wie Kant) mit der einseitigen Betonung strengen Rechts sowohl hinter den Errungenschaften klassischen römischen Rechts als auch hinter seiner Bestimmung der Gerechtigkeit als caritas sapientis zurückbleibt. Die überzogene Wohltätigkeit des byzantinischen Rechts würde
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rechtsdenker sich genötigt sahen, die Billigkeit aus der Rechtsordnung zu verbannen, hat vornehmlich verfassungsrechtliche Gründe. Eine ›duale‹ Strukturierung der Rechtsquellen würde die mit Gesetzgebung erstrebte Rechtsklarheit und Rechtssicherheit unterminieren : Sie würde der Jurisprudenz ein Maß an Gestaltungsmacht verleihen, das mit dem Souveränitätskonzept des staatsrechtlichen Positivismus inkompatibel wäre. 1. Terminologische Petitessen
Die Aktualität von Leibniz’ Rechtsphilosophie liegt darin, dass er der Jurisprudenz eine solche Gestaltungsmacht zugestehen kann. Zwar teilt er mit den meisten seiner Zeitgenossen die Forderung nach mehr Klarheit, Einfachheit und Sicherheit des Rechts. Doch weicht er von der politischen Philosophie eines Bodin, Hobbes, Pufendorf, Thomasius und – später – Rousseau oder Kant in einem entscheidenden Punkt ab, wenn er die Zweigliedrigkeit der römischen Rechtsquellenlehre wieder aufgreift. So rücken mit der Dichotomie von Recht und Billigkeit noch weitere Spannungsfelder in das Blickfeld seiner Rechtsphilosophie, etwa die zwischen Einzelfall und Norm, Ausnahme und Regel oder Eigennutz und Gemeinwohl. Diesen begrifflichen Antinomien sollte die Zukunft gehören, zumal die Protagonisten der Historischen Rechtsschule nach der Wende zum 19. Jahrhundert an die Tradition einer zweigliedrigen Rechtsquellenlehre wieder anknüpften. So unterscheidet Savigny zwischen einem strengen Rechtsprinzip, das formale Zuständigkeiten schafft, und einem wertorientierten Rechtsprinzip, vermöge dessen auch materiale Gesichtspunkte zur Geltung kommen können.6 Der Konflikt mit einer positivistischen Staatswissenschaft, welche »die absolute Autorität des staatlichen Rechtswillens« (und damit das ius voluntarium) in den Mittelpunkt der Rechtsquellenlehre rückte, schwelte aber weiter.7 Als Beispiel für seine Fortdauer bzw. sein Wiederaufleben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sei eine Formulierung des zu seiner Zeit führenden Pandektisten Bernhard Windscheid genannt. Sie steht im Kontext einer speziellen Debatte, die in der Entstehungsfreilich auch bei ihm auf Ablehnung stoßen (3. Kapitel II 2). Die Milde eignet sich also, wenn überhaupt, nur mit Einschränkungen als Seismograph rechtlichen Fortschritts. 6 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 54–56 (dazu näher im Vorspann zu Teil III). 7 Formulierung von Albert Gebhard, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (1881/85), in : Werner Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches, Allgemeiner Teil, Teil 1 (1981), S. 1, 80 f.
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phase des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geführt wurde. Dabei ging es um die Frage, ob das Vertragsrecht des neuen Gesetzes eine Regelung jenes allgemeinen Grundsatzes enthalten soll, den die Wissenschaft unter Bezeichnungen wie clausula sic stantibus, Lehre von der Voraussetzung oder Störung der Geschäftsgrundlage erörterte. Die Verfasser des BGB haben eine Aufnahme von Windscheids Voraussetzungslehre bekanntlich abgelehnt.8 Zur Begründung beriefen sie sich auf ein Argument, das auch in der Epoche von Aufklärung und Vernunftrecht oft herangezogen wurde, nämlich die Gefahr für die Rechtssicherheit. Windscheid entgegnete auf diese Bedenken : Ohne Zweifel wird die Rechtssicherheit außerordentlich gefördert, wenn die stillschweigende, d.h. aus den Umständen gefolgerte Voraussetzung ausgeschlossen bleibt. Dieser Vorteil wird aber durch ein großes Opfer erkauft, durch das Opfer, daß der Richter unter Umständen gehindert wird, das, was er für gerecht hält, zur Geltung zu bringen. Der alte Kampf zwischen der formalistischen und der auf die Sache sehenden Rechtsanwendung !9
Savigny hatte, wohl als erster, auf einen bedeutungsvollen und oft verkannten Wandel in der Terminologie aufmerksam gemacht, der um die Wende zum 19. Jahrhundert zu beobachten war : »Was die Neueren Natur der Sache nennen«, tritt nun an die Stelle der überkommenen »aequitas oder naturalis ratio«.10 In diesem Kontext ist auch Windscheids »Kampf« der formalen mit »der auf die Sache sehenden Rechtsanwendung« zu begreifen. 2. Vom Siegeszug der ›Natur der Sache‹
Wer waren diese »Neueren«, von denen bei Savigny die Rede ist ? Welche Autoren sind es, die der »Natur der Sache« den Weg in die rechtswissenschaftlichen Diskurse gebahnt haben ? An erster Stelle wäre hier kein Geringerer als der französische Philosoph und Staatstheoretiker Charles de Secondat Montesquieu (1689–1755) zu nennen, der gleich zu Beginn seines berühmten Werks über den Geist der Gesetze feststellt : 8 Siehe den Überblick bei Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 327–333 (sowie unten II 2). 9 Windscheid, Die Voraussetzung, in : AcP 78 (1892), S. 161–202 ; erneut in : Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul Oertmann, (1904), S. 375–409, 408 (Hervorhebung nicht im Original). 10 Savigny, System I (Fn. 6), S. 55, 113. Siehe dazu auch Ralf Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (1965), S. 42 f.
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»Gesetze in der weitesten Bedeutung sind die notwendigen, aus der Natur der Dinge entstehenden Verhältnisse.« (Les lois, dans la signification la plus étendue, sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses.)11
Savigny dachte jedoch nicht an Montesquieu, sondern an Autoren der germanistischen Jurisprudenz, die, ohne den französischen Philosophen und Staatstheoretiker zu erwähnen, auf die ›Natur der Sache‹ ebenfalls zurückgegriffen haben.12 Den Ausgangspunkt bildet die Lehre von den Quellen des positiven Rechts und deren Rangordnung, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch immer weitgehend auf der alten Statutentheorie mit dem Ius commune als subsidiärem Recht beruhte.13 Daneben waren, überwiegend gewohnheitsrechtlich, einige alte deutsche Rechtsinstitute erhalten geblieben, die von den Romanisten, wenn überhaupt, allenfalls stiefmütterlich behandelt wurden. Um bei der Anwendung derartiger Rechtsinstitute nicht auf römische Jurisprudenz zurückgreifen zu müssen, suchten Germanisten ein gemeines deutsches Privatrecht in Form eines zusätzlich geltenden subsidiären Rechts zu erarbeiten. Dabei waren nicht nur historische oder praktische, sondern auch nationale Interessen im Spiel, die freilich eher liberalen als imperialen Charakter hatten. Auf die ›Natur der Sache‹ griffen sie vor allem dann zurück, wenn es darum ging, aus dem oftmals lückenhaften und fragmentarischen Rechtsstoff eine Art ›System‹, ein neues ›Deutsches Privatrecht‹ zu entwickeln. So heißt es bei dem Göttinger Reichspublizisten Stephan Johann Pütter (1725–1807) :
11 Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), I 1, Edition Laurent Versini (1995), S. 87 ; dt. Vom Geist der Gesetze, hg. v. Ernst Forsthoff (1951), I 1, S. 9. Aussagen über die Natur der Sache sind in dem gesamten Werk verbreitet. Es sei daher noch ein weiteres Beispiel gestattet : »Alles Willkürliche fällt weg ; die Strafe hat ihren Ursprung nicht in dem Eigensinne des Gesetzgebers, sondern in der Natur der Sache« (»de la nature de la chose«), a.a.O., XII 4, S. 379 (dt. S. 260). Vor Montesquieu war (u.a.) bereits bei Aristoteles von ›Natur der Sache‹ (im Zusammenhang mit epieikeia) die Rede, Nikomachische Ethik, 5. Buch, 14. Kapitel (1137b). Für das 16. Jahrhundert wäre der Leibniz-Schüler und Theologe Johann Martin Chladenius zu nennen, der den Terminus in seinem Werk »Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften« von 1742 (ND Düsseldorf 1969) zum Einsatz brachte (z.B. § 313, S. 191 f.). 12 Ralf Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (Fn. 10), S. 42 f. (mit dem Hinweis, dass es sich hier um ein Phänomen der deutschsprachigen Jurisprudenz handele, a.a.O., S. 35). Siehe auch bereits Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in : SZ (GA) 56 (1936), S. 202–263, wieder abgedruckt, in : ders. (Hg.), Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Bd. II (1986), S. 633–694, 662, 684. 13 Siehe 3. Kapitel V. Dieses Recht bearbeiteten die ›Romanisten‹ und darauf wollte Leibniz sein Projekt eines Corpus Iuris Reconcinnatum aufbauen (2. Kapitel).
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Den Vorzug, den ein Gesetzbuch hat, das man nur nachschlagen darf, müssen wir hier freylich entbehren. Aber man verfahre nur so, wie es die Natur der Sache erfordert, wenn eine Nation kein ander gemeines Recht hat, als das auf blosser Gewohnheit beruhet.14
Es sollte nicht lange dauern, bis die Frage aufgeworfen wurde, ob die ›Natur der Sache‹ eine gegenüber dem ›Gewohnheitsrecht‹ selbständige Quelle darstellt. Während Pütter dies noch offen ließ, äußert sich sein Schüler Justus Friedrich Runde (1741–1807) schon deutlicher : Denn 1) wir haben allgemein verbindliche Reichsgesetze, welche viel zum Privatrechte Geltendes enthalten ; 2) es gibt gemeine Gewohnheitsrechte in Deutschland ; und was 3) in Ermangelung solcher positiven gemeinen deutschen Rechte aus der Natur der Sache, oder eines den Deutschen eigenen, durch Gesetze, Gewohnheit oder Vertrag unter Privatpersonen anerkannten Rechtsinstituts, richtig gefolgert werden kann, ist ebenfalls so gemein gültig und geltend, als die gesunde Vernunft ; und hat bey Entscheidung der Streitigkeiten, wie andere Grundsätze eines hypothetischen Vernunftrechts, in jedem Fall Anwendung, wo es an positiven Bestimmungen fehlt. Wegen der sehr dürftigen und mangelhaften so wohl allgemeinen als besonderen deutschen Legislation, tritt aber dieser Fall bey den deutschen Rechtsinstituten viel öfter, als bey denen ein, welche Gegenstände der fremden Rechte sind. Um desto nothwendiger ist die Cultur dieser letzten Quelle. Sie ist nichts anderes, als die naturalis ratio, deren Gebote für jedermann verbindlich sind.15
Die römischen Juristen hätten, fährt Runde fort, ebenfalls aus dieser Quelle geschöpft : Ja ! Der größere und bei weitem schätzbarste Theil des Justinianischen Rechtsbuches – die Pandecten – liefert meistens solche Rechtsgrundsätze, welche ursprünglich kein Gesetzgeber : sondern großer Scharfsinn römischer Rechtsgelehrten aus der Natur rechtlicher Geschäfte entwickelt hatte.16
Die Formulierung zeigt : Es geht nicht nur um Geschichte, Praxis oder nationale Selbstbestimmung, sondern vor allem auch um die Rechtsetzungskompetenz der 14 Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte, Bd. 2 (1779), S. 96 f. 15 Runde, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts (1806), § 80 (S. 65). 16 Runde, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts (Fn. 15), § 80 (S. 65).
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Wissenschaft.17 Unschwer könnten weitere Autoren genannt werden, die ähnlich dachten und in der ›Natur der Sache‹ ebenfalls eine Rechtsquelle erblickten.18 Der Vollständigkeit halber sei noch kurz hinzugefügt, dass sich bald auch die Romanisten des Themas annahmen. So meinte etwa August Wilhelm Heffter (1796–1880), die ›Natur der Sache‹ sei zwar keine selbständige Quelle, aber Bestandteil der Rechtsquelle »Wissenschaft«.19 In eine ähnliche Richtung zielen die Ausführungen von Albrecht Schweppe (1783–1829), mit der Einschränkung, dass die ›Natur der Sache‹ lediglich zur Präzisierung einzelner Rechtsinstitute wie Eigentum oder Vertrag herangezogen werden dürfe.20 Wie die Germanisten erblicken also auch Romanisten in der ›Natur der Sache‹ ein Instrument, mit dessen Hilfe beim Schweigen des positiven Rechts eine juristische Entscheidung generiert werden kann. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass einige Autoren glaubten, die ›Natur der Sache‹ in den Dienst der Rechtsanalogie stellen zu können.21 Bei Georg Friedrich Puchta (1798–1846) 17 Vgl. zudem August Ludwig Reyscher (1802–1880), Der Begriff des gemeinen deutschen Rechts, in : Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 10 (1846), S. 153–180, 171 (Parallelisierung der Rechtsbildungen durch die ›Natur der Sache‹ mit der naturalis ratio und dem ius gentium). Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass Jan Schröders These, die aequitas sei nur »bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts als Rechtsquelle« angesehen worden, nicht zu halten ist, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit, in : Quaderni Fiorentini 26 (1997), S. 265–305, 266, 273 f.; ders., Aequitas und rechtswissenschaftliches System, in : ZNR 21 (1999), S. 29–44 (3. Kapitel II 3). Zwar trifft es zu, dass die neuzeitliche Staatslehre die aequitas aus der Rechtsordnung hinausdrängen wollte (a.a.O., S. 284, 286). Von einem »Verschwinden« (a.a.O., S. 274) kann aber keine Rede sein. Denn es gab immer auch Autoren (etwa der Reichspublizistik), die gegen diese Lehre opponiert haben. So ließe sich (im Zeichen des Rechtspluralismus) eine Linie vom juristischen Humanismus über Leibniz’ Stufenlehre und die Germanisten im 18. Jahrhundert bis zu den Romanisten im 19. Jahrhundert ziehen. Dabei würden auch die Funktionen von aequitas und Natur der Sache als Humus deutlich, auf dem Dogmatik gedeiht. 18 Mit Blick auf die aktuellen Diskussionen über den Rechtsquellencharkter der Dogmatik noch heute lesenswert : Ludwig Harscher von Almendingen (1766–1827), Metaphysik des Civilprocesses (1808), Neue Ausgabe Giessen (1821), S. 5–7 ; Karl Ludwig Wilhelm von Grolman (1775– 1829), Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (1803), S. 9–11, und als kritische Stimme, der an der Kantischen Philosophie geschulte Rechtsgelehrte Gottlieb Hufeland (1760–1817), Beyträge zur Berichtigung und Erweiterung der positiven Rechtswissenschaften, Bd. I (1792), S. 83–85. 19 Heffter, System des römischen und deutschen Civilprocess-Rechts (1843), § 21 (S. 17 f. mit Fn. 43). 20 Schweppe, Das römische Privatrecht in seiner heutigen Anwendung (1828), Band 2, § 2 (S. 8) – mit dem (zutreffenden) Hinweis, dass die ›Natur der Sache‹ nicht mit der Lehre vom Naturzustand verwechselt werden dürfe, »da es auch im Staate ein Naturrecht giebt« (womit dann abermals die Traditionen von naturalis ratio, ius gentium oder aequitas gemeint sind). 21 So namentlich Carl Georg von Wächter (1794–1880), Handbuch des im Königreiche Württem-
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tritt die ›Natur der Sache‹ ebenfalls auf den Plan, »wenn der Richter sich von den äußeren Quellen verlassen findet«.22 Dabei stellt auch er klar, dass die ›Natur der Sache‹ mit dem »sogenannten Naturrecht« nicht vermengt werden darf.23 Dies verdient Hervorhebung, weil noch im 20. Jahrhundert die Auffassung herrschte, der Ausdruck ›Natur der Sache‹ sei dem späten Naturrecht entsprungen. Sein Gebrauch spiegele das Eindringen der »Naturrechtswissenschaften« in die »juristischen Einzelwissenschaften« wider, was zu einer allgemeinen Verflachung der Argumentation geführt habe.24 Von einem solchen Eindringen der »Naturrechtswissenschaften« ist in den erwähnten Beiträgen von Pütter, Runde, Heffter oder Puchta aber nichts zu bemerken. Im Gegenteil ! Immer wieder wird vor einer Verwechslung mit dem säkularen Naturrecht eines Hobbes oder Pufendorf gewarnt. Die ›Natur der Sache‹ lässt, wie Savigny es zutreffend beobachtet hat, ältere Konzepte wie naturalis ratio oder aequitas in neuem Gewand wieder
berg geltenden Privatrechts, Bd. 2 (1842), § 14 (S. 60 f.). Siehe auch Christian Friedrich Mühlenbruch (1785–1843), Lehrbuch des Pandektenrechts, der die ›Natur der Sache‹ zum ius non scriptum rechnet, das zu berücksichtigen sei, wenn etwas »aus gewissen allgemeinen Rechtsbegriffen und Einrichtungen« abzuleiten ist, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Theil, 3. Auflage (1839), § 42 (S. 109). Unter den Prämissen klassischen römischen Rechts wäre das die »aequitas intrasistemica« (3. Kapitel II 2). Abermals zeigt sich also die Parallele mit den im 16. Jahrhundert über die Frage geführten Diskussionen, ob die aequitas eine ungeschriebene Rechtsquelle sei, vgl. Schröder, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit (Fn. 17), S. 274 passim. 22 Puchta, Lehrbuch des Pandektenrechts (1838), S. 22. 23 Puchta, Lehrbuch des Pandektenrechts (Fn. 22), S. 22 (»Naturrecht« hier im Sinne des von der Historischen Rechtsschule bekämpften säkularen Naturrechts). 24 Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (Fn. 10), S. 35 f. – in Anlehnung an Thiemes Schrift über das späte Naturrecht (Fn. 12). Von hier aus zieht sich eine Linie zu jenen Autoren, welche die Pandektistik als »Kryptonaturrecht« (Wieacker) begreifen. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Arbeiten, die Franz Beyerle, der Lehrer Thiemes, vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst hat, und in denen behauptet wird, die Historische Rechtsschule habe ihre Methode den Lehren des säkularen Naturrechts entlehnt. Diesen Thesen haben sich Franz Wieacker und Karl Larenz nach dem Krieg angeschlossen, siehe die Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 145–146. Hervorhebung verdient zudem, dass Thieme auch Leibniz erwähnt und dessen Rechtsphilosophie unter den Gesichtspunkten von deduktiver Ableitung, mathematischer Methode und mos geometricus mit den Lehren säkularen Naturrechts (z.B. eines Samuel Pufendorf oder Christian Wolff) vermengt, Die Zeit des späten Naturrechts, Fn. 12, S. 653, 656). Der Fehler dieser Arbeiten liegt darin, dass sie keine hinreichende Unterscheidung zwischen säkularem und historischem Naturrecht zu treffen vermögen. Nur über die Rechtsphilosophie von Leibniz lässt sich ein Bogen zu den Lehren der Historischen Rechtsschule unter dem Gesichtspunkt des Naturrechts (als Vernunftrecht) spannen (dazu näher im 11. und im 12. Kapitel). Sowohl Leibniz als auch Savigny sind Opfer von Fehldeutungen geworden, die letztlich daher rühren, dass versucht wurde, ihr (plurales) Rechtsdenken für eine Idee des legal centralism zu vereinnahmen (5. Kapitel III).
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aufleben, nur dass nun weniger das Gebot der Milde als das Problem der Rechtserzeugung in einer bestimmten Quellensituation dominierend wirkt.25 3. Weitere Entwicklungslinien
Der von Windscheid beschriebene »Kampf« der formalen mit einer »auf die Sache sehenden Rechtsanwendung« zeigt also einmal mehr, dass die Argumentation aus der ›Natur der Sache‹ im 19. Jahrhundert eine beachtliche Zahl von Anhängern gefunden hat. Auf sie wollte man rekurrieren, wenn die Rechtsordnung bislang unbekannte Fragen nicht zu beantworten wusste oder vorhandene Normen zu Ergebnissen führten, die als zweifelhaft oder gar als ungerecht empfunden wurden. Dabei bleibt zu beachten, dass sich aus Sicht der Praxis in den letzten beiden Jahrhunderten an der Quellensituation nur wenig geändert hat : Nach wie vor wies der vorhandene Normenbestand viele Leerstellen auf, ein einheitliches bürgerliches Gesetzbuch lag noch in weiter Ferne. Dazu kam ein neues Problem. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden an die Gerichte vermehrt Fragestellungen herangetragen, die mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem dadurch bedingten Wandel der Lebensbedingungen zusammenhingen. So traten auch die veränderten Produktionsverhältnisse im Zeichen der ›Natur der Sache‹ auf, welcher die Rechtsordnung sich anzupassen habe. Die folgende Aussage des Pandektisten Heinrich Dernburg (1829–1907) hätte freilich ebenso von Pütter, Runde, Heffter oder Schweppe formuliert werden können : Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf sie muß der denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven Norm fehlt oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar ist.26 25 Dass die römischen Juristen in der aequitas eine Quelle des ius non scriptum gesehen und auf ihrer Grundlage das ius honorarium (bzw. das ius praetorium) entwickelt haben, ist in der Literatur ebenso oft betont worden, wie vor der Gefahr gewarnt wurde, die aequitas mit freier Rechtsfindung oder Kadijustiz zu verwechseln (Nachweise oben 3. Kapitel II 2 sowie bei Albrecht, Römische Aequitas, Fn. 2, S. 16–17). Dagegen scheint Jan Schröder die römische aequitas und namentlich ihre Interpretation durch die humanistischen Juristen mit einem »sehr großzügigen, geradezu freirechtlichen Billigkeitsdenken« in Zusammenhang bringen zu wollen, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit (Fn. 17), S. 274, 267. In dieser Deutung spiegelt sich abermals der Bruch mit jener Tradition, die vorstehend (I) unter den Stichworten von Differenz und Zweigliedrigkeit erörtert wurde. 26 Dernburg, System des römischen Rechts, Bd. I, 8. Auflage (1911), S. 64 ; ders., Pandekten, Bd. I, 7. Auflage (1902), S. 84.
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Dieser Satz ist nach 1900 noch oft zitiert worden, obwohl das Interesse an der ›Natur der Sache‹ mit dem Inkrafttreten des BGB rapide abnahm. Erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hat die ›Natur der Sache‹ bekanntlich noch einmal eine Renaissance erlebt. Der Schwerpunkt der durch Gustav Radbruch (1878–1949) angestoßenen Debatte lag auf den sogenannten »sachlogischen Strukturen«, die abermals zur Rechtfertigung einer Durchbrechung strengen Rechts herangezogen wurden.27 Einzelheiten müssen hier auf sich beruhen. 4. Verletzung des Gebots einer Trennung von Sein und Sollen durch die ›Natur der Sache‹ ?
Wie die Zwillingsformel »recht und billig« lassen sich also auch die Beziehungen der ›Natur der Sache‹ zum strengen Recht unter dem Stichwort eines »rechtsphilosophischen Dualismus« erörtern : Halte das strenge Recht keine Norm bereit oder würde seine Anwendung zu ungerechten oder anachronistischen Ergebnissen führen, müsse die Lösung den Lebensverhältnissen, den sachlogischen Strukturen und damit ›der Natur der Sache‹ selbst entnommen werden. Es ist kritisiert worden, dass bei einer solchen Argumentation in Wahrheit, wo die Legislative schweigt, die Jurisprudenz als Gesetzgeber auftritt.28 Da sie nicht von der Norm, sondern von der Anschauung eines konkreten Sachverhalts ihren Ausgangspunkt nehme und daraus eine Regel zu entwickeln suche, verstoße sie gegen eines der wichtigsten Dogmen unserer Zeit, nämlich die Trennung von Sein und Sollen.29 Dass dieses Dogma nicht unumstößlich ist, hat der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) in einer häufiger zitierten Aussage trefflich bemerkt : Dass sich aus einem Sein kein Sollen ableiten lässt, ist nie ernstlich geprüft worden und trifft nur auf einen Begriff von Sein zu, für den, da er schon in entsprechender Neutralisierung (als ›wertfrei‹) konzipiert ist, 27 Siehe nur Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (Fn. 10), S. 71–92. 28 Bernd Rüthers, Christian Fischer, Axel Birk, Rechtstheorie, 9. Auflage (2016), § 23, Rn. 919–929 (S. 550–555). 29 Rüthers u.a., Rechtstheorie (Fn. 28), Rn. 924 (S. 533). In diese Richtung auch Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 12), S. 663 ; Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (Fn. 10), S. 89, 97, 108–110, 113, 119, 121 – unter Bezug auf Hans Kelsens »Reine Rechtslehre«. Das Gebot der Reinheit wird dabei so weit getrieben, dass es wegen des Methodensynkretismus, der Vermischung von Sein und Sollen nicht einmal eine Rechtssoziologie als Wissenschaft geben dürfte, vgl. Robert Chr. van Ooyen, Der Staat der Moderne (2003), S. 27, 33 f.; siehe ferner Hans Kelsen, Eugen Ehrlich, Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft (2003).
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die Unableitbarkeit eines Sollens eine tautologische Folge ist – deren Ausdehnung aber zu einem allgemeinen Axiom der Behauptung gleichkommt, daß kein anderer Begriff von Sein möglich sei, oder : daß der hier zugrunde gelegte (letztlich von der Naturwissenschaft erborgte) bereits der wahre und ganze Begriff des Seins sei. Also spiegelt die Trennung von Sein und Sollen, eben mit der Annahme eines solchen Seinsbegriffs, bereits eine bestimmte Metaphysik wieder, die nur den kritischen (Occamschen) Vorzug vor anderen für sich behaupten kann, daß sie die sparsamste Annahme von Sein macht (damit natürlich auch die ärmste für die Erklärung der Phänomene, also um den Preis von deren eigener Verarmung).30
Sein und Sollen müssen also nicht beziehungslos zueinander stehen. Erweitert man die ›Natur‹, die ›Sache‹ oder die ›Strukturen‹ über die Beschränkungen einer vermeintlich ›wertfreien‹ oder lediglich naturwissenschaftlichen Perspektive hinaus und fragt nach einer »Sollensprämisse« des Seins, so wäre das Postulat der reinen Trennung bereits erheblich relativiert : Es würden Normen aus Normen abgeleitet werden, das Dogma wäre gar nicht angetastet.31 Die Formulierung einer solchen Prämisse bildet für den praktischen Juristen, der sich in bestimmten Situationen genötigt sieht, statt auf Normen »auf die Sache« zu sehen, zwar eine große Herausforderung.32 Das heißt aber nicht, dass sie nicht zu rekonstruieren wäre, was an einem Beispiel aus der Geschichte des Haftungs- und Technikrechts kurz erläutert sei : Am 7. Dezember 1835 begann mit der Eröffnung der Ludwigs-Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth in Deutschland bekanntlich das Zeitalter der Eisenbahn. Die Dampfeisenbahn wurde rasch zum Symbol für eine neue Ära der Mobilität. Lokomotiven konnten damals aber noch nicht so konstruiert werden, dass ein Funkensprung auch unter ungünstigsten Windverhältnissen auszuschließen war. Das Aussprühen der Funken bedeutete für die Eigentümer 30 Jonas, Das Prinzip der Verantwortung (1984), S. 92. 93 (Hervorhebung im Original). 31 Wie »Seinsprämissen« zur Relativierung des Trennungsgebots »um mindestens eine Sollensprämisse« erweitert werden können, erörtert Ulrich Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung der Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen, in : ders. (Hg.), Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, Bd. I (1981), S. 99–114, 99, 109, 111–113 ; José Llompart, Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts (1993), §§ 23–26 (S. 106–119). Mit einer solchen Erweiterung wäre (gegen Kelsen) auch das soziologische Argument : »das Recht ist von gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig« wieder zulässig (Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen, a.a.O., S. 112 f.). 32 Nicht zuletzt aus diesem Grund muss die (einfachere) Möglichkeit eines Rekurses auf das Argument aus der ›Natur der Sache‹ für ihn (wie heute die sogenannte ›objektive Auslegung‹) eine so große Anziehungskraft ausüben.
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des links und rechts der Bahn liegenden Terrains eine große Gefahr. Denn dort waren oft brennbare Stoffe vorhanden und nicht selten wurden mit Stroh gedeckte Häuser von den Funken erreicht. Die Gerichte, die über einen Ersatz der durch Funkenflug verursachten Brandschäden entscheiden mussten, standen vor einem schier unlösbaren Problem : Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war der Verschuldensgedanke auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Anerkennung angelangt. Als strenges Recht konnte der Grundsatz, dass eine ersatzpflichtige Handlung entweder »dolose oder culpose verübt« sein muss, praktisch uneingeschränkte Geltung beanspruchen.33 So versuchten sich die Eisenbahngesellschaften mit dem Argument zu exkulpieren, der Schaden sei ungewollt, unvorhersehbar und unvermeidbar gewesen.34 Die Gerichte hielten es nun für ungerecht, die Klagen der Geschädigten einfach abzuweisen. Um die Brandopfer nicht ohne jeden Schutz zurücklassen zu müssen, suchten sie nach Wegen, die eine Anpassung des Rechts an veränderte technische Gegebenheiten ermöglichten. Auf den ersten Blick müsste schon der Ausdruck »Anpassung« wegen der Ableitung eines Sollens aus einem Sein als Methodensynkretismus verworfen werden. Das Sein kann durch eine Sollensprämisse jedoch leicht ergänzt werden. So wäre an den Satz neminem laedere zu denken, der in Fällen des erlaubten Risikos eine Durchbrechung des strengen Verschuldensprinzips zu rechtfertigen vermag.35 Es ist also ein Sollen, das die Rechtsordnung zur Entindividualisierung der Schuld gezwungen hat. Die Entkoppelung des Verschuldens von Vorsatz und Fahrlässigkeit war in der Tat etwas 33 Siehe nur die im 19. Jahrhundert überaus erfolgreiche Schrift von Rudolf von Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht von 1867, erneut in : ders. (Hg.), Vermischte Schriften juristischen Inhalts (1879), S. 155–400. 34 Dogmatische Grundlage für die Verrechtlichungssperre ungewollter Handlungsfolgen bildete die in den Lehrbüchern und Kompendien des 19. Jahrhunderts durchweg anerkannte Lehre casum sentit dominus (den Zufall trägt der Eigentümer), vgl. Meder, Schuld, Zufall, Risiko (1993), S. 20–24. 35 Zur Bedeutung dieses Satzes in Leibniz’ Rechtsphilosophie siehe 3. Kapitel I. Am Anfang aller Überlegung steht also ein gesellschaftlich institutionalisierter Schutz elementarer Güter, deren Gefährdung als »institutionelle Tatsache« bezeichnet werden kann. Der Vorzug der Lehre von den institutionellen Tatsachen liegt darin, dass sie die Streitfragen von Sein und Sollen zu lösen vermag, ohne auf normative Prämissen angewiesen zu sein, siehe Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, On Brute Facts, in : Analysis 18 (1958), S. 69–72 ; John Roger Searle, How to derive »ought« from »is«, in : The Philosophical Review 73 (1964), S. 43–58 ; Donald Neil MacCormick, Ota Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus (1985), S. 22–30 (ob Leibniz den Begriff der institutionellen Tatsache als unzulässige Vermischung von Tatsachenund Vernunftwahrheiten abgelehnt hätte, muss hier leider ausgeblendet bleiben, vgl. 9. Kapitel VI).
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Neues. Als Fortbildung des Rechts durch ›Praxis‹ führte sie über eine Objektivierung der Sorgfaltspflichten zu jener Art von Gefährdungshaftung, wie wir sie heute im Gesetz vorfinden.36 Es bleibt festzuhalten : Die ›Natur der Sache‹ wurde in der Rechtspraxis als eine Art »Zauberformel« häufig herangezogen.37 Dabei diente sie nicht selten dazu, eine richterliche Normsetzung als bloße Normfindung oder Interpretation auszugeben. Nur zu oft haben sich die Entscheidungsbegründungen in einem hermeneutischen Zirkel oder einer petitio principii verfangen. Es bleibt aber die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es der Jurisprudenz gestattet ist, im Interesse des Gemeinwohls der Ausnutzung formaler Rechtspositionen entgegenzuwirken. Soll ein rechtsphilosophischer Monismus propagiert werden, der das Recht mit dem staatlichen Gesetz identifiziert ?38 Das Thema muss hier nicht erschöpfend behandelt werden. Es genügt die Feststellung, dass in der Argumentation mit der ›Natur der Sache‹ jene rechtsphilosophische Differenz oder Zweigliedrigkeit zum Ausdruck kommt, worauf sowohl die klassische römische Jurisprudenz als auch Leibniz mit der Unterscheidung von aequitas und ius strictum aufbauen.
36 Genau genommen haben also auch die Richter (und die Autoren der Wissenschaft), die »auf die Sache« sahen, ihre Lösung nicht aus der Sache selbst, sondern aus Normen oder zumindest aus »institutionellen Tatsachen« abgeleitet. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass es sich hier um Rechtsetzung handelt und die Jurisprudenz Kompetenzen in Anspruch nimmt, die ihr nach einer bestimmten Interpretation des Gewaltenteilungsprinzips nicht zustehen. Aber welche Folgerungen sind daraus zu ziehen ? Die Richter haben es in einem Prozess mit Menschen zu tun : Angenommen, es stehen vor ihnen ein finanzkräftiges Privatunternehmen und ein mittelloser Eigentümer, der durch Funkenflug sein Haus verloren hat. Sollen Richter die Klagen der Brandopfer einfach ablehnen und Ansprüche auf Schadensersatz versagen, bis die Gefährungshaftung Eingang ins Gesetz gefunden hat ? Gewiss widerspricht es der »Methodenehrlichkeit«, wenn sie sich in solchen Fällen auf die ›Natur der Sache‹, auf Sachgerechtigkeit, auf Billigkeit, auf objektive Auslegung berufen oder bei einem überspannten Fahrlässigkeitsbegriff Zuflucht suchen. Aber kann in einer solchen Situation von Rechtspraktikern ernsthaft gefordert werden, in der Entscheidungsbegründung das Sein durch geeignete Sollensprämissen zu unterfüttern, auf die komplexe Lehre von den »institutionellen Tatsachen« zu rekurrieren oder die Legitimation von Juristenrecht zu diskutieren ? Auf diese Fragen müsste eine Antwort geben, wer den »Scheinbegründungen richterlicher Normsetzungen« so energisch entgegentritt (Rüthers u.a., Rechtstheorie, Fn. 28, Rn. 913–934). 37 Nachweise bei Dreier, Zum Begriff der »Natur der Sache« (Fn. 10), S. 128. 38 Vor diesem Hintergrund ist es zu bedauern, dass in dem genannten Werk über Rechtstheorie und Methodenlehre (Fn. 28) der (auch heute noch weit verbreitete) Begriff der Billigkeit nicht einmal im Sachverzeichnis Erwähnung findet.
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II. Die gegenwärtigen Diskussionen über eine fortschreitende ›Materialisierung‹ des Rechts In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte die Argumentation aus der ›Natur der Sache‹ allmählich ihren Zenit überschritten. Sie ist aus den wissenschaftlichen Diskussionen rasch verschwunden und durch ein Begriffspaar abgelöst worden, das gegenwärtig zu den meistdiskutierten Themen in Theorie, Geschichte und Dogmatik des Privatrechts gehört, nämlich die Unterscheidung zwischen formalem und materialem Recht. Überall bildet die Feststellung von Franz Wieacker (1908–1994) den Ausgangspunkt, dass die Rechtsprechung unter der Ägide des Reichsgerichts »die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrunde lag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt« habe.39 Bereits einige Jahrzehnte vorher hatte Max Weber (1864–1920) das klassische Rechtsmodell als »formal« bezeichnet, und zwar in dem Sinne, dass bei der Rechtsfindung »ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale beobachtet werden«. Dagegen könne unter den Prämissen »materialen« Rechts auch auf Rechtssätze zurückgegriffen werden, die jenseits von generellen und in ihrer Allgemeinheit bestimmten Tatbestandselementen ihren Ursprung haben. Max Weber nennt als Beispiele hierfür ethische Imperative oder utilitaristische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen.40
Wieacker meint nun, die Rechtsprechung habe die formale Freiheitsethik der Historischen Rechtsschule deshalb in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt, weil sie damit, meist unbewusst, zu den ethischen 39 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), in : ders. (Hg.), Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung (1974), S. 9–35, 24. Zur aktuellen Diskussion siehe die Nachweise bei Claus-Wilhelm Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner »Materialisierung«, AcP 200 (2000), S. 273–364 ; Gerhard Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht, in : Uwe Blaurock, Günter Hager (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13–84 ; Günter Hager, Strukturen des Privatrechts in Europa (2012), S. 3–23 ; Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014). 40 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, hg. v. J. Winckelmann (1985), S. 397. Die begriffliche Unterscheidung von »formal« und »material« ist auch in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts bereits anzutreffen, vgl. nur Windscheid, Die Voraussetzung (Fn. 9) oder Gottlieb Planck, Die soziale Tendenz des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in : DJZ 1899, S. 181–184, 181 f.
Die gegenwärtigen Diskussionen über eine fortschreitende ›Materialisierung‹ des Rechts
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Grundlagen des älteren europäischen Gemein- und Naturrechts zurückkehrte.41 Wieacker trifft also eine Aussage über jene »Grundlagen« des Naturrechts, die vorstehend im Zusammenhang mit Leibniz’ Konzept von ius strictum und aequitas berührt wurden. Von ihnen habe sich die Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert mit ihrer »formalen Freiheitsethik« verabschiedet und zu ihnen soll das 20. Jahrhundert zurückgekehrt sein. Diese These sei im Folgenden einer kritischen Betrachtung unterzogen. 1. »Liberales« Privatrecht im 19. und »soziales« Privatrecht im 20. und 21. Jahrhundert ?
Die Anhänger der Materialisierungsthese schildern den Gegensatz von formalem und materialem Recht zumeist am Beispiel des Vertragsrechts : Den Verfassern des Bürgerlichen Gesetzbuchs, so behaupten sie, habe das Prinzip abstrakter Gleichheit vor Augen gestanden, welches nichts anderes beinhalte, als dass alle Rechtssubjekte gleichermaßen fähig und bereit seien, ihre geschäftlichen Angelegenheiten autonom und selbstherrlich wahrzunehmen. Diese Vision des bürgerlichen Liberalismus habe der damals herrschenden Eigentümer-Markt-Gesellschaft und ihrem Konzept einer ungehemmten Eigennützigkeit entsprochen, deren alleiniges Steuerungsinstrument die freie Konkurrenz der Marktteilnehmer sein sollte. An dem Modell abstrakter Gleichheit und der Idee eines Gleichgewichts zwischen den Vertragspartnern könne aber nicht mehr festgehalten werden, nachdem sich die Lebensbedingungen im 20. Jahrhundert grundlegend verändert hätten. So habe sich gezeigt, dass es dem nur über ein begrenztes Einkommen verfügenden Verbraucher angesichts der erdrückenden Übermacht des produzierenden Kapitals kaum möglich sei, auf die inhaltliche Gestaltung von Verträgen Einfluss zu nehmen. Mit Anerkennung einer allgemeinen wirtschaftlichen Unterlegenheit des Verbrauchers müsse das formale Privatrecht durch ein eigenständiges, der sozialen Wirklichkeit Rechnung tragendes materiales Vertragsrecht abgelöst werden.42 41 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher (Fn. 39), S. 24 (Hervorhebung im Original). Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um ›Wandlungen‹, die auf das Privatrecht beschränkt sind. Zum Argumentieren des Bundesverfassungsgerichts mit Gesichtspunkten der Sachgerechtigkeit und Billigkeit siehe unten 10. Kapitel IV 1. 42 Ähnliche Befunde zeigen sich im Deliktsrecht. Hier wird die zunehmende Überlagerung des klassischen Verschuldensprinzips durch Gesichtspunkte der ›Zurechnung‹ im Sinne von ›objektiver Verantwortung‹ und ›Gefährungshaftung‹ als Verdrängung der iustitia commutativa durch eine iustitia distributiva, als »Veröffentlichung« oder eben auch als »Materialisierung« des Privatrechts wahrgenommen, siehe z.B. Hager, Strukturen des Privatrechts in Europa (Fn. 39), S. 18–23.
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»Materialisierung« bedeutet aber nicht nur Verdrängung oder gar Ablösung von Selbstverantwortung durch »eine materiale Ethik sozialer Verantwortung« (Wieacker), sondern auch Steuerung des Rechts durch Werte, Moral oder Politik. Dafür hat sich im Privatrecht mit Bezeichnungen wie »Schutz des Schwächeren«, »Sozialbindung«, »strukturelle Ungleichheit« oder »informationelle Unterlegenheit« in den letzten Jahrzehnten eine eigene Begrifflichkeit entwickelt. Die Behauptung einer »Materialisierung« des Privatrechts hängt folglich auch mit der Frage nach dessen Autonomie zusammen. Gegen die Materialisierungsthese lassen sich zwei Argumente anführen. Während das erste ihre historischen Prämissen betrifft, erscheint das zweite in Gestalt einer Gegenthese, nämlich dass das Privatrecht auch in Zukunft noch formal sein und sich vor Übergriffen durch Öffentliches Recht, Ethik, Werte oder Politik so weit wie möglich schützen möchte. 2. »Zurückverwandlung« eines Sozialmodells ? Ein schiefes Bild der Privatrechtsgeschichte
Es gibt mindestens zwei Gründe, die historischen Voraussetzungen der »Materialisierungsthese« anzuzweifeln. Erstens war das »klassische« Privatrecht niemals nur »formal« und zweitens mag es nicht einleuchten, warum gerade die »naturrechtliche Tradition« des 17. und 18. Jahrhunderts eine »Ethisierung der juristischen Betrachtung«, eine »Orientierung an der Sozialfunktion des Leistungsaustauschs« begründet haben soll.43 Die genauere Untersuchung maßgeblicher Protagonisten säkularen Naturrechts kann diese Aussage nicht stützen. Im Gefolge des staatsrechtlichen Positivismus von Jean Bodin haben so verschiedene Naturrechtsdenker wie Hobbes, Pufendorf oder Kant nicht einmal dem allgemeinen Gesichtspunkt der Billigkeit (aequitas) einen würdigen Platz in der Rechtsordnung zuweisen wollen. Es herrschte die Vorstellung, dass ein omnipotenter Gesetzgeber alle im Staat vorkommenden Rechtsfragen regeln könne und im Falle eines Konflikts zwischen ›Gesetz‹ und ›Recht‹ materiale Elemente wie Werte, Ethik oder Billigkeit das Nachsehen haben müssten.44 Lediglich Leibniz hat in seiner Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie von Hobbes be43 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher (Fn. 39), S. 25 (der Begriff »Naturrecht« ist überaus vieldeutig und bedürfte der Präzisierung. Wie bereits angedeutet, war er schon in der Antike verbreitet. Wieacker und seine Anhänger haben jedoch nicht das ius gentium oder die naturalis ratio der klassischen römischen Jurisprudenz vor Augen, sondern das historische Naturrecht des Vernunftrechts). 44 Siehe hierzu und zum Folgenden die Nachweise 3. Kapitel III und im 5. Kapitel. In diese Richtung auch Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Auflage (1962), S. 122.
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anstandet, dass das säkulare Naturrecht nur das ius strictum, also lediglich das formale Recht in Erwägung ziehe. Leibniz bildet aber eine Ausnahme unter den Naturrechtslehrern und es gibt keinerlei Anzeichen, dass Wieacker sich auf seine Rechtsphilosophie hat berufen wollen.45 Auch ist es unzutreffend oder zumindest missverständlich, das 19. Jahrhundert als eine Epoche zu beschreiben, in welcher die formale Privatrechtsethik ihre Blütezeit erlebt habe. Zwar ist Wieacker darin beizupflichten, dass die Unternehmergesellschaft des Frühkapitalismus als »Pioniergesellschaft auf freie Vertragsschließung, Kapitalanlage und Vererbung besonders angewiesen war«.46 Nur zog die Historische Rechtsschule daraus nicht die Konsequenz, ein einseitiges, auf formale Zuständigkeiten, Eigennützigkeit oder Gewinnstreben beschränktes Rechtsprinzip zu propagieren. Das Gegenteil ist der Fall : Savigny hat betont, dass das ius strictum eines Korrektivs bedarf, welches die römische Jurisprudenz unter Stichworten wie ius gentium, naturalis ratio oder ius aequum diskutiert hat.47 Dieser Befund hat auch Folgen für die viel diskutierte Rolle des öffentlichen Rechts im Privatrecht. Bis heute herrscht die Auffassung, das Denken des 19. Jahrhunderts beruhe auf einer schlichten Zweiteilung, in welcher die Idee einer voraussetzungslosen (formalen) Freiheit im Privatrecht der Verwirklichung von Moral und Sittlichkeit im öffentlichen Recht mehr oder weniger unverbunden gegenübertrete.48 Es ist sogar behauptet worden, die Rechtsdenker des 19. Jahrhunderts hätten im Banne des deutschen Idealismus die Unterschiede von Privatrecht und öffentlichem Recht zu einer »apriorischen«, »jeder Rechtserfahrung vorangehenden« 45 In Wieackers »Privatrechtsgeschichte der Neuzeit«, 2. Auflage (1967), wird Leibniz als einer unter vielen Naturrechtsdenkern nur am Rande erwähnt (S. 266). Wieacker begreift Leibniz’ Rechtsphilosophie als eine »idealistisch-rationalistische Spielart« der »voluntaristischen Richtung des Vernunftrechts (Hobbes, Thomasius)«. Dieser Deutung dürfte die neuere Forschung, welche die fundamentalen Gegensätze von Leibniz und Hobbes (oder Thomasius) herauszuarbeiten beginnt, die Grundlage entzogen haben. Zu Leibniz’ Kritik des Voluntarismus siehe nur Armgardt, Die Rechtstheorie von Leibniz im Licht seiner Kritik an Hobbes und Pufendorf, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 13–27, 15–20 ; ders., Leibniz’s criticism of Hobbes’ Moral Philosophy and the distinc tion of will and reason, in : Luca Basso (Hg.), Leibniz und das Naturrecht, Studia Leibnitiana Supplementa (im Erscheinen). Siehe ferner 5. Kapitel II. 46 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher (Fn. 39), S. 14. 47 Dazu näher im Vorspann zu Teil III (sowie im 11. und 12. Kapitel). 48 Michael Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in : Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen (1996), S. 41–61, 57 ; Moritz Renner, Zwingendes transnationales Recht (2011), S. 18.
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Trennung stilisiert.49 Dass Savigny kein Anhänger solcher idealisierenden Unterscheidungen war, ließe sich leicht zeigen. Die Entkoppelung von öffentlicher und privater Rechtssphäre hat er ebenso abgelehnt wie eine entsprechende Trennung von formalen und materialen Elementen. Vielmehr begreift er das »öffentliche Moment« als ein eigenes Strukturmerkmal, welches jederzeit und überall im Privatrecht vorkommen kann. Savigny behandelt das »ius publicum« daher im ›Allgemeinen Teil‹ seines achtbändigen »System des heutigen römischen Rechts« vorab, und zwar im Abschnitt über die Rechtsquellen des Privatrechts.50 Ebenso wenig vermag die Charakterisierung des BGB als »spätgeborenes Kind des klassischen Liberalismus« zu überzeugen.51 Zwar trifft es zu, dass dessen Verfasser den materialen Ordnungsprinzipien des »iustum pretium«, der »laesio enormis« oder der »clausula rebus sic stantibus« eine Absage erteilt haben.52 Doch können diese Mängel nicht einfach der Pandektenwissenschaft angekreidet werden. Es darf daran erinnert werden, dass es der Pandektist Bernhard Windscheid war, der für eine Aufnahme jener Lehre in das BGB geworben hatte, welche die Rechtswissenschaft als »clausula-Regel«, »Voraussetzung« oder »Störung der Geschäftsgrundlage« zu bezeichnen pflegte. Wie Leibniz oder Savigny war er der Überzeugung, dass der Widerstreit von formalen und materialen Elementen zu den Essentialia des Rechts gehört. Wenn ein staatlicher Gesetzgeber glaubt, sich über dessen ›duale‹ Struktur hinwegsetzen zu können, muss er damit rechnen, dass die ausgeschlossenen Elemente auf anderen Wegen zurück ins Recht finden : Ohne Zweifel wird die Rechtssicherheit außerordentlich gefördert, wenn die stillschweigende, d.h. aus den Umständen gefolgerte Voraussetzung ausgeschlossen bleibt. Dieser Vorteil wird aber durch ein großes Opfer erkauft, durch das Opfer, daß der Richter unter Umständen gehindert wird, das, was er für gerecht hält, zur Geltung zu bringen. Der alte Kampf zwischen der formalistischen und der auf die Sache sehenden Rechtsanwendung ! Entscheidungen dieser Art sind übrigens von großem Interesse. Sie eröffnen einen Blick in das Werden des Gewohnheitsrechts. Der Richter entscheidet wie er entscheidet, nicht deswegen, weil er für seine Ent49 Sten Gagnér, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel »Öffentliches Recht und Privatrecht« im kanonistischen Bereich, in : Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966 (1967), S. 23–57, 27, 29–36. 50 Savigny, System I (Fn. 6), S. 57–66. Ähnlich hatte Leibniz die auf Fremdnützigkeit und auf die Solidargemeinschaft bezogenen Elemente als öffentlich-rechtliche Momente des Privatrechts begriffen (siehe die Nachweise 3. Kapitel IV 1). 51 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher (Fn. 39), S. 22. 52 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher (Fn. 39), S. 15.
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scheidung in den Bestimmungen des von ihm anzuwendenden Rechts einen Anhalt findet, sondern weil er nicht anders kann. Er bringt in seiner Entscheidung das Recht, welches in ihm lebt, zum Ausdruck und ist überzeugt davon, daß er damit das Rechte tut. Bleibt sein Vorgehen nicht vereinzelt und folgen andere Richter dem gleichen Drange, so ist das Gewohnheitsrecht fertig.53
Es sollte nicht lange dauern, bis Windscheids Prophezeiungen sich bewahrheiteten. Als Gewohnheitsrecht hat die alte clausula-Regel bekanntlich bald nach Inkrafttreten des BGB eine wundersame Renaissance erlebt. Dass Windscheid den Kampf um die »Geschäftsgrundlage« verloren hat, zeugt also nicht von einem Formalismus der Pandektenwissenschaft oder der Historischen Rechtsschule, sondern von einer Krise, die bereits in der Entstehungsphase des BGB begonnen hat : Die Gründung des Kaiserreichs leistete im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einem »neuen« Etatismus Vorschub, der nur noch eine Rechtsstruktur anerkennen wollte, nämlich die des souveränen Staates und seiner alleinigen Entscheidungszuständigkeit.54 Gierke gelangt gegen Ende des 19. Jahrhunderts daher nicht ohne Grund zu der resignierenden Feststellung : So haben denn also die Meister der geschichtlichen Rechtswissenschaft für den deutschen Gesetzgeber umsonst gelehrt. Mögen sich die wissenschaftlichen Groß thaten der historischen Schule nicht ungeschehen machen lassen : im Leben hat sie abgewirtschaftet. Die Gesetzgebung nimmt den Faden genau da auf, wo sie einstmals ihn fallen ließ, als die von Deutschland ausstrahlenden neuen Einsichten in das Wesen und Werden des Rechtes sie zur Selbstbesinnung riefen.55
Der Behauptung, im BGB herrsche das »positivistische« Ideal der Lückenlosigkeit und strengen Gesetzestreue, muss gleichwohl widersprochen werden.56 Der für das römische Recht charakteristische ›Dualismus‹ von Form und Wert 53 Die Voraussetzung (Fn. 9), S. 408 f. (siehe oben I 1). 54 Als Beispiel sei hier nur eine Aussage des Redaktors des Allgemeinen Teils des BGB, Albert Gebhard, angeführt, der – gegen die Kritik der Historischen Schule an den Naturrechtskodifikationen – nicht mehr ausschließen wollte, dass »jene von der absoluten Autorität des staatlichen Rechtswillens ausgehenden Legislationen« dem BGB als Vorbild dienen könnten, Gebhard, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Fn. 7), S. 80 f. (siehe auch oben I 1). 55 Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht (1889), S. 122 (Hervorhebungen im Original). 56 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Fn. 45), S. 514 ; Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005).
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ist, nicht zuletzt über die aequitas scripta von »Treu und Glauben« und »Gute Sitten«, in das BGB und seine Anwendung gelangt. Davon zeugt auch der Umstand, dass der Redaktor des BGB, Gottlieb Planck, dem Widerstreit formaler und materialer Elemente große Beachtung schenkte. Dass Planck materialen Gesichtspunkten in den verschiedensten Teilgebieten des Privatrechts Eingang zu verschaffen suchte, ist an anderer Stelle näher ausgeführt worden.57 Im Übrigen haben die BGB-Verfasser viele Streitfragen mit der Begründung offen gelassen, Wissenschaft und Rechtsprechung werden schon die richtige Lösung finden.58 ›Weniger ist mehr‹ lautete ihre Devise, die sie geradezu in Opposition gegen das »positivistische« Ideal der Lückenlosigkeit und strengen Gesetzestreue formuliert haben.59 Mit der Gegenüberstellung von formaler Pandektenwissenschaft und materialem Naturrecht hat Wieacker ein schiefes Bild der Privatrechtsgeschichte gezeichnet. Es muss gar nicht an die romanistischen Grundlagen der Pandektenwissenschaft erinnert werden. Auch die politische Philosophie, die ihr zu Grunde liegt, lässt sie eine deutliche Sprache sprechen : Wenn Savigny oder Windscheid dem ius strictum ein wertbestimmtes Korrektiv an die Seite stellen, so treten sie in einen unversöhnlichen Gegensatz mit den Lehren eines Kant, Pufendorf, Hobbes oder Bodin.60 Warum die meisten Naturrechtsdenker sich genötigt sahen, materiale Elemente aus dem Recht soweit wie möglich herauszudrängen, 57 Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung (2010), S. 29–36, 77–99. Nur am Rande sei erwähnt, dass Planck sich in seiner Kontroverse mit Gierke über den Schutz des Schwächeren im BGB auch auf das Regel-Ausnahme-Schema bezogen hat, a.a.O., S. 29–32 (würden die Aussagen von Wieacker über das BGB zutreffen, hätte es eine solche Diskussion eigentlich gar nicht geben dürfen). 58 Siehe nur Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts (1983), S. 140. Im Hintergrund steht die durch die BGB-Verfasser vorgesehene Aufgabenteilung von Gesetz und Dogmatik, die auf eine Ermächtigung der Jurisprudenz zur Normschöpfung hinausläuft, vgl. Meder, Was bedeutet Dogmatik ?, in : FS Kurt Ebert (im Erscheinen). 59 Wieackers Beschreibung des BGB passt viel besser auf die (in der Tat auf Lückenlosigkeit und Vollständigkeit bedachten) Naturrechtskodifikationen und namentlich auf das Allgemeine Preußische Landrecht, die große Teile der Pandektenwissenschaft als abschreckendes Beispiel für einen überzogenen Positivismus betrachtet haben, vgl. etwa die Nachweise bei Meder, Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 342. 60 Siehe noch die Nachweise oben 3. Kapitel III. Canaris meint, es gäbe auch eine »materiale« Fassung von Kants Rechtsbegriff, Wandlungen des Schuldvertragsrechts (Fn. 39), S. 282, 287. Einen Beweis hierfür ist er aber nicht angetreten ; ein solcher wird sich auch kaum führen lassen, vgl. Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 130–133 (Gleichsetzung von Gesetz und Recht, Auslegung nach dem Buchstaben des Gesetzes, »bestimmende Urteilskraft«, Verbannung von Wertungsgesichtspunkten aus der juristischen Entscheidungsfindung).
Zur Aktualität der zweigliedrigen Rechtsquellenlehre von Leibniz
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ist bereits beantwortet worden : Eine ›duale‹ Strukturierung der Rechtsquellen würde der Jurisprudenz ein Maß an Entscheidungsbefugnis und Gestaltungsmacht verleihen, das mit dem Souveränitätskonzept des staatsrechtlichen Positivismus schlicht unvereinbar wäre.61
III. Zur Aktualität der zweigliedrigen Rechtsquellenlehre von Leibniz Die Anziehungskraft von Leibniz’ Rechtsphilosophie besteht nun darin, dass sie der Jurisprudenz eine derartige Entscheidungs- und Gestaltungsmacht ohne Weiteres zugestehen kann. Die Abstufungen des Naturrechts stimmen im Kern sowohl mit dem ›Dualismus‹ des römischen Rechts als auch mit Savignys Einteilung in reine und gemischte Rechtsprinzipien überein. Mit Leibniz lässt sich gut erklären, warum die Zweigliedrigkeit der Quellen zum Proprium des Rechts gehört und das Privatrecht auch im 21. Jahrhundert noch formal sein möchte. Der Grund liegt abermals in seiner Lehre vom ius strictum, welches die unveräußerlichen Rechte der Freiheit und der Befugnis verbürgt. Jeder Rechtsträger genießt nach Leibniz eine im Grundsatz unabhängige Freiheit, er kann selbstherrlich agieren, in freier Willensbetätigung beliebige Verträge schließen und dies, solange er sich im Rahmen der Gesetze hält, selbst dann, wenn sie ihm, anderen oder der Allgemeinheit zum Nachteil gereichen.62 Dieses weite, am Eigeninteresse orientierte Verständnis von Freiheit wird in einem zweiten Schritt aber wieder zurückgenommen, wenn die Rechtsordnung auf Korrektive oder Gegenprinzipien rekurriert, um den Interessen Dritter und der Solidargemeinschaft Rechnung zu tragen.
61 Dass in der politischen Philosophie die Ursachen für den Formalismus etwa von Kants Rechtsbegriff zu suchen sind, hat Ingeborg Maus in einer Reihe von Beiträgen überzeugend nachgewiesen, vgl. z.B. Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) ; dies., Über Volkssouveränität (2011). 62 Das Thema führt zur durch die modernen Neurowissenschaften wieder aufgeworfenen Frage, ob es einen freien Willen überhaupt gebe und ob nicht alles, was wir als Personen denken oder tun, durch vorausgehende innere und äußere Ereignisse voll determiniert sei. Dass am Konzept des »freien Willens« in der Jurisprudenz gleichwohl festgehalten werden kann, hat jüngst etwa Wolfgang Prinz überzeugend dargelegt, Selbstverantwortung aus Sicht der Kognitionswissenschaften, in : Karl Riesenhuber (Hg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2012), S. 73–91 ; siehe ferner Viktor J. Vanberg, Freiheit und Verantwortung – Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und ordnungsökonomische Folgerungen, in : Das Prinzip der Selbstverantwortung, a.a.O., S. 45–72. Auch Leibniz hatte die Möglichkeit einer Willensfreiheit gegen die Einwände des Determinismus verteidigt, siehe nur Tilman-Anselm Ramelow, Wille, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 12 (2004), Sp. 778.
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1. Das »ius strictum« als Bollwerk gegen die politische Vereinnahmung des Privatrechts
Ist ein solch paradoxales Verfahren wirklich notwendig ? Wäre es nicht sachge rechter, auf die Idee einer voraussetzungslosen Selbstbestimmung von vornhe rein zu verzichten ? Diese zweite Frage ist von Anhängern der Materialisierungsthese tatsächlich erwogen und bejaht worden.63 Sie führt zurück zu der alten Kontroverse, ob die Privatrechtsordnung dem Träger von subjektiven Rechten eine unabhängige und in diesem Sinne ›absolute‹ Herrschaftsmacht einräumt. Bereits 1873 hatte Gierke nämlich bestritten, dass die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit dem individuellen Willen eine unumschränkte Rechtsmacht verleihen können. Nach seiner Auffassung widerspricht es der tieferen Einsicht in das Wesen der Dinge, das Princip der Gleichheit zu setzen, um es sofort durch hundert Ausnahmen wieder aufzuheben. Denn entweder ist das Princip richtig : dann sind die Ausnahmen principwidrig und drängen auf Beseitigung : Oder die Ausnahmen sind begründet : dann ist das Princip eine leere und schädliche Abstraktion :64
Gierke nimmt Anstoß an der »Trennung« von Regel und Ausnahme und den »Merkmalen des Absoluten«, die er als Grundprinzipien des römischen Rechtsdenkens identifiziert. Das »deutsche« Recht kenne »keinen unumschränkten und beziehungslosen Willen«, es gehe »von der gegenseitigen Bedingtheit aller Willen aus«. Danach sei das Recht kein »System von Befugnissen«, sondern ein »System von Befugnissen und Pflichten«. Das deutsche Subjekt »ist von vornherein nur in der Beziehung zu anderen Subjekten Subjekt, und es ist für seinen Begriff wesentlich, daß der in ihm verkörperte Wille in sich beschränkt und gebunden ist« : Jeder Wille sei »nach dem Wesen der deutschen Persönlichkeit zugleich herrschend und beherrscht«.65 1889 greift Gierke das Thema in seiner berühmten Schrift über »Die soziale Aufgabe des Privatrechts« erneut auf : Zwar sei es der »heiligste Beruf« der Privatrechtsordnung, den »freien Willen« anzuerkennen. Doch könne mit »Vertragsfreiheit« nicht »willkürliche Freiheit«, 63 Siehe z.B. Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht (Fn. 39), S. 81–84. 64 Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. II (1873), S. 35. In eine ähnliche Richtung zielt der von Rudolf von Jhering formulierte Zweck- und Interessenbegriff, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. 65 Gierke, Genossenschaftsrecht II (Fn. 64), S. 36.
Zur Aktualität der zweigliedrigen Rechtsquellenlehre von Leibniz
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sondern »nur vernünftige Freiheit« gemeint sein, »die zugleich Gebundenheit ist.« Mit einer »Garantie der Unveräußerlichkeit formaler Freiheitsrechte« sei daher »noch wenig getan«. Vielmehr müsse auch auf den »materiellen Schutz der durch die Vertragsfreiheit gefährdeten Gesellschaftsschichten hingearbeitet werden«.66 Dass es mit einer »Garantie der Unveräußerlichkeit formaler Freiheitsrechte« nicht sein Bewenden haben darf, gehört freilich auch zu den Prämissen jener Tradition, der Gierke glaubt, seinen »germanischen Rechtsgedanken« entgegenhalten zu müssen. Auf Basis einer ›dualen‹ Strukturierung der Privatrechtsordnung können, modern gesprochen, Informationsdefizite bei der Willensbildung oder Eigenarten der konkreten Verhandlungssituation durchaus berücksichtigt werden. Nur bildet hier nicht das gebundene, sondern das souveräne Individuum die unabhängige Herrschaftsmacht oder Juvenals viel diskutierter Satz »pro ratione stat voluntas« den Ausgangspunkt. Danach wird vermutet, dass der Vertrag als Instrument gelungener Selbstbestimmung seine Legitmität und Dignität in sich trägt. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, und zwar durch Normen, die der Vertragsfreiheit Grenzen setzen.67 Solche Normen sind, weil durch einen staatlichen Gesetzgeber promulgiert, zwar als »geschriebenes« Recht zu qualifizieren. Doch kann unter sie, und hier liegt ein Unterschied zu vielen anderen Vorschriften des BGB, nicht einfach subsumiert werden. Sie sind kein ius strictum, gehören also nicht zur formalen, sondern zur materialen Seite des Privatrechts. Treu und Glauben, Gute Sitten, Härte, Zumutbarkeit, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit oder »Billigkeit« stehen, wie Leibniz richtig bemerkt hat, auf einer anderen »Stufe« der Rechtsordnung und, da ein Gesetzgeber sie nur eingeschränkt strukturieren kann, an der Grenze zum »ungeschriebenen« Recht. Sie sind offen für den Wandel der Werte und über sie können auch öffentlich-rechtliche Gesichtspunkte oder staatliche Zwecke in die Privatrechtsordnung einfließen.68 Das heißt aber nicht, dass einer Zwangsbeglückung oder Entmündigung der Bürger durch ideologische Vorgaben das Wort geredet werden soll. Denn es wird weiterhin vermutet, dass die Parteien als souveräne Individuen gehandelt haben. Diese Vermutung kann 66 Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 22 und 23. Siehe auch ders., Deutsches Privatrecht, Bd. I : Allgemeiner Teil und Personenrecht (1895), §§ 27 und 28 (S. 251–256). 67 Z.B. §§ 134, 138, 242, 307, 826 BGB. Dass diese Aufzählung keineswegs vollständig ist, bedarf angesichts der vielen unbestimmten Rechtsbegriffe im BGB und der Erweiterungen durch Wissenschaft, Rechtsprechung, Dogmatik oder Gewohnheitsrecht keiner näheren Ausführung. 68 Vorstehend war bereits ausgeführt worden, dass sowohl Leibniz als auch Savigny Rücksichten auf die Solidargemeinschaft als Bestandteile der Privatrechtsordnung begriffen haben (vgl. 3. Kapitel I und II 2).
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aber widerlegt werden, etwa mit dem Argument, dass es beim Vertragsschluss an den tatsächlichen Voraussetzungen der Selbstbestimmung mangelte. Das Primat der Freiheit wird nicht erschüttert, sondern bestätigt, wenn die Rechtsordnung dort Schutz bietet, wo Selbstbestimmung gefährdet oder nicht möglich ist. Den »materiellen Schutz«, wovon bei Gierke die Rede ist, kann die Privatrechtsordnung also auch gewähren, indem sie eine Person daran hindert, die ihr prinzipiell zustehende Herrschaftsmacht auszuüben. Gierke empfindet es nun als Widerspruch, dass die Rechtsordnung absolute Positionen einräumt, um deren Ausübung nachträglich zu beschränken. Er möchte das strenge Recht und die Grenzen seiner Ausübung gleichberechtigt nebeneinander und zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen sehen. Damit beseitigt Gierke das Primat der Freiheit und lässt den Doppelschritt von Regel und Ausnahme in einer einzigen, offenen Abwägung – einem bloßen Interessenausgleich aufgehen. Er reißt das Bollwerk nieder, das die Vermutung freier Selbstbestimmung gegen politische Vereinnahmung errichtet und bricht den Widerstand, den das Erfordernis ihrer Widerlegung erzeugt. So läuft die »Freiheit« Gefahr, jeden Maßstab zu verlieren : Der Interpret kann die »Werte«, die er für »vernünftig« hält, in den Begriff der Freiheit hineinlegen, um sie als Begründung wieder aus ihm herauszuziehen. An die Stelle des Regel-Ausnahme-Verfahrens wäre eine petitio principii getreten. 2. Pro ratione stat voluntas versus pro voluntate stat ratio
Gierkes Idee, dass jedes Recht immanente Schranken besitzt, hat sich als überaus einflussreich erwiesen. Nach Inkrafttreten des BGB wurde daraus die umstrittene »Innentheorie« abgeleitet.69 Wenn sich Anhänger der Materialisierungs69 Siehe Hans-Peter Haferkamp, in : Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. II, 1 (2007), § 242 Rdnr. 53 f.; Okko Behrends, Struktur und Wert (1990), in : ders., Institut und Prinzip, Bd. I (2004), S. 55–89, 84–87. In der NS-Zeit ist das Thema vor allem im Zusammenhang mit der »Verwirkung« erörtert worden, vgl. z.B. Wolfgang Siebert, Die neueste grundsätzliche Entscheidung des Reichsgerichts über die Verwirkung, in : JW 1937, S. 2495–2496 (»deutschrechtliche Betrachtungsweise« des Vertrags, dessen »Gestaltungsaufgabe in der Gesamtordnung« sich aus dem heteronom bestimmten »Gemeinschaftsgedanken im Rechtsverkehr unter den Volksgenossen« ergebe). Siehe auch Karl Larenz, Der Vertrag als Gestaltungsmittel der völkischen Ordnung, in : ders. (Hg.), Vertrag und Unrecht, 1. Teil (1937), S. 31–36 (Kritik der formalrechtlichen Betrachtungsweise des Liberalismus ; Vertrag als »von vornherein« zweckbestimmte und durch die »völkische Ordnung« geprägte »Gestaltungsmöglichkeit«) ; Franz Wieacker, Der Stand der Rechtserneuerung auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, in : Karl August Eckhardt (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft (1937), S. 3–27, 15 und 23 (Kritik der »liberal-individualistischen Gesellschaftstheorie«, aus welcher das »Rechtssubjekt« mit der »um seiner selbst willen verliehenen Willensmacht hervorging«). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat die »Innentheorie« noch
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these heute wieder auf Gierke berufen, so läuft das auf eine Erneuerung dieser »ideologiegefährdeten Theorie« (Neuner) hinaus.70 Abermals suchen sie die Paradoxien eines souverän handelnden Individuums hinter sich zu lassen, um den Blick auf den »realen«, nur »bedingt« freien, durch das Kollektiv »beherrschten« Menschen zu lenken, »dem rationale Selbstbestimmung schwer fällt«.71 So erscheint es naheliegend, die jüngsten ›Wandlungen des Schuldrechts‹ als Prozess der Ablösung des Formalrechts durch das neue Paradigma der Materialisierung zu deuten. Vor diesem Hintergrund seien die Vorzüge einer zweigliedrigen Rechtsquellenstruktur, einer Dichotomie von formalem und materialem Recht noch einmal in Erinnerung gerufen : Die Parteien können nur auf Grundlage einer individuellen Freiheitsethik davor bewahrt werden, dass sie zu ihrem heteronom bestimmten eigenen Besten, paternalistischer Bevormundung oder, zur Steigerung einer ebenfalls heteronom bestimmten allgemeinen Wohlfahrt, einem ökonomischem Kalkül unterworfen werden.72 viele Anhänger gefunden, siehe die Nachweise bei Hans Carl Nipperdey, in : Ludwig Enneccerus, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Auflage (1960), § 239, S. 1442 (»deutsches Rechtsdenken«). Kritisch Jörg Neuner, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 10. Auflage (2012), § 20 Rdnr. 70 (mit zutreffendem Hinweis auf die Gefahren einer Auflösung des Regel-Ausnahme-Verfahrens). 70 Dies geschieht weitgehend unbemerkt von der herrschenden Lehrbuch- und Kommentarliteratur, soweit diese nach wie vor das subjektive (absolute) Recht als unabhängiges Herrschaftsrecht begreift, z.B. Bernd Rüthers, Astrid Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, 18. Auflage (2014), §§ 4 und 5 ; Burkhard Boemke, Bernhard Ulrici, BGB Allgemeiner Teil, 2. Auflage (2014), § 17 Rdnr. 12 ; Karl Otto Scherner, BGB-Allgemeiner Teil (1995), S. 21 (unter Hinweis auf Savigny) ; Staudinger/Honsell (2013), Einl. zum BGB Rdnr. 163 (die »Grundvorstellung der Pandektistik« sei bis heute »nicht aufgegeben« worden). Anders Reinhard Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 4. Auflage (2016), der auf Basis der »Innentheorie« (§ 10 Rdnr. 343) von einer »einheitlichen Struktur« ausgeht, die den »Unterschied zwischen absoluten und relativen Rechten« auflöse (§ 9 Rdnr. 288). Siehe auch Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Auflage (2016), § 242 Rdnr. 38 ; Erman/Hohloch, BGB, 13. Auflage (2013), § 242 Rdnr. 101 f.; Münchener Kommentar/Schubert, BGB, 7. Auflage (2016), § 242 Rdnr. 84 (jeweils unter Berufung auf Siebert) ; BGH NJW-RR 2005, S. 619–621, 620 ; BAG BB 2009, S. 2655–2656, 2655. Wer für eine Aufhebung des Unterschieds zwischen absoluten und relativen Rechten plädiert, müsste freilich auch die Frage erörtern, welche Konsequenzen daraus für die Gliederung des Bürgerlichen Rechts in Schuld- und Sachenrecht zu ziehen sind. Soll auch diese Unterscheidung aufgehoben werden ? 71 Wagner, Materialisierung des Schuldrechts (Fn. 39), S. 81–84 (unter Berufung auf Gierkes »Soziale Aufgabe des Privatrechts« und neue Erkenntnisse der Verhaltensökonomie). 72 Ulrich Huber, Eigenschaftsirrtum und Kauf, AcP 209 (2009), S. 143–163, 163 (als Summe der durch Werner Flume auf Basis der romanistischen Tradition vermittelten Lehre der Privatautonomie).
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Außerdem lehrt die Geschichte, dass das Privatrecht bei einer Preisgabe des ius strictum Übergriffen durch Politik, Ethik oder Werte hilflos ausgeliefert wäre.73 Und schließlich dient es der Methodentransparenz, wenn Korrekturen des ius strictum oder Eingriffe in die Privatautonomie einen gesteigerten Legitimationsbedarf erzeugen.74 Ein solcher Bedarf resultiert daraus, dass sich die Prinzipien der Freiheit und Eigennützigkeit von denen der Solidarität und Fremdnützigkeit in vieler Hinsicht unterscheiden. »Materialisierung« kann als solche kaum feste Regeln schaffen. Ihre Grenzen sind unbestimmt, offen, fließend und das Suffix »-ierung« postuliert lediglich, dass die Zukunft des Privatrechts in einer Liquidierung der Formalstruktur, einer Auflösung des Regel-Ausnahme-Schemas liegen wird. Mit den staatsrechtlichen Positivisten hätten die Anhänger der Materialisierungsthese dann gemeinsam, dass sie nur noch eine Rechtsstruktur anerkennen. Diese Struktur wäre aber nicht, um mit Leibniz gegen Hobbes zu sprechen, auf das ius strictum, sondern auf eine für die verschiedensten Werte offene und heteronom bestimmte »Billigkeitsjurisprudenz« beschränkt. In den Vorbehalten gegen das Regel-Ausnahme-Verfahren mag einer der Gründe dafür liegen, warum die Anhänger der Materialisierungsthese dazu neigen, die Selbständigkeit des ius strictum und der Rechtsform preiszugeben, um Zweckbestimmtheit oder Interessenschutz zur Hauptsache zu erklären. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts muss diese ›moderne‹ oder gar ›postmoderne‹ Art von Einseitigkeit aber weitaus gefährlicher erscheinen als das Beharren auf einer formalen Freiheitsethik. Es sollte also nicht darum gehen, formale und materiale Elemente des Rechts gegeneinander auszuspielen. Der Klärung bedarf vielmehr, in welchem Verhältnis die in jeder Rechtsordnung und seit jeher irgendwie konkurrierenden Elemente des formalen und materialen Rechts heute zueinander stehen. Leibniz hat sich nicht darauf beschränkt, formale Freiheit und Selbstverantwortung als Prinzipien anzuerkennen. Seine Rechtsphilosophie kreist darüber hinaus um die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen die Härten des ius strictum durch ›soziale‹ Rücksichten gemildert werden müssen. Freiheit und Selbstver73 Als Beispiel sei nur an die Verabschiedung des subjektiven Rechts und die Konstruktion freiheitsimmanenter Schranken in der NS-Zeit erinnert. Zwar konnte sich die Forderung nach einer Streichung der absoluten Rechte nicht durchsetzen und z.B. § 903 seinen Platz im BGB behaupten. Die Rechtspraxis der Enteignungen zeigt aber, dass die Rechtsposition des Eigentümers durch einen heteronom bestimmten, vermeintlichen »Wohlfahrtsgedanken« de facto ausgehebelt war. Erinnert sei zudem an die Folgen, die mit einer Preisgabe des Grundsatzes abstrakter Gleichheit in den 1930er-Jahren verbunden waren, näher Meder, Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 415–421. 74 Vgl. Neuner, Das Prinzip der Selbstverantwortung im Sozialstaat, in : Das Prinzip der Selbstverantwortung (Fn. 62), S. 187–203, 189.
Resümee
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antwortung sollten auch heute die Regel bilden und ihre ›Durchbrechungen‹ zur legitimationsbedürftigen Ausnahme gehören. Das Suffix »-ierung« wäre dann so zu deuten, dass materiale Elemente gegenwärtig eine andere und gewiss auch größere Rolle spielen als vor hundert (BGB), zweihundert (Savigny) oder dreihundert Jahren (Leibniz). Damit wäre aber nur bestätigt, dass eine jede Epoche ihre eigene Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von formalen und materialen Elementen zu finden hat. Leibniz ist es gelungen, mit seinem Konzept des ius strictum eine solche Antwort zu geben. Sie könnte uns heute, auf der Suche nach einer für unsere Zeit angemessenen Lösung, vor den Irrtümern eines pro voluntate stat ratio bewahren.75
IV. Resümee In der gegenwärtigen Privatrechtswissenschaft herrscht die Auffassung, dass die Pandektistik im 19. Jahrhundert den Höhepunkt einer formal-liberalen Freiheitsethik erreicht habe. Deren Merkmal bestünde darin, dass sie sich, z.B. im Vertragsrecht, um die tatsächlichen Voraussetzungen der Selbstbestimmung nicht zu kümmern brauchte.76 Daran ist richtig, dass das formale Recht von einem souveränen Individuum ausgeht und diesem eine unabhängige Herrschaftsmacht zugesteht. Sätze wie »Vertrag ist Vertrag« oder »pacta sunt servanda« fallen in dieses formale Gebiet des Rechts, in das ius strictum, dessen Richtigkeit vermutet wird. Damit ist aber längst nicht bewiesen, dass die Pandektenwissenschaft die materialen Elemente des Rechts ausgeblendet hatte. Am Beispiel der Rechtsquellenlehre Savignys wurde gezeigt, dass die Historische Rechtsschule öffentlich-rechtliche Gesichtspunkte und staatliche Zwecke als Bestandteile der Privatrechtsordnung begriffen hat. Auf Basis solcher Gesichtspunkte und Zwecke kann die Vermutung der Richtigkeit formalen Rechts widerlegt werden. Die Parallele mit Leibniz besteht nun darin, dass auch er, und zwar ebenfalls in Übereinstimmung mit der entwickelten römischen Jurisprudenz, eine Zweigliedrigkeit der Rechtsquellen angenommen hat. Leibniz opponiert gegen 75 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch kurz darauf hingewiesen, dass die Sätze pro ratione stat voluntas und pro voluntate stat ratio in den Gebieten von politischer Philosophie und Theologie eine andere Bedeutung als im Schuldrecht haben, vgl. 5. Kapitel II (politischer Voluntarismus) und 7. Kapitel III (theologischer Voluntarismus). 76 In diesem Punkt sind sich die Kritiker und Anhänger der Materialisierungsthese weitgehend einig, siehe nur Michael Martinek, Das Prinzip der Selbstverantwortung im Vertrags- und Verbraucherrecht (in : Das Prinzip der Selbstverantwortung, Fn. 62, S. 247–276, 252), einerseits und Wagner, Materialisierung des Schuldrechts (Fn. 39, S. 82), andererseits.
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das säkulare Naturrecht und namentlich gegen die Rechtsphilosophie des von ihm gleichzeitig hochgelobten Hobbes, der in der Tat nur das ius strictum und damit das formale Recht in Erwägung ziehen wollte. Wenn von einem Höhepunkt der formalen Freiheitsethik gesprochen werden soll, dann ist dieser durch das von Leibniz und Savigny bekämpfte säkulare Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert erreicht worden. Die fundamentalen Differenzen zeigen sich vor allem im Bestreben säkularen Naturrechts, die Billigkeit aus der Privatrechtsordnung so weit wie möglich herauszudrängen. Denn der Richter darf, um mit Kant und den Verfassern des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu sprechen, nach unbestimmten Bedingungen nicht entscheiden.77 Die Opposition gegen diese Sichtweise bildete den eigentlichen Anstoß für die Gründung der Historischen Rechtsschule, welche die Rechtswissenschaft im ›Deutschland‹ des 19. Jahrhunderts dominierte. Das Postulat einer ›dualen‹ Strukturierung der Rechtsquellen, einer Rechtsetzungskompetenz der Jurisprudenz und die Kritik an einer Monopolisierung des Rechts durch den staatsrechtlichen Positivismus waren Bestandteile jenes Kampfes gegen eine Traditionslinie, welche den Formalcharakter des Rechts zu stark betont hatte. Mit der Polarisierung von formaler Pandektenwissenschaft und materialem Naturrecht wird ein schiefes Bild der Privatrechtsgeschichte gezeichnet, das die wissenschaftliche Diskussion bis heute prägt. Es ist an der Zeit, wieder eine Lanze für die Formalstruktur des Rechts zu brechen. Dies kann aber nur unter der Voraussetzung geschehen, dass die falschen Alternativen zwischen ›formal‹ und ›material‹ überwunden werden. Das Ziel muss sein, das Verhältnis dieser Elemente neu auszutarieren. Die Aktualität von Leibniz’ Konzept des ius strictum rührt daher, dass er dessen Widerstreit und Beziehungen mit dem unstrengen Recht in den Mittelpunkt seines Rechtsdenkens gerückt hat.
77 Von hier aus führt eine Linie zum sogenannten Kommentierungsverbot und zum »référé législatif«, deren Funktion darin bestand, den Rechtsbefehl des Souveräns nicht zuletzt auch vor Eingriffen durch die Wissenschaft zu schützen (näher Meder, Rechtsgeschichte, Fn. 8, S. 115, 281).
5. Kapitel
Leibniz’ Idee der Souveränität : Einheit in der Verschiedenheit
Dass heute die Auffassung herrscht, Leibniz sei einer der »Initiatoren und Promotoren moderner Staatlichkeit«, wurde bereits ausgeführt.1 Zu den Grundlagen ›moderner‹ Staatlichkeit gehört das Narrativ vom Urzustand und vom Gesellschaftsvertrag, worauf so verschiedene Naturrechtslehrer wie Thomas H obbes, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant ihre Rechts- und Staatsphilosophie gegründet haben. Sie alle gehen davon aus, dass die Menschen von Natur aus gleich und frei seien, meinen aber, dass es eine solche Gleichheit nur in einem vorrechtlichen Zustand, und zwar im Naturzustand gegeben habe. Diesen Urzustand schilderte Hobbes bekanntlich als eine Art Kriegszustand, der erst durch den Übergang in einen Rechtszustand beendet worden sei. Weil der Mensch dem Menschen von Natur aus ein Wolf sei, habe es des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, durch die einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän den Frieden zu sichern und das private Eigentum zu schützen.2
I. Das Postulat einer geteilten Souveränität Mit dieser Erzählung verbinden sich eine Reihe von Konsequenzen, die hier nur angedeutet seien : Der Staat, das Gemeinwesen oder die Rechtsordnung sind nicht von Anfang an vorhanden, sondern werden erst durch eine übereinstimmende Willenserklärung, den sogenannten Gesellschafts- oder Unterwerfungsvertrag künstlich geschaffen. Die Folge ist eine Liquidation jeder Normbildung, die außerhalb des Staates bestehen könnte, etwa durch Gewohnheitsrecht, Verbände oder Wissenschaft. Formen der privaten Rechtsetzung sind als ›NichtRecht‹ zu qualifizieren und intermediäre Zwischengewalten als Erzeugnisse des Staates von diesem fundamental verschieden. Das Gleichheitsrecht wird durch den Unterwerfungsvertrag zwar nicht völlig aufgehoben, aber doch erheblich eingeschränkt. Alles in allem dient das Narrativ vom Gesellschaftsvertrag zur Legitimation einer starken, ungeteilten Souveränität, wobei hier dahinstehen 1 Siehe oben im 2. Kapitel VII. 2 Siehe die Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 25–27 und S. 89–91.
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Leibniz’ Idee der Souveränität
kann, ob es sich um die Souveränität eines absoluten Monarchen oder um die Volkssouveränität handelt.3 Leibniz bestreitet die Thesen, auf welchen dieses Staatsverständnis beruht, wenn er betont : Auch im Naturzustand hat es bereits Recht gegeben.4 Er kritisiert den Voluntarismus der ›modernen‹ Rechtsquellenlehre und trifft eine strenge Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht. Gegen Hobbes legt er im Einzelnen dar, warum Recht auch außerhalb des Staates entstehen kann und warum intermediäre Zwischengewalten Normsetzungsbefugnisse in Anspruch nehmen dürfen. Leibniz muss als Vordenker des modernen Rechtspluralismus angesehen werden, weil er Staat und Verbände unter dem Gesichtspunkt struktureller Ähnlichkeit betrachtet.5 Auf dieses wichtige Element seiner politischen Philosophie ist noch zurückzukommen. 3 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 86–94, 119–120, 127–128 (mit Nachweisen zu der Annahme, dass die Idee der Volkssouveränität in vieler Hinsicht eine gedankliche Nachbildung der Idee monarchischer Souveränität sei). 4 Vgl. Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«, Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice : S. 143–163 ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung, in : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit, hg. v. Wenchao Li (2014), S. 46–47 ; ders. (unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius), De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae (1677), in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, Bd. IV 3 (1768), S. 329–496 ; erneut in : AA IV 2, S. 3–270 (S. 58–59). Eine französische Kurzfassung dieser wichtigen staatsrechtlichen Schrift ist 1677 unter dem Titel Entretien de Philarete et d’Eugene erschienen (in : AA IV 2, S. 278–338) ; siehe auch die englische Übersetzung (in Auszügen) bei Patrick Riley (Hg.), Leibniz Political Writings, 2. Auflage (1988), S. 111–120, 117–119 (eine deutsche Übersetzung fehlt). 5 So bereits in der »Sekuritäts-Bedenken« oder Securitas publica genannten Schrift, a.a.O., S. 163 (dies sei »der natur gemäs«) ; der vollständige Titel der zur Verteidigung des Reichs gegen französische Truppen verfassten Abhandlung (1670) lautet : Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich iezigen Umbständen nach auf festen Fuß zu stellen, in : AA IV 1, S. 132–173 (1. Teil vom 6.-8. August 1670) und S. 174–214 (2. Teil vom 21. November 1670). Siehe auch Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57 (die Gemeinsamkeit zwischen Staat und Korporation bestehe darin, dass es sich jeweils um eine »persona civilis« handele), sowie Divisio Societatum (1680), in : AA IV 3, S. 907–912 ; Vom Naturrecht (1680), in : Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 414–419. Im 19. Jahrhundert wird die Historische Rechtsschule diesen Gedanken unter dem Gesichtspunkt einer »Wesensgleicheit« von Staat und Verbänden wieder aufgreifen (freilich ohne Erinnerung an Leibniz), wovon über den englischen Pluralismus in der ersten Hälfte des 20. und den Neopluralismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Linie bis zu den aktuellen
Das Postulat einer geteilten Souveränität
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Völlig neue Wege hat Leibniz mit seiner Theorie der Souveränität beschritten. ›Pluralismus‹ ist auch hier das Stichwort, welches den Schlüssel zum Verständnis liefert. Das im Fürstenerius von 1677 formulierte Konzept lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen : Dem Majestätsrecht des Kaisers schulden alle Fürsten im Reich höchste Ehrerbietung. Doch schließe ein solcher Dienst die Souveränität der Territorialfürsten nicht aus. Diese bestehe in der Befugnis, eigene Gesetze zu erlassen, ein stehendes Heer zu unterhalten, selbständig Krieg zu führen oder völkerrechtliche Verträge zu schließen. Gut fünfzehn Jahre später wird Leibniz in der Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus auf dieser Grundlage seine zukunftsweisende Idee eines Völkerrechtssubjekts formulieren : Als Subjekt des Völkerrechts gilt, wem staatliche Freiheit zusteht, d.h. wer nicht in der Hand und Gewalt eines anderen ist, sondern persönlich das Recht hat, Krieg zu führen und Bündnisse zu schließen.6
Wie das Verhältnis unter den souveränen Kräften auszutarieren sei, hat Leibniz nicht immer einheitlich beantwortet.7 Es ist jedenfalls die Idee einer geteilten Souveränität, die seine Staatsrechtslehre von den zentralistischen Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus unterscheidet. Während etwa Hobbes oder Pufendorf – in Übereinstimmung mit Jean Bodin, dem Begründer der ›modernen‹ Staatsrechtslehre, unter Souveränität die Fähigkeit zu ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung verstehen, gliedert Leibniz »das Teutsche Reich« in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten. Er bildet eine Ausnahme unter den Natur-
Diskussionen über Rechtspluralismus führt (dazu näher Meder, Doppelte Körper im Recht, Fn. 2, S. 2–22). 6 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57 ; Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 201. Zu den Errungenschaften dieses Souveränitätsverständnisses und seinen Vorteilen gegenüber den Ideen ungeteilter Souveränität : Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts (2016), S. 225–227. 7 Dazu näher Heinhard Steiger, Supremat – Außenpolitik und Völkerrecht bei Leibniz, in : Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit (2015), S. 135–206. Siehe auch Friedrich Beiderbeck, Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das politische Denken von G.W. Leibniz, in : ders., Stephan Waldhoff (Hg.), Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G.W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken (2011), S. 155–173, 159–162 (mit dem Hinweis, dass Leibniz zwischen profürstlichen und prokaiserlichen Positionen bisweilen schwankte und vom Geist des Westfälischen Friedens insoweit abwich, als er dem Kaiser weiterhin eine Sonderstellung in Europa einräumte ; vgl. ferner unten VI und VII).
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Leibniz’ Idee der Souveränität
rechtslehrern, wenn er es für »wohl geordnet« erklärt und einer gemischten Verfassung den Vorzug gibt.8 Ausgehend von einer pluralen Reichsidee unterscheidet Leibniz neben der internationalen Gemeinschaft, neben Staat und Kirche, die häuslichen Gemeinschaften, Zünfte und Gilden, Dörfer, Städte, Provinzen und Länder. Großen Wert legt er auf die Feststellung, die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen seien nur gradueller Art. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten gehöre die Befugnis, sich eine eigene Verfassung zu geben und autonomes Recht zu setzen.9 Da Leibniz die Gesamtheit der Gesellschaft auf Basis eines funktionalen und territorialen Föderalismus beschreibt, müssen seine Ansprüche an das staatliche Gesetz bescheidener sein als die eines Hobbes oder Pufendorf. Dies zeigen auch seine Warnungen vor einer Verwechslung von Recht und Gesetz und seine Kritik des politischen und theologischen Voluntarismus.
II. Kritik des politischen Voluntarismus Leibniz unterscheidet drei Entstehungsarten des Rechts, das göttlicher Quelle entsprungene, das durch die vernunftbestimmte Natur geschaffene und das »willkürliche Recht« (ius voluntarium). Letzteres begreift er als das positive Recht, das entweder auf der überlieferten Gewohnheit basiert oder von einer 8 Leibniz, Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und sprache beßer zu üben, samt beygefügten vorschlag einer Teutsch-gesinten gesellschafft (1682/83), in : AA IV 3, S. 795–820, 801. Weitere Nachweise bei Fritz Sturm, Das römische Recht in der Sicht von Gottfried Wilhelm Leibniz (1968), S. 27 ; Notker Hammerstein, Leibniz und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, in : Nassauische Annalen 85 (1974), S. 87–102. Dagegen hat Pufendorf (unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano) das Alte Reich bekanntlich als Monstrum (»irregulare aliquod corpus et monstro simile«) bezeichnet, Über die Verfassung des deutschen Reiches (1667), S. 106– 107. Siehe auch bereits Bodin : »In einem Staat kann nur ein einziger souverän sein«, Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch (1981), VI 4 (S. 414 f.). 9 Leibniz, Divisio Societatum (Fn. 5), S. 907–912 ; siehe auch das XI. Kapitel im Caesarinus Fürstenerius (Fn. 4). Dass Leibniz »die vollkommene Unabhängigkeit des positiven Rechtes im Hinblick auf den Staat sowie den Pluralismus der gleichwertigen, ihr autonomes Recht erzeugenden Gruppen« betont hat, wurde, soweit ersichtlich, erstmals von Georges Gurvich, Grundzüge der Soziologie des Rechts (1940), 2. Auflage (1974), erkannt (S. 59). Siehe auch Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (1996), S. 233–235, und Janne Elisabeth Nijman, The Concept of International Legal Personality (2004), S. 58, 65–67. Zu beachten ist dabei : Leibniz hat den (mit dem staatsrechtlichen Monismus eines Bodin oder Hobbes inkompatiblen) Gedanken, dass kleinere und größere Einheiten strukturell ähnlich sind, in seiner Monadologie noch einmal aufgegriffen und unter metaphysischen Gesichtspunkten fundiert (dazu näher im II. Teil).
Kritik des politischen Voluntarismus
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übergeordneten Instanz gesetzt wird. Seine Wirksamkeit beziehe dieses von demjenigen, der »innerhalb eines Staatswesens« die »höchste Gewalt« (summam potestatem) innehat. Gemeint ist hier jene Idee personaler Herrschaft, die durch den modernen Souveränitätsbegriff eine neue Legitimationsgrundlage gefunden hat.10 Danach besteht das Hauptmerkmal des Souveräns darin, die Gesetze vorzuschreiben und nach seinem Belieben zu ändern. Dieser Befund führt Leibniz zu der Frage, ob und inwieweit Recht und Gerechtigkeit vom Willen des Souveräns abhängig sind. Er beanstandet, dass die Anhänger des aufgeklärten Absolutismus das positive Recht auf Macht gründen, dass sie es als willkürlichen Befehl begreifen, mit welchem der Herrscher den Untertan verpflichtet, dem Gesetz zu gehorchen. Leibniz wendet sich gegen jene Autoren, die, wie Hobbes, den Begriff des Rechts aus dem Phänomen der Macht ableiten oder von ihr abhängig machen wollen. Hier handele es sich um einen Irrtum, um eine Verwechslung von Gesetz und Recht. Sätze wie »auctoritas, non veritas facit legem« oder »stat pro ratione voluntas« hält er für die Maximen »d’un tyran«.11 Wegen der Gefahren des politischen Voluntarismus sucht Leibniz zwischen positivem Recht und Naturrecht zu unterscheiden. Hier liegt der Grund, warum er es für ausgeschlossen hält, das Recht mit der autoritativen Entscheidungsmacht eines personalen Herrschers im Gesetz zu monopolisieren und warum neben dem Staat auch andere Gruppen befugt sind, »autonomes Recht« zu produzieren.12
10 Die folgenden Ausführungen fußen auf meinem Beitrag Leibniz’ politische Philosophie aus postnationaler Perspektive : Sein Souveränitätsverständnis zwischen neuzeitlicher Staatlichkeit und pluraler Reichsidee, in : Wenchao Li (u.a.), Für unser Glück oder das Glück anderer (2016), S. 319–334 (vgl. ferner die Nachweise oben im 3. Kapitel III und unten im 7. Kapitel II). 11 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 4), S. 29–30 ; Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 70 (S. 71–75). Es wird noch zu zeigen sein, dass Leibniz diese Argumente aus dem Gebiet der politischen Philosophie auch in der Theologie fruchtbar macht, siehe den Abschnitt über seine Kritik des theologischen Voluntarismus im 7. Kapitel III. Im Gebiet des Privatrechts hat der Satz stat pro ratione voluntas dagegen eine andere Bedeutung. Hier spielt er im Zusammenhang mit der Vertragsfreiheit und insbesondere mit der Möglichkeit, Verträge auch zum eigenen Nachteil schließen zu dürfen, eine Rolle (vgl. 4. Kapitel III 2). 12 Siehe die Nachweise oben I bei Note 9.
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III. ›Moderner‹ Einheitsstaat, Bundesstaat oder Staatenbund ? Immer wieder ist behauptet worden, Leibniz habe die alte Reichsidee mit einem »modernen Staatsgedanken« versöhnen wollen. So meinte bereits der Staatsrechtler und »Kronjurist« des Dritten Reichs Ernst Rudolf Huber, Leibniz habe den »in der politischen Theorie Frankreichs entwickelten Begriff des Staates […] übernommen und mit betonter Nachdrücklichkeit auf das Reich angewandt«.13 Daran ist richtig, dass der bis heute als ›modern‹ bezeichnete Begriff des Einheitsstaates zuerst in Frankreich formuliert wurde. Erinnert sei hier nur an die Aussage von Jean Bodin, dem Begründer der ›modernen‹ Staatsrechtslehre : »In einem Staat kann nur ein einziger souverän sein.«14 Auf dieser Linie liegen auch Hobbes – oder Pufendorf, wenn er das Alte Reich als Monstrum charakterisiert.15 Zudem lässt sich kaum bestreiten, dass Leibniz Gegensätze zu verbinden und Widersprüche zu harmonisieren suchte. Hat Leibniz also seine Neigung zur Harmonie so weit getrieben, dass er glaubte, den staatsrechtlichen Monismus eines Bodin oder Hobbes mit der pluralen Struktur des Alten Reiches versöhnen zu können ? Die Frage ist zu verneinen. Seine Auseinandersetzung mit den Lehren von Hobbes und die Schärfe seiner Kritik an den Expansionsgelüsten des aufgeklärten Absolutismus zeigen, dass er durchaus auch unversöhnliche Differenzen kannte.16 Einen fundamentalen Gegensatz sieht er namentlich in politischen Konzepten, die heute unter Stichworten wie »legal centralism« und »legal plura13 Ernst Rudolf Huber, Reich, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, in : Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), S. 593–627, 606, 608, 613. Zu Hubers Vereinigungs- bzw. Versöhnungsthese siehe auch Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 16. 14 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (Fn. 8), VI 4 (S. 414 f.). 15 Siehe die Nachweise oben I bei Note 8. 16 Zur Auseinandersetzung mit Hobbes neuestens Matthias Armgardt, Die Rechtstheorie von Leibniz im Licht seiner Kritik an Hobbes und Pufendorf, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 13–27. Im Übrigen liefert bereits die Securitas publica (Fn. 5) reiches Anschauungsmaterial für die Entschiedenheit seines Widerstands gegen die Idee einer absoluten Monarchie, z.B.: Es bestünden keine Zweifel, dass Frankreich, um ganz Europa zu beherrschen, »eine Monarchie suche« (S. 180) ; es sei eine nicht geringe »Ursach« für den Niedergang des Römischen Reichs gewesen, »als man aus den Sociis endtlich mit der Zeit provinzen gemacht« (S. 181) ; »so sehr nun Republiquen Königen verhaßet« (S. 199) ; Monarchie als Modell für Europa ungeeignet (S. 211 – Hervorhebungen im Original). Diese Aussagen dürfen auf das Gebiet der Metaphysik freilich nicht ohne Weiteres übertragen werden. Daher ist es kein Widerspruch, wenn Leibniz in der Monarchie die Staatsform eines Gottesstaats gesehen hat (dazu näher im Abschnitt über seine Kritik des theologischen Voluntarismus im 7. Kapitel III a.E.).
›Moderner‹ Einheitsstaat, Bundesstaat oder Staatenbund ?
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lism« konkurrieren.17 Soweit Leibniz’ politische Philosophie plural konzipiert ist und auf der Idee einer geteilten Souveränität beruht, erscheint sie geradezu als Antipode gegenüber den zentralistischen Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus. Er bildet eine Ausnahme unter den Naturrechtslehrern, wenn er eine Multiplikation der Souveränitäten postuliert.18 Jüngere Autoren setzen denn auch andere Akzente, wenn sie die Verbindungen von Leibniz’ Staats- und Souveränitätsbegriff mit der ›Moderne‹ in den Blick nehmen. Sie betonen nicht mehr die Parallelen mit dem staatsrechtlichen Monismus französischer Provenienz, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in Misskredit geraten ist.19 Heute herrscht die Auffassung, Leibniz’ politische Philosophie sei als Variante jener neuzeitlichen Staatlichkeit zu begreifen, die wir als »Bundesstaat« bezeichnen. Mit Leibniz’ System souveräner Territorialfürsten war nicht nur der Gedanke eines deutschen Nationalstaats geboren, der mit dem Bismarck-Reich erst 200 Jahre später Wirklichkeit werden sollte, sondern auch das moderne, für die spätere Verfassungsentwicklung in den USA ebenso wie in Deutschland so wichtige Strukturmodell des ›Bundesstaates‹ geradezu erfunden.20
17 Nachweise zu diesen Begriffen bei Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 2–22. 18 Leibniz, Ermahnung an die Teutsche (Fn. 8), S. 801 (weitere Nachweise oben I bei Noten 8 und 9). Andererseits hat Leibniz (mit Sorge) auch die Fragilität der Bindungen unter den Teilsystemen im Alten Reich registriert, vgl. Securitas publica (Fn. 5), S. 145, 137, 207 (dazu unten V). 19 Hingewiesen sei hier nur auf die von Ernst Fraenkel im Anschluss an die Arbeiten von Jacob L. Talmon formulierte Kritik der totalitären Demokratie (vgl. Meder, Doppelte Körper im Recht, Fn. 2, z.B. S. 196–199). Auf dieser Grundlage ließe sich im Übrigen gut erklären, warum Ernst Rudolf Huber (Fn. 13) mit seiner ›Versöhnungsthese‹ darauf zielt, die fundamentale Differenz zwischen Leibniz’ Rechtsphilosophie und dem staatsrechtlichen Monismus zu überspielen. Denn nur unter der Voraussetzung einer solchen ›Harmonisierung‹ ließe sich Leibniz’ Reichsidee für die totalitären Visionen eines »Dritten Reichs« vereinnahmen. 20 Hans-Peter Schneider, Leibniz und der moderne Staat, in : Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.), Leibniz und Niedersachsen (1999), S. 23–34, 26 ; ders., Leibniz, in : Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (1977), S. 198–227. Der ›Bundesstaatsthese‹ folgen : Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (1988), S. 236–237 ; Nijman, The Concept of International Legal Personality (Fn. 9), S. 67 ; Wolfgang Burgdorf, Securitas publica, in : Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.), Umwelt und Weltgestaltung (2015), S. 57–79, 64 ; Beiderbeck, Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das politische Denken von G.W. Leibniz (Fn. 7), S. 160 (jeweils unter Bezug auf Schneider, Leibniz und der moderne Staat, a.a.O.). Kritisch : Karl Hahn, Idee und Wirklichkeit des Reiches in der föderalen Europa-Konzeption von G.W. Leibniz, in : Leibniz und Europa, II. Teil (1995), S. 158–166 ; Steiger, Supremat – Außenpolitik und Völkerrecht bei Leibniz (Fn. 7), S. 183. Völlig ausgeblendet bleibt in den aktuellen Diskussionen, dass schon Otto von Gierke in Leibniz einen Vordenker der
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Darf Leibniz nun als Vordenker oder gar als Protagonist einer modernen Bundesstaatstheorie angesprochen werden ? Um hier eine Antwort zu finden, muss noch einmal das Souveränitätsverständnis rekapituliert werden, auf welchem Leibniz’ politische Philosophie beruht. Leibniz unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Souveränität, nämlich dem Majestätsrecht des Kaisers auf der einen und dem Herrschaftsrecht der Territorialfürsten auf der anderen Seite. Dem Majestätsrecht des Kaisers schulden alle Fürsten im Reich höchste Ehrerbietung. Doch schließe ein solcher Dienst die Souveränität der Territorialfürsten nicht aus. Diese bestehe in der Befugnis, eigene Gesetze zu erlassen, ein stehendes Heer zu unterhalten, selbständig Krieg zu führen oder völkerrechtliche Verträge zu schließen.21 Dass eine derartige ›Autonomie‹ über die Kompetenzen eines Bundesstaats, nicht nur von Alabama oder Wisconsin, sondern auch von Baden-Württemberg oder Sachsen weit hinaus geht, bedarf keiner näheren Ausführung : Alabama unterhält kein stehendes Heer und die Sachsen führen weder selbständig Krieg noch schließen sie völkerrechtliche Verträge. Das Herrschaftsrecht moderner Bundesstaaten erfüllt nicht die Anforderungen, die Leibniz an den Souveränitätsbegriff stellt. Die oben aufgeworfene Frage ist daher zu verneinen. Die These, Leibniz sei als Vordenker der modernen Bundesstaatstheorie qualifizieren, wird seiner Souveränitätslehre nicht gerecht.22 Ähnliches gilt für die Behauptung, Leibniz habe sich im Ergebnis »Pufendorfs Vorstellung eines ›Bundes‹ selbständiger Staaten« angenähert.23 Die Annahme eines Staatenbundes muss schon deshalb ausscheiden, weil sich Leibniz das Alte Reich in Form eines »corpus« – oder wie er auch sagt : einer »persona civilis«
modernen Bundesstaatstheorie gesehen hat, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV (1913), S. 539–541 (dazu im 12. Kapitel IV 4). 21 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57. Von dieser zweiten staatsrechtlichen Schrift unterscheidet sich die zuvor in Mainz verfasste Securitas publica (Fn. 5) dadurch, dass sich hier die Idee einer Reichsreform vor allem auf die Lösung von Sicherheitsproblemen bezieht. Doch beruht auch sie bereits auf der Prämisse einer entsprechenden Souveränität der Territorialfürsten. 22 Zu diesem Ergebnis gelangt mit anderen Argumenten auch Hahn, Idee und Wirklichkeit des Reiches (Fn. 20). Zwar könnte erwogen werden, »Bundesstaat« in einem weiten Sinne, als Antipoden zum staatsrechtlichen Monismus, zu begreifen, so dass auch Einheiten erfasst werden, welche, wie Alabama oder Sachsen, die von Leibniz genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Dann müssten über Leibniz hinaus aber auch die zahlreichen Verfechter einer »respublica composita« als »Initiatoren und Promotoren moderner Staatlichkeit« bezeichnet werden. Derartiges ist, soweit ersichtlich, bislang nicht geschehen. 23 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Fn. 20), S. 237.
Das Heilige Römische Reich als corpus und persona
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gedacht hat.24 Die mit der Körper- oder Personenmetapher verbundene Idee der Einheit geht über die eines bloßen Staatenbundes aber weit hinaus.25
IV. Das Heilige Römische Reich als corpus und persona Leibniz beginnt das XI. Kapitel seines »Fürstenerius« mit dem Satz : »Mehrere Territorien können sich in einem Körper (in unum corpus) vereinigen, ohne dass deren territoriales Herrschaftsrecht dadurch berührt wäre.«26 Dass er mit seiner Lehre von der geteilten Souveränität ein Gegenmodell zum ›modernen‹ Einheitsstaat formuliert hat, ist bereits ausgeführt worden. Hier interessiert vor allem die Qualifikation des Reichs als Körper (corpus) und als Person (persona civilis), die er in der Securitas publica wie folgt erläutert : Denn das Reich soll eine Persona Civilis sein. Gleich wie nun in einer persona naturali oder menschlichen Leibe sich die Spiritus, das Blut und die Glieder finden, also ist in der persona civili ein perpetuum consilium, welches den Verstand und die Spiritus, ein perpetuum aerarium, welches geblüth und adern, ein perpetuus miles, welcher die Glieder repräsentiert, von nöthen, und gleichwie die Glieder von dem bluth sich nehren, das blut nicht ohne der spirituum bewegung sich reget, also kan der perpetuus miles ohne stetswerendes aerarium nicht verpfleget, das aerarium sowohl als miles sine consilio perpetuo in ordentlicher bewegung nicht erhalten oder regirt werden.27
Das ist die klassische Beschreibung des Staates (res publica) als politischer Körper, die im Kern bereits der römischen Jurisprudenz bekannt war. Die mittelalterlichen Juristen haben die Korporationstheorie des römischen Rechts wieder
24 Von der Körpermetapher macht Leibniz ebenso reichlich Gebrauch (z.B. Securitas publica, Fn. 5, S. 140, 167, 210) wie von der Bezeichnung des Staates (res publica) als persona civilis (z.B. Securitas publica, Fn. 5, S. 135, 166, 189) ; dazu im nächsten Abschnitt. 25 Eine bloße Konföderation von Regionen, Territorien oder souveränen Fürsten würde Leibniz zufolge noch keine persona civilis erzeugen können. Dazu bedarf es einer »Union« (unio), die eine gemeinsame Administration, eine koordinierende Institution besitzt, welcher im Falle des Konflikts unter den Gliedern, Teilsystemen oder Gruppen eine Art Letztentscheidungsrecht zusteht, vgl. Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57 ; dazu auch Nijman, The Concept of International Legal Personality (Fn. 9), S. 65–67. 26 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57. 27 Securitas publica (Fn. 5), S. 135 (Hervorhebungen im Original).
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aufgegriffen und weiterentwickelt.28 Daneben ist im Laufe der Zeit der Begriff »Person« getreten, welcher in Form der »juristischen Person« noch heute in Gebrauch ist.29 Charakteristisch für dieses Konzept ist die Unterscheidung von zwei Körpern (oder Personen), nämlich dem natürlichen Körper (oder der natürlichen Person) einerseits und dem kollektiven Körper (oder der kollektiven Person) andererseits. Daran knüpft Leibniz an, wenn er sowohl das Reich als auch kleinere Gemeinschaften wie Länder, Städte oder Korporationen (collegia) als corpus oder persona beschreibt. Das wohl wichtigste Element solcher juristischen Körper (oder Personen) ist das Trennungsprinzip. Es besagt, dass zwischen der kollektiven Person als solcher und den jeweiligen Mitgliedern eine scharfe Grenzlinie gezogen werden muss.30 Die durch das Trennungsprinzip erzeugte ›Doppelung‹ bildet auch das Fundament, auf welchem Leibniz’ Lehre von den juristischen Personen und damit seine politische Philosophie fußt. Er erläutert dies am Beispiel der Korporation (collegium), das sich ebenso auf größere Gemeinschaften wie Städte, Länder oder das Reich anwenden ließe. Durch eine Korporation werde, so Leibniz, eine »neue persona civilis geschaffen«, deren Merkmal darin bestehe, »daß das, was in das gemeinsame Vermögen fließt, nicht den Individuen, sondern der Korporation selbst gehört«.31 28 Diesem Thema hat der Mediävist Ernst H. Kantorowicz (unter Ausblendung der für das Verständnis von Leibniz so wichtigen Bezüge zur römischen Jurisprudenz) sein berühmtes Werk »The king’s two bodies« gewidmet (1957), dt. Die zwei Körper des Königs (1992). 29 Otto von Gierke gebührt das Verdienst, erstmals dargelegt zu haben, wie es im Mittelalter dazu kam, dass neben dem Begriff des Körpers jener der Person Verbreitung fand. Corpus und persona wurden seitdem parallel verwendet, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. III (1881), S. 277– 286. 30 Die Trennung zwischen der kollektiven Person und den (natürlichen) Mitgliedern (Individuen) führt zu einer Verdoppelung des juristischen Körpers. Die verfassungsrechtlichen Konsequenzen dieser Konzeption sind von Friedrich Carl von Savigny mit kaum zu überbietender Klarheit herausgearbeitet worden, System des heutigen römischen Rechts, Bd. II (1840), z.B. S. 283 f., 332 (Kritik des Konzepts einer identitären ›Demokratie‹, die diese Doppelung nicht anerkennt). 31 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57 (»sed in Corpore vel Collegio nova quaedam persona civilis constituitur et quae in commune aerarium illata sunt, non singulorum sunt, sed Corporis ipsius«). Davon unterscheidet Leibniz, ebenfalls ganz klassisch, Gemeinschaften mit geringerer Organisationsdichte (societates, confoederationes), die eine solche Doppelung nicht kennen, bei denen also keine strukturelle Differenz zwischen der Summe der Teile und dem Ganzen angenommen werden kann. Über die Abgrenzung dieser Vereinigungsformen sind (unter Stichworten wie ›juristische Person‹ einerseits und ›Gesamthandsgesellschaft‹ andererseits) im 19. und 20. Jahrhundert lebhafte Diskussionen geführt worden, die bis heute andauern, vgl. nur Jan Schröder, Zur älteren Genossenschaftstheorie. Die Begründung des modernen Körperschaftsbegriffs durch Georg Beseler, in : Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico
Die Körpermetapher als Grundlage von Leibniz’ politischer Philosophie
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Der Souverän ist also eine persona civilis, aber nicht jede persona civilis ist souverän. Leibniz behält den Begriff der Souveränität großen Gemeinschaften vor, zu denen neben dem Reich auch Länder gehören können. Kleinere Gemeinschaften, etwa Städte oder Länder, deren Fürsten weniger mächtig sind, wären eher als polis einzustufen, welche Leibniz auch civitas nennt.32 Mit den Staaten haben die civitates und collegia gemein, dass sie eine persona civilis sind. Das ist, wie bereits angedeutet, der Gedanke der strukturellen Ähnlichkeit – oder wie es später heißen wird : der »Wesensgleichheit« von Staat und Korporation, woran im 19. Jahrhundert die Historische Rechtsschule wieder anknüpfen wird.
V. Die Körpermetapher als Grundlage von Leibniz’ politischer Philosophie Die Metapher vom politischen Körper erfreut sich in der Jurisprudenz seit Jahrtausenden großer Beliebtheit. Der Hauptgrund dürfte darin liegen, dass es Themen gibt, die durch die vorhandene Terminologie nicht erschöpfend behandelt werden. Der ›Einheit‹ von Personengemeinschaften – von Reich, Staat oder Verbänden haftet ein ungelöster Rest an, den die begriffliche Arbeit nicht zufriedenstellend bewältigen kann. Das haben die Schwierigkeiten beim Versuch einer Einordung von Leibniz’ politischer Philosophie in die überkommenen Begriffe »moderner Einheitsstaat«, »Bundesstaat« oder »Staatenbund« einmal mehr offenbart. Für die Anziehungskraft der Körpermetapher auf Jurisprudenz, Politik, Philosophie und namentlich auf Leibniz lassen sich mindestens drei Gründe anführen. 1. Einheit in der Vielheit
Die Körpermetapher ist erstens ein Mittel zur Identifikation von Problemstellungen, die mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem, von Vielheit und Einheit zusammenhängen. Denn eine Ansammlung von Individuen kann sich als Einheit nur begreifen, wenn Institutionen geschaffen werden, welche die Vielheit der Teile mit einem Ganzen in einen sinnhaften Zusammenhang bringen. moderno 11/12 (1982/83) : Itinerari moderni della persona giuridica, Bd. 1, S. 399–459 ; Thomas Raiser, Der Begriff der juristischen Person, in : AcP 199 (1999), S. 104–144. 32 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 53. Leibniz’ Begriff des Völkerrechtssubjekts ist also durch eine gewisse Beweglichkeit, durch eine relative Offenheit gekennzeichnet. Zu den Vorzügen dieses Ansatzes gegenüber den Abstraktionen der Protagonisten einer ungeteilten Souveränität siehe Durst, Archive des Völkerrechts (Fn. 6), S. 225–227.
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Das gilt schon für kleinere Gemeinschaften wie die antike polis, erst recht aber für neuzeitliche politische Leitkategorien wie Staat, Reich, Europa oder Welt.33 Ohne die Idee von Einheit oder Ganzheit würde sich ein kollektives Selbstverständnis kaum ausprägen. Zudem können nach dem Gleichnis von ›Haupt und Gliedern‹ die ›Teile‹ eine relative Autonomie in Anspruch nehmen, die es gestattet, ihre Funktionen unter den Gesichtspunkten von Unabhängigkeit oder Selbstorganisation zu betrachten. Während die meisten Naturrechtslehrer versuchten, die Eigenständigkeit der mittelalterlichen Gruppen (collegia, universitates) zu destruieren oder zumindest als Geschöpfe des Staates zu deklarieren, strebt Leibniz danach, ihre Autonomie zu bewahren.34 Dies gilt nicht nur für Verbände oder Städte, sondern in besonderem Maße auch für die Länder. Dass Leibniz in seinen Schriften zur Reichsreform als Anwalt für die Souveränität und Gleichheit der Territorialfürsten auftritt, ist bereits ausgeführt worden. 2. Thematisierung von Dysfunktionalitäten
Über die Körpermetapher lassen sich zweitens die Risiken einer Interdependenz und gegenseitigen Abhängigkeit dieser Einheiten thematisieren. Sie wird daher häufig dort herangezogen, wo eine Dysfunktionalität oder Störung in einem Teilbereich Folgen für alle anderen Elemente hat. Berühmte Beispiele wären die Fabel des Menenius Agrippa oder die Briefe an die Korinther und die Römer, in denen Paulus auf die Körpermetapher rekurriert, um Ungleichgewichte und Abspaltungen innerhalb der frühchristlichen Gemeinden zu verhindern. Solche Gefahren standen auch Leibniz vor Augen, als er 1670 seine Securitas publica verfasste. Hauptverursacher war Ludwig XIV., der mit seinem Expansionsdrang nicht nur Europa aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, sondern auch die Sicherheit und Freiheit des Alten Reichs massiv gefährdete. Die Krise, in der das Reich sich damals befand, hat Leibniz wiederholt beschrieben : Es hat nie so schlecht gestanden, und hanget gewislich das Corpus Imperii aniezo kaum mit einem seidenen Faden zusammen, also daß wir uns nur ein wenig bewegen dürffen ihn vollends zu zerreißen.35
33 Der Aufbau und die Erweiterung solcher Institutionen im Reich liegen Leibniz sehr am Herzen. Dies zeigen auch seine in der Sekuritäts-Schrift (Fn. 5) unterbreiteten Vorschläge für ein Defensivbündnis, worauf im Folgenden noch zurückzukommen ist. 34 Siehe oben I (bei Note 8). 35 Securitas publica (Fn. 5), S. 145. Siehe auch a.a.O., S. 137 : »von iezigen dissoluten zerstreuten consiliis nichts zu hoffen« und S. 207 : »aufgelöstes Band« (Hervorhebungen im Original).
Die Körpermetapher als Grundlage von Leibniz’ politischer Philosophie
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Leibniz hat immer wieder darüber nachgedacht, welche Motive das Handeln des französischen Königs leiten könnten : »Es ist nicht zu zweifeln, daß Frankreich eine Monarchie suche.«36 Er hegt den Verdacht, dass der mächtige König danach trachtet, mit seinem gewaltigen Heer ein Land nach dem anderen zu erobern, um sich nach dem Muster eines zentralistischen Einheitsstaates zum Meister der bekannten Welt aufzuschwingen. »Denn allezeit nicht allein wer da hat, dem wird gegeben werden, sondern auch wer da hat, der wird mehr haben wollen.«37 Als antike Vorbilder nennt Leibniz Alexander den Großen, Gajus Julius Cäesar und Septimius Severus.38 Um seine Ziele zu erreichen, verfolge Ludwig XIV. eine doppelte Strategie, nämlich »sich stärcken und andere theilen«.39 Wie kann die Politik derartigen Bestrebungen wirkungsvoll entgegentreten ? Leibniz sieht eine Option im Aufbau eines Defensivbündnisses durch den Appell an jene Art von Einheit, welche die Körpermetapher vorzüglich zum Ausdruck bringt. Um diese Einheit zu stärken und zu festigen, legt er den Akzent auf sehr spezielle Teile des Ganzen, die zugleich den Gegenstand seiner Reformbestrebungen bilden – die Einrichtung einer Art ›Bundesrat‹, die Ausstattung mit einer ›Kasse‹ und die Stationierung eines ›Heeres‹ an der Rheingrenze. Es ist also kein Zufall, dass Leibniz in seiner Beschreibung des Reichs als corpus und persona gerade die Elemente consilium, aerarium und miles so hervorhebt.
36 Securitas publica (Fn. 5), S. 180 ; siehe auch a.a.O., S. 168 : »Frankreich wird allein einer suchenden Monarchy verdacht« (Hervorhebung im Original). Dazu und zum Folgenden noch immer lesenswert Gottschalk Eduard Guhrauer, Kur-Mainz in der Epoche von 1672, Erster Theil (1839), S. 193–196 ; Paul Wiedeburg, Der junge Leibniz, das Reich und Europa, I. Teil : Mainz (1962), S. 205–206. Leibniz zeigte sich freilich nicht nur mit Blick auf die Expansionsbestrebungen Frankreichs als Kritiker eines zentralistischen Rechtsdenkens und als Verfechter einer Multiplikation der Souveränitäten. Er geriet nicht zuletzt auch deshalb in Spannungen mit der zu seiner Zeit herrschenden Idee des aufgeklärten Absolutismus, weil er gegenüber dem passiven Untertan den aktiven Bürger präferierte, Francesco Piro, Die ethische Gemeinschaft der Geister mit Gott (§§ 84–90), in : Hubertus Busche (Hg.), Monadologie (2009), S. 245–259, 257 f. Die Grundlage bildet hier sein ausgeprägtes Individualitätsverständnis, worauf im II. Teil zurückzukommen ist. 37 Securitas publica (Fn. 5), S. 179. Im Kern handelt es sich hier um die unter der Bezeichnung »Matthäus-Effekt« bekannt gewordene These der modernen Soziologie (The-Winner-Takes-ItAll-Struktur), dass gegenwärtige Erfolge mehr durch frühere als durch aktuelle Leistungen bedingt werden, Matth. 25, 29 : »Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben ; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden«, sowie Matth. 13, 12, Luk. 8, 18 oder Luk. 19, 26. 38 Securitas publica (Fn. 5), S. 180, 181. 39 Securitas publica (Fn. 5), S. 184, 212.
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3. Steuerung multipler Einheiten
Die Körpermetapher handelt schließlich von Fragen des Zusammenhalts und der Steuerung multipler Einheiten. Gibt es eine Instanz, welche im Falle eines Konflikts unter den Gliedern die Kompetenz zur Entscheidung in Anspruch nehmen darf ? Es liegt nahe zu vermuten, dass das Haupt das Zentrum ist, welches die Vielheit zu einer Einheit verbindet. Dies würde auf eine teleologische und hierarchische Ordnung hinauslaufen, wonach das Haupt befiehlt und die Glieder gehorchen. Tatsächlich ist immer wieder behauptet worden, die Körpermetapher sei das Sinnbild einer hierarchisch und vertikal strukturierten Ordnung.40 Doch trifft dies nur auf eine von mehreren Varianten dieser Denkfigur zu. Es gibt auch Interpretationen der Körpermetapher, die auf eine Gleichwertigkeit aller Glieder hinauslaufen, dem Haupt also keine Sonderrolle einräumen oder die Funktionen einer Spitze mehr oder weniger ausblenden. Das wären Varianten radikaler Dezentralität, wie sie etwa in den Formulierungen des frühchristlichen Theologen Paulus oder, in abgeschwächter Form, in der antiken Fabel des Menenius Agrippa Ausdruck finden. Nun ist es für Leibniz zwar selbstverständlich, dass ein stetswerendes Directorium bei einem Corpore sein mus, und [da] aber das interesse des Corporis mit dem wahren interesse des Reichs vereinigt, wird solches niemand billicher und füglicher als Chur-Maynz anvertrauet werden können.41
Dieses »Directorium« darf man sich aber nicht so vorstellen, dass eine Obrigkeit befiehlt und die Untergebenen gehorchen. Leibniz wird nicht müde zu betonen, dass das »Directorium«, weil es »viel Gutes und Böses« anrichten kann, »billich beschrencket werden« muss.42 Eingehend erörtert er die Vor- und Nachteile des Rotationsprinzips. Das »Directorium« darf nichts »wichtiges ohne communication« entscheiden, außer bei Gefahr im Verzug. Es hat vor allem die auf den Ratsversammlungen getroffenen Beschlüsse auszuführen.43 Heute würden wir wohl von Partizipation, Transparenz und Mitbestimmung sprechen. Wechselt 40 Susanne Lüdemann, Körper, Organismus, in : Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern (2007), S. 168–182 ; Heinz Mohnhaupt, Verfassung I, in : ders., Dieter Grimm (Hg.), Verfassung (1995), 2. Auflage (2002), S. 1–99, 28, 32. 41 Securitas publica (Fn. 5), S. 210 (Hervorhebungen im Original). Zum Mainzer Erzkanzleramt siehe Anton Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung nach 1648, in : Ronald G. Asch, Wulf Eckart Voß, Martin Wrede (Hg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit (2001), S. 259–291, 272–273. 42 Securitas publica (Fn. 5), S. 161. 43 Securitas publica (Fn. 5), S. 160.
Die Kirche als »persona iuris«
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man vom Defensivbündnis auf die Ebene des Reichs, so wird sich ebenfalls keine vertikal strukturierte Ordnung annehmen lassen, da, wie bereits angedeutet, die Souveränität der Territorialfürsten durch das Majestätsrecht des Kaisers nicht berührt und darüber hinaus auch den gesellschaftlichen Teilsystemen ein erhebliches Maß an Autonomie gewährt wird. Von hier aus zeigt sich abermals eine fundamentale Differenz zur Staatsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus. Zwar nimmt auch Hobbes auf die Körpermetapher Bezug, wenn er den Souverän als persona qualifiziert. Dies geschieht jedoch auf Grundlage des Gesellschaftsvertrags, durch welchen ein »künstlicher Mensch« (artificial man) erzeugt werde. Dem politischen Körper des Souveräns wird damit ein mechanistisches Paradigma unterlegt. Dieser Sichtweise hat bekanntlich der cartesianische Rationalismus Vorschub geleistet, welcher die Einheit der Welt als Mechanismus begreift – als ein gewaltiges Uhrwerk, das durch einen souveränen Willen in Gang gebracht und von diesem so verlässlich wie dauerhaft betrieben wird : Der Wille des (künstlichen) Hauptes determiniert also die Funktionen der Glieder. Dagegen bildet für Leibniz der natürliche Körper des Menschen die Grundlage für eine Imagination des Politischen.44 Vor diesem Hintergrund erklärt sich einmal mehr, warum er den Voluntarismus so entschieden ablehnt, zwischen Gesetz und Recht eine scharfe Trennlinie zieht und betont, dass es bereits im Naturzustand eine Rechtsordnung gegeben habe.
VI. Die Kirche als »persona iuris« Es ist bekannt, dass Leibniz nach Einheit in der Verschiedenheit, nach Harmonie in der Heterogenität suchte. Uneinheitlichkeit, Zerrissenheit und Spaltung waren große Themen in der Politik des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Vor allem drei Gebiete sind zu unterscheiden : Das Alte Reich mit seiner Spannung zwischen den Souveränitätsansprüchen des Kaisers und der Territorialfürsten ; Europa, das die machtpolitischen Kämpfe der Nationen aus dem Gleichgewicht gebracht haben ; und die Kirche, in der ein Streit der Konfessionen wütete. Leibniz hat sich immer wieder mit der politischen Institution der Kirche befasst, die er unter Stichworten wie »res publica christiana«, »corpus Christianitatis« oder »corpus nationum Christianarum« erörterte. Das Thema gab ihm Anlass, seine Vorstellungen über den politischen Körper näher auszuführen.
44 Zu den Unterschieden zwischen organologischen und mechanistischen Konzepten siehe Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 114–117 (dazu näher unten im 7. Kapitel IV).
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Leibniz hat bekanntlich den Begriff der Perspektive in die Philosophie eingeführt.45 So sind es auch verschiedene Perspektiven, aus denen sich die politischen Eigenarten der Kirche beschreiben lassen. Leibniz erörtert sie unter den Stichworten »Menge« (multitudo), »Gesellschaft« (societas) und »Körper« (corpus, corpus mysticum, persona, persona civilis, persona iuris). In einem Fragment von 1677 nennt er sieben Definitionen, die jeweils von der Unterscheidung zwischen einer unsichtbaren Kirche (ecclesia invisibilis) und einer sichtbaren Kirche (ecclesia visibilis) handeln.46 Die ersten sechs Definitionen widmet Leibniz der Kirche als Menge, Masse oder großer Ansammlung von Menschen, die sich nach bestimmten Merkmalen oder nach der Art ihrer Tätigkeiten unterscheiden.47 In der siebten Definition wählt er einen anderen Begriff, und zwar den der societas (Gesellschaft, Gemeinschaft). Das Merkmal solcher »Gesellschaften« bestehe darin, dass sich ihre Mitglieder im Unterschied zur bloßen Menge oder Masse aus freien Stücken einer Leitung unterstellen : Die Kirche ist eine Gemeinschaft (societas), die von Gott zur Ausübung der Religion eingerichtet wurde. Die Gemeinschaft (societas) ist eine Menge von Menschen (multitudo), die unter einem bestimmten Regime (regimine) steht, das seinen Zusammenhalt in dem Willen eines jeden Einzelnen findet.48
Über eine bloße Menge (multitudo) oder Gesellschaft (societas) hinaus trifft Leibniz aber noch eine dritte und höhere Bestimmung, auf deren Grundlage er die Kirche als eine Art res publica, d.h. als »Staat« oder »Republik« definiert.49 Von hier aus ergibt sich eine Verbindung mit dem bereits erwähnten »Tren45 Dazu näher im II. Teil (insbesondere im 8. Kapitel VI). 46 Leibniz, Variae definitiones ecclesiae, in : AA VI 4 C, S. 2174–2179. 47 Leibniz, Variae definitiones ecclesiae (Fn. 46), S. 2175 (multitudo praedestinatorum, multitudo sanctorum, multitudo credentium etc.). Siehe dazu auch Hartmut Rudolph, ›Res publica christiana‹ and ›corpus mysticum‹ : Some Remarks on their Meaning in the Political Thought of Leibniz, in : Studia Leibnitiana 43 (2012), S. 24–35. 48 Leibniz, Variae definitiones ecclesiae (Fn. 46), S. 2175 (»Ecclesia est societas a Deo instituta in religionis exercitio consistens. Societas est multitudo cum quodam regimine sive medio obtinendae unius voluntatis«, Hervorhebungen im Original). 49 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), z.B. S. 15 (unam velut Rempublicam componere) und S. 127 (pro una quadam velut Republica) ; ders., Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs gegen die harte Beschuldigungen eines falschgenannten Caesarei Turriani (1696), in : AA IV 6, S. 185–239, 206 (dort auch zur Parallele von res publica und Staat) ; siehe ferner den Brief an den französischen Bischof und Geschichtsphilosophen Jacques Bénigne Bossuet (1627– 1704) vom 8.-18. Januar 1692, in : ders., Über die Reunion der Kirchen, eingeleitet von Ludwig A. Winterswyl (1939), S. 65–71, 66 (Kirche als »corpus«).
Die Kirche als »persona iuris«
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nungsprinzip«, das eine Grenzlinie zwischen der kollektiven Person auf der einen und den (natürlichen) Mitgliedern (Individuen) auf der anderen Seite zieht und so zu einer Verdoppelung der juristischen Person führt. Wie der Staat weist die Gemeinschaft der Kirche über eine bloße societas (Gesellschaft) also hinaus. In seiner gegen Caesareus Turrianus gerichteten Schrift skizziert Leibniz den Unterschied 1696 wie folgt : Damit aber wohl faße was ein Staat sey, ist hoch nöthig solchen von einer bloßen Confoederation oder Societät wohl zu unterscheiden. Ein Jeder Staat hat zwar in sich eine Societät der Menschen die darin begriffen, aber eine bloße Societät der Menschen wie groß sie auch sey, bloßer dinge vor sich, machet keinen Staat, als der ein mehrers erfordert [.] Es ist auch ein solcher unterscheidt nicht allein bey dem Staat, sondern auch bey einem ieden Corpore oder Collegio zu befinden. Immaßen Corpora und Collegia gantz etwas anders und mehrers seyn alß bloße gesellschafften.50
Im Folgenden erörtert Leibniz den Unterschied abermals anhand von einigen Begriffen, wobei der »Confoederation«, »Gesellschafft« oder »Societät« Bezeichnungen wie »corpus«, »collegium«, »civitas« und »Persohn« gegenübertreten. Während unter den Mitgliedern einer societas »der Nutzen getheilet« und »einem Jeden das seinige pro rata gebühret«, entstehe bei einem »collegium« oder »corpus« eine neue Persohn, nemlich daß Collegium oder Corpus selbst, welches seine eigene Cassam und jura hat, so unterschieden von den rechten der glieder. Was auch in Cassa ist, daß stehet nicht einem Jeden pro rata zu sondern gehöret dem Corpori, 50 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 200–201. Den Anstoß zur »Verthaydigung« gab Leibniz eine Schrift, die 1694 unter dem barocken Titel »Glorwürdiger Adler, das ist : Gründliche Vorstellung und Unterscheidung derer Kayserl. Reservaten und Hochheiten von der Reichsständen Lands-Fürstlicher Obrigkeit, absonderlich aber von I.K. Majestät reservirten Post-Regal im gantzen römischen Reich, und allen dessen Provintzien teutscher Nation, aus denen gemeinen Rechten, Reichs-Abschieden, Actis, Publicis, Friedens-Tractaten, und Schlüssen, Wahl-Capitulationen, Kayserlichen auch Chur- und Fürstlichen Mandatis & Edicitis klärlich ausgeführt und bewiesen« veröffentlicht wurde. Caesareus Turrianus ist ein Pseudonym, unter welchem der Hildesheimer Jurist Leopold Albrecht Schoppe das Buch publizierte, vgl. Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Dritter und letzter Theil (1783), S. 580. Bisweilen werden freilich auch andere Namen als Verfasser genannt. Leibniz musste sich von dem Buch herausgefordert fühlen, weil der Autor die Stellung des Kaisers im Reich nach dem Muster eines zentralistischen Einheitsstaates als eine absolute zu beschreiben sucht. Zu den Hintergründen dieses Themas Silke Klaes, Die Post im Rheinland (1792–1815), 2001.
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bey dem stehet, sich zu entschließen, was den gliedern davon zu kommen soll. Mit einem worth : das Corpus oder Collegium ist eine vorgebildte Persohn, und Jede Persohn hat ihren eigen willen, guthbefinden undt entschluß ; undt bestehen die grundGesetze des Collegii oder Corporis darin, daß man ihm seine Persohn so zu sagen recht formire [,] ihm seine formam, spiritum et vitam gebe, und sich vergleiche [,] wie und welcher gestaldt das Corpus vor einen Mann stehe, undt wie des Corporis will oder Meinung recht zu erfahren ; ob die mehrere stimmen, oder in gewißen fällen 2/3 der stimmen, oder unanimia oder daß Loß oder einer gewißen Persohn oder auch wohl eines gewißen Collegii außschlag und meinung [,] oder einige andere vergleichene weisen bedeüten und andeuten sollen weßen sich das Corpus entschloßen.51
Die an den Beispielen von corpus und collegium, also von Verbänden, Korporationen oder Unternehmen herausgearbeiteten Merkmale finden sich auch bei öffentlich-rechtlichen Gemeinschaften – bei Städten, Ländern, Nationen, Staaten, Europa und der Kirche. Sie alle haben, wie schon ausgeführt, mit den collegia oder civitates gemeinsam, dass zwischen der kollektiven Person als solcher und den einzelnen Mitgliedern zu differenzieren ist. Die kollektive Person der Kirche nennt Leibniz meistens persona civilis, bisweilen spricht er auch von persona iuris und corpus mysticum, manchmal nur von persona oder corpus.52 Im Hintergrund steht abermals der Gedanke der strukturellen Ähnlichkeit – oder wie es später heißen wird : der »Wesensgleichheit« von Kirche, Staat und Korporation, woran im 20. Jahrhundert nicht nur die modernen Pluralismustheorien, sondern auch Kirchenpolitiker im Kampf für eine größere Unabhängigkeit der Kirche wieder anknüpfen werden.53
51 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 201. »Vorbilden« hier im Sinne von »vorstellen«, »imaginare« oder »repraesentare«, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. XII, II, 1951 (ND München 1984), S. 914 ; Gierke, Genossenschaftsrecht III (Fn. 29), S. 363. Im Hintergrund steht wieder die Idee der kollektiven Person als »persona ficta«, die unter bestimmten Voraussetzungen wie eine ›natürliche‹ oder ›individuelle‹ Person zu behandeln ist. Siehe auch Demonstrationum Catholicarum Conspectus (1668/69), in : AA VI 1, S. 494– 500, 499 (zur Repräsentation). 52 Von »persona iuris« z.B. in der Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 202, 206 (die moderne Bezeichnung »juristische Person« wäre damit schon vorweggenommen), von »corpus mysticum« z.B. in De schismate et fide ecclesiaque catholica (1685 ?), in : AA IV 6, S. 715–719, 719 (zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung und synonymen Bedeutung von Bezeichnungen wie corpus mysticum, persona mystica, corpus fictum, persona ficta oder persona repraesentata siehe Meder, Doppelte Körper im Recht, Fn. 2, S. 43–53). 53 Zur politischen Philosophie etwa des ordinierten Priesters der Church of England John Neville
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Die strukturellen Parallelen zwischen Korporation, Staat und Kirche werfen die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Formen von Personengemeinschaften auf. Für Leibniz bildet dabei der Gedanke den Ausgangspunkt, dass eine kollektive wie eine natürliche Person eine Seele habe : »Gleich wie im Menschen die Seel daß jenige ist, was die freyheit hat sich zu entschließen undt zu wollen.«54 Das gemeinsame Fundament bildet die Lehre von den substantiellen Formen, die jene Kraft besitzen, die man »analog in der Art, in der wir die Seele denken, auffassen muß«.55 Die Seele ist also natürlich und organisch, nicht künstlich und mechanisch. Was den Staat anbelangt, so resultiert aus der Parallele zwischen kollektiven und individuellen Personen das Problem, »daß in einer Persohn nur eine Seel sey«, daß »die Seel oder Persohn […] keines weges sich theilen läßet«.56 Dieser Befund nötigt Leibniz näher darzulegen, worin die Unterschiede zwischen Staat und natürlicher Person eigentlich bestehen. Die Differenz sieht er darin, dass der Staat aus verschiedenen Gliedern zusammengesetzt ist, die, wie ein collegium, ein Land oder eine Kirche, ebenfalls als Personen mit eigener Freiheit und eigenem Willen zu qualifizieren sind.57 Solche kollektiven Personen können sogar eine Figgis (1866–1919) und seinen Nachfolgern siehe Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 192–193. 54 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 201–202. Im Hintergrund steht die bis heute anerkannte Lehre, dass das Handeln einer individuellen und einer kollektiven Person unter bestimmten Voraussetzungen als ›gleich‹ bewertet werden kann. Leibniz teilt diese Auffassung, wenn er in der Willensfähigkeit die Gemeinsamkeit von natürlichen und politischen Körpern sieht (dazu im 12. Kapitel IV 2 a). Mit der Annahme, dass der politische (wie der natürliche) Körper eine »Seele« besitze, berührt er ein Thema, das vor allem in der Antike und im Mittelalter diskutiert wurde. Uneinheitlich ist freilich die Frage beantwortet worden, worin die Seele eines politischen Körpers eigentlich bestehe (Leibniz scheint sie im »Grundgesetz« zu sehen, dazu sogleich). Unter den Prämissen des mechanistischen Paradigmas und im Anschluss an Descartes oder Hobbes gab es dagegen keinen Anlass mehr, einen Einfluss der Seele auf die Bewegungen des politischen (und natürlichen) Körpers zu behaupten (Nachweise im 7. Kapitel IV). 55 Systeme nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme avec le corps (1695), in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, VII Bände (1875–1890), Bd. IV (1880), S. 471–487 ; dt. Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 258–271, 259 f. (Hervorhebungen im Original) ; siehe 7. Kapitel I. 56 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 203 (Hervorhebung nicht im Original). 57 Im Hintergrund steht die Lehre von der Unteilbarkeit substantieller Formen, die Leibniz nach seiner Abkehr vom mechanistischen Paradigma wieder aufgegriffen hat (7. Kapitel I). Auf Basis von Leibniz’ Antwort auf die ›Kontinuitätsfrage‹ dürften die durch diesen Unterschied aufgeworfenen
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höchste Macht im Staate bilden, wie etwa das »geistliche Oberhaupt in geistlichen dingen« oder der »Oberrichter in Justizsachen«.58 Leibniz meint nun, dass die grundtgesetze nicht eben an eine Persohn, oder an ein gewißes Concilium gebunden, sondern daß sie den willen des Staats, nach unterschiedlichen objectis, von dem Schluß oder willen unterschiedener natürlicher oder Civil-Persohnen suspendiren können, weilen alle solche Verfaßung in dem willkühr deren beruhet, so die grundgesetze gegeben oder sich deren verglichen, undt, in so weit, ihre Macht dem Staat übertragen.59
Letztlich sind es also die Verfassung oder in Leibniz’ Terminologie : die »grundtgesetze«, welche »die Seel des Staats formiren«.60 Danach können die Kompetenzen so verteilt werden, dass andere »Personen« (oder Gewalten) die höchste Macht in bestimmten Dingen für sich in Anspruch nehmen dürfen, ohne dadurch die Einheit des Staates in Frage zu stellen. Ebenso bedeutet es aus Sicht von Leibniz keinen Widerspruch, wenn im Reich neben dem Kaiser auch einzelne Länder oder Territorien Souveränität ausüben. Er plädiert also abermals für eine Pluralität der Souveränitäten und argumentiert gegen »einige Scribenten«, die meinen, dass »dergleichen theilung« im Staat nicht stattfinden dürfe.61 Auf Grundlage einer pluralen Ordnung bestimmt Leibniz auch das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Ausführlich begründet er noch einmal, warum die metaphysischen Probleme überwindbar sein (7. Kapitel I). Denn danach besteht jeder Körper aus einer ganzen Welt unzähliger Lebewesen. Als natürliche Maschine enthält ein Organismus noch in den kleinsten Teilen Leib-Seele-Einheiten, die als Kreaturen oder ›Individuen‹ zu begreifen wären. Sobald das Aggregat der ebenso selbständigen wie untergeordneten Körpermonaden von einer herrschenden Seelenmonade zusammengefasst ist, werden die für das aus verschiedenen Gliedern zusammengesetzte Ganze, d.h. die für den politischen Organismus charakteristischen Tätigkeitsweisen, möglich. Gleichwohl bedürfte das Thema noch genauerer Untersuchung, zumal eine Seele ja nur solche Personengemeinschaften besitzen, die (wie collegium, universitas, Land, Kirche oder Staat) eine entsprechende Organisationsdichte aufweisen. 58 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 204. 59 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 204 (in diesen Überlegungen lassen sich Gedanken zur Trennung der Gewalten erkennen, was hier aber nicht näher ausgeführt werden kann). 60 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 204. Zur Vorgeschichte der »grundtgesetze« (leges fundamentales) siehe Mohnhaupt, Verfassung (Fn. 40). 61 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 205. Zu diesen »Scribenten gehört (neben Caesareus Turrianus) vor allem Hobbes, der, wie Leibniz im Fürstenerius näher ausgeführt hat, dem Glauben erlegen ist, dass sich das Leben auf Basis von abstrakten Kategorien meistern ließe, Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 59–60.
Das Heilige Römische Reich als ›Modell‹ für ein Europa der Nationen ?
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Kirche keine bloße confoederatio und keine societas, sondern eine persona iuris sei.62 In diesem Corpore Christianitatis oder Nationum Christianarum sei das Reich, das Sacrum Imperium Romanum, zwar »das Haupt«. Doch habe es der »Christenheit wohlfahrth […] zu besorgen« und müsse in »geistlichen Dingen« den Willen des »geistlichen Oberhaupts« respektieren.63
VII. Zwischenergebnis Leibniz politische Theorie fußt auf einem gegliederten Aufbau der Gesellschaft, in der private Verbände und öffentliche Gemeinschaften als selbständige Elemente zwischen Staat und Individuum auftreten. Im Mittelpunkt steht die Idee einer wechselseitigen Angewiesenheit von Haupt und Gliedern, die bereits in den antiken Formulierungen der Körpermetapher eine wichtige Rolle spielt. Hinzu kommt die Frage nach den Eigenarten jenes Bandes, das die Vielheit autonomer Kräfte zu einer höheren politischen Einheit verbindet. Das Haupt ist mit seinen Gliedern strukturähnlich, auch die Glieder können prinzipiell die Qualität einer persona civilis annehmen und sich so von einer bloßen Menge (multitudo) oder Gesellschaft (societas) unterscheiden. Eine Differenz besteht darin, dass sich der Staat als die höchste Macht und als Haupt des Körpers durch seine Souveränität auszeichnet. Diese darf er freilich nicht allein für sich in Anspruch nehmen, sondern muss sie mit anderen Verbänden oder Staaten teilen. An erster Stelle wären hier einige Territorialfürsten zu nennen, worauf noch einmal zurückzukommen ist. Darüber hinaus muss der Staat aber auch dem Willen des »geistlichen Oberhaupts«, jedenfalls in »geistlichen Dingen«, Rechnung tragen. Hier liegt zugleich der Grund, warum Leibniz so stark betont, dass die Kirche über eine bloße Ansammlung von Menschen (multitudo) und eine Gesellschaft (societas) hinausgeht. Nur unter den Prämissen eines selbständigen corpus kann die Kirche als ›Staat im Staat‹ und die Geistlichkeit als ›Volk‹ mit eigener Rechtsbildung auftreten.
VIII. Das Heilige Römische Reich als ›Modell‹ für ein Europa der Nationen ? Dass Leibniz in seiner Securitas publica die Gefahren schildert, die sowohl das Reich als auch Europa aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen, ist bereits angedeutet worden. Mit seinen Überlegungen zur Reichsreform verfolgt er mithin 62 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 206. 63 Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 49), S. 207.
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nicht nur ein nationales, sondern auch ein gesamteuropäisches Anliegen.64 Dabei stehen zwei ›Modelle‹ zur Wahl, die sich unversöhnlich gegenüberstehen : die ›moderne‹ Lösung in Form eines zentralistischen Einheitsstaates und die neue Ordnung des Reichs auf Basis einer Multiplikation der Souveränitäten. Da das monarchische Prinzip für Leibniz keine Option darstellt, bleibt nur das Reich, welches als universaler Gesamtkörper über eine völlig andere Souveränität als die ›modernen‹ Nationalstaaten verfügt. Unter den Prämissen des Reichsmodells soll die Eigenständigkeit der Nationen eine Zusammengehörigkeit Europas genauso wenig ausschließen wie die Glaubensspaltung eine Union der christlichen Kirchen. Wenn Leibniz den Kaiser als »weltliches Haupt der Christenheit« bezeichnet, dann nicht im Sinne eines absoluten Herrschers, eines ›modernen‹ Souveräns oder Leviathans, sondern eines Unparteiischen, der als primus inter pares sein Schiedsrichteramt (arbitrium rerum) ausübt, um Frieden und Gerechtigkeit für alle zu sichern. Seine Funktionen beschränken sich darauf, die Christenheit zu schützen, wobei um 1670 die Wiedervereinigung der Konfessionen, der Ausgleich unter den Nationen und die Zurückdrängung der osmanischen Armee als die dringlichsten Aufgaben erscheinen. Es ist also die Wiedergewinnung einer universalen Pax Christiana, die es aus Sicht von Leibniz rechtfertigte, im Heiligen Römischen Reich das ›Modell‹ für eine europäische Union zu erblicken. Obwohl sich in den 300 Jahren nach Leibniz’ Tod vieles verändert hat, wird noch immer darüber diskutiert, ob der ›moderne‹ Einheitsstaat als Vorbild für die Einheit Europas dienen kann. Angesichts der Erfahrungen im 20. Jahrhundert mit den zerstörerischen Folgen eines autokratischen Souveränitätsbegriffs favorisiert diese Option, wenn überhaupt, gegenwärtig aber nur noch eine Minderheit. Auch eine bloße Konföderation oder ein Dachverband vermögen keine allgemeine Zustimmung zu finden, da solche Bündnisse oft nur eine geringe Stabilität aufweisen und vielen als zu lose und zu unverbindlich erscheinen. Jahrzehntelang wurde das Projekt einer Europäischen Union daher mit den politischen Ambitionen eines Bundesstaates verknüpft.65 Doch geben sich heute selbst engagierte Europapolitiker auch insoweit bescheiden : Von den »Vereinigten Staaten von Europa« oder einem Bundesstaat soll nicht mehr die Rede sein. Denn sonst würden Länder wie Deutschland oder Italien »auf das Souveränitäts64 Siehe nur Heinz Duchhardt, Leibniz und das »Modell« des römisch-deutschen Reiches, in : Umwelt und Weltgestaltung (Fn. 20), S. 43–55. 65 Siehe die Liste politischer Stellungnahmen von Konrad Adenauer und Walter Hallstein über Willy Brandt und Helmut Kohl bis hin zu Joschka Fischer bei Martin Selmayr, Endstation Lissabon ?, in : ZEuS (2009), S. 637–679, 642–646.
Resümee
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niveau von Alabama oder Wisconsin gebracht«.66 Diese Aussage aus dem Jahre 2012 dürfte nach den Ereignissen in den letzten Jahren an Überzeugungskraft eher noch gewonnen als verloren haben. Gegenwärtig werden sich in Europa kaum Staaten finden lassen, die bereit wären, ihr »Souveränitätsniveau« auf das von Alabama oder Wisconsin herabzuschrauben.67 Damit fällt zugleich ein neues Licht auf Leibniz’ Charakterisierung des Verhältnisses von Einheit und Vielheit. Auf Grundlage seiner Bestimmung des Begriffs »Union« gelingt es ihm, die Nachteile einer bloßen Konföderation zu vermeiden.68 Und unter den Prämissen einer Multiplikation der Souveränitäten vermag er den Nationen jenes Maß an Eigenständigkeit einzuräumen, das heute wieder gefordert wird. Leibniz hat in den Jahren nach dem Siegeszug des zentralistischen Rechtsdenkens ein alternatives Integrationskonzept entworfen, dessen Tragweite vielleicht erst nach der Wende zum 21. Jahrhundert gebührend gewürdigt werden kann.69 Mit der Idee einer Einheit in der Verschiedenheit nimmt er die ›Prämoderne‹ zum Vorbild und versucht auf dieser Grundlage ein politisches Programm für die Zukunft zu entwerfen. Es wäre ein Fehler, dieses Programm, wie oft geschehen, voreilig als mittelalterlich, antiquiert oder gar als anachronistisch zu disqualifizieren.
IX. Resümee Von den Argumenten, die für die zukunftsweisende Bedeutung von Leibniz’ politischer Philosophie sprechen, seien nur zwei noch einmal hervorgehoben. Das 66 Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 306–308. 67 Im Übrigen ist zu bezweifeln, ob heutige Bundesstaaten überhaupt als »souverän« bezeichnet werden dürfen. Nach Leibniz z.B. wäre dies zu verneinen (siehe oben I – bei Note 6). Seine Auffassung entspricht der in den Staatsrechtswissenschaften heute überwiegenden Meinung. Sie beruft sich z.B auf Art. 32 III GG : Verträge mit auswärtigen Staaten bedürfen der Zustimmung der Bundesregierung ; Art. 87 a GG : Streitkräfte werden durch den Bund gestellt ; Art. 28 I und III GG : Die Länder sind den allgemeinen Regeln der Verfassung unterworfen. 68 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 4), S. 57 : »Multum autem interest inter Confoederationem et Unionem« (Hervorhebungen im Original). Nur die Union besitzt Leibniz zufolge die Qualität einer persona civilis, eines (doppelten) Körpers mit der entsprechenden symbolischen Identität (siehe auch oben V). 69 Die aktuelle Debatte scheint sich zwischen den Polen von Staatenbund auf der einen und Bundesstaat auf der anderen Seite festgefahren zu haben. Zugänge zur Position von Leibniz werden mit dem Argument verstellt, das Alte Reich sei ein »in jeder Hinsicht singuläres Gebilde« gewesen, z.B. Horst Dreier, Auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa ?, in : Merkur 69 (2015), S. 85–93.
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erste handelt von einem Maß an Selbständigkeit der europäischen Nationen, das über die Bundesstaatstheorie weit hinausgeht und damit aktuellen Ansprüchen der Mitgliedstaaten genügen könnte. Hinzu kommen die globalen Ordnungsvorstellungen, die seine Staatsphilosophie kennzeichnen : Erst die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit den chaotischen Folgen eines überspannten Souveränitätsbegriffs haben die Voraussetzungen für eine angemessene Würdigung von Leibniz’ politischer Philosophie geschaffen. Seine Sichtweise harmoniert in vieler Hinsicht mit aktuellen Globalisierungstheoretikern, die bemerken, dass es vor der ›modernen‹ Staatlichkeit schon einmal ein politisches System mit sich überlappenden Autoritäten gegeben habe. Sie meinen, der gegenwärtige Rechtspluralismus würde dem mediävalen System mit seiner Teilung der Souveränitäten durchaus näher stehen als dem aus dem Geist des Absolutismus entsprungenen Nationalstaat.70 Ein ›vormodernes‹ System könnte danach also mindestens ebenso ›modern‹ wie dasjenige sein, welches an seine Stelle getreten ist. Die Suche nach älteren Vorbildern für »globale Ordnungsvorstellungen ohne steile Hierarchien und scharfe Kontraste führt in ein Zeitalter zurück, das mit Gottfried Wilhelm Leibniz begann«.71 Sein historisches Naturrecht darf nicht an den Axiomen einer fortschrittsorientierten Evolutionstheorie gemessen werden. Aus Sicht von Leibniz lebt der Mensch in einem dauernden Zeitfluss : Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen in einem Kontinuum und sind eng miteinander verwoben. Als Globaldenker kann Leibniz mithin unter drei Gesichtspunkten angesprochen werden. In räumlicher Hinsicht, weil er über die eigene Nation und Europa hinaus in transnationalen Größenordnungen dachte. In zeitlicher Hinsicht, weil ihm auch die Errungenschaften antiker und mittelalterlicher Kulturen als Maßstäbe für sein Reformprogramm dienten. Und in staatstheoretischer Hinsicht, weil es ihm gelungen ist, zwischen neuzeitlicher und mittelalterlicher Staatlichkeit hindurch zu einem neuen Souveränitätsbegriff zu steuern. Die zukunftsweisende Bedeutung von Leibniz’ staatsphilosophischen Entwürfen zeigt sich also darin, dass auch die heutige Wissenschaft weniger im hierarchischen ›Modell‹ des zentralistischen Einheitsstaates als in ›vormodernen‹ Systemen nach Anregungen sucht, um Probleme zu lösen, die daraus resultieren, dass die fortschreitende Internationalisierung und Privatisierung zu einer Multiplikation rechtlicher Akteure geführt hat, welche mit den Entscheidungsbefugnissen des Staates konkurrieren. 70 Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 2), S. 65–68 (die mediävale Ordnung »looks much more like a modern, three-dimensional network than the clean-lined, hierarchical state order that replaced it«). 71 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens (2010), S. 407.
6. Kapitel Inhalte von Leibniz’ Reformbestrebungen : Das Urheberrecht als Beispiel Leibniz’ Privatrecht ist nicht nur das Werk eines spekulativen Philosophen, sondern auch das eines Juristen, der die Lösung praktischer Fälle im Auge hat. Dass Leibniz das römische Privatrecht als perfekte Realisierung des Naturrechts betrachtete und an seinen Inhalten im Grundsatz nichts ändern wollte, ist bereits ausgeführt worden.1 Dies bedeutet aber nicht, dass er vom römischen Recht nicht auch abwich und Verbesserungsvorschläge unterbreitete. Konkrete Inhalte seiner Reformbestrebungen beziehen sich auf die Lehre von den Bedingungen, Personen- und Vertragsrecht, Schaden und Ausgleich, Sachenrecht und andere Themen des Privatrechts sowie die Billigkeit in vielen Anwendungsgebieten.2 Was die Billigkeit anbelangt, so verdienen seine Überlegungen zur Regel der »innoxia utilitas« Hervorhebung.3 Dieses eigentümliche Recht des »unschädlichen Nutzens« oder »Nutzens ohne Schaden« besagt, dass man dem Nächsten das schuldet, was man ohne eigenen Nachteil leisten kann. Es ist als Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz verstanden worden, dass das Privatrecht den Individuen keine altruistischen Opfer abverlangt. Ob sich Leibniz mit der Anerkennung dieses Prinzips tatsächlich »am weitesten von einem modernen liberalen Privatrecht trennt«, dürfte aber zu bezweifeln sein.4 Denn gerade darauf stützt er seine zukunftsweisenden Überlegungen zur Legitimation des Schutzes immaterieller Güter. Da dieses Gebiet seiner Reformbestrebungen bislang kaum beachtet wurde, soll es im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.
1 Siehe oben 2. Kapitel III. 2 Siehe den Überblick in meiner Schrift Leibniz’ Reform des Privatrechts auf Grundlage historischen Naturrechts, in : ZEuP 24 (2016), S. 687–707, 701–704 (mit weiteren Nachweisen). 3 Siehe die Darstellung bei Klaus Luig, Die »innoxia utilitas« oder das »Recht des unschädlichen Nutzens« als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus, in : Helmut Neuhaus, Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas (2002), S. 251–266. 4 So Luig, Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in : Okko Behrends (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition (1985), S. 213–256, 253. Die Frage wäre, was hier unter »modern« und »liberal« zu verstehen wäre. Leibniz’ Rechtsphilosophie ist gewiss in vieler Hinsicht ›modern‹, aber nicht im Sinne jenes negativen Freiheitsbegriffs, der gerne mit der ›liberalen‹ Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht wird (siehe oben 4. Kapitel II und III).
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Inhalte von Leibniz’ Reformbestrebungen
I. Das Projekt eines »Nucleus librarius semestralis« Erste Erfahrungen mit einer Wissenschaftsdisziplin, die wir heute als ›Urheberrecht‹ zu bezeichnen pflegen, sammelte Leibniz nach seinem Wechsel von Nürnberg an den Mainzer Hof. In den Jahren 1668/69 plant er eine Zeitschrift, die über die neuesten Veröffentlichungen im Gebiet der Wissenschaften berichtet. Das Periodikum mit dem Titel »Nucleus librarius semestralis« sollte den »Kern«, eine Art Zusammenfassung oder »abstract« zentraler Gedanken wissenschaftlicher Neuerscheinungen enthalten und über die jeweiligen Autoren informieren. Zur Wahrung von Absatzchancen wollte Leibniz sich mit kritischen Meinungsäußerungen zurückhalten. Gedacht war also mehr an eine Anzeige als an eine Rezension im klassischen Stil. Die Zeitschrift sollte halbjährlich zur Leipziger Messe erscheinen, um Kunden, Händlern, Verlegern, Autoren und Gelehrten eine Orientierung in dem wachsenden Angebot neuer Publikationen zu bieten. Zwar gab es bereits einen »Meßkatalog«, der zu Messezeiten die Funktion eines bibliographischen Nachschlagwerks erfüllen sollte. Doch hielt Leibniz dieses Mittel für völlig ungeeignet, weil die Neuerscheinungen nicht nur unvollständig und fehlerhaft verzeichnet waren, sondern auch Titel aufgeführt wurden, die in Wirklichkeit nie erschienen sind.5 Im Oktober des Jahres 1668 klagt der 22-jährige Leibniz in einer Eingabe an den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Leopold I. (1640–1705) über die Verwirrungen eines zu großen Angebots, die dazu führten, daß man schon albereit nicht mehr weis, was man in solcher menge brauchen, und wo man ein iedes suchen solle.6 5 Zu den damaligen Missständen siehe Rudolf Blum, Vor- und Frühgeschichte der nationalen Allgemeinbibliographie, in : Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, Nr. 76a (1959), S. 1161–1231, 1192–1193. Die folgenden Ausführungen fußen auf meinen Beiträgen : Leibniz und das Urheberrecht, in : UFITA 146 (2016), S. 7–34 ; Leibniz an den Reichsvizekanzler : Eine Briefstelle vom 19. Dezember (?) 1669 über das »Urheberrecht«, in : ders. (Hg.), Geschichte und Zukunft des Urheberrechts (im Erscheinen). 6 Eingabe an Kaiser Leopold I. vom 22. Oktober 1668, in : AA I 1, S. 3–5, 3. In einer wohl an dessen fachliche Berater gerichteten, in lateinischer Sprache verfassten Beilage (a.a.O., S. 5–7) hat Leibniz das Vorhaben noch einmal erläutert und unter dem Gesichtspunkt seiner praktischen Durchführbarkeit beschrieben. Eine Übersetzung der Beilage (»De Scopo et Usu Nuclei Librarii Semestralis«) findet sich bei Hans Widmann, Leibniz und sein Plan zu einem »Nucleus librarius«, in : AGB (Archiv für Geschichte des Buchwesens) 4 (1963), S. 621–636, 624–628. Siehe auch Hansjörg Pohlmann, Neue Materialien zum deutschen Urheberschutz im 16. Jahrhundert, in : AGB 4 (1963), S. 89–172, 119 (mit der These, Leibniz »schwebte mit seinem Nucleum librarium erstmals eine europäische Gesamtbibliographie vor«) ; Annegret Stein-Karnbach, G.W. Leibniz
Das Projekt eines »Nucleus librarius semestralis«
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Das Projekt sollte also mit einer Übersicht über das durch viele entbehrliche Titel belastete Bücherangebot dem wissenschaftlichen Fortschritt dienen. Insbesondere waren es die Verleger, die Leibniz verdächtigte, aus Gewinnstreben die Käufer durch irreführende Titel zu täuschen. Um sein gegen den kommerziellen Charakter des Buchhandels gerichtetes Vorhaben realisieren zu können, bedurfte es aber eines kaiserlichen Privilegs oder einer »special versicherung«, wie Leibniz dieses auch nannte.7 Denn ein Nachdruck oder schon die bloße Nachahmung würden zu erheblichen Verlusten jenes Verlages führen, der es wagte, eine solche Zeitschrift herauszubringen. Eine Finanzierung aus eigenen Mitteln oder einen Selbstverlag hielt Leibniz für ausgeschlossen, weil die Verleger sich durch einen Boykott des Vertriebs gegen selbstverlegende Autoren erfolgreich zu wehren wussten. So richtete er am 22. Oktober 1668 ein Gesuch an den deutschen Kaiser, ihm ein unbefristetes Privileg für das geplante Periodikum zu gewähren. Genau genommen bittet er um ein erbliches Privileg als Schutz vor Nachahmung und um eine Direktive an die Verleger, ihm je ein Freiexemplar ihrer neuen Bücher zu übersenden. Ein solches Privileg könne das wissenschaftliche Leben in Deutschland ungemein fördern, indem es einen lebhaften Austausch unter den Gelehrten bewirke : Wer aber die mittel und gelegenheit nicht hat die Bücher zu kauffen, oder wegen distanz zu bekommen und zu sehen, der kan dennoch durch diesen auszug materi gnugsam haben selbige zu verstehen und davon zu discurriren.8 und der Buchhandel (1983) = Sonderdruck aus dem Archiv für Geschichte des Buchwesens 23 (1982), Sp. 1189–1418, 1217–1228. 7 Brief an den Reichsvizekanzler vom 19. Dezember (?) 1669, in : AA I 1, S. 36–42, 37 (Hervorhebung im Original). Zum Aufkommen und Inhalt der Druckprivilegien im 16. und 17. Jahrhundert siehe Fedor Seifert, Kleine Geschichte(n) des Urheberrechts (2015), S. 97–105 ; Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht (1995), S. 39–92 ; Walter Bappert, Wege zum Urheberrecht (1962), S. 178–193. Noch eine Bemerkung zum Adressaten des Briefes : Der Reichsvizekanzler war faktisch der Leiter der Reichshofkanzlei, welcher der Erzbischof von Mainz nominell vorstand. Das wäre 1669 der Mainzer Erzbischof und Kurfürst Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) gewesen, dem sich Leibniz 1667 mit seiner Nova methodus empfohlen hatte (1. Kapitel I). Der Reichsvizekanzler gehörte der 1669 gegründeten »geheimen Konferenz« an, wodurch seine politische Rolle bei den Geschäften des Reichs erheblich gestärkt wurde. Da Leibniz seinen Adressaten mit Namen nicht genannt hat, kann sein Brief entweder an Wilderich Freiherr von Walderdorff (1617–1680), Reichsvizekanzler von 1660–1669, oder an Leopold Wilhelm von Königsegg-Rothenfels (1630–1694), Reichsvizekanzler von 1669–1694, gerichtet worden sein. Mit Blick auf das wahrscheinliche Datum des Schreibens ist zu vermuten, dass Königsegg-Rothenfels der Empfänger sein sollte. Allerdings hat Leibniz dazu bemerkt : »ist nicht abgegangen« (AA I 1, Anm. S. 36). 8 Leibniz, Eingabe an Kaiser Leopold I. (Fn. 6), S. 4.
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Leibniz nennt in seinem Schreiben an den Kaiser auch die Vorbilder, die ihn zu seinem Projekt angeregt haben. Auf den Gedanken sei er »durch das Werk des ehemaligen Patriarchen von Konstantinopel, Photius, gekommen«.9 Der um 820 geborene Patriarch hatte in großer Zahl Auszüge aus griechischen und byzantinischen Werken verfasst, die vor dem Fall Konstantinopels (1453) in der kaiserlichen Bibliothek vorhanden waren. Ohne diese Auszüge wären viele wichtige Werke der Antike heute gänzlich unbekannt. Darüber hinaus nennt Leibniz ein modernes Vorbild, und zwar das seit Ende 1665 in Paris erscheinende Journal des Scavans, in dem er später selbst häufiger publiziert hat. Dabei handelt es sich um ein universalwissenschaftliches Periodikum, das Nachrichten aus der gelehrten Welt und Rezensionen aktueller Fachliteratur enthielt. Während in anderen Ländern, etwa in England mit den Philosophical Transactions oder in Italien mit dem Giornale de’ Letterati, kurze Zeit später ebenfalls wissenschaftliche Bibliographien herauskamen, gab es in Deutschland damals noch keine solche Bücherzeitschrift. Hierzulande begnügte man sich mit einer lateinischen Übersetzung des Journal des Scavans, die ab 1667 unter dem Titel Ephemerides Eruditorum in Leipzig erschien.10 Das Warten auf die kaiserliche Entscheidung wurde für Leibniz zu einer harten Geduldsprobe. Er begann sich allmählich mit dem Gedanken anzufreunden, sein Vorhaben ohne Privileg zu realisieren. Davon haben ihm »aber etliche guthe Freunde« entschieden abgeraten, und zwar aus diesem grund, wenn man die Invention gemein mache, ehe man einen festen fus gesezt, und gewißen schuz gesucht hätte, würden sich ohnfehlbar 100 andere finden, so dem werck eintrag thun, solches nachdrucken, nach oder vorthun, und also auf viele weise dem Autori den von der invention und mühe verhofften nuzen aus den händen winden würden. Überdies hab ich unvermerckter Sachen so viel zu Francfurt ausgespüret, daß ohne Kayserl. freyheit kein Buchführer das werck über sich zu nehmen unterstehen würde.11
9 Beilage zur Eingabe an Leopold I., bei Widmann, Leibniz und sein Plan zu einem »Nucleus librarius« (Fn. 6), S. 626. 10 Vgl. Stein-Karnbach, Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1218 ; Widmann, Leibniz und sein Plan zu einem »Nucleus librarius« (Fn. 6), S. 635 (die erste deutsche Gelehrtenzeitschrift wurde 1682 unter dem Titel Acta eruditorum publiziert, siehe unten IV). 11 Brief von Leibniz an den Kur-Mainzischen Residenten in Wien, Christoph Gudenus, vom 11. November 1669, in : AA I 1, S. 18–19, 19 (Hervorhebung im Original) ; siehe auch den Brief von Gudenus an Leibniz vom 7. Februar 1669, in : AA I 1, S. 19–20, 20.
Begründung des ›Urheberrechts‹ auf Basis von Billigkeit und Naturrecht
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Die Gefahren eines Nachdrucks oder Plagiats waren also viel zu groß. Kein seriöser Verleger würde, wie Leibniz nun auch selbst einsehen musste, ein solches Risiko eingehen. Obwohl der Kaiser die Vorschläge von Leibniz sehr gelobt haben soll, wurde sein Gesuch schließlich mit der Begründung abgelehnt : Es könne niemandem verboten werden, derartige Werke herauszugeben, außerdem würde das Erfordernis der Abgabe eines weiteren Pflichtexemplars die Verleger zu sehr belasten und schließlich seien Beschwerden von ihrer Seite zu befürchten, wenn eines ihrer Bücher im Nucleus nicht genannt werde.12 Leibniz ließ sich nicht entmutigen und richtete am 18. November 1669 erneut die Bitte an den Kaiser, ihm ein Privileg für seinen Nucleus zu gewähren.13 Auch diesem Gesuch war kein Erfolg beschieden. Es ist vermutet worden, dass neben sachlichen Gründen auch persönliche Animositäten und Intrigen am Wiener Hof bei der Ablehnung eine Rolle gespielt haben.14
II. Begründung des ›Urheberrechts‹ auf Basis von Billigkeit und Naturrecht Leibniz’ Bemühungen um ein Druckprivileg zeigen einmal mehr, dass die Verletzung von Rechtspositionen, die wir heute als ›Urheberrecht‹ bezeichnen, eine lange Vorgeschichte hat. Dies gilt auch für dessen Funktionen, die gegenwärtig unter Stichworten wie ›Persönlichkeit‹ und ›Vermögen‹ des Schöpfers, ›Anreiz‹ oder ›Gemeinwohl‹ erörtert werden.15 So soll die Zuweisung von Ausschließlichkeitsrechten sicherstellen, dass sich Investitionen in kreative oder wissenschaftliche Arbeit lohnen und hierdurch Anreize für die Erzeugung von Werken geschaffen werden. Die Argumente, auf die sich Leibniz zugunsten eines Schut12 Brief von Christoph Gudenus vom 7. Februar 1669 (Fn. 11), S. 19 und 20. 13 Eingabe an Kaiser Leopold I. vom 18. November 1669, in : AA I 1, S. 21–23 (Eingabe) und S. 23– 26 (Beilage). 14 Nachweise bei Stein-Karnbach, Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1224 (dort auch zu den Widerständen, welche die Mitwirkung von Boineburg am Wiener Hof geweckt haben). 15 Zum Gegenstand und den Funktionen des Urheberrechts siehe Manfred Rehbinder, Alexander Peukert, Urheberrecht, 17. Auflage (2015), § 5 Rn. 71–81 (S. 26–28) ; Haimo Schack, Urheberund Urhebervertragsrecht, 7. Auflage (2015), § 1, Rn. 2–8 (S. 2–5). Die Anreizfunktion des Urheberrechts wird stärker in der US-amerikanischen Literatur betont, siehe z.B. Neil Weinstock Netanel, Alienability Restrictions and the Enhancement of Author Autonomy in United States and Continental Copyright Law, in : Cardozo Arts & Entertainment Law Journal 12 (1994), S. 1–78 ; zur Begründung des Urheberrechts mit Nützlichkeitserwägungen vgl. die Grundsatzentscheidung des Supreme Court in Sony Corp. of America v. Universal City Studios, Inc., 464 U.S. 417, 429 (1984). Ähnliche Ansätze finden sich auch in Großbritannien, vgl. William R. Cornish, Authors in Law, in : Modern Law Review 58 (1995), S. 1–16.
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zes durch den Kaiser stützt, kommen diesen Funktionsbestimmungen schon recht nahe. In seinem Schreiben an den Reichsvizekanzler beruft er sich zur Legitimation einer Zuteilung von Privilegien vor allem auf die Gesichtspunkte von Natur, Vernunft und Billigkeit : Billig ist, was nuzen ohne schaden bringt, billig daß wer die last hat, auch den nuzen habe, billig daß ein Verdienender mit solcher gnade belohnet werde, dadurch keinem andern seyn jus quaesitum enzogen wird, billig daß ein verdienender in dem genere belohnet werde darinn ers verdienet, und dadurch ers mehr und mehr meritiren kan. Welche Regeln denn gewislich dergestalt natürlichen rechtens und der vernunfft gemäß seyn, daß nicht nöthig Leges oder Doctores dazu anführen. Die application belangend so ist ja clar daß dieses werck, wie vorlängst ausgeführet und also per consequens auch das, wie iezo ausgeführet dazu unentbehrliche, zum wenigsten aber sehr förderliche privilegium, zu nicht geringen allgemeinen nuzen gereiche […] Ferner ist billig daß wer das ordentliche onus und obligationem allein auf sich hat, auch das ordentliche commodum und potestatem allein habe. Quia quem sequntur onera, eum sequi debent commoda […] Ist also billig, daß wer mit invention oder übernehmung eines neuen wercks sich bemühet umb das gemeine beste verdient zu machen, in eben diesem werck, und dergestalt belohnet werde, daß er ins künfftige desto mehr darinn sich verdienet machen könne, welches denn geschieht, wofern ihm ein Privilegium gegeben wird in diesem neuen werck desto ungehinderter fortzufahren, wie denn auf diesen grund durchgehends die meisten und Vernunfftmäßigsten privilegia in der welt beruhen.16
Leibniz ist also der Meinung, dass dem ›Urheber‹ mit seiner Schöpfung (invention) eine rechtliche Verfügungsgewalt (potestas) über das neue Werk unmittelbar zuwächst. Damit geht er über die im Privilegienwesen verankerte Vorstellung hinaus, dass der ›Urheber‹ einen wirtschaftlichen Nutzen aus seiner Schöpfung nur insoweit ziehen darf, als ihm der Gesetzgeber einen solchen zubilligt. Die Befugnisse des ›Urhebers‹ beruhen auf dem Naturrecht und entsprechen der Vernunft. Warum ein Rekurs auf die Befehle der »Leges« oder die Meinungen der »Doctores« entbehrlich ist, hat methodologische Gründe. In der Nova methodus entwickelte Leibniz bereits zwei Jahre vor seinem Schreiben an den Reichsvize16 Brief an den Reichsvizekanzler vom 19. Dezember (?) 1669 (Fn. 7), S. 40–41 – Hervorhebungen im Original (Leibniz misst diesen Überlegungen grundsätzliche Bedeutung bei : Er will sie nicht auf Autorenprivilegien beschränkt wissen und betont die gemeinsame Interessenlage mit Künstlern, Unternehmern oder Erfindern). Siehe auch den Brief an Gudenus (Fn. 11), in welchem er ebenfalls an die Merkmale von invention und potestas anknüpft.
Begründung des ›Urheberrechts‹ auf Basis von Billigkeit und Naturrecht
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kanzler die Thesen, dass zwischen Gesetz und Recht eine fundamentale Differenz besteht, dass Recht auch außerhalb der staatlichen Normen existieren kann, dass in der Praxis ständig neue Fälle auftauchen, und, wenn das Gesetz schweigt, »nach dem Naturrecht entschieden werden muß«.17 Unter diesen Prämissen wäre ein Nachdruck generell unrechtmäßig : Die Obrigkeit hätte die Pflicht, jede neue geistige Schöpfung durch ein Privileg zu schützen. Das Argument der Billigkeit in der Briefstelle vom 19. Dezember 1669
Bereits die ersten Zeilen der Briefstelle lassen erkennen, dass Leibniz’ Überlegungen zum Urheberrecht im Wesentlichen auf der Billigkeit fußen. Hinter dem ersten Halbsatz »nutzen ohne schaden« verbirgt sich die sogenannte »innoxia utilitas«, das Prinzip des »unschädlichen Nutzens«, das Leibniz in anderen juristischen Schriften als Kriterium der Billigkeit näher ausdifferenziert hat.18 Die komplexe Figur der innoxia utilitas war in der Epoche von Aufklärung und Vernunftrecht ein viel diskutierter Gegenstand. Sowohl Grotius als auch Pufendorf und Christian Thomasius haben sie erörtert.19 Doch ist Leibniz wohl der einzige Autor, der die Idee eines »nutzens ohne schaden« im ›Urheberrecht‹ heranzieht. So begründet er die rechtliche Schutzwürdigkeit seines Nucleus librarius semestralis in der Briefstelle mit dem Argument, dass ein Werk, welches den Kunden nützlich ist und weder Autoren noch Verlegern schadet, sowohl mit dem Prinzip der Billigkeit als auch ihrem Streben nach einer Vereinigung von Eigennutz und Fremdnützigkeit in Einklang steht.20 17 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren, 1667), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, §§ 69–70 (S. 71 f.). Siehe hierzu auch die beiden Briefe an Hermann Conring (1606–1681) vom 13./23. Januar 1670 und vom 9./19. April 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (a.a.O.), S. 323–337 und S. 339–347 (näher 3. Kapitel V). 18 Zu den Hauptstellen gehören : Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485), Nr. 2, S. 447 f. (dt. Übersetzung bei Busche, Fn. 17, S. 89–319) ; De utilitate innoxia (August 1696 ?), in : Gaston Grua (Hg.), Textes inédits d’après les manuscrits de la bibliothèque proviniciale de Hanovre, 2 Bde. (1948), X, S. 870–878 ; De postulationibus (1678–1679 ?), in : Grua II, a.a.O., IX, S. 750–760, 754 ; De systemate iuris romani (1680–1682 ?), in : Grua II, a.a.O., IX, S. 763–767, 765. 19 Klaus Luig, Die »innoxia utilitas« (Fn. 3) S. 251–266 ; Matthias Armgardt, The Role of aequitas in Leibniz’ Legal Philosophy – a Formal Reconstruction, in : Wenchao Li u.a. (Hg.), »Für unser Glück oder das Glück anderer«. Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Bd. VI (2017), S. 305–314, 308–311. 20 Die Idee einer Vereinigung von Individual- und Kollektivwohl gehört zu den zentralen Elementen von Leibniz’ Gerechtigkeitstheorie, näher unten 10. Kapitel III.
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In eine ähnliche Richtung zielt die Überlegung, dass durch einen solchen Nutzen, soweit er dem Autor selbst zugutekommt, andere in ihren Rechten nicht verletzt werden (»dadurch keinem andern seyn jus quaesitum entzogen wird«). Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass ich, solange mein Verhalten unschädlich ist, nicht nur dem Gemeinwohl nicht zuwider handele, sondern auch erwarten darf, dass andere es respektieren. Davon zu unterscheiden ist das Argument, es sei billig, »daß wer die last hat, auch den nuzen habe«. Es fußt auf der Idee der Reziprozität, in welcher ein weiteres Kriterium der Billigkeit liegt. Leibniz hat sie ansonsten vornehmlich im Zusammenhang mit der sogenannten »Goldenen Regel« erörtert.21 Der Gedanke der Reziprozität findet auch in anderen Passagen der Briefstelle einen Niederschlag, wo er mit dem erwähnten Anreizgedanken kombiniert wird : Je mehr Schutz der Urheber erlangt, desto mehr wird er sich künftig mit seinem Schaffen »verdienet machen können«. Dass ein solcher Anreiz das Gemeinwohl fördert, steht für Leibniz außer Zweifel. Neben der innoxia utilitas sind Reziprozität und Anreiz die wohl wichtigsten Argumente, worauf er die Legitimation eines ›Urheberrechts‹ zu stützen sucht. Letztlich verwirklicht das ›Urheberrecht‹ das naturrechtliche Gebot des suum cuique tribuere, das unabhängig von positiver Gesetzgebung existiert und durch diese allenfalls seine Anerkennung und Ausgestaltung erfährt.22 Unter dem Stichwort der »application« nennt Leibniz noch eine weitere Funktion, nämlich die Bedeutung des ›Urheberrechts‹ für das öffentliche Interesse. Das »Eigentum« spielt bei der Legitimation des Schutzes immaterieller Güter dagegen keine Rolle. Das zeigt sich schon darin, dass Leibniz das Herrschaftsrecht des Schöpfers nicht aus dem strengen Recht (ius strictum), sondern aus der Billigkeit (aequitas) ableitet. Darauf ist noch zurückzukommen.23
21 Siehe unten 8. Kapitel V. 22 Noch heute wird das Urheberrecht bisweilen auf das Naturrecht und die Billigkeit zurückgeführt, vgl. z.B. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht (Fn. 15), Rn. 5 (S. 3). Siehe auch das durch die Renaissance des Naturrechts in der Nachkriegszeit geprägte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. Mai 1955, in : BGHZ 17, S. 267–296, 277–280. 23 Unten VI 2. Das Eigentum ordnet Leibniz dem ius strictum und damit einer »Stufe« zu, die er von der Billigkeit (aequitas) unterscheidet (näher 3. Kapitel IV 1). Zu den einzelnen Rechtsprinzipien (und der besonderen Rechtsquellensituation, in welcher diese formuliert wurden) siehe das 3. und 4. Kapitel. Ob eine Verbindung mit seinem Lehrer Jakob Thomasius besteht (1. Kapitel I), der 1673 eine Arbeit »De plagio literario« vorgelegt und im Plagiat ebenfalls eine Verletzung der »Billigkeit« bzw. der »iustitia distributiva« gesehen hat, muss hier offen bleiben, siehe Renate Frohme, Jacob Thomasius, De plagio literario, Leipzig 1673, in : UFITA 123 (1993), S. 15–27. Reizvoll wäre es ferner zu untersuchen, ob Parallelen mit den Argumenten anderer Zeitgenossen bestehen, die ebenfalls für den Schutz von Autoreninteressen eintraten. Zu Justus Henning
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III. Zwischenergebnis Die Ablehnung seiner Eingabe an den Kaiser und die insgesamt unklaren Rechtsverhältnisse waren für Leibniz mit großen Gefahren verbunden.24 Es bestand nicht nur das Risiko, dass sich seine Investitionen nicht amortisieren, sondern dass dramatische wirtschaftliche Verluste eintreten. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufgabe des Projekts nur konsequent. Die Verweigerung des Druckprivilegs hatte zur Folge, dass Deutschland weiterhin ohne eine wissenschaftliche Bibliographie auskommen musste, hinter den fortgeschritteneren Nationen Europas also zurückblieb. Modern gesprochen fehlte Leibniz jeder »Anreiz«, um als Schöpfer im Interesse des Gemeinwohls zu wirken. Dabei verdient Hervorhebung, dass »Anreiz« im Zusammenhang mit seinen Projekten nicht im Sinne von »Entlohnung« oder gar »Gewinnmaximierung« zu begreifen ist, wie es heutige Erklärungen des Urheberrechts oftmals nahelegen. Leibniz hat nämlich wiederholt betont, er wolle mit seinen Werken nichts verdienen, sondern lediglich die Unkosten decken.25 Leibniz gehört zu jenen Schöpfern, die ihre Werke unabhängig von einer möglichen Entlohnung schaffen. Die ihn treibende Kraft war weniger die Aussicht auf Anerkennung, der Wunsch nach Ruhm oder die schlichte Freude am Schaffen, sondern vor allem das Streben, einen Beitrag zur Förderung der Wissenschaften zu leisten.26 Eine Grenze ist aber auch für Leibniz dort erreicht, wo er oder sein Verleger nicht nur mit keiner Entlohnung, sondern auf Grund des Nachdrucks mit herben wirtschaftlichen Verlusten zu rechnen hat. Ob eine solche komplexe Motivlage mit den Kategorien der Anreizlehre überhaupt zu erfassen ist, mag hier dahinstehen. Das Beispiel Leibniz zeigt jedenfalls, dass es nicht zwangsläufig, wie oft behauptet, die mangelnde Amortisation von Kosten ist, die den Rückgang von Investitionen und damit längerfristig eine Unterversorgung
Böhmer (1674–1749), Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) und anderen Naturrechtslehrern siehe Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht (Fn. 4), S. 115–135. 24 Unklarheiten resultierten zudem daraus, dass oftmals selbst Privilegien nur einen unzureichenden Schutz vor Nachdruck zu bieten vermochten (dazu auch nachstehend V 1). 25 Siehe z.B. seinen Brief an den Frankfurter Drucker und Verleger Johann David Zunner von Mitte (?) März 1694, in : AA I 10, S. 299–301, 300 (dazu auch im folgenden Abschnitt). 26 Zu den Motiven vgl. Leibniz, Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät in Deutschland zu Aufnehmen der Künste und Wissenschaften, in : Hans Heinz Holz (Hg.), Politische Schriften II (1967), S. 42–47, 42 f. Dazu auch Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1220 (mit dem Hinweis, dass Leibniz bisweilen auch patriotisch argumentierte).
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mit geistigen Gütern zur Folge hat, sondern die schlichte Aussicht auf den totalen wirtschaftlichen Ruin.
IV. Die Veröffentlichung des »Codex Juris Gentium Diplomaticus« Nach seinem Wechsel an den Hof in Hannover gehörte es zu Leibniz’ vornehmsten Aufgaben, als Jurist und Historiker für die politischen Ansprüche seines neuen Arbeitgebers zu wirken. Diesem Zweck diente schon die staatsrechtliche Arbeit De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae, die noch unter Herzog Johann Friedrich (1625–1679) entstanden ist.27 In ähnlicher Weise war er später im Interesse Ernst Augusts (1629–1698) tätig, der die Rangerhöhung seines Herzogtums zu einem Kurfürstentum vorbereitete. Aus diesem Anlass musste Leibniz sich grundlegend mit staats- und völkerrechtlichen Fragen befassen. Nachdem er im Jahre 1685 mit seinen Forschungen als Historiker des Welfenhauses begonnen hatte, eröffnete ihm die Übernahme des Wolfenbütteler Bibliotheksdirektorats ab 1691 die Möglichkeit zur Publikation historischer Quellen. Diese stammten zum Teil aus der Wolfenbütteler Bibliothek, zum Teil hatte Leibniz sie auf seinen Reisen aber auch selbst zusammengetragen oder von Korrespondenten erhalten. Als das berühmteste Werk dieser Art darf sein im Mai 1693 publizierter Codex Juris Gentium Diplomaticus bezeichnet werden, den der Hofbuchdrucker Samuel Ammon in Hannover verlegt hatte. Ein zweiter Band des Codex, die Mantissa Codicis Juris Gentium Diplomaticus, ist 1700 erschienen. Sie wurde nicht mehr bei dem Hofbuchdrucker Ammon, sondern bei Gottfried Freytag, ebenfalls in Hannover, verlegt. Den Nutzen der Völkerrechtsgeschichte hat Leibniz in der Praefatio seines Codex Juris Gentium Diplomaticus wie folgt begründet : Urkunden dienen […] nicht weniger dem interessierten als dem von Amts wegen damit befaßten Leser dazu, die entscheidenden Punkte der Geschichte zu studieren. Wer mit Staatsgeschäften zu tun hat, wird in diesen Denkmalen Muster finden, bei deren Untersuchung er entweder mit Freuden seine eigenen Techniken wiederentdecken oder aber zu seinem Nutzen fördern oder Klauseln und Vertragsbestimmungen, wie sie dem Völkerrecht und der staatlichen Rechtspraxis 27 Leibniz (unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius), De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae (1677), in : AA IV 2, S. 3–270 (zuvor war die bis heute nicht ins Deutsche übersetzte Schrift bei Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, Bd. IV 3, 1768, S. 329–496, publiziert worden, vgl. 5. Kapitel I).
Die Veröffentlichung des »Codex Juris Gentium Diplomaticus«
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angemessen sind, angewandt finden kann. Vor allem verfügt er in diesen Urkunden über Muster und Vorbilder, aus denen er sich für neue Verhandlungen belehren und auf die er sich im Fall von Auseinandersetzungen berufen kann.28
Der Codex Juris Gentium Diplomaticus enthält eine Sammlung verschiedener völkerrechtlicher Dokumente : Verträge, Friedensschlüsse, Ehevereinbarungen und Testamente aus dem 12. bis 15. Jahrhundert, die zum Gebrauch für Historiker, Politiker und Juristen bestimmt waren. Die Hintergründe der Veröffentlichung des Werks und seiner Verbreitung sind durch die Forschung in den letzten Jahrzehnten gut ausgeleuchtet worden.29 Im Folgenden soll auf dieser Basis versucht werden, eine grobe Skizze von den persönlichen Erfahrungen des Autors Leibniz mit den urheberrechtlichen Gegebenheiten seiner Zeit zu entwerfen. Zur Marktmacht der Verleger um 1700
Mit Samuel Ammon hat Leibniz einen Hofbuchdrucker zum »Verleger« seines Codex erhoben, der über kein eigenes Vertriebsnetz verfügte. Diesen Nachteil glaubte er dadurch ausgleichen zu können, dass er sich nicht nur um die Verlagsverhandlungen, sondern vor allem auch um die Werbung weitgehend selbst kümmerte.30 Auf diese Aktivitäten dürfte es zurückzuführen sein, dass im Vorfeld der Publikation von verschiedener Seite ein reges Interesse an dem Buch bekundet wurde.31 Gleichwohl vermochte Ammon auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1693 nur zwei Exemplare abzusetzen. Zur Erklärung dieses Misserfolgs sind mehrere Gründe angeführt worden : So wurde auf die durch eine 28 Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 151. Bei Babin und van der Heuvel findet sich auch eine Übersetzung der wichtigen Einleitung zur Mantissa (a.a.O., S. 211– 217). 29 Eine Schilderung der Vorgeschichte des Codex Juris Gentium Diplomaticus findet sich z.B. bei Horst Eckert, G.W. Leibniz’ Scriptores Rerum Brunsvicensium. Entstehung und historiographische Bedeutung (1971), S. 22–27. Siehe auch den Überblick bei Gustav Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, in : Festgabe für Jhering (1892), S. 3–121, 60–64. Zu den von Leibniz verwendeten Textgrundlagen Rüdiger Otto, Leibniz’ Codex juris gentium diplomaticus und seine Quellen, in : Studia Leibnitiana, Band XXXVI/2 (2004), S. 147–177. 30 Dazu näher Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1287–1291 (speziell zu Leibniz’ Bemühungen, im Ausland Interesse für sein neues Werk zu erregen). 31 Zur großen Zustimmung, die Leibniz’ Werk gefunden hat, siehe Rüdiger Otto, Leibniz’ Codex juris gentium diplomaticus im Urteil der Zeitgenossen – eine Bestandsaufnahme, in : Studia Leibnitiana, Band XXXV/2 (2003), S. 162–193, 162–171. Es sind aber auch Einwände erhoben worden (Otto, a.a.O., S. 171–172).
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französische Invasion verursachten Transportprobleme und die kaufmännische Unbedarftheit des Hofbuchdruckers hingewiesen. Darüber hinaus ist vermutet worden, Ammon habe in Wirklichkeit mehr Bücher abgesetzt, als er Leibniz gegenüber erklärt hatte.32 Über die Ursachen des Misserfolgs lässt sich letztlich nur spekulieren. Einer der Hauptgründe dürfte aber darin liegen, dass Ammon eben kein Verleger und Händler, sondern ein Hofbuchdrucker war. So berichtet Ammon, dass die Buchhändler auf der Messe zwar bereit waren, das Werk gegen andere Bücher einzutauschen, sich aber weigerten, es gegen Barzahlung abzunehmen.33 Darauf konnte Ammon sich nicht einlassen, weil er als Drucker kein Geschäft besaß, um die Changeartikel auf dem Markt anzubieten und mit Gewinn abzusetzen.34 Nach Meinung von Leibniz’ Halbbruder Johann Friedrich Leibniz bildeten die gewerbsmäßigen Verleger eine Art Allianz gegen die Drucker, Nichtbuchhändler, Nichtverleger oder Selbstverleger, indem sie nicht mit Bargeld, sondern mit Ware »zahlen« wollten : Aber ehe ein Buch gegen Barzahlung verkauft wurde, wechselten eben schon 20 Exemplare im Tauschgeschäft den Besitzer.35 Bei der nächsten Leipziger Frühjahrsmesse 1694 trat dann nicht mehr Ammon, sondern der Hannoversche Buchhändler N. Förster als Verkäufer des Codex Juris Gentium Diplomaticus auf. Das Ergebnis war ebenso niederschmetternd wie im Vorjahr : Förster vermochte nur ein einziges Exemplar »an den Mann« zu bringen.36 Alles in allem bekamen die Marktmacht der Verleger also diejenigen zu spüren, die außerhalb von deren Interessengruppe eigene Vertriebswege ausfindig zu machen suchten. Dies galt insbesondere für einen Selbstverlag von Autoren. Zwar wehrte sich Leibniz mit Entschiedenheit gegen einen derartigen Verdacht, wenn er betont, dass nicht er, »sondern Herr Ammon das Werck verleget« habe.37 Gleichwohl dürfte die Annahme zutreffen, Leibniz habe den Codex im 32 Brief von Otto Mencke (1644–1707) an Leibniz vom 24. Mai (3. Juni) 1693, in : AA I 9, S. 463–464, 463. Mencke war Herausgeber der ersten deutschen Gelehrtenzeitschrift, der Acta eruditorum – einer in lateinischer Sprache publizierten Monatszeitschrift, für die Leibniz viele Artikel verfasst hat. Mencke promovierte 1668 bei Jakob Thomasius (1. Kapitel I) und war seit 1669 Professor für Moral und Politik an der Universität Leipzig. Die Acta eruditorum erschienen erstmals 1682 und wurden 1782 eingestellt. 33 Brief von Samuel Ammon vom 10. (20.) Mai 1693 an Leibniz, in : AA I 9, S. 440–441, 441. 34 Leibniz missbilligte diese Praxis und die damit verbundene Rabattpolitik (zumal der Verlag seines Codex nicht auf Gewinn berechnet war, sondern nur die Unkosten decken sollte), vgl. die Nachweise bei Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1286. 35 Brief von Johann Friedrich Leibniz (1632–1696) an Leibniz vom 1. (11.) Juli 1693, in : AA I 9, S. 693–694, 694. 36 Brief von Samuel Ammon an Leibniz vom 25. Mai (4. Juni) 1694, in : AA I 10, S. 409–410, 410. 37 Brief von Leibniz an Johann David Zunner (Fn. 25), S. 299.
Unerlaubter Nachdruck des Codex Juris Gentium Diplomaticus
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Wege eines »verkappten Selbstverlags« publiziert, zumal er mit seinen Werken nicht verdienen, sondern nur die Unkosten decken wollte :38 »Ich vergnüge mich mit der approbation des publici.«39 Es ist also zu vermuten, dass Leibniz von der Abneigung der Verleger gegen den Selbstverlag von Autoren wusste. Warum hat er den Hofbuchdrucker Ammon dann zur Übernahme des Werks bewogen ? Das Hauptmotiv dürfte darin liegen, dass es ihm vor allem auf einen sauberen Druck ankam und ihm seine Stellung als Hofrat die Möglichkeit eröffnete, die Herstellung des Codex zu überwachen. Dass Ammon kaum imstande war, für den Vertrieb des Buches zu sorgen, glaubte er dadurch kompensieren zu können, dass er mit seinen vielfältigen Kontakten sowohl im Inland als auch im Ausland eifrig die Werbetrommel rührte. Letztlich dürfte die Überzeugung, dass ein gutes und gedankenreiches Buch, sauber gedruckt wie der Codex, seinen Weg zum Kunden finden müsse, zu einer Unterschätzung der Kräfteverhältnisse im Verlagswesen geführt haben. Die Verleger haben diese Zusammenhänge durchschaut und weigerten sich, Exemplare in nennenswertem Umfang aufzukaufen. Der weitgehende Ausschluss von Bargeschäften entfaltete de facto eine Sperrwirkung, mit welcher sie einen Schutz gegen Geschäftsfremde errichteten. So sah sich der Buchdrucker Ammon, der auf Barzahlung angewiesen war, mit Bedingungen konfrontiert, die er nicht akzeptieren konnte. Ein Verkauf mit Rabatt kam nicht in Betracht, weil eine Publikation, die nur die Unkosten decken sollte, in diesem Fall empfindliche Verluste produzieren würde. Auch auf eine »Vergütung« mit »Ware« konnte Ammon sich nicht einlassen, weil ein Hofbuchdrucker keine Möglichkeit hatte, die eingetauschten Artikel wieder abzusetzen. In einer solchen Boykott-Situation war es also nicht einmal möglich, die zweifellos vorhandene Nachfrage der Kunden an dem Codex zu decken.
V. Unerlaubter Nachdruck des Codex Juris Gentium Diplomaticus in den Niederlanden Neben den Problemen beim Verkauf des Codex Juris Gentium Diplomaticus drohte die Gefahr seiner völligen Zerstörung durch einen Nachdruck in Holland. Zwar hatte Leibniz sich in kluger Voraussicht gleich zu Beginn seiner Pu38 So Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1294. 39 Brief an Johann David Zunner (Fn. 25), S. 301. Zudem hat Leibniz wiederholt hervorgehoben, dass der Hof den Druck nicht mitfinanzierte, siehe nur den Brief an Otto Mencke vom 12. (22.) Februar 1693, in : AA I 9, S. 302–304.
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blikationstätigkeit um Druckprivilegien nicht nur in Wien, sondern auch in Sachsen und Holland bemüht, wo die kaiserlichen Privilegien nicht anerkannt wurden. Diesen Versuchen aber war, wie bereits angedeutet, kein Erfolg beschieden. Lediglich für seinen Codex Juris Gentium Diplomaticus erhielt er anstelle des beantragten 20-jährigen Schutzbriefes eines der gewöhnlichen kaiserlichen Druckprivilegien auf 10 Jahre.40 Nun weckten das große Interesse, das dem Codex von allen Seiten entgegengebracht wurde, der beachtliche Beifall, den insbesondere die dem Buch vorangestellte Praefatio erfahren hatte, und der Umstand, dass das Werk nur durch ein deutsches kaiserliches Privileg geschützt war, Begehrlichkeiten bei ausländischen Verlegern, die bald mit dem Gedanken eines Nachdrucks spielten. Leibniz hatte wohl bereits im Frühjahr 1694 von den Plänen einer Gemeinschaft von Verlegern um den Niederländer Adriaan Moetjens erfahren. Moetjens wollte alle für ihn irgendwie erreichbaren Friedensverträge, also auch die in Leibniz’ Codex Juris Gentium Diplomaticus aufgenommenen Dokumente, sammeln und in einem mehrbändigen Werk veröffentlichen. Der Niederländer plante, die Quellen in chronologischer Reihenfolge abzudrucken, was eine Auflösung der im Codex vorgesehenen Ordnung bedeutet hätte.41 Leibniz musste also eine völlige Zerstörung seines Werks befürchten. Es nimmt daher nicht wunder, dass er mit allen Mitteln versuchte, die Idee, auf welcher die Anordnung des Codex beruhte, notfalls auch im Rahmen eines Nachdrucks, zu retten. 1. Das Scheitern aller Rettungsversuche
Leibniz wollte einen erneuten Abdruck der in seinem Codex Juris Gentium Diplomaticus versammelten Texte durch die niederländische Verlegergemeinschaft nicht grundsätzlich ausschließen. Doch stellte er Bedingungen. So forderte er wegen der Vielzahl und Einzigartigkeit der Quellen ein Mitspracherecht bei der Edition, jedenfalls sollten seine Beiträge von den übrigen separiert und geschlos-
40 Gegen Zahlung von 40 Reichstalern und die Pflicht zur Lieferung von sechs Freiexemplaren an den Reichshofrat, vgl. den Brief von Johann Christoph Freiherr von Limbach an Leibniz vom 28. Juni (8. Juli) 1691, in : AA I 6, S. 547–548, 547 (Limbach war Hannoverscher Hofrat und Gesandter in Wien, der später zum Geheimen Legationsrat befördert wurde). 41 Das Werk ist unter dem folgenden Titel auch realisiert worden : Recueil des traitez de paix, de trêve, de neutralité, de suspension d’armes, de confédération, d’alliance, de commerce, de garantie et d’autres actes publics comme contrats de mariage, testaments, manifestes, declarations de guerre […] depuis la naissance de Jesus-Christ jusqu’à présent, 4 Bde., Amsterdam, chez Henry et la veuve de T. Boom. A La Haye, chez Adriaan Moetjens, Henry van Bulderen (1700).
Unerlaubter Nachdruck des Codex Juris Gentium Diplomaticus
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sen gedruckt werden.42 Die restlichen, noch unverkauften Exemplare (»quelques centaines«) des Codex Juris Gentium Diplomaticus müsse Moetjens von Ammon übernehmen, ebenso den kompletten zweiten Band des Codex, dessen Manuskript schon fast abgeschlossen sei.43 Für den Fall, dass Moetjens diese Forderungen erfülle und es zu einer einvernehmlichen Lösung komme, bot Leibniz der Verlegergemeinschaft andere reizvolle Manuskripte zum Druck an, die Materialien enthielten, die ihm von hohen Ministern zur Verfügung gestellt worden seien.44 Ein Nachdruck des weder verkauften noch vollendeten Codex Juris Gentium Diplomaticus hätte also nicht nur Leibniz’ »Verleger« Ammon, sondern auch dem Werk als solchem schweren Schaden zugefügt. Es musste daher wie eine Drohung klingen, wenn Leibniz Moetjens ausrichten ließ : »J’ai moyen de me faire justice.«45 Die Frage ist nur, welche Mittel das sein konnten. Gegen einen Nachdruck in Holland vermochte kein Ausländer etwas auszurichten – nicht nur Deutsche, sondern auch Franzosen oder Engländer waren davon betroffen. Die Freiheiten der niederländischen Verleger gingen so weit, dass sie nicht einmal auf holländische Privilegien von Ausländern Rücksicht nehmen mussten. So erschien es nur folgerichtig, dass die Generalstaaten ab 1728 überhaupt keine Privilegien mehr vergaben, weil auf diesem Weg ein Nachdruck nicht zu verhindern war.46 Bereits im Jahre 1673 gelangte der bekannte, auch als »wirtschaftspolitischer Lehrer« von Leibniz bezeichnete Merkantilist Johann Joachim Becher (1635–1682) zu der resignierenden Feststellung : Teutsche in Hollandt nicht allein wenig Privilegia auff ihre Bücher erhalten, sondern auch die erhaltene darinnen nicht gehalten, sondern alles darinnen nachgetruckt, und manch ehrlicher Mann dadurch verdorben wird.47
42 Brief an den französischen Gelehrten Henri Basnage de Beauval (1653–1723) vom 20. (30.) Juni 1695, bei Carl Immanuel Gerhardt, Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Bd. 3 (1887), S. 116–117 (Basnage de Beauval war ein protestantischer Schriftsteller und Herausgeber). 43 Brief an Adriaan Moetjens vom 26. März (5. April) 1695, in : AA I 11, S. 377–379. 44 Brief von Leibniz an Gui Leremite dit Candor vom 24. Februar (?) 1695, in : AA I 11, S. 279–281. 45 Brief von Leibniz an Gui Leremite dit Candor vom 24. Februar (?) 1695 (Fn. 44), S. 279. 46 Johann Goldfriedrich, Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westphälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (1648–1740), 1908, S. 212–220, 217. 47 Johann Joachim Becher, Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republicken, 2., vermehrte Auflage, Frankfurt am Main (1673), 4. Auflage, Frankfurt am Main und Leipzig (1721), 5. Auflage (1754), S. 141 (hier zitiert nach der 2. Auflage). Zu Bechers Verbindungen mit Leibniz und seinen Forderungen nach einem staatli-
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In Deutschland gab es ebenfalls solche Probleme mit der »Implementation« von Normen. So war durch Dekret des Kaisers sogar der Nachdruck unprivilegierter Werke bereits im Jahre 1685 verboten worden.48 Doch ließen sich selbst renommierte Verleger durch eine kaiserliche Verordnung nicht von einem Nachdruck abhalten.49 Im Grunde hatte Leibniz keinerlei juristische ›Mittel‹, auf welche er sich bei den Versuchen um eine Rettung seines Codex hätte stützen können. Er dachte wohl eher an Personen von hohem Rang, von denen er hoffte, dass sie ihm, weil sie bei der Sammlung der Quellen behilflich waren, zur Seite stehen konnten.50 2. Verhöhnung durch die niederländischen Verleger
Moetjens hatte wenig Anlass, die ›Drohungen‹ des Gelehrten ernst zu nehmen. In seiner Antwort an Leibniz spielt er die Bedeutung der Angelegenheit denn auch herunter, wenn er meint, die ganze Konzeption seines Projekts sei von derjenigen des Codex sehr verschieden und der daraus übernommene Teil der Quellen sei viel geringer als Leibniz annehme.51 Würde diese Aussage zutreffen, so hätte es sich nicht um einen ›vollständigen‹, sondern um einen teilweisen Nachdruck gehandelt, der aus heutiger Sicht freilich ebenso geeignet war, den Tatbestand einer Urheberrechtsverletzung zu erfüllen. Dass Moetjens nicht die Wahrheit sagte, sondern Leibniz in erster Linie zu beschwichtigen suchte, offenbart eine Passage aus dem kommentierten Literaturverzeichnis des Recueil, in welcher über den Codex Juris Gentium Diplomaticus gesagt wird : »Nous l’avons
chen Eingriff in das Verlagswesen durch die Gewährung von Druckprivilegien siehe Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1243–1246 (siehe auch unten VI). 48 Vgl. Hans Widmann, Geschichte des Buchhandels, Teil 1 (1952), 2. Auflage (1975), S. 102–125, 109. Daneben gab es mit empfindlichen Strafen bewehrte Nachdruckverbote in Satzungen von Verlegergemeinschaften wie der »Frankfurter Societas« (1661) oder in Buchhandelsordnungen wie der »Verglichenen Puncta« (1669), die freilich ebenfalls nur geringe Wirkung entfalteten, Nachweise bei Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1205 f., 1208. 49 Es gibt freilich auch Beispiele, die zeigen, dass die Kaiser noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Lage waren, ihre Rechte durchzusetzen, vgl. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1970), S. 138 ; ders., Ein Eingriff in das Kaiserliche Bücherregal : die Begründung des »Hanauer Bücherumschlages« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in : UFITA 50, Teil B (1967/ II), S. 625–636. 50 In der Praefatio der Mantissa Codicis Juris Gentium von 1700 (Fn. 28) nennt er in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Kurfürsten von Brandenburg. 51 Brief von Adriaan Moetjens an Leibniz vom 21. Januar 1696, in : AA I 12, S. 335–337, 336.
Die Veröffentlichung des »Codex Juris Gentium Diplomaticus«
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presque tout inséré dans ce Recueil.«52 Jüngere Untersuchungen haben denn auch zeigen können, dass z.B. im ersten Band des Recueil, der Urkunden aus den Jahren 536 bis 1500 enthält, alle Urkunden des Codex zu finden sind, die aus der Zeit von 1097 bis 1499 stammen.53 Leibniz beharrte aber darauf, dass sein Codex unberührt gelassen wird. Nachdem eine einvernehmliche Lösung ausgeschlossen und jeder Kontakt mit der Verlegergemeinschaft abgebrochen war, blieb ihm nur noch die Hoffnung, das Unternehmen insgesamt stoppen zu können. Über einen Korrespondenten suchte er eine vorläufige Einstellung des Recueil-Drucks zu erwirken. Auch sei er gerne bereit, ein niederländisches Druckprivileg zu beantragen, wenn es denn tatsächlich Schutz bieten könne.54 Während er jedoch am Ende einsehen musste, dass seine Bemühungen keinerlei Erfolgsaussichten hatten, verwirklichten die niederländischen Verleger ihr Vorhaben, wobei sie den Codex Juris Gentium Diplomaticus in der angekündigten Weise verwerteten. Es ist vermutet worden, dass der Recueil erst im Jahre 1700 erschienen ist, weil die Verleger die Publikation des von Leibniz angekündigten Fortsetzungsbandes abwarteten, um auch diesen noch ihrer Sammlung einverleiben zu können.55 Umgekehrt hat Leibniz seine Mantissa Codicis Juris Gentium erst nach Erscheinen des Recueil publiziert, um eben dieses zu verhindern. Die darüber aufgebrachten niederländischen Verleger sannen auf Rache. In ihrem Vorwort tadelten sie Leibniz dafür, dass er den angekündigten Band nicht rechtzeitig vorgelegt und sie damit gleichsam um die Früchte ihres Wartens betrogen habe : »Nous […] aurions bien souhaité, qu’il eût publié les autres Volumes, ainsi qu’il le promet dans son titre ; pour en pouvoir profiter.«56 52 Recueil des traitez de paix (Fn. 41), S. XLIV. 53 Siehe Otto, Leibniz’ Codex juris gentium diplomaticus und seine Quellen (Fn. 29), S. 155 ; Stein-Karnbach, Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1299. 54 Brief an den braunschweigisch-lüneburgischen Residenten Johann Valentin Siegel vom 21. (31.) Januar 1696, in : AA I 12, S. 361–362. 55 Otto, Leibniz’ Codex juris gentium diplomaticus und seine Quellen (Fn. 29), S. 155 f. 56 Recueil des traitez de paix (Fn. 41), S. XLIV. Es fällt auf, wie gering das Unrechtsbewusstsein der niederländischen Verleger entwickelt war. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine breitere öffentliche Debatte über die Rechtmäßigkeit von Nachdrucken einsetzte. Diese mündete in einen Kampf der Autoren und legitimen Verleger gegen Nachdrucker, der in der Folgezeit zum Teil mit großer Erbitterung geführt wurde. So hatte z.B. Adolf Freiherr von Knigge (1752–1796), der vor allem durch seine Schrift »Über den Umgang mit Menschen« (1788) bekannt geworden ist, noch in den 1790er-Jahren für die Nachdrucker Partei ergriffen, vgl. Hellmut Rosenfeld, Zur Geschichte von Nachdruck und Plagiat, in : AGB 11 (1971), S. 338–372. Siehe auch den mit »fünf Argumente für den Nachdruck« überschriebenen Abschnitt bei Seifert, Kleine Geschichte(n) des Urheberrechts (Fn. 7), S. 109–110.
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Als leuchtendes Beispiel stellten sie Leibniz den heute völlig unbekannten, als Urkundensammler tätigen Juristen Libert Frantz Christyn gegenüber, der aus natürlicher Neigung (l’inclination naturelle) nicht gezögert habe, im Sinne des öffentlichen Wohls (l’utilité publique) zu handeln, indem er seine Materialien in großzügiger Weise (généreusement) zur Verfügung gestellt habe.57 Leibniz, der bekanntlich das bonum commune als ein Grundprinzip seiner Philosophie und allen Handelns verstanden hat, erscheint hier als eine Person, die auf Kosten des öffentlichen Wohls unerbittlich ihre eigenen Ziele verfolgt. Von den wirtschaftlichen Interessen der Verleger an einer Vereinnahmung von Leibniz’ Werk ist in dem Vorwort selbstverständlich nicht die Rede. In seiner Rezension des Recueil bewahrt Leibniz die Contenance und zeigt als Urheber den illegitimen Verlegern gegenüber wahre Größe. Er verzichtet auf eine Replik und bemerkt im Rahmen der ausführlichen Zusammenfassung seiner eigenen, von den Niederländern plagiierten Vorrede in einer Fußnote lediglich : »Und dieses, wie auch das meiste, was sonsten in dieser Vorrede notabel, hat der Autor aus des berühmten Herrn Leibnizers Vorrede entlehnet.«58 Diese Zurückhaltung erinnert an die Zeit, als ihm die Leipziger Juristenfakultät die Würde eines Doktors der Rechte versagt und er aus diesem Grund an die Universität in Altdorf hat ausweichen müssen. Viele Jahre später (1708) spricht er sich in einem Brief an den Leipziger Professor Adam Rechenberg über das Wiedererblühen seiner Heimatstadt aus und sucht jeden Vorwurf gegen die Fakultät auf sich selbst und seine eigene Ungeduld mit dem glaubensvollen Trostwort abzulenken : »hominum autem errores divina providentia reguntur.«59 Von der Gottheit als dem Vollkommenen kann nur das Vollkommene herrühren, das 57 Recueil des traitez de paix (Fn. 41), S. X. 58 Monatlicher Auszug aus allerhand neu-herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern, hg. v. J.G. Eckhard, Hannover, Februar/März 1700, S. 75–97, S. 80 (Anmerkung a). In seiner Rezension kommt Leibniz auch auf die Leistungen des Juristen L.F. Christyn zu sprechen, den die niederländischen »Autoren« ihm als leuchtendes Beispiel gegenübergestellt haben. Zu den einschlägigen Passagen des Recueil heißt es bei Leibniz lapidar : »Es wird dabey Mr. Libert Frantz Christin Vicomte von Weeren und Duisburg sc. gerühmet, daß er ein grosses zu diesem Wercke contribuiret ; ingleichen wird auch des Herrn Leibnitzers rühmlich gedacht«, was leider alles andere als wahr ist (a.a.O., S. 86 – Hervorhebung im Original). 59 Vgl. die Nachweise bei Gustav Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph (Fn. 29), S. 17. Siehe auch Sprüche 25, 21–22 ; Römer 12, 17–21. Dagegen berichtet Christian Wolff (vgl. 1. Kapitel III), Leibniz habe sich über seine Heimatstadt stets beklagt und sie nicht mehr wiedersehen wollen. Wolff sagt, er habe »dies selbst von Leibniz vernommen«, vgl. Heinrich Wuttke, Ueber Christan Wolff den Philosophen, in : ders. (Hg.), Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung (1841), S. 1–106, 86 (wahrscheinlich hat Leibniz sich in bestimmten Situationen schlicht für ein diplomatisches Verhalten entschieden).
Schutz geistiger Werke durch Selbstregulierung der Wissenschaft
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Vollkommenste unter dem Möglichen. Abermals schließt Leibniz daraus, dass die Welt, weil sie unter den möglichen wirklich geworden ist, auch die beste sei.60
VI. Schutz geistiger Werke durch Selbstregulierung der Wissenschaft Leibniz hielt Druckprivilegien für ein wirksames Gegenmittel zur Eindämmung der Gefahren eines Nachdrucks für Autoren und legitime Verleger. Dieses monopolartige Recht verleite den privilegierten Verleger zwar zu überhöhten Preisen, sei als Mittel zur Förderung von Kunst und Wissenschaft aber unverzichtbar. Nicht ohne Grund ist daher behauptet worden, er habe »für staatlichen Eingriff in den Buchhandel durch kaiserliche Verordnungen« plädiert.61 Schon seine Eingaben an den Kaiser zeigen, dass er meinte, der staatliche Gesetzgeber habe für den Schutz geistiger Schöpfungen zu sorgen. Andererseits war er sich aber darüber im Klaren, dass diese Rechte auch außerhalb des Staates bestehen und sie der Kaiser, wenn er sie denn anerkennt, oft nicht durchsetzen kann. Er zog daher noch eine andere Möglichkeit in Betracht, um den Missständen im Buchhandel abzuhelfen, und zwar eine Art Selbsthilfe, Selbstorganisation oder Selbstregulierung durch die Wissenschaften. Den Ausgangspunkt bilden seine Überlegungen zu den Sozietäten, aus denen dann die Einrichtung einer Akademie der Wissenschaften hervorgegangen ist.62 1. Gruppenbildung zur Verteidigung gegen die Marktmacht der Verleger
Weil die Buchhändler oder Verleger »oft bloß und allein auf ihren Vortheil sehen«, möchte Leibniz einer Sozietät die Kontrolle über den Buchhandel übertragen. Denn die Gelehrten müssten »nach der meist ungelehrten buchhändler offt schlechten urtheil sich richten«, sie seien »großen theils der buchhändler 60 Leibniz, Abhandlung von der wahren Theologia mystica (1695), in : Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 410–413 (siehe hierzu auch die Ausführungen in der Schlussbemerkung). 61 Stein-Karnbach, G.W. Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1246 (mit Hinweisen auf Parallelen mit den Auffassungen des Merkantilisten Johann Joachim Becher). 62 Zu den Bezeichnungen »Societät« und »Academie« siehe Leibniz im Brief an den Theologen, Hofprediger und Mitbegründer der späteren Preußischen Akademie der Wissenschaften Daniel Ernst Jablonsky (1660–1741) vom 26. März 1700, in : AA I 18, Nr. 275 (S. 478–485, 480). Deren Hauptziel bestehe darin, »Künste und Wissenschaften zu vermehren« sowie »die Literatur zu verbessern, auf das Buchwesen sonderlich ein wachendes Auge zu haben«, Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät in Deutschland (Fn. 26), S. 42 und 43.
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Miedlinge und gleichsam Diener«.63 Um diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu bereiten und um die Unabhängigkeit der Gelehrten zu sichern, wirft er noch wenige Tage vor seinem Tod die Frage auf, »ob nicht in Teutschland eine Societas subscriptionum zu formiren« sei.64 Als Kenner der Missstände des zeitgenössischen Bücherwesens empfiehlt er also die Gründung von Subskriptionsgesellschaften, d.h. den Zusammenschluss von Käufern – oder »Kunden« bzw. »Verbrauchern«, wie wir heute sagen würden – in Form einer Genossenschaft, um ein Gegengewicht gegen die Marktmacht der Verleger aufzubauen. Ziel ist es, durch eine Konzentration des Absatzes die Qualität der Produkte zu heben und die Kosten zu senken. Zu den Gefahren, die den Gelehrten durch die Gewissenlosigkeit der »allein auf ihren Vortheil« bedachten Händler drohten, gehörte vor allem der Nachdruck. Es liegt nahe, dass Leibniz den Sozietäten auch die Aufgabe übertragen wollte, für den Schutz der Rechte von Autoren und legitimen Verlegern zu sorgen. Zwar hat er das Thema in seinen Schriften über die Gründung von Sozietäten nur gestreift und, soweit ersichtlich, nirgendwo zum Gegenstand einer selbständigen Untersuchung gemacht. Doch besteht kein Zweifel, dass ihm die Idee vorschwebte, im Wege einer Selbstorganisation der relevanten Kreise auch den Gefahren eines Nachdrucks für den Buchhandel und die Wissenschaft zu begegnen.65 63 Leibniz, Entwurf über »Societas Carolina« vom Dezember 1711, bei Stein-Karnbach, Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1389–1390. Siehe auch Joachim Kirchner, Ein unbekanntes Schriftstück von Leibniz, in : Johannes Hofmann (Hg.), Die Bibliothek und ihre Kleinodien. Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Leipziger Stadtbibliothek (1927), S. 49–53, 50 ; Malte-Ludolf Babin, Marie-Luise Weber, Rita Widmaier, Einleitung zu AA I 18, Nr. 7 (S. XL–XLV, XLII). 64 Leibniz, Vorschlag zur Gründung einer wissenschaftlichen Buchgemeinschaft vom 28. Oktober 1716, in : Kirchner, Ein unbekanntes Schriftstück von Leibniz (Fn. 63), S. 50 ; erneut in : Hans Widman (Hg.), Der Deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen (1965), Bd. 2, S. 224–226. Dazu auch Emanuel Peter, Geselligkeiten (1999), S. 156–157 ; Stephanie Rahmede, Die Buchhandlung der Gelehrten zu Dessau (2008), S. 39–41. Zu späteren Formen der Selbstorganisation (z.B. Selbstverlagsunternehmen) siehe Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht (Fn. 7), S. 174. 65 Vgl. etwa Leibniz, Erzählung von der Absicht der preußischen Sozietät der Wissenschaften, was sie bisher geleistet und wodurch sie gehindert worden, in : Politische Schriften II (Fn. 26), S. 90–93, 93 (mit der Forderung, der Sozietät »gewisse privilegia impressioria zu verstatten«, die den angeschlossenen Autoren und Verlegern Sicherheit vor Nachdrucken gewähren könnten) ; ders., Entwurf über »Societas Carolina« vom Dezember 1711, bei Stein-Karnbach, Leibniz und der Buchhandel (Fn. 6), Sp. 1389–1390 (auf Grund einer Beteiligung von Ausländern könnten Privilegien auch von anderen Staaten bewilligt werden, sodass Autoren und Verleger imstande wären, ihre Rechte auf internationaler Ebene zu sichern). Siehe auch die Schrift über die »Philadelphische Gemeinschaft«, in : ders., Politische Schriften II (Fn. 26, S. 21–27), wo Leibniz das Erfordernis eines Schutzes von Erfindern und Erfindungen anspricht, § 32 (S. 24).
Schutz geistiger Werke durch Selbstregulierung der Wissenschaft
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2. Leibniz als Vorläufer der Lehre vom ›Geistigen Eigentum‹ ?
In der Literatur ist gelegentlich bemerkt worden, dass Leibniz zu den Vordenkern einer modernen Lehre vom ›geistigen Eigentum‹ gehöre.66 Die Behauptung wird auf eine Passage in der berühmten Méditation sur la notion commune de la justice gestützt, die vom Erwerb des Eigentums handelt. Die Stelle lautet : Demjenigen, der eine neue Sache produziert oder eine bereits existierende Sache, die jedoch niemand zuvor besaß, sich zu eigen macht und zu seinem Zweck verbessert, kann diese Sache in der Regel nur ungerechterweise genommen werden. Das Gleiche gilt für den, der eine solche Sache von ihrem Besitzer direkt oder indirekt erwirbt.67
Die Ausführungen stehen im Kontext einer Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes, der meinte, das »Recht« habe nicht schon im »Naturzustand« (homo homini lupus est), sondern erst nach Abschluss eines Gesellschaftsvertrages zu existieren begonnen. Leibniz bestreitet dies, indem er am Beispiel des Eigentums darzulegen sucht, warum es schon »vor Gründung der Staaten ein Recht und sogar ein strenges Recht« gegeben habe.68 Die Begriffe von »Eigentum« und »Sache« sind dabei auf einen gegenständlichen Bereich beschränkt. Leibniz hatte keinen Anlass, seine Überlegungen zum Eigentumsrecht und zum Erwerb durch Arbeit auf immaterielle Güter zu erstrecken, zumal deren Schutz in der frühesten Zeit vor »Gründung der Staaten« noch keine Rolle spielte. Es ist daher unzutreffend zu behaupten, Leibniz beantworte in der angeführten Stelle die Frage nach der personellen Zuordnung geistiger Leistungen »wie heute Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht : Dem Denker gehört das von ihm Erdachte«.69
66 Ernst Windisch, Immaterielle Leistungen bei Leibniz, in : Festschrift für Fritz Traub (1994), S. 483–515, 488. Siehe auch Hans Liermann, Barocke Jurisprudenz bei Leibniz, in : Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 2 (1939), S. 348–360, 356 f. 67 Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice : S. 143–163 ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 47. 68 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 67), S. 47 (dazu im 5. Kapitel). 69 So aber Ernst Windisch, Immaterielle Leistungen bei Leibniz (Fn. 66), S. 488. Im Grunde handelt es sich hier um den gleichen Fehler, der bei einer Anwendung der Arbeitstheorie von John Locke
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Im Übrigen ist zu bezweifeln, dass Leibniz, wie später die Verfasser von Naturrechtskodifikationen, eine Erweiterung des Eigentumsbegriffs auf immaterielle Güter befürwortet hätte. Dagegen sprechen mindestens drei Gründe : Erstens seine Anlehnung an die klassische römische Jurisprudenz mit ihrem engen Eigentumsbegriff, woran im 19. Jahrhundert bekanntlich die Pandektisten und die Verfasser des BGB wieder angeknüpft haben.70 Zweitens seine grundsätzliche Abneigung gegen eine zu große Ausdehnung des Eigentumsbegriffs. Dafür bildet sein energischer Widerstand gegen die These von Hobbes, Kinder stünden im Eigentum ihrer Eltern, ein anschauliches Beispiel.71 Allerdings würde es Leibniz keinerlei Problem bereiten, auf Grundlage seiner Philosophie und Rechtslehre die Relevanz immaterieller Güter für die Vermögensordnung anzuerkennen. Denn er hat mit seiner Monadologie die cartesianische Zwei-Welten-Lehre die Unterscheidung von res extensa und res cogitans überwunden und die Frage nach Prinzipien aufgeworfen, die sowohl den körperlichen als auch den nicht-körperlichen Dingen eigen sind.72 Aus dieser Tatsache darf aber nicht gefolgert werden, dass er den Eigentumsbegriff auch auf immaterielle Güter erweitert hätte. Denn Leibniz gründete, und das ist der dritte und entscheidende Gesichtspunkt, das Herrschaftsrecht des ›Urhebers‹ an seinen geistigen Schöpfungen nicht auf das Eigentum, sondern auf das Prinzip der Billigkeit (aequitas). Dass diese auf einer ganz anderen Stufe als das strenge Recht (ius strictum) des Eigentums steht, ist bereits ausgeführt worden.73
VII. Resümee Die durch die Missstände im Buchhandel erzeugten Hemmungen der Wissenschaften sind Themen, mit denen Leibniz sich schon frühzeitig befasst hat. Insoweit besteht eine Parallele zu seinen Plänen für eine Rechtsreform, die ihn (1632–1704) auf immaterielle Güter unterlaufen ist, Rehbinder, Peukert, Urheberrecht (Fn. 15), Rn. 35 (S. 12). Siehe auch Seifert, Kleine Geschichte(n) des Urheberrechts (Fn. 7), S. 119. 70 Dazu näher Meder, Gottlieb Plancks Vorlesungen über »Immaterialgüterrecht« und das »Geistige Eigentum«, in : UFITA 141 (2012), S. 171–196. 71 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 67), S. 47–48. Dazu Meder, Reform des Privatrechts auf Grundlage historischen Naturrechts (Fn. 2), S. 701 (siehe auch oben 3. Kapitel IV 1). 72 Vgl. Konrad Moll, Der junge Leibniz, Bd. III (1996) ; Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005), S. 42–49 ; Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (1996), S. 51–88 (dazu näher im 7. Kapitel I). 73 3. Kapitel IV (und 4. Kapitel).
Resümee
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ebenfalls von jungen Jahren bis an sein Lebensende begleitet haben. In beiden Bereichen bildet eine Verwirrung oder Unordnung den Ausgangspunkt der Reformüberlegungen, einmal die unermessliche Stofffülle zum Teil veralteter oder widersprüchlicher Normen und zum anderen das übergroße Bücherangebot infolge ungebremsten Gewinnstrebens von Buchhändlern und Verlegern. Zu Leibniz’ Zeiten gab es noch keine breitere öffentliche Debatte über die Unrechtmäßigkeit von Nachdrucken. Die obrigkeitlichen Privilegien waren oft nicht durchsetzbar und konnten, wie die Nachdruckverbote von Buchhändler- oder Verlegergemeinschaften, nur geringen Schutz bieten. Leibniz richtet seine Hoffnungen daher weniger auf den Staat als auf eine Selbstorganisation der Wissenschaft. In immer neuen Anläufen kultiviert er eine »Kunst des Zusammenschlusses« (Tocqueville), um ein Gegengewicht zur Marktmacht der Verleger aufzubauen.74 Dieser Ansatz muss in den heutigen Zeiten, in denen der Staat in vielen Bereichen keine Eigenleistungen mehr erbringt, sondern sich darauf beschränkt, einen Rahmen zu gewährleisten, wieder auf Interesse stoßen. Als zukunftsweisend darf zudem die Idee bezeichnet werden, durch Gruppenbildung die Rechte von »Schwächeren«, modern gesprochen : von »Kunden« oder »Verbrauchern« zu stärken. Eine eigene Theorie des Immaterialgüterrechts hat Leibniz nicht formuliert. Für ihn gab es keinen Anlass, z.B. die Frage aufzuwerfen, ob durch einen Nachdruck entweder ein Vermögensrecht oder ein Persönlichkeitsrecht des Autors verletzt werde. Ebenso wenig hat er versucht, das Verhältnis von Sacheigentum und ›Geistigem Eigentum‹ einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Die Reformbestrebungen sind, von einigen knappen Bemerkungen zum Schutz von Erfindungen einmal abgesehen, im Wesentlichen auf die Eindämmung des Nachdrucks durch Privilegien gerichtet. Hier handelt es sich jedoch nicht um jene Rechtsposition, auf welche das moderne Urheberrecht zielt. Denn die Privilegien knüpfen an den Druck als solchen an, während für das Urheberrecht das Geisteswerk den Ausgangspunkt bildet.75
74 Siehe die Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 164–166. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zwischen Leibniz und den Anhängern eines säkularen Naturrechts. Während so verschiedene Autoren wie Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant Recht und Staat weitgehend gleichsetzen und eine Rechtsetzungskompetenz von ›Assoziationen‹ bestreiten (Meder, a.a.O., S. 119–136), zieht Leibniz zwischen dem Recht auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite eine deutliche Grenzlinie. Die von ihm bejahte Möglichkeit von Recht außerhalb des Staates bildet die Voraussetzung für eine Anerkennung der Autonomie intermediärer Zwischenglieder (dazu näher im 5. Kapitel). 75 Das hat zutreffend Manfred Rehbinder hervorgehoben, Urheberrecht (Fn. 15), Rn. 29 (S. 10).
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Inhalte von Leibniz’ Reformbestrebungen
Die genauere Betrachtung zeigt freilich, dass bei Leibniz die Dinge komplizierter liegen. Leibniz geht, indem er an das natürliche Recht, an die Vernunft und an die Billigkeit anknüpft, über die Beschränkungen des Privilegienwesens hinaus. Letztlich sucht er ein Nachdruckverbot mit dem Recht des Schöpfers an seinem geistigen Werk zu legitimieren. Dabei bleibt er ganz Kind seiner Zeit : Es gibt keinerlei Anzeichen für Versuche, den engen Rahmen des Privilegienwesens durch Forderungen nach einer Reform der Gesetzgebung zu sprengen. Gleichwohl darf Leibniz als Vordenker eines modernen Urheberrechts angesprochen werden. Denn über den bloßen Schutz des Drucks hinaus erblickt er in der geistigen Schöpfung als solcher (invention) den maßgeblichen Gesichtspunkt. Hier sieht er eine Gemeinsamkeit nicht nur von Autoren, sondern auch von bildenden Künstlern, Unternehmern oder Erfindern, wie er wiederholt hervorgehoben hat. Über das Urheberrecht hinaus darf Leibniz daher auch als einer der ersten Theoretiker gewerblicher Schutzrechte und des Immaterialgüterrechtsschutzes überhaupt bezeichnet werden.
II. Teil
Korrelate von Metaphysik und Jurisprudenz bei Leibniz am Beispiel der Billigkeit
In den juristischen Arbeiten von Leibniz scheint die Metaphysik nur eine geringe Rolle zu spielen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass er grundlegende Schriften wie De casibus perplexis, Ars combinatoria, Nova methodus, Ratio corporis iuris reconcinnandi, De legum interpretatione oder De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae viele Jahre vor seiner näheren Auseinandersetzung mit Descartes und dessen Schülern verfasst hat. Leibniz’ Fundamentalkritik des Cartesianismus fußt auf mehreren Pfeilern, und zwar zunächst auf seiner Lehre von den beiden Reichen der Zweck- und Wirkursachen, wonach alle Vorgänge auf doppelte Weise zu erklären sind. Hinzu kommen die Fensterlosigkeit der Monaden, die Ablehnung des Okkasionalismus und die Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Maschinen, um nur einige Beispiele zu nennen. Recht und Politik scheinen hier, wenn überhaupt, eine lediglich untergeordnete Rolle zu spielen. Dies gilt namentlich für die »Monadologie«, die zu vier Fünfteln einer Theorie der Substanz (oder der Monade) gewidmet ist.1 Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch durchaus Korrelate zwischen Jurisprudenz und Metaphysik. In jungen Jahren hat Leibniz seine Entdeckung des Rechts durch die Philosophie mit den Worten beschrieben : »Von der Philosophie genährt, hatte ich meinen Geist der Jurisprudenz zugewandt.«2 Im reiferen Alter kommt es erneut zu einer Hinwendung, wobei jetzt die Metaphysik die Führung übernimmt. Hier sei nur an die Überlegungen zur Vereinigung aller Geister im Gottesstaat erinnert, mit denen Leibniz seine Monadologie in den letzten Paragraphen (§§ 83–90) krönt. In den §§ 85, 86 heißt es, daß die Vereinigung aller Geister den Gottesstaat ausmachen muß, d.h. den vollkommensten Staat, der unter dem vollkommensten aller Monarchen möglich ist. Dieser Gottesstaat, diese wahrhaft universelle Monarchie ist eine moralische Welt in der natürlichen und das erhabenste und göttlichste unter den Werken Gottes. 1 Der Begriff »Monade« stammt aus der antiken, griechischen Philosophie und ist zu Leibniz’ Zeiten lebhaft diskutiert worden. Zur Frage, auf welche Quellen Leibniz bei der Formulierung seiner später sogenannten »Monadologie« zurückgegriffen hat, siehe Hanns-Peter Neumann, Monaden im Diskurs (2013) – dort auch zum Entstehungskontext der »Monadologie« (S. 198–215). 2 Siehe die Nachweise im 1. Kapitel II.
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Die Aussagen am Ende der Monadologie sind vornehmlich auf ein ideales, metaphysisches, theologisch motiviertes Geschehen zugeschnitten. Sie lassen sich gewiss als eine Version von Leibniz’ jurisprudence universelle oder seiner Idee von Gerechtigkeit als caritas sapientis deuten. Eine umfassendere Theorie des Rechts oder der Gerechtigkeit enthalten sie aber noch nicht. Um sie als Prolegomena einer solchen begreifen zu können, bedarf es der Rekonstruktion ihres Zusammenhangs mit der juristischen Methode, die Leibniz in früheren Schriften und namentlich in der Nova methodus ausgearbeitet hat. Dabei wäre zu fragen : Lässt sich eine Brücke zwischen der ersten und der zweiten Entdeckung des Rechts durch die Philosophie schlagen ? In welchem Verhältnis steht das Reich der Gnade mit einer anwendungsorientierten Jurisprudenz ? Und welche Konsequenzen folgen daraus für die Politik ? Um hier eine Antwort zu finden, müssen die Superlative der ›Vollkommenheit‹ als Kriterien einer Differenz gelesen werden : Die Vereinigung aller Geister bildet den »vollkommensten Staat«, der unter dem »vollkommensten Monarchen« möglich ist. Eine derartige Vollkommenheit erreichen weder irdische Staaten noch die Menschen, die in einem bestimmten Territorium leben und dort eine Regierung bilden.3 Die Unterscheidung zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit fußt auf der Differenz von Schöpfer und Geschöpf, die letztlich daher rührt, dass der menschliche Geist an einen Körper gebunden ist, dessen »natürliche Trägheit« die »Unvollkommenheit der Kreaturen« bedingt. Auf diese Trägheit sind moralische Unzulänglichkeiten wie Bosheit, Übel, Laster und Ungerechtigkeit zurückzuführen. So ist auch das Gnadenreich vom ius voluntarium zu unterscheiden, dessen Normen mit dem Recht, das niemals ungerecht ist, zwar übereinstimmen, davon aber auch erheblich abweichen können. Der Begriff ›ius voluntarium‹ darf als eine glückliche Wahl bezeichnet werden, weil mit dem Willen (voluntas) der ›moderne‹ Souveränitätsbegriff auf den Prüfstand kommt.4 Die Lehrer säkularen Naturrechts haben nämlich den Fehler begangen, dass sie alle höheren Zwecke leugnen und nur ein Gebiet kennen 3 Zu den Superlativen der Vollkommenheit siehe zunächst nur die §§ 85, 87 und 90 der Monadologie von 1714 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008). 4 Der Begriff war in der Epoche von Aufklärung und Naturrecht freilich weit verbreitet. Sowohl Hugo Grotius als auch Heinrich von Cocceji haben auf das ius voluntarium zurückgegriffen, vgl. die Nachweise bei Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 228 f. Cocceji z.B. meinte, alles göttliche Recht gehöre zum ius voluntarium. Leibniz war dagegen ein entschiedener Gegner nicht nur des politischen, sondern auch des theologischen Voluntarismus. Er hat dem Begriff ius voluntarium daher eine ganz eigene (kritische) Bedeutung zugedacht (siehe 5. Kapitel II und 7. Kapitel III).
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möchten, in welchem der menschliche Wille, die Macht und die (positiven) Gesetze herrschen. Leibniz opponiert gegen den Voluntarismus von Hobbes, der das Recht auf das Gesetz zu beschränken und damit die Jurisprudenz auf nur noch eine – säkulare – Struktur zu reduzieren sucht. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Billigkeit, die das säkulare Naturrecht aus der Jurisprudenz verbannen möchte. Wenn nun in den folgenden vier Kapiteln etwas als neu, unorthodox oder unbekannt erscheinen mag, so liegt das daran, dass die Lehre von den beiden Reichen und damit eine Differenz, die im Zentrum von Leibniz’ Metaphysik steht, auf die Gebiete von Recht, Gerechtigkeit und Politik erstreckt wird.5 Wie dürfen wir uns diese Differenz vorstellen ? Den Ausgangspunkt bildet das Reich der Zweckursachen, dem auch das Reich der Gnade angehört. Dass letzteres von einem Gebiet unterschieden werden muss, in welchem der an einen Körper gebundene menschliche Wille – das ius voluntarium – mit dem Merkmal der Unvollkommenheit herrscht, ist bereits angedeutet worden. Die Parallele zwischen dem ius voluntarium und dem Reich der Wirkursachen liegt nun darin, dass die »modernen Philosophen«, wie sie Leibniz nennt, den Staat auf ein künstliches, durch einen souveränen Willensakt erzeugtes Gebilde reduzieren möchten : Nach Maßgabe des mechanistischen Paradigmas bildet dieser Wille sozusagen die Wirkursache (causa efficiens) der durch ihn beherrschten Ordnung. Auf Kants Bemerkung, es bestünde eine Ähnlichkeit, über die Kausalität von Staat und Maschine zu reflektieren, wird noch zurückzukommen sein. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide, soweit sie dem mechanistischen Paradigma unterliegen, so vorgestellt werden, als seien sie auf jene Art von Wirkursachen beschränkt, die Leibniz von den Zweckursachen unterscheidet. Die Parallele wird noch dadurch unterstrichen, dass z.B. Hobbes in dem berühmten Eingangskapitel seines Leviathan den Willen (bzw. die Gedanken, den Verstand, das Bewusstsein) kausalmechanisch, d.h. als Bewegungen im Gehirn darstellt, die durch Druck, Stoß oder Reibung verursacht werden.6 Denn die »modernen Philosophen« lehnen die Lehre von den Zweckursachen ab und erkennen nur ein Reich, nämlich das der Wirkursachen an. So erscheint es folge5 Wenn Leibniz sagt : »Alle Vorgänge lassen sich auf doppelte Weise erklären«, so sind Recht und Politik davon also nicht ausgenommen, vgl. z.B. Specimen dynamicum (1695), in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I (1904), S. 256–272, 272. 6 Näher Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine (1986), S. 48–61, 56 f. – mit dem Hinweis, Hobbes würde »das Moment der Finalität« ausklammern, »weil es methodisch nicht exakt greifbar ist« (S. 56). Dies gilt, so wäre hinzuzufügen, nicht nur für die Erkenntnistheorie, sondern auch für das Recht. Dagegen ist sich Leibniz, soweit er seine politische Philosophie im Begriff der Substanz verankert, darüber im Klaren, dass in den Gebieten von Recht und Gerechtigkeit eine solche Exaktheit nicht zu erreichen ist.
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richtig, wenn auch in den Gebieten von Recht und Gerechtigkeit die höheren Zwecke mit ihren materialen Elementen und der Billigkeit auf der Strecke bleiben. Von den vielen Einwänden, die Leibniz gegen Hobbes’ Preisgabe des Substanzbegriffs und dessen Identifizierung des Leibes mit der Seele erhoben hat, sei hier nur einer genannt : Gott müsste danach als körperliches Wesen gedacht werden, was er für völlig indiskutabel hält.7 Wo aber liegt nun der Hauptmangel – die eigentliche Unvollkommenheit – des ius voluntarium und welche Kompensationen kämen in Betracht ? Den Schlüssel für eine Antwort bietet abermals die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf : Da eine vollkommene Regierung auf Erden nicht möglich sei, können Strafen und Belohnungen nicht immer sofort zugeteilt werden. So habe sich der »vollkommenste aller Monarchen« Sanktionen »für viele Fälle« bis an das Ende aller Tage »aufgespart«. Um die Friktionen zwischen dem Reich der Gnade und der weltlichen Herrschaft in Grenzen zu halten, bedarf es, und hier liegt eine weitere Parallele zur Lehre von den beiden Reichen, ebenfalls einer »Harmonie«. In § 79 der Monadologie heißt es : Die Seelen sind tätig gemäß den Gesetzen der Zweckursachen […] Die Körper sind tätig gemäß den Gesetzen der Wirkursachen […]. Und die beiden Reiche, das der Wirkursachen und das der Zweckursachen, befinden sich in Harmonie miteinander.
Dass Leibniz in den §§ 78–80 der Monadologie auf die Idee der »prästabilierten Harmonie« rekurriert, um seine Lösung des Leib-Seele-Problems als »Übereinstimmung von Seele und organischem Körper zu erklären«, ist oft bemerkt worden. Weniger bekannt ist hingegen, dass er darüber hinaus noch eine »andere Art der prästabilierten Harmonie« für erforderlich hält, die in den §§ 87–90 der Monadologie (und in der Theodicée) erörtert wird. Diese ›zweite‹ Harmonie fußt auf dem Gedanken, dass »die menschliche Seele durch den Tod nicht ausgelöscht«, sondern »nach diesem Leben Belohnungen erhalten oder Strafen verbüßen« wird, »je nachdem, ob ihr Leben gut oder schlecht geführt war«. Die Funktion der »anderen« Harmonie besteht darin, für einen Ausgleich der Inkommensurabilitäten zwischen dem Reich der Gnade und der weltlichen Herr7 Heute ist die Vorstellung verbreitet, die Seele (oder das Selbstbewusstsein) würde im Gehirn physisch erzeugt werden. Die Überwindung des Leib-Seele-Problems könnte dann durch die Annahme erfolgen, dass alle Vermögen, die Leibniz der Seele zuschreibt, als chemische und elektrische Prozesse zu beschreiben sind. Der Neurophysiologie ist ein Beweis dieser Annahme aber bislang nicht gelungen.
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schaft zu sorgen. Insbesondere sollen diejenigen Bewohner des »großen Staates« vor Ungerechtigkeiten geschützt werden, die im Vertrauen auf die Vorsehung ihre Pflichten erfüllt und ein tugendhaftes Leben geführt haben (§ 90 der Monadologie). Die Kernthese der folgenden Ausführungen lautet also : In Parallele zur Differenz zwischen Zweck- und Wirkursachen lassen sich »die Vorgänge« auch in den Gebieten von Recht und Gerechtigkeit »auf doppelte Weise erklären«. Den Ausgangspunkt bildet die Charakterisierung des Gnadenreichs als »vollkommensten Staat«, in welchem der »vollkommenste aller Monarchen« herrscht. Dabei ist vorausgesetzt, dass es ohne die Lehre von den Substanzen keine naturrechtlichen Ideen, keine ›Subjekte‹ der universellen Gerechtigkeit und damit auch keine ›Bürger‹ des vollkommensten Staates geben würde. Neben den Superlativen der Vollkommenheit sind aber noch weitere Merkmale zu nennen, welche das Reich der Gnade von den Ordnungen des ius voluntarium unterscheiden : Anders als ein weltliches Reich besitzt das Gnadenreich kein abgezirkeltes Territorium, keinen Herrschaftsraum, der auf einer Landkarte zu finden wäre. Gleichwohl ist es dem Menschen keineswegs fern – ja, es ist so nahe, dass jede Bosheit, jedes Laster, jede Ungerechtigkeit seine Größe und Vollkommenheit verringern würden. Leibniz greift den Bericht in der Apostelgeschichte über den »unbekannten Gott« auf, von dem Paulus sagt, »er sei nicht ferne von einem jeden unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir«. Das soll bedeuten, dass Gott nach wie vor an seiner Schöpfung aktiv mitwirkt und sie zu vervollkommnen sucht. Im Gegensatz zu den Strafen und Belohnungen, die am Ende aller Tage zugeteilt werden, bezieht sich diese Mitwirkung nicht auf das Jenseits, sondern auf das irdische Leben. Damit rücken die besonderen Aufgaben in das Blickfeld, welche die Billigkeit im Kontext von Jurisprudenz und Metaphysik zu erfüllen hat. Eines der Gravitationszentren, um welche Leibniz’ Rechtsphilosophie kreist, ist ihr Verhältnis zum strengen Recht. Schon in der Nova methodus hat er betont, dass strenges Recht und Billigkeit, obwohl sie häufig harmonieren, in bestimmten Situationen auseinanderklaffen und in Konflikt geraten können. Es mangele nämlich an einem Band zwischen Recht und Billigkeit, welches Gott dann durch seinen Beistand zu knüpfen imstande sei. Wie ist diese Aussage zu verstehen ? Gibt sie Aufschluss darüber, wie wir uns Korrelationen zwischen dem vollkommenen Reich der Gnade und der unvollkommenen irdischen, anwendungsorientierten Jurisprudenz denken können ? Auch Leibniz’ Vorstellung einer heilsgeschichtlichen Billigkeit wirft Fragen auf : In welchem Verhältnis steht diese Art der Billigkeit zu aequitas und pietas, also zur zweiten und zur dritten Stufe des Naturrechts ? Wer hier nach Antworten sucht, wird berücksichtigen müssen, dass Leibniz die
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normativen Gehalte seines Naturrechts in weitgehender Unabhängigkeit von der Theologie formuliert hat. Während also die religiösen Ausgleichsmechanismen vornehmlich heilsgeschichtliche Zusammenhänge betreffen, zielt die Frage nach dem Band, welches Gott zur Lösung des Konflikts zwischen ius strictum und aequitas knüpft, mehr auf das irdische Rechtsgeschehen. Das Gnadenreich ist ebenso diesseitig wie jenseitig. Es wirkt in unserer Welt, die es zugleich unendlich überschreitet : Auf Erden angekommen, markiert es einen Ort der Innerlichkeit. Damit stellt sich die Frage nach den Anteilen des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit und strengem Recht, wobei die aequitas mehr den öffentlichen und das ius strictum eher den individuellen Interessen Rechnung trägt. Nun hat Leibniz schon in seinen Jugendjahren versucht, auf Basis der Liebe (caritas) eine Lehre der Gerechtigkeit zu entwerfen, die zwischen individuellem und kollektivem Wohl vermittelt. Hierzu gehört die Annahme, dass Individuen danach streben, Konflikte zwischen Recht und Billigkeit im Sinne der Gerechtigkeit zu lösen. Woher kommt dieses Streben, das Leibniz bisweilen auch als »Kraft«, »Tendenz« oder »Verlangen nach Veränderung« bezeichnet ? Und wie wäre ein solches Verlangen in der Praxis zu verwirklichen ? Der Schlüssel zur Lösung derartiger Fragen liegt abermals in der Metaphysik : Mit der in den Individuen waltenden Kraft ist es möglich, den Zielen der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen. Da ein jedes Individuum an einen Körper gebunden ist, kann diese Kraft jedoch auf Widerstände stoßen, durch vielfältige Hindernisse ausgebremst werden oder ganz erlahmen. Gleichwohl muss vorausgesetzt werden, dass jede Monade das Universum von einem bestimmten Gesichtspunkt aus spiegelt. Und diese Spiegelung erstreckt sich auch auf die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit. Der Gegenstand des Spiegels wirkt mithin als eine Bedingung der Subjektivität, als eine Art Objektivität, die der menschliche Geist in sich selber trägt. Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, wenn der immer auch um Rechtssicherheit bemühte Leibniz dem Juristen, der Wissenschaft und dem Richter einen vergleichsweise großen Spielraum bei der Rechtsgewinnung einräumt. Dieser Befund verdient auch deshalb Hervorhebung, weil gerade in jüngerer Zeit Stimmen laut werden, die wieder mehr das Individuum in den Mittelpunkt von Entscheidungstheorie und Normschöpfung rücken möchten.
7. Kapitel
Metaphysische Fundierung der Billigkeit
Leibniz meinte, das Naturrecht sei sowohl in der Philosophie als auch im Recht verankert, wobei er vornehmlich an das römische Recht dachte : »Denn viele haben«, so schreibt er 1697, »zwar das Naturrecht behandelt, doch waren hierbei nur wenige von ihnen unterrichtet vom Inneren der Philosophie und zugleich von der Kenntnis des römischen Rechts«.1 Wie weit führt nun die Jurisprudenz in das »Innere der Philosophie« ? Will Leibniz sagen, dass die Jurisprudenz über die politische Philosophie hinaus bis in die Metaphysik hineinreicht ? Dagegen spricht, dass er zentrale Elemente seiner Metaphysik in einem speziellen Rahmen, und zwar in Auseinandersetzung mit Descartes und seinen Schülern formuliert hat. Auf den ersten Blick spielt hier die Jurisprudenz ebenso wenig eine Rolle wie die Metaphysik in den juristischen Schriften. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch durchaus Korrelate. Sie fußen auf einer Grundvoraussetzung von Leibniz’ Philosophie, nämlich seiner Lehre von den »beiden Reichen«, die im Folgenden kurz skizziert sei.
I. Die Lehre von den beiden Reichen als Grundlage der Metaphysik Leibniz hat wiederholt hervorgehoben, »daß sich alle Vorgänge auf doppelte Weise erklären lassen«.2 So unterscheidet er auch in seinem Schlüsseltext zur Metaphysik, der Monadologie, zwei Reiche (les deux regnes), in denen unterschiedliche Gesetze (lois) herrschen. Zum einen gibt es das Reich der Phänomene – der unendlichen körperlichen Erscheinungswelt, in welcher alles nach der Macht mechanischer Gesetze und durch Wirkursachen bestimmt wird. Auf der anderen Seite haben wir eine ebenso unendliche Anzahl selbstgenügsamer und nach außen hin abgedichteter Substanzen, die Leibniz Monaden nennt. In diesem Reich der Seele und des Geistes herrschen nach Maßgabe der Weisheit die Zweckursachen : 1 Brief an Antonio Magliabechi (1633–1714) vom 20./30. September 1697, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, VII Bände (1875–1890), Bd. VI, S. 4 (1. Kapitel II). Zu Leibniz’ Bewunderung der Methode der klassischen römischen Jurisprudenz und der Fähigkeiten der römischen Juristen siehe die Nachweise im 2. Kapitel III). 2 Z.B. Specimen dynamicum (1695), in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I (1904), S. 256–272, 272.
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Metaphysische Fundierung der Billigkeit
Die Seelen sind tätig gemäß den Gesetzen der Finalursachen durch Appetit, Zwecke und Mittel. Die Körper sind tätig gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder Bewegungen. Und die beiden Reiche, das der Wirkursachen und das der Finalursachen, befinden sich in Harmonie miteinander.3
Leibniz hat in zahlreiche Schriften, Fragmente und Briefe autobiographische Skizzen eingestreut. Dort schildert er den historischen Kontext, in dem er seine Unterscheidung von Wirk- und Zweckursachen entwickelte. So berichtet er, dass ihn in jungen Jahren die mechanische Erklärung der Natur durch die »modernen Schriftsteller« begeistert habe.4 Mit den »modernen Schriftstellern« sind in erster Linie der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) und seine Schüler gemeint, welche die Materie und die Körper rein mathematisch als geometrische Ausdehnung (res extensa) auffassten. Bei genauerer Prüfung dieser Lehre habe er erkennen müssen, »daß die alleinige Betrachtung einer ausgedehnten Masse nicht ausreicht, und daß man den Begriff der Kraft hinzunehmen muß, der für den Verstand völlig erfaßbar ist, wenngleich er ins Gebiet der Metaphysik« falle.5
Die »modernen Schriftsteller« gelten nicht nur als Begründer des mechanistischen, sondern auch des geometrischen Paradigmas, zu dessen Merkmalen Sicherheit, Klarheit, Evidenz und Gewissheit gehören. So war Leibniz’ frühes Denken ebenfalls stark durch geometrische Modelle geprägt, wobei ihm neben den 3 § 79 der Monadologie von 1714 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008) ; Specimen dynamicum (Fn. 2), S. 272. 4 Leibniz, Discours de métaphysique (1686), in : AA VI 4 B, S. 1529–1588 ; dt. Metaphysische Abhandlung, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 135–188, § 11 (S. 147) ; Systeme nouveau pour expliquer la nature des sub stances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme avec le corps (1695), in : Philosophische Schriften IV (Fn. 1), S. 471–487 ; dt. Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele, in : Hauptschriften II, a.a.O., S. 258–271, 259 ; Specimen dynamicum (Fn. 2), S. 267–272 ; Brief an Antoine Arnauld, Juni 1686, in : Hauptschriften II, a.a.O., S. 189–206, 206 ; Brief an den französischen Gelehrten Nicolas François Rémond (1638–1725), 10. Januar 1714, in : Philosophische Schriften III (Fn. 2), S. 605–608, 606 f. Eine ähnliche Schilderung des Werdegangs findet sich in den Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Philosophische Schriften, Bd. III (erste und zweite Hälfte), I. Buch : Von den eingeborenen Ideen, S. 1–95, 6–9. 5 Leibniz, Neues System (Fn. 4), S. 259 (Hervorhebungen im Original).
Die Lehre von den beiden Reichen als Grundlage der Metaphysik
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zeitgenössischen Autoren vor allem die Konzeption der »Elemente« des antiken Geometers Euklid als Vorbild dienten.6 Gegen das cartesianische Axiom der klaren Einsicht entwickelte Leibniz jedoch schon bald ein anderes Kriterium für Wahrheit. Er bestreitet, dass Ausdehnung (res extensa) ein »absolutes Prädikat« sei, und behauptet stattdessen : Die ausgedehnte Masse ist »relativ zu dem«, was »sich ausdehnt oder verbreitet«.7 Damit fällt auch die Annahme der Cartesianer, dass die Ausdehnung einfach und ursprünglich, dass sie klar und deutlich zu erfassen sei. Was uns klar und eindeutig erscheine, meint Leibniz, sei in Wirklichkeit oftmals dunkel und verworren. Daraus zieht er den Schluß, daß man außer den rein mathematischen Prinzipien, die der sinnlichen Anschauung angehören, noch metaphysische, die allein im Denken erfaßbar sind, gelten lassen muß […]. Denn nicht alle Wahrheiten, die sich auf die Körperwelt beziehen, lassen sich aus bloß arithmetischen und geometrischen Axiomen – also aus Axiomen des Größer und Kleiner […] abnehmen, sondern es müssen andere über Ursache und Wirkung, Tätigkeit und Leiden hinzukommen, um von der Ordnung der Dinge Rechenschaft zu geben.8
Leibniz beanstandet, dass Descartes und seine Schüler die Kriterien nicht hinreichend benannt haben, nach denen Klarheit und Eindeutigkeit zu bestimmen wären. In seiner Monadologie fragt er daher nach einer metaphysischen Ursache, die sowohl den körperlichen als auch den nicht-körperlichen Dingen eigen sein muss.9 Den Ausgangspunkt bildet dabei die Überlegung, dass im Reich der Körper »alles nur eine Ansammlung von Teilen bis ins Unendliche ist«.10 Ihre Realität kann die Vielheit der Körper aber nur von den wahrhaften Einheiten erlangen, die einen ganz »anderen Ursprung haben« als die »rein mathematischen 6 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), in : AA VI 1 S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 6 (S. 33). Mit »Geometrie« oder »Mathematik« verbindet er dabei jene »ewigen Wahrheiten«, auf denen Platons Ideenlehre fußt. Daran hat er auch in späteren Schriften festgehalten, siehe Nouveaux essais (Fn. 4) ; näher Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (1996), S. 25–38. 7 Gegen Descartes (Mai 1702), in : Hauptschriften I (Fn. 2), S. 329–334, 331. 8 Leibniz, Specimen dynamicum (Fn. 2), S. 269 f. 9 Vgl. Konrad Moll, Der junge Leibniz, Bd. III (1996), S. 83–136 ; Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005), S. 42–49. 10 Neues System (Fn. 4), S. 259 ; Brief an Arnauld vom 8. Dezember 1686, in : Hauptschriften II (Fn. 4), S. 207–214, 209 ; Über das Kontinuitätsprinzip (1687), in : Hauptschriften I (Fn. 2), S. 84– 93. Im Hintergrund steht das sogenannte »Kontinuitätsproblem«, vgl. z.B. Philip Beeley, Unendlichkeit, Fülle und Kontinuität als Prinzipien der Natur (§§ 61 f., 65), in : Hubertus Busche (Hg.), Monadologie (2009), S. 161–174.
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Prinzipien«. Diese würden nur »Grenzen und Modifikationen des Ausgedehnten« sein und damit ebenfalls in das Reich der mechanischen Gesetze fallen.11 Auf der Suche nach einer solchen Einheit sah Leibniz sich gezwungen, zu den »heute so verschrieenen substantiellen Formen« zurückzukehren. »Verschrieen« hatte sie neben den Cartesianern auch Thomas Hobbes, der in einer berühmten Passage des »Leviathan« darauf beharrt, dass die überkommenen »Substantiall Formes« nichts anderes als der heruntergekommene Jargon der Schultheologie seien.12 Leibniz entdeckt in den »substantiellen Formen« dagegen jene »Kraft«, die man »analog in der Art, in der wir die Seele denken, auffassen muß«.13 So hat Leibniz dem Reich der Macht – der mechanischen Gesetze oder Wirkursachen – noch ein zweites Reich, nämlich das der Weisheit, Zwecke oder substantiellen Formen hinzugefügt, das fortan die Grundlage nicht nur seiner Metaphysik, sondern auch seiner Lehre von der Gerechtigkeit bilden wird. Denn vom »Wissen um die Substanz« (und die Seele) hängt »die Erkenntnis von Tugend und Gerechtigkeit ab«.14 Die beiden Reiche stellen kategorial verschiedene Ordnungen dar. Sie werden nach jeweils eigenen Gesetzen regiert und bleiben unvermischt. Mit dem ebenso berühmten wie rätselhaften Satz »Die Monaden haben keine Fenster« bringt Leibniz zum Ausdruck, daß es keine direkte Beziehung zwischen ihnen und der Außenwelt gibt. Im Hintergrund steht das sogenannte »Leib-Seele-Problem«, worauf noch zurückzukommen ist.15 Hier sei nur so viel vorweggenommen : Zu Leibniz’ Zeiten war die Auffassung verbreitet, der Seele würden von außen Bilder zugeführt, »als hätte sie Türen und Fenster«. Danach würden Körper und Seele 11 Neues System (Fn. 4), S. 260. 12 Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall und Civil (1651), edited by Michael Oakeshott (1957) ; dt. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher (1966), IV. Teil, 46. Kapitel (S. 513– 518). 13 Neues System (Fn. 4), S. 259 f. (Hervorhebungen im Original) ; Metaphysische Abhandlung (Fn. 4), § 10 (S. 145) ; Specimen dynamicum (Fn. 2), S. 259, 269–272 : »Ob wir dieses Prinzip nun als ›Form‹, als ›Entelechie‹ oder als ›Kraft‹ bezeichnen, darauf kommt es nicht an« (S. 270). Dazu näher Joachim Otto Fleckenstein, Gottfried Wilhelm Leibniz. Barock und Universalismus (1958), S. 31–35 (unter dem Gesichtspunkt von Verbindungen mit der Barockphilosophie). 14 Brief an den französischen Theologen, Buchdrucker und Übersetzer Pierre Coste (1668–1747) vom 30. Mai 1712, in : Philosophische Schriften III (Fn. 1), S. 421–431, 428. An anderer Stelle meint Leibniz, dass sich Moral oder Recht zur Metaphysik wie »die Praxis zur Theorie« verhalten, »weil die Erkenntnis der Geister und im besonderen Gottes und der Seele, die ein richtiges Verständnis für Gerechtigkeit und Tugend gibt, von der allgemeinen Lehre der Substanzen abhängt«, Nouveaux essais IV (Fn. 4), S. 423. 15 Im 9. Kapitel III.
Die Lehre von den beiden Reichen als Grundlage der Metaphysik
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direkt und ohne Vermittlung einer dritten Größe aufeinander wirken können. Leibniz opponiert aber nicht nur gegen den Immediatismus des »Influxionismus«, sondern auch gegen den »Okkasionalismus« der Neucartesianer mit ihren Versuchen, eine Wechselwirkung zwischen den streng getrennten Gebieten von res extensa und res cogitans zu begründen.16 Sie behaupten, eine solche Wirkung würde durch die Vermittlung eines übernatürlichen Beistandes, durch eine Art göttlicher Assistenz erfolgen. Gott würde danach bei »Gelegenheit« in körperliche Bewegungen eingreifen, um eine seelische Regung oder eine Übereinstimmung zwischen jenen beiden Reichen zu erzeugen, die Leibniz in seiner Monadologie unterschieden hat.17 Leibniz zielt mit seiner Idee der Fensterlosigkeit von Monaden also einerseits gegen die Behauptung einer unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen Seele und Körper und andererseits gegen den Glauben an ein stetes physisches Eingreifen Gottes in die gewöhnlichsten Angelegenheiten der Menschen. Muss daraus gefolgert werden, dass Leibniz jede Beziehung zwischen den beiden Reichen und jede Mitwirkung Gottes im weltlichen Gebiet ausschließen wollte ? Die Frage ist zu verneinen. Monaden unterliegen dem Einfluss von außen, sie sind imstande »wahrzunehmen«. Dafür spricht bereits Leibniz’ berühmte These, dass die Monaden lebendige Spiegel des Universums sind. Wie könnten sie solche Spiegel sein, wenn sie von jeder Außenwelt abgeschnitten wären ? Wie es unter den Prämissen der Fensterlosigkeit zu Interaktionen, Einflüssen oder Einwirkungen kommen kann, gehört zu den schwierigsten Fragen von Leibniz’ Metaphysik. Ihre Beantwortung ist nicht nur für seine Erklärung der Natur, sondern auch für die Jurisprudenz und den Begriff der Billigkeit von großer Wichtigkeit. Als Beispiel sei die Unterscheidung von Billigkeit (aequitas) und strengem Recht (ius strictum) genannt, die Leibniz in der Nova methodus trifft : Zwischen beiden fehle das »Band«, sagt er, welches Gott »durch seinen Beistand« herstelle.18 Wie ist diese Aussage zu verstehen ? Greift Gott doch in die gewöhnlichen Dinge der Menschen ein ? Nimmt er sogar auf die Rechtspraxis unmittelbar Einfluss ? Bevor darauf zurückzukommen ist, sei die Bedeutung der Zwei-ReicheLehre für den Begriff der Billigkeit einer genaueren Betrachtung unterzogen.
16 Dazu näher im 9. Kapitel II. 17 Siehe die Formulierung oben bei Note 3 (in den Briefen an Arnauld wird die Unterscheidung von Zweck- und Wirkursachen ebenfalls oft angesprochen). 18 Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83).
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II. Die Lehre von den beiden Reichen und das Konzept der Billigkeit Leibniz kritisiert an den »modernen Philosophen«, dass sie »die Zweckursachen aus der Physik verbannen« möchten : »Ich muß gestehen, daß die Folgen dieser Meinung gefährlich zu sein scheinen.« Die Gefahr erblickt Leibniz darin, dass ihre Anhänger alle höheren und erhabenen Zwecke leugnen und damit nur ein Reich, nämlich das der Wirkursachen anerkennen.19 Nun sind die Folgen dieser Meinung nicht auf die Physik beschränkt. Sie erstrecken sich auch auf das Recht, den Staat und die Politik. Die Anhänger des mechanistischen Paradigmas suchen in der Jurisprudenz ebenfalls alle höheren Zwecke zu leugnen und die Kausalität im Rahmen jenes Modells zu erklären, welches Leibniz als das Reich der Wirkursachen charakterisiert. So kommt es, dass Leibniz auch in der Juris prudenz zwischen zwei Gebieten differenziert, die er einmal als Macht, Wille, Gesetz oder positives Recht und andererseits als Weisheit, Vernunft, Naturrecht oder höhere Gerechtigkeit bezeichnet. Auf Macht ist namentlich das positive Recht gegründet, und zwar in dem Sinne, als es seine Wirksamkeit von demjenigen erlangt, der »innerhalb eines Staatswesens« die »höchste Gewalt« (summam potestatem) innehat. Diese Art von Recht charakterisiert Leibniz als »willkürliches Recht« (ius voluntarium), wovon er das durch die vernunftbestimmte Natur geschaffene Recht unterscheidet.20 Mit der Bezeichnung ius voluntarium zielt Leibniz auf jene Idee personaler Herrschaft, die im 16. Jahrhundert durch den ›modernen‹ Souveränitätsbegriff eine neue Legitimationsgrundlage gefunden hat. Schon Jean Bodin, der Begründer der neuen Lehre, sah das Hauptmerkmal des Souveräns darin, die Gesetze vorzuschreiben und nach seinem Belieben zu ändern : Sie hängen nämlich allein »vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat« und damit »alle seine Untertanen binden kann«.21 Solche Überlegungen finden sich bei so unterschiedlichen Repräsentanten säkularen Naturrechts wie Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant.22 Der Wille des Souveräns bildet im Reich der Macht also jene ›Wirkursache‹, auf welche das positive Recht sich zurückführen lässt.
19 Metaphysische Abhandlung (Fn. 4), S. 161. 20 Siehe hierzu und zum Folgenden die Nachweise im 3. Kapitel III (Verhältnis von Recht und Macht sowie von Recht und Gesetz) und im 5. Kapitel II (Kritik des politischen Voluntarismus). 21 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch (1981), I 8 (S. 216) sowie I 10 (S. 292) und I 8 (S. 223). 22 Dazu näher Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 127–128.
Exkurs : Leibniz’ Kritik des theologischen Voluntarismus
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Die Lehrer säkularen Naturrechts haben Leibniz zufolge den Fehler begangen, dass sie alle höheren Zwecke leugnen und nur ein Gebiet kennen möchten, in welchem der menschliche Wille, die Macht und die (positiven) Gesetze herrschen. Leibniz opponiert gegen den Voluntarismus von Hobbes, der das Recht auf das Gesetz zu beschränken und damit die Jurisprudenz auf nur noch eine – säkulare – Struktur zu reduzieren sucht. Wenn seine Kritik des Rechtsquellenmonismus grundsätzliche Bedeutung hat, wenn sie über Hobbes oder Pufendorf weit hinausweist und die gesamte ›moderne‹ Staatstheorie trifft, so liegt der Grund auch in der zwischen Gesetz und Recht stehenden »Billigkeit« : Es ist bereits ausgeführt worden, dass die meisten Naturrechtsdenker materiale Elemente aus dem Recht so weit wie möglich verdrängen wollten. Weder Kant noch Pufendorf, Hobbes oder Bodin vermochten der Billigkeit einen würdigen Platz innerhalb der Rechtsordnung zuzuweisen.23 Dagegen meint Leibniz : Wer sich, wie Hobbes, auf den engeren Begriff der Gerechtigkeit beschränke und die Billigkeit außer Betracht lasse, nehme in Kauf, dass das höchste Recht zur höchsten Rechtsverletzung führt (summum ius summa injuria). In der Jurisprudenz müssen »Vorgänge« also ebenfalls »auf doppelte Weise« erklärt werden. Sie kann der Billigkeit nur dann einen würdigen Platz zuweisen, wenn sie sich über die Formalstruktur des Rechts hinaus auch seiner Materialität vergewissert.
III. Exkurs : Leibniz’ Kritik des theologischen Voluntarismus Leibniz lehnt eine Ableitung des Rechts aus der Macht also ab und tritt als entschiedener Gegner des politischen Voluntarismus auf. Gilt dies auch für das Reich der Gnade und die Gebiete von Metaphysik oder Theologie ? Die Frage ist zu bejahen : Macht bildet nicht die Grundlage der Gerechtigkeit des vollkommenen Wesens.24 Leibniz bestreitet, dass die Gerechtigkeit »etwas Willkürliches«, dass sie dem »Willen« Gottes entsprungen sei.25 Vielmehr bestehe sie in ewigen 23 Siehe hierzu und zum Folgenden die Nachweise im 3. Kapitel III. 24 Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice : S. 143–163 ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 26. Dazu neuestens M. Griselda Gaiada, Deo volente (2015). 25 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 23 ; Unvorgreiffliches Beden-
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und notwendigen Wahrheiten, die unabhängig von Gottes Willen gelten. Zur Veranschaulichung zieht er einen Vergleich mit der Mathematik und mit den Zahlen. Auch hier lasse sich nicht sagen, dass beispielsweise der Satz »2 plus 3 ist 5« willkürlich sei und »vom Gutdünken abhängt«.26 Leibniz möchte die fundamentalen Unterschiede zwischen Schöpfer und Geschöpf zwar keinesfalls in Zweifel ziehen. Doch in Bezug auf die notwendigen Wahrheiten, also auf Mathematik oder Gerechtigkeit, sei dieser Unterschied nur ein gradueller. Denn Gott ist vollkommen und ganz gerecht, während die Gerechtigkeit der Menschen, aufgrund der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, mit Ungerechtigkeit, Verfehlungen und Sünden vermengt ist.27
Die Gemeinsamkeit zwischen Gott und den Menschen besteht also darin, dass sie die Vernunft- bzw. notwendigen Wahrheiten anerkennen müssen. Leibniz ist sich dessen bewusst, dass das »Recht Gottes« dadurch eine Einschränkung erfährt, meint aber, wir würden ihn gerade deshalb dafür besonders loben können, »daß er gerecht handelt«.28 Das ist freilich nicht das einzige Argument, worauf cken (1698/99) in : AA IV 7, S. 424–648, 468 ; Brief an Arnauld, Juni 1686 (Fn. 4), S. 191–194 ; Monadologie (Fn. 3), § 46 (S. 35). Diesen Standpunkt hat Leibniz entgegen einer verbreiteten Auffassung auch bereits in jungen Jahren und namentlich in der Nova methodus vertreten, zutreffend Busche, Einleitung, in : ders. (Fn. 6), S. XI–CXII, XCI f. (gegen Erwin Ruck und Hans Welzel). 26 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 27 ; Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), § 335 (S. 331) : Die Zahlen, Formen oder Figuren habe »Gott nicht durch einen Willensakt erzeugt« ; sie entstammen den »Ideen«, ihre Stätte ist »im göttlichen Verstande«. Eine ausführliche Erörterung des Themas findet sich im 1. Buch der Nouveaux essais (Fn. 4). Siehe auch bereits die Ausführungen in den Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6, S. 431–485 (dt. Übersetzung bei Busche, Fn. 6, S. 89–319, 222 f.). Dazu näher : Albert Görland, Der Gottesbegriff bei Leibniz (1907), S. 6–18 ; Busche, a.a.O., S. 465 (Anmerkungen) ; Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Fn. 6), S. 23–34. Matthias Armgardt, Die Monadologie als Vollendung der Rechtstheorie von G.W. Leibniz, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 343–353, 347 ; ders., Die Rechtstheorie von Leibniz im Licht seiner Kritik an Hobbes und Pufendorf, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 13–27, 20–22 (jeweils unter Hinweis auf die Verbindungen mit der platonischen Ideenlehre). 27 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 27. Schon in der ersten Fassung des »Unvorgreifflichen Bedenckens« (Fn. 25, S. 468) hatte sich Leibniz über die Cartesianer gewundert, nach deren Ansicht 2 x 2 = 4 nur deshalb gelte, weil es Gott so wolle. 28 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 23.
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seine Kritik des theologischen Voluntarismus fußt. Darüber hinaus führt er zwei Beispiele aus der antiken Geschichte ins Feld, die auch in seiner Rechts- und Staatsphilosophie eine wichtige Rolle spielen. So verwirft er einmal den aus der römischen Literatur bekannten Satz »stat pro ratione voluntas«.29 Zudem greift er auf den griechischen Philosophen Thrasymachos aus Platons Dialogen zurück, der behauptet habe, dass gerecht sei, was dem Mächtigen gefalle. Daraus habe Hobbes gefolgert, »daß Gott berechtigt ist, alles zu tun, weil er allmächtig ist«.30 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Grundthese des politischen Dezisionismus, die Geltung jeder Norm beruhe auf autoritativer Entscheidungsmacht.31 Es sind also Argumente aus dem Gebiet der politischen Philosophie, die Leibniz für die Theologie fruchtbar macht. Sätze wie »mein Wille ist Grund genug« (stat pro ratione voluntas) oder »Autorität, nicht Wahrheit schafft das Gesetz« (auctoritas non veritas facit legem) lehnt er ab, weil sie »Gott zum Despoten« machen und dem Menschen schlichten Gehorsam abverlangen würden.32 Selbst Gott könne nicht willkürlich über Recht und Unrecht entscheiden. Eine solche Entscheidung sei nicht Gegenstand seines Willens, sondern seiner Vernunft. Juristisch und politisch argumentiert Leibniz auch in den letzten Abschnitten der »Monadologie«, in denen er die Beziehungen des Rechts zu Religion und Naturwissenschaft einer genaueren Betrachtung unterzieht. Den Ausgangspunkt bildet die Unterscheidung zwischen »Seelen« und selbstbewussten »Geistern«. Nur an letztere kann Gott sich wie ein Fürst an seine Untertanen, wie ein Vater an seine Kinder wenden.33 Denn die Geister sind »Bilder der Gottheit selbst«, sie 29 Leibniz, Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 25), S. 480, 484, 526 ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 23. Der Satz stammt aus dem gesellschaftskritischen Werk des römischen Satirendichters Juvenal (1. und 2. Jahrhundert), wo eine Frau befiehlt, ihren Mann, einen Sklaven, hinzurichten (Satiren 6, 223). Auf die Frage, warum sie das tue, antwortet sie : »Ich will das, so befehle ich ; als Begründung diene mein Wille« (hoc volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas, siehe 5. Kapitel II). 30 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 24 f.; Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 81 f.) 31 Hobbes, Leviathan (Fn. 12), Teil II, 26. Kapitel (auctoritas non veritas facit legem). 32 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 23 ; Monadologie (Fn. 3), § 32 (S. 27) ; Theodicée (Fn. 26), § 167 ; Von der wahren Theologia mystica (1695), in : Gottschalk Eduard Guhrauer (Hg.), Deutsche Schriften, II Bände (1838–1840), Bd. I, S. 410–413, 412 (»Gott hat keinen ausgelassenen Machtwillen«). Leibniz reiht sich damit unter die Autoren ein, die der Auffassung sind, eine juristische Entscheidung sei allein durch die Überzeugungskraft ihrer Argumente zu rechtfertigen, dazu näher Meder, Ius non scriptum, 2. Auflage (2009), S. 121–122, 164–167. 33 §§ 83, 84 der Monadologie (Fn. 3), S. 59.
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sind »fähig, das System des Universums zu erkennen«.34 Daher sind sie imstande, »eine Art Gemeinschaft mit Gott einzugehen«, die Leibniz als »Gottesstaat« bezeichnet.35 Darunter versteht er die optima respublica, den »vollkommenen Staat, der unter dem vollkommensten aller Monarchen möglich ist«.36 Wenn Leibniz die Monarchie als die »Staatsform« des Gottesstaats bezeichnet, will er freilich keine Apologie der monarchischen Verfassung betreiben. Denn er unterscheidet sehr wohl zwischen dem Ideal einer optima respublica und einem Menschenstaat. Gegenüber der Monarchie äußert er sich sogar oftmals kritisch, ja er sieht in ihr eine Gefahr, weil sie leicht zu Despotie und Tyrannei führen kann.37 Auch das Eigentum hat im weltlichen Leben durchaus andere Funktionen als im Gottesstaat : Während in einem idealen Staat alle Güter im Gemeineigentum stehen, müsse im weltlichen Leben jeder »seinen eigenen Bereich haben«, den er »in einen guten Zustand bringen kann«.38
IV. Funktionen der Billigkeit zwischen mechanistischer und organologischer Staatsauffassung Leibniz’ Kritik am Cartesianismus ist nicht auf den Begriff der »Ausdehnung« (res extensa) beschränkt. Sie zielt auch auf eine Überwindung der Enge des auf das denkende »Ich« reduzierten Konzepts der res cogitans, das weder Pflanzen noch Tieren oder schlafenden Menschen eine substantielle Aktivität zusprechen kann. So treten als zweites Motiv für seinen Übergang von der mechanischen Physik zur Monadologie vor allem die Defizite der zu seiner Zeit verbreiteten Tierautomaten-Doktrin. Leibniz beanstandet zunächst, dass die Cartesianer 34 § 83 der Monadologie (Fn. 3), S. 59. Dies gilt auch für die ewigen und notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit, a.a.O., § 30 (S. 27). 35 §§ 84, 86 der Monadologie (Fn. 3), S. 59, 61 ; Briefe an Arnauld, April 1687, in : Hauptschriften II (Fn. 4), S. 214–231, 228, und vom September 1687, in : Hauptschriften II (Fn. 4), S. 231–255, 250–252. 36 § 85 der Monadologie (Fn. 3), S. 61. Die moralische Welt der Gerechtigkeit, die Leibniz als Gottesstaat bezeichnet, ist vom irdischen Leben zwar unterschieden, nicht aber getrennt. So entfaltet sie auch praktische Wirkungen, insbesondere auf die politische Philosophie. Denn die Geister, in denen sich die Gottheit spiegelt, besitzen eine hoch entwickelte Individualität. Sie sind, anders als es die meisten Protagonisten des säkularen Absolutismus behaupten, keine passiven Untertanen, sondern aktive Bürger mit der Befähigung zur kritischen Reflexion über die gesellschaftlichen Verhältnisse (siehe 5. Kapitel V 2). 37 Dazu näher im 5. Kapitel V (im Zusammenhang mit den Expansionsgelüsten des französischen Königs Ludwig XIV.). 38 Siehe die Nachweise im 3. Kapitel IV 1 (zur utilitas propria und zum Privateigentum).
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nicht nur im menschlichen, sondern auch im tierischen Körper nichts anderes als ein Gebilde der mechanischen Wirkursachen und der Geometrie erblicken wollen : Auch schien mir, daß die Meinung derer, die die Tiere zu bloßen Maschinen umgestalten und herabwürdigen, wenngleich sie im Bereiche der Möglichkeit liegt, doch aller Wahrscheinlichkeit entbehrt, ja daß sie gegen die Ordnung der Dinge verstößt.39
Dieser Befund führt zu der Einsicht, dass die »Alten« wohl doch »gründlicher« waren »als man gemeinhin annimmt«. Er, Leibniz, sei »gewiß, wenn irgendeiner, geneigt, den Modernen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«. Doch hätten sie »die Reform zu weit getrieben« und die »natürlichen Dinge mit den künstlichen« verwechselt, wenn sie meinen, daß der Unterschied zwischen den Maschinen der Natur und den unsren nur ein Gradunterschied sei […], eine Vorstellung, die ich weder für richtig noch für würdig halte. Einzig und allein unser System läßt endlich den wahren und unermeßlichen Abstand erkennen, der zwischen den geringsten Erzeugnissen und Mechanismen der göttlichen Weisheit und den größten Kunstwerken eines begrenzten Geistes besteht ; ein Unterschied, der nicht nur den Grad, sondern die Art selbst betrifft.40 39 Neues System (Fn. 4), S. 259 ; Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (1714), in : Hauptschriften II (Fn. 4), S. 423–434, 426. Dazu näher Alex Sutter, Göttliche Maschinen (1988), S. 81–111. Siehe auch den Überblick über die Hintergründe der zeitgenössischen Debatte bei Ernst Cassirer, Einleitung zu den Schriften zur Metaphysik, Bd. II (Fn. 4), S. 3–34, 10 f. Eine ausführliche Schilderung des Streitstandes bietet der Artikel »Rorarius« im Bayle’schen »Dictionnaire Historique et Critique« (1696), 2. Auflage 1702, dt. Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt ; mit des berühmten Freyherrn von Leibnitz und Herrn Maturin Veyssiere la Croze, auch verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen wie auch einigen Zugaben versehen, von Johann Christoph Gottscheden, Bd. IV (1744), S. 78–94. 40 Neues System (Fn. 4), S. 264. Dass die Erkenntnisse, welche die alten Philosophen gewonnen haben, in ihrer Bedeutung gemeinhin unterschätzt werden, hat Leibniz in verschiedenen Zusammenhängen betont, vgl. z.B. Theodicée (Fn. 26), § 335 (S. 331). Seine Kritik harmoniert mit den Ansätzen humanistischer Philosophen, die meinten, die Scholastik habe durch falsche Interpretationen den Zugang zur wahren Lehre des Aristoteles versperrt, vgl. Christia Mercer, The Seventeenth-Century Debate Between the Moderns and the Aristotelians, in : Ingrid Marchlewitz, Albert Heinekamp (Hg.), Leibniz’ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (1990), S. 18–29, 20, 23 (die Parallelen zu Leibniz’ Kritik der juristischen Scholastik und seinen Bemü-
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Diese Monita führen Leibniz zum Versuch einer Abgrenzung der »natürlichen« von den »künstlichen« Maschinen. Die Eigenarten der natürlichen Maschinen sieht er darin, dass sie ihren eigenen Gesetzen folgen, dass sie sich sozusagen selbst erhalten und noch in den geringsten Teilen ›regulieren‹. In der Monadologie erläutert er den Unterschied zwischen den beiden Arten von Maschinen am Beispiel eines »Messingrades« : Während die Maschinen der »Natur« noch »in den kleinsten Teilen Maschinen« sind, hat der Zahn eines Messingrades »Teile und Abschnitte«, die nicht mehr als Maschine im Sinne von Selbstgenügsamkeit zu qualifizieren sind.41 Dies soll heißen, dass die Strukturen der Teile eines Messingrades, anders als bei natürlichen Maschinen, keine eigene Zweckbestimmtheit und keine ›Autonomie‹ oder ›Selbstregulierung‹ mehr aufweisen, sondern nur noch Funktionen einer künstlichen Maschine darstellen. Mit dieser Kennzeichnung der natürlichen und ihrer Unterscheidung von den künstlichen Maschinen gilt Leibniz als Vorreiter der modernen Theorie des Organismus, worauf noch zurückzukommen ist. 1. Der Staat – eine künstliche oder eine natürliche Maschine ?
Als natürliche Maschinen besitzen Tiere also ebenfalls einen beseelten Körper. Sie nehmen damit Anteil an jenem Reich der Zweckursachen, das Leibniz von dem der mechanischen Wirkursachen strikt zu unterscheiden pflegt. Dies verdient Hervorhebung, weil die am Beispiel der Tierautomaten-Doktrin skizzierte Gefahr einer ›Übertreibung‹ – einer Verwechslung der natürlichen mit den künstlichen Dingen auch in der Jurisprudenz auftreten kann. Die »Modernen« wollen nämlich den politischen Körper nicht mehr in Analogie zum natürlichen, sondern als Produkt planvoller Konstruktion und damit als einen künstlichen Körper begreifen. Den Ausgangspunkt für die Qualifikation der Rechtsordnung als künstliche Maschine bildet das Narrativ vom Urzustand und der Vertragstheorie, worauf in der Epoche des aufgeklärten Absolutismus viele Autoren ihre Rechts- und Staatsphilosophie gegründet haben. Von den schon erwähnten Konsequenzen dieser Erzählung sei hier nur eine hervorgehoben : Der Staat ist nicht von Anfang an vorhanden, sondern wird durch eine übereinstimmende Willenserklärung, den sogenannten Gesellschafts- oder Unterwerfungsvertrag künstlich erst geschaffen. So begreift Hobbes den Gesellschaftsvertrag als einen hungen um eine Wiedergewinnung der wahren römischen Jurisprudenz liegen auf der Hand und müssen hier nicht näher ausgeführt werden). 41 § 64 der Monadologie (Fn. 3), S. 47 f. Siehe auch Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (Fn. 39), S. 424.
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Schöpfungsakt (imitatio creationis), durch den ein »künstlicher Mensch« (artificial man), ein Leviathan, ›erschaffen‹ worden sei : The pacts and covenants, by which the parts of this body politic were at first made, set together, and united, resemble that fiat, or the let us make man, pronounced by God in the creation.42
Nach Maßgabe des mechanistischen Paradigmas ist die Einheit der Welt als künstliche Maschine – als ein gewaltiges Uhrwerk zu verstehen, das durch einen souveränen Willen in Gang gebracht und von diesem so verlässlich wie dauerhaft betrieben wird. Kant hat den Abstand zwischen dem Artefakt einer Maschine und einem natürlichen Körper wie folgt auf den Punkt gebracht : So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staat und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.43
Diese oft zitierte Aussage spitzt die Differenzen zwischen der traditionellen Imagination des Politischen und der neuen Sichtweise des Mechanismus auf eine spezielle Frage zu : Gibt es einen Einfluss der Seele auf das Zusammenspiel zwischen Einzelnem und Ganzen ? Dass der menschliche Körper oder zu einem Ganzen zusammengefügte Teile durch einen »einheitlichen Geist« (uno spirito) ›zusammengehalten‹ werden, haben Theologen, Philosophen und Juristen sowohl in der Antike als auch im Mittelalter immer wieder hervorgehoben.44 Auch bei dem Staatstheoretiker Johannes Althusius (1563–1638) ist noch die Idee lebendig, dass ein politischer Körper, etwa der des Alten Reichs, durch ei42 Thomas Hobbes, Leviathan (Fn. 12), Introduction (S. 5 – Hervorhebungen im Original). 43 Kant, Kritik der Urteilskraft (Text auf Grundlage der drei Originalausgaben von 1790, 1793 und 1799, hg. v. K. Vorländer), 7. Auflage (1990, unveränderter Nachdruck der 6. Auflage von 1924), S. 256 (Hervorhebung im Original). 44 Hier genügt es, auf die oft zitierte Aussage des römischen Juristen Paulus hinzuweisen : »Denn wenn du meiner Statue den Arm einer fremden Statue hinzugefügt hast, läßt sich nicht sagen, daß der Arm dir gehört, weil ja die ganze Statue von einem einheitlichen Geist (uno spiritu) zusammengehalten wird« (D.6.1.23.5 a.E.). Zu den philosophischen Hintergründen siehe Okko Behrends, Das Schiff des Theseus und die skeptische Sprachtheorie, in : Index 37 (2009), S. 397– 452, 422–442.
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nen einheitlichen Geist, welchen er »Seele« nennt, zusammengehalten wird.45 Diese »Seele« sieht Althusius in der Kompetenz des Volkes, darüber zu bestimmen, »was im Einzelnen wie im Ganzen für die Gemeinschaft notwendig und nützlich ist«.46 Das wäre eine Umschreibung der »inneren Volksgesetze«, von denen bei Kant die Rede ist. Dagegen haben wir unter den Prämissen des mechanistischen Paradigmas keinen Anlass, einen ›Einfluss‹ der Seele auf die Bewegungen der »Maschine unseres Körpers« zu unterstellen. Descartes verfolgt denn auch das Projekt, die ganze Maschine unseres Körpers so darzulegen, daß wir nicht mehr Anlaß zu der Annahme haben, daß es unsere Seele ist, welche in ihr die Bewegungen hervorruft, die nach unserer Erfahrung nicht durch unseren Willen gelenkt werden, als Anlaß anzunehmen, daß es in einer Uhr eine Seele gibt, welche die Stunden anzeigt.47
Zwar meint Descartes, es sei nur eine Mutmaßung, dass die einzelnen Teile des Ganzen nicht durch eine Seele zusammengehalten werden. Doch verfestigte sich diese Hypothese in der politischen Theorie bald zu einer These, nämlich, dass sowohl der Staat als auch das Recht eine künstliche, durch einen Willensakt erzeugte Ordnung seien. Kant hat also zutreffend festgestellt, dass, obwohl zwischen Staat und Handmühle eigentlich keine Ähnlichkeit bestehe, sich im Hinblick auf ihre Kausalität durchaus Parallelen ziehen lassen.48 Unter den Prämissen des mechanistischen Paradigmas werden beide durch ›Wirkursachen‹ 45 Johannes Althusius, Politica methodice digesta (1603), 3. Auflage (1614), zitiert aus : Althusius, Politik, übersetzt von Heinrich Janssen. In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Dieter Wyduckel (2003), IX, 17 (S. 116). 46 Althusius, Politik (Fn. 45), IX, 17 (S. 116). Zu möglichen Verbindungen siehe Leroy E. Loemker, Leibniz and the Herborn Encyclopedists, in : Journal of the History of Ideas 22 (1961), S. 323– 338 ; Patrick Riley, Three 17th Century German Theorists of Federalism : Althusius, Hugo and Leibniz, in : Publius 6 (1976), S. 7–41. Andererseits hat sich Leibniz auch ablehnend gegenüber der Lehre des Althusius geäußert, z.B. Nova methodus (Fn. 6), S. 45 ; Brief an Conring vom 13./23. Januar 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 6), S. 323–337, 335. Das Thema bedürfte einer selbständigen Untersuchung. 47 René Descartes, Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen, in : Karl Eduard Rothschuh (Hg.), Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648), 1969, S. 137–194, 141 (Hervorhebung im Original). Zur Behauptung einer Mitwirkung Gottes (concursus Dei) durch die Okkasionalisten (siehe 9. Kapitel II). 48 Kant hat seine Worte in dem erwähnten Zitat (Fn. 43) mit großer Vorsicht gewählt. Wenn er betont, es bestünde eine Ähnlichkeit über die Kausalität von Staat und Maschine zu reflektieren, sind Unterschiede keineswegs ausgeschlossen. Allerdings wären solche Unterschiede, wie
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beherrscht, die jenem Reich der Macht angehören, das Leibniz vom Reich der Weisheit unterschieden hat. Mit Kant wäre noch hinzuzufügen, dass es sich beim Betrieb der künstlichen Ordnung um die Akte eines »absoluten« Willens handelt, welcher von den Bestimmungen »innerer Volksgesetze« streng zu unterscheiden sei.49 Dabei zeigt sich, dass der Begriff des Absoluten unter den Prämissen eines mechanistischen Paradigmas eine bemerkenswerte Veränderung erfahren hat. Meinte z.B. noch Bodin, nur derjenige sei souverän, »der nächst Gott von niemandem abhängig ist«,50 so ist der Herrscher auch aus dieser Abhängigkeit nun freigesetzt. Das bedeutet zugleich eine erhebliche Ausdehnung der Machtbefugnisse des Souveräns. Ihre Legitimation gewinnt diese Machterweiterung durch die Ermächtigung des Herrschers im bereits erwähnten Gesellschaftsvertrag. Mit der Deutung des Vertragsschlusses als Schöpfungsakt (imitatio creationis) hat das säkulare Naturrecht den Souverän in Gestalt eines ›mortal god‹ an den Platz Christi gerückt.51 Dagegen meint Leibniz, die »Modernen« hätten »die Reform zu weit getrieben« und die »natürlichen Dinge mit den künstlichen« verwechselt. Über die Lehre von der Ausdehnung und die Tierautomaten-Doktrin hinaus weicht Leibniz auch im Gebiet der Jurisprudenz von den »Modernen«, hier den Protagonisten säkularen Naturrechts ab, indem er den Staat nicht als künstliche Maschine, sondern als beseelten Körper, als »Person« und damit als natürliche Maschine entwirft. Die Schriften, in denen er den Staat (res publica) als corpus – als persona charakterisiert und damit den modernen Begriff der »Juristischen Person« vorwegnimmt, sind bereits besprochen worden.52 Darin führt er aus, dass nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Person »spiritus«, dass auch der Staat eine Seele und damit jene »Kraft« besitzt, die das Merkmal sowohl der substantiellen Formen als auch der natürlichen Maschinen ist. Im Übrigen will Leibniz gar nicht bestreiten, dass es Unterschiede zwischen kollektiven und individuellen Personen gibt. Zur Bestimmung der Differenzen greift er jedoch nicht auf das mechanistische Paradigma oder die Lehre von den künstlichen Maschinen zurück. Vielmehr bedient er sich – in Übereinstimmung mit der antiken und mittelalterlichen Tradition – des rechtstechnischen Instruments der Fiktion. So kann er zwei verschiedene Sachverhalte, nämlich das Handeln von Leibniz scharfsichtig erkannte, lediglich gradueller Natur (Fn. 40). Damit wäre einmal mehr der Fehler einer Verwechslung der natürlichen mit den künstlichen Maschinen begangen. 49 Siehe das Zitat aus der »Kritik der Urteilskraft« oben bei Fn. 43. 50 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (Fn. 21), I, 9 (S. 240). 51 Hobbes, Leviathan (Fn. 12), II, XVII (S. 109–113, 112). Dazu näher Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper (1999), S. 69–70. 52 Im 5. Kapitel IV–VII.
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Gruppen einerseits und von Individuen andererseits, unter dem Gesichtspunkt ›natürlicher Maschinen‹ als gleich behandeln. 2. Exkurs : Die Kontroverse mit Bayle über das autonome Fahren
Der französische Schriftsteller und Philosoph Pierre Bayle (1647–1706) ist durch sein Lexikon »Dictionnaire Historique et Critique« berühmt geworden, das erstmals 1696 erschien und bis 1760 mehr als zehn Auflagen erlebt hat. Um die Wende zum 18. Jahrhundert führte er mit Leibniz eine Diskussion über das Leib-Seele-Problem. Bayles Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Lehre von der prästabilierten Harmonie, die er im Bilde eines Schiffes zusammenfasst, »das sich, ohne von jemand gelenkt zu werden, von selbst in den gewünschten Hafen hineinbegibt«.53 Die Möglichkeit einer solchen Selbststeuerung hält Bayle für gänzlich ausgeschlossen. Er zweifelt sogar, ob Gott fähig sei, ein solches Schiff zu konstruieren. Leibniz ist dagegen der Überzeugung, dass nicht nur Gott keine Schwierigkeiten hätte, sondern auch ein »endlicher Geist«, also der Mensch, in der Lage wäre, ein selbststeuerndes Fahrzeug herzustellen. Im Übrigen habe das autonome Fahren mit wunderbaren Kräften, Magie oder Zauberei nichts zu tun. Es beruhe allein auf der Lösung bestimmter mathematischer, geometrischer und mechanischer Aufgaben, die darin bestünden, eine endliche Zahl von Zufällen, die auf den Lauf des Schiffes einwirken können, in seiner mechanischen Konstruktion vorherzusehen und zu berücksichtigen : Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein Mensch eine Maschine bauen könnte, die imstande wäre, während einiger Zeit in der Stadt herumzuspazieren und sich gerade an den Ecken bestimmter Straßen umzudrehen. Ein unvergleichlich vollkommenerer, wenngleich begrenzter Geist könnte dann weiterhin auch eine unvergleichlich größere Zahl von Hindernissen voraussehen und vermeiden […]. 53 So die Schilderung bei Leibniz, Erwiderung auf die Betrachtungen über das System der prästabilierten Harmonie in der zweiten Auflage des Bayleschen »Dictionnaire historique et critique« (Artikel Rorarius), 1702, in : Hauptschriften II (Fn. 4), S. 382–405, 383 ; Bayle, Artikel »Rorarius« (Fn. 39) : »Man stelle sich ein Schiff vor, welches, ohne daß es einige Empfindung, oder einige Erkenntnis hat, und, ohne daß es durch irgend ein erschaffenes, oder unerschaffenes Wesen regiert wird, die Kraft hat, sich von sich selbst auf eine so geschickte Art zu bewegen : daß es beständig guten Wind hat, daß es die Strudel und Klippen vermeidet, daß es Anker wirft, wo es seyn muß, daß es sich gleich zu der Zeit in einem Hafen rettet, wenn es nöthig ist« (S. 89). Zu Bayle, seinem Lexikon, den Rorarius-Artikel und den Diskussionen über die »Tiermaschine« siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte (1975), S. 50–58.
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So könnte sicherlich ein begrenzter Geist erleuchtet genug sein, um alle Ereignisse, die sich in einer bestimmten Zeit abspielen, zu begreifen und auf Grund sicherer Beweise vorauszusehen.54
Ein solcher Geist »könnte sogar einen Körper bilden, der imstande wäre, einen Menschen nachzuahmen«.55 Leibniz’ Ingeniosität macht also auch vor einer technischen Kinetik keinen Halt, die wir heute unter der Bezeichnung »Robotik« zu diskutieren pflegen. Solche künstlichen Maschinen, etwa in Gestalt von Robotern oder Schiffen, »die trotz aller Umwege und aller Stürme von selbst in den Hafen einlaufen«, müssen »nicht für seltsamer gehalten werden, als eine Spindel, die längs einer Schnur hinläuft, oder eine Flüssigkeit, die in einer Röhre fortfließt«.56 Überall gehe es mit rechten Dingen zu : Die Maschinen gehorchen schlicht den »Gesetzen der Mechanik«.57 Mit seinen Überlegungen zu den selbststeuernden Maschinen ist Leibniz einer der ersten und wahrscheinlich sogar der erste Visionär des autonomen Fahrens.58 Aber auch bei den »größten Kunstwerken« des Menschen besteht er auf der erwähnten Grenze, die zwischen ›künstlichen und natürlichen Dingen‹, zwischen den Werken eines endlichen und eines »unendlich vollkommeneren« Geistes verläuft : Es ist die Eigenart natürlicher Maschinen, dass ihre Komplexität das Fassungsvermögen des Menschen bei weitem übersteigt.59
54 Leibniz, Erwiderung (Fn. 53), S. 384. 55 Leibniz, Erwiderung (Fn. 53), S. 384. 56 Leibniz, Erwiderung (Fn. 53), S. 386. 57 Leibniz, Erwiderung (Fn. 53), S. 384. 58 Das ist bisher, soweit ersichtlich, noch nicht erkannt worden. Als Vordenker des autonomen Fahrens wird häufig der russische Maler Wiktor M. Wasnezow (1848–1926) genannt, der 1880 einen, zumindest teilautonom fliegenden Teppich gemalt hat. Die Überlegungen von Leibniz kommen der aktuellen Forschung aber viel näher, zumal sie auf Wissenschaft gegründet sind und jeglichen Zusammenhang mit Magie, Zauber oder ähnlichen ›höheren‹ Kräften ausschließen. 59 Mehr noch als zu Leibniz’ Zeiten herrscht heute die Neigung, den Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Dingen zu verkennen. So hat vor einigen Jahren die Europäische Kommission für das »Human Brain Project« eine Milliarde Euro an Drittmitteln zur Verfügung gestellt. Die Aufgabe der Projektleiter bestand darin, mit ihrem Team das menschliche Gehirn im Computer nachzubauen. Das hätte einen echten breakthrough bedeutet, wie er in den Ausschreibungen für Drittmittelprojekte so häufig verlangt wird. Nur weiß die Menschheit bis heute nicht einmal, wie das Gehirn eines Fadenwurms mit dreihundert Neuronen funktioniert. Es war daher von vorneherein unmöglich, das menschliche Gehirn mit über hundert Milliarden Neuronen nachzubauen. Das Projekt musste gestoppt werden, nachdem Experten eine unglaubliche Verschwendung von Fördergeldern beanstandeten, vgl. den Bericht von Ansgar Graw, Sehr ärgerliche Statistiktricks, in : FAZ vom 9. März 2018, S. 20.
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3. Funktionen der Billigkeit zwischen Mechanismus und Organismus
Mit der Behauptung eines kardinalen Unterschieds zwischen künstlichen und natürlichen Maschinen darf Leibniz als Vorreiter eines neuen Konzepts, und zwar der Theorie des »Organismus« angesprochen werden.60 Denn auf Grundlage natürlicher Maschinen wird ›Leben‹ nicht mehr durch ein Aggregat oder eine bestimmte Anordnung der Materie erklärt, sondern durch von vorneherein aktive Substanzen, die durch eine entsprechende ›Organisation‹ des Körpers wirken. Der Begriff »Organismus« wurde um 1700 von dem ebenfalls mit dem Leib-Seele Problem befassten Arzt, Chemiker und Alchemisten Georg Ernst Stahl (1659–1734) in markanter Abgrenzung und als Gegenbegriff zum »Mechanismus« gebildet.61 Leibniz hat den Begriff frühzeitig übernommen.62 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollte er sich in der Philosophie von Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775– 1854) durchsetzen, um dann im 19. Jahrhundert, vor allem durch die Historische Rechtsschule, auch in der Jurisprudenz zum Programmbegriff erhoben zu werden. Künstliche und natürliche Maschinen sind durch jene Grenzlinie getrennt, die zwischen Mechanismus und Organismus verläuft. Die Unterscheidungen haben für den Begriff der Billigkeit vielfältige Konsequenzen, die vorläufig wie folgt zusammenzufassen wären : Als politische Theorie fußt der »Organismus« auf einem gegliederten Aufbau der Gesellschaft : Ehe, Familie, häusliche Gemeinschaft, Korporationen, Städte und Länder führen zur Einheit eines großen
60 Siehe Hans Ludwig Koch, Materie und Organismus bei Leibniz (1908), S. 51–56 ; Marielle Echelard-Dumas, Der Begriff des Organismus bei Leibniz : »biologische Tatsache« und Fundierung, in : Studia Leibnitiana VIII/2 (1976), S. 160–186 ; Tobias Cheung, Die Organisation des Lebendigen (2000), S. 52–54 ; Robert Hanulak, Maschine – Organismus – Gesellschaft (2009), S. 93–100 ; Stefan Heßbrüggen-Walter, Ansgar Lyssy, Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur (§§ 63– 76), in : Monadologie (Fn. 10), S. 175–195 ; François Duchesneau, Organisme et mécanisme : de Hoffmann à la controverse entre Leibniz et Stahl, in : Herbert Breger, Jürgen Herbst, Sven Erdner (Hg.), Natur und Subjekt (2011), S. 20–38. 61 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gehrhard Dohrn-van Rossum, Organ, Organismus, Politi scher Körper, in : Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (1978), S. 519–622, 558 f.; Th. Ballauf, Organismus, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 6 (1984), Sp. 1330–1336, 1331 ; de Mazza, Der verfasste Körper (Fn. 51), S. 104 ; Hanulak, Maschine – Organismus – Gesellschaft (Fn. 53), S. 94 f. 62 Siehe die Nachweise bei Echelard-Dumas, Der Begriff des Organismus bei Leibniz (Fn. 60), S. 161, 165.
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Ganzen, welches »Staat« genannt werden darf.63 Es handelt sich um eine persona civilis – um einen lebendigen, beseelten Körper, welcher, durch die Natur geschaffen, auf der Idee einer geteilten Souveränität beruht. Von diesem Konzept, das in den »Juristischen Personen« und in Begriffen wie Verfassungsorgan, Kollegialorgan, Organwalter, Organbesitz oder Organhaftung bis heute fortlebt, ist eine Ordnung zu unterscheiden, die nach Maßgabe der Vertragsdoktrin durch den Willen eines »mortal god« künstlich erzeugt wurde. Von den vielen Differenzen genügt es hier, nur eine hervorzuheben, welche die Lehre von den Rechtsquellen betrifft : Im Zeichen einer ungeteilten Souveränität tritt dieser mortal god als omnipotenter Gesetzgeber auf, der sich berühmt, alle im Staat vorkommenden Rechtsfragen regeln zu können. Unter dieser Prämisse müssen selbst offenbare Forderungen der Billigkeit gegen das Gesetz auf der Strecke bleiben, was die Verfechter eines staatsrechtlichen Positivismus denn auch immer wieder hervorgehoben haben. Dagegen bestreitet die politische Theorie des Organismus, dass ein Gesetzgeber generell imstande wäre, prospektiv durch allgemeine Regeln juristische Entscheidungen zu bestimmen. Sie harmoniert mit den Prämissen, auf denen Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts fußt. Danach darf der Richter das Gesetz nicht nur auslegen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch ergänzen, berichtigen, fortbilden oder Recht neu schöpfen. Dass der Richterschaft in einer vielgliedrigen politischen Ordnung als selbständiger Einheit besondere Funktionen übertragen sind, hat eine lange Tradition.64 Dies verdient Hervorhebung, weil sich Elemente der Billigkeit, wie ausgeführt, lediglich in begrenztem Maße durch das Gesetz typisieren oder positivieren lassen. Häufig können sie nur situativ und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls durch den Richter Eingang in die juristische Entscheidung finden. Auch darf noch einmal daran erinnert werden, dass Leibniz seiner persona civilis sogar eine Seele zuschreibt, die imstande ist, die ewigen und notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zu reflektieren. Damit ist ein zusätzlicher Raum eröffnet, wo darüber verhandelt werden kann, ob in bestimmten Situationen materiale Elemente gegenüber dem formalen Recht die Oberhand gewinnen können.
63 Leibniz, Divisio societatum (1680), in : AA IV 3, S. 907–912 (siehe 5. Kapitel IV–VI). 64 Näher Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 22), S. 94–96. Zum erheblichen Spielraum, den Leibniz dem Richter bei der juristischen Entscheidungsfindung gewährt, siehe die Ausführungen unten im 10. Kapitel V.
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4. Zwischenergebnis
Mit seiner Unterscheidung zweier Reiche und Konzepten wie »natürliche Maschine« und »Organismus« greift Leibniz auf die Lehren der »Alten« zurück, etwa auf Aristoteles, der in der Seele ebenfalls die Ursache des lebendigen Körpers gesehen hat. Ähnliches lässt sich von der Teleologie, Entelechie oder den sogenannten »Zweckursachen« sagen, die jahrhundertelang einen festen Bestandteil der aristotelischen Schulphilosophie bildeten. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Leibniz die »Prinzipien der Mechanik« mit seinem Rückgriff auf die antike Philosophie nicht überwinden, sondern nur »tiefer begründen« wollte.65 Er begnügte sich also nicht mit einer Parteinahme für die anciens. Vielmehr wollte er auch den modernes, und zwar dadurch Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er zwischen antikem und aufgeklärtem Denken zu einer neuen Metaphysik hindurchsteuert. Mit der Annahme, dass der politische Körper eine »Seele« besitze, bewegt sich Leibniz abermals im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Tradition.66 Seine Überlegungen zu einer Rechtsreform lassen aber keine Zweifel darüber aufkommen, dass er auch auf juristischem Gebiet als Vorbote einer neuen Zeit auftritt.67 Nur am Rande sei bemerkt, dass die antike und mittelalterliche Tradition die Frage, worin die Seele eines politischen Körpers eigentlich bestehen soll, nicht einheitlich beantwortet hat. Leibniz scheint sie im »Grundgesetz« zu erblicken, welches er, im Unterschied zu den Protagonisten säkularen Naturrechts, freilich nicht als Befehl des Staates, sondern als pluralen Schöpfungsakt, als Kompromiss und als Abkommen begreift.68 65 Neues System (Fn. 4), S. 259 (indem er z.B. neueste Erkenntnisse der zeitgenössischen Physik berücksichtigte, die dem mechanistischen Konzept des Körpers als Ausdehnung widersprachen) ; Specimen dynamicum (Fn. 2), S. 259 (»ich stimme […] denen bei, die sich gegen die Anwendung der Formen bei Erforschung der eigentlichen und besonderen Ursachen der Sinnendinge wenden. Dies möchte ich betonen, um nicht darum, weil ich den Formen wieder ihr ehemaliges Recht, uns die Quellen der Dinge zu erschließen zuerkenne, in den Verdacht zu kommen, als wollte ich zugleich die scholastischen Klopffechtereien wieder zu Ehren bringen«). Die größte Leistung der griechischen Philosophen sieht Leibniz darin, dass sie die Lehre von den unkörperlichen Substanzen »klarer ausgedrückt« haben, Wiener Vortrag am 1. Juli 1714 in : Wenchao Li (Hg.), Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 55–60 (lat.) und S. 61–70 (dt. mit Anm.), 69. Allerdings hätten sie dabei die Wirkursachen zu sehr vernachlässigt, Brief an Rémond vom 10. Januar 1714 (Fn. 4), S. 607. 66 Näher Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 22), S. 23–62 (siehe 5. Kapitel VI). 67 Siehe den Überblick bei Meder, Letztes Universalgenie oder erster globaler Denker ?, in : JZ (2016), S. 1073–1081. 68 Näher im 5. Kapitel VI und im 12. Kapitel IV 2. Abermals besteht also eine Verbindung mit den
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Unter den Prämissen eines mechanistischen Paradigmas und im Anschluss an Descartes besteht dagegen kein Anlass mehr, einen Einfluss der Seele auf die Bewegungen »der Maschine unseres Körpers« zu behaupten.69 Hobbes scheint eine Ausnahme zu bilden, wenn er meint, auch der Leviathan besitze eine »Seele«.70 Diese darf mit der Seele, wie Leibniz sie sich vorstellt, aber nicht verwechselt werden. Während Leibniz die Seele ›organisch‹ und in Anlehnung an die substantiellen Formen denkt, vermag Hobbes in diesen ›Formen‹ nur den heruntergekommenen Jargon der Schultheologie zu erblicken. Folgerichtig identifiziert er die Seele mit dem Willen und Befehl des Herrschers – mit dessen »Souveränität«, die durch den Gesellschaftsvertrag künstlich erzeugt wurde. So ist denn auch die Seele des Leviathan eine »künstliche«, die dem mechanistischen Paradigma unterliegt. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Leviathan und einer künstlichen Maschine, etwa einer »durch einen einzigen absoluten Willen« beherrschten »Handmühle«, wird zwar nur »symbolisch vorgestellt«.71 Gleichwohl besteht eine Ähnlichkeit, über »ihre Kausalität zu reflektieren«. Leibniz hätte diese Art von Kausalität dem durch den menschlichen Willen (ius voluntarium) beherrschten Reich der Macht zugeschlagen.
V. Die Billigkeit zwischen strengem Recht und höherer Gerechtigkeit Eine Besonderheit der Billigkeit sieht Leibniz darin, dass, wer, ihre Gebote verletzt, vor irdischen Gerichten nicht immer zur Rechenschaft gezogen wird. Sie ist auf einen »Höheren« angewiesen, weil »eine Klage« nur aus dem ius strictum abgeleitet werden kann. Als »Höherer« (superior) kommen, wie bereits angedeutet, ein irdischer Gesetzgeber oder Richter, aber auch Gott in Betracht.72 In
»inneren Volksgesetzen«, wovon bei Kant die Rede ist und die, wie die ›organische Betrachtungsweise‹, mit dem Siegeszug der Historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert eine Renaissance erfahren werden. 69 Siehe die Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 22), S. 116–117 (sowie oben III 1). 70 Hobbes, Leviathan, Einleitung (Fn. 12), S. 5 : »Soveraignty is an Artificiall Soul, as giving life and motion to the whole body« (Hervorhebungen im Original). Die Aussage ist im Zusammenhang mit einer Passage im 34. Kapitel des Leviathan zu lesen, wo Hobbes behauptet, dass »Substanz und Körper dasselbe« bezeichnen, »und deshalb sind ›unkörperliche Substanz‹ Wörter, die, wenn sie untereinander verbunden werden, sich gegenseitig aufheben, wie wenn man ›unkörperlicher Körper‹ sagen würde« (S. 300 – Hervorhebungen im Original). 71 Siehe die Formulierung von Kant in der »Kritik der Urteilskraft« (oben IV 1 bei Note 43). 72 Dazu näher im 3. Kapitel IV 3.
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der Nova methodus sucht Leibniz nun das Verhältnis von strengem Recht und Billigkeit mit den Worten zu präzisieren : Und weil zwischen dem strengen Recht und der Billigkeit das physische Band fehlt, stellt Gott es durch seinen Beistand her, so daß alles, was öffentlich, d.h. für das Menschengeschlecht und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es auch für die einzelnen nützlich ist, und daß somit alles Ehrenvolle nützlich und alles Schändliche schädlich ist. Denn daß Gott für die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen festgesetzt hat, erhellt aus seiner Weisheit.73 1. Divergenzen und Konvergenzen zwischen aequitas und ius strictum
Diesen Satz hat Leibniz viele Jahre vor seinem Entwurf der Zwei-Reiche-Lehre geschrieben. Will er damit sagen, dass Gott in das irdische Geschehen jederzeit eingreift, dass er unmittelbar Einfluss auf die Rechtspraxis nimmt, um alltägliche Schwierigkeiten zu lösen ? Wie passt das mit seiner Kritik des Okkasionalismus zusammen ? Und wie mit seiner Aussage, er möchte »das Übernatürliche« nur »im Urbeginn der Dinge« zugeben – »bei der ersten Bildung der Geschöpfe oder bei der ursprünglichen Einrichtung der prästabilierten Harmonie« ?74 Diese Fragen sind grundsätzlicher Natur : Sie betreffen das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Metaphysik. Um hier eine Antwort zu finden, muss die Passage einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Sie handelt zunächst von den Spannungen und Inkommensurabilitäten, die zwischen strengem Recht und Billigkeit bestehen. Diese rühren daher, dass die erste Stufe eher den privaten und die zweite mehr den öffentlichen Interessen dient. Im Hintergrund steht der bereits in der römischen Jurisprudenz anerkannte Gedanke, dass eine jede Rechtsordnung sowohl aus eigennützigen als auch aus fremdnützigen Teilen besteht.75 Leibniz charakterisiert das Prinzip, welches das ius strictum beherrscht, daher auch als »utilitas propria«.76 In Über73 Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83). In eine ähnliche Richtung zielt die Formulierung : »Gott nämlich bestätigt das reine Recht und die Billigkeit […], und setzt beide durch, weil er allmächtig ist«, Nova methodus, a.a.O., § 75 (S. 83 – Hervorhebung nicht im Original). 74 Theodicée (Fn. 26), Vorrede (S. 24) ; De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque, in : Philosophische Schriften IV (Fn. 1), S. 504– 516, 505 (dazu näher im 9. Kapitel III 2). 75 Siehe Behrends, Struktur und Wert (1990), in : ders. (Hg.), Institut und Prinzip, Bd. I (2004), S. 55–89 (weitere Nachweise im 3. Kapitel II 2). 76 De legum rationibus inquirendis (1678/79 ?), in : AA VI 4, C, S. 2775–2780, 2778 (siehe auch 3. Kapitel IV 1).
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einstimmung mit Bodin, Hobbes oder Pufendorf misst er dem Prinzip des Eigennutzes eine fundamentale Bedeutung zu. Doch bestreitet er, dass die Rechtsordnung auf das ius strictum zu reduzieren sei. Vielmehr müsse dieses, um den Geboten solidarischen Handelns entsprechen zu können, durch das öffentliche Element der aequitas ergänzt werden. Leibniz beschränkt seine Analyse des Verhältnisses von strengem Recht und Billigkeit nicht auf den Gesichtspunkt der Differenz. Er sucht auch das Verbindende herauszuarbeiten, wenn er feststellt : »Die Billigkeit selbst gebietet es, das strenge Recht zu beachten«.77 In den Entwürfen zu einer zweiten Auflage der Nova methodus hat er diesen Gedanken erneut aufgegriffen und mit dem Zusatz versehen : »falls nichts im Wege steht«.78 Diese begriffliche Erweiterung soll zum Ausdruck bringen, dass die Ideen des Eigennutzes, der Freiheit oder Sicherheit (neminem laedere) mit der Billigkeit grundsätzlich im Einklang stehen, ja aus ihr sogar abgeleitet werden können. Mit dem in späteren Jahren ergänzten Hinweis wäre dann lediglich klargestellt oder bekräftigt, dass die Übereinstimmung von strengem Recht und Billigkeit dort an ihre Grenzen stößt, wo durch die Ausnutzung von Rechtspositionen eine Verletzung von Solidarinteressen zu befürchten ist. Die Billigkeit hat also noch eine weitere und allgemeinere Bedeutung, die das ius strictum mit einschließt. Die Differenz oder der ›Bruch‹, welcher die beiden Stufen auseinanderreißt, tritt erst zu Tage, wenn private und öffentliche Interessen in Konflikt geraten.79 An die hier nur grob skizzierten Merkmale von strengem Recht und Billigkeit knüpft Leibniz nun die Forderung, »daß alles, was […] für das Menschengeschlecht […] nützlich ist […] auch für die einzelnen nützlich« sein muss.80 Dabei ist abermals vorausgesetzt, daß ius strictum und aequitas in gegensätzliche Richtungen streben : Die Ausnutzung formaler Rechtspositionen kann zur höchsten Rechtsverletzung (summa iniuria) führen, während mit der einseitigen Verfol77 Nova methodus II (Fn. 6), § 74, S. 81 (siehe hierzu und zum Folgenden auch die Ausführungen im 3. Kapitel IV). 78 Nova methodus II, Anm. in : AA VI 1 zu § 74, S. 344, Zeile 26 (si nil obstet). Siehe auch Hubertus Busche, Anmerkungen des Herausgebers zur Nova methodus, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 6), Nr. 131 (S. 430). Umgekehrt entspringt dem ius strictum jedoch kein Gebot, den Grundsatz der Billigkeit zu befolgen. Ein solches Gebot würde angesichts der Unbestimmtheit der Billigkeit das ius strictum ad absurdum führen. 79 Leibniz erörtert diesen Konflikt anhand verschiedener Beispiele, in denen es um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen die Billigkeit das strenge Recht aufheben darf, siehe z.B. seine Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 47–49 (Eigentumsrecht an Personen, Sklaverei), oder Elementa Juris Naturalis (Fn. 26), Nr. 3, S. 456 (Widerstandsrecht in den Bauernkriegen). 80 Siehe den Nachweis oben bei Note 73.
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gung fremdnütziger Interessen die Gefahr einer Verletzung der utilitas propria einhergeht. Es fehlt das physische »Band« (careat vinculo Physico), sagt Leibniz, und nimmt damit einen Terminus vorweg, der in seiner Spätphilosophie eine wichtige Rolle spielen wird, nämlich das viel diskutierte »vinculum substantiale«, worauf hier freilich nicht näher eingegangen werden kann.81 2. Konvergenzen und Divergenzen zwischen aequitas und pietas
Leibniz hat sich nicht dazu geäußert, auf welchen Wegen der Mangel eines Bandes zwischen ius strictum und aequitas im Einzelnen zu beheben wäre. Er nennt Gott, mit dessen Beistand das Band geknüpft wird, und er bestimmt das Ziel, nämlich die Vereinigung von Eigennutz und Gemeinwohl. Dabei versteht sich, dass das Band auf der höchsten Stufe der Gerechtigkeit – auf den Ebenen von pietas oder iustitia universalis hergestellt wird.82 Andererseits strebt auch die Billigkeit »nach etwas Höherem«, sie sucht ebenfalls, zwischen eigenem und fremdem Wohl zu vermitteln : »Billig ist es, das Glück des anderen zu fördern, soweit dadurch das eigene nicht beeinträchtigt wird.«83 In der Nova methodus betont Leibniz, dass dieses Ziel auch durch staatliche Gesetzgebung erreicht werden kann.84 Dass er konkrete Anwendungsregeln für die Billigkeit vor allem während seiner Arbeit am Entwurf eines Corpus Iuris Reconcinnatum (1668–1672) formulierte, wurde bereits ausgeführt.85 81 Leibniz erörtert das Thema vor allem im Briefwechsel mit dem französischen Jesuiten Bartholomäus Des Bosses (1668–1738), in : Philosophische Schriften II (Fn. 1), S. 285–521 ; dt. Cornelius Zehetner (Hg.), Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses (2007). Siehe auch bereits den Brief an den Politiker, Juristen und Physiker Otto von Guericke (1602–1686), August 1671, in : AA II 1, S. 238–243, 239. Näher zum vinculum substantiale Busche, Monade und Licht, in : Carolin Bohlmann, Thomas Fink, Philipp Weiss (Hg.), Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts (2008), S. 125–162, 160 ; Cornelius Zehetner, Vinculum substantiale : Der Briefwechsel zwischen Leibniz und Des Bosses, in : Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, a.a.O, S. XXV–CXXVI. 82 Siehe den Nachweis oben bei Note 73. 83 Elementa Juris Naturalis, Nr. 3 (Fn. 26), S. 456. In die gleiche Richtung weist die Aussage : Nach der Billigkeit trachte »jeder seine eigene Glückseligkeit in der eines anderen zu vermehren, indem er diesem nach seinen Kräften zu Hilfe kommt«, Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 171. 84 Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83). 85 Diese Bemühungen haben vornehmlich in den Stücken der in dieser Zeit verfassten Elementa Juris naturalis (Fn. 26) einen Niederschlag gefunden (siehe 2. Kapitel V). Als Beispiele wären seine Ablehnung der Rechtsverbindlichkeit von »pacta nuda« oder seine Überlegungen zur Vertragsgerechtigkeit, »innoxia utilitas« und »cautio damni infecti« zu nennen, die alle von dem Gedanken geleitet sind, Eigennutz und öffentliches Wohl aufeinander abzustimmen. Dazu etwa :
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Sowohl aequitas als auch pietas zielen also auf eine Vereinigung von Eigenund Gemeinwohl. Diese Übereinstimmung bildet aber nicht die einzige Konvergenz innerhalb der Naturrechtstrilogie. Die Überschneidungen resultieren daraus, dass die beiden ersten Stufen den Keim der höchsten, universalen und damit allgemeinsten Stufe der Gerechtigkeit in sich tragen. Wie bei konzentrischen Kreisen der größere Radius den engeren mitumfasst, ist die jeweils höhere Stufe »vollkommener als die vorhergehende und bekräftigt diese«.86 So gebietet es die Billigkeit, »das strenge Recht zu achten«. Als das höhere Recht besitzt sie aber auch die Kompetenz, das ius strictum zu derogieren.87 Ebenso muss die pietas die Gebote der aequitas respektieren und darf nur in begründeten Ausnahmefällen davon abweichen. Die wechselseitige Durchdringung der Stufen charakterisiert Leibniz mit den Worten : Die pietas ist also die dritte Stufe des Naturrechts und verleiht den anderen Stufen ihre Vollendung und Wirksamkeit. Gott nämlich bestätigt das reine Recht und die Billigkeit, weil er allwissend und weise ist, und setzt beide durch, weil er allmächtig ist. Daher fällt der Vorteil des Menschengeschlechts, ja die Schönheit und Harmonie der Welt, mit dem göttlichen Willen zusammen.88
Mit »Schönheit« und »Harmonie der Welt« sind zugleich einige Stichworte genannt, die auf Divergenzen zwischen aequitas und pietas schließen lassen. Zwar bringt Leibniz auch die Billigkeit mit Ausgewogenheit, Verhältnismäßigkeit, Proportion und Harmonie in Verbindung. Doch sind diese Attribute nicht auf die »Harmonie der Welt«, sondern auf den engeren Kreis von »zwei oder mehKlaus Luig, Die »innoxia utilitas« oder das »Recht des unschädlichen Nutzens« als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus, in : Helmut Neuhaus, Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas (2002), S. 251–266 ; Armgardt, The Role of aequitas in Leibniz’ Legal Philosophy – a Formal Reconstruction, in : Wenchao Li u.a. (Hg.), »Für unser Glück oder das Glück anderer«. Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Bd. VI (2017), S. 305–314, 308–311 ; Meder, The Role of ›ius strictum‹ in the Legal Philosophy of Leibniz, in : »Für unser Glück oder das Glück anderer«, a.a.O., S. 581–616, 591–600 (siehe auch 6. Kapitel II). 86 Nova methodus II (Fn. 6), § 73 (S. 79). 87 Nova methodus II (Fn. 6), § 74 (S. 81) und § 73 (S. 79) ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 47–51, 45. Zum Schema von Regel und Ausnahme, worauf das Verhältnis der Stufen und insbesondere der Billigkeit zum strengen Recht fußt, siehe 3. Kapitel IV 2. 88 Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83) ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 43. Auch hier wäre zu fragen, ob Leibniz sagen will, dass Gott auf die Rechtspraxis »Einfluß« nimmt (siehe oben bei Note 73). Wie passt die Behauptung, er »setzt beide durch«, mit seiner Kritik des Okkasionalismus zusammen ? Darauf ist noch zurückzukommen.
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reren Rechtsansprüchen« bezogen.89 Dazu kann auch ein Konflikt zwischen ius strictum und aequitas gehören, wo nicht Recht und Unrecht, sondern zwei Berechtigungen, eine formale und eine materiale, konkurrieren. Leibniz hat wiederholt hervorgehoben, dass die Billigkeit nur schwer in allgemeine Tatbestände zu fassen ist.90 Ein Problem sieht er in ihrer Unbestimmtheit und dem Mangel an Maßstäben. Sie ist, wie am Beispiel der Goldenen Regel noch gezeigt wird, auf den »gerechten Willen« angewiesen, wenn sich auf ihrer Grundlage keine Entscheidung zwischen Eigen- und Gemeinwohl finden lässt.91 Ihr Anwendungsgebiet ist enger und spezieller als das von pietas und iustitia universalis. Dies zeigt sich vornehmlich darin, dass die höchsten Stufen der Gerechtigkeit über den disziplinären Rahmen der Jurisprudenz hinaus von den Vorteilen des Menschengeschlechts, von der Schönheit oder Harmonie der Welt und deren Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen handeln.
VI. Resümee Der Satz, es fehle »zwischen dem strengen Recht und der Billigkeit das physische Band«, wäre vorläufig wie folgt zu erklären : Im Konflikt mit dem strengen Recht gibt es Fälle, in denen die Billigkeit nicht imstande ist, ein solches Band aus eigener Kraft zu knüpfen. Sie ist auf eine höhere Gerechtigkeit angewiesen, wenn es ihr an Maßstäben fehlt, um zu begründen, was verhältnismäßig, angemessen oder ausgewogen sein kann. Dabei wäre zu beachten, dass der Mangel eines Bandes nur im Verhältnis zwischen den beiden ersten Stufen auftritt. Leibniz hat nirgendwo behauptet, es fehle auch ein Band zwischen pietas und aequitas. Das muss aber nicht heißen, dass nicht auch die beiden höheren Stufen in Konflikt geraten können. Der Einbruch der Billigkeit in die Rechtsordnung ist nämlich mit der Gefahr einer einseitigen Gewichtung fremdnütziger Interessen verbunden.92 89 Nova methodus II (Fn. 6), § 74 (S. 81). Zur Beschränkung der aequitas auf eine »gegenwärtige Zufriedenheit« (und weiteren Unterschieden gegenüber der pietas) siehe 8. Kapitel IV und unten VI. Auf der dritten Stufe können daher Güter geschützt werden, die auf der zweiten Stufe außen vor bleiben müssten. Als Beispiele nennt Leibniz das Verbot, wilde Tiere zu missbrauchen, oder Missbrauch mit sich selbst zu treiben, Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83). 90 Z.B. Elementa Juris Naturalis, Nr. 3 (Fn. 26), S. 455 (das Billige könne als Norm nur »difficillimè generaliter« bestimmt werden). 91 Siehe 8. Kapitel V. 92 Vgl. Praefatio (Fn. 83), S. 171 : Die Billigkeit hat dort ihren Ort, wo »wir unser eigenes oder aber öffentliches Gut verteilen«.
Resümee
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Hinzu kommt, dass der Gebrauch von Heilmitteln »schlimmer als das Übel selbst« sein kann. Auch sind eigennützige Motive desjenigen nicht auszuschließen, der sich auf die Billigkeit beruft.93 In solchen Fällen wäre auf der höchsten Stufe zu prüfen, ob der Billigkeit eine Beschränkung in Sachen ›Gemeinnützigkeit‹ auferlegt werden muss. Welche Folgen hätte eine derartige Kontrolle für die von Leibniz angesprochene ›Durchsetzung‹ der Billigkeit ? Könnte sich diese dann noch immer auf eine bloße Bestätigung oder Bekräftigung beschränken ?94 Derartige Situationen sind angesichts der prinzipiellen Nähe von aequitas und pietas freilich nur schwer vorstellbar. Vermutlich liegt hier der Grund, warum Leibniz keine Beispiele nennt, in denen eine Korrektur der aequitas durch die pietas erfolgen muss.95 Vom Ziel der höchsten Gerechtigkeit, der Vereinigung von Eigen- und Gemeinwohl, ist ihre Quelle zu unterscheiden, die der berühmten »Liebe des Weisen« (caritas sapientis) entspringt. Auch diese Bestimmung der Gerechtigkeit fußt auf zwei Momenten, nämlich der Liebe und der Weisheit Gottes.96 Bereits in der Nova methodus von 1667 bezeichnete Leibniz Gott als das »weiseste Wesen« und als »letzten Grund des Naturrechts«.97 Seine Suche nach der ersten Ursache – nach der das Recht bewegenden Kraft – war damit aber noch nicht abgeschlossen. Erst zehn Jahre später, nämlich 1677, übermittelt er Herzog Johann Friedrich die freudige Nachricht, er habe nun endlich das »arcanum motus« der Gerechtigkeit gefunden, das er »Liebe des Weisen« nennt.98 Mit dieser Formel 93 So glaubte der niederländische Verleger Adriaan Moetjens, Leibniz’ Autorenrechte mit dem Argument verletzen zu können, ein Nachdruck des Codex Juris Gentium Diplomaticus diene dem Gemeinwohl (6. Kapitel V 2). Siehe zudem die Beispiele in den Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24), S. 47, und in den Elementa Juris Naturalis, Nr. 3 (Fn. 26), S. 456. 94 Siehe die oben in Note 73 zitierte Formulierung aus der Nova methodus : »Gott nämlich bestätigt das reine Recht und die Billigkeit […], und setzt beide durch, weil er allmächtig ist.« 95 Er sagt aber, dass die Billigkeit nicht in allen Gebieten, etwa bei der Güterzuteilung auf Proportionen zurückgeführt werden kann, Elementa Juris Naturalis, Nr. 2 (Fn. 26), S. 454 ; dazu auch Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Fn. 6), S. 19. In den Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 24) findet sich ein Beispiel für eine Korrektur des ius strictum durch die pietas (S. 48 : Verletzung des Rechts »der vernunftbegabten Seelen, die natürlich und unveräußerlich frei sind« durch die Sklaverei). Mit Blick auf das irdische Rechtsgeschehen dürfte die Hauptfunktion der pietas darin bestehen, dass sie es ermöglicht, einen Schutz von Gütern zu legitimieren, der weder auf der ersten Stufe (Vermeidung von Übeln) noch auf der zweiten Stufe des Naturrechts (Beschränkung auf eine gegenwärtige Zufriedenheit) begründet werden kann (vgl. oben V 2). 96 Praefatio (Fn. 83), S. 169. 97 Nova methodus II (Fn. 6), § 75 (S. 83). 98 Brief an Herzog Johann Friedrich vom Mai (?) 1677, in : AA I 2, Nr. 11 (S. 22–23, 23). Zum Entdeckungsprozess dieses Verständnisses der Gerechtigkeit siehe Hans-Peter Schneider, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Leibniz, in : Centro de Estudios Constitucionales, Universidad Complu-
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Metaphysische Fundierung der Billigkeit
legt er den Grundstein für eine Konzeption der Jurisprudenz, die mit der erwähnten, von den Anhängern des geometrischen Paradigmas rundweg abgelehnten Lehre der »substantiellen Formen« kompatibel ist. Das Recht erscheint danach nicht mehr in Gestalt einer festen Regel, sondern als dynamische Kraft, die ihre Manifestation in der Liebe eines Weisen findet (caritas sapientis).
tense (Hg.), Pensamiento juridico y sociedad international (1986), S. 1089–1113, 1097–1101 ; Maria Rosa Antognazza, Leibniz : An Intellectual Biography (2009), S. 114 f. Den Begriff hat Leibniz auch in späteren Schriften gerne wieder aufgegriffen, z.B. De justitia ac amore voluntate Dei (1680–1688 ?), in : AA VI 4 C, S. 2889–2896, 2890 ; Praefatio (Fn. 83), S. 167.
8. Kapitel
Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Billigkeit vornehmlich als Element der partikularen Gerechtigkeit und damit unter den Aspekten von Juris prudenz und politischer Philosophie behandelt. Im Mittelpunkt stand dabei der Konflikt mit dem ius strictum, der auch im Alltag des Rechtsgeschehens eine wichtige Rolle spielt. Die Schwierigkeit, bei solchen Konflikten eine Lösung zu finden, ist schwierig, weil eine Bewertung des Verhaltens in den Kategorien von Recht und Unrecht, Gut und Böse oder Belohnung und Strafe kaum möglich ist. Denn bei einem Streit zwischen formalem und materialem Recht stehen sich meist zwei Berechtigungen gegenüber, die miteinander konkurrieren. Derartige Fälle bedeuten für den praktischen Juristen eine große Herausforderung und führen ihn nicht selten »an neue Gestade«.1 Von der höheren Gerechtigkeit (pietas, iustitia universalis) ist die Billigkeit (aequitas) nur schwer abzugrenzen. Die zweite und dritte Stufe der Naturrechtstrilogie überschneiden sich namentlich in einer ihrer wichtigsten Funktionen : der Vermittlung von Eigen- und Gemeinwohl. Die besondere Nähe von aequitas und pietas rührt daher, dass sie beide zu den materialen Elementen der Rechtsordnung gehören, während das strenge Recht »in einem engen Sinne das Unglück meidet«, also, wie das Formalrecht, eher negativen Charakter hat.2 Gleichwohl gibt es auch Grenzen, die aequitas und pietas voneinander trennen. Sie verlaufen über weite Strecken entlang der Linien, die ein säkulares Naturrecht von einem Gottesstaat unterscheiden.
I. Der doppelte Charakter der Billigkeit Im Rahmen der Naturrechtstrilogie kommt der Billigkeit also die Aufgabe zu, Härten strengen Rechts zu mildern, oder, wenn das Gesetz schweigt, eine Re1 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), in : AA VI 1 S. 269–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 69 (S. 71) ; siehe oben 2. Kapitel IV. 2 Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 171. Zur »negativen Freiheit« in der Jurisprudenz und ihrem Zusammenhang mit dem Formalcharakter des Rechts vgl. Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 394–397.
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Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
gel zu finden, die Eigen- und Gemeinwohl zum Ausgleich bringt. Diese Art der Billigkeit findet in Fällen eine Anwendung, die das Menschengeschlecht bereits auf Erden lösen muss. Davon zu unterscheiden sind die Funktionen, welche die Billigkeit im eschatologischen Kontext zu erfüllen hat. Den theologischen Anknüpfungspunkt bildet hier eine Stelle aus dem deuterokanonischen Buch Jesus Sirach : »Was du auch tust, denke an dein Ende, dann wirst du nie etwas Böses tun.«3 Die Erwartung eines das Weltgeschehen abschließenden Gerichts motiviert die Menschen, ihr Bestes zu geben, um nach dem Tode dorthin zu gelangen, wo Gott seine Heimat hat. So beruhen auch pietas und iustitia universalis auf der Vorstellung, dass Belohnungen und Strafen »nicht immer sofort geschehen« : Weil auf Erden keine vollkommene Regierung möglich ist, muss »nach diesem Leben« noch einmal gerichtet werden.4 Bei der Frage nach den religiösen Ausgleichsmechanismen laufen die Fäden zwischen Theologie, Metaphysik, Rechtsphilosophie und Dreistufenlehre zusammen. Die religiösen Ausgleichsmechanismen bilden die zentrale Schnittstelle, worauf Leibniz in den verschiedensten Schriften zu sprechen kommt.5 Hier scheiden sich die ersten beiden Stufen von der höchsten Stufe der Gerech3 Sir. 7, 36. Leibniz hat sich, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich auf diesen seit dem 17. Jahrhundert unter lutherischen Theologen viel diskutierten Gedanken berufen. Er spielt im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Begründung einer dritten Stufe des Naturrechts (pietas) und der universalen Gerechtigkeit (iustitia universalis) aber eine wichtige Rolle. Denn auf diesen Stufen einer höchsten Gerechtigkeit wirft Leibniz die Fragen auf : Wo liegt der letzte Grund des Naturrechts ? Und wie können die Menschen zu einem tugendhaften Leben verpflichtet werden, vgl. Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice : S. 143–163 ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 45 (näher unten IV). 4 Nova methodus II (Fn. 1), § 75 (S. 83) ; Monadologie von 1714 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008), § 89 (S. 63) ; Brief an Antoine Arnauld, Juni 1686, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 189–206, 204 (dazu näher unten II). 5 Vgl. Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), Teil I, §§ 73, 74 (S. 135, 136) ; Monadologie (Fn. 4), §§ 89, 90 (S. 63–65) ; Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485), dt. Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 89–319, 91 ; Brief an Hermann Conring vom 13./23. Januar 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 323–337, 329 (sowie die Angaben in der folgenden Note).
Der doppelte Charakter der Billigkeit
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tigkeit. Die rechtliche Relevanz von Gott und der Unsterblichkeit erörtert Leibniz ausschließlich auf den Ebenen von pietas und iustitia universalis.6 Dabei zeigt sich ein in terminologischer Hinsicht bemerkenswerter Unterschied zwischen Naturrechtstrilogie und Metaphysik. Von einer »Billigkeit« als Prinzip des religiösen Ausgleichs spricht Leibniz nur in seinen metaphysischen und theologischen, nicht aber in seinen juristischen Schriften. Im heilsgeschichtlichen Kontext kommt ihr schon deshalb eine besondere Aufgabe zu, weil nicht auszuschließen ist, dass jemand, der sich auf eine formale Rechtsposition beruft und dabei den Grundsätzen der naturrechtlichen Billigkeit zuwider handelt, für dieses Verhalten erst am Jüngsten Tag zur Rechenschaft gezogen werden kann.7 Von einem religiösen Ausgleich ist nun auch dort die Rede, wo Leibniz feststellt, dass es an einem »Band« zwischen ius strictum und aequitas mangele.8 Die Aussage, Gott würde dieses Band »durch seinen Beistand« herstellen, lässt sich nämlich in einem doppelten Sinne verstehen. Sie zielt einmal auf die Präsenz Gottes im irdischen Leben, auf die Möglichkeiten seiner Mitwirkung im alltäglichen Rechtsgeschehen – ein Thema, worauf noch zurückzukommen ist.9 Darüber hinaus erstreckt sie sich auf die Zeit nach diesem Leben : »Denn daß Gott für die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen festgesetzt hat, erhellt aus seiner Weisheit.«10 Mit der christlichen Ethik rückt Leibniz die Bewertung menschlichen Verhaltens also unter den Spruch : »Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse«.11 Aus dieser Erwartung eines Jüngsten Gerichts 6 Nova methodus II (Fn. 1), §§ 5, 75 (S. 31, 83) ; Praefatio (Fn. 2), S. 171 f.; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 f. 7 Denn eine Klage kann nur aus dem ius strictum abgeleitet werden und wer die Gebote der Billigkeit verletzt, wird vor irdischen Gerichten nicht immer belangt werden (siehe die Nachweise im 3. Kapitel IV 3). Zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch hinzugefügt, dass derartige Sanktionen selbstverständlich auch zu fürchten hat, wer ›ungestraft‹ die Gebote strengen Rechts missachtet hat (näher unten II). 8 Nova methodus II (Fn. 1), § 75 (siehe oben im 7. Kapitel V bei Note 73 die ausführlichere Wiedergabe dieser Stelle). 9 Dazu näher unten (9. Kapitel II). Hier genügt es festzuhalten, dass Gottes Mitwirkung oder Teilhabe am irdischen Leben keinesfalls mit den Lehren des Influxionismus und des Okkasionalismus verwechselt werden darf. 10 Nova methodus II (Fn. 1), § 75 (siehe die ausführlichere Wiedergabe dieser vom Mangel eines »Bandes« zwischen strengem Recht und Billigkeit handelnden Stelle oben im 7. Kapitel V bei Note 73). 11 2. Kor. 5, 10. Siehe ferner Offenb. 20, 13 ; Matth. 25, 31–47 (erst, wenn »jeder nach seinen Werken gerichtet wird«, werden »die Ungerechten die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige
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Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
geht der Gedanke hervor, dass das menschliche Leben der Vorbereitung auf eine letzte »Verantwortung« dienen müsse. Bei der Einforderung der mit dieser Verantwortung einhergehenden normativen Ansprüche gewinnt die Billigkeit abermals eine zentrale Bedeutung in Leibniz’ Rechtsphilosophie.
II. Billigkeit zwischen personaler Verantwortung und Heilsgeschehen Die Billigkeit spielt also nicht nur in der Jurisprudenz und der politischen Philosophie, sondern auch im Gebiet der politischen Theologie eine Rolle, wo Leibniz seine Lehre von den beiden Reichen erneut aufgreift. Dabei erscheint das moralische Reich der Gnade als Teilgebiet des Reichs der Zweckursachen, das durch die prästabilierte Harmonie mit dem Reich der Wirkursachen im Gleichgewicht gehalten wird.12 Doch müssen wir, so Leibniz, noch eine »andere Harmonie in Betracht ziehen«, die eine Verbindung zwischen Strafe oder Belohnung und der schlechten oder guten Tat herstellt.13 Diese Harmonie ist »anders«, weil sie auf eine andere Differenz bezogen ist. Sie betrifft nicht die Unterscheidung von Zweck- und Wirkursachen, sondern die von Schöpfer und Geschöpf – die Differenz zwischen der Vollkommenheit des Gnadenreichs und den Unzulänglichkeiten irdischen Lebens. Diese Harmonie fußt auf der Lehre, daß die menschlichen Seelen durch den Tod nicht ausgelöscht würden, sondern nach diesem Leben in ein anderes gelangen, in dem sie Belohnungen erhielten oder Strafen verbüßten, je nachdem, ob deren Leben gut oder schlecht geführt waren.14
Warum bedarf es über die »im Verkehr zwischen Körper und Seele« hervortretende Harmonie hinaus noch einer »anderen Art der prästabilierten Harmonie« ? Der Grund ist bereits genannt worden : Weil auf Erden eine vollkommene Regierung nicht zu erwarten ist. Belohnungen und Strafen können daher nicht
Leben« ; z.B. Unvorgreiffliches Bedencken (1698/99), in : AA IV 7, S. 424–648, 588. Dazu etwa Francesco Piro, Die ethische Gemeinschaft der Geister mit Gott (§§ 84–90), in : Hubertus Busche (Hg.), Monadologie (2009), S. 245–259, 256 ; Werner Schneiders, Respublica optima, in : Studia Leibnitiana IX (1977), S. 1–26, 13. 12 Monadologie (Fn. 4), § 87 (S. 61). 13 Theodicée I (Fn. 5), §§ 73, 74 (S. 135–136) ; Monadologie (Fn. 4), § 87 (S. 61). 14 Leibniz, Wiener Vortrag am 1. Juli 1714, in : Wenchao Li (Hg.), Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 55–60 (lat.) und S. 61–70 (dt. mit Anm.).
Billigkeit zwischen personaler Verantwortung und Heilsgeschehen
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immer »sofort« zugeteilt werden.15 Gott habe sich die Sanktionen »für viele Fälle aufgespart« : »So dauern die Strafen für die Verdammten« und die »Belohnungen für die Seligen« über den Tod hinaus bis zum Ende aller Tage an.16 Leibniz räumt ein, dass man über den Sinn eines solchen Gerichts streiten könnte. Denn Strafen, die erst nach diesem Leben verhängt werden, können »nicht mehr zur Abschreckung des Bösen« dienen, genauso wie die Belohnungen nicht mehr imstande sind, die »Ausübung des Guten zu stärken«. Doch entspreche es dem »Prinzip der Billigkeit«, einen solchen Ausgleich herbeizuführen.17 Leibniz rekurriert also in erster Linie auf die Ausgleichsfunktion der Billigkeit, um ihre Aufgaben im eschatologischen Kontext zu begründen. Er wird dabei vornehmlich an den in der iustitia commutativa verkörperten Ausgleichsgedanken gedacht haben, der mit dem strengen Recht auf der untersten Stufe der Dreistufenlehre steht.18 Wer die Gebote strengen Rechts verletzt und von irdischen Gerichten nicht belangt wird, muss mit Sanktionen am Jüngsten Tag rechnen. Denn »die Billigkeit selbst gebietet es, das strenge Recht zu beachten«.19 Mit Blick auf das heilsgeschichtliche Geschehen gewinnt diese Aussage über die partikulare Gerechtigkeit hinaus eine Bedeutung auch im Rahmen der universalen Gerechtigkeit. Denn die Billigkeit gebietet es nicht nur, das strenge Recht zu achten, sondern sie ahndet auch Verstöße, die auf Erden ohne Sanktion geblieben sind.
15 Monadologie (Fn. 4), § 89 (S. 63). Weitere Gründe nennt Leibniz in seiner Theodicée I (Fn. 5), §§ 73, 74 (S. 135, 136). 16 Theodicée I (Fn. 5), §§ 73, 74 (S. 135, 136) ; Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts (Fn. 5), S. 91 ; Brief an Conring, 13./23. Januar 1670 (Fn. 5), S. 329. Leibniz erörtert das Thema auch in seiner Dreistufenlehre, und zwar auf der höchsten Stufe, der pietas : Nova methodus (Fn. 1), §§ 5, 75 (S. 31, 83) ; Praefatio (Fn. 2), S. 171 f.; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 f. Siehe auch Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (1997), S. 304, 331 ; Matthias Armgardt, Die Monadologie als Vollendung der Rechtstheorie von G.W. Leibniz, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 343–353, 351–353. 17 Theodicée I (Fn. 5), § 74 (S. 136). An diesem Punkt erfährt der Konflikt mit den Anhängern säkularen Naturrechts eine weitere Zuspitzung. Wie bereits ausgeführt, bildet Leibniz eine Ausnahme unter den Naturrechtslehrern, wenn er der Billigkeit als zweiter Stufe der Dreistufenlehre einen wichtigen Platz innerhalb seiner Rechtsphilosophie zuweist. Er war sich aber auch darüber im Klaren, dass Anhänger säkularen Naturrechts wie Hobbes, Pufendorf oder Christian Thomasius diese zweite, gleichsam theologische Billigkeit (oder Gerechtigkeit) erst recht nicht anerkennen würden, Theodicée I, a.a.O., § 73 (S. 135) ; Brief an den Theologen und Historiker Friedrich Wilhelm Bierling (1676–1728), Mitte März 1713, in : Louis Dutens (Hg.), Gothofredi Guillelmi Leibnitii, Opera omnia nunc primum collecta, Bd. V (1768), S. 390–391, 390. 18 Siehe 3. Kapitel I. 19 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 81).
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Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
Das Gebot der Billigkeit, »das strenge Recht zu beachten«, reicht über das irdische Leben also weit hinaus. Der religiöse Ausgleich ist auf Verstöße gegen das strenge Recht aber nicht beschränkt. Er erstreckt sich, wie bereits angedeutet, auch auf Verletzungen jener aequitas, die Leibniz auf der zweiten Stufe seiner Dreistufenlehre angesiedelt hat.20 Genau genommen transzendiert die Billigkeit im heilsgeschichtlichen Kontext das Recht und umfasst sogar die Feinheiten der Moral : Denn – so lautet die göttliche Botschaft, die uns durch Christus überkommen ist – ›alle unsere Haare sind gezählt‹ ; nicht einmal ein Trunk Wassers wird dem Dürstenden vergebens gereicht werden, geschweige denn daß irgendetwas im Staatswesen des Universums ungestraft bliebe. Deshalb wird diese Gerechtigkeit universal genannt und umfaßt alle übrigen Tugenden.21
Angesichts der Unbestimmtheit des durch die Billigkeit erweiterten Ausgleichsgedankens führt Leibniz noch eine Reihe zusätzlicher Argumente an, die ihm zur Legitimation von Strafen oder Belohnungen für schlechte oder gute Taten nach diesem Leben geeignet erscheinen : Ein religiöser Ausgleich befriedige »nicht bloß den Beleidigten, sondern auch den auf sie schauenden Weisen« ; er gewähre »eine gewisse Entschädigung für den Geist, den die Unordnung verletzen würde, wenn die Strafe nicht zur Wiederherstellung der Ordnung diente« ; er leiste »Genugtuung« und könne gar als eine Art von »rächender Gerechtigkeit« betrachtet werden. Seine Überlegungen beendet er mit der erstaunlichen Bemerkung : »Doch wollen wir uns jetzt nicht länger damit belustigen, eine mehr sonderbare als notwendige Frage zu diskutieren.«22 Es bleibt festzuhalten : Leibniz erblickt in der Billigkeit das Prinzip, auf welchem die »andere Harmonie« beruht. Danach sind »die Dinge derart geregelt worden«, dass auf lange Frist keine gute Handlung ohne Belohnung und keine schlechte ohne Bestrafung bleibt.23 Er weist der Billigkeit im heilsgeschichtlichen Kontext folglich eine spezielle Aufgabe zu, nämlich zwischen sonst getrennten Sphären zu vermitteln. Zwar betont Leibniz auch im Rahmen seiner Dreistufenlehre, am Jüngsten Tag müsse noch einmal gerichtet werden, weil auf Erden Belohnungen für gute und Strafen für schlechte Taten nicht immer gerecht verteilt sind. Dabei sind jedoch zwei Besonderheiten zu beachten : Leibniz 20 Oben I bei Note 7. 21 Leibniz, Praefatio (Fn. 2), S. 173 ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. Siehe auch Matth. 10, 30 ; Luk. 12, 7 ; Matth. 10, 42 ; Mark. 9, 41. 22 Theodicée I (Fn. 5), §§ 73–75 (S. 135–137). 23 Theodicée I (Fn. 5), § 74 (S. 136).
Ausgleich von Bosheit, Übel, Ungerechtigkeit im Reich der Gnade
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erörtert das Erfordernis eines religiösen Ausgleichs im Rahmen der Dreistufenlehre nicht auf der zweiten Stufe der Billigkeit, sondern auf der dritten Stufe der höchsten Gerechtigkeit, und zwar ohne den Begriff der Billigkeit zu erwähnen. In der Dreistufenlehre tritt die Billigkeit also in einem anderen Kontext und mit anderer Bedeutung auf. Doch soll sie hier ebenfalls als ›Mittlerin‹ zwischen getrennten Sphären fungieren, worauf noch zurückzukommen ist. Vorläufig genügt es festzuhalten, dass Leibniz verschiedene Arten der Billigkeit kennt, die sich aber durchaus unter gemeinsamen Gesichtspunkten betrachten lassen.
III. Ausgleich von Bosheit, Übel, Ungerechtigkeit im Reich der Gnade Die im Gottesstaat waltenden Zwecke weisen über das irdische Leben also weit hinaus. Leibniz’ Unterscheidung zwischen Weisheit und Macht, zwischen einem Reich der Gnade und einem Reich der Wirkursachen darf freilich nicht so verstanden werden, als habe er eine »Zwei-Reiche-Lehre« im Sinne Luthers entworfen. Insbesondere ist ihm Luthers Vorstellung von einem geistlichen und einem weltlichen Regiment als zwei komplementären Herrschaftsweisen Gottes fremd geblieben.24 Doch trifft auch er eine Unterscheidung, die für Recht, Moral, Politik und Theologie von großer Wichtigkeit ist. Anders als ein weltliches Reich besitzt das Reich der Gnade nämlich kein abgezirkeltes Territorium, keinen Herrschaftsraum, der auf einer Landkarte zu finden wäre. Sein Ort liegt im Menschen selbst.25 Dort wächst es, und von dort aus wirkt es. Es ist also ebenso diesseitig wie jenseitig. Es wirkt in unserer Welt, die es zugleich unendlich überschreitet. Die Unterscheidung zwischen einem Reich der Gnade und einem weltlichen Herrschaftsbereich fußt auf der Differenz von Schöpfer und Geschöpf, welcher weitere Grenzlinien entspringen, die Leibniz unter Stichworten wie »vollkommene« und »unvollkommene« Ordnung, »absolute« und »privative« Realität, »übernatürliche« und »natürliche« Gesellschaft erörtert.26 24 Hartmut Rudolph, Leibniz’ Theologie vom Protestantismus her gesehen, in : Studia Leibnitiana Japonica 2 (2012), S. 25–51. Zu Luthers Differenzierung zwischen einem weltlichen und einem geistlichen Regiment : Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, 4. Auflage (2010), S. 311–315 ; Reiner Anselm, Wilfried Härle, Matthias Kroeger, Zweireichelehre, in : Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXXVI (2004), S. 776–793. Zu (jüngeren) Versuchen, im Anschluss an Luther eine säkulare Zweireichelehre als Grundlage des juristischen Denkens zu entwickeln, siehe Albert Janssen, Die Kunst des Unterscheidens zwischen Recht und Gerechtigkeit (2016), S. 262–265. 25 Dazu näher unten im 10. Kapitel IV (unter dem Gesichtspunkt der Monadologie). 26 Zur Differenz zwischen vollkommener und unvollkommener Realität, Theodicée (Fn. 5), An-
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Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
Die Verschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf rührt daher, dass der menschliche Geist an einen Körper gebunden ist, dessen »natürliche Trägheit« die »Unvollkommenheit der Kreaturen« bedingt.27 Auf die Trägheit der Körper sind moralische Unzulänglichkeiten wie Bosheit, Übel, Sünde oder Ungerechtigkeit zurückzuführen. Leibniz begreift diese Defizite als »Beraubung« oder »Privation«, weil sie daher rühren, »daß man vom Guten läßt«. Im Verhältnis zur rechtlichen oder moralischen Vollkommenheit bildet das Ungerechte oder Böse lediglich ein Defizit, ein Weniger oder ›Minus‹, das nicht kategorial, sondern graduell differiert.28 Es zieht sich also eine ›doppelte‹ Spur auch durch Leibniz’ Konzeption von Recht, Moral oder Politik : Inmitten des Reichs der Natur gibt es ein moralisches Reich der Gnade, in welchem alle vernünftigen Substanzen gerecht handeln und als Bürger eines »Gottesstaates« oder gar als »Bilder der Gottheit« selbst erscheinen.29 Infolge ihrer Gebundenheit an einen Körper sind die Geschöpfe hang V (S. 398) ; § 392 (S. 370). Zur Unterscheidung zwischen einem »göttlichen Staat der Geister« (bzw. einem »moralischen Reich der Gnade«) und natürlichen Gesellschaften siehe Monadologie (Fn. 4), § 87 (S. 61). Was Leibniz unter einer »natürlichen Gesellschaft« versteht, hat er an anderer Stelle näher ausgeführt, z.B. in der Divisio societatum (1680), in : AA IV 3, S. 907–912, 909–911 (Beispiele für »natürliche Gesellschaften« wären Ehe, Haus, Korporationen, Stadt, Staat, Kirche etc.). 27 Siehe Monadologie (Fn. 4), § 42 (S. 33) ; Theodicée I (Fn. 5), §§ 30, 153, 167, 377–380 (S. 54, 203 f., 213 f.; 361–363) ; Unvorgreiffliches Bedencken (1698/99), in : AA IV 7, S. 424–648, 474 f.; 510 f. Leibniz erörtert das Thema häufiger anhand der Geschwindigkeit eines Stromes und der Verzögerung, die durch die Ladung eines Schiffes erzeugt wird, das sich auf dem Strom fortbewegt, z.B. Theodicée, a.a.O., § 30 (S. 111) ; Anhang V (S. 398) ; Unvorgreiffliches Bedencken, a.a.O., S. 586. 28 Theodicée II (Fn. 5), § 153 (S. 203–204). Das Übel oder die Bosheit sind nicht als eigene lebendige oder beseelte Substanz zu qualifizieren, Theodicée III, a.a.O., § 378 (S. 361–362) ; Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 27), S. 470–476 ; Von der wahren Theologia mystica (1695), in : Gottschalk Eduard Guhrauer (Hg.), Deutsche Schriften, II Bände (1838–1840), Bd. I, S. 410–413, 412 (dazu etwa : Otto Willareth, Die Lehre vom Uebel bei Leibniz, seiner Schule und Kant, 1898 ; Hans Pichler, Vorurteile gegen die Weltanschauung von Leibniz, in : Georgi Schischkoff (Hg.), Beiträge zur Leibniz-Forschung (1947), S. 9–25, 13–15). Durch moralisch verwerfliche oder unrechte Taten können die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zwar nicht ausgelöscht, aber verdunkelt werden. Auch hier liegt der Grund (neben schlechten Gewohnheiten) in der allen Menschen gemeinsamen »Neigung zu den Bedürfnissen des Körpers«, Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Philosophische Schriften, I. Buch, S. 77. Darauf, dass der Geist (oder die Seele) einen Körper besitzt und die Monaden nicht direkt, sondern nur über ihren Körper aufeinander wirken können, ist noch zurückzukommen (9. Kapitel III). 29 Monadologie (Fn. 4), § 83–86 (S. 59–61). Hier liegt eine juristische Konsequenz der Metaphysik,
Unabhängigkeit normativer Gehalte des Naturrechts von der Theologie
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aber unvollkommen. Bosheit, Übel, Ungerechtigkeit gehören zu den Merkmalen menschlichen Lebens : Doch wenn wir lasterhaft sind, schaden wir nicht nur uns selbst, sondern verringern auch, soweit es von uns abhängig ist, die Vollkommenheit jenes großen Reiches, in dem Gott der Herrscher ist.30
Der Schaden, wovon hier die Rede ist, rührt auch daher, dass »das Böse durch die Weisheit des höchsten Herrn wieder ausgeglichen wird«.31 Eine Differenz zur Vollkommenheit des Reichs der Gnade zeigt sich also darin, dass auf Erden nicht immer ein gerechter Ausgleich für gute und schlechte Handlungen in Form von Belohnungen und Strafen stattfindet und es noch einer »anderen Art der prästabilierten Harmonie« bedarf, die mit dem Prinzip der Billigkeit korrespondiert. Vom übernatürlichen Reich der Perfektion, das als absolute Realität im irdischen Leben stets präsent ist, muss eine privative Welt abgezogen werden, in der das ius voluntarium dominierend wirkt. So stellt sich in der Jurisprudenz ebenfalls die Frage nach der Korrelation unterschiedlicher Gebiete – von Weisheit und Macht, von höherer Gerechtigkeit und positivem Gesetzesrecht.
IV. Unabhängigkeit normativer Gehalte des Naturrechts von der Theologie Leibniz hat wiederholt die Frage aufgeworfen, ob das Naturrecht einer dritten Stufe, einer pietas oder iustitia universalis mit der Idee eines religiösen Ausgleichs überhaupt bedürfe.32 Das Problem der iustitia particularis sieht er vor allem darin, dass sie die Gerechtigkeit auf lediglich zwei Stufen verkürze, auf eine Tausch- und eine Verteilungsgerechtigkeit.33 Mit der Beschränkung auf die Leibniz auch als Theorie der Praxis gegenübergestellt hat, vgl. Nouveaux essais IV (Fn. 28), S. 423. Zwar beschäftigt ihn in seiner Monadologie mehr die Substanzlehre als die Jurisprudenz, was angesichts seines Kampfes gegen die Epikuräer und ›Materialisten‹, die, wie Descartes oder Hobbes, glauben, den Geist oder die Seele im Rahmen eines Konzepts der Wirkursachen erklären zu können (7. Kapitel I und IV), verständlich ist. Doch besteht sein Anliegen vornehmlich darin zu zeigen, dass es ohne Substanzen keine ewigen und notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit und keine Bürger eines Gottesstaates geben würde. Dass gerade die Substanzlehre zu der Annahme führt, dass es sich dabei um einen reflexionsfähigen, kritischen und aktiven Bürger handeln muss, ist bereits ausgeführt worden (7. Kapitel III). 30 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. 31 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. 32 Z.B. in den Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 und S. 45. 33 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. Zum Begriff der auf die beiden Ele-
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das irdische Leben werde der »letzte Grund des Naturrechts« ausgeblendet, der zum »Vorteil des Menschengeschlechts« sowohl die »Schönheit und Harmonie der Welt« als auch »für die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen« bedingt.34 Worin liegt nun dieser »letzte Grund des Naturrechts« ? Die Antwort hängt mit dem Verhältnis von aequitas und pietas zusammen, das unter den Stichworten von Divergenz und Konvergenz bereits erörtert wurde : Leibniz sieht in Gott den Garanten für ein tugendhaftes Leben auf Erden. Dabei räumt er zunächst ein, dass, selbst wenn man Gott außen vor lassen würde, würde die Mehrheit derer, die stets und auch gegen ihr eigenes Interesse der Gerechtigkeit folgten, im Effekt nichts anderes tun, als was der Weise, der sein Glück im allgemeinen Wohl findet, fordern würde.35
Nicht nur die pietas, sondern auch die aequitas zielt auf eine höhere Art der Gerechtigkeit : »Billig ist es, das Glück des anderen zu fördern, soweit dadurch das eigene nicht beeinträchtigt wird«.36 Sowohl pietas als auch aequitas suchen als die materialen Elemente des Rechts eine Vereinigung von Eigen- und Gemeinwohl zu erreichen. Wie die pietas birgt Leibniz auch die aequitas mit Ausgewogenheit, Verhältnismäßigkeit, Proportion und Harmonie in Verbindung.37 Doch sind diese Attribute bei der Billigkeit als zweiter Stufe innerhalb der Naturrechtstrilogie auf den engeren Kreis einer »gegenwärtigen Zufriedenheit« beschränkt.38 »Die Mehrheit derer, die stets und auch gegen ihr eigenes Interesse der Gerechtigkeit folgten«, wäre in »der Ausübung der Tugend beschänkter«. Denn diese Mehrheit würde, wenn es kein »zukünftiges Leben gäbe«, alles nur auf ihre »gegenwärtige Zufriedenheit beziehen«.39 Leibniz glaubt dagegen, die mente von ius strictum und aequitas beschränkten partikularen Gerechtigkeit (iustitia particularis) siehe 3. Kapitel I. 34 Nova methodus II (Fn. 1), § 75, S. 83 (§ 75 der Nova methodus ist der dritten Stufe des Naturrechts, also der pietas bzw. der iustitia universalis gewidmet) ; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 43. 35 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44. 36 Elementa Juris Naturalis (Fn. 5), Nr. 3 (S. 456). In die gleiche Richtung weist die Aussage : Nach der Billigkeit trachte »jeder seine eigene Glückseligkeit in der eines anderen zu vermehren, indem er diesem nach seinen Kräften zu Hilfe kommt«, Praefatio (Fn. 2), S. 171. 37 Nova methodus II (Fn. 1), § 74 (S. 81). 38 Auch die caritas hat hier eine andere Bedeutung, sie ist eine caritas im »engeren« Sinne, andererseits ist der »gerechte Wille« auch auf dieser Stufe unverzichtbar, siehe 10. Kapitel III 1 (bei Note 21) und unten V. 39 Nouveaux Essais IV (Fn. 28), § 9 (S. 423).
Unabhängigkeit normativer Gehalte des Naturrechts von der Theologie
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Gerechtigkeit müsse mit dem Willen eines höheren Wesens übereinstimmen, dessen Weisheit und dessen Macht unendlich seien. Es wäre »weder weise noch klug, sich dem Willen dieses Weisen nicht zu fügen«.40 Der letzte Grund des Naturrechts vermag also zu erklären, warum »man durch das Prinzip des Interesses an diesem Leben allein die Menschen nicht dazu verpflichten kann, unter allen Umständen tugendhaft zu sein«.41 Nun will Leibniz aber keineswegs ausschließen, dass eines Tages das Geheimnis, wie eine universale Gerechtigkeit ohne Bezug auf Gott möglich wäre, gelüftet wird.42 Er nimmt Aristoteles als Beispiel, der über die partikulare Gerechtigkeit hinaus eine universale Gerechtigkeit anerkannt hat, ohne diese auf Gott zu gründen : Ich finde es schön, daß er dennoch eine so hohe Meinung von ihr [der universalen Gerechtigkeit] hatte. Dabei ist ihm nur an die Stelle Gottes eine Regierung oder ein gut organisierter irdischer Staat getreten, dessen Regierung tun wird, was sie kann, um die Menschen zu zwingen, tugendhaft zu sein.43
Doch sei es Aristoteles nicht gelungen zu zeigen, wie es möglich wäre, die Menschen dazu zu erheben, »daß die Tugend zu ihrer höchsten Freude wird«.44 Der40 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 und 45. 41 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. 42 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. 43 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 und 45. 44 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 f. In den Nouveaux Essais (Fn. 28) nennt Leibniz Sokrates, Marc Aurel, Epiktet und »andere antike Philosophen«, die ebenfalls keine überzeugende Begründung für eine über die »gegenwärtige Zufriedenheit« hinausgehende »Befriedigung« zu geben vermochten (IV, § 9 S. 423). Das Problem ist noch heute virulent : Erinnert sei nur an das Schreckensbild totalitärer Überwachungsstaaten, das George Orwell in seinem Roman »1984« nach dem Muster der Sowjetunion gezeichnet hat. Auch in China denkt man derzeit wieder über eine Welt nach, in der die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden : Ein Leben auf Erden, wo stets den Vortritt hat, wer politisch unauffällig bleibt, nicht gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, den Müll ordnungsgemäß trennt, seine Rechnungen und Steuern pünktlich bezahlt ! In Shanghai gibt es jetzt eine Anwendungssoftware (App) für Ehrlichkeit, die pro Bürger mehr als 5000 Einzelinformationen liefern kann. Die App, die das Handeln einspeist und rechnet, ist zwar freiwillig ; das System im Hintergrund ist es aber nicht. Wer die erforderliche Punktzahl erreicht, wird als vertrauenswürdiger Mensch eingestuft und darf z.B. in der Stadtbibliothek ohne Kaution Bücher ausleihen oder Kredite zu günstigen Konditionen aufnehmen. »System für soziale Vertrauenswürdigkeit« wird das Pilotprojekt offiziell genannt (siehe den Bericht von Kai Strittmatter in der Süddeutschen Zeitung vom 20./21. Mai 2017, S. 11–13). Solche Vorhaben »gut organisierter irdischer Staaten« vermögen Leibniz’ ethisches Geheimnis natürlich nicht zu lüften. Weder können sie die Tugend zur »höchsten Freude« erheben noch
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artiges habe Aristoteles sich allenfalls gewünscht, aber nicht zu begründen vermocht. »Dennoch halte ich es nicht für unmöglich, daß es Zeiten und Orte gäbe, an denen dies möglich wäre.«45 Solche Aussagen machen deutlich, dass Leibniz an einer der Billigkeit übergeordneten Stufe der Gerechtigkeit selbst dann festhalten wollte, wenn es keinen Gott gäbe. Denn pietas und iustitia universalis beantworten nicht nur die letzten Fragen des Rechts, sondern auch der Moral, die darin gipfeln, wie die Menschen zu einem tugendhaften Leben zu motivieren sind. Der »letzte Grund des Naturrechts« ist also nicht im Sinne eines Prinzips oder einer ›Grundnorm‹ zu verstehen, die eine Ableitung der Jurisprudenz aus der Theologie ermöglichen soll. Leibniz geht es eher darum zu erklären, wie die Menschen dazu gebracht werden können, ein vorbildliches Leben zu führen. Die Bedeutung von pietas und iustitia universalis erschöpft sich also nicht in theologischen Erwägungen. Vielmehr strebt Leibniz nach einer Theorie des perfekten Staats, wofür der Gottesstaat dann Modell stehen würde. Gott ist m.a.W. der letzte Grund des Naturrechts, da der Entwurf eines perfekten Staates auf dieses Modell angewiesen ist. Dies verdient Hervorhebung, weil Leibniz die naturrechtliche Geltung von Normen, und zwar sowohl des ius strictum als auch der aequitas, unabhängig von der Existenz Gottes begründet hat. In den Konvergenzen zwischen einem idealen irdischen Staat und einem Gottesstaat dürfte der eigentliche Grund für die vielfältigen Überschneidungen und die große inhaltliche Nähe von aequitas und pietas liegen. Sieht man von den Diskussionen über einen religiösen Ausgleich einmal ab, so wird, wie ausgeführt, das Hauptziel der Gerechtigkeit, nämlich die Vermittlung von Eigen- und Gemeinwohl, auch auf Basis der Billigkeit, und damit auf der zweiten Stufe der Naturrechtstrilogie angestrebt.
gehen sie über eine »gegenwärtige Zufriedenheit« hinaus. Um schon auf Erden die Guten von den vermeintlich Bösen absondern zu können, müssen sie tief in die Privatsphäre der Menschen eingreifen. Die angestrebte Zufriedenheit kann daher leicht in ihr Gegenteil umschlagen und sich zu einer veritablen Unzufriedenheit auswachsen. 45 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 44 und 45. Leibniz möchte seine Tugendethik also nicht als die einzige und beste herausstellen. Eine derartige Behauptung würde, modern gesprochen, jeder Art des Fallibilismus widersprechen. Schon Leibniz nahm also an, dass sich unser Wissen als falsch entpuppen kann und wir in Zukunft vielleicht eine bessere Tugendlehre finden. Diese Position harmoniert mit seiner auch in anderen Zusammenhängen häufiger geäußerten Auffassung, dass wir keine absolute Gewissheit haben, die Wahrheit allenfalls annäherungsweise erkennen können und Irrtümer niemals auszuschließen sind. Er gibt sich daher mit dem Anspruch zufrieden, dass sein Konzept von den drei Stufen des Naturrechts im Vergleich zu anderen Lehren die relativ bessere Alternative darstellt.
Die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit
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Dass Leibniz von einer Selbständigkeit der normativen Gehalte des Naturrechts gegenüber der Theologie ausgegangen ist, lässt sich leicht belegen.46 Hier genügt der Hinweis auf die Faszination, die das römische Recht auf ihn ausübte. Trotz seines inzwischen oft verworrenen Zustandes erblickt er in den »Rechtsregeln der Digesten« eine verborgene Rationalität, die mit den Normen des Naturrechts »auf wundersame Weise übereinstimme«.47 Leibniz’ Überlegungen zum religiösen Ausgleich und zur Schönheit, Vollkommenheit, Ordnung oder Harmonie einer optima respublica sollten daher nicht missverstanden werden : Zwar spielt die Theologie auf den Ebenen von pietas und iustitia universalis eine tragende Rolle. Doch leitet er die normativen Inhalte der Jurisprudenz nicht vom Willen Gottes ab. Denn die drei praecepta sind, wie Savigny scharfsichtig erkannt hat, gar keine »Rechtsregeln«. Sie begründen lediglich eine »Klassification von Rechtsregeln«.48
V. Die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit Wie bereits ausgeführt, kennt Leibniz mehrere Arten der Billigkeit, die jeweils zwischen den getrennten Sphären von irdischer und höherer Gerechtigkeit stehen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die sogenannte »Goldene Regel«, die er in verschiedenen Schriften als Maxime, Prinzip oder allgemeinen Grundsatz zur Bestimmung der Billigkeit erörtert. Die Billigkeit gebiete : »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.«49 46 Dazu Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 29–53 ; Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (1970), S. 113 (»das natürliche Recht ist begrifflich von der Idee Gottes unabhängig, obwohl die Gerechtigkeit [als pietas, iustitia universalis, d. Verf.] selbst nicht bestünde, wenn Gott nicht existierte. Daher kann ein Gottesleugner zugleich Rechtsgelehrter sein, so wie er auch Geometer sein kann«). 47 Brief an Conring vom 13./23. Januar 1670 (Fn. 5), S. 331 ; Brief an Hobbes vom 13./23. Juli 1670, in : AA II 1, S. 56–59, 57. So auch noch im Brief an den Naturrechtslehrer Heinrich Ernst Kestner vom 1. Juli 1716 wenige Monate vor seinem Tod, in : Dutens, Opera omnia IV 3 (Fn. 17), Nr. 15 (S. 267–269, 267 f.) ; näher im 2. Kapitel III. 48 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 407–410 (mit dem Hinweis, dass aequitas und ius strictum unter praktischen Gesichtspunkten die größte und pietas bzw. iustitia universalis als höchste Stufen die geringste Bedeutung für das Recht haben, weil sie vornehmlich den Bereich der inneren Gerichtsbarkeit zum Gegenstand haben, a.a.O., S. 409 f.). Dies hätte wohl auch Leibniz so gesehen (vgl. 11. Kapitel I 6). 49 Nova methodus II (Fn. 1), § 74, S. 81 (im Rahmen der Dreistufenlehre) ; La place d’autruy (1679 ?), in : AA IV 3, Nr. 137, S. 903–904 ; dt. Der Platz des anderen, in : Hans Heinz Holz (Hg.), Poli-
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Die Goldene Regel ist ein wichtiges Prinzip, das auf den Ideen von Gleichheit und Reziprozität der Ansprüche beruht. Sie war bereits in der Antike bekannt und findet sich in so unterschiedlichen Religionen wie dem Brahmanismus, Buddhismus, Judentum oder Islam.50 Im Neuen Testament erscheint sie in der Formulierung : »Alles was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.«51 Während Leibniz in der Nova methodus noch ohne Einschränkungen davon auszugehen scheint, dass die Goldene Regel dem Gebot der Billigkeit entspricht, beginnt er sie im ersten Buch der Nouveaux essais kritisch zu beleuchten. Den Kontext bildet die Frage, ob die Goldene Regel zu den »eingeborenen Wahrheiten«, ob sie zu den »Prinzipien« gehört, die »man fühlt«, auch wenn »man keinen Beweis dafür besitzt«. Gemeint sind Beweise, die »die Logiker« führen können, »genau wie die Mathematiker den Grund für das beibringen, was man beim Gehen oder Springen tut, ohne daran zu denken«.52 Die Goldene Regel bedürfe, so Leibniz, aber »nicht allein des Beweises, sondern auch der Erklärung«. Dies begründet er mit der folgenden, interpretationsbedürften Aussage : Wäre man Herr darüber, so würde man zu viel verlangen ; heißt das, daß man auch den anderen zu viel schuldet ? Man wird mir sagen, daß sich das nur von einem gerechten Willen verstehen läßt. So aber wäre diese Regel weit davon entfernt, als Maßstab dienen zu können, und bedürfte vielmehr eines solchen. Der wahre Sinn
tische Schriften II (1967), S. 136–137 (unter dem hermeneutischen Gesichtspunkt des sich in den Standpunkt eines anderen Versetzens) ; Nouveaux essais I (Fn. 28), S. 57 ; Einige patriotische Gedanken (1697), in : W. Schmied-Kowarzik 2 (1916), S. 4. 50 Vgl. Adel Theodor Khoury, Die goldene Regel in religions- und kulturwissenschaftlicher Sicht, in : Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hg.), Was Du nicht willst, daß man Dir tu’ (1999), S. 25–42 ; Heinz-Horst Schrey, Regel, goldene, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 8 (1992), S. 450–457, 453. Zur Idee der Gleichheit, Gertrud Nunner-Winkler, Generalisierter oder konkreter Anderer ? in : Was Du nicht willst, daß man Dir tu’, a.a.O., S. 113–139, 114 ; Eberhard Schockenhoff, Das Liebesgebot Jesu und die Goldene Regel im Verständnis der christlichen Ethik, in : Was Du nicht willst, daß man Dir tu’, a.a.O., S. 55–85, 78 f. (dass Gleichheit bereits in der römischen Jurisprudenz als Merkmal der aequitas angesehen wurde, ist bereits im 3. Kapitel II 2 angedeutet worden). Allgemein zur Idee der Reziprozität : Meder, »Etwas aus Nichts« ?, in : Manfred Rehbinder (Hg.), Vom homo oeconomicus zum homo reciprocans ? (2012), S. 117–143 (die Bedeutung der Goldenen Regel weist aber, wie sogleich noch zu zeigen ist, über die Reziprozität hinaus). 51 Matth. 7, 12 ; Luk. 6, 31. Dazu näher Schockenhoff, Das Liebesgebot Jesu und die Goldene Regel (Fn. 50), S. 65–69. Daneben gibt es auch eine negative Formulierung »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu« (Tob. 4, 5). 52 Nouveaux essais I (Fn. 28), S. 57.
Die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit
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dieser Regel ist, daß es der wahre Gesichtspunkt eines billigen Urteils ist, wenn man sich an die Stelle des anderen versetzt.53
Leibniz hat seine Kritik überaus knapp gefasst, ohne Beispiele zu nennen. Das Problem der Goldenen Regel sieht er vornehmlich darin, dass von denen, die auf ihrer Grundlage eine Entscheidung treffen müssen, zu viel verlangt werde, dass sie also überfordert sein könnten. Ob er die Argumente genauer kannte, die Samuel Pufendorf gegen den universalen Charakter der Regel anführte, darf mindestens vermutet werden.54 Pufendorf meint, nach ihrer Maßgabe müsste »ein Richter einen Straßenräuber« freisprechen, statt ihn zum Tode zu verurteilen, weil »er ohne Zweifel gerne am Leben bleiben würde«.55 Dieses Argument illustriert die Gefahren, die mit der Goldenen Regel ohne Präzisierungen einhergehen können. Leibniz vertieft die Problematik, indem er die Standpunkte von Richter und Räuber jeweils gesondert untersucht : Muss der Richter den Räuber freisprechen ? Da würde man zu viel von ihm verlangen ! Schuldet er dem Räuber einen Freispruch ? Diese Frage wird ebenfalls verneint, denn solches Maß an Nachsicht würde bedeuten, dass »man auch den anderen zu viel schuldet«.56 Als weiteres Beispiel nennt Pufendorf einen »jeden Bettler, dem man geben müßte, was er begehrte ; denn wir würden, wenn wir selbst bedürftig wären, dergleichen auch verlangen«.57 Dabei würde sich der Bedarf bei einer strikten Anwendung der Regel nicht nur auf das Notwendige beschränken. Vielmehr müssten auch zufällige Wünsche, Liebhabereien oder das durch außergewöhnliche Anstrengungen Erworbene Berücksichtigung finden. Die Beispiele zeigen : Die Goldene Regel lässt sich nicht auf Reziprozität, auf die Forderung reiner Gegenseitigkeit beschränken. Dass sie nicht mechanisch angewendet werden kann, verdeutlicht auch der Fall, in dem »ein Herr seinem Diener die Schuhe würde putzen müssen, weil er solches von ihm zu fordern pflegt«.58 53 Nouveaux essais I (Fn. 28), S. 57. 54 Siehe nur die Bemerkungen in »Der Platz des anderen« (Fn. 49), S. 136–137. 55 Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo. Cum integris Commentariis Virorum Clarissimorum (1672), II, 3, § 13 (S. 347–348). Pufendorf bezieht sich mit diesem Beispiel auf ein gegen Hobbes gerichtetes Werk, das der englische Theologe und Botaniker Robert Sharrock (1630– 1684) unter dem Titel De officiis Secundum Naturae Jus (1660) veröffentlicht hat. Leibniz rekurriert ebenfalls häufiger auf Sharrock, z.B. Nova methodus (Fn. 1), §§ 71, 72 (S. 75, 77) ; Brief an Jean Chapelain (1670 ?), in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 349–373, 367 ; Der Platz des anderen (Fn. 49), S. 136. 56 Leibniz, Nouveaux essais I (Fn. 28), S. 57 (Fn. 53). 57 Pufendorf, De iure naturae et gentium (Fn. 55), II, 3, § 13 (S. 347). 58 Pufendorf, De iure naturae et gentium (Fn. 55), II, 3, § 13 (S. 347).
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Doch »schade all dies der Regel an ihrer Richtigkeit nichts«. Nur dürfe man sie nicht als Axiom begreifen, sondern müsse sie als eine Folgerung aus dem Grundsatz der »natürlichen Gleichheit aller Menschen erkennen«.59 Christian Thomasius hat denn auch vorgeschlagen, die Regel unter Ungleichen, z.B. zwischen Herr und Diener, nicht zur Anwendung zu bringen.60 Dem hätte wohl auch Leibniz zugestimmt. Denn überall dort, wo zwischen zwei Personen in Bezug auf ihre Rechte oder Pflichten ein asymmetrisches Verhältnis besteht, lässt sich auf Grundlage der Goldenen Regel keine befriedigende Lösung entwickeln. So sagt er, die Regel sei »weit davon entfernt«, als »Maßstab dienen zu können«. Dass man beim Strafen Nachsicht walten lassen oder einem Bedürftigen Hilfe leisten muss, sei ohne einen »gerechten Willen« nicht zu verstehen.61 Der Terminus »gerechter Wille« erscheint hier in einer doppelten Bedeutung. Einmal in Gestalt der caritas sapientis, wonach Gerechtigkeit nicht nur als ›Proportion‹, sondern auch als ›Aktion‹ zu begreifen ist : Die Akteure streben danach, die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zu verwirklichen, welche sich in ihnen spiegeln.62 Darüber hinaus bedarf es aber auch eines gewissen Habitus, nämlich der Bereitschaft, von sich selbst abzusehen, und der Fähigkeit, »sich an die Stelle des anderen« zu versetzen. Die Goldene Regel bietet also keine Norm, unter die sich einfach subsumieren ließe, sondern ein heuristisches Instrument, mit dessen Hilfe ein »billiges Urteil« gerade dann getroffen werden kann, wenn es an einer solchen Norm mangelt : Denke reiflicher darüber nach, nachdem du dich an die Stelle des anderen versetzt hast, was dir zu geeigneten Erwägungen Anlaß geben wird, um die Folgen dessen besser zu erkennen, was du tust.63
Wer menschliches Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu beurteilen hat, soll sich also in den Anderen hineinversetzen, um von dessen Stand59 Pufendorf, De iure naturae et gentium (Fn. 55), II, 3, § 13 (S. 347). 60 Nachweise bei Schrey, Regel, goldene (Fn. 50), S. 455. 61 Leibniz, Nouveaux essais I (Fn. 28), S. 57 (Fn. 53). 62 Dazu näher im 10. Kapitel II. Der in der caritas sapientis tätige Wille (der bei den verschiedenen Individuen natürlich unterschiedlich ausgeprägt ist) und die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit bilden also den »Maßstab«, wovon in den Nouveaux essais (Fn. 53) die Rede ist. Auch Kants Präzisierung der Goldenen Regel in den ersten Fassungen des kategorischen Imperativs verweist auf einen übergeordneten Grundsatz, von dem aus sie erfolgt, vgl. Norbert Hinske, Goldene Regel und kategorischer Imperativ, in : Was Du nicht willst, daß man Dir tu’ (Fn. 50), S. 43–54, 49 f.; Nunner-Winkler, Generalisierter oder konkreter Anderer (Fn. 50), S. 115. 63 Leibniz, Der Platz des anderen (Fn. 49), S. 137.
Hermeneutische Billigkeit
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punkt aus auf das eigene Handeln zu blicken. Wer imstande ist, einen solchen Standpunkt einzunehmen, sieht im Anderen nicht nur einen Fremden, sondern vermag in ihm auch sich selbst wiederzuerkennen. Was leistet die Goldene Regel in der Rechtspraxis ? Um hier eine Antwort zu finden, wäre zunächst daran zu erinnern, dass Leibniz nicht geglaubt hat, ein Souverän sei imstande, das Recht durch Gesetzgebung vollständig zu beherrschen. Die Praxis lehrt, dass Juristen stets mit Fällen in Berührung kommen, in denen das Gesetz schweigt, und oftmals auch sonst brauchbare Kriterien fehlen, auf deren Basis sich eine befriedigende Entscheidung treffen lässt. Nicht selten handelt es sich um Sachverhalte, die der Gesetzgeber wegen des Wandels sozialer Gegebenheiten und der Vielfalt von Einzelfällen gar nicht hätte vorhersehen können. Der Jurist ist dann gezwungen, selbständig eine Entscheidung zu treffen.64 Damit zeigt sich einmal mehr, dass das unstrenge Recht eine gesteigerte Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls und damit auch eine größere Unschärfe aufweist. Dieser situativen Verflüssigung vermag das positive Recht im Wege einer durch Gesetze vorgegebenen Ordnung nur in beschränktem Maße Rechnung zu tragen. Die Goldene Regel kann zwar in bestimmten Fällen eine Hilfe bieten. Doch ist sie »weit davon entfernt«, als »Maßstab dienen zu können«, auf den »gerechten Willen« und damit auf eine höhere Gerechtigkeit angewiesen. So darf sie als Mittlerin zwischen der irdischen aequitas und einer höheren Gerechtigkeit angesehen werden, die im Reich der Gnade waltet. Oder anders gewendet und mit Blick auf Leibniz’ Lehre von der Gerechtigkeit : Auch unter den Prämissen der Goldenen Regel eröffnet die Billigkeit einen kritischen Raum mit der Frage nach dem Recht, das niemals ungerecht sein kann : nach der Gerechtigkeit, die darauf zielt, Eigen- und Solidarinteressen in eine optimale Verbindung zu bringen.65
VI. Hermeneutische Billigkeit Leibniz’ juristische Hermeneutik ist bis heute so gut wie unbekannt geblieben. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die einschlägigen Stellen der Nova methodus keine Übersetzung gefunden haben.66 Das hermeneutische Moment spielt 64 Zum Schweigen des Gesetzes siehe etwa die Ausführungen in der Nova methodus II (Fn. 1), § 69 (S. 71) oder im Brief an Hermann Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 5), S. 341. 65 Siehe die Formulierung in Sur la nature de la bonté et la justice (Fn. 3), S. 155 (näher im 10. Kapitel III). 66 In der Übersetzung von Busche (Fn. 1) sind die maßgeblichen Stellen (und insbesondere der
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Heilsgeschichtliche Billigkeit, Goldene Regel und juristische Hermeneutik
aber nicht nur in Leibniz’ Rechtsphilosophie, sondern auch in seiner Metaphysik eine wichtige Rolle. Dies wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Johann Martin Chladenius erkannt, der als erster mit dem Anspruch auftritt, eine Allgemeinhermeneutik verfasst zu haben und sich dabei ausdrücklich auf Leibniz bezieht.67 Wo die Anknüpfungspunkte genau liegen, ist bis heute noch nicht zum Gegenstand einer selbständigen Untersuchung gemacht worden. Auch die folgende Darstellung muss sich mit einer knappen Skizze einiger juristischer und metaphysischer Momente von Leibniz’ Hermeneutik begnügen.68 1. Juristische Hermeneutik in der Nova methodus
Zu den Grundfragen der juristischen Hermeneutik gehört die Frage nach der Zulässigkeit der Auslegung, worauf die Epoche von Aufklärung und Naturrecht eine eigene Antwort gegeben hat. Das zentrale Merkmal der sogenannten Aufklärungshermeneutik besteht darin, dass nur dunkle, unklare oder schwer verständliche Textstellen der Auslegung fähig sein sollen. Diese – im Kern schon in der Antike bekannte und noch heute verbreitete – Idee einer Stellenhermeneutik fand in Parömien wie In claris non fit interpretatio, Interpretatio cessat in claris oder Clara non sunt interpretanda einen Ausdruck. Danach verbietet sich die Auslegung, wenn ein Gesetz, Vertrag oder sonst verbindlicher Rechtstext klar und eindeutig formuliert ist.69 zentrale § 66) ausgespart. Einige Hinweise finden sich bei Hans-Peter Schneider, Der Plan einer »Jurisprudentia Rationalis« bei Leibniz, in : ARSP 52 (1966), S. 553–578, 565–567, sowie bei Henry-Evrard Hasso Jaeger in einer Fußnote, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in : Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35–84, 74 (Fn. 121). 67 Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742 (ND Düsseldorf 1969), S. 187–195 (§§ 309–317). 68 Weitgehend ausgeblendet bleiben dabei die Überlegungen zur Interpretation (im engeren Sinn), die Leibniz als Exegese zu bezeichnen pflegt. Sie haben vor allem im zweiten Teil der Nova methodus (§§ 2–3, 62–65, 67–69) und in De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (1678/79 ?), in : AA VI 4 C, S. 2782–2791, einen Niederschlag gefunden. Diese anspruchsvolle und überaus kenntnisreich vorgetragene Lehre ist, soweit ersichtlich, in der Leibnizforschung bislang überhaupt noch nicht gewürdigt worden. 69 Eberhard Klingenberg, Justinians Verbot der Digestenkommentierung, in : Jan Assmann, Burkhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar, Bd. IV (1995), S. 407–422 ; Clausdieter Schott, »Interpretatio cessat in claris« – Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit in der juristischen Hermeneutik, in : Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 155–189 ; Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 17–27 ; ders., Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, in : Rechtswissenschaft und Hermeneutik. Archiv für Rechts- und Sozial-
Hermeneutische Billigkeit
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Zulässigkeitsbeschränkungen der Auslegung haben die Funktion, ein bestimmtes rechtliches Programm zu fixieren und zu sichern : Der Richter darf nicht interpretieren, was durch die Rechtsordnung oder die Parteien eindeutig festgelegt wurde. Die Grundlagen der Zulässigkeitsbeschränkung liegen im Ius commune. Für die Zeit vom 13. bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte die neuere Forschung keinen einzigen Autor ausfindig machen, der sich kritisch mit der In-claris-Regel auseinandersetzt.70 Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die In-claris-Regel sogar in den Rang einer Grundnorm erhoben, da sie in idealer Weise mit den rechtsquellentheoretischen Vorstellungen der Zeit harmonierte. Dieser Erfolg hat vor allem staatsrechtliche Gründe : Der aufgeklärte Absolutismus wollte nur das Gebot des Monarchen als Rechtsquelle anerkennen. Deshalb suchte er, jede andere Rechtsbildung – etwa durch Rechtsprechung, Wissenschaft oder Gewohnheit – auszuschließen.71 Die In-claris-Regel lebt unter Bezeichnungen wie Clair meaning-, Plain meaning-, In claris verbis-rule, Sens clair-, Acte clair-doctrine oder »Vattelsche Maxime« noch heute fort. Dies verdient angesichts des großen Einflusses, den das angelsächsische und französische Recht auf die internationale Gerichtsbarkeit ausübt, besondere Hervorhebung. In Deutschland herrscht indes seit langem die Auffassung, dass nicht nur dunkle, unklare oder widersprüchliche Texte, sondern grundsätzlich alle Rechtstexte der Auslegung sowohl fähig als auch bedürftig sind. Diese Sichtweise pflegt man auf die juristische Hermeneutik zurückzuführen, die Friedrich Carl von Savigny nach der Wende zum 19. Jahrhundert formuliert hat. Als Beispiel für den »fast allgemein herrschenden Begriff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Gesetze« nennt Savigny den »Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts« von Karl Salomo Zachariä (1769– 1843) aus dem Jahre 1805.72 Dort heißt es : Je vollkommener eine Gesetzgebung ist, desto weniger wird sie der Auslegung bedürfen. Denn Unsicherheit des Rechts ist allemal der Grund und die Folge einer solchen Auslegung.73 philosophie (ARSP), Beiheft Nr. 117 (2009), S. 19–37. Auch Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 2), folgt dieser Auffassung (z.B. in der Vorrede, S. 15–17). 70 Schott, »Interpretatio cessat in claris« (Fn. 69), S. 165 ; speziell für die Zeit von 1650–1800 : Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Auflage (2012), S. 140–141. 71 Zu den staatsphilosphischen Voraussetzungen von Leibniz’ Rechtsdenken (und des säkularen Naturrechts) siehe die Ausführungen im 5. Kapitel. 72 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 318 (Hervorhebung im Original). 73 Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805), S. 160. Noch vor Savigny hielt es Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840) für »falsch«, wenn bislang angenommen
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Wann und unter welchen Voraussetzungen eine Auslegung zulässig ist, gehört also zu jenen Grundfragen der juristischen Hermeneutik, welche die Aufklärungs- und die ›moderne‹ Hermeneutik unterschiedlich beantwortet haben. Während die Aufklärungshermeneutik die Zulässigkeit auf dunkle oder unklare Textstellen beschränkt, will die ›moderne‹ Hermeneutik diese Einschränkung nicht anerkennen.74 Nun hat sich Leibniz zwar nicht ausdrücklich zur Zulässigkeitsfrage geäußert. Es sind aber auch keine Anzeichen erkennbar, dass er die Auslegung auf dunkle oder unklare Textstellen beschränken wollte. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. So heißt es in den Ausführungen über die »Kunst des Urteilens« : »Kein Wort darf ohne Erklärung akzeptiert werden.«75 Im Hintergrund steht seine Kritik des cartesianischen Evidenzkriteriums, wonach das wahr sein soll, was wir klar und deutlich wahrnehmen. Dagegen meint Leibniz : »Eine solche Regel täuscht auf vielen Wegen.«76 Noch vor Savigny und vor Thibaut dürfte Leibniz also der erste gewesen sein, der die In-claris-Regel einfach ignorierte.77 Dazu passt, dass er den rechtsquellentheoretischen Voraussetzungen dieser Regel eine deutliche Absage erteilt hat. Denn im Gegensatz zur Staatsphilosophie des säkularen Naturrechts hat Leibniz
wurde, »daß nur bey dunklen, zweydeutigen Gesetzen eine Interpretation Statt finde«. In seiner »Theorie der logischen Auslegung« betont er, dass es bei der Auslegung nicht darauf ankomme, ob eine Rede »an sich dunkel, und insofern einer Erklärung bedürftig [sei], oder nicht«, Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts, 1. Auflage (1799) ; 2. vermehrte und verbesserte Auflage (1806), S. 11 (§ 1). Dazu näher Meder, Thibauts Hermeneutik, in : Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840). Bürger und Gelehrter, hg. v. Christian Hattenhauer, Klaus-Peter Schroeder, Christian Baldus (2017), S. 127–146. 74 Zum Begriff der ›modernen‹ Hermeneutik und ihrer Abgrenzung von der Aufklärungshermeneutik siehe Stephan Meder, Zetetik versus Dogmatik ?, in : ders., Gaetano Carlizzi, Christoph-Eric Mecke, Christoph Sorge (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft (2013), S. 225–244. 75 Nova methodus I, in : AA (Fn. 1), S. 279 (§ 25). In De legum interpretatione (Fn. 68) sagt er lediglich, dass die Interpretation »obscuritatem« beseitigen könne (S. 2782). 76 Nova methodus I, in : AA (Fn. 1), S. 279, § 25 ; René Descartes, z.B. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (1701), kritisch revidierte übersetzte und herausgegebene Ausgabe von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl (1973), S. 15 (Regel 3). Siehe auch Leibniz’ Einwände gegen die cartesianische Lehre von der Ausdehnung (was uns klar und eindeutig erscheint, ist in Wahrheit oftmals dunkel und unklar, 7. Kapitel I) sowie den sogleich zu erörternden § 66 der Nova methodus, wo er auf den Kontext abstellt, der bei jeder Interpretation zu beachten sei. 77 Die in der Literatur herrschende Annahme, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts habe es keinen einzigen Autor gegeben, der die In-claris-Regel kritisch gesehen hätte (Nachweise in Fn. 70), bedarf also einer Korrektur. Neben Thibaut (1799) wäre auch Leibniz (1667) als Vordenker einer ›modernen‹ Hermeneutik zu nennen.
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über das Gebot des Souveräns hinaus auch andere Formen der Rechtsbildung und die Gestaltungsmacht der Jurisprudenz anerkannt.78 In eine ähnliche Richtung zielen die Ausführungen in § 66 der Nova methodus, welcher der Hermeneutik direkt gewidmet ist.79 Hier betont Leibniz, dass manche Autoren unklar und manche klar sprechen. So würden sich zum Beispiel »die Orakel, die alten Pytagoräer, die Autoren von Rätseln und die Alchemisten« mit Absicht unklar ausdrücken. Wer ihre Aussagen deuten möchte, dürfe sich nicht an den offensichtlichen Sinn halten.80 Es müsse immer darauf geachtet werden, wer spricht oder schreibt, ohne dass vermutet werden dürfe, jemand würde absichtlich Unsinn sprechen. Das hermeneutische Moment der Interpretation gebietet also fremde Meinungen aus ihrem Kontext heraus zu verstehen. Es müssen, wie Leibniz hervorhebt, »Geschichte, Ort, Zeit und Absichten« berücksichtigt werden.81 Das Verstehen ließe sich so als Streben nach Gerechtigkeit begreifen, als Erwartung, dass alles seine Berechtigung hat, wenn man nur lange und gründlich genug nachforscht. Es ist sicher kein Zufall, dass Leibniz als Urheber des Satzes vom Grund gilt, der in der Hermeneutik auf die mögliche Berechtigung einer jeden Äußerung schließen lässt. Damit ist das hermeneutische Moment in Leibniz’ Metaphysik angesprochen, worauf im Folgenden kurz einzugehen ist. 2. Das hermeneutische Moment in Leibniz’ Metaphysik
Was die Metaphysik angeht, so liegt es nahe, an der Position des Anderen anzusetzen, die Leibniz als den Gesichtspunkt desjenigen bezeichnet, der ein »billiges« Urteil zu fällen hat.82 »Verstehen« ließe sich dann als Rückgang auf die mögliche Berechtigung einer jeden Äußerung, als Streben nach Gerechtigkeit gegenüber einem Text oder einer Rede begreifen. Leibniz’ Begriff der Gerech78 Dazu näher im 3., 4. und 5. Kapitel. 79 Nova methodus II (Fn. 1), S. 338 f. 80 Nova methodus II (Fn. 1), S. 338 (§ 66). Möglicherweise hat Leibniz das Beispiel deshalb gewählt, um zu zeigen, wie leicht das cartesianische Evidenzkritierium (oder die In-claris-Regel) auf Abwege führen kann. Die Verbindungen zwischen cartesianischer Evidenz und Zulässigkeitsbeschränkungen der Auslegung in der Epoche von Aufklärung und Naturrecht bedürften noch genauerer Untersuchung. 81 Nova methodus II, in : AA (Fn. 1), S. 338 (§ 66). Treffend Jean Grondin, Das Leibnizsche Moment in der Hermeneutik, in : Manfred Beetz, Giuseppe Cacciatore (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung (2000), S. 3–16, 10 : Ein Wort darf nie beim Wort genommen werden, man soll es aus dem Kontext heraushören, »ein Wort ist immer eine Antwort« (unter Hinweis auf Leibniz’ dialogisches Verständnis der Philosophie). 82 Siehe oben die Nachweise im Abschnitt über die »Goldene Regel« als Kriterium der Billigkeit (V).
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tigkeit fußt, wie noch zu zeigen ist, auf zwei Prinzipien, und zwar der Liebe und der Weisheit :83 »Weil also die Gerechtigkeit fordert, das Wohl eines Anderen um seiner selbst willen zu erstreben«, und weil dies bedeutet, »andere zu lieben, folgt aus der Natur der Gerechtigkeit, daß sie Liebe ist«.84 An anderer Stelle heißt es, dass »die Weisheit die Liebe anleiten muß«.85 Für das Verstehen ist daraus eine doppelte Konsequenz zu ziehen : Während es die Liebe fordert, die Aussagen eines anderen um seiner selbst willen zu betrachten, muss die Weisheit diese Aussagen an rationalen Maßstäben messen. ›Interesselosigkeit‹ und ›Vernunft‹ bilden also die Elemente der Gerechtigkeit, wobei die Vernunft im Prinzip vom zureichenden Grund einen Ausdruck findet, welches Leibniz in seiner Spätphilosophie näher ausformuliert hat.86 Das Streben der Gerechtigkeit ist also auf den Anderen gerichtet, auf dessen Standpunkt, Perspektive oder »Sehepunkt«, wie Chladenius ihn nennt, der bei jedem Verstehen eine wichtige Rolle spielt. Chladenius formuliert seine Theorie des Sehepunktes bekanntlich in Anknüpfung an Leibniz, der den Begriff der Perspektive (und den des Standpunktes) in die Philosophie eingeführt hat :87 Das Wort, Sehe-Punckt, ist vermuthlich von Leibnizen zuerst in einem allgemeinern Verstande genommen worden, da es sonsten nur in der Optick vorkam. Was er damit anzeigen wollen, kan man am besten aus unsrer Definition sehen, welche denselben Begriff deutlich erkläret. Wir bedienen uns hier desselben Begriffes, weil
83 Dazu und zum Folgenden näher im 10. Kapitel III. 84 Elementa Juris Naturalis, Nr. 4 (Fn. 5), S. 464 f. 85 Praefatio (Fn. 2), S. 169. 86 Vgl. Monadologie (Fn. 4), § 32 (S. 27) ; Theodicée I (Fn. 5), § 44 (S. 119). Dazu etwa : Rudolf Zocher, Zum Satz vom zureichenden Grunde bei Leibniz, in : Beiträge zur Leibniz-Forschung (Fn. 28), S. 68–87 ; Bernhard Jansen S.J., Leibniz, erkenntnistheoretischer Realist (1920), S. 42–44 (unter dem Gesichtspunkt der Vernunftwahrheiten). 87 Monadologie (Fn. 4), § 57 (S. 41 f.) ; Theodicée III (Fn. 5), § 357 (S. 346 f.). Dazu etwa : Erhard Holze, Mensch – Perspektive – Gott, in : Hans Poser (Hg.), Nihil sine ratione (2002), S. 516–523 (mit Nachweisen zum Sprachgebrauch von Leibniz, der dem »Sehepunkt« sehr nahe kommt : »punctum visus«, »point de vue«, »Augenpunct«, »Punkt des Anschauens«, »Schaupunct«) ; Sybille Krämer, Ist das ›Auge des Geistes‹ blind ?, in : Nihil sine ratione (a.a.O.), S. 644–650 ; Gert König, Art. »Perspektive«, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 1–13 (1971–2007), Bd. 7 (1989), S. 363–375, 366 f.; Margarita R. Levin, Leibniz’ Concept of Point of View, in : Studia Leibnitiana XII/2 (1980), S. 221–228. Siehe ferner Juan A. Nicolás, Perspektive und Interpretation, in : Wenchao Li (Hg.), 300 Jahre Monadologie. Interpretation, Rezeption, Transformation (2017), S. 215–226.
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er unentbehrlich ist, wenn man von denen vielen und unzehligen Abwechselungen der Begriffe, die die Menschen von einer Sache haben, Rechenschaft geben soll.88
Chladenius charakterisiert den »Sehe-Punckt« als »Ort unseres Auges«, der »die Ursach ist, daß wir ein solch Bild und kein anderes von der Sache bekommen«.89 Diese Aussage könnte die Annahme nahelegen, der Perspektivbegriff würde eine Erkenntnis der Dinge, wie sie »an sich« sind, verbieten und einer philosophischen Denkrichtung Vorschub leisten, die wir heute als ›Relativismus‹ oder ›erkenntnistheoretischen Subjektivismus‹ zu bezeichnen pflegen. Doch geht es sowohl bei Leibniz als auch bei Chladenius weniger um die eigene Perspektive als um die des Anderen : Bei allen Vorstellungen »gibt es einen Grund, warum wir die Sache so, und nicht anders erkennen«.90 Die Hermeneutik zielt auf diesen Grund, der bei dem Anderen für etwas spricht und auf irgendeine Berechtigung seiner Aussagen schließen lässt. So hat sich auch der Philosoph und Theologe Christian August Crusius (1715–1775) geäußert, der wenige Jahre nach Chladenius die Lehre vom Sehepunkt aufgreift und zu präzisieren versucht. Nach dieser Lehre müsse die Bemühung eines Auslegers dahin gehen, aus der Vergleichung aller Umstände gleichsam den rechten Sehe-Punct zu bestimmen, aus welchem der Verfasser eine Sache angesehen hat, und sich in den Gedancken in denselbigen zu stellen.91
88 Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 67), S. 188 (§ 309). Dass Chladenius damit die alte scopus-Lehre, welche die Zielsetzung einer Schrift mitbedenkt, auf eine neue Grundlage stellte, ist oft betont worden, vgl. nur Geldsetzer, Einleitung (Fn. 67), S. XXIV. Siehe hierzu auch das 12. Kapitel I 2 (im Zusammenhang mit Jherings »Augenmetapher«). 89 Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 67), S. 187 f. (§ 309). Auch insoweit gilt der Satz : »Gott hat stets den Dingen selbst Eigenschaften und Bestimmungen beigelegt, aus denen sich alle ihre Prädikate erkennen lassen«, Leibniz, Specimen dynamicum (1695), in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I (1904), S. 256–272, 270. 90 Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 67), S. 188 (§ 309). Siehe dazu auch den Abschnitt über die notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit als eingeborene Ideen im 9. Kapitel VI. 91 Crusius, Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntnis (1747), S. 1091 (Hervorhebung nicht im Original). Nur am Rande sei bemerkt, dass auch Savigny und Schleiermacher im Rahmen ihrer Hermeneutik das Verstehen an den (später umstrittenen) Begriff des Standpunkts (bzw. ›das sich in den Standpunkt eines anderen Versetzen‹) knüpfen, von dem aus sich die Perspektive eines anderen einnehmen lässt, siehe Meder, Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik (Fn. 69), S. 26.
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Diese Art von Perspektivismus gebietet es also, fremde Aussagen aus ihrer eigenen sachlichen Zielsetzung oder Motivation heraus zu verstehen, um ihnen gerecht zu werden.92 Spätere Autoren haben aus einer solchen Gerechtigkeitsvorstellung ein Billigkeitsprinzip hergeleitet, das z.B. der Hallenser Philosoph Georg Friedrich Meier (1718–1777) mit den Worten charakterisiert : »Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen«.93 Von der hermeneutischen Billigkeit unterscheidet er die »Scheinbilligkeit« (aequitas cerebrina) und die »Unbilligkeit eines Auslegers« (iniquitas hemeneutica), wobei der unbillige Ausleger nicht nur »auf eine hermeneutische Art«, sondern »auch aus Haß gegen den Urheber« handele.94 Dafür, dass Leibniz bei der Interpretation einen Zusammenhang von Liebe und Weisheit sieht, ließen sich viele Beispiele anführen. So wird er in der Nova methodus nicht müde, Interpreten davor zu warnen, einem Urheber zu unterstellen, er habe sich ohne zureichenden Grund geäußert.95 Erinnert sei auch an sein oft zitiertes Bekenntnis, dass er das meiste billige, was er bei anderen lese : Wisse, Niemand hat weniger censorischen Geist, als ich. Es klingt seltsam : ich billige das meiste, das ich lese, auch bei Andern, geschweige bei Dir. Mir, der ich weiß, wie verschieden die Dinge genommen werden, steigt beim Lesen meistentheils etwas auf, was die Schriftsteller entschuldigt oder vertheidigt. So sind die Stellen selten, welche mir beim Lesen mißfallen ; obschon das eine mehr gefällt, als das andere.96 92 Grondin, Das Leibnizsche Moment in der Hermeneutik (Fn. 81), S. 6–8 ; ders., The Possible Legacy of Leibniz’s Metaphysics in Hermeneutics, in : Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado, Miguel Escribano Cabeza (Hg.), Leibniz and Hermeneutics (2016), S. 3–15. 93 Georg Friedrich Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst, 1757 (ND Düsseldorf 1965), S. 20 (§ 39). Auch bei Christian Wolff findet sich eine aequitas hermeneutica, Philosophia rationalis sive logica. Methodo scientifica pertractata (1732), §§ 922–925, mit einer Unterscheidung verschiedener Grade der aequitas hermeneutica : aequitas et iniquitas in interpretando, iniquitas manifesta und iniquissima interpretatio (S. 655–656). Dazu Lutz Geldsetzer, Einleitung, in : ders. (Hg.), Georg Friedrich Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (1965), S. V– XXVIII, XIX. 94 Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 93), S. 47–49, 48 (§§ 90–05, 91). 95 Nova methodus II (Fn. 1), S. 338 f. 96 Brief an Vincent Placcius von 1696, in : Dutens VI (Fn. 17), Nr. 48 (S. 63–66) ; dt. bei Gottschalk Eduard Guhrauer, Gottfried Wilhelm Leibniz – Eine Biographie, Bd. II (1846), S. 343. Dies hat Chladenius erkannt, wenn er betont, dass sich Leibniz »in seinen Streitigkeiten nach den Neigungen seines Gegners zu richten pflegte«, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 67), S. 490 f.
Hermeneutische Billigkeit
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Fast alles hat also seinen Grund, wenn man nur lange genug nach dem Geist hinter dem Buchstaben forscht. Von hier aus ergibt sich eine Parallele mit einer vor allem in der angelsächsischen Philosophie über das korrekte Interpretieren geführten Diskussion. Zwei Forderungen werden dabei an den Interpreten gerichtet : Er soll erstens annehmen, dass die Aussagen des Autors im Grunde zutreffen, und zweitens den Sätzen, die dieser für wahr hält, in ihrem Zusammenhang Konsistenz unterstellen. Diese Präsumtionen werden als »Principle of Charity« bzw. als »Principle of Humanity« bezeichnet.97 Mit Blick auf Leibniz ist nun von Interesse, dass solche Interpretationsregeln der aequitas hermeneutica sehr nahe kommen. Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass das Verstehen als Streben nach Gerechtigkeit gegenüber einem Text oder einer Rede aufgefasst werden kann. Das bedeutet freilich nicht, dass der eifrige Leser Leibniz nicht auf Aussagen gestoßen wäre, die er aus Mangel an Berechtigung weder entschuldigen noch verteidigen wollte.98 Von dieser Einschränkung ist ein anderes Thema der zeitgenössischen Hermeneutik zu unterscheiden, nämlich die Frage, ob ein vollkommenes Verstehen überhaupt möglich sei.99 Auch von hier aus zieht sich eine Linie zur Gerechtigkeit, zum dynamischen Moment der Monade als Kraft, als Streben nach (§ 639). Diese »Haltung« kommt auch in Leibniz’ Satz »wer Weisheit hat, liebet alle«, zum Ausdruck (Nachweise im 10. Kapitel III). Andere Autoren erblicken in ihr das Proprium der hermeneutischen Billigkeit, z.B. Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 93), § 39 (S. 20). Zudem findet in ihr das oft hervorgehobene »dialogische Element« von Leibniz’ Denken einen Niederschlag, vgl. Grondin, Das Leibnizsche Moment in der Hermeneutik (Fn. 81), S. 10 f. 97 Willard van Ormen Quine, Word and Object (1960), S. 59 (Principle of Charity) ; Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation (1984), 2. Auflage (2001), S. 27 (Principle of Charity) ; Richard E. Grandy, Reference, Meaning, and Belief, in : Journal of Philosophy 70 (1973), S. 439–452, 443 (Principle of Humanity). 98 Leibniz, Elementa Juris Naturalis (Fn. 5), Nr. 4 (S. 465) : »Billig ist es, alle anderen zu lieben, sooft es in Frage kommt (aequum est amare alios omnes quoties quaestio incidit, Hervorhebung im Original) ; dt. Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 1), S. 89–319, 215–243, 243. Eine ähnliche Einschränkung findet sich in der Praefatio : Ein guter Mensch ist, wer alle Menschen liebt, »soweit die Vernunft dies zuläßt«, Praefatio (Fn. 2), S. 167. Das Verstehen findet also dort eine Grenze, wo es der Argumentation des Anderen an zureichenden Gründen mangelt (siehe 10. Kapitel III 2). Das heißt zugleich, dass jede Vermutung der Richtigkeit widerlegt werden kann. Dieser Gedanke steht im Einklang mit Meiers Formulierung der hermeneutischen Billigkeit, wonach der Interpret nur solange geneigt sein soll, die Aussagen des Urhebers für wahr zu halten, »bis das Gegentheil erwiesen wird«, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 93), § 39 (S. 20). Siehe zu diesem Thema auch Heinrich Gomperz, Interpretation. Logical Analysis of a method of historical research (1939), S. 73–77. 99 Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung (Fn. 67), z.B. §§ 148, 155 (S. 82 f., 86) ; Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 93), z.B. §§ 86–92 (S. 45–48).
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Vollkommenheit. Wer eine größere Vollkommenheit erreicht, empfindet Freude, Lust, Vergnügen und Glückseligkeit.100 Die Motivation des Strebens nach vollkommenem Verstehen ist aus Sicht von Leibniz also etwas ganz Natürliches. Gleichwohl können wir die Aussagen eines Anderen niemals vollständig, sondern nur annäherungsweise verstehen, oder, wie Georg Friedrich Meier im Zusammenhang mit der aequitas hermeneutica bemerkt : Wir sind nur imstande, solche Bedeutungen für wahr zu halten, die »mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen, bis das Gegentheil erwiesen ist.101 Leibniz überlässt die Vollkommenheit des Verstehens indes der göttlichen Erkenntnis : Wir müssen uns mit einer ästhetischen Deutlichkeit zufrieden geben, weil wir den letzten Grund der Dinge niemals ausschöpfen können.102 Insofern steht er im Einklang mit der gegenwärtigen Hermeneutik.103 Ein Unterschied liegt aber darin, dass für Leibniz die ursprüngliche Perspektive immer die Perspektive eines Anderen ist. Hans-Georg Gadamer hat die aus der prinzipiellen Berechtigung einer jeden Perspektive resultierende dialogische Aufgabe der Hermeneutik mit den Worten verdeutlicht : »Unter Hermeneutik verstehe ich die Fähigkeit, einem anderen zuzuhören in der Meinung, er könne Recht haben.« Und so erscheint es nur folgerichtig, wenn er bei Leibniz das Modell für das hermeneutische Moment der Philosophie entdeckt : Es ist vor allem ein Vorbild, ein Vorbild des Geltenlassens. Ich würde sagen, es gibt eigentlich kein so sehr hermeneutisches Vorbild, das ich in der Geschichte der Philosophie kenne, als Leibniz, der den inneren Zusammenhang und das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein wechselnder Standpunkte und wechselnder Perspektiven letzten Endes für die Stuktur der Wahrheit selber gehalten hat.104 100 Synopsis libri cui titulus erit : Initia et Specimina Scientiae novae Generalis pro Instauratione et Augmentis Scientiarum ad publicam felicitatem, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, VII Bände (1875–1890), Bd. VII, S. 64–123, 86. 101 Meier, Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 93), § 39, S. 20 (auch hier wird also mit Präsumtionen operiert). 102 Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Idee, in : Die philosophischen Schriften IV (Fn. 99), S. 422–426 ; siehe auch das 10. Kapitel III 3 a.E. sowie die einschränkenden Aussagen zum zureichenden Grund (»obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen«, Monadologie, Fn. 4, § 32, S. 27). 103 Am Ende des § 66 der Nova methodus (Fn. 1) führt Leibniz aus, dass wir, falls Unsicherheiten über das richtige Verständnis bestehen, die möglichst wahrscheinliche Interpretation bevorzugen sollen. Lasse sich dagegen gar kein Sinn feststellen, sei es sogar zulässig, die Aussage unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit geringfügig zu modifizieren. 104 Gadamer, Die Welt als Spiegelkabinett : Zum 350. Geburtstag von Leibniz am 1. Juli 1996 (zitiert nach Grondin, Das Leibnizsche Moment in der Hermeneutik, Fn. 81, S. 15 f.).
Resümee
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VII. Resümee Leibniz kennt ganz verschiedene Arten der Billigkeit. Neben einer juristischen – einer der römischen aequitas-Tradition entsprungenen Billigkeit wären zu nennen : Die heilsgeschichtliche Billigkeit, die in der Goldenen Regel verkörperte Billigkeit und die Billigkeit, welche der Interpret gegenüber einem Text, einer Rede oder sonst einem Gegenstand walten lassen muss. Das gemeinsame Merkmal dieser Arten von Billigkeit besteht darin, dass sie die Grenzen irdischen Lebens überschreiten und in besonderen Situationen auf eine höhere Gerechtigkeit angewiesen sind. Dies gilt vor allem für die heilsgeschichtliche Billigkeit, in welcher Leibniz ein Ausgleichsprinzip mit der Funktion erblickt, die Divergenzen zwischen dem körpergebundenen irdischen Leben und dem Reich der Gnade, zwischen dem ius voluntarium und den ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit auszubalancieren. Über die prästabilierte Harmonie von Leib und Seele hinaus gibt es also noch eine »andere Harmonie«, die, ebenfalls prästabiliert, auf die Differenz von partikularer und universaler Gerechtigkeit bezogen ist. Diese zweite prästabilierte Harmonie hat nicht nur theologische oder philosophische, sondern auch ganz praktische Funktionen : Denn gerade die Aussicht auf einen Ausgleich im künftigen Leben kann die Menschen »dazu verpflichten, unter allen Umständen tugendhaft zu sein«.105 Im Übrigen will Leibniz gar nicht ausschließen, dass diese praktische Funktion des über die heilsgeschichtliche Billigkeit vermittelten Ausgleichsprinzips eines Tages vielleicht auf andere Weise erfüllt wird. Voraussetzung hierfür wäre eine säkulare Lösung der Frage : Wie ist eine universale Gerechtigkeit möglich, »wenn man von Gott oder von einer Herrschaft nach dem Vorbild Gottes absieht«.106 Allerdings würde Leibniz auch in diesem Fall an einer dritten und höchsten Stufe des Naturrechts festhalten. Dabei wird deutlich, dass sich die Relevanz von pietas und iustitia universalis nicht in theologischen Erwägungen erschöpft. Dies verdient Hervorhebung, weil Leibniz die naturrechtliche Geltung des ius strictum und der aequitas auf Basis der partikularen Gerechtigkeit unabhängig von der Existenz Gottes begründen kann.
105 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45. 106 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 3), S. 45.
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9. Kapitel
Die Monadologie als Grundlegung einer Metaphysik des Rechts
Angesichts der Unabhängigkeit normativer Gehalte von der Theologie stellt sich einmal mehr die Frage, wie es zu verstehen ist, dass Gott das Band zwischen ius strictum und Billigkeit knüpft. Die These lautet : Hier darf nicht von einem »Einfluss« oder »Eingriff« Gottes, sondern muss vom Individuum und seiner Fähigkeit ausgegangen werden, die universalen Wahrheiten der Gerechtigkeit zu erkennen. Es geht also um die Ermittlung der Anteile des Menschen und der Gesellschaft an der Verknüpfung von strengem Recht und Billigkeit.1 Und dazu bedarf es einer Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Monadologie und Rechtsphilosophie. Denn Leibniz hat wichtige Teile seines juristischen Werks, etwa De casibus perplexis, Nova methodus, Ratio corporis juris reconcinnandi oder Elementa juris naturalis in jungen Jahren und damit vor seinem Entwurf einer Monadologie verfasst.2
I. Die Monadologie als eine Rechtsphilosophie revisited ? Die Rückkehr zu den »substantiellen Formen« ist für die Jurisprudenz nicht ohne Folgen geblieben. Erinnert sei hier nur an Leibniz’ Konzept der caritas sapientis im Sinne einer formalen Kraft.3 Danach hängen die Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht allein vom Menschen – von Sinneseindrücken, Tatsachen oder Erfahrungen, sondern von den »heute so verschrieenen substantiellen Formen« ab. Diese Formen können durch die »Betrachtung der Natur unserer Seele« erkannt werden, ja sie müssen »in uns gefunden werden«.4 Denn das Wissen des Menschen ist nicht auf Sinneseindrücke, Tatsachen oder Erfah1 Diese werden im folgenden Kapitel einer genaueren Betrachtung unterzogen. 2 Die Anfänge der Monadologie mit der Rückkehr zu den »substantiellen Formen« und einer Kritik des mechanistischen Paradigmas werden gemeinhin auf das Jahr 1686 datiert, in welchem Leibniz seinen Discours de métaphysique verfasste und die darauf bezogene Korrespondenz mit Antoine Arnauld (1685–1690) einsetzte. 3 Dass auf der Substanzlehre auch die Unterscheidung zwischen einem Reich der Weisheit und einer privativen Realität mit der Idee einer »anderen Harmonie« oder die Abgrenzung der natürlichen von den künstlichen Maschinen mit der Einordnung menschlicher Personengemeinschaften als persona civilis fußen, bedarf hier keiner näheren Ausführung mehr. 4 Brief an den englischen Theologen Thomas Burnett (1635–1715) vom 26. Mai 1706, in : Carl
Die Monadologie als eine Rechtsphilosophie revisited ?
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rungen beschränkt. Als »ein Bild Gottes« (image de Dieu) vermag der Geist darüber hinaus auch die »ewigen Wahrheiten« zu erkennen, wodurch der Mensch in die Lage versetzt wird, eine »Gemeinschaft mit Gott« zu begründen.5 Diese Gemeinschaft ist eine Keimzelle des Reichs der Gnade, worunter Leibniz jenes Teilgebiet innerhalb des Reichs der Weisheit versteht, das von den selbstreflexiven und daher verantwortlichen Geistern gebildet wird. Die Monaden spiegeln die ewigen Wahrheiten kraft ihrer Perzeptionen und haben die Tendenz, sie zu verwirklichen.6 Ein Teilgebiet dieser Wahrheiten bildet die Gerechtigkeit. »Gerechtigkeit« hat Leibniz immer wieder mit dem Begriff der »Proportion« oder mit »Wahrheiten« in Verbindung gebracht, denen der gleiche logische Stellenwert wie etwa dem Satz ›2 plus 3 ist 5‹ zukommt.7 Nach seiner Rückkehr zu den substanziellen Formen erschöpft sich die Gerechtigkeit aber nicht mehr in den Proportionen. Auf Grundlage des Begriffs der »Kraft« kann nun erklärt werden, warum das Individuum über eine bloße Erkenntnis der Gerechtigkeit hinaus diese aktiv auch im Leben zu realisieren sucht. So gesehen darf die Monadologie als eine Rechtsphilosophie revisited, als eine Fragment gebliebene »Metaphysik der Jurisprudenz« bezeichnet werden, Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, VII Bände (1875– 1890), Bd. III, S. 305–308, 307 f. (dazu näher unten VI). 5 Brief an den französischen Gelehrten Nicolas Rémond vom 14. Juli 1714, in : Philosophische Schriften III (Fn. 4), S. 618–624, 623 f. – mit einer nicht abgesandten Beilage, die eine bemerkenswerte Kurzfassung zentraler Gedanken der Monadologie, sozusagen eine Proto-Monadologie oder Monadologie-in-progress enthält, vgl. Hanns-Peter Neumann, Monaden im Diskurs (2013), S. 198–215. Dass nur die Geister, nicht aber die Seelen (oder Entelechien) imstande sind, mit Gott »eine Art Gemeinschaft« einzugehen, hat Leibniz, wie bereits angedeutet, in den §§ 83–90 der Monadologie ausgeführt (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008). 6 An Rémond schreibt Leibniz im Juli 1714 (Fn. 5) : »Ich glaube, das ganze Universum der Geschöpfe besteht nur aus einfachen Substanzen oder Monaden und ihren Aggregaten […]. Es existiert keine Handlung in den Substanzen außer Perzeption und Appetit ; alles übrige sind lediglich Phänomene.« (S. 623) 7 Z.B. Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), in : AA VI 1 S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 74 (S. 81) ; Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice : S. 143–163 ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 27 f.
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die auf frühere Arbeiten wie »Nova methodus« oder »Elemente des Naturrechts« zwar aufbaut, aber weit darüber hinausgeht : »Ohne einen vollständigen und korrekten Begriff der Substanz bzw. der Monade ließe sich kein vollständiger und korrekter allgemeiner Begriff der Gerechtigkeit verstehen«.8 Eine monadologische Rechtsphilosophie hat Leibniz gleichwohl nicht verfasst. Insbesondere hat er sich nicht dazu geäußert, wie unter den Prämissen seines Discours de métaphysique Gesichtspunkte des »höheren« Rechts und namentlich der Billigkeit in die beschränkte Welt des Menschengeschlechts einfließen können. Um hier eine Antwort zu finden, muss noch einmal zu einem Grundgedanken der Monadologie zurückgekehrt werden, und zwar der These, dass jede Monade das Universum von einem besonderen Gesichtspunkt aus zwar spiegelt, aber keine Fenster hat, »durch die irgendetwas ein- oder austreten könnte«.9 Soll das heißen, dass die Monaden von der äußeren Welt völlig abgeschirmt sind, dass sie weder untereinander noch mit anderen Körpern irgendwie in Beziehung stehen ? Ebenso wäre in der Jurisprudenz zu fragen : Kommt das im Reich der Gnade waltende und in den Monaden gespiegelte Recht im weltlichen Leben überhaupt zur Geltung ? Auf welchen Wegen geschieht das ? Greift Gott in den Prozess der Rechtsfindung ein, um einen Sieg der Gerechtigkeit herbeizuführen ? Mit der Monadologie halten also die großen Rätsel der Metaphysik Einzug in die Jurisprudenz : Ob ›Einflüsse‹, Einwirkungen oder Interaktionen zwischen differenten Sphären oder Monaden bestehen, kann juristisch in ganz verschiedenen Zusammenhängen relevant werden. Ein Beispiel wurde bereits genannt, nämlich die Unterscheidung von Billigkeit und strengem Recht, zwischen denen das »Band« fehle, welches Gott »durch seinen Beistand« herstelle.10 Soll damit behauptet sein, Gott greife in die Rechtspraxis ein, um Stufen des Rechts zu verbinden ? Ähnliche Fragen stellen sich bei den sogenannten »Gottesurteilen« und der in der Rechtsgeschichte umstrittenen Lehre von den »Einflüssen«. 8 Patrick Riley, Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 24. Die Meinung, Leibniz sehe die Aufgabe der Methodenlehre vornehmlich im Aufbau logischer Kalküle, in der Errichtung eines Systems des Wissens more geometrico, ist freilich weit verbreitet, vgl. z.B. Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (1970), S. 103–107 ; Dario Mantovani, »Per quotidianam lectionem Digestorum semper incolumis et in honore fuit lingua Romana«, in : Studi per Giovanni Nicosia, Bd. V (2007), S. 143–208, 119. Dass diese Sichtweise zu kurz greift, bedarf hier keiner näheren Ausführung. 9 Z.B. Monadologie (Fn. 5), §§ 7, 62 f., 83 (S. 13, 47, 59) ; siehe auch oben 7. Kapitel I. 10 Nova methodus II (Fn. 7), § 75, S. 83 (ausführliche Wiedergabe der Stelle im 7. Kapitel V bei Note 73). Dort sagt Leibniz auch, Gott setze sowohl das strenge Recht als auch die Billigkeit durch, »weil er allmächtig ist« (a.a.O., § 75, S. 83). Zu seinem Konzept von strengem Recht und Billigkeit im Rahmen seiner Dreistufenlehre siehe das 3. Kapitel.
Kritik des »Influxionismus« und »Okkasionalismus«
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Bevor auf die Möglichkeiten einer Verbindung, Mischung oder ›Durchdringung‹ unterschiedener Sphären zurückzukommen ist, bedarf es einer Schilderung des geistesgeschichtlichen Kontextes, in dem Leibniz jene Lehre entwickelt hat, die später als »Monadologie« berühmt wurde.
II. Kritik des »Influxionismus« und »Okkasionalismus« Im Hintergrund der Diskussionen über die »Einflüsse« steht das sogenannte »Leib-Seele-Problem«, das die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Zu Leibniz’ Zeiten war die Auffassung verbreitet, der Seele würden von außen Bilder zugeführt, »als hätte sie Türen und Fenster«.11 Danach würden Körper und Seele direkt und ohne Vermittlung einer dritten Größe aufeinander wirken können. Leibniz opponiert gegen den Immediatismus der Lehre des sogenannten »Influxionismus«. Ihr setzt er seine Behauptung einer »Fensterlosigkeit« entgegen und unterstreicht damit einmal mehr die Trennlinien, die er zwischen den Gebieten von Weisheit und Macht, Zweck- und Wirkursachen, Seele und Körper gezogen hat. Eine Alternative zum Influxionismus bildet der sogenannte »Okkasionalismus«, den die »Neucartesianer« gegen die traditionelle Annahme einer unmittelbaren Wechselwirkung zwischen Körper und Seele formuliert haben.12 Im 11 Leibniz, Discours de métaphysique (1686), in : AA VI 4, S. 1529–1588 ; dt. Metaphysische Abhandlung, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 135–188, § 26 (S. 171) ; Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Philosophische Schriften, II, S. 101 (»hat die Seele Fenster« ? Dann müsste man sie »für körperlich« halten). Zu den philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen siehe Busche, Fensterlosigkeit – Leibniz’ Kritik des Cartesianischen »Influxus Physicus« und sein Gedanke der energetischen Eigenkausalität, in : Ingrid Marchlewitz, Albert Heinekamp (Hg.), Leibniz’ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (1990), S. 100–115. 12 Das Thema hat Leibniz in seinen metaphysischen Schriften immer wieder aufgegriffen : Über das Kontinuitätsprinzip (1687), in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I (1904), S. 84–93, 90 f.; Specimen dynamicum (1695), in : Hauptschriften I, a.a.O., S. 256–272, 257. Siehe auch die Briefe an Arnauld, Juni 1686, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 189–206, 205 ; April 1687, in : Hauptschriften II, a.a.O., S. 214–231, 217 ; September 1687, Hauptschriften II, a.a.O., S. 231–255, 235. Dazu näher Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (§§ 4–7, 49–52), in : ders. (Hg.), Monadologie (2009), S. 49–80, 63–66 ; ders., Fensterlosigkeit (Fn. 11), S. 108–115. Aus der älteren Literatur siehe Ludwig Feuerbach, Darstellung, Entwicklung
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Hintergrund steht der cartesische Dualismus mit seiner Konstruktion von zwei fundamental verschiedenen Elementen, nämlich der res extensa auf der einen und der res cogitans auf der anderen Seite, die eigentlich nicht aufeinander wirken können. Die Okkasionalisten behaupten nun, eine solche Wirkung würde durch die Vermittlung eines übernatürlichen Beistandes, durch eine Art göttlicher Assistenz erfolgen. Gott würde danach bei »Gelegenheit«, wie ein »deus ex machina«, in körperliche Bewegungen eingreifen, um eine seelische Regung oder eine Übereinstimmung zwischen jenen beiden Reichen zu erzeugen, die Leibniz in seiner Monadologie unterschieden hat.13 Leibniz hat seine Idee der Fensterlosigkeit von Monaden also in einem bestimmten historischen Kontext entwickelt. Er zielt damit einerseits gegen die Behauptung einer unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen Seele und Körper und andererseits gegen den Glauben an ein stetes physisches Eingreifen Gottes in die gewöhnlichsten Angelegenheiten der Menschen. Muss daraus gefolgert werden, dass Leibniz jede Beziehung zwischen den beiden Reichen und jede Mitwirkung Gottes im weltlichen Gebiet ausschließen wollte ? Die Frage ist zu verneinen. Monaden unterliegen dem Einfluss von außen, sie sind imstande »wahrzunehmen«. Dafür spricht bereits Leibniz’ berühmte These, dass die Monaden lebendige Spiegel des Universums sind. Wie könnten sie solche Spiegel sein, wenn sie von jeder Außenwelt abgeschnitten wären ? Um hier eine Antwort zu finden, muss Leibniz’ Lösung des Leib-Seele-Problems einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.
III. Wechselbeziehungen zwischen Monaden : Das Leib-Seele-Problem Monaden haben, anders als Körper, weder Gestalt noch Größe. Sie sind nicht ausgedehnt, besitzen aber gleichwohl Eigenschaften und bestehen aus zwei Momenten, einem übernatürlichen (oder metaphysischen) und einem natürliund Kritik der Leibniz’schen Philosophie, in : ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, 2. Auflage 1911 (ND Stuttgart 1959), S. 91 f. 13 Vgl. § 79 der Monadologie (Fn. 5), S. 57 (in den Briefen an Arnauld hat Leibniz das Problem des Okkasionalismus eingehender besprochen). Wie sehr Christian Wolff und seine Schule an den Grundfesten von Leibniz’ Metaphysik rüttelten, zeigt sich schon darin, dass sie zum Influxionismus zurückkehrten, vgl. nur die Darstellung bei Fritz Schultze, Stammbaum der Philosophie, 2. Auflage (1899), Tafel XVI ; siehe ferner Hans Poser, »Da ich wider Vermuthen gantz natürlich auf die vorher bestimmte Harmonie des Herrn von Leibnitz geführet ward, so habe ich dieselbe beybehalten«, in : Alexandra Lewendoski (Hg.), Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert (2004), S. 49–64 (vgl. auch 1. Kapitel III).
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chen.14 Die beiden Momente der Monade sind untrennbar miteinander verbunden und bilden zusammen eine vollständige Substanz. Das übernatürliche ist das aktive und das natürliche das passive Moment, wobei Entelechie, Seele oder Geist aktiv wirken, während die Erstmaterie eine passive Kraft entfaltet. Leibniz hat oft betont, dass Entelechie, Seele und Geist im Grunde gleichbedeutend sind. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie jeweils das aktive Moment der Monade bezeichnen, wofür bisweilen auch Begriffe wie »substantielle Form« oder »ursprüngliche Entelechie« zum Einsatz kommen. Wenn es der Kontext fordert, nennt Leibniz freilich auch die Unterschiede : Entelechie ist dann eher ein Merkmal von Pflanzen, während eine Seele auch den Tieren zugesprochen wird und der Geist dem Menschen vorbehalten bleibt.15 In dem ersten, aktiven Moment der Substanz liegt der Schlüssel zur Frage, warum das Individuum über eine bloße Erkenntnis der Gerechtigkeit hinaus diese auch zu verwirklichen sucht. Dagegen verspricht ihr zweites, passives Moment – die Erstmaterie – eine Antwort darauf, ob wir »Einflüsse« von außen empfangen, ob wir also überhaupt wahrnehmen können. Von der Erstmaterie ist die Zweitmaterie zu unterscheiden, die insofern einen Antipoden zur Substanz bildet, als sie der Welt der Körper und damit einer anderen Sphäre angehört. Sie »resultiert« aus einer Anhäufung von Monaden, die, wie eine Schafherde, ein Heer oder eine Masse, nur eine Vielheit, ein bloßes »Aggregat«, nicht aber eine Einheit darzustellen vermag. Entelechie, Seele oder Geist sind also in ein bestimmtes Quantum an Erstmaterie »inkarniert« : Sie sind in die Erstmaterie »eingepflanzt« und von ihr umhüllt.16 Leibniz hat diese Zusammenhänge in einem Brief an den niederlän14 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 29 ; Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 260 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 40–80. 15 Vgl. Monadologie (Fn. 5), §§ 18 f., 74, 83, 84 (S. 19 f., 53, 59) ; Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), I, § 87, S. 145. Auch juristische Personen haben eine Seele (5. Kapitel VI). Bei natürlichen Personen nennt Leibniz das aktive Moment der Monade meist entweder »Seele« oder »Geist« (zur Terminologie siehe Specimen dynamicum, Fn. 12, S. 270). 16 Formulierungen von Busche, Monade und Licht, in : Carolin Bohlmann, Thomas Fink, Philipp Weiss (Hg.), Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts (2008), S. 125–162, 133–142 (zum Modus des »Resultierens«, a.a.O., S. 131–133). Die Untrennbarkeit der beiden Momente begründet Leibniz mit der Feststellung, dass nicht einmal Gott den Menschen ihre Erstmaterie, sondern lediglich ihre Zweitmaterie nehmen könne. Wäre er imstande, die Erstmaterie abzutrennen, würde er die Monaden zu einem Prinzip der reinen Tätigkeit erheben, welches nur ihm selbst vorbehalten sei. Siehe den Brief an den französischen Jesuiten Bartholomäus Des Bosses (1668–1738) vom 16. Oktober 1706, in : Philosophische Schriften II (Fn. 4), Nr. XVI, S. 324–325 ; dt. Cornelius
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dischen Philosophen und Mathematiker Burchard de Volder (1643–1709) wie folgt beschrieben : Ich unterscheide also erstens die ursprüngliche Entelechie oder die Seele, zweitens die Materie – nämlich die erste Materie oder die passive, ursprüngliche Kraft, drittens die vollständige Monade, in der beide Momente vereint sind, viertens die Masse oder zweite Materie, d.h. die organische Maschine, zu welcher unzählige untergeordnete Monaden zusammenwirken, fünftens das Lebewesen oder die körperliche Substanz, welche durch die in dem Mechanismus herrschende Monade ihre Einheit erhält.17
Dabei ist zu beachten, dass jeder Körper eine Seele besitzt und es umgekehrt, von Gott abgesehen, niemals Seelen gibt, die ohne Körper bestehen können.18 Die Verknüpfung der Monade mit ihrem organischen Körper erfolgt aber nicht über die Seele, sondern über die Erstmaterie. Denn nur dieses zweite, natürliche Moment ist auf seine »Gesamtmasse« bezogen.19 Über die Erstmaterie ist die Monade also mit der Welt verbunden. Denn nur sie, nicht aber die Seele kann von außen ›beeinflusst‹ werden : Die Seele ist auf die Leistungen dieser passiven Kraft angewiesen, um sich »das gesamte Universum« vorstellen zu können. Diese »Vorstellungen« sind einerseits total, und zwar in dem Sinne, als sie das ganze Universum erfassen, und andererseits eingeschränkt, weil die Wahrnehmung einer jeden Monade von einem Körper abhängt. Die Position des Körpers bestimmt ihren Gesichts- oder ›Sehepunkt‹ und die Deutlichkeit ihrer Perzeptionen.20 In der Monadologie hat Leibniz diese Zusammenhänge wie folgt erläutert : Zehetner (Hg.), Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses (2007) ; näher Busche, Einführung, in : Monadologie (Fn. 12), S. 1–34, 25. Wie die ewigen und notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit steht also auch die Erstmaterie nicht zur Disposition Gottes. Insoweit besteht eine Verbindung mit Leibniz’ Kritik des theologischen Voluntarismus (siehe 7. Kapitel III). 17 Brief an de Volder vom 20. Juni 1703, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 320–329, 327 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch a.a.O., S. 325 : Die Substanz sei mit aktiven und passiven Kräften begabt, sie sei eine unteilbare und vollkommene Monade, »die mit unserem Ich vergleichbar ist«. Die Entelechien, Seelen, Geister »dürfen einander nicht gänzlich ähnlich sein« (a.a.O., S. 326). 18 Nouveaux essais II (Fn. 11), S. 119 ; Brief an den französischen Hugenotten Isaak Jacquelot (1647–1708), nach September 1704, in : Philosophische Schriften VI (Fn. 4), S. 567–573, 570 (sans le corps, sans les organes elle [l’âme] ne seroit pas ce qu’elle est) ; Theodicée (Fn. 15), Einl., § 10 (S. 41). 19 Brief an de Volder vom 20. Juni 1703 (Fn. 17), S. 327. 20 Leibniz hat das Thema in seiner Korrespondenz mit Arnauld ausführlicher erörtert, z.B. im Brief vom Juni 1686 (Fn. 12), S. 204–208 ; siehe auch Systeme nouveau pour expliquer la nature des
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Obwohl zwar jede geschaffene Monade das gesamte Universum vorstellt, stellt sie doch den Körper, der insbesondere für sie bestimmt ist und dessen Entelechie sie ausmacht, deutlicher vor : Und wie dieser Körper das ganze Universum durch den Zusammenhang aller Materie im Vollen ausdrückt, so stellt sich die Seele das gesamte Universum vor, indem sie den Körper vorstellt, der ihr in einer besonderen Weise angehört.21 1. Wahrnehmung trotz operativer Geschlossenheit
Die Seele ist mit dem Körper also verbunden, ohne dass ihre operative Geschlossenheit und selbstreproduktive Kraft dadurch berührt werden. Das Wort ›Einfluss‹ muss daher mit größter Vorsicht gebraucht werden. Zunächst gilt : »Die Monade hat keine Fenster.«22 Dieser Satz schließt die Annahme einer unmittelbaren Wechselbeziehung mit der Außenwelt oder mit anderen Monaden prinzisubstances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme avec le corps (1695), in : Die philosophischen Schriften IV (Fn. 4), S. 471–487 ; dt. Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 258–271, 268. Dazu näher z.B. Philip Beeley, Unendlichkeit, Fülle und Kontinuität als Prinzipien der Natur (§§ 61 f., 65), in : Monadologie (Fn. 12), S. 161–174 ; Ansgar Lyssy, Monaden als lebendige Spiegel des Universums (§§ 56 f., 60–63, 83), in : Monadologie (Fn. 12), S. 145–160, 151 ; Laura Molina-Molina, The Conception of Knowledge in Leibniz’s Monadology and its Value within the Framework of Apel’s Anthropology of Knowledge, in : Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado, Miguel Escribano Cabeza (Hg.), Leibniz and Hermeneutics (2016), S. 147–157 : »all knowledge is ultimately mediated by the body« (S. 147 mit S. 155). 21 § 62 der Monadologie (Fn. 5), S. 47 ; siehe auch die komprimierten Darstellungen in den Briefen an Arnauld vom September 1687 (Fn. 12), S. 253–255, vom 23. März 1690, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 255–257, sowie in »Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade« (1714), in : Hauptschriften II (Fn. 12), S. 423–434, 424 f. Weil die Spiegelung des Universums in der Monade eine totale ist, kann Leibniz auch von »Welt« oder »Gottheit« sprechen. Wegen der Bindung an die Beschränkungen eines Körpers vermag sie aber nur eine »kleine« Welt oder »kleine« Gottheit zu sein (vgl. z.B. Nouveaux essais II, Fn. 11, S. 99 ; Monadologie, Fn. 6, § 83). »Perspektive« wäre dann als der durch den eigenen Körper bestimmte ›Sehepunkt‹ zu verstehen, der die Vielheit im Einfachen perzipiert (vgl. § 57 der Monadologie). Zu den Begriffen von Perspektive, Sehepunkt oder point de vue siehe 8. Kapitel VI 2 und 12. Kapitel I 2. 22 Vgl. § 7 der Monadologie (Fn. 5), S. 13 (siehe auch 7. Kapitel I). Eine eigene Erklärung dieses Satzes bietet Gilles Deleuze, der Leibniz’ Denken in architektonischen Dimensionen und »Faltungen« als paradigmatisch nicht nur für die Barockzeit, sondern auch für die ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ beschreibt, Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock (1988). Siehe auch Francisco José Martinez, Vitalism in Leibniz : A Deleuzian Approach, in : Leibniz and Hermeneutics (Fn. 20), S. 159–170 ; Diego González Ojeda, From Leibniz to Deleuze, in : Leibniz and Hermeneutics (Fn. 20), S. 171–182. Deleuzes Erklärung der Durchlässigkeit von Monaden findet in den Quellen aber kaum Stützen. Das ist der Vorzug der Arbeiten von Hubertus Busche, an die
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piell aus. Nur in der Welt der Phänomene oder Zweitursachen – der Körper, Anhäufungen oder Aggregate »ist alles mechanisch zu erklären und hier wird man also die Massen als wechselseitig auf einander einwirkend zu denken haben«.23 Dagegen tritt die zur Monade gehörende Erstmaterie als eine Art von Vermittlerin zwischen Seele und Körper auf, die ganz anderen Gesetzen folgt. Ihre Leistung muss von mechanischen Kausalreihen wie Druck oder Stoß grundsätzlich unterschieden werden und dieser Unterschied entspricht jener Differenz, die das Reich der Zweckursachen von dem der Wirkursachen trennt : Während im Reich der ›Macht‹ der Mechanismus direkte Wirkungen erzeugt, können Monaden nicht unmittelbar, sondern nur im Rahmen komplexer wechselseitiger Repräsentationen und Expressionen von Seelischem im Körper wirken.24 Wie wir uns die Vermittlung zwischen Seele und Körper durch die Erstmaterie in den Einzelheiten vorzustellen haben, gehört zu den schwierigsten Fragen von Leibniz’ Metaphysik. Auch die Jurisprudenz benötigt hier eine Antwort, wenn sie erklären möchte, auf welchen Wegen die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit Eingang in die Rechtspraxis finden können. Leibniz hat die Monaden immer wieder als »lebende Spiegel oder Bilder des Universums« bezeichnet.25 Die passive Kraft ihrer Erstmaterie befähigt sie zu perzipieren, während die aktive Kraft ihres Geistes es ihnen ermöglicht, das Gespiegelte zu reflektieren und in Handlungen zu transformieren. Die Wechselbeziehungen zwischen Seele und Körper erfolgen in beide Richtungen, und zwar von außen nach innen und von innen nach außen, wobei die Innenwirkung als Introversion oder Wahrnehmung und die Außenwirkung als Extroversion, Gedanke oder Handlung bezeichnet werden darf. Bei Wahrnehmungen geht es um das Rezipieren sinnlicher Eindrücke. Hier ist die Seele, da es sich um eine nicht-willentliche, unfreiwillige Tätigkeit handelt, vom Körper abhängig. Dagegen ist sie bei einer Reflexion, die zu Gedanken und willentlichen Handlungen führt, von ihrem Körper unabhängig und macht ihn vielmehr von sich sich die folgenden Ausführungen anlehnen : Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12) ; ders., Einführung, in : Monadologie (Fn. 12) ; ders., Monade und Licht (Fn. 16). 23 An de Volder vom 20. Juni 1703 (Fn. 17), S. 324, 326. Zum Thema von Einfluss und Einwirkung siehe ferner die Briefe an de Volder : November 1703, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 329–334, 330 ; 21. Januar 1704 (a.a.O.), S. 335–341, 339 ; 30. Juni 1704 (a.a.O.), S. 341–349, 348. 24 Siehe Nouveaux essais II (Fn. 11), S. 99 : »Die äußeren sinnlichen Objekte sind nur mittelbare, weil sie nicht unmittelbar auf die Seele wirken können« (Hervorhebung im Original). Ausführlich erörtert Leibniz das Thema in Briefen an Arnauld, z.B. Juni 1686 (Fn. 12), S. 204 f.; 8. Dezember 1686, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 207–214, 208 ; April 1687, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 214–231, 216, 220–222, und September 1687 (Fn. 12), S. 253 f. 25 Siehe die Nachweise im 7. Kapitel III und im vorstehenden Abschnitt (I) (bei Note 5).
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abhängig.26 Genau genommen unterteilt Leibniz die durch die Erstmaterie vermittelten Kausalreihen in zwei Schritte und denkt sie als eine Folge von ›Repräsentationen‹ und ›Expressionen‹. So repräsentiert die Seele bei einer Wahrnehmung die Veränderungen ihres durch die Rezeption sinnlicher Eindrücke bewegten Körpers. Und umgekehrt drückt sie bei einer Handlung ihre Tätigkeit in Bewegungen des zu ihr gehörigen Körpers aus. Der Leib repräsentiert hier das seelisch-mentale Geschehen : »Die Taten eines jeden repräsentieren seine Gesinnung.«27 2. Das Konzept wechselseitiger Repräsentationen und Expressionen
Wichtig für das Verständnis von Leibniz’ Konzept wechselseitiger Repräsentationen und Expressionen sind die von ihm oft und vor allem in den Briefen an de Volder betonten Feststellungen : Zu den unzweifelhaften Merkmalen einer jeden Substanz gehört die Bestimmung, »daß eben das, was in der Seele ist, auch im Körper ausgedrückt wird«.28 Und umgekehrt ist es die Aufgabe der Seele, ihren Körper »auszudrücken«.29 Denn sie ist fähig, »die außer ihr befindlichen Dinge gemäß deren Beziehung auf ihre Organe [im Körper] auszudrücken«.30 Monaden können also nicht direkt, sondern nur über ihre Körper aufeinander wirken. Mit seinem Konzept wechselseitiger Repräsentationen von Körperlichem in der Seele bei Wahrnehmungen und von Seelischem im Körper bei Gedanken oder Handlungen gelingt es Leibniz, die Schwächen anderer Erklärungen des Leib-Seele-Problems zu vermeiden. Leibniz brachte, wie bereits erwähnt, seine Metaphysik vor allem gegen die Neucartesianer in Aufstellung, die behaupteten, Gott würde bei »Gelegenheit« – wie ein deus ex machina – eingreifen, um die Seele mit den körperlichen Bewegungen zu vereinen.31 Die eigentliche Grundlage seiner Lösung des Leib-Seele26 Siehe nur Nouveaux essais II (Fn. 11), S. 261. 27 Quid sit idea, in : AA VI 4 A (1677 ?), S. 1369–1371, 1371 (»ita facta cujusque repraesentant ejus animum«). Siehe Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 62 ; Anton Sticker, Die Leibnizschen Begriffe der Perception und Apperception (1900). 28 Brief an de Volder von 20. Juni 1703 (Fn. 17), S. 324. 29 Nouveaux essais II (Fn. 11), S. 261 (sie achtet dabei auf »Vollkommenheit« – mit Hinweis auf gegenseitige Abhängigkeiten) ; Brief an Jacquelot (Fn. 18), S. 570 (l’office de l’âme en partie est d’exprimer son corps). Siehe Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 62. 30 Neues System (Fn. 20), S. 267. Siehe Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 62. 31 Siehe die Nachweise im vorstehenden Abschnitt ; Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 62.
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Die Monadologie als Grundlegung einer Metaphysik des Rechts
und des Einfluss-Problems bildet die Lehre von der prästabilierten Harmonie. Sie ist oft missverstanden und auf die Idee eines »großen Künstlers« der Welt reduziert worden, der als omnipotenter »Wundermann« (Busche), als perfekter Uhrmacher, Leib und Seele synchronisiert habe. Leibniz’ Kritik des Okkasionalismus zeigt aber, dass er die Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen einer Monade nicht als göttliches Wunder, sondern als natürlichen Mechanismus begreift : Die Prästabilierung ist »etwas ebenso Natürliches […] wie die anderen, gewöhnlichsten Tätigkeiten der Natur«.32 Daß Gott sie geschaffen hat, steht dem nicht entgegen. Denn Leibniz möchte »das Übernatürliche« nur »im Urbeginn der Dinge« zugeben – »bei der ersten Bildung der Geschöpfe oder bei der ursprünglichen Einrichtung der prästabilierten Harmonie«.33 Den »Urbeginn« datiert er in Anknüpfung an den alttestamentarischen Schöpfungsbericht auf die »Ordnung der ersten Schöpfung«. Gemeint ist der erste Tag der in acht Einzelwerke zerlegten und auf sechs Tage verteilten Schöpfung mit dem Gebot des »fiat lux« und der anschließenden Scheidung von Licht und Finsternis.34 Um diese Zeit soll auch die prästabilierte Harmonie eingerichtet worden sein, die eine »gegenseitige vollkommene Übereinstimmung« – eine »Vereinigung von Seele und Körper« bewirkt habe.35
32 Theodicée (Fn. 15), Vorrede (S. 25). Die Fehldeutungen von Leibniz’ Metaphysik haben eine lange Vorgeschichte und dauern bis heute an. Als Beispiel sei hier nur auf eine aktuelle Studie verwiesen, in welcher behauptet wird, Leibniz’ Metaphysik fuße auf der »unglaubwürdigen Annahme eines alles regelnden Gottes«, Werner Stegmaier, Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche (2016), S. 67. Hinzu kommt die Qualifizierung des Leib-Seele-Parallelismus mit der Monadenlehre als Scheinproblem (Carnap, Ryle). Die Lehre von den Einflüssen (unten IV) ist nur eines von mehreren Beispielen, anhand dessen sich die Aktualität dieser Problemstellung veranschaulichen ließe, vgl. Poser, »Da ich wider Vermuthen« (Fn. 13), S. 64. 33 Theodicée (Fn. 15), Vorrede (S. 24) ; De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque, in : Philosophische Schriften IV (Fn. 4), S. 504– 516, 505. »Übernatürlich« hier im Sinne eines Kunstwerks Gottes (artificium Dei), eines willentlichen, physischen Eingriffs oder Einflusses (siehe 7. Kapitel V 1). 34 Gen. 1, 1–4. Vgl. Leibniz an Arnauld, 23. März 1690, in : Hauptschriften II (Fn. 12), S. 255–257, 256. Siehe ferner die Schilderung im Wiener Vortrag vom 1. Juli 1714, in : Wenchao Li (Hg.), Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 55–60 (lat.) und S. 61–70 (dt. mit Anm.), S. 65 f. Hier erwähnt Leibniz auch den »über den Wassern schwebenden Geist Gottes (Spiritus Domini)«, den er an anderer Stelle Äther (AETHER) nennt, Hypothesis physica nova (1671), in : AA VI 2, S. 222–257, 225. 35 An Arnauld, 23. März 1690 (Fn. 21), S. 256 ; Antibarbarus Physicus pro Philosophia Reali contra renovationes qualitatum scholasticarum et intelligentiarum chimaericarum, in : Philosophische Schriften VII (Fn. 4), S. 337–344, 344. Näher Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 68 f.
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Die Datierung der prästabilierten Harmonie auf den Zeitpunkt des »Urbeginns« schließt freilich nicht aus, dass ihr Urheber den »bewunderungswürdigen Mechanismus« weiterhin betätigt.36 Leibniz hat in unterschiedlichen Zusammenhängen hervorgehoben, dass Gott an seiner Schöpfung nach wie vor aktiv mitwirkt (concursus dei) und sie zu vervollkommnen sucht. Als Beispiel sei seine Interpretation der viel diskutierten Areopagrede genannt, in der Paulus von dem »unbekannten Gott« sagt, »er sei nicht ferne von einem jeden unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir«.37 Auch mit seiner Grundidee vom Menschen als lebendigem Spiegel des Universums behauptet Leibniz eine Kontinuität göttlichen Wirkens im Menschen und eine Allgegenwart des Heiligen Geistes (Joh. 4, 24) : Gott ist nicht nur im »Wesen«, sondern auch in dessen Handlungen präsent : Er wirkt auch »in den operationen«, in denen Leibniz eine »continuata productio« erblickt.38 Dies geschieht aber nicht einfach in Form eines ›Einflusses‹. Als Akteur tritt vielmehr das Individuum auf, das seinen »Ursprung beständig herholen« muss.39 Wie ist das zu verstehen ? Um hier eine Antwort zu finden, muss noch einmal an das »Reich der Gnade« erinnert werden. Leibniz würde nicht bestreiten, dass dieses Reich alle weltlichen Reiche der Menschen unendlich weit überschreitet und damit außerhalb irdischen Lebens liegen kann. Es ist auf Erden aber angekommen und markiert dort vornehmlich einen Ort der Innerlichkeit.40 36 Addition à l’Explication du systeme nouveau touchant l’union de l’âme et du corps, envoyée à Paris à l’occasion d’un livre intitulé Connoissance de soy meme (1702), in : Philosophische Schriften IV (Fn. 4), S. 572–590, 584 ; Extrait d’une Lettre de M.D.L. sur son Hypothese de philosophie, et sur le probleme curieux qu’un de ses amis propose aux Mathematiciens, avec un éclaircissement sur quelques points contestés dans les Journaux precedens entre l’auteur des principes de physique et celuy des objections, in : Philosophische Schriften IV (Fn. 4), S. 500–503, 501 ; Neues System (Fn. 20), S. 274. 37 Apg. 17, 27–28 ; Unvorgreiffliches Bedencken (1698/99), in : AA IV 7, S. 424–648, 509 f. Näher Rudolph, Leibniz’ Rekurs auf Paulus in Anthropologie und Soteriologie (unveröffentlichtes Manuskript, 2017). 38 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 37), S. 510. Damit widerspricht Leibniz dem französischen Theologen und scholastischen Philosophen Guillaume Durand de Saint-Pourcain (gegen 1270 bis 1332 oder 1334), der meinte, die göttliche Herkunft zeige sich lediglich darin, dass den Menschen »ein vor allemahl alle kräffte gegeben [sind], deren sie zu ihren würkungen benöthiget […]«, Unvorgreiffliches Bedencken, a.a.O., S. 509 f. 39 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 37), S. 510 (sowie 10. Kapitel IV). 40 Vgl. auch die Aussagen im Neuen Testament : »das Reich Gottes ist »schon zu euch gekommen« (Matth. 12, 28), ist »mitten unter euch« (Luk. 17, 21), »ist nahe gekommen« (Mark. 1, 15). Folgerichtig gehört die über das irdische Leben hinausreichende pietas (3. Kapitel I) als inneres Recht (ius internum) oder innerer Gerichtshof (forum internum) zur inneren Gesetzgebung. Im Unterschied zum bloßen »Recht« fällt sie zwar häufig, aber nicht zwingend mit einer religiös
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»Ursprung herholen« bezieht sich nicht auf ein äußeres Ereignis oder Gebilde, sondern auf jenen Ort, der mit dem »In-dividuum« zusammenfällt. Von hieraus wirkt das Reich der Gnade »in den operationen« und von hieraus nimmt die continuata productio ihren Lauf. Bespiegelter Gegenstand und spiegelnder Spiegel lassen sich also unterscheiden, aber nicht voneinander trennen.41 Der Gegenstand des Spiegels wirkt als Bedingung der Subjektivität, als eine Art Objektivität, die das Subjekt in sich selber trägt und als ihren Ursprung »herholt«. Dabei treten Bespiegeltes und Gespiegeltes in ein Verhältnis, in welchem sie als Momente insofern ›aufgehoben‹ sind, als die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit für Schöpfer und Geschöpf gleichermaßen gelten. Der Unterschied resultiert aus der Körpergebundenheit des Menschen, ist also nur ein gradueller.42 So kann die Subjektivität ihre Bedingung als Zweck, Streben oder Interesse zum Antriebsfaktor erheben und durch Handlungen nach außen bringen. Es sind simultan operierende aktive und passive Kräfte, die unter den Prämissen von Spontaneität und Perzeptivität dynamisch zusammenwirken. Leibniz hat die selbstproduktive, selbstreferentielle oder autonome Qualität der Substanzen denn auch immer wieder hervorgehoben : Gott legt »stets den Dingen selbst« die Prinzipien der Veränderung bei ; die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit sind »in uns« ; sie sind schon vorhanden, bevor wir sie bewusst wahrnehmen und als Gedanken oder Handlung ausdrücken ; »die Seele selbst [ist] ihr unmittelbares inneres Objekt«.43 »Von Gott seinen Ursprung beständig herholen« würde dann auf ›Selbstbesinnung‹ hinauslaufen : Die Erkenntnis der Welt ist häufig Selbsterkenntnis.44 Die Mitwirkung (concursus dei) ist also auf eine Leistung des Sub-
motivierten Moral zusammen, vgl. Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 171 f. 41 Formulierungen von Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion (2005), S. 216–222 (in der continuata productio treten sie in eine dynamische Verbindung, ›verschmelzen‹ sozusagen oder werden ›eins‹). 42 Zur »natürlichen Trägheit« der Körper und Leibniz’ Kritik des theologischen Voluntarismus siehe oben 8. Kapitel III und 7. Kapitel III (weil die Geister der Vernunft fähig sind, können sie mit Gott eine Gemeinschaft bilden ; nur Gott aber ist »vollkommen und ganz gerecht«, während bei den Menschen, angesichts ihrer Körpergebundenheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vermengt sind ; die Vollkommenheit rechtfertigt es, Gott als Fürst innerhalb der optima respublica anzuerkennen). 43 Z.B. Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 270 (Hervorhebungen im Original) ; Nouveaux essais (Fn. 11) I, S. 29 f., und II, S. 99, 103. 44 Z.B. Nouveaux essais (Fn. 11) I, S. 41 (»sehr oft ist die Betrachtung der Natur der Dinge nichts anderes als die Erkenntnis der Natur unseres Geistes«).
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jekts angewiesen, und zwar in dem Sinne, als es die in ihm enthaltenen ewigen und notwendigen Wahrheiten abruft. Doch wird die Leistung nicht durch alle Individuen in gleichem Maße erbracht. Es gibt Menschen, welche die bereitgestellten Mittel »von sich stoßen«, während sie andere gerne »annehmen« und »gut zu gebrauchen« wissen.45 Diese introspektive Beschreibung von Mitwirkung (concursus dei), continuata productio, Präsenz oder Dependenz darf abermals nicht so verstanden werden, als würde Gott, wie es die Okkasionalisten behaupten, physisch eingreifen oder von außen direkten Einfluss nehmen.46 Er »gibt« aber denen, welche die Gaben annehmen und sie gut gebrauchen, »mehr liecht«, damit sie ihre Ziele leichter erreichen können.47 3. Verlangen nach Ausdehnung und dynamische Ausbreitung
Gottes Allgegenwart ist mithin nicht so zu verstehen, dass es zur Erhaltung der Dinge seiner besonderen Mitwirkung bedürfe oder Gott stets gezwungen wäre, an seinem Werk etwas zu verbessern. Einen solchen Schöpfer könnten wir schwerlich loben.48 Vielmehr ist für Leibniz die Zirkulation eines »höchst fei45 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 37), S. 478, 526. 46 Es könnte (dem oberflächlichen Betrachter) höchstens so scheinen, »als ob« Gott immer seine Hand im Spiel hätte ; zum Argument des »als ob« vgl. die Nachweise unten V bei Note 66. Siehe auch Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 67 f. 47 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 37), S. 526. Das Wort »geben« dürfte hier in einem doppelten Sinne zu verstehen sein. Denn »mehr Licht« erhalten die Subjekte auch deshalb, weil sie sich zum Ursprung hinwenden, sich ihm nähern oder ihn sich gar »herhohlen«. So spricht Leibniz an anderer Stelle von einem »inneren Licht« der von Gott in den Geist des Menschen eingegrabenen natürlichen Gesetze, Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 59, 57. Grundlegend zur Bedeutung des Lichts in Leibniz’ Metaphysik : Die in Note 12 und 16 genannten Arbeiten von Busche sowie ders., Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (1997), S. 522–549. Einen frühen Versuch zur Erklärung des häufiger vorkommenden Begriffs »natürliches Licht« (z.B. Nouveaux essais, a.a.O., S. 51, 57, 63) hat der Wolff-Schüler Heinrich Köhler (1685–1737) im Anhang zu seiner deutschen Übersetzung der Monadologie von 1720 unternommen (»Discurs des Übersetzers über das Licht der Natur« in 87 Paragraphen). Zu Köhler vgl. Sonia Carboncini-Gavanelli, Vorwort, in : G.W. Leibniz, Kleinere Philosophische Schriften (2010), S. 5–16, 10–11. Die Begriffe »natürliches Licht« (Vernunft) und »übernatürliches Licht« (Offenbarung) spielen auch bei Christian Thomasius eine wichtige Rolle, vgl. seine Vorrede zu Grotius (1707), in : Walter Schätzel (Hg.), De jure belli ac pacis (1950), S. 1–28, 1–4. Siehe ferner die Hinweise zum lumen naturale bei Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (Fn. 8), S. 110. 48 Auf dieses Argument hat Leibniz in unterschiedlichen Zusammenhängen zurückgegriffen, vgl. Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 37), S. 469 f.; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 7), S. 23.
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nen Körpers, in dem auch das Licht besteht«, nämlich der flüssige Äther, die allgemeine, allgegenwärtige Ursache für die prästabilierte Übereinstimmung zwischen den Bewegungen der Seele und des Körpers.49 Dieser Befund führt zur der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung von Licht, Äther oder flüssiger Materie in Leibniz’ Metaphysik. Sie ist nicht leicht zu beantworten, da Leibniz, wenn überhaupt, sich nur selten zu diesem in einer Zeit erbitterter Religionsstreitigkeiten nicht ungefährlichen Thema äußert.50 Andererseits ist schon seit längerem vermutet worden, dass hier ein Desiderat der Forschung liegt. Daher müssen Versuche, die Monaden als Lichtzentren zu deuten, auf besonderes Interesse stoßen.51 Einen Ausgangspunkt für die Interpretation bildet der berühmte § 47 der Monadologie, wonach die Monaden »gleichsam durch kontinuierliches Aufleuchten der Gottheit von Augenblick zu Augenblick« entstehen. Bereits jungen Jahren erklärte Leibniz »den Ursprung des ersten menschlichen Geistes durch ein der göttlichen Aura entrissenes Teilchen«.52 Auch die Rede von »Gott als Urlicht« – von »Lichtweg«, »Lichtstrahl«, »Lichtquell«, Licht und Äther als dem »Ersten und Leichtesten« wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen.53 Theologisch 49 An Jakob Thomasius, 19./29. Dezember 1670, in : AA II 1, Nr. 35, S. 119–120, 120 ; Hypothesis physica nova (1670/71 ?), in : AA VI 2, Nr. 40, S. 219–257, 238. Siehe Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12), S. 68–70. Dass das Licht die Eigenschaft hat, sich auszubreiten, führte Leibniz an anderer Stelle aus, Unicum Opticae, Catoptricae et Dioptricae Principium, in : Acta eruditorum (1682), S. 185–190, 189. 50 Die abschreckenden Beispiele standen ihm stets vor Augen. So musste schon Platon seine Auffassung von der Einzigartigkeit Gottes »gleichsam im Geheimen« lehren, um nicht das Schicksal des Sokrates »zu riskieren«, Wiener Vortrag vom 1. Juli 1714 (Fn. 34), S. 63. Ebenso wusste Leibniz von dem Schicksal des französischen Erzbischofs und Schriftstellers François Fénelon (1651–1715), der für seinen »Quietismus« zunächst grausam verfolgt und dann vom Vatikan auf Dauer in die Provinz verbannt wurde, vgl. Riley, Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (Fn. 8), S. 28. 51 Busche, Einführung (Fn. 16) ; ders., Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (Fn. 12) ; ders., Monade und Licht (Fn. 16) ; ders., Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum (Fn. 47), S. 522–559. Zu den Vermutungen anderer Autoren, die ebenfalls in diese Richtung weisen, siehe die Nachweise bei Busche, Monade und Licht, a.a.O., S. 125. 52 Demonstrationum catholicarum conspectus (1668–1669 ?), in : AA VI 1, S. 494–500, 496. Bemerkenswert ist hier sein Rückgriff auf das Wort »Aura«, das in der Kabbala soviel wie »Lichtglanz Gottes« bedeutet. Siehe Busche, Monade und Licht (Fn. 16), S. 34. Nur hingewiesen werden kann hier auf die in dem Band versammelten Beiträge : Daniel J. Cook, Hartmut Rudolph, Christoph Schulte (Hg.), Leibniz und das Judentum (2008). 53 Von der wahren Theologia mystica (1695), in : Gottschalk Eduard Guhrauer (Hg.), Deutsche Schriften, 2 Bde. (1838–1840), Bd. I, S. 410–413 (Gott als das Erste und Leichteste »in dem Lichtweg« zu erkennen, Gott als Geist und Licht) ; Wiener Vortrag am 1. Juli 1714 (Fn. 34), S. 59,
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gewendet, ist es also der im Licht verkörperte und im Äther verflüssigte Geist Gottes, der seine Allgegenwärtigkeit bedingt : Dieser Äther zirkuliert durch die Poren aller Körper, er durchdringt die Grenzen von ansonsten streng unterschiedenen Reichen, er vermag eine Kausalität zwischen den Monaden zu begründen und so ihre Fenster zu öffnen. Diese Erklärung führt noch einmal zurück zu den beiden Momenten, die in einer Monade untrennbar ›zusammengeschweißt‹ sind, nämlich zur Seele und zur sie umhüllenden Erstmaterie. Den Anstoß für die Idee einer solchen Doppelung gab, wie bereits angedeutet, die cartesianische Lehre von der Ausdehnung. Leibniz meint, diese sei nicht, wie die Cartesianer annehmen, räumlich, sondern dynamisch zu verstehen. Das dynamische Prinzip erblickt er in der auch für den Begriff der Gerechtigkeit relevanten »Kraft«, und zwar einer reflexionsfähigen, aktiven Kraft und einer perzeptionsfähigen, passiven Kraft, welche die beiden Momente der Monade ausmachen. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Entelechie die Tendenz besitzt, ihre aktive Kraft auszubreiten.54 Dies kann freilich nur über die Erstmaterie geschehen, die, wie die Entelechie, zwar ebenfalls keine Ausdehnung, aber das Verlangen nach Ausdehnung besitzt.55 Insofern darf die Erstmaterie als das Fundament jener Lehre der dynamischen »Ausdehnung« oder »Ausbreitung« betrachtet werden, welche Leibniz gegen den Cartesianismus formuliert hat. Nun ist es vor allem das Licht, zu dessen Merkmalen ein 68 (quodam lucis radio) ; Gedicht an den Tod von Sophie Charlotte (1705), in : Georg Heinrich Pertz (Hg.), G.W. Leibniz, Gesammelte Werke, Erste Folge : Geschichte, 4 Bde. (1843–1847) IV, S. 109–112, 111. Siehe Busche, Monade und Licht (Fn. 16), S. 33, 35. Im Übrigen wäre zu klären, inwieweit Verbindungen mit der platonischen Lichtmetaphysik bestehen, vgl. Jean Grondin, The Possible Legacy of Leibniz’s Metaphysics in Hermeneutics, in : Leibniz and Hermeneutics (Fn. 20), S. 3–15. 54 Leibniz charakterisiert diese aktive Kraft auch als Streben nach »Veränderung« und als »formales Prinzip«, Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 269 f. Siehe auch Monadologie (Fn. 6), § 10 (S. 15) ; Hans Poser, Innere Prinzipien und Hierarchie der Monaden, in : Monadologie (Fn. 12), S. 81–94, 84 f. Eingehender dazu in den Briefen an de Volder, etwa vom 20. Juni 1703, in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 332, 333 f., vom 21. Januar 1704 (a.a.O.), S. 337, und vom 19. Januar 1706 (a.a.O.), S. 356. Im Hintergrund steht abermals die Opposition gegen den Okkasionalismus, der auf den Willen Gottes rekurrieren muss. Stattdessen betont Leibniz die selbstproduktive, selbstregulative bzw. autonome Kraft der »Formen«. Denn Gott hat »stets den Dingen selbst« die Prinzipien der Veränderung beigelegt, z.B. Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 270 (Hervorhebungen im Original ; dazu bereits im vorangegangenen Abschnitt). Das Thema spielt auch im Zusammenhang mit Leibniz’ Kritik des Quietismus eine Rolle, vgl. Theodicée (Fn. 15), Einl., § 10 (S. 40 f.) ; Brief an Michael Gottlieb Hansch vom 25. Juli 1707, in : Johannes Eduard Erdmann (Hg.), Opera philosophica quae exstant latina Gallica Germanica omnia (1839), S. 445–447, 446. 55 Siehe den Brief an Des Bosses 11. März 1706, in : Philosophische Schriften II (Fn. 4), S. 304–308, 306 (die Erstmaterie bestehe nicht »in extensione, sed extensionis exigentia«).
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solches Verlangen nach Ausdehnung und Ausbreitung gehört. Die spärlichen Andeutungen von Leibniz, welche in diese Richtung weisen, sollten daher ernst genommen werden.
IV. Beispiele aus der Jurisprudenz : Gottesurteil, Einflusstheorie und Billigkeit Ob Gott einen übernatürlichen Beistand leistet, ob er in das Leben der Menschen bei bestimmten Gelegenheiten eingreift, sind Fragen, die auch in der Jurisprudenz gestellt werden. Ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte bilden die sogenannten »Gottesurteile«, die vor allem in den frühmittelalterlichen Leges vorkommen, aber auch in spätmittelalterlichen Rechtsbüchern wie dem Sachsenspiegel noch erwähnt werden.56 Dabei handelt es sich um die Entscheidung über Schuld oder Unschuld einer verdächtigen Person durch äußere Zeichen, die auf Gott zurückgeführt werden. Solche Zeichen soll Gott im Rahmen eines Zweikampfes, eines Reinigungseides, einer Feuer-, Kessel- oder Wasserprobe geben können. Ein berühmtes Beispiel für einen Reinigungseid bildet die Geschichte der Heiligen Kunigunde, die von ihrem Gatten Heinrich II. auf Grund teuflischer Anschuldigungen verurteilt wurde, ihre Keuschheit dadurch zu beweisen, dass sie mit nackten Füßen eine Strecke von ungefähr zehn Metern über glühende Pflugscharen geht und dabei unversehrt bleibt, was ihr mit Hilfe Gottes auch gelungen sei. Schon frühzeitig ist diese Art des ›Okkasionalismus‹ auf den Widerstand der Kirche und namentlich des kanonischen Rechts gestoßen, das auf eine Überwindung der formalen Beweismittel durch eine grundlegende Reform des Gerichtsverfahrens drängte. Dabei entwickelte das Kirchenrecht einen Gedanken, auf welchem mutatis mutandis auch Leibniz’ Kritik des Neucartesianismus fußt : Die Behauptung eines beständigen Eingreifens Gottes sei seiner vollkommenen Macht und Weisheit unwürdig. Die Menschheit würde Gott gleichsam zu ihrem Diener erniedrigen, wenn sie eine ständige Intervention dort erwartete, wo Gerichte sich außerstande sehen, ein Urteil zu finden. In solchen Fällen müsse daher nach einem anderen Kriterium zwischen Schuld und Unschuld entschieden werden. Das kanonische Recht sah dieses Kriterium in der Wahrheit, im tatsächlichen Geschehen, das der Richter nun im Rahmen eines speziellen Verfahrens zu erforschen (inquirere) hatte.57 56 Siehe hierzu und zum Folgenden Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 136, 166, 173 f. 57 Nachweise bei Meder, Rechtsgeschichte (Fn. 56), S. 166 f., 188.
Beispiele aus der Jurisprudenz
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Ein ganz anderes Beispiel bildet die Frage, inwieweit »Einflüsse« für die Entstehung großer Werke der Wissenschaft eine Rolle spielen. Hier geht es nicht um ein übernatürliches Eingreifen Gottes, sondern um die Wechselbeziehungen zwischen Individuen. Einflusstheoretiker neigen dazu, einzelne Formulierungen, Ideen oder biographische Elemente eines Autors mehr oder weniger willkürlich herauszugreifen und als Einflüsse zu entdecken. So soll etwa, um ein Beispiel zu nennen, als Schlüssel zum Verständnis von Savignys Rechtsdenken eine Stelle aus der »Kritik der reinen Vernunft« dienen, in welcher Kant an den »alten Wunsch« erinnert, »daß man doch einmal, statt der endlosen Mannigfaltigkeit der bürgerlichen Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge«.58 Wenn sich über Kant hinaus nun auch Savigny ein solches Ziel gesteckt haben mag, besagt das nichts über irgendwelche Einwirkungen oder Einflüsse. Denn derartige »Wünsche« haben sowohl Hobbes als auch Leibniz und viele andere Autoren geäußert. So nimmt es nicht wunder, dass schon bemerkt wurde, die Philosophen und Psychologen hätten »nicht zu Unrecht« den Literaturhistorikern verboten, »von Einflüssen zu sprechen«.59 Bislang ist freilich kaum bekannt, dass schon Leibniz mit seiner Metaphysik ein solches Verbot verhängt : Weil die Monaden keine Fenster haben, verbietet es sich, einen »Einfluss« im trivialen, wirkursächlichen oder kausalmechanischen Sinne anzunehmen.60 Hier genügt es festzuhalten, dass Leibniz’ komplexes Modell der Perzeption, Reflexion und selbstproduzierenden Kraft von Monaden einem Vorverständnis überlegen ist, welches, als eine moderne Variante des »Influxionismus«, auf den Prämissen eines immediaten Einflusses (influxus) zwischen Individuen fußt. Das dritte Beispiel betrifft ein Thema, welchem die vorliegende Studie besondere Aufmerksamkeit widmet, nämlich Leibniz’ Idee der »Billigkeit«. Von ihr soll das folgende, den zweiten Teil abschließende und die Zusammenhänge von Rechtsphilosophie und Metaphysik fokussierende Kapitel handeln : Wie dürfen wir uns eine Interaktion unter Monaden oder eine Mitwirkung höherer Kräfte in der Jurisprudenz vorstellen ? Welche Konsequenzen sind aus Leibniz’ Konzept wechselseitiger Repräsentationen und Expressionen für die berühmte Dreistufenlehre und damit für die Rechtsfindung zu ziehen ? Dabei interessiert 58 Siehe die Nachweise und näheren Ausführungen zum Thema bei Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 142–144 ; ders., Thibauts Hermeneutik, in : Christian Hattenhauer, Klaus-Peter Schroeder, Christian Baldus (Hg.), Anton Friedrich Justus Thibaut (2017), S. 127–146, 143–145. 59 Siehe die mit »Einfluss« überschriebenen Abschnitte bei Theo Schuler, Jacob Grimm und Savigny, in : SZ (GA) 80 (1963), S. 197–305, 210–232, 210–212 passim. Grundlegend hierzu : Dieter Henrich, Werke im Werden (2011). 60 In seiner Vorrede zu Nizolius (1670), in : AA VI 2, S. 397–476, 418 (13), hat Leibniz das herkömmliche Konzept der Einflüsse als »barbarisch« bezeichnet.
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vor allem, inwieweit der »Billigkeit« eine Funktion als ›Mittlerin‹ zwischen unterschiedenen Gebieten, etwa einer Sphäre der Macht und einer der Weisheit, zukommen kann.
V. Zwischenergebnis Es ist kein direkter, sondern lediglich ein indirekter Einfluss zwischen den Monaden und der Welt der Körper möglich, sodass die Erstmaterie hier als Bindeglied auftritt. Letztlich bietet also dieses zweite, passive Moment der Monaden, nämlich die Erstmaterie, den Erklärungsgrund für eine kausale Vermittlung zwischen den beiden Reichen.61 Leibniz charakterisiert die erste Materie als das zwischen Leib und Seele wirkende Medium – als eine Lichtsphäre, die er über die prästabilierte Harmonie bis auf den alttestamentarischen Schöpfungsbericht zurückführt. Zwischen Leib und Seele tritt die Erstmaterie des Äthers damit als verflüssigter Geist Gottes auf, dessen Zirkulieren mit der Idee einer stetigen Mitwirkung an seiner Schöpfung zusammenfällt. Genau genommen sind es also der Äther, das Licht oder der Geist Gottes, die zwischen den differenten Sphären vermitteln.62 Leibniz charakterisiert diese Verbindung auch als »allgemeines Band, welches die kräffte von einem auff den andern tregt«, das manche »spatium, ich aber ätherem«, andere sonst nach gelegenheit nennen«.63 Dass diese Erklärung auch für die Jurisprudenz von Bedeutung ist, zeigt die Erwähnung des »Bandes« (vinculum) im Zusammenhang mit der »Billigkeit«, worauf noch zurückzukommen ist.64 Unter den Prämissen einer ätherischen Dy61 Siehe oben III 3. 62 Die getrennten Sphären können unter den Prämissen einer Differenz der »beiden Reiche« auch in einem politischen und juristischen Sinne verstanden werden. Dann wäre der »Geist« des Rechts (oder in einem erweiterten Sinne der »Gesetze«) als jene Metapher zu begreifen, die in Gestalt des Lichts eine (von jeder kausalmechanischen Erklärung fundamental verschiedene) »kausale« Vermittlung zwischen dem Reich der Zweck- und dem Reich der Wirkursachen – oder juristisch gewendet : zwischen dem Reich der Gnade mit den ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit und dem positiven Recht (ius voluntarium) bewerkstelligt. 63 Brief an den Politiker, Juristen und Physiker Otto von Guericke, August 1671, in : AA II 1, S. 238– 243, 239 (Hervorhebung im Original). Näher zum vinculum substantiale im Briefwechsel mit Des Bosses : 23. August 1713, in Philosophische Schriften II (Fn. 4), S. 481–483, 482 ; 29. Mai 1716, a.a.O., S. 515–521, 516. Eingehend Busche, Monade und Licht (Fn. 16), S. 44 ; Cornelius Zehetner, Vinculum substantiale, in : Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses (Fn. 16), S. XXV– CXXVI (freilich ohne Würdigung der ätherischen Dynamik ; Andeutungen in diese Richtung aber bei Michael Benedikt, Konspekt, a.a.O., S. XV–XXIV, XX). 64 Nova methodus (Fn. 7), § 75 (S. 83)
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namik erscheint es nur folgerichtig, wenn Leibniz sagt, es sei »ziemlich schwer, die Tätigkeiten Gottes von denen der Geschöpfe zu unterscheiden«.65 Ebenso schwierig kann es sein, die ›Wirkungen‹ der Phänomene von einer Kausalität der ›Zwecke‹ zu unterscheiden. Denn nach dem System der prästabilierten Harmonie sind die Körper tätig, als ob es keine Seelen gäbe (was unmöglich ist), und die Seelen, als ob es keine Körper gäbe, und beide sind tätig, als ob eins das andere beeinflussen würde.66
»Fensterlosigkeit« würde dann bedeuten, dass nur die unmittelbare, kausalmechanische, nicht aber die mittelbare Wirkung zwischen den beiden Reichen ausgeschlossen ist. Über die Lichtsphäre haben die Monaden durchaus Tore und Fenster zur Außenwelt. Sie sind imstande, auf Stimuli, die vom Körper herrühren, spontan zu reagieren. Genau genommen sind es aber nicht jene Eindrücke oder Reize, die über die Sinne ins Gehirn eindringen und dann in der Seele auftreten, sondern spontan erzeugte Ideen oder Repräsentationen, auch wenn diese mittelbar eine Wirkung oder Reaktion auf körperliche Bewegung sein mögen.67 Die Reaktionen bezeichnet Leibniz als ein »Echo auf die äußeren Dinge«, ohne es dabei zu versäumen, die selbstregulativen Funktionen der Seele noch ein65 Metaphysische Abhandlung (Fn. 11), § 8 (S. 143). Siehe Busche, Monade und Licht (Fn. 16), S. 35. 66 Monadologie (Fn. 5), § 81 (S. 57) ; Theodicée (Fn. 15), Vorrede (S. 22). An anderer Stelle heißt es : »So gehen alle Ereignisse in den Seelen derart vor sich, als ob es keine Körper, und alle in den Körpern, als ob es keine Seelen gäbe«, Betrachtungen über die Lebensprinzipien und über die plastischen Naturen (1705), in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 63–73, 72. Siehe auch die nahezu wortgleiche Formulierung in Leibniz’ Erwiderung auf die Betrachtungen über das System der prästabilierten Harmonie (1702), in : Hauptschriften II (Fn. 11), S. 382–405, 389. In den Nouveaux essais I (Fn. 11, S. 113, 115) betont er, es gebe immer eine gewisse Entsprechung von Körper und Seele und er bediene sich der Eindrücke der Körper, um zu beweisen, dass die Seele ähnliche habe. Auch die Wechselbeziehungen der Monaden charakterisiert er als Entsprechung, Übereinstimmung oder Zusammenlaufen (concursus) unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit (oder eines »als ob«) mit den kausalmechanischen Wirkungen in der Welt der Phänomene. 67 Auf die im nächsten Abschnitt zu erörternde Frage, ob nicht alles, was in der Seele ist, von den Eindrücken der Sinne herrührt, antwortet Leibniz : »Das mag man so sehen«. Doch sei zu beachten, dass die Seele viele Dinge schon enthält, welche die Sinne nicht geben können. So seien Ideen in der Seele schon vorhanden, bevor wir sie als eine bestimmte Sache bewusst wahrnehmen und als Gedanken oder Handlungen zum Ausdruck bringen, Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 103. Siehe auch Neues System (Fn. 20), S. 267 ; Metaphysische Abhandlung (Fn. 11), § 26, S. 171 (mit dem Akzent auf Abgeschlossenheit und Selbsttätigkeit der Seele). Auf die Eindrücke der Sinne sind wir also gleichwohl angewiesen. Durch sie werden wir auf die Ideen – oder juristisch gewendet – auf die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit und das Erfordernis gelenkt, diese zu beweisen.
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mal zu bekräftigen.68 Diese Reaktionen können, wie im Folgenden darzulegen ist, »bei der Berührung mit der sinnlichen Erfahrung« aber auch »aufscheinen, gleich den Funken, die aus dem Gewehr beim Losdrücken heraussprühen«.
VI. Die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit als eingeborene Ideen Wenn Leibniz die Fragen nach der menschlichen Erkenntnis und nach dem letzten Grund der menschlichen Verpflichtungen aufwirft, so geschieht dies mit Blick auf zwei Grundvorstellungen, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Nach der ersten ist die Seele »an und für sich ganz leer«, gleich einer »noch unbeschriebenen Tafel (tabula rasa)«. Sie fußt auf der Annahme, dass alles, was »darauf verzeichnet ist, einzig von den Sinnen und der Erfahrung herrührt«.69 Leibniz teilt dagegen die Vorstellung, dass »die Seele ursprünglich die Prinzipien verschiedener Begriffe und Lehrsätze enthält, welche die äußeren Gegenstände nur bei Gelegenheit in ihr wieder erwecken«.70 Dabei kann er sich auf Platon, auf die Stoiker, auf Mathematiker, ja sogar auf Autoren der von ihm oft kritisierten Scholastik und natürlich auf Paulus im Neuen Testament berufen, wo es heißt, dass »das Gesetz Gottes in die Herzen geschrieben ist«.71 Leibniz geht jedoch weder auf Platon noch auf Paulus oder einen Mathematiker, sondern auf die »neueren Philosophen«, namentlich auf den italienischen Humanisten, Dichter und Naturforscher Julius Scaliger (1484–1558) näher ein, der diese Begriffe, Ideen oder Lehrsätze »semina aeternitatis (Samenkörner der Ewigkeit) oder auch Zopyra« nannte, als ob er von lebendigen Feuern sprechen wollte, von leuchtenden, in unserem Inneren verborgenen Zügen, die bei der Berührung mit der sinnlichen Erfahrung aufscheinen, gleich den Funken, die aus dem Gewehr beim Losdrücken heraussprühen. Nicht ohne Grund glaubt man, in einem derartigen Aufleuchten zeige
68 Brief an Des Bosses vom 29. Mai 1716, in : Philosophische Schriften II (Fn. 4), S. 515–521, 517 (»anima est Echo externorum, et tamen ab externis est independens«). 69 Klassische Protagonisten dieser bis heute einflussreichen Lehre sind John Locke (1632–1704), An Essay Concerning Human Understanding (1690), und David Hume (1711–1776), A Treatise of Human Nature (1739–1740). 70 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. IX. 71 Röm. 2, 15 ; Nouveaux essais I (Fn. 11), S. IX, 59.
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sich etwas Göttliches und Ewiges, das vor allem in den notwendigen Wahrheiten zum Vorschein kommt.72
Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass Leibniz im Licht jenes Medium erblickt, das zwischen eigentlich strikt getrennten Sphären vermittelt. Dabei will er gar nicht bestreiten, »daß die äußeren Sinne zum Teil Ursachen unserer Gedanken sind«. Er meint aber, »es gebe Ideen und Prinzipien, die uns nicht von den Sinnen zukommen, und die wir in uns vorfinden, ohne sie zu formen, wenngleich die Sinne uns die Gelegenheit geben, uns ihrer bewußt zu werden«.73 In diesem Zusammenhang unterscheidet Leibniz zwischen Tatsachen- und Vernunftwahrheiten, wobei erstere aus den Erfahrungen der Sinne stammen und letztere – die notwendigen und ewigen Wahrheiten – ihre Quelle im Verstand haben. Nur die Vernunft-, nicht aber die Tatsachenwahrheiten dürfen als möglicher Ausdruck der eingeborenen Ideen qualifiziert werden.74 Dass Arithmetik und Geometrie zu den leitenden Beispielen gehören, in denen solche Vernunftwahrheiten vorkommen, die »wir in uns vorfinden, ohne sie zu formen«, ist bereits ausgeführt worden.75
72 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. XI. 73 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 15. Zu Leibniz’ Position im Universalienstreit : Joachim Otto Fleckenstein, Gottfried Wilhelm Leibniz. Barock und Universalismus (1958), S. 31–35 (mit der These, dass Leibniz im Einklang mit der Lösung des Universalienstreits im Barock Nominalismus und Realismus – Platon, Aristoteles und Demokrit »miteinander auszusöhnen« versucht hat). Eingehender erörtert Leibniz das Thema in der Vorrede zu Nizolius (Fn. 60), dt. (in Auszügen) : Wolf von Engelhardt (Hg.), Schöpferische Vernunft (1951), S. 1–29, 24–26 (mit Anm. S. 416– 418). Siehe auch Bernhard Jansen S.J., Leibniz, erkenntnistheoretischer Realist (1920) – mit Kritik an jenen Autoren, die, wie Ernst Cassirer, in Leibniz einen Repräsentanten des philosophischen Idealismus sehen möchten, S. 27, 39, 69–71 (dass Leibniz nicht als ›Idealist‹ qualifiziert werden darf, hat jüngst, mit anderer Begründung, zu Recht auch Busche wieder hervorgehoben, Einführung, Fn. 16, S. 33). 74 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 16. Tatsachenwahrheiten zeigen an, wo die Grenzen der eingeborenen Ideen liegen. Sie eröffnen einen Bereich des Wissens, das nur aus der Erfahrung stammt und eigens erworben werden muss. Leibniz misst auch den Tatsachenwahrheiten große Bedeutung zu, warnt aber davor, sie mit den Vernunftwahrheiten zu verwechseln, siehe Christian Barth, Interrelations between Leibniz’s Theoretical Philosophy and his Philosophy of Law, in : Tilman Altwicker, Francis Cheneval, Matthias Mahlmann (Hg.), Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (im Erscheinen) ; Jansen S.J., Leibniz, erkenntnistheoretischer Realist (Fn. 73), S. 41, 68. 75 Z.B. Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 23–45. Dazu jüngst Georg von Wallwitz, Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt (2017) : Aus Sicht von Leibniz »waren die Zahlen eine Welt vor der Welt, aber wie konnten sie sich vermischen ?« (S. 204). Dabei ist abermals vorausgesetzt, dass die notwendigen Wahrheiten unabhängig sowohl vom menschlichen als auch vom göttlichen Willen gelten.
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Noch heute diskutieren Mathematiker unter Stichworten wie »Realismus« oder »Platonismus« darüber, ob Zahlen oder geometrische Figuren in der Vorstellung des Menschen entstehen oder ob ihnen eine vom Denken unabhängige Existenz zugesprochen werden muss. So sind etwa Kurt Gödel (1906–1978) oder Paul Erdös (1913–1996) der Meinung, dass Mathematik nicht erfunden, sondern entdeckt wird. Dabei besteht Einigkeit, dass diese klassische Form des Realismus mit den Positionen des Platonismus weitgehend übereinstimmt, wonach die mathematischen Gegenstände und Sätze zusammen mit anderen Ideen wie dem Guten, Schönen oder Gerechten unabhängig von Raum und Zeit bestehen.76 Auch Leibniz erstreckt die eingeborenen Ideen über die mathematischen Gegenstände hinaus auf andere Disziplinen und namentlich auf die Jurisprudenz, wenn er von den notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit spricht.77 Damit stellt sich für ihn ebenfalls die Frage, wie und auf welche Weise wir als begrenzte Wesen diese Wahrheiten erkennen können. Das Hauptproblem sieht er darin, dass wir nicht einfach wissen können, was eingeboren ist.78 Eingeborene Ideen lassen sich nicht, wie ein »offenes Buch« oder wie »das Edikt des Prätors aus seiner Verordnungstafel ablesen«.79 Eher handele es sich um Fertigkeiten, natürliche Kräfte oder Anlagen, die mit »einem Stück Marmor« Hinzu kommt, dass die Unterschiede von menschlicher und göttlicher Erkenntnis trotz der fundamentalen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nur gradueller Art sind (7. Kapitel III). 76 Hartry Field, Recent Debates about the A Priori, in : Tamar Szabo (Hg.), Oxford Studies in Epistemology, Bd. 1 (2005), S. 69–88 (mit weiteren Nachweisen) ; Laurence BonJour, In Defense of Pure Reason : A Rationalist Account of A Priori Justification (1998). Kürzlich wurde dem französischen Mathematiker Cedric Villani die Frage gestellt : »Ist die Mathematik ein Konstrukt des menschlichen Gehirns ?« Die Antwort Villanis lautete : »Ich meine, nein. Doch man kann es auch anders sehen. Das ist eine Glaubensfrage, die sich nicht rational klären läßt. Eine Mehrheit der heute lebenden Mathematiker geht wie ich davon aus, daß die Mathematik nicht einfach etwas von Menschen Erdachtes, sondern etwas viel tiefer Gehendes ist.« (FAZ vom 16. Juli 2016) ; Leibniz würde hier vielleicht hinzufügen, dass es ihm nicht gelungen sei, in der Mathematik die »letzten Gründe« (dernières raisons) der Zahlen oder die Gesetze der Bewegung zu finden und er sich daher genötigt sah, auf die Lehre von den substantiellen Formen zurückzugreifen, siehe seinen Brief an Rémond vom 10. Januar 1714, in : Philosophische Schriften III (Fn. 4), S. 605–608, 606. 77 Dass auch außerhalb der Mathematik über die Struktur des menschlichen Geistes aktuell wieder diskutiert wird, hat jüngst Matthias Mahlmann, Rationalismus und Epistemologie in Leibniz’ praktischer Philosophie, in : Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (Fn. 74), dargelegt (anhand von Beispielen aus den Gebieten von kognitiver Moralpsychologie, Verhaltensökonomie und Paläoanthropologie). In diesen Gebieten geht es ebenfalls um die Frage, ob der menschliche Geist ein aktiver Teil des Erkenntnisprozesses oder lediglich eine Wachstafel ist, die von Erfahrungen beschrieben wird. 78 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 69. 79 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. XIII.
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verglichen werden können, »das Adern hat«.80 Sie sind zum Denken notwendig, »wie die Muskeln und Sehnen zum Gehen notwendig sind, wenn man auch nicht daran denkt«.81 Leibniz verkennt nicht die Gefahren, die mit der Lehre von den eingeborenen Ideen einhergehen. Bereits John Locke hatte in diesem Zusammenhang vor Dogmatismus, vor einer Konservierung unreflektierter Vorurteile, vor nicht begründbaren Vorstellungen und vor erkenntnistheoretisch überholten Positionen gewarnt. Wir würden aber, so Leibniz, das ›Kind mit dem Bade ausschütten‹, wenn wir allein wegen dieser Gefahren die Möglichkeit der Existenz eingeborener Ideen verwerfen würden. Derartigen Risiken könne am besten mit der Forderung begegnet werden, dass eingeborene Ideen immer bewiesen werden müssen. Wie aber lässt sich ein solcher Beweis führen ? Auf »allgemeine Übereinstimmungen« oder faktische Überzeugungen darf die »Gewißheit der eingeborenen Grundsätze« jedenfalls nicht gestützt werden. Diese können allenfalls als Indizien für ihre Existenz mit herangezogen werden.82 Leibniz meint, wir würden die eingeborenen Ideen »mittels aufmerksamer Betrachtung in uns entdecken können«.83 Hinzu kommt seine Kritik der Induktion : Leibniz bestreitet, dass die notwendigen und ewigen Wahrheiten aus der Erfahrung abgeleitet werden können. Denn die Sinne, so wichtig sie für die Erkenntnis auch sein mögen, geben immer nur Beispiele. Solche Beispiele, und mögen sie noch so zahlreich sein, genügen aber nicht, um die »allgemeine Notwendigkeit einer Wahrheit festzustellen«. Denn was bisher geschehen ist, kann sich jederzeit ändern oder auf andere Weise ereignen. In Übereinstimmung etwa mit dem modernen Rationalismus hält Leibniz Induktionen daher immer für unvollständig.84
80 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. XVI, XVII, 57 (mit dem Hinweis, dass wir die eingeborenen Ideen fühlen können, dazu unten VII). 81 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 41, 57 (siehe auch 8. Kapitel V). 82 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 19–21. 83 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. XIII ; Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 270. Siehe auch den oben (I) bereits erwähnten Brief an Thomas Burnett vom 26. Mai 1706 (Fn. 4), in dem Leibniz betont, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht allein von der Natur des Menschen, sondern allgemein von der »Natur einer vernunftbegabten Substanz« abhängen : »Wie ich schon angemerkt habe, war Herr Locke nicht zu den Fundamenten der notwendigen Wahrheiten vorgedrungen, die nicht von den Sinnen, Erfahrungen oder Tatsachen abhängen, sondern von der Betrachtung der Natur unserer Seele, die ein Wesen, eine Substanz ist […] Man darf nicht darüber erstaunt sein, wenn diese Ideen und die davon abhängenden Wahrheiten in uns gefunden werden müssen.« (S. 307 f.) 84 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. XI ; Vorrede zu Nizolius (Fn. 73), S. 28 f.; Karl R. Popper, David W.
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Diese Überlegungen sind auch für die Moral- und Rechtstheorie relevant.85 Wie bereits angedeutet, spricht Leibniz hier ebenfalls von eingeborenen Prinzipien, die er in zwei Arten gliedert, und zwar in Instinkt und Vernunft. Auch der Instinkt ist also ein eingeborenes Prinzip, der jedoch keinen Teil des »natürlichen Lichtes« bilde, weil man ihn »auf keine erhellende Art erkennen kann«.86 Gott habe den Menschen den Instinkt gegeben, weil Moral und Recht bedeutsamer als die Arithmetik seien. Ein wichtiger, gerade für die Theorie der Gerechtigkeit relevanter Instinkt ist darauf gerichtet, das Glück zu suchen und das Leid zu vermeiden.87 Die Instinkte bringen den Menschen nämlich »sofort und ohne Vernunftüberlegung auf das, was die Vernunft vorschreibt«.88 Gleichwohl müssen Instinkte nicht zwangsläufig zu guten und gerechten Taten führen. Es können ihnen Leidenschaften im Wege stehen, sie können durch Vorurteile verdunkelt oder »durch entgegengesetzte Gewohnheiten« abgewandelt werden.89 Doch komme es auch vor, dass Instinkte unsere Handlungen in positiver Weise bestimmen. Dies mag vor allem dann geschehen, »wenn nicht größere Eindrücke sie übersteigen«.90 So können Instinkte über das Glück hinaus auch zu Vollkommenheit, Ordnung, Harmonie und Gerechtigkeit führen. Darauf ist noch zurückzukommen.91
VII. Resümee Wie hängen Monadologie und Rechtsphilosophie zusammen ? Um hier eine Antwort zu finden, wären an erster Stelle der Discours de métaphysique, das Jahr 1686 und die Rückkehr zu den »substantiellen Formen« zu nennen : Das Konzept der »substantiellen Formen« hat die erkenntnistheoretische Bedeutung von Sinneseindrücken, Erfahrungen und Tatsachen geschmälert. Dies verdient Hervorhebung, da Leibniz in seinen vor der Monadologie verfassten juristischen Werken das besondere Merkmal der Rechtswissenschaft im Fallbezug erblickte.92 Miller, A proof of the impossibility of inductive probability, in : Nature 302 (1983), S. 687–688 (weitere Nachweise oben bei Note 76). 85 Z.B. Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 59. 86 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 51–53, 63 (zum Begriff »natürliches Licht« siehe oben III 3). 87 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 53–55, 63. 88 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 59. 89 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 59. 90 Z.B. Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 59. 91 10. Kapitel II und III. 92 Zur Fall- und Anwendungsorientierung seines Rechtsdenkens siehe 2. Kapitel V.
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Hat sich daran nach der Rückkehr zu den »substantiellen Formen« etwas geändert ? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Direkt hat sie Leibniz, soweit ersichtlich, nicht angesprochen. Es darf aber angenommen werden, dass er auch nach 1686 der Meinung war, der Jurist könne von der Beobachtung individueller Fälle am meisten lernen. Denn auch unter den Prämissen der Monadologie ist das Wissen des Menschen auf Sinneseindrücke Erfahrungen und Tatsachen angewiesen. Eine Einschränkung folgt freilich daraus, dass die menschliche Seele »viele Dinge schon« enthält, welche »die Sinne nicht geben können«.93 Und diese Dinge vermögen wir durch die »Betrachtung der Natur unserer Seele« zu erkennen, wir finden sie also bereits »in uns«, bevor uns äußere Reize erreichen.94 Dazu gehören namentlich die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit. Auch von dieser Seite zeigt sich also, daß Leibniz’ Konzept von Recht und Gerechtigkeit ohne Monadologie nicht zu begreifen ist : Die Monade spiegelt das Universum mit den notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit. Eine besondere Bedeutung gewinnt dabei der Aufbau der Monade, ihre doppelte Struktur mit der Substanz als dem aktiven und der Erstmaterie als dem passiven Moment. Das aktive Moment der Substanz bietet eine Antwort auf die Frage, warum das Individuum die Gerechtigkeit nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verwirklichen sucht. Es ist also ein dynamisches Verständnis von Gerechtigkeit – als Streben oder Verlangen mit der »Kraft«, welche die caritas sapientis antreibt. Dieses dynamische Moment erklärt, warum das Recht durch den Willen eines Gesetzgebers nur beschränkt steuerbar, warum es niemals abgeschlossen und in bestimmten Situationen auf die schöpferische Tätigkeit des Juristen angewiesen ist. Dagegen gibt das passive Moment der Erstmaterie Aufschluss darüber, wie der Mensch Eindrücke von außen empfangen, wie er überhaupt wahrnehmen kann. Was das Recht anbelangt, so genügt die Feststellung, dass trotz der operativen Geschlossenheit von Monaden eine solche Wahrnehmung möglich ist. Ohne diese Voraussetzung wäre es kaum vorstellbar, dass wir von der Beobachtung konkreter Fälle lernen können. Stimuli, die durch die Beobachtung von Fallmaterial erzeugt werden, dringen zwar nicht unmittelbar über das Gehirn in die Seele. Leibniz hält aber eine mittelbare Wirkung für möglich – Reaktionen der Seele in Form eines »Echos auf die äußeren Dinge«, ja, sogar in Form eines Aufscheinens, »gleich den Funken, die aus dem Gewehr beim Losdrücken heraussprühen«.95 Auch das Rechtsgefühl wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Den Ausgangspunkt bildet hier der Gedanke, dass wir als Bilder Gottes 93 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 103 (weitere Nachweise oben V bei Note 67). 94 Z.B. Specimen dynamicum (Fn. 12), S. 270 (weitere Nachweise oben VI bei Note 83). 95 Oben V bei Note 68 und VI bei Note 72.
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die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit schon in uns tragen. Das Rechtsgefühl wäre danach eine Art Ahnung, Regung oder Vorbote der Erkenntnis : Als Reaktion auf äußere Ereignisse wird es sich vornehmlich dann bemerkbar machen, wenn wir (noch) »keinen Beweis« für diese Wahrheiten besitzen.96 So erklärt sich, warum Leibniz der Behauptung von Empirikern, dass alles in der Seele »von den Eindrücken der Sinne herrührt«, gar nicht widerspricht, sondern antwortet : »Das mag man so sehen.«97 Nur gibt er zu bedenken, dass die Seele auch vieles enthält, das nicht über die Sinne in sie gelangt ist. Dass die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit in der Seele gespiegelt sind, gehört also zu den Fundamenten von Leibniz’ Rechtsphilosophie. Der menschliche Geist vermag diese Wahrheiten auch zu erkennen, sofern ihm die natürliche Trägheit seines Körpers nicht im Wege steht. Denn der Mensch ist ein »Bild Gottes« und vermag auf Grund seiner Ebenbildlichkeit »eine Gemeinschaft« mit dem höchsten Wesen zu begründen.98 Diese Gemeinschaft ist zugleich die Keimzelle des Reichs der Gnade und dieses wiederum ein Teilgebiet innerhalb des Reichs der Weisheit und der Zweckursachen. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Reich der Gnade und dem Reich der Zweckursachen besteht darin, dass Leibniz sie von anderen Gebieten abgrenzt. Die Art der Grenzziehung erfolgt aber auf höchst verschiedene Weise : Während zwischen den Zweck- und Wirkursachen eine kategoriale Differenz besteht, ist der Unterschied zwischen dem Reich der Gnade und den durch einen souveränen Willen beherrschten weltlichen Reichen lediglich ein gradueller.99 Die ›Gradualität‹ rührt daher, dass der menschliche Geist an einen Körper gebunden ist, der als Quelle aller Unvoll96 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 57 und S. 63 (»aber ich habe Ihnen schon gesagt, daß alles Gefühl die Perzeption einer Wahrheit ist, und daß das natürliche Gefühl die Perzeption einer eingeborenen Wahrheit darstellt, allerdings oft so verworren, wie es auch die Erfahrungen der äußeren Sinne sind«). Zur Rolle des Gefühls bei der Erkenntnis eingeborener Wahrheiten siehe auch Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (Fn. 8), S. 110. In der Erkenntnistheorie herrschte lange die Auffassung, dass Gefühl und Vernunft konträre Fähigkeiten des Geistes seien. Auch Leibniz unterscheidet die emotionale von einer kognitiven Erkenntnis. Doch meint er, dass sich Gefühl und Vernunft nicht wirklich trennen lassen, sondern in kontinuierlicher Interaktion und Komplementarität zueinander stehen. Neuere Untersuchungen haben die besondere Bedeutung des Gefühls für die Erkenntnis bestätigt. Darin konnte gezeigt werden, dass die überkommene Annahme einer strikten Trennung zwischen Emotion und Kognition nicht zu halten ist, vgl. nur die neurologischen Studien von Antonio R. Damasio, Descartes’ Error (1994), 10. Auflage (2005), dt. Descartes’ Irrtum, 8. Auflage (2015) ; ders., The Feeling of What Happens (1999). 97 Nouveaux essais I (Fn. 11), S. 103. 98 Brief an Rémond vom 14. Juli 1714 (Fn. 5), S. 623 f. 99 Dabei bleibt zu beachten, dass das Reich der Gnade keine Sache ist und keinen Herrschaftsraum bildet wie die weltlichen Reiche. Es vermag die weltliche Herrschaft unendlich weit zu über-
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kommenheit erscheint. Hier liegt auch der Grund für den ambivalenten Charakter des auf Macht gegründeten positiven Rechts : Es kann durchaus mit Weisheit verbunden sein, nicht selten aber fehlt es dem souveränen Willen an Weisheit, sodass »schlechte Gesetze erlassen und aufrecht erhalten werden«.100 Diese Unzulänglichkeit bildet im Verhältnis zur Vollkommenheit des Reichs der Gnade aber lediglich ein Defizit, ein Weniger oder ›Minus‹. Es bleibt also dabei : Das Ungerechte differiert vom Gerechten nicht kategorial, sondern nur graduell. Gleichwohl bedarf es über die »im Verkehr zwischen Körper und Seele«, über die zwischen Wirk- und Zweckursachen hervortretende Harmonie hinaus noch einer anderen Art der prästabilierten Harmonie. Diese »andere« Harmonie betrifft die Differenz zwischen den Vollkommenheiten des Reichs der Gnade und den Unzulänglichkeiten irdischen Lebens. Eine »andere Harmonie« ist notwendig, weil auf Erden eine vollkommene Regierung und ein vollkommenes Recht nicht zu erwarten sind : Belohnungen und Strafen können hier nicht immer gerecht verteilt werden.101 Daher bedarf es eines Ausgleichs, der erst am Ende aller Tage durchgeführt wird und dessen Erwartung als eine an das Individuum adressierte Mahnung zur Führung eines tugendhaften Lebens betrachtet werden darf. Weitere Einzelheiten können hier auf sich beruhen. Mit Blick auf das folgende Kapitel bleibt festzuhalten, dass der Mensch als »Bild Gottes« in der Lage ist, eine Gemeinschaft mit dem höchsten Wesen im Reich der Gnade zu bilden. Die monadologische Rechtsphilosophie kreist damit um den Gedanken, dass das Individuum mit seinen eingeborenen Prinzipien den Ausgangspunkt für eine Erkenntnis und Realisierung der universalen Wahrheiten der Gerechtigkeit bildet.
schreiten und liegt damit außerhalb irdischen Lebens. Auf Erden markiert es jedoch vornehmlich einen Ort der Innerlichkeit, da es in den Monaden gespiegelt wird (vgl. oben II 2). 100 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 7), S. 29. 101 Theodicée I (Fn. 15), §§ 73, 74 (S. 135–136) ; Monadologie (Fn. 5), § 87 (S. 61).
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10. Kapitel Der Anteil des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit und strengem Recht Wie dürfen wir uns eine Mitwirkung Gottes im Alltag vorstellen, wenn Leibniz »das Übernatürliche« nur im »Urbeginn der Dinge« zugeben möchte ?1 Auf welchen Wegen können die Mängel kompensiert werden, die daraus resultieren, dass es an einem »physischen Band« zwischen ius strictum und aequitas fehlt ? »Gott stellt es durch seinen Beistand her«, sagt Leibniz, ohne sich dazu in seinen rechtsphilosophischen Schriften näher zu erklären.2 Wie passt diese Aussage mit seiner Fundamentalkritik des Okkasionalismus und des Influxionismus zusammen ? Und welchen Anteil hat das Individuum, wenn es darum geht, eine Brücke zwischen strengem Recht und Billigkeit zu schlagen ? Es empfiehlt sich, in Leibniz’ Metaphysik zunächst dort nach Antworten zu suchen, wo er die Prinzipien der Einwirkung, des Einflusses und der Veränderung erörtert.3 Zudem müssen die Verbindungen von Monadologie und Jurisprudenz genauer ins Visier genommen werden. Dabei wird im Folgenden der Akzent auf dem Streben der Substanzen nach ›Vollkommenheit‹ und den Prinzipien der Gerechtigkeit liegen. Vorab seien aber noch einige Ergebnisse der Untersuchungen zur Dreistufen lehre und ihrem Verhältnis zur Metaphysik kurz zusammengefasst.
I. Erste Antworten der Metaphysik auf eine rechtsphilosophische Frage Während die Anhänger säkularen Naturrechts Gesetz und Recht auf eine Stufe stellen, versucht Leibniz auch materialen Elementen einen Weg in die Rechtsordnung zu bahnen. Diese können zur Anwendung kommen, wenn das formale ius strictum z.B. Leerstellen aufweist, wenn es zweifelhaft ist, oder im Einzelfall zu ungerechten Ergebnissen führt. In derartigen Situationen eröffnet die Billigkeit einen kritischen Raum mit der Frage nach dem Recht, das »nicht ungerecht« 1 Siehe oben 9. Kapitel III 2 (bei Note 33). 2 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), in : AA VI 1 S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 75 (S. 83). Dazu (und mit ausführlicher Wiedergabe der Stelle) oben im 7. Kapitel V (bei Note 73) und im 9. Kapitel I (bei Note 10). 3 Siehe z.B. Specimen dynamicum (1695), in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I (1904), S. 256–272, 269 (weitere Nachweise oben 9. Kapitel III).
Erste Antworten der Metaphysik auf eine rechtsphilosophische Frage
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sein kann – nach der Gerechtigkeit, die darauf zielt, Eigen- und Solidarinteressen zu optimieren.4 Als aequitas non scripta besteht ihre Funktion also zunächst darin, Einspruch zu erheben. So werden z.B. in der offenen Situation eines Konflikts zwischen zwei Berechtigungen die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit stärker als bei gewöhnlichen Fällen in den Brennpunkt rücken. Wer nun die Frage aufwirft, wie auf Erden ein Band zwischen ius strictum und Billigkeit geknüpft werden kann, muss vom Individuum und seiner Fähigkeit ausgehen, »eine Art Gemeinschaft mit Gott« zu begründen. Denn jede Monade spiegelt das Universum von einem bestimmten Gesichtspunkt aus.5 Und diese Spiegelung erstreckt sich auch auf die »Elemente der Dinge« – die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit, die vom Willen Gottes zwar unabhängig, in seinem Verstand aber enthalten sind.6 Der Gegenstand des Spiegels wirkt mithin als eine Bedingung der Subjektivität, als eine Art Objektivität, die der menschliche Geist in sich selber trägt : so ist doch, wie ich glaube, der Grund für irgend eine Wahrheit der Natur niemals unmittelbar in der Wirksamkeit oder dem Willen Gottes zu suchen. Vielmehr 4 Siehe die Formulierung in Sur la nature de la bonte et la justice (1703 ?). Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter, G.W. Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 143–163, 155 : »Le droit ne sauroit estre injuste, c’est une contradiction ; mais la loy le peut estre.« (Hervorhebungen im Original) 5 §§ 83, 84 der Monadologie von 1714 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008), S. 59 ; Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), § 147 (S. 199 f.) ; Brief an Arnauld vom September 1687, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 231–255, 250 f. (die Geister bringen »eher Gott als die Welt zum Ausdruck«). Am 14. Juli 1714 schreibt Leibniz an Rémond, »jede einfache Substanz ist ein Spiegel des Universums« ; daher »wird das eine Universum auf unendliche Weise von so vielen lebendigen Spiegeln vervielfältigt, jeder repräsentiert [das Universum] jeweils auf seine Art«, um dann hinzuzufügen : »Man kann sagen, daß jede einfache Substanz ein Bild des Universums, aber daß jeder Geist darüber hinaus ein Bild Gottes ist, weil er die Kenntnis nicht nur von Tatsachen besitzt […], so wie vernunftlose Seelen, die lediglich Erfahrungen machen können, sondern weil ein Geist auch die Notwendigkeit ewiger Wahrheiten erkennt […] und so imstande ist, Gemeinschaft mit Gott zu haben und ein Mitglied des Gottesstaates zu werden – dieser ist der bestmöglich regierte Staat, gerade so wie die Welt die vollkommenste aller Gebilde ist, sowohl die beste physische als auch die beste moralische Gestalt«, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, VII Bände (1875–1890), Bd. III, S. 618–624, 623 f. (siehe auch oben 9. Kapitel I). 6 Monadologie (Fn. 5), §§ 3, 30 (S. 11, 27) ; Brief an Arnauld, Juni 1686, in : Hauptschriften II (Fn. 5), S. 189–206, 191, 194 (hierzu und zum Folgenden bereits oben 7. Kapitel III).
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Der Anteil des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit
hat Gott stets den Dingen selbst Eigenschaften und Bestimmungen beigelegt, aus denen sich alle ihre Prädikate erkennen lassen.7
Leibniz hat Zeit seines Lebens bestritten, dass die Gerechtigkeit »etwas Willkürliches«, dass sie »dem Willen Gottes« entsprungen sei. Den Voluntarismus lehnt er in der Politik ebenso ab wie in der Theologie.8 Dafür gibt es eine einfache Erklärung : Seit seinen Jugendjahren hegt Leibniz die Hoffnung, das Recht ließe sich mit Hilfe der ars Euclidis in ein geometrisches Begriffsgebilde bringen, wodurch die Probleme von Unklarheit, Verwirrung und Dunkelheit ein für alle Mal zu überwinden seien.9 Doch erschöpft sich sein Konzept der Gerechtigkeit weder im Auffinden der Elemente noch in der Parallele mit den geometrischen Figuren oder im Aufbau logischer Kalküle : »Gerechtigkeit« ist für ihn mehr als eine Proportion. Spätestens seit dem Discours de métaphysique von 1686 bildet sie eine Art aktiver Kraft, die zugleich das Merkmal der Monaden ist. In welcher Beziehung steht nun die Gerechtigkeit zur Lehre von den Monaden, die ewige 7 Specimen dynamicum (Fn. 3), S. 270 (Hervorhebungen im Original). Das trifft gerade auch für das Individuum zu, wenn es Leibniz als »kleine Gottheit« bezeichnet, vgl. Monadologie (Fn. 5), § 84, S. 59 ; an die Königin Sophie Charlotte von Preußen, in : Die philosophischen Schriften VI (Fn. 5), S. 499–514, 507 ; Theodicée II (Fn. 5), § 147, S. 199 (»in seiner Welt einem Gotte gleich«) ; Conversation du Marquis de Pianese et du Pere Emery Eremite, in : AA VI 4 C, S. 2245–2283, 2269 (»kleines Modell Gottes«). 8 Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81. Neue Ausgabe von Stefan Luckscheiter (Fn. 4), S. 139–179 (1. Sur la nature de la bonté et de la justice (Fn. 4) ; 2. Sur la notion commune de la justice : S. 164–179) ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 23, 27 ; Unvorgreiffliches Bedencken (1698/99), in : AA IV 7, S. 424–648, 468 ; Monadologie (Fn. 5), § 46 (S. 35). Siehe auch Theodicée III (Fn. 5), § 335 (S. 331) : Die Zahlen, Formen oder Figuren habe »Gott nicht durch einen Willensakt erzeugt« ; sie entstammen den »Ideen«, ihre Stätte ist »im göttlichen Verstande«. Eine ausführliche Erörterung des Themas findet sich im 1. Buch der Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. III (erste und zweite Hälfte), I. Buch : Von den eingeborenen Ideen, S. 1–95. Vgl. ferner die Ausführungen in den Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485) ; dt. Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts, in : Busche (Fn. 2), S. 222 f. Zu den Verbindungen mit der platonischen Ideenlehre siehe die Anmerkungen bei Busche, Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 2), S. 465 ; Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (1996), S. 23–34 ; Matthias Armgardt, Die Monadologie als Vollendung der Rechtstheorie von G.W. Leibniz, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 343–353, 347 (das Thema wurde im 5. Kapitel II, im 7. Kapitel III und im 9. Kapitel VI bereits eingehender erörtert). 9 Insoweit ist Leibniz ganz Kind seiner Zeit (vgl. oben 2. Kapitel III).
Das Streben nach Gerechtigkeit als Lust an der Vollkommenheit
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Wahrheiten nicht nur erkennen können, sondern auch danach streben, sie zu verwirklichen ? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Anwendung des Rechts in der juristischen Praxis ? Zur Vorbereitung einer Antwort darf noch einmal an die beiden in einer Monade untrennbar zusammengeschweißten Momente erinnert werden, nämlich das aktive Moment der Seele und das passive Moment der sie einhüllenden Erstmaterie. Die aktive Kraft der Seele charakterisiert Leibniz auch als Streben nach »Veränderung«, als »formales« Prinzip, das zur Ausbreitung tendiert. Dies geschieht über die Erstmaterie, die zwar keine Ausdehnung, aber das Verlangen nach Ausdehnung besitzt. Auf welches Ziel ist dieses Streben nun gerichtet, das über die Erstmaterie und den Körper nach außen drängt ? Die Antwort lautet : Vollkommenheit !
II. Das Streben nach Gerechtigkeit als Lust an der Vollkommenheit Jede Monade strebt nach Vollkommenheit, und wer eine größere Vollkommenheit erreicht, empfindet Freude, Lust, Vergnügen, Liebe und Glückseligkeit. Glück und Vollkommenheit hängen also zusammen. Hinter dem Instinkt, das Glück suchen zu wollen, verbirgt sich noch ein höheres Ziel, nämlich die Vollkommenheit.10 Auch dreihundert Jahre nach Leibniz’ Tod ist der Glaube, dass ein jeder Mensch in seinem Leben danach strebt, Freude, Lust, Vergnügen, Liebe oder Glückseligkeit zu finden, weit verbreitet. Das für den Begriff der Gerechtigkeit relevante Streben, das Verlangen nach Veränderung und Vollkommenheit, erscheint damit als etwas ganz ›Natürliches‹. Leibniz erblickt im Streben nach Vollkommenheit ferner eine sittliche Pflicht, aber nicht in einem deontologischen Sinne oder in Gestalt von außen auferlegter Normen, sondern in Form eines inneren Strebens. Dieses Streben bezieht sich sowohl auf die eigene Vollkommenheit als auch auf »fremde Dinge« : Die Lust ist die empfindung einer Vollkommenheit oder vortreflichkeit, es sey an uns, oder an etwas anders, denn die Vollkommenheit auch fremder dinge ist angenehm, als verstand, tapferkeit, und sonderliche schöhnheit eines andern Menschen, auch wohl eines thieres, ja gar eines leblosen geschöpfes, gemähldes oder kunstwercks. Denn das bild solcher frembder Vollkommenheit in uns eingedrückt, macht daß auch etwas davon in unß selbst gepflanzet und erwecket wird,
10 Nouveaux essais I (Fn. 8), S. 53–55, 63 (näher oben im 9. Kapitel VI).
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wie dann kein Zweifel, daß wer viel mit treflichen leuten und sachen umbgehet, auch davon vortreflicher werde.11
Vollkommenheit wiederum bedeutet Ordnung, Zusammenstimmung und Harmonie, weil sie Einheit in der Vielheit ist : »Wo es keine Verschiedenheit gibt, da gibt es keine Harmonie ; an Harmonie mangelt es aber auch dort, wo die Vielheit ohne Ordnung ist.«12 Die Dinge der Welt wirken angenehm, soweit sie geordnet sind. Über das Glück hinaus ist das Streben der Menschen also auf Ordnung und Harmonie gerichtet, die Leibniz ebenfalls als Merkmale der Vollkommenheit begreift. Aus juristischer Perspektive verdient dabei Hervorhebung, dass auch eine gerechte Ordnung die Empfindung von Vollkommenheit erregen kann. Leibniz hat wiederholt versucht darzulegen, wie im Gebiet der Gerechtigkeit Vollkommenheit zu erreichen sei. Die Formel lautet : Vereinigung von Individual- und Kollektivwohl ! In seiner Lehre von den drei Stufen des Naturrechts wird die Formel dort virulent, wo es um das Verhältnis von ius strictum und aequitas geht. Ziel ist es, die beiden Stufen so zu vereinigen, dass »alles, was öffentlich, d.h. für das Menschengeschlecht und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es auch für die einzelnen nützlich ist«.13 In der Jurisprudenz ist das Streben nach Vollkommenheit also auf Ordnung durch Gerechtigkeit gerichtet. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt darin, dass sie eine Vereinigung von Gegensätzen, und zwar von Individual- und Solidarinteressen, von Eigennutz und Gemeinwohl leisten muss. Die Behauptung einer Ordnungsfunktion der Gerechtigkeit führt folglich zur Idee eines Zusammenfalls der Gegensätze (coincidentia oppositorum), die aus sich selbst heraus nicht ohne Weiteres verständlich ist. Leibniz hat sie im breiteren Kontext einer auf
11 Synopsis libri cui titulus erit : Initia et Specimina Scientiae novae Generalis pro Instauratione et Augmentis Scientiarum ad publicam felicitatem, in : Philosophische Schriften VII (Fn. 5), S. 64– 123, 86 (Hervorhebung im Original). Weitere Nachweise unten III 3. Dass die sittliche Aufgabe des Menschen im Streben nach Vollkommenheit besteht, hat Leibniz wiederholt hervorgehoben, vgl. z.B. den Bericht an die Herzogin von Orleans über die mit Kurfürstin Sophie von Hannover im März 1696 geführten wissenschaftlichen Gespräche (September 1696), in : Philosophische Schriften VII (Fn. 7), S. 539–541, 541. 12 Brief an Christian Wolff vom 18. Mai 1715, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff (1860), S. 168–172, 172 (»perfectio est harmonia rerum«) ; Elementa verae pietatis, sive de amore Dei super omnia (1679 ?), in : Gaston Grua (Hg.), Textes inédits d’après les manuscrits de la bibliothèque provinciale de Hanovre (1948), Bd. I, S. 7–17, 12. 13 Nova methodus II (Fn. 2), § 75 (S. 83). Dazu näher (mit ausführlicher Wiedergabe der Stelle) oben 7. Kapitel V (bei Note 73) und 9. Kapitel I (bei Note 10).
Die Ordnungsfunktion der Gerechtigkeit
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Liebe, Weisheit, Glück, Ordnung, Vollkommenheit und Harmonie gegründeten Gerechtigkeitslehre entwickelt, die im Folgenden kurz umrissen sei.
III. Die Ordnungsfunktion der Gerechtigkeit : Vereinigung von Individual- und Kollektivwohl Zu Leibniz’ Zeiten war die Auffassung verbreitet, alles menschliche Handeln sei selbstbezogen. So stellte man sich das Wirtschaftsleben als einen Mechanismus vor, wo ein jeder nach seinem Nutzen handelt und eine größtmögliche Befriedigung aller Gesellschaftsmitglieder erreicht wird, wenn nur das Prinzip des Egoismus gewahrt bleibt. Jede interventionistische Maßnahme von außerhalb der Wirtschaft musste als Angriff auf die individuelle Handlungsfreiheit und als Hindernis für die Entfaltung wirtschaftlicher Triebkräfte erscheinen.14 Unter diesen Prämissen waren Korrekturen formaler Rechtspositionen durch die Billigkeit nur schwer vorstellbar. Leibniz teilt nun den etwa von Hobbes auch in den Gebieten von Recht und Moral vertretenen Standpunkt, dass menschliches Handeln selbstbezogen sei.15 Allerdings bezweifelt er, dass dadurch, gleichsam mechanisch, auch die Summe aller Interessen gefördert werde. Er beschreitet andere Wege, um eine Vereinbarkeit von Individual- und Kollektivwohl zu begründen. 1. »Liebe« – das erste Prinzip der Gerechtigkeit
Als Ausgangspunkt wählt er den Begriff »Liebe«, worüber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein heftiger Streit entbrannt war. Die Kontroverse kreiste vornehmlich um die Frage, ob es eine reine, uneigennützige, ›interesselose‹ Liebe überhaupt gebe oder ob nicht auch die Liebe durch das Prinzip des Egoismus beherrscht sei.16 Leibniz räumt nun ein, dass die Liebe den Interessen des Liebenden diene, fordert aber zugleich auch eine Liebe um des Geliebten willen : Es 14 Vgl. den Überblick bei Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 394–397. 15 Siehe z.B. Elementa Juris Naturalis, Nr. 4 (Fn. 8), S. 461 (Die Klugheit lässt sich vom eigenen Wohl nicht trennen ; was dagegen vorgebracht wird, ist töricht. Niemand tut etwas mit Überlegung, es sei denn um des eigenen Wohles willen). 16 Vgl. Emilienne Naert, Leibniz et la querelle du pur amour (1959) ; Albert Heinekamp, Das Glück als höchstes Gut in Leibniz’ Philosophie, in : The Leibniz Renaissance (1986), S. 99–125 ; Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts, in : »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (Fn. 4), S. 29–53 (mit weiteren Nachweisen) ; Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Fn. 8), S. 178–182 ; ders., Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 23–29
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sei keine Liebe, wenn der Geliebte nur als Mittel zur Erfüllung der eigenen Wünsche ›geliebt‹ werde.17 Auf dieser Grundlage setzt er sich kritisch mit Gerechtigkeitskonzeptionen auseinander, die nur eines der beiden spannungsreichen Momente, also entweder den Eigennutz oder das Gemeinwohl, in den Blick fassen. So soll der griechische Philosoph Karneades behauptet haben, Gerechtigkeit sei »die höchste Dummheit«, weil sie gebiete, fremdem Vorteil zu dienen und seinen eigenen hintanzustellen.18 Leibniz meint nun, das sei ein schwerer Irrtum, der auf einer »Unkenntnis der Definition« von Gerechtigkeit beruhe. Den Einseitigkeiten der karneadischen Position stellt er sein dynamisches Verständnis von Gerechtigkeit gegenüber, wonach Eigennutz und Gemeinwohl so zu optimieren seien, dass mit der Verfolgung eigener Interessen der soziale Gewinn für die Allgemeinheit möglichst gesteigert werde.19 Abermals zeigt sich also, dass Leibniz’ Verständnis der Gerechtigkeit nicht auf irgendeine festgelegte Harmonie oder bloße Proportionen beschränkt ist, sondern die bewusst vollzogene Handlung mitumfasst. In diesem dynamischen Moment dürfte sogar der eigentliche Grund dafür liegen, dass er die Gerechtigkeit als »Liebe des Weisen« (caritas sapientis) charakterisiert.20 Deren erstes Prinzip, nämlich das der Liebe, erklärt er wie folgt : Lieben (amare) aber heißt, sich an der Glückseligkeit eines anderen zu erfreuen oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Glückseligkeit eines anderen sich zu eigen machen. Damit ist das schwierige, auch in der Theologie schwerwiegende Problem gelöst, wie es eine uneigennützige Liebe geben kann, geschieden von Hoffnung, Furcht und jeglicher Rücksicht auf den eigenen Vorteil : Wessen Glückseligkeit uns erfreut, dessen Glückseligkeit greift auf unsere eigene Glückseligkeit über, denn was erfreut, wird um seiner selbst willen erstrebt.21 (zu Leibniz’ Kritik an F. Fénelons Quietismus, dessen Liebesbegriff zur Vernichtung der Rechte des Individuums und damit zur Substanzauflösung führen würde). 17 Z.B. Elementa verae pietatis, in : Grua I (Fn. 12), S. 10. 18 Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 166–169, 167. Das unter der Bezeichnung »Brett des Karneades« bekannt gewordene Gedankenexperiment ist durch Cicero überliefert worden, De officiis, 3, 89 f. Auch Grotius hat sich damit befasst, De jure belli ac pacis (1625). Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel (1950), Vorrede (§ 5). 19 Dass Leibniz im Zeitalter des Optimierungsdenkens die höchste Stufe des Naturrechts auch nach »ökonomischem Kalkül« versteht, hat Busche überzeugend herausgearbeitet, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts (Fn. 16), S. 51–53. 20 Praefatio (Fn. 18), S. 167 ; Brief an Arnauld, März 1690, in : Hauptschriften II (Fn. 5), S. 255–257, 257 (»Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Liebe des Weisen«). 21 Praefatio (Fn. 18), S. 166–169, 167 f. (Hervorhebung im Original). Im Kontext mit höherer Ge-
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2. »Weisheit« – das zweite Prinzip der Gerechtigkeit
Leibniz sieht in der »Liebe« also eine Mittlerin zwischen eigenem und fremdem Vorteil. Er geht sogar so weit, sie mit der Gerechtigkeit zu identifizieren : »Weil also die Gerechtigkeit fordert, das Wohl eines anderen um seiner selbst willen zu erstreben«, und weil dies bedeutet, »andere zu lieben, folgt aus der Natur der Gerechtigkeit, dass sie Liebe ist«.22 An anderer Stelle heißt es : »Liebe und Gerechtigkeit können nicht getrennt behandelt werden.«23 Das aktive Moment der Gerechtigkeit kommt zudem in einer Formulierung zum Ausdruck, die zugleich auf ihr zweites Prinzip, nämlich das der Weisheit, aufmerksam macht : »Die Liebe ist ein allumfassendes Wohlwollen, dessen tätige Verwirklichung der Weise gemäß den Vernunftgesetzen durchführt, um das höchste Gut zu erreichen.«24 Die Weisheit stellt also sicher, dass sich die als Liebe erkannte höchste Gerechtigkeit gleichwohl an »Gesetzen«, d.h. an rationalen Maßstäben orientieren muss.25 Darüber hinaus identifiziert Leibniz Liebe und Gerechtigkeit mit dem ›Guten‹ : »Ein guter Mensch ist, wer alle Menschen liebt.«26 Diese Aussage wird in der berühmten Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus von 1693 wie-
rechtigkeit gebraucht Leibniz sowohl amor als auch caritas für Liebe. Diese Liebe müsse aber von der Nächstenliebe (caritas) »im engeren Sinne« (angustiore scilicet sensu) unterschieden werden, welche die (lediglich auf eine »gegenwärtige Zufriedenheit« gerichtete) Billigkeit (als Element der partikularen Gerechtigkeit) kennzeichne, Praefatio, a.a.O., S. 169 (vgl. 3. Kapitel IV 1 a.E.; 8. Kapitel IV). Der Unterschied kommt auch in der Feststellung zum Ausdruck, dass sich die höchste Gerechtigkeit (iustitia universalis, pietas), nicht aber die Billigkeit (als Element der partikularen Gerechtigkeit) jeder Art von positiver Gesetzgebung entzieht (siehe 7. Kapitel V 2). Leibniz versucht in seiner Rechtsphilosophie nicht nur den Inhalt und die Geltung von Normen unabhängig von der Existenz Gottes zu formulieren, sondern auch die Kerngedanken der Theologie widerspruchsfrei abzubilden. So findet die Übergesetzlichkeit der Gerechtigkeit eine Entsprechung in der paulinischen Charakterisierung der Liebe als »des Gesetzes Erfüllung« (Röm. 13, 10). 22 Elementa Juris Naturalis, Nr. 4 (Fn. 8), S. 464 f. 23 Elementa Juris Naturalis, Nr. 6 (Fn. 8), S. 481 (»weder Moses noch Christus, weder die Apostel noch die frühen Christen haben ein anderes Kriterium der Gerechtigkeit überliefert als das, welches in der Liebe besteht. Auch ich habe es, nachdem ich unzählige Begriffe der Gerechtigkeit geprüft habe, als das vorzüglichste ermittelt, weil es sowohl universal als auch reziprok ist«). 24 Brief an Arnauld, März 1690 (Fn. 20), S. 257. 25 Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Fn. 8), z.B. S. 141, 205 (charity regulated by wisdom) ; Heinekamp, Das Glück als höchstes Gut in Leibniz’ Philosophie (Fn. 16), S. 105 (»vernunftgeleitete Liebe«) ; Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts (Fn. 16), S. 48. Vgl. auch Ciceros Bestimmung der Philosophie als »Streben nach Weisheit« (De officiis, 2.5). 26 Demonstratio Propositionum primarum (1671–1672 ?), in : AA VI 2, S. 479–486, 485.
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derholt, allerdings mit der Einschränkung : »soweit die Vernunft dies zuläßt«.27 Im Hintergrund steht abermals der Gedanke, dass die Liebe rationalen Kriterien unterworfen werden, dass »die Weisheit die Liebe anleiten muß«.28 Von dem zweiten Prinzip der Gerechtigkeit gibt Leibniz je nach Kontext ganz unterschiedliche Definitionen. So sagt er in seiner Schrift über das glückliche Leben : »Die Weisheit ist eine vollkommene Wißenschaft.«29 Dieses rationale, vernunftgeleitete, ja szientifische Verständnis von Weisheit kommt auch in anderen Zusammenhängen zum Ausdruck, etwa, wenn es heißt : Weisheit ist die »Wissenschaft vom Guten«.30 Ferner zieht Leibniz eine begriffliche Parallele zwischen Weisheit, Liebe und dem Guten : »Wer die Weisheit hat, liebet alle.«31 Und, wie bereits ausgeführt, ist es das Merkmal eines »guten Menschen, daß er alle liebt«.32 In seiner Demonstratio Propositionum primarum gibt Leibniz noch eine weitere Definition von »Weisheit«, wenn er sie als »Wissenschaft der Glückseligkeit« bezeichnet.33 Diese Definition wird in der Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus erneut aufgegriffen, wo er die »Gerechtigkeit« im Schnittfeld zwischen Liebe und Weisheit darstellt.34 In der Praefatio lässt Leibniz freilich offen, was er unter »Glückseligkeit« eigentlich versteht. Dies muss überraschen, weil die Glückseligkeit eine Schlüsselrolle in seiner Theorie der Gerechtigkeit spielt : Wie schon ausgeführt, erscheint das instinktgeleitete und für den Begriff der Gerechtigkeit relevante Streben nach Glückseligkeit als etwas ganz Natürliches. Doch erschöpft sich die Gerechtigkeit nicht in diesem Streben. Hinzu kommen 27 Praefatio (Fn. 18), S. 167. 28 Praefatio (Fn. 18), S. 169. 29 De Vita Beata. Von Glückseeligkeit, in : Philosophische Schriften VII (Fn. 5), S. 90–104, 90. 30 Brief an Honoratio Fabri (Ende 1676), in : AA II 1, S. 286–301, 299 (Hervorhebung nicht im Original). 31 Erklärung einiger Worte, in : Philosophische Schriften VII (Fn. 5), S. 75–77, 77 ; ähnlich bereits in den Elementa Juris Naturalis, Nr. 4 (Fn. 8), S. 461 (es ist ein Zeichen von Weisheit, wenn man liebt, was für einen selbst gut ist, und dieses ist gleichzeitig gerecht oder gut für die Allgemeinheit). Abermals zeigt sich die Nähe der höchsten Gerechtigkeit zur Billigkeit, wenn es heißt : »billig ist es, alle anderen zu lieben, sooft es in Frage kommt«, Elementa Juris Naturalis, Nr. 4 (Fn. 8), S. 465. 32 Demonstratio Propositionum primarum (Fn. 26), S. 485. 33 Demonstratio Propositionum primarum (Fn. 26), S. 485. 34 Praefatio (Fn. 18), S. 169 (er wiederholt hier die gut zwanzig Jahre vorher in der Demonstratio Propositionum primarum formulierte Aussage : »Weisheit ist das Wissen um die Glückseligkeit«). Siehe auch die Ausführungen im Brief an Arnauld, März 1690 (Fn. 20), S. 257 (»Die Weisheit ist das Wissen um die Glückseligkeit oder um die Mittel, zu einer dauerhaften Befriedigung zu gelangen, die in einem immerwährenden Fortschritt zu stets größerer Vollkommenheit, oder doch zum mindesten in der Mannigfaltigkeit eines und desselben Grades von Vollkommenheit besteht«).
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das Verlangen nach Veränderung, nach Vollkommenheit, Ordnung und Harmonie. In ihrer Verschränkung mit Vollkommenheit, Ordnung und Harmonie bedarf daher auch die »Glückseligkeit« der Erläuterung. 3. Glückseligkeit, Ordnung, Vollkommenheit und Harmonie zwischen Recht und Ästhetik
Es ist das Zusammenspiel von Weisheit und Liebe, das zur Vollkommenheit und damit auch zur Glückseligkeit führt, wobei der Begriff der Liebe abermals den Ausgangspunkt bildet : »zu lieben heißt, Freude in der Glückseligkeit anderer zu finden« ; und »Freude zu finden bedeutet Harmonie«.35 Mit »Harmonie« ist ein Stichwort genannt, das auf weitere Zusammenhänge schließen lässt. Erinnert sei zunächst an die sowohl in der Demonstratio als auch in der Praefatio anzutreffende Aussage : »Ein guter Mensch ist, wer alle liebt.«36 Das wahre Gute liegt aber in der Vollkommenheit : Lust, Vergnügen, Freude, Glückseligkeit sind die »Empfindung einer Vollkommenheit«.37 Die Dinge der Welt gefallen, sie wirken angenehm, sie bereiten Freude, Glück und Vergnügen, soweit sie geordnet sind. Es schließt sich hier der Kreis von der Ordnungsfunktion der Gerechtigkeit zum dynamischen Moment der Monade – als Kraft, als Streben nach Vollkommenheit : Wenn nun die Seele in ihr selbst eine große zusammenstimmung, ordnung, freyheit, krafft oder vollkommenheit fühlet, und folglich daran lust empfindet, so verursachet solches eine Freude, wie aus allen diesen und obigen erclärungen abzunehmen.38
Diese Aussage will Leibniz aber keineswegs auf die substantielle Form einer Monade, d.h. auf ihr »Wesen« beschränken. Er erstreckt sie auch auf ihre Handlungen – die »operationen«, von denen bereits die Rede war.39 Denn wir ähneln im kleinen der Gottheit, und zwar auch hinsichtlich der Fähigkeit, die uns betreffenden Dinge zu ordnen […], und darin besteht unsere Tüchtigkeit und 35 Demonstratio Propositionum primarum (Fn. 26), S. 485. 36 Praefatio (Fn. 18), S. 167 ; Demonstratio Propositionum primarum (Fn. 26), S. 485. 37 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis pro Instauratione et Augmentis Scientiarum ad publicam felicitatem (Fn. 11), S. 86 ; Von Glückseeligkeit (Fn. 29), S. 90 (weitere Nachweise oben II bei Note 11). 38 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis (Fn. 11), S. 88. 39 Siehe 9. Kapitel III 2 (sowie auf die Vollkommenheit »fremder Dinge«, siehe oben II).
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Vollkommenheit, wie unser Glück in dem Vergnügen besteht, welches wir daraus schöpfen.40
Als Einheit in der Vielheit bezieht Leibniz Vollkommenheit, Freude, Glück und Harmonie also sowohl auf die innere als auch auf die äußere Ordnung, sowohl auf das »Wesen« als auch auf die »operationen«. Unsere Fähigkeit, »fremde Dinge« zu ordnen und daran Freude zu empfinden, erläutert er vornehmlich an Beispielen aus der Ästhetik : Die schläge auff der trummel, der tact und die cadenz im danzen, und sonst dergleichen bewegungen nach maaß und regel haben ihre annehmlichkeit von der ordnung, denn alle ordnung komt dem gemüth zu hülffe, und eine gleichmäßige, obschohn unsichtbare ordnung findet sich auch in den nach kunst verursachten schlägen oder bewegungen der zitternden oder bebenden seiten […], die dann auch ferner in uns vermittelst des gehörs einen mitstimmenden wiederhall machet, nach welchem sich auch unsere lebensgeister regen […] Und ist nicht zu zweifeln, daß auch im fühlen, schmecken und riechen die süßigkeit einer gewißen, obschohn unsichtbaren ordnung und vollkommenheit oder auch bequemlichkeit bestehe, so die natur darein geleget […] und daß also aller angenehmen dinge rechter gebrauch uns würklich zu statten komme.41
Leibniz will hier zeigen, dass die Kunst vor allem durch eine bestimmte Art der Ordnung, durch Vollkommenheit und Harmonie auf den Menschen wirkt. Als zentrale Themen seiner Philosophie verbinden Vollkommenheit, Harmonie und Ordnung so verschiedene Gebiete wie Recht, Moral, Politik oder Ästhetik mit der Metaphysik. Sie spielen namentlich für den Begriff der Gerechtigkeit eine wichtige Rolle : Wie eine »schöne Musik oder eine gute Architektur« vermag auch eine gerechte Ordnung »die harmonischen Geister zu befriedigen«.42 40 An die Königin Sophie Charlotte von Preußen (Fn. 7), S. 507. In eine ähnliche Richtung weist die Feststellung, dass Monaden zweckbestimmt handeln. Zweck des Handelns ist es, eine Einheit in der Vielheit zu erreichen, also Harmonie und Ordnung : »Der Grund dafür, daß ein Geist handelt, oder der Zweck der Dinge ist die Harmonie, für den vollkommensten Geist ist es die höchste Harmonie«, Confessio Philosophi (1672–1673 ?), in : AA VI 3, S. 115–149, 146. 41 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis (Fn. 11), S. 87. Über die Musik hinaus bezieht sich Leibniz auch auf Malerei und Architektur, Initia et Specimina, a.a.O., S. 86 ; Theodicée I (Fn. 5), § 73 (S. 135) ; Praefatio (Fn. 18), S. 169. Siehe auch die Stelle oben II (bei Note 11), wo er »sonderliche schöhnheit eines andern Menschen, auch wohl eines thieres, ja gar eines leblosen geschöpfes, gemähldes oder kunstwercks« mit Vollkommenheit in Verbindung bringt. 42 Z.B. Theodicée I (Fn. 5), § 73 (S. 135) ; Praefatio (Fn. 18), S. 169. Die Ausführungen zu Schön-
Das Individuum als Medium zur Verwirklichung der Gerechtigkeit
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Wer dieses Ziel erreichen möchte, muss imstande sein, die Kluft zwischen ius strictum und Billigkeit zu überwinden. Wenn es gelingt, den Konflikt so zu lösen, dass alles, was »für die einzelnen nützlich ist«, auch »das Gemeinwohl fördert«,43 dann bedeutet dies sowohl Vollkommenheit, Ordnung, Harmonie als auch Freude, Vergnügen und Glückseligkeit. Daraus darf freilich nicht gefolgert werden, Leibniz kenne keinen Gegensatz zwischen Fremd- und Eigennützigkeit.44 Er weiß sehr wohl um die Unvollkommenheiten der Kreaturen. Was Gott tut, ist zweifellos für alle gut, während die an einen Körper gebundenen Menschen oft aus purem Egoismus handeln.45 Eine vollkommene ›Harmonie‹ zwischen privaten und öffentlichen Interessen kann es nur im Reich der Gnade, in der Gemeinschaft der Geister mit Gott, im göttlichen und besten Staat geben. Den irdischen Staaten wird sie aber als Modell mit der Forderung dienen, fremdnütziges Handeln und utilitas propria in ein optimales Verhältnis zu bringen. Angesichts der Unvollkommenheiten weltlicher Herrschaft lassen sich diese Ziele nur annäherungsweise erreichen.
IV. Das Individuum als Medium zur Verwirklichung der Gerechtigkeit Einmal mehr zeigt sich also, dass die Jurisprudenz den engen Rahmen einer Fachdisziplin übersteigt. Gerade auch unter den Gesichtspunkten von Ordnung und Harmonie darf sie als »Kenntnis von den göttlichen und menschlichen Dingen« verstanden werden. Wie aber können Individual- und Kollektivwohl in der Praxis, zumindest annäherungsweise, vereinigt werden ? Hier ist zunächst daran heit, Vollkommenheit und Harmonie stehen unter der Prämisse, dass Perfektion zu unmittelbarer Glückseligkeit und Freude führt. Diese Unmittelbarkeit charakterisiert Leibniz als »reine Bewegung der Freude«, deren Merkmal darin besteht, daß sie interesselos ist, siehe Dialogue sur des sujets de réligion (1679), in : A. Foucher de Careil (Hg.), Oeuvres de Leibniz (1859–1875), Bd. II (1860), 2. Auflage (1869), S. 520–554, 550 (sans autre intérest) ; näher Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Fn. 8), S. 180–181 (dort auch zu den Verbindungen mit Malebranches berühmtem Traité de l’amour de Dieu von 1697). Von hier aus führt eine Linie zu den Begriffen des interesselosen Interesses und der reflektierenden Urteilskraft, die Kant in den Mittelpunkt seiner Ästhetik rückte, vgl. Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung (1999). 43 Nova methodus II (Fn. 2), § 75. Siehe auch oben (und mit ausführlicher Wiedergabe der Stelle), 7. Kapitel V (bei Note 73) und 9. Kapitel I (bei Note 10). 44 So aber Heinekamp, Das Glück als höchstes Gut in Leibniz’ Philosophie (Fn. 16), S. 112 (auch Jhering hat Leibniz offenbar so verstanden, vgl. 12 Kapitel I 3). 45 Leibniz, De debitis et illicitis, in : Georg Mollat (Hg.), Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1893), S. 90–93, 91 (von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den moralischen Unzulänglichkeiten und Übeln in der Welt, siehe die Ausführungen im 8. Kapitel III).
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zu erinnern, dass wir die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit in uns tragen, dass die Liebe des Weisen (caritas sapientis) also vom Individuum aus ihre Wege in das Rechtsgeschehen findet. Denn eine jede Monade spiegelt das Universum von einem bestimmten Gesichtspunkt aus. Und diese Spiegelung erstreckt sich auch auf die »Elemente der Dinge« – die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit.46 Dies verdient Hervorhebung, weil durch die Spiegelung ein Licht auf die Frage fällt, wie und unter welchen Voraussetzungen der Einzelne als Individuum oder Amtsträger eine gerechte Entscheidung treffen kann. Diese Frage stellt sich insbesondere dort, wo der Normenbestand Defizite oder Leerstellen aufweist. Leibniz hat das in den Rechtswissenschaften bis heute eher stiefmütterlich behandelte Thema wiederholt zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht. So dürfte sein Interesse an der Beobachtung von Einzelfällen daher rühren, dass diese ihm wie eine Fundgrube, und zwar nicht nur für Leerstellen im Normenbestand, sondern auch für Beispiele des Rechthandelns von Entscheidungsträgern erscheinen mussten. Von hier aus ergeben sich Verbindungen mit aktuellen Bestrebungen, den Akt der Rechtsanwendung hinter den Akteur einer juristischen Entscheidung zurückzustellen. Dies sei im Folgenden an zwei Beispielen illustriert. 1. Vom Akt der Rechtsanwendung zum Akteur der juristischen Entscheidungsfindung
Seit einigen Jahren werden in Deutschland Werke mit Titeln wie »Das Proprium der Rechtswissenschaft«, »Rechtswissenschaftstheorie« oder »Selbstreflexion der Rechtswissenschaft« publiziert.47 Im Hintergrund steht das Bemühen von Rechtswissenschaftlern, sich über die Rolle der Grundlagen, die Eigenarten und den Wandel ihrer Disziplin Rechenschaft abzulegen. Zu den Themen, die in diesem Zusammenhang erörtert werden, gehört die Frage, ob die Rechtswissenschaft eine hermeneutische Wissenschaft, ob sie eine Interpretationswissenschaft ist. Dies wird meist bejaht, allerdings mit der Einschränkung, dass die »juristische Hermeneutik zu Steuerungsproblemen nichts« beizutragen habe.48 Hier inter46 Dazu näher oben I (bei Noten 6 und 7) sowie sogleich unten. 47 Christoph Engel, Wolfgang Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) ; Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie (2008) ; Eric Hilgendorf, Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft (2014). 48 Z.B. Stefan Magen, Entscheidungen unter begrenzter Rationalität als Proprium des Öffentlichen Rechts, in : Das Proprium der Rechtswissenschaft (Fn. 47), S. 303–310, 306, 303 (ob diese Einschränkung zutrifft, darf bezweifelt werden. Leibniz’, Savignys oder Schleiermachers anspruchsvollem Hermeneutikbegriff wird ein solches, auf ›gesetzestreue Rechtsanwendung‹ verkürztes Verständnis sicher nicht gerecht, vgl. 8. Kapitel VI).
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essiert vor allem die Charakterisierung der Rechtswissenschaft als »Handlungsund Steuerungswissenschaft«.49 Nach Maßgabe eines steuerungswissenschaftlichen Ansatzes rückt anstelle des isolierten Rechtsanwendungsaktes der Akteur und damit das Individuum als Teilnehmer am Prozess der Rechtserzeugung in den Brennpunkt der juristischen Entscheidungsfindung.50 Als Steuerungswissenschaft würde die Rechtswissenschaft damit jene Art von ›Methodenehrlichkeit‹ an den Tag legen, die ihr als Interpretationswissenschaft, etwa in Gestalt der vermeintlich ›objektiven‹ Theorie der Auslegung, gerade abgesprochen wird. Das Problem dieser in Wissenschaft und Rechtsprechung heute nahezu unangefochten herrschenden ›objektiven‹ Theorie ist bekannt und muss hier nicht näher erläutert werden. Es besteht darin, dass sie als »Gesetz« bezeichnet, was in Wirklichkeit oft ›Steuerung‹ und damit Normsetzung durch den Interpreten ist. Begründet wird die ›objektive‹ Theorie mit dem Argument, das Gesetz führe nach seiner Publikation ein Eigenleben und sei oft klüger als diejenigen, die es verfasst haben.51 Unter den Prämissen eines steuerungswissenschaftlichen Ansatzes wäre diese Aussage wie folgt zu korrigieren : Nicht das Gesetz, sondern der Normanwender ist klüger als der Gesetzgeber. In Wahrheit legt also auch die ›objektive‹ Theorie den Akzent auf den Akteur, und dieser wird vornehmlich dann in den Fokus der Entscheidungsfindung rücken, wenn der vorhandene Normenbestand zu ungerechten Ergebnissen führt oder Defizite aufweist, die durch eine Fortbildung des Rechts oder die Gewinnung neuer Normen beseitigt werden müssen. Ob die jeweiligen Ergebnisse 49 Zur Steuerungsfunktion der Rechtswissenschaft siehe etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in : Eberhard Schmidt-Aßmann, Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft (2004), S. 9–72 ; Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in : Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann, Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts, Bd. I (2012), § 1 Rn. 1, 15. 50 Vgl. Matthias Jestaedt, »Öffentliches Recht« als wissenschaftliche Disziplin, in : Das Proprium der Rechtswissenschaft (Fn. 47), S. 241–281, 259–261. 51 Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 120–124. Dabei wird jedem Gesetz das Streben nach einer Regelung unterstellt, die ›sachgemäß‹ sei – die den »Strukturen des geregelten Sachbereichs« und den »tatsächlichen Gegebenheiten« entspreche, um eine »gerechte Streitentscheidung« zu ermöglichen, vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage (1991), S. 333–339 ; Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Auflage (1995), S. 153–159. Eine solche »Methodenlehre« bekennt sich also zu einem rechtspositivistischen Ansatz, indem sie vorgibt, das Gesetz ohne eigene Zutaten wiederzugeben. In Wirklichkeit bringt sie aber selbständige Regeln oder Quellen zur Anwendung, die früher als eine Spielart des ius non scriptum unter Stichworten wie ›Natur der Sache‹ oder aequitas erörtert wurden (4. Kapitel I).
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seiner Arbeit »zutreffen«, ist mit den Bordmitteln der Dogmatik nicht immer zuverlässig zu beantworten. Der Jurist muss Sprachfähigkeit besitzen, mit welcher er nicht nur andere Juristen, sondern auch eine kritische Öffentlichkeit zu überzeugen vermag.52 Dabei bedürfen oft auch Grundsatzprobleme einer neuen Lösung. Als Beispiele aus dem Zivilrecht wären Fragen nach dem Sinn des Persönlichkeitsrechts oder nach den Funktionen des Schadensersatzes und seinem Verhältnis zur Strafe zu nennen, die unter Bezeichnungen wie »Soraya« oder »Kind als Schaden« bekannt geworden sind. Dass derart ›perplexe‹ Fälle auf Grundlage des vorhandenen Normenbestands nicht adäquat gelöst werden können, ist oft bemerkt worden. Für die heutigen Gerichte erwächst daraus ein doppeltes Problem : Zum einen arbeiten sie unter erheblichem Zeitdruck und haben an Argumentationslasten daher besonders schwer zu tragen. Hinzu kommt, dass ihnen die Befugnis zur Rechtsfortbildung allgemein abgesprochen wird. So sehen sie sich nach wie vor genötigt, bei der »Sachgerechtigkeit« Zuflucht zu suchen, was Reminiszenzen an die alte ›Natur der Sache‹ oder aequitas weckt.53 In eine ähnliche Richtung zielt 52 Um festzustellen, welche Bedeutung Leibniz der Rhetorik beimaß, wäre eine selbständige Studie erforderlich (genauere Untersuchung verdienen z.B. seine häufigen Bezüge auf Quintilian, dessen Werk vor allem in der Epoche des juristischen Humanismus große Wirkungsmacht entfaltet hat). Jedenfalls legte er auf die rhetorische Ausbildung des Juristen großen Wert. Denn dieser müsse lernen, aus der jeweiligen Situation heraus zu argumentieren, er müsse, wie es im lateinischen Original wörtlich heißt, »vom Mund auß in die Feder verfahren«, Nova methodus (Fn. 2), S. 361. 53 Ein Beispiel für die Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts bildet der viel diskutierte Beschluss vom 26. Juni 1991 zur Beschränkung von Aussperrungen (BVerfGE 84, S. 212–232) : Die Gerichte müssen beim Schweigen des Gesetzes das Recht »aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen« ableiten. Denn sie haben die Pflicht, »jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden« (S. 226 f.; siehe auch BVerfGE 9, S. 349 : »Gesetzlichkeiten, die in der Sache selbst liegen, und die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen« dürfen nicht missachtet werden). Die Befugnis zu schöpferischer Normbildung hat das höchste Gericht der Rechtsprechung häufiger attestiert, z.B. auch in dem berühmten Beschluss vom 14. Februar 1973 (BVerfGE 34, S. 269–293) zum Geldersatz für immaterielle Schäden (»Soraya«) : Die richterliche Entscheidung habe sich »an den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft« zu orientieren (S. 287). Die Alternative, nämlich »eine Regelung durch den Gesetzgeber abzuwarten«, sei »nach Lage der Dinge nicht als verfassungsrechtlich geboten« zu erachten (S. 290–291). In bestimmten Situationen muss also auch contra legem entschieden werden, um den Betroffenen hinreichenden Schutz zu gewähren. In seinem Beschluss vom 12. November 1997 sucht das Gericht, diese Situationen näher zu umschreiben (BVerfGE 96, S. 375–407). Es nennt u.a. folgende Argumente, um eine Korrektur des ›geschriebenen Gesetzes‹ durch das ius non scriptum zu rechtfertigen : Beschleunigter Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, zunehmender zeitlicher Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung, begrenzte Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers, offene
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der häufige Rekurs auf Zumutbarkeit, Härte, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit oder sonstige Gesichtspunkte der Gerechtigkeit. Wer diese Argumente einer genaueren Beobachtung unterzieht, könnte in der Tat den Eindruck gewinnen, die Rechtsordnung unterstünde einem allgemeinen Billigkeits- oder Gerechtigkeitsvorbehalt.54 2. Jan Klabbers’ Entwurf einer neuen Tugendethik
Das Problem scheint also darin zu liegen, dass die bloße Existenz von Regeln nicht ausreicht und häufig das Handeln des Einzelnen den Ausschlag gibt. Diesen Gedanken hat jüngst der niederländische Rechtswissenschaftler Jan Klabbers mit seinem Versuch aufgegriffen, eine Tugendethik für internationale Amtsträger, darunter Richter und Bedienstete bei Internationalen Organisationen, zu formulieren.55 Nicht anders als für Leibniz bilden auch für Klabbers’ Defizite im Normenbestand den Ausgangspunkt : Es gebe Fälle, in denen nur wenige oder gar keine Normen zur Verfügung stünden ; hinzu kämen Konflikte zwischen mehreren Berechtigungen oder Situationen, in denen veraltete Vorschriften zu unerträglichen Ergebnissen führen. Ferner würden manche Normen denen, die zu entscheiden hätten, so viel Freiheit gewähren, dass es nachträglich kaum möglich sei, eine Regelverletzung anzuprangern.56 Nun will Klabbers gar nicht bezweifeln, dass komplexe Gesellschaften (complex societies) einen deontologischen Rahmen benötigen. Doch müsse endlich realisiert werden, dass dieser häufig nicht ausreiche. Zusätzlich bedürfe es einer Tugendethik, um das Verhalten von Amtsträgern oder Führungspersönlichkeiten auch jenseits von RechtsFormulierung zahlreicher Normen (S. 394–396). Mit den Antworten, die in den einschlägigen Entscheidungen auf die drängende Legitimationsfrage gegeben werden, hätte sich Leibniz wohl durchaus anfreunden können : Überzeugungskraft der Gründe, Übereinstimmung mit den Maßstäben praktischer Vernunft, keine Willkür, Autorität bzw. Kompetenzen des Gerichts und immer wieder »Sachgerechtigkeit«. Er hätte sich in seiner Auffassung bestärkt gesehen, dass der Begriff des Rechts über das ius voluntarium hinausgeht, in bestimmten Situationen ein Rekurs auf höheres Recht also unausweichlich ist. Die Rede von einem »geschriebenen Gesetz« (z.B. BVerfGE 34, 269, 287, 291) wäre bei dem sprachempfindlichen Philosophen freilich auf Ablehnung gestoßen, weil er darin eine Tautologie erblickt hätte. 54 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 320–327, 325 f. (dort auch zu den Gründen, warum die Gerichte keine Befugnis zur Normschöpfung haben sollen und die in der vorstehenden Note grob skizzierten Argumente der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit dem ius strictum daher kollidieren). 55 Jan Klabbers, Controlling International Organizations : A Virtue Ethics Approach, in : International Organizations Law Review 8 (2011), S. 285–289. 56 Klabbers, Controlling International Organizations (Fn. 55), S. 287, 288.
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regeln (rules) adäquat bewerten zu können. In den Fokus rückt dabei ein Begriff, auf welchen schon die römischen Juristen und auch Leibniz rekurrierten, nämlich die »honesty« (honestas, honeste vivere), die Klabbers unter Stichworten wie modesty, courage, empathy oder sens of justice zu konkretisieren sucht.57 Leibniz hat in seiner Lehre von den drei Stufen des Naturrechts für die höchste Stufe verschiedene Bezeichnungen zum Einsatz gebracht : honeste vivere, pietas, probitas oder iustitia universalis. Sie alle fußen auf der Idee, dass die Gebote positiven Rechts diese Stufe selten erreichen, es hier also weniger auf eine Anwendung von Normen als auf das tugendhafte Verhalten eines Individuums ankommt.58 Nun meint Leibniz, die universale Gerechtigkeit müsse mit dem Willen eines höheren Wesens übereinstimmen, dessen Weisheit und Macht unendlich seien : Er gründet seine Tugendethik auf Gott, und zwar nicht, weil er einer Theokratie das Wort reden möchte, sondern weil er anders nicht zu erklären vermag, wie die Menschen für ein tugendhaftes Leben zu motivieren sind.59 Dass hier ein grundlegender Unterschied zu Klabbers’ Skizze einer säkularen Tugendethik liegt, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Der Abstand könnte sich aber aus folgender Überlegung heraus verringern : Leibniz hält es grundsätzlich für möglich, dass einst das Geheimnis gelüftet wird, wie eine höchste Gerechtigkeit ohne Gott zu begründen wäre. Dabei bezieht er sich, nicht anders als Klabbers, ausdrücklich auf Aristoteles, meint aber, der Stagirite habe nicht zu zeigen vermocht, wie die Menschen dazu erhoben werden können, »daß die Tugend zu ihrer höchsten Freude wird«.60 Dies dürfte freilich auch Klabbers, wenn überhaupt, nur in Ansätzen gelungen sein. Klabbers hat zwar überzeugend dargelegt, warum Regeln allein nicht ausreichen und es darüber hinaus oftmals auf das tugendhafte Handeln des Einzelnen ankommt. Zudem hat er jenseits von Rechtsregeln und juristischer Dogmatik versucht, Kri57 Klabbers, Controlling International Organizations (Fn. 55), S. 288, 289 (zu Begriffen wie honestas oder honeste vivere im römischen Recht und bei Leibniz siehe oben 3. Kapitel I). Die Forderung nach einer Tugendethik wird aktuell auch dort erhoben, wo führende Medizinforscher in Interessenkonflikte geraten, weil sie von international operierenden Medizinprodukteherstellern oder Pharmaunternehmen beträchtliche finanzielle Zuwendungen erhalten, vgl. Philipp Eckstein, Markus Grill, Bastian Obermayer, Der blinde Fleck, in : Süddeutsche Zeitung vom 1. März 2018, S. 14. Hier wäre das Verhalten der Empfänger von Geldzahlungen wohl in erster Linie unter den Gesichtspunkten von modesty und sens of justice zu würdigen. 58 Siehe oben III 1 – bei Note 21. 59 8. Kapitel IV (dort auch zu den Funktionen der religiösen Ausgleichsmechanismen). Zur anderen Art der prästabilierten Harmonie und Leibniz’ Bedenken gegenüber einer Legitimation religiöser Ausgleichsmechanismen siehe 8. Kapitel II. 60 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 8), S. 44 und 45 (weitere Nachweise im 8. Kapitel IV).
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terien zu formulieren, nach denen das Verhalten von Individuen, Amtspersonen oder Entscheidungsträgern zu beurteilen und als Fehlverhalten zu ahnden wäre. Dabei bleibt aber ungeklärt, wie Tugend bei Personen, deren Streben auf den engeren Kreis einer »gegenwärtigen Zufriedenheit« beschränkt bleibt, zur »höchsten Freude« werden kann. Offenbar ist das von Leibniz erwähnte Geheimnis bis heute nicht gelüftet worden. 3. Zwischenergebnis
Die Beobachtung der am Rechtsgeschehen beteiligten Akteure hat zu dem Eindruck geführt, die Rechtsordnung unterstünde einem allgemeinen Billigkeitsoder Gerechtigkeitsvorbehalt. So weit würde Leibniz freilich nicht gehen. Denn er ist der Auffassung, dass »die Billigkeit selbst« es fordere, »das strenge Recht zu beachten«.61 Für das strenge Recht spreche die Vermutung seiner Richtigkeit, die allenfalls in Ausnahmefällen zu widerlegen sei. Daher gewähre die Billigkeit lediglich ein Recht »im weiten Sinne des Wortes«, das für die Betroffenen oftmals gar nicht einklagbar oder erzwingbar sei. Ein Problem sieht Leibniz darin, dass die Billigkeit, solange sie wissenschaftlich nicht bearbeitet wurde, keine Maßstäbe bereithält, die sich mit Bestimmtheit anwenden ließen. Das muss nicht heißen, dass Entscheidungen, die auf sie gestützt werden, der subjektiven Willkür des Akteurs entsprungen sind. So wird, wer bei Mängeln des Normenbestands eine juristische Entscheidung zu treffen hat, auf die allgemeinen Wertungen des Gesetzes, die Judikatur in vergleichbaren Fällen und die entsprechenden sachlichen Gründe Rücksicht nehmen. Darüber hinaus hat die Wissenschaft in Form von Dogmatik nicht selten Lehrsätze oder Lösungsvorschläge entwickelt, die als zusätzliche Legitimationsquelle dienen können. Es ist mithin nicht so, dass der Akteur eine tabula rasa des Rechts vorfindet, die er dann zum ersten Mal beschreiben müsste. Doch ist sein Anteil an der Entscheidung beim Schweigen des Gesetzes höher als in Fällen, die sich einfach subsumieren lassen. Das alles ist bekannt und auch durch Leibniz nicht in Zweifel gezogen worden. Er würde aber darüber hinaus noch eine metaphysische bzw. monadologische Erwägung ins Feld führen : Wenn eine jede Monade das Universum von einem bestimmten Gesichtspunkt aus spiegelt und diese Spiegelung sich auch auf die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit erstreckt, wirkt der Gegenstand des Spiegels als eine Bedingung der Subjektivität. Diese Bedingung fungiert als eine Art Objektivität, die der menschliche Geist in sich selber trägt und der nicht nur das Subjekt selbst, son61 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 2), § 74 (dazu näher im 3. Kapitel IV 2).
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dern auch seine »operationen« unterstehen.62 Die Entscheidung wäre danach jenseits positiver Rechtsregeln (rules) durch ein Individuum getroffen worden, ohne dass sich behaupten ließe, sie sei subjektiver Willkür entsprungen. Diese Hypothese legt also alles Gewicht auf das Handeln eines Einzelnen. Abermals geht es um die Frage, wie sich die Gerechtigkeit in der Rechtspraxis bei strukturellen Defiziten des Normenbestandes eine Bahn brechen kann. Dabei ist vorausgesetzt, dass auch die Methodenlehren dort, wo es an einer Regel fehlt und wo es auf das Verhalten eines Individuums ankommt, kaum weiterhelfen. Zudem gibt es Situationen, in denen selbst über »Dogmatik« keine Lösungen mehr zu finden sind.63 Der in der Praxis zu vernehmende Ruf »jeder Fall hat seine eigene Methode« vermag ebenfalls nicht zu befriedigen, weil auch er vom Akteur ablenkt, indem er einem vermeintlich systematischen Verfahren das Wort redet. Vor diesem Hintergrund muss eine Aussage von Bernhard Windscheid auf Interesse stoßen, der nach Ablehnung seiner Lehre von der »Voraussetzung« durch die BGB-Verfasser das Phänomen des Rechthandelns von Amtsträgern am Beispiel der Entstehung von Gewohnheitsrecht wie folgt auf den Punkt gebracht hat : Entscheidungen dieser Art sind übrigens von großem Interesse. Sie eröffnen einen Blick in das Werden des Gewohnheitsrechts. Der Richter entscheidet wie er entscheidet, nicht deswegen, weil er für seine Entscheidung in den Bestimmungen des von ihm anzuwendenden Rechts einen Anhalt findet, sondern weil er nicht anders kann. Er bringt in seiner Entscheidung das Recht, welches in ihm lebt, zum Ausdruck und ist überzeugt davon, daß er damit das Rechte tut. Bleibt sein Vorgehen nicht vereinzelt und folgen andere Richter dem gleichen Drange, so ist das Gewohnheitsrecht fertig.64
Warum entscheidet der Richter »wie er entscheidet« ? Welche geheimnisvolle Macht übt einen so starken Zwang auf ihn aus, dass »er nicht anders kann« ? Es fällt schwer, hier nicht an Instinkt, Streben, Verlangen, eingeborene Ideen 62 Näher oben 9. Kapitel III 2. 63 Nur am Rande sei bemerkt, dass die Gerechtigkeit jenseits positiver Regeln im Rechtsunterricht heute keine Rolle spielt. Juristen werden nicht unterrichtet, wie sie in solchen Situationen eine Entscheidung vorbereiten können. ›Gerechtigkeit‹ scheint für eine Art natürlicher Ressource gehalten zu werden, die jeder Jurist einfach besitzen muss – die sich durch Unterricht nicht erwerben lässt. 64 Windscheid, Die Voraussetzung, in : AcP 78 (1892), S. 161–202 ; erneut in : Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul Oertmann, (1904), S. 375–409, 408 f. (Hervorhebung nicht im Original).
Der ›Akteur‹ als Spiegel der notwendigen und ewigen Wahrheiten
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oder andere Themen zu denken, die in Leibniz’ Metaphysik eine zentrale Rolle spielen. Danach wäre abermals zu konstatieren : Derartige Entscheidungen sind nicht durch positive Rechtsregeln, sondern durch ein Individuum getroffen worden, ohne dass sich behaupten ließe, sie seien subjektiver Willkür entsprungen.
V. Fortsetzung : Der ›Akteur‹ als Spiegel der notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit Von hier aus fällt ein neues Licht auf die Frage, warum Leibniz der Überzeugung war, dass auch materiale Elemente des Rechts durch Wissenschaft strukturiert, durch Rechtsprechung zur Geltung gebracht werden oder in die Gesetzgebung einfließen können. Andererseits ist derjenige, der gegen eine unbillige Rechtsausübung Einspruch erhebt, auf die Unterstützung eines »Höheren« angewiesen. Dieser Höhere muss mit »gerechtem Willen« so eingreifen, dass die utilitas propria bei einer Berücksichtigung des Gemeinwohls nicht auf der Strecke bleibt und umgekehrt ein Schutz des Eigennutzes auch den Interessen der Solidargemeinschaft genügend Raum lässt. Was die Person des Höheren anbelangt, so wird Leibniz, wie bereits angedeutet, in erster Linie an den Richter gedacht haben, wobei ihm wahrscheinlich der römische Prätor vor Augen stand.65 Auch ein personaler Herrscher, ein kollektiver Gesetzgeber, Schiedsrichter, Rechtsgelehrter oder andere mit besonderer Autorität und Befugnissen ausgestattete Personen oder Gruppen können in Betracht kommen. Soweit der Höhere aber Gott sein soll, darf dessen Mitwirkung nicht im Sinne eines Eingriffs 65 Die Prämissen, auf denen Leibniz’ politische Philosophie beruht, gestatten es ihm, dem Richter eine viel größere Macht einzuräumen, als dies etwa Bodin, Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant vermocht hätten. Dass Leibniz dem Richter einen vergleichsweise großen Spielraum gewährt, ist in der Literatur zu Recht immer wieder hervorgehoben worden, vgl. die Nachweise bei Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967), S. 97, wonach der Richter das Gesetz nicht nur auslegen, sondern auch ergänzen und berichtigen darf ; siehe auch Klaus Luig, Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in : Okko Behrends (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition (1985), S. 213–256, 237, 255–256. Mit der Idee eines Herkules-Richters (Ronald Dworkin) wäre Leibniz wegen der Gefahr willkürlicher Urteile freilich nicht einverstanden gewesen. Dies zeigen auch seine vielfältigen Versuche zur Strukturierung, Typisierung und Formulierung konkreter Anwendungsregeln für die Billigkeit, welche die moderne Rechtstheorie als »Prinzipien« zu bezeichnen pflegt. Leibniz’ Streben nach Rechtssicherheit kommt in verschiedenen Gebieten zur Geltung, vgl. z.B. De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (1678/79 ?), in : AA VI 4 C, S. 2782–2791, 2791 ; siehe ferner die Nachweise bei Matthias Armgardt, The Role of aequitas in Leibniz’ Legal Philosophy – a Formal Reconstruction, in : Wenchao Li u.a. (Hg.), »Für unser Glück oder das Glück anderer«, Bd. VI (2017), S. 305–314, 306.
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oder Einflusses verstanden werden. Maßgeblich ist hier vielmehr wieder der Gesichtspunkt, dass das Individuum den Gegenstand des Spiegels in sich selber trägt und als aktiver Bürger, Amtsperson oder Entscheidungsträger in der Gemeinschaft der Geister eine Lösung aus sich selbst heraus entwickeln muss.66 Eine vollkommene Vereinigung von Individual- und Kollektivwohl lässt sich freilich nur im Reich der Gnade, in der optima respublica erreichen. Dass auf Erden eine solche Harmonie angesichts der Körpergebundenheit des Menschen nur annäherungsweise verwirklicht werden kann, ist bereits ausgeführt worden. Dies ändert aber nichts daran, dass der Vollkommenheit Freude, Vergnügen oder Glückseligkeit entspringen, die Monaden sie also schon von Natur aus mit ihren Handlungen zu erreichen suchen. Dazu gehört auch das Streben, einen Konflikt zwischen ius strictum und Billigkeit im Sinne der Gerechtigkeit zu lösen. Dieses Streben charakterisiert Leibniz als »eine Tendenz«, als eine natürliche Kraft, die […], wenn sie nicht durch ein gegensätzliches Streben gehemmt wird, auch zur vollen Wirksamkeit gelangt. Diese Tendenz stellt sich hie und da direkt den Sinnen dar und auch dort, wo sie für die Empfindung nicht zutage tritt, läßt sich überall, wie ich glaube, ihr Dasein in der Materie aus Vernunftgründen einsehen. Da es nun nicht angeht, diese Kraft wie durch ein Wunder auf Gott selbst zurückzuführen, so muß man annehmen, daß sie von ihm in die Körper selbst gelegt worden ist, ja daß sie deren innerste Natur ausmacht.67
Erneut wird hier hervorgehoben, dass die Subjekte aktiv, dass sie ›kraftbegabt‹ sind, dass sie den Gegenstand des Spiegels und den Keim aller Veränderung in sich tragen und keines Eingriffs von außen bedürfen. Die in den Individuen waltende Kraft, das nach Veränderung strebende Prinzip mit der Tendenz, den notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen, entfaltet also stets Wirkungen.68 Doch sind diese Tendenzen vielfältigen Hemmnissen und Widerständen ausgesetzt. 66 Zur hoch entwickelten Individualität der Geister, in denen sich die Gottheit spiegelt, vgl. die Ausführungen im 7. Kapitel III und im 5. Kapitel V 2. Siehe auch Leibniz’ Brief an seinen Sekretär, den späteren Professor für Mathematik und Physik Rudolph Christian Wagner (1671–1741) vom 4. Juni 1710, in : Philosophische Schriften VII (Fn. 5), S. 528–532, 531. 67 Specimen dynamicum (Fn. 3), S. 256 f. (Hervorhebung im Original). Siehe auch Nouveaux essais I (Fn. 8), S. 59 (zu den Widerständen, welche die durch Instinkte bedingten Handlungen hemmen können ; näher 9. Kapitel VI a.E.). 68 Hingewiesen sei hier nur auf das Gebot des »fiat lux« und Leibniz’ Vorstellung vom Licht als flüssiger Materie, als verflüssigtem Geist Gottes, der durch die Poren aller Körper zirkuliert, der die Grenzen von ansonsten streng getrennten Reichen durchdringt, dessen Allgegenwart eine andere
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So kann das Streben substantieller Formen nach Ausbreitung nur über die Erstmaterie verwirklicht werden. Zusätzliche Hindernisse folgen daraus, dass eine jede Monade an einen Körper gebunden ist, sie also nur über ihre Zweitmaterie auf die Außenwelt und damit auch auf andere Monaden zu wirken vermag. Im Hintergrund steht der skizzierte Mechanismus wechselseitiger Repräsentationen von Körperlichem in der Seele bei Wahrnehmungen und von Seelischen im Körper bei Gedanken oder Handlungen, den Leibniz unter den Prämissen der prästabilierten Harmonie erörtert. Dabei wäre wieder zu beachten, dass Gott als Ursache der Substanzen auch in ihren Tätigkeiten, oder, wie Leibniz sich ausdrückt, in ihren »operationen« fortwirkt (continuata productio). Die Mitwirkung (concursus dei) ist jedoch auf eine Leistung des Subjekts angewiesen, das seinen »Ursprung beständig herholt«, und, auf der Suche nach einer gerechten Entscheidung, die darin enthaltenen notwendigen Wahrheiten abruft.69 Diese Leistung wird von den Individuen nun in höchst unterschiedlichem Maße erbracht. Während die einen ihren Ursprung »beständig herholen«, wenden andere sich ab. Zwar »gibt« Gott denen, welche seine Gaben annehmen »mehr liecht«, damit sie ihre Ziele leichter zu erreichen vermögen. Doch können auch gestärkte Kräfte durch ein »gegensätzliches Streben« gehemmt werden und erlahmen. An erster Stelle wäre hier wieder an die Trägheit des eigenen Körpers oder fremder Körper zu denken, welche die Unvollkommenheit der Geschöpfe bedingt. Die von den Individuen entfalteten Wirkungen vermögen also immer auch Widerstände zu erzeugen, welche wiederum Gegenwirkungen auslösen, die ihrerseits neue Kräfte freisetzen.70 Einen derartigen Widerstand können etwa Verfechter des ius strictum ausüben, wenn sie berechtigten Interessen der Solidargemeinschaft so entgegentreten, dass über die aequitas ins Spiel gebrachte Wahrheiten der Gerechtigkeit neuen Auftrieb erlangen und fremdnützige Interessen auf diese Weise an Durchsetzungsvermögen gewinnen.71 Die Kraft der Kausalität zu begründen und die Fenster der Monaden zu öffnen vermag (siehe 9. Kapitel III 2 und 3). Möglicherweise liegt hier der Schlüssel zu den Vorverständnissen des oft beschworenen »Geistes des Rechts« oder des »Geistes der Gesetze«, welcher dann zwar nicht mit dem Willen, aber der Vernunft Gottes und den darin enthaltenen ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zur Deckung gebracht werden würde (vgl. 9. Kapitel V). 69 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 8), S. 510 (siehe die Nachweise hierzu und zum Folgenden oben 9. Kapitel III 2). 70 Siehe auch Specimen dynamicum (Fn. 3), S. 269. 71 Das folgende Beispiel sei genannt : In den Eisenbahnfällen (4. Kapitel I 4) oder in der Soraya-Entscheidung (oben IV 1) berufen sich Verfechter eines legal centralism darauf, dass das ius strictum keine Regelung vorsieht oder – mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip – ungerechte Ergebnisse in Kauf zu nehmen seien. Sie fordern daher, die Klage der Opfer als unbegründet abzuweisen (in diese Richtung wohl Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Fn. 54, S. 325 ;
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Substanzen mit ihrer Tendenz, den notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen, ist also stark gefiltert. Sie kann weder »unmittelbar in der Wirksamkeit oder im Willen Gottes« gefunden werden noch direkt nach außen treten.72
VI. Resümee Gott hat Leibniz zufolge stets den Dingen selbst Eigenschaften und Bestimmungen beigelegt, »aus denen sich alle ihre Prädikate erkennen lassen«.73 Bespiegelter Gegenstand und spiegelnder Spiegel lassen sich also nicht trennen. Der Gegenstand des Spiegels wirkt als Bedingung der Subjektivität, als eine Art Objektivität, die das Subjekt in sich trägt und als ihren Ursprung herholt. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur das Subjekt selbst, sondern auch seine »operationen« dieser Bedingung unterstehen. Leibniz nennt den Gegenstand des Spiegels auch »Ursprung«, dessen sich das Individuum stets vergewissern muss : »Weil nun nicht allein in dem Wesen, sondern auch in den Würkungen« des Menschen »eine Realität stecket«, so muss er »sowohl in der Substanz als in den operationen von gott seinen Ursprung beständig herhohlen«.74 Der »Beistand« Gottes ist also nicht so zu verstehen, als würde die Kluft zwischen formalen und materialen Elementen des Rechts durch einen äußeren Eingriff überwunden werweitere Nachweise im 4. Kapitel I 4). Die Verweigerung einer Normschöpfung jenseits des Gesetzes würde Widerstände in der Solidargemeinschaft provozieren, die eine beschleunigte Reaktion der Gesetzgebung zur Folge haben könnten. Wer aber möchte den in ihrer Existenz bedrohten Opfern Schadensersatz versagen und sie nach dem Motto vertrösten : Eines Tages wird der Gesetzgeber auch für solche Fälle eine gerechte Lösung finden ? Die Rechtsentwicklung beschreitet daher meist einen umgekehrten Weg. Am Anfang steht die Normschöpfung durch Juristen und deren Anerkennung als Gewohnheitsrecht, das irgendwann später Eingang in die Gesetzgebung finden mag. Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass die mit der aequitas einhergehende Differenzidee die eigentliche Triebkraft der Rechtsentwicklung ist. Dass diese Idee Tradition hat, ist im 4. Kapitel (I 2) angedeutet worden : Die Linie führt von der römischen Jurisprudenz und dem juristischen Humanismus über Leibniz’ Rechtsphilosophie, die Germanisten (im 18. Jahrhundert), die Romanisten (im 19. Jahrhundert) bis zu den gegenwärtigen Materalisierungsdebatten und den Argumenten, auf welche sich die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zu berufen pflegt. 72 Specimen dynamicum (Fn. 3), S. 271 (der auf Rechtssicherheit bedachte Leibniz war sich daher bewusst, dass auch der in der vorstehenden Note skizzierte ›umgekehrte‹ Weg nicht ungefährlich ist). 73 Siehe oben I (bei Note 7). 74 Unvorgreiffliches Bedencken (Fn. 8), S. 510 (siehe auch 9. Kapitel III 2 und oben III).
Resümee
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den. Vielmehr ist eine besondere Leistung des Subjekts gefragt, das die in ihm gespiegelten Wahrheiten abrufen muss. Diese Leistung wird von den Menschen freilich in höchst unterschiedlichem Maße erbracht. Während die einen ihren Ursprung gerne »herhohlen«, wenden andere sich ab. Zwar »gibt« Gott denen, die seinen Beistand annehmen, »mehr liecht«, damit sie Wahrheiten leichter zu erkennen vermögen. Doch können angesichts der Trägheit der Körper auch ihre Kräfte rasch erlahmen, wenn sie durch ein »gegensätzliches Streben« gehemmt werden.75 Mit Blick auf die Zwei-Reiche-Lehre und die damit verbundene Kritik des Okkasionalismus wäre die Aussage des jungen Leibniz, Gott stelle das physische Band zwischen ius strictum und aequitas durch »seinen Beistand her«, wie folgt zu deuten : Es sind höchst indirekte »Einflüsse«, die aus dem Reich der Weisheit in das irdische Leben gelangen. Ihr Weg läuft, von außergewöhnlichen Vorgängen einmal abgesehen, über die Seelen, »die der Vernunft fähig sind« und mit Gott »eine Art von Gemeinschaft bilden«. Wann und in welchem Maße sie außerhalb dieser Gemeinschaft Wirkung zeitigen, ist ungewiss. Dabei wird deutlich, dass die Billigkeit in der Funktion einer Mittlerin zwischen ansonsten getrennten Gebieten auftritt. Dies gilt nicht nur im Rahmen religiöser Ausgleichsmechanismen, sondern auch im Falle eines Konflikts mit dem ius strictum. Die Billigkeit zeigt an, dass das ius strictum in bestimmten Situationen zu ungerechten Ergebnissen führen könnte. Zwar mag sie angesichts ihrer Unbestimmtheit und des Mangels an Maßstäben bisweilen auf den »gerechten Willen« angewiesen sein. Mit ihrem Einspruch gegen das formale Recht eröffnet sie aber immer auch einen kritischen Raum : Sie richtet eine Frage an das höchste Recht, das niemals ungerecht sein kann und darauf zielt, Eigen- und Solidarinteressen in einem größeren Rahmen zu optimieren.76 Im Konflikt mit dem ius strictum fordert die Billigkeit den Menschen mithin dazu auf, die in ihm gespiegelten ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit »herzuhohlen«. Das Band zwischen ius strictum und aequitas wird am Ende durch die kleine Gottheit«, also den menschlichen Geist selbst, und zwar mit der Liebe des Weisen (caritas sapientis) geknüpft, um alles, was für das Menschengeschlecht nützlich ist, so geschehen zu lassen, »daß es auch für die einzelnen nützlich ist«. Als Mitglied der optima respublica gehört dieser Geist beiden Welten an. Er strebt nach Vollkommenheit und Ordnung, nach der Einheit in der Vielheit und damit nach Harmonie. »Freude zu finden, bedeutet Harmonie«, sagt Leibniz.77 75 Specimen dynamicum (Fn. 3), S. 256 f.; Theodicée II (Fn. 5), § 209 (S. 250). 76 Siehe die Formulierung in den Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (Fn. 8), S. 29. 77 Demonstratio Propositionum primarum (Fn. 26), S. 485. In diese Richtung weist auch die Cha-
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Der Anteil des Individuums an der Verknüpfung von Billigkeit
Da Menschen sich freuen möchten, darf dieses Streben durchaus als »natürlich« bezeichnet werden. Und weil Harmonie nicht nur in einer gelungenen Architektur, einer schönen Musik oder Malerei, sondern auch in der Gerechtigkeit zu finden ist, werden Menschen sie von Natur aus anstreben. Dieses Streben kann bei körpergebundenen Kreaturen freilich auf Widerstände stoßen. So bleibt es dabei, dass vollkommene Harmonie dem Reich der Gnade vorbehalten ist. Dem Individuum und dem aktiven Bürger, dem Entscheidungsträger und der Amtsperson kann sie aber als Modell mit der Forderung dienen, eigennütziges und fremdnütziges Handeln in ein optimales Verhältnis zu bringen.
rakterisierung der Glückseligkeit als »Empfindung einer Vollkommenheit«, Initia et Specimina Scientiae novae Generalis (Fn. 11), S. 86, 88.
III. Teil Rezeption von Leibniz’ Rechtsphilosophie im 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert Der Begründer der Historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, unterscheidet in seiner Rechtsquellenlehre zwischen einem »reinen« Rechtsprinzip, das formale Zuständigkeiten schafft, und einem »gemischten« Rechtsprinzip, vermöge dessen auch materiale Gesichtspunkte zur Geltung kommen können. In Übereinstimmung mit der entwickelten römischen Jurisprudenz behauptet er, daß Recht ohne strukturellen Formalismus (ius strictum) nicht möglich sei, dieser Formalismus aber eines Korrektivs bedürfe, welches aequitas, naturalis ratio oder »Natur der Sache« genannt werde.1 Diese »beiden Elemente des Rechts« treten nicht selten »in einem bestimmten Gegensatz aus einander, bekämpfen und beschränken sich wechselseitig, um sich späterhin vielleicht in einer höheren Einheit aufzulösen«.2 Wie Leibniz erblickt Savigny im Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen also eine Grundbedingung allen Rechts. Ob oder auf welche Weise dieser Konflikt in einer »höheren Einheit« aufgelöst werden könne, lasse sich nicht pauschal beantworten. Hier handele es sich um eine Frage, worauf jede Epoche ihre eigene Antwort finden müsse – eine Antwort, die nicht zu allen Zeiten gleich gut gelinge. Auch Savigny tritt damit in Opposition zu einem ›modernen‹ Staatsverständnis, welches danach strebt, das Recht im Gesetz zu monopolisieren. Das Konzept einer ›modernen‹ Staatlichkeit fußt auf der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, die eine Liquidierung jeder nichtstaatlichen Normbildung, etwa durch Gewohnheitsrecht, Verbände oder Wissenschaft, zu rechtfertigen sucht. Der Vertragsdoktrin ist eine politische Philosophie mit mehreren Prämissen entsprungen. An die wichtigsten darf noch einmal erinnert werden : Die Menschen lebten ursprünglich im Naturzustand ; erst mit Vertragsschluss wurde die Rechtsordnung durch einvernehmliche Übertragung der Macht auf einen Souverän künstlich geschaffen ; außerstaatliches Recht ist als ›Nicht-Recht‹ zu qualifizieren und Gesichtspunkte der Billigkeit müssen, weil ein Richter nach »unbestimmten Bedingungen« nicht entscheiden darf, selbst dann außen vor bleiben, wenn die
1 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 54–56 (siehe auch 4. Kapitel I). 2 Savigny, System I (Fn. 1), S. 54 f. Siehe dazu Alfred Manigk, Savigny und der Modernismus im Recht (1914), S. 14, 150 ; Okko Behrends, Struktur und Wert (1990), in : ders., Institut und Prinzip, Bd. I (2004), S. 55–89, 58–60.
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Rezeption von Leibniz’ Rechtsphilosophie
Entscheidung »offenbaren Forderungen« der Gerechtigkeit widerspricht.3 Wie Leibniz bestreitet Savigny diese Thesen : In seiner Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus betont er, dass es Recht bereits vor Abschluss eines Gesellschaftsvertrags gegeben hat. Zudem kritisiert er den Voluntarismus der ›modernen‹ Rechtsquellenlehre und trifft eine fundamentale Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht. Mit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1870/71 hat der schon überwunden geglaubte rechtsquellentheoretische Etatismus neue Schubkraft erlangt. Die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuchs begannen nun die rechtsbildende Potenz nichtstaatlicher Quellen wieder anzuzweifeln und in die Rolle bloßer Auslegungsmittel zu drängen. Als Beispiel für die neue Richtung sei eine Äußerung des Bismarck-Bewunderers Rudolf von Jhering angeführt : Er meinte, dass es mit der aequitas möglich sei, das ganze Recht über den Haufen zu werfen. Dass die heutige Jurisprudenz keine aequitas mehr kenne, müsse als »ihr Vorzug vor der römischen« anerkannt werden. Gierke gelangt gegen Ende des 19. Jahrhunderts daher nicht ohne Grund zu der resignierenden Feststellung : »So haben denn also die Meister der geschichtlichen Rechtswissenschaft für den deutschen Gesetzgeber umsonst gelehrt.« Vorläufig bleibt festzuhalten : Savigny, Hugo, Puchta oder Gierke treten in Opposition zum staatsrechtlichen Positivismus, wie er im Anschluss an die Lehren des aufgeklärten Absolutismus zur Herrschaft gelangte. Der »moderne« Etatismus strebt nach einer Monopolisierung des Rechts im staatlichen Gesetz : Er sucht die strukturelle Differenz (différance), welche die klassische römische Jurisprudenz kennzeichnet, zu überwinden, indem er nur noch eine Rechtsbildung, nämlich das formale Gesetzesrecht (ius strictum) anerkennt. Gegen die Einseitigkeiten eines Legalismus, der in der Vorstellung eines omnipotenten Gesetzgebers zum Ausdruck kommt, hat sich auch Leibniz ausgesprochen. Seine Einwände gegen die Rechtsphilosophie von Hobbes gipfeln in der Aussage, dieser habe »nur das strenge Recht in Erwägung gezogen«.4
3 Siehe 5. Kapitel I–III. 4 Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (1703), hg. v. Wenchao Li (2014), S. 46.
11. Kapitel Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule : Savigny und Hugo »Warum [ist] überhaupt die Rede von historischer Schule oder Methode, da doch das historische nur eine von mehreren nothwendigen Bedingungen ist ?« Friedrich Carl von Savigny, der Begründer und führende Kopf der Schule, antwortete auf diese von ihm selbst gestellte Frage, »daß in der unmittelbar vorhergehenden Zeit die historische Behandlung vorzugsweise vernachläßigt worden, daß also die Wiedereinführung dieser Methode das Characteristische der folgenden Zeit ward«.1 Die dem Nachlass entnommene und nicht zur Veröffentlichung gedachte Aussage ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich : Sie zeigt, dass ›historisch‹ zur Umschreibung der Ziele der Historischen Rechtsschule allein nicht ausreicht und dass der Kampf gegen das Naturrecht den eigentlichen Anstoß zu ihrer Gründung gegeben hat. Leibniz gehört zu den prominentesten Vertretern jener Epoche, die der Historischen Rechtsschule ›vorhergegangen‹ war. Wer seine Ideen zu einer Rechtsreform in den Blick fasst, wird Savignys Aussagen zunächst bestätigt sehen : Leibniz verfolgte Zeit seines Lebens Kodifikationsprojekte, während die Historische Rechtsschule solchen bekanntlich sehr zurückhaltend gegenüberstand. Leibniz glaubte, dass es nach Maßgabe der ars Euclidis möglich sei, aus dem gewaltigen Rechtsstoff Elemente herauszupräparieren, die durch Definitionen erklärt und auf einer Tabelle festgehalten werden können. Der Gründer der Historischen Rechtsschule meinte dagegen, omnis definitio in iure periculosa est und bestritt, dass sich auf Basis von Definitionen Sicherheit, Klarheit oder Gewissheit gewinnen lassen.2 Die Elemente wollte Leibniz dem Naturrecht entnehmen, das niemals ungerecht sein könne und neben dem positiven Recht subsidiär zur Anwendung kommen solle. Die Historische Rechtsschule verneinte den Rechtsquellencharakter des Naturrechts und sprach sich namentlich gegen seine subsidiäre Anwendung aus.3 1 Savigny, Einleitung zu den Pandekten 1827/1828–1841/1842, in : Aldo Mazzacane (Hg.), Vorlesungen über juristische Methode 1802–1842, 2. Auflage (2004), S. 282–289, 286 (Hervorhebungen im Original). 2 »Die Definitionen« der römischen Juristen sind »größtentheils sehr unvollkommen, ohne daß die Schärfe und Sicherheit der Begriffe im geringsten darunter leidet«, Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 29. 3 Siehe unten I 7. Die folgenden Ausführungen fußen auf meinen beiden Beiträgen : Leibniz’ Rezeption durch Friedrich Carl von Savigny und Otto von Gierke, in : Tilmann Altwicker, Francis
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Dass die naturrechtliche von der historischen Richtung sehr verschieden sein kann, wurde oft hervorgehoben und muss hier nicht wiederholt werden. Weniger Beachtung fanden dagegen die Gemeinsamkeiten, die speziell zwischen den Reformideen von Leibniz und der Methodologie namhafter Protagonisten der Historischen Rechtsschule bestehen. Denn auch Leibniz führte einen Kampf gegen ›das‹ Naturrecht, und zwar gegen jene Richtung, die wir heute als »säkulares« oder »profanes« Naturrecht zu bezeichnen pflegen. Ihr setzt er sein »christliches« oder »historisches« Naturrecht entgegen, welches vielfältige Berührungspunkte mit den Lehren der Historischen Rechtsschule aufweist. Um welche Gemeinsamkeiten handelt es sich ?
I. Konvergenzen im Rechtsdenken von Savigny und Leibniz An erster Stelle wären die Bewunderung für die klassische römische Jurisprudenz und das Ringen um ein »System des heutigen römischen Rechts« zu nennen : Den Anstoß für seine Überlegungen zu einer Rechtsreform boten Leibniz die offenbaren Missstände des zeitgenössischen Rechtswesens. Wiederholt klagt er über die unübersichtliche Stoffanordnung, Redundanzen, veraltete Vorschriften und kaum noch überschaubare Interpretationen, die den geltenden Normenbestand zu einer Quelle von Ungerechtigkeiten machen würden. Dem Corpus Iuris fehle, was von jeder Gesetzgebung zu erwarten sei : Klarheit und Kürze. Leibniz unterscheidet zwischen der Stoffanordnung im Corpus Iuris, den mittelalterlichen Anbauten und der ursprünglichen Gestalt der klassischen römischen Jurisprudenz. Wenn er betont, dass die Vorschriften des Naturrechts mit den Regeln der Pandekten in auffallender Weise übereinstimmen und er die begriffliche Schärfe, logische Klarheit und rationale Methode der klassischen Jurisprudenz lobt, so bewundert er vor allem die Fähigkeiten der römischen Juristen. In ihren Rechtslösungen erblickt Leibniz Emanationen der ratio, deren Kern er zu rekonstruieren und neu zu formulieren sucht. Immer wieder hat er betont, die römischen Juristen hätten ein Maß an Schärfe und Überzeugungskraft erreicht, das den Untersuchungen der großen Lehrer der Geometrie vergleichbar wäre.4 Cheneval, Matthias Mahlmann, Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (im Erscheinen) ; Leibniz’ Methodologie und politische Philosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule, in : Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Das Naturrechtsdenken von Leibniz – Säkularisierung der Moralphilosophie im historischen Kontext (im Erscheinen). 4 So noch im Brief an Ernst Kestner vom 1. Juli 1716 wenige Monate vor seinem Tod, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, Bd. IV 3 (1768), Nr. 15 (S. 267–269, 267 f.). Weitere Nachweise zu brieflichen Äußerungen von Leibniz zu diesem Thema bei Fritz
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Savigny war fasziniert von dem Mann, »der in seinem Character, Streben und umfassenden Wissen so einzig da steht«. Dass er die Nova methodus mit ihrem Lob der römischen Juristen sorgfältig studiert hat, dürfte außer Zweifel stehen.5 Er kannte wahrscheinlich auch die wichtigen an den Naturrechtslehrer Heinrich Ernst Kestner adressierten Briefe, in denen Leibniz seine früheren Aussagen über die Bedeutung der klassischen römischen Jurisprudenz noch einmal zusammenfasste.6 In einem Brief an Jacob Grimm verliert Savigny einige Worte, die ein Licht auf sein Verhältnis zu Leibniz werfen : Ich war krank, lieber Grimm, darum antworte und schreibe ich erst so spät ; zudem habe ich das Paket mit Ihrem Abschiedsbrief erst vor einigen Wochen erhalten. Tausend Dank für das schöne Geschenk von Leibnizens Briefen, es ist mir sehr lieb, etwas von dem Mann zu haben, der in seinem Character, Streben und umfassenden Wissen so einzig da steht. Ich habe erst kürzlich die Lebensbeschreibung bey Murr (von Eckard) mit ungemeinem Interesse gelesen, es wird ihm da so gar nicht geschmeichelt, und man fühlt recht, wenn er dabey mehr gewinnt, als bey der zierlichsten eloge.7 1. Mit den »Begriffen rechnen«
In den Monaten vor Erscheinen des »Berufs« las Savigny also die von Johann Georg von Eckhart (1674–1730) verfasste Leibniz-Biographie. Sie war 1779 von dem Nürnberger Juristen und Universalgelehrten Christoph Gottlieb von Sturm, Das römische Recht in der Sicht von Gottfried Wilhelm Leibniz (1968), S. 19. Siehe auch Leibniz’ Ausführungen in den Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), dt. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz (Hg.), Philosophische Schriften, Bd. III : Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), IV 2 (S. 260–263). Dass die Rechtslösungen der römischen Juristen auf einer gleichsam mathematischen Rationalität beruhen, hat Leibniz bereits in Jugendjahren angenommen (näher im 2. Kapitel III). 5 In der Bonner Savigny-Bibliothek ist die Schrift in der (zu Savignys Zeiten gebräuchlichen) Edition von Christian Wolff (1748) erhalten, Hidetake Akamatsu, Joachim Rückert (Hg.), Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 111. 6 Auf Savignys »Notanda-Liste« ist ein Brief von Leibniz an Kestner vom 5. September 1708 unter »Leibnitii ep.[istolae] I. 119« vermerkt. Dabei wird es sich um die folgende Ausgabe gehandelt haben : Viri Illustris Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad Diversos, Theologici, Iuridici, Medici, Philosophici, Mathematici, Historici et Philologici Argumenti, 1. Band (1734), S. 168–171 (Epistola CXIX). Siehe die Anmerkungen und Nachweise bei Akamatsu, Rückert, Politik und Neuere Legislationen (Fn. 5), S. XXIII, 99, 103, 104 (siehe auch oben 2. Kapitel III). 7 Brief an Jacob Grimm vom 29. April 1814, in : Adolf Stoll, Friedrich Karl v. Savigny, 3 Bde. (1927– 1939). Bd. II (1929), S. 100–103, 100.
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Murr (1733–1811) neu herausgegeben worden.8 Im Übrigen scheint Savigny sich sogar für Leibniz’ mathematische Untersuchungen interessiert zu haben. Einem Brief an seinen Tübinger Kollegen Eduard Schrader (1779–1860) ist zu entnehmen, dass er nähere Kenntnisse über die mathematischen Forschungen von Leibniz besessen haben muss, nämlich die berühmten »Konvergenz-Untersuchungen«, die noch heute in jedem Analysis-Lehrbuch zu finden sind.9 Dass in der Bewunderung für die römischen Juristen der tiefere Grund von Leibniz’ Überlegungen zu einer Rechtsreform liegt, hat Savigny aber schon viel früher erkannt. In seiner Einleitung zur Vorlesung über das Pfandrecht von 1810 äußert er sich zur Methode der römischen Juristen. Ihre Leistung habe darin bestanden, für jeden einzelnen, künftig gegebenen Fall die Entscheidung zu erfinden – durch das ganze System hindurch nämlich geht eine Reihe von Begriffen, Ansichten, Grundsätzen, welche als leitend und herrschend betrachtet werden müssen, durch welche das Ganze wissenschaftliche Haltung und Sicherheit erhält – diese auszufinden, sich vollkommen klar machen und zugleich so aneignen, daß man sie überall frey und leicht anwenden kann und muß – das zugleich das ganze Geheimniß der Römischen Juristen, das der Grund der geometrischen Schärfe, welche Leibniz an Ihnen bewundert.10
In groben Zügen handelt es sich hier um das Programm, das Leibniz in der Nova methodus umrissen hat. »Begriffe, Ansichten, Grundsätze« erinnern an die »Elemente« oder »Prinzipien«, von denen bei Leibniz immer wieder die Rede ist. Genau genommen geht Savigny über Leibniz sogar noch hinaus, wenn er behauptet, »den Grund der geometrischen Schärfe« angeben zu können, welche Leibniz so bewunderte. Dieser soll darin liegen, dass die römischen Juristen die ›Elemente‹ und ein ›System‹ schon gefunden, jenes Programm also bereits verwirklicht ha8 Murr hatte Eckharts »Lebensbeschreibung des Fryherrn von Leibnitz« (1717) in seinem Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur, Siebenter Theil (1779) publiziert (S. 125– 231). Savigny besuchte ihn in Nürnberg 1806, siehe den Bericht in seinem Brief an Friedrich Creuzer vom 30. Juni 1806, in : Stoll, Friedrich Karl v. Savigny (Fn. 7). Bd. I (1927), S. 284–287, 284 f. Auf Grundlage von Eckharts Schrift war bereits 1740 eine Biographie von Jacob Friedrich Lamprecht unter dem Titel »Leben des Fryherrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz an das Licht gestellt« erschienen. 9 Brief von Savigny an Eduard Schrader vom 16. Juli 1817, in Stoll II (Fn. 7), S. 223–225, 225 (Schrader befasste sich eingehender mit den Verbindungen von Jurisprudenz und Mathematik, er war ein Schüler von Gustav Hugo und der erste Vertreter der Historischen Rechtsschule an der Universität Tübingen). 10 Savigny, Einleitung zum Pfandrecht (1810), in : Vorlesungen über juristische Methodologie (Fn. 1), S. 247–248, 247 (Hervorhebungen im Original).
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ben, welches Leibniz in seiner Nova methodus und in späteren Schriften so energisch propagierte. Die produktive Kraft der Juristen werde durch eine solche Methode freilich keinesfalls entbehrlich. Savigny hält die Idee einer »mechanischen Sicherheit«, wodurch »der Richter allen eigenen Urteils überhoben, blos auf die buchstäbliche Anwendung beschränkt wäre«, für eine »Irrlehre«, der die »neuen Gesetzbücher« erlegen seien.11 Die Sicherheit, welche das Auffinden der leitenden Grundsätze vermittelt, ist folglich eine ganz andere als die der großen Naturrechtskodifikationen. Dies führt Savigny in einer viel diskutierten Stelle im »Beruf« näher aus, die ebenfalls von der Methode der römischen Juristen handelt : Die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft erscheinen ihnen nicht wie durch ihre Willkühr hervorgebracht, es sind wirkliche Wesen, deren Daseyn und deren Genealogie ihnen durch langen vertrauten Umgang bekannt geworden ist. Darum eben hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht findet und man kann ohne Übertreibung sagen, daß sie mit ihren Begriffen rechnen.12
Wer würde hier nicht an die »ars combinatoria« denken, von welcher Leibniz sich versprach, auch die schwierigsten Fälle lösen zu können ? Die Formulierung »mit den Begriffen rechnen« wurde oft wörtlich genommen und hat Savigny den Vorwurf eingebracht, ein Begründer der Begriffsjurisprudenz gewesen zu sein. Diese Annahme ist jedoch ebenso unzutreffend, wie die Behauptung, Leibniz sei, nur weil er Kodifikationsprojekte verfolgte, ein Vordenker jener Kodifikationsidee gewesen, die in den großen Gesetzgebungswerken des Naturrechts Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts verwirklicht wurde.13 11 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 5, 22. Dass dem Richter ein erheblicher Spielraum bei der juristischen Entscheidungsfindung gewährt werden müsse, hat auch Leibniz wiederholt betont (siehe oben 10. Kapitel IV 2). Auf diese Parallele zwischen Savigny und Leibniz machte bereits Ernst Heymann aufmerksam, Vortrag auf einer öffentlichen Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages, in : Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1927), S. LXIX–LXXVI, LXXVI (allerdings ohne dabei eine Grenzlinie gegenüber der Rechtsphilosophie von Christian Wolff zu ziehen). 12 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 29. 13 Zum Vorwurf der Begriffsjurisprudenz z.B. Ulrich von Lübtow, Savigny und die Historische Schule (1961), in : Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (1984), S. 381–406, 399–400 (»Rechnen mit Begriffen« als »verhängnisvoller Ausspruch«). Allgemein zur Diskussion über den Mathematik-Vergleich Christoph-Eric Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta (2009), S. 599–601. Zur Behauptung einer Kontinuität der Kodifikationsidee z.B. Ernst Molitor, Leibniz in Mainz, in : Jahrbuch für das Bistum Mainz 5
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Das Bild von einer »geometrischen Schärfe« der römischen Juristen gerät auch nicht in Konflikt mit Savignys bereits erwähnter Kritik der »mechanischen Sicherheit« des Urteils. Denn er hat zu keiner Zeit geglaubt, dass sich auf Grundlage mathematischer Verfahren juristische Kontroversen oder Streitfragen unmittelbar entscheiden ließen. Dies gilt im Übrigen auch für Leibniz : Sein Interesse an Geometrie, Algebra oder »Logik« rührte vielmehr daher, dass er hoffte, mit ihrer Hilfe das im Laufe der Jahrhunderte zusammengebrochene juristische System neu aufrichten und rationalisieren zu können.14 Eine weitere Parallele besteht in dem schneidigen Anti-Voluntarismus, der auch bei Leibniz insbesondere im Rahmen seiner Hobbes-Kritik hervortritt.15 Mit der oft missverstandenen Bezeichnung »wirkliche Wesen« spielt Savigny auf den ›substantiellen‹ Charakter bestimmter Grundformen an, die in der Jurisprudenz immer wieder zu beobachten sind. Für Leibniz sind diese ›Formen‹ ein philosophisches Thema, das er bis auf die Lehre von den eingeborenen Ideen zurückzuführen sucht.16 So weit würde Savigny freilich nicht gehen : Er begreift die »wirklichen Wesen« nicht als wissenschaftliches Forschungsprogramm, sondern als Metapher.
(1950), S. 457–472 472 ; Hans-Peter Schneider, Leibniz und der moderne Staat, in : Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.), Leibniz und Niedersachsen (1999), S. 23–34 ; Roger Berkowitz, The Gift of Science (2005), S. 67–160 (siehe 2. Kapitel VII). 14 Siehe z.B. Carmelo Massimo De Iuliis, Leibniz and the Legal Logic : a Myth to resize, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …«. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (2015), S. 109–116, 111. Dass Leibniz zu den Pionieren der modernen Rechtslogik gehört, ist in der Forschung unbestritten, vgl. nur Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (1970), S. 102–107 (dort auch zum »Rechnen mit Begriffen«) ; Matthias Armgardt, Leibniz’s Legal Logic, in : Dieter Krimphove u.a. (eds.), Law and Logic – Contemporary Issues (2017), S. 53–65. 15 Z.B. Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in : Georg Mollat (Hg.), Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften (1885), S. 56–81 ; hier zit. nach der dt. Übersetzung : G.W. Leibniz, Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit, hg. v. Wenchao Li (2014), S. 29–31, 46–47. Savignys Kampf gegen »Willkühr« ist ebenfalls politisch motiviert. Er resultiert aus der gleichen Abneigung, die Leibniz gegen jede Art von Rechtsmonopolisierung durch den aufgeklärten Absolutismus hegt (siehe unten 5). 16 Zu den Zusammenhängen zwischen Mathematik, Jurisprudenz, Theologie, Anti-Voluntarismus und »global Platonism« bei Leibniz siehe Patrick Riley, Leibniz’ »Unvorgreiffliches Bedencken« (1698–1704). »Unprejudiced Thoughts« on Justice and Charitable Religious Reconciliation, in : Friedrich Beiderbeck, Stephan Waldhoff (Hg.), Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G.W. Leibniz (2011), S. 93–102. Siehe auch Leibniz, Elementa Juris Naturalis (1669–71), in : AA VI 1, Nr. 12, 1–6 (S. 431–485), Nr. 4, S. 459–465, 460 (mit Aussagen über Definitionen, ewige Wahrheiten und die Platonische Ideenlehre).
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2. Theoria cum praxi
In diesem Zusammenhang sei noch eine weitere Passage zur Methode der römischen Juristen herangezogen – eine Art Variante oder Erweiterung der Stelle aus der Pfandrechtsvorlesung von 1810.17 Hier findet Leibniz allerdings keine ausdrückliche Erwähnung mehr : Haben sie [die Römischen Juristen] einen Rechtsfall zu beurtheilen, so gehen sie von der lebendigsten Anschauung desselben aus, und wir sehen vor unsern Augen das ganze Verhältnis Schritt vor Schritt entstehen und sich verändern. Es ist nun, als ob dieser Fall der Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte. So ist ihnen Theorie und Praxis eigentlich gar nicht verschieden, ihre Theorie ist bis zur unmittelbarsten Anwendung durchgebildet, und ihre Praxis wird stets durch wissenschaftliche Behandlung geadelt. In jedem Grundsatz sehen sie zugleich einen Fall der Anwendung, in jedem Rechtsfall zugleich die Regel, wodurch er bestimmt wird, und in der Leichtigkeit, womit sie so vom allgemeinen zum besondern und vom besondern zum allgemeinen übergehen, ist ihre Meisterschaft unverkennbar. Und in dieser Methode, das Recht zu finden und zu weisen haben sie ihren eigenthümlichsten Werth, darin den germanischen Schöffen unähnlich, daß ihre Kunst zugleich zu wissenschaftlicher Erkenntnis und Mittheilung ausgebildet ist, doch ohne die Anschaulichkeit und Lebendigkeit einzubüßen, welche früheren Zeitaltern eigen zu seyn pflegen.18
Savigny greift die Beziehungen von Theorie und Praxis auf, die unter dem Stichwort »theoria cum praxi« bekanntlich auch in Leibniz’ Methodologie eine zentrale Rolle spielen.19 Im Anschluss kommt er auf den Vorschlag von Leibniz zu sprechen, die Rechtswissenschaft durch die Beobachtung neuer Fälle zu bereichern.20 Von der Nova methodus führt also eine Linie zur Lehrmethode der »praktischen Übungen«.21 Dass »Praxis« für Leibniz bedeutet, den konkre17 Siehe oben bei Note 10. 18 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 30–31. 19 Siehe auch Beruf (Fn. 2), S. 126 f. (»und eben diese Annäherung der Theorie und Praxis ist es, wovon die eigentliche Besserung der Rechtspflege ausgehen muß, und worin wir vorzüglich von den Römern zu lernen haben : auch unsere Theorie muß praktischer und unsere Praxis wissenschaftlicher werden, als sie bisher war«). 20 Beruf (Fn. 2), S. 127–128 (2. Kapitel V). 21 Diese Übungen charakterisiert Leibniz unter Stichworten wie Curriculum Polemicum, Breviarium Controversiarum oder Collegium Disputatorium-Practicum, Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren), in : AA VI 1,
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ten Fall zum Ausgangspunkt zu nehmen, um von hier aus die allgemeine Regel, den Grundsatz, das Prinzip oder »Element« herauszudestillieren, ist bereits ausgeführt worden. Auch unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich also : Leibniz’ ›Methode‹ darf nicht mit jener Art von »Ableitungen« verwechselt werden, die gewöhnlich mit dem »mos geometricus« der Wolff ’schen Schule oder der »Begriffsjurisprudenz« in Verbindung gebracht werden.22 3. Didaktische Funktionen der Methode
Savigny nennt in der Passage zur Methode der römischen Juristen über die Sicherheit und das Postulat einer Verbindung von Theorie und Praxis hinaus noch einen weiteren Zweck, dem die Erkenntnis allgemeiner Grundsätze dienen könnte, nämlich die »Leichtigkeit«, womit die Juristen dann beim Auffinden der Lösung zwischen Allgemeinem und Besonderem hin- und herwandern würden. Leichtigkeit, Mühelosigkeit oder Vereinfachung sind Topoi, auf die auch Leibniz immer wieder zu sprechen kommt. Wie schon ausgeführt, zielt seine Methodologie ebenfalls auf Sicherheit und Entlastung des Rechtsanwenders, worin heute die Hauptfunktionen von Dogmatik gesehen werden.23 Sie hat aber auch didaktischen Charakter, soweit sie nicht nur Lernenden, sondern auch Lehrenden, Gesetzgebern und praktischen Juristen einen Leitfaden an die Hand geben S. 259–364, 361–362 (§ 98) ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87 (§ 98 ist in dieser Ausgabe nicht enthalten). Sie zielen also in erster Linie auf die »perplexen« Fälle. Es ist vermutet worden, dass Christian Thomasius gut dreißig Jahre später an Leibniz’ Gedanken angeknüpft hat, in : Summarischer Entwurf der Grundlehren, die einem Studioso Juris zu wissen und auf Universitäten zu lernen nötig (1699), Vorrede Nr. 27 (so Ernst Heymann, Leibniz’ Plan einer juristischen Studienreform vom Jahre 1667. Ansprache am Leibniztage der Preussischen Akademie der Wissenschaften, 1931, S. 4–17, 14–15, 17). Zu den Neuanfängen im 19. Jahrhundert siehe Christoph-Eric Mecke, Rudolf von Jhering. Anonym publizierte Frühschriften und unveröffentlichte Handschriften aus seinem Nachlaß (2010), S. 11–12 (siehe auch 2. Kapitel VI). Im Übrigen wird deutlich, dass Savigny – zumindest in groben Umrissen – auch über Leibniz’ Überlegungen zu einer Reform der Gesetzgebung informiert war, Beruf (Fn. 2), S. 127. Siehe auch Akamatsu, Rückert, Politik und Neuere Legislationen (Fn. 5), S. 43, 111, sowie die Hinweise in den Biographien von Murr, Lebensbeschreibung des Fryherrn von Leibnitz (Fn. 8), S. 142, und Lamprecht, »Leben des Fryherrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz an das Licht gestellt« (Fn. 8), S. 18. 22 2. Kapitel V und VI. Dabei ist zu beachten, dass Leibniz den humanistischen Juristen große Bewunderung entgegenbringt, die unter Stichworten wie »cognitio« und »usus« eine stärkere Verbindung von Theorie und Praxis gefordert haben, vgl. Heinz Mohnhaupt, La Discussion sur »Theoria et Praxis« aux XVIIème et XVIIIème Siècles en Allemagne, in : Confluence des Droits Savants et des Pratiques Juridiques (1979), S. 278–296, 281–282 (siehe auch 2. Kapitel II). 23 Siehe 2. Kapitel V.
Konvergenzen im Rechtsdenken von Savigny und Leibniz
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soll. Im Brief an Ferrand äußert er sich über die Nützlichkeit des Auffindens der Elemente mit den Worten : Was die Elemente des heutigen gemeinen bürgerlichen Rechts betrifft, so wage ich zu versprechen, daß man mit ihnen einen jungen Mann im Zeitraum von wenigen Wochen durch Spiel und Scherz so unterrichten kann, daß er mit eben diesen Elementen alle ihm vorgelegten Fälle ohne große Mühe beurteilen und selbst die hitzigsten Kontroversen zwischen den Gelehrten nach festen Grundlagen entscheiden kann.24
Ähnliche Formulierungen enthält die Nova methodus.25 Dabei wird deutlich, dass Leibniz’ Methode auch als Kompass begreift, der den Juristen hilft, in der Fülle »unendlicher Sonderfälle«, eine Orientierung zu finden. So anspruchsvoll die Ziele der Methode unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten auch sein mögen. In politischer Hinsicht sind sie bescheiden. Sie sollten nicht mit einer ›Methode‹ verwechselt werden, deren Aufgabe darin besteht, mit Unsummen von Detailregelungen den produktiven Kräften der Juristen einen Riegel vorzuschieben. 4. Die römischen Juristen als »fungible Personen«
Es darf vermutet werden, dass Savignys umstrittene Metapher von den römischen Juristen als »fungible Personen« ebenfalls mit Leibniz zusammenhängt.26 Auch hier bildet der Vergleich von Mathematik und Jurisprudenz den Ausgangspunkt. Denn Leibniz warf die Frage auf, warum es so schwierig sei, zwischen den Aussagen eines Euklid, Archimedes oder Apollonius zu unterscheiden. Ihm scheine es, als würden sie, wie die römischen Juristen in den Pandekten, mit einer Stimme sprechen : Darüber hinaus kann man sagen, daß die Rechtsgelehrten mehrere gute Beweise gegeben haben, vor allem die alten römischen Rechtsgelehrten, von denen uns 24 Brief an Louis Ferrand vom 31. Januar 1672, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 21), Werkplan für die Rechtsreform, S. 375–379, 377. Diesen Optimismus hätte Savigny zwar nicht geteilt. Doch finden sich auch bei ihm viele Stellen, in denen er die didaktischen Funktionen der Methode hervorhebt, Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 76–79. 25 Nova methodus II (Fn. 21), § 11 (S. 41–43). 26 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 157. Zu Leibniz’ Charakterisierung der römischen Juristen als fungible Personen siehe auch die bemerkenswerten Ausführungen bei dem englischen Rechtsphilosophen John Austin (1790–1859), Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, 5. Auflage (1885), S. 677.
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Fragmente in den Pandekten erhalten geblieben sind. Ich bin ganz und gar der Ansicht von Laurentius Valla, der diese Autoren unter anderem deshalb nicht genügend bewundern kann, weil sie alle auf so richtige und genaue Weise sprechen und in der Tat auf eine Art denken, die sich der demonstrativen sehr nähert und oft gänzlich demonstrativ ist […] Diese genaue Weise, sich auszudrücken, hat bewirkt, daß alle diese Rechtsgelehrten der Pandekten sich ähnlich sind wie ein einziger Autor, obwohl sie manchmal der Zeit nach recht weit voneinander entfernt sind, sodaß man Mühe hätte, sie zu unterscheiden, wenn die Namen der Schriftsteller nicht am Kopf der Auszüge stünden. So hätte man auch Mühe, Euklid, Archimedes und Apollonius zu unterscheiden, wenn man ihre Beweise über die Gegenstände las, die der eine wie der andere behandelt hatten.27
Savigny meint, es sei die gemeinsame Methode, welcher die römischen Juristen sich verpflichtet fühlen, die »Gemeinschaft des wissenschaftlichen Besitzes« und eine »treffliche Kunstsprache«, die den Eindruck entstehen lassen, als arbeiteten sie »an einem und demselben großen Werke«. »Selbst wenn wir«, so fährt er fort, die Schriften der römischen Juristen »vollständig vor uns hätten, würden wir darin weit weniger Individualität finden, als in irgend einer anderen Literatur«.28 Im Grunde nennt Savigny also die gleichen Merkmale, worauf auch Leibniz seine Annahme von ›Fungibilität‹ stützt, nämlich gemeinsame ›Methode‹ und genaue ›Sprache‹. Gleichwohl wäre es ein Fehler, hier vorschnell von einem ›Ein27 Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (Fn. 4), IV 2, § 12 (S. 260–263). Leibniz schätzte Valla wegen seines Scharfsinns und erwähnte ihn auch in anderen Zusammenhängen. So zeichnet er den Italiener in seiner Theodicée mit der Bemerkung aus, Valla sei »nicht weniger Philosoph als Humanist« gewesen, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), Nr. 405, S. 378 (man vergleiche dieses Lob mit Leibniz’ Urteil über Pufendorf : »vir parum jurisconsultus, minime philosophus«). Auch die Verwendung des Wortes »reconcinnatus« zur Bezeichnung des Mainzer Kodifikationsprojekts »Corpus iuris Reconcinnatum« wird auf Valla zurückgehen (siehe auch 2. Kapitel II). 28 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 29–30. Weil »die Methode überall dieselbe« sei und die Kunstsprache mit der Wissenschaft ein »unauflösliches Ganzes« bilde, sei »die Idee, welche der Compilation der Pandekten zu Grunde liegt, […] nicht völlig zu verwerfen« (a.a.O., S. 29). Dem hätte Leibniz wohl widersprochen. Wenn Leibniz meint, die »Methode« der Kompilation sei so, also würde man einfach »10 Handelsbücher zusammen drucken laßen«, um die »Rechen- und Buchhalterkunst zu lehren«, dann verwirft er auch die »Idee«, von welcher bei Savigny die Rede ist, vgl. Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (1671), in : Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 256–263, 259 ; Nova methodus II (Fn. 21), § 10, S. 39–41 (zum Tadel der Pandektenordnung siehe auch die folgende Note).
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fluss‹ zu sprechen. Denn Leibniz’ Rekurs auf den italienischen Humanisten und Mitbegründer der modernen Textkritik Lorenzo Valla (1405 oder 1407–1457) lässt erkennen, dass der viel diskutierte ›Vergleich‹ zwischen römischen Juristen und ›Geometern‹ über die Aufklärung hinaus (mindestens) in die Epoche von Renaissance und Humanismus zurückreicht.29 Die Erklärung der klassischen Jurisprudenz als das Werk eines einzigen Schriftstellers findet sich im Übrigen auch bei anderen Humanisten, z.B. bei Hugo Donellus (1527–1591), der in seinen letzten Lebensjahren in Altdorf lehrte. Wie Leibniz erscheinen Savigny die literarischen Leistungen der humanistischen Jurisprudenz besonders glanzvoll. Mehr noch als die exegetisch oder überwiegend textkritisch orientierten Autoren bewundert er die systematisch ausgerichteten Werke, insbesondere des Donellus.30 Es darf vermutet werden, dass Savigny die Aussagen des Donellus über die römischen Juristen bekannt waren. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass er sich über die Vorbilder im Klaren war, auf denen Leibniz’ Überlegungen zu System und Methode fußten. Gleichwohl bleibt die Frage, wie das Konzept der »fungiblen Personen« mit der Wertschätzung des Individuellen sowohl durch Leibniz als auch durch Savigny zusammenpasst.31 Wer hier nach einer Antwort sucht, muss noch einmal zu den Elementen, Prinzipien und leitenden Grundsätzen zurückkehren, von denen bei beiden Autoren immer wieder die Rede ist. Sie wollen eine Vereinfachung dadurch erreichen, dass der rechtliche Stoff reduziert werde. Bei den 29 Dazu näher Dario Mantovani, »Per quotidianam lectionem Digestorum semper incolumis et in honore fuit lingua Romana«, in : Studi per Giovanni Nicosia, Bd. V (2007), S. 143–208, 171, 197– 199, 207. Als erster hat wohl Mario Bretone auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht, Il »Beruf« e la ricerca del »tempo classico«, in : Quaderni Fiorentini 9 (1980), S. 189–216, 203–209. 30 Vgl. Christoph Bergfeld, Savigny und Donellus, in : Ius Commune VIII (1979), S. 24–35. Die Stelle über die ›Individualität‹ der römischen Juristen findet sich in den Commentarii de iure civili I–XI (1589–1590), I, 16, § 5 (wobei Donellus sich wie Leibniz auf Valla bezieht). Zu den verschiedenen Strömungen innerhalb der humanistischen Jurisprudenz siehe Hans Erich Troje, Die Literatur des Gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, in : Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2/1 (1977), S. 615–795, 763–769 (Systemgedanke des Donellus ; »Tadel der Pandektenordnung«). Die Verbindungen zwischen Leibniz und der humanistischen Jurisprudenz, die auch neue Erkenntnisse über das Methoden- und Systemverständnis der Historischen Rechtsschule versprechen, bedürften noch genauerer Untersuchung. Hier kann nur hervorgehoben werden, dass der Systembegriff in Leibniz’ Rechtsphilosophie ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, vgl. z.B. De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (1678/79 ?), in : AA VI 4 C, S. 2782–2791, 2791. 31 Dass Leibniz dem Individuellen als einer der ersten ein unveräußerliches Eigenrecht erkämpfte, und gerade Savigny das »Eigentümliche« so sehr betonte, hat Dieter Nörr zutreffend hervorgehoben : Savignys philosophische Lehrjahre (1994), S. 265 (mit der These, es sei die Konnotation des Klassischen, die das Konzept der fungiblen Personen enthalte).
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Elementen, Prinzipien oder Grundsätzen handelt es sich um jene Schicht ›zwischen‹ Gesetz und Einzelfall, die aktuell mit dem Begriff der ›Dogmatik‹ in Zusammenhang gebracht wird.32 ›Dogmatik‹ dürfte das Stichwort sein, das einen Schlüssel zur Lösung des Rätsels der »fungiblen Personen« liefert. Wer sich an der Normproduktion mit Schriften beteiligt, die auf einer mittleren Ebene zwischen Theorie und Praxis, zwischen Gesetz und Einzelfall liegen, muss als Autor nicht unbedingt in der Öffentlichkeit hervortreten. Ja, die Betonung einer Individualität oder Eigentümlichkeit könnte sogar dazu führen, dass Argumente an Überzeugungskraft verlieren. Denn der Autor wäre dann nur eine Einzelstimme, die möglicherweise erhebliche Autorität, aber keine allgemeine Verbindlichkeit in Anspruch nehmen könnte.33 Die Stoffaufbereitung im Wege von Dogmatik zielt auf die Herstellung uniformer Verständnisbezüge und diese Uniformität lässt die Individualität des Autors hinter die Überzeugungskraft der Argumente zurücktreten. Hier dürfte einer der Gründe dafür liegen, warum innerhalb der dogmatischen Literatur nicht einmal zwischen Autoren der Wissenschaft und der Praxis unterschieden wird. Das Thema bedürfte einer selbständigen Untersuchung. 5. Ablehnung des Voluntarismus
Ein zentrales Merkmal von Savignys politischer Theorie bildet seine Ablehnung von jeglicher Art der »Willkür«. Er kämpft gegen alles bloß Künstliche, Gewollte, Abstrakte oder Zufällige.34 In diesem Punkt trifft er sich mit Leibniz, dessen fundamentale Kritik des Voluntarismus über Recht und Politik hinaus sogar die Theologie erfasst. Es können mehrere Referenzgebiete identifiziert werden, in denen die Ablehnung des Voluntarismus zur Geltung kommt. Als Beispiel sei die Differenz von Gesetz und Recht genannt : Nach ihr [der Lehre säkularen Naturrechts] entsteht im normalen Zustande alles Recht aus Gesetzen, d.h. ausdrücklichen Vorschriften der höchsten Staatsgewalt. Die Rechtswissenschaft hat lediglich den Inhalt der Gesetze zum Gegenstand. Demnach ist die Gesetzgebung selbst, so wie die Rechtswissenschaft, von ganz 32 Zu den Funktionen der Dogmatik siehe 2. Kapitel V und VI. 33 Zur »konstitutiven Akteurslosigkeit« der dogmatischen Literatur siehe Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in : Gregor Kirchhof, Stefan Magen, Karsten Schneider (Hg.), Was weiß Dogmatik ? (2012), S. 39–62, 45–46 (auf die Beziehungen zwischen Entindividualisierung, Neutralitätsgebot, allgemeiner Verbindlichkeit oder Objektivität einerseits und der Pflicht zum Tragen einer Robe andererseits kann hier nur hingewiesen werden). 34 Siehe nur die Zusammenfassung bei Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 321–328.
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zufälligem, wechselndem Inhalt, und es ist sehr möglich, daß das Recht von morgen dem von heute gar nicht ähnlich ist.35
Wie Leibniz lehnt Savigny es ab, den Begriff des Rechts aus dem Willen des Souveräns abzuleiten. Denn die Erfahrung zeigt, das oft »sehr schlechte Gesetze erlassen und aufrecht erhalten« werden. Zwischen Gesetz und Recht muss eine klare Differenzlinie gezogen werden.36 Eine weitere Parallele mit Leibniz besteht darin, dass auch Savigny hoffte, auf der Grundlage von Wissenschaft das im Laufe der Jahrhunderte zusammengebrochene juristische System wieder aufrichten zu können. Dabei ist vorausgesetzt, dass neben dem Gesetz noch andere Rechtsquellen anerkannt werden müssen. Dazu gehöre insbesondere das Gewohnheitsrecht. So hat sich Savigny zufolge auch das Römische Recht fast ganz von innen heraus, als Gewohnheitsrecht, gebildet, und die genauere Geschichte desselben lehrt, wie gering im Ganzen der Einfluß der Gesetze geblieben ist, so lange das Recht in einem lebendigen Zustande war.37
Als weiteres Beispiel sei die Differenz von Wille und Wahrheit genannt, die sowohl bei Savigny als auch bei Leibniz eine Rolle spielt. Leibniz hat, wie ausgeführt, bestritten, dass die Gerechtigkeit »etwas Willkürliches«, das sie entweder dem Willen eines Souveräns oder dem Willen Gottes entsprungen sei. Vielmehr bestehe sie in ewigen und notwendigen Wahrheiten, die unabhängig von einem Willen gelten. Zur Veranschaulichung zieht er einen Vergleich mit der Mathematik und mit den Zahlen. Auch hier lasse sich nicht sagen, dass beispielsweise der Satz »2 plus 3 ist 5« willkürlich sei und »vom Gutdünken abhängt«. Savigny hat sich zu dem Thema in einem völlig anderen Kontext in einem Brief an Wilhelm Grimm geäußert : Was Sie von Einem Deutschland und Einem Haupt schreiben, ist gewiß die Empfindung jedes redlichen und unverdorbenen Herzens. Aber, wie sie selbst sagen, die Hauptsache ist, wahr zu sein, d.h. nichts mit Willkür machen zu wollen, sondern das wahrhaft Seyende zu enthüllen und von Hemmungen zu befreyen.38 35 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 6. 36 5. Kapitel II. 37 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 33. Dass auch Leibniz, anders als die Anhänger säkularen Naturrechts, dem Gewohnheitsrecht eine wichtige Rolle beigemessen hat, wurde bereits ausgeführt (3. Kapitel V). 38 Brief an Wilhelm Grimm vom 29. April 1814, in : Stoll II (Fn. 7), S. 103–104, 104. Die Bezeichnung von Begriffen und Sätzen der Wissenschaft als »wirkliche Wesen« hängt ebenfalls mit der
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Es gäbe noch viele weitere Beispiele, an denen sich Gemeinsamkeiten zeigen ließen, die letztlich aus der Ablehnung des Voluntarismus resultieren. Dazu gehört auch die kritische Haltung gegenüber den Lehren vom Naturzustand und dem Gesellschaftsvertrag. Savigny sieht darin eine bloße Fiktion, die überdies sehr missbrauchsanfällig ist, weil sie leicht zur Legitimation autokratischer Herrschaft herangezogen werden kann.39 Mit Leibniz verbindet Savigny das Anliegen, Despotie und Tyrannei entgegenzutreten. Auch die Vorstellung vom Organismus oder organischen Prozessen, wie sie etwa in Leibniz’ Lehre von den Zweckursachen zum Ausdruck kommt, darf als Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren hervorgehoben werden. Zum Abschluss sei noch eine kurze Bemerkung zu Überlegungen Savignys gestattet, die mit Leibniz’ Theorie von den drei Stufen des Rechts in Zusammenhang gebracht werden können. 6. Praecepta iuris
In seiner »Dreistufenlehre« kombiniert Leibniz drei Elemente – oder genauer : die drei obersten Rechtsvorschriften (praecepta iuris), welche die klassische römische Jurisprudenz mit den Worten honeste vivere (ehrenhaft leben), neminem laedere (niemanden verletzen) und suum cuique tribuere (jedem das Seine gewähren) umschrieben hat.40 Auch Savigny behandelt Ulpians Einteilung, freilich erst gegen Ende seines »Systems«, weil diese »Klassification« von »neueren Schriftstellern« nicht mehr angewendet worden sei.41 Anders als Leibniz übernimmt er die Reihenfolge, in welcher Ulpian die praecepta aufführt.42 Honeste vivere ist für ihn also das erste, neminem laedere das zweite und suum cuique tribuere das dritte praeceptum. Zudem legt er einen Akzent auf die Frage nach dem Verhältnis der drei ›Stufen‹, wobei sich wichtige, bislang nicht gewürdigte Übereinstimmungen mit Leibniz ergeben. Savigny weist der von Leibniz auf der zweiten Stufe angesiedelten Billigkeit ebenfalls eine zentrale Rolle innerhalb der Rechtsordnung zu, wenn er dem ius
Annahme eines »wahrhaft Seyenden« zusammen (von Hemmungen und Widerständen, die sich der Erkenntnis entgegenstellen, ist auch bei Leibniz immer wieder die Rede, siehe die Angaben im 10. Kapitel IV 2 ; zu den ewigen und notwendigen Wahrheiten der Gerechtigkeit als eingeborene Ideen vgl. 9. Kapitel VI). 39 Siehe Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 34), S. 321–328. 40 Siehe 3. Kapitel I. 41 Im letzten Paragraphen (§ 59) seines Systems des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), das mit den Seiten 407–410 zum Abschluss kommt (siehe auch 3. Kapitel I). 42 Ulpian in D. 1.1.10 ; Inst. 1.1.3.
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strictum ein wertbestimmtes Korrektiv an die Seite stellt.43 In seiner Rechtsquellenlehre unterscheidet er zwischen einem »reinen« Rechtsprinzip, das formale Zuständigkeiten schafft, und einem »gemischten« Rechtsprinzip, vermöge dessen auch materiale Gesichtspunkte zur Geltung kommen können. In Übereinstimmung mit der entwickelten römischen Jurisprudenz behauptet er, dass Recht ohne strukturellen Formalismus (ius strictum) nicht möglich sei, dieser Formalismus aber eines Korrektivs bedürfe, welches aequitas, naturalis ratio oder ›Natur der Sache‹ genannt werde.44 Diese »beiden Elemente des Rechts« treten nicht selten »in einem bestimmten Gegensatz aus einander, bekämpfen und beschränken sich wechselseitig, um sich späterhin vielleicht in einer höheren Einheit aufzulösen«.45 Savigny erblickt im Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen also eine Grundbedingung allen Rechts. Ob oder wie dieser Konflikt in einer »höheren Einheit« aufgelöst werden könne, lasse sich nicht pauschal beantworten. Hier handele es sich um eine Frage, worauf jede Epoche ihre eigene Antwort finden müsse – eine Antwort, die nicht zu allen Zeiten gleich gut gelinge. Vor diesem Hintergrund muss interessieren, dass Savigny auf der letzten Seite seines »Systems« noch einmal auf »die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit der drey praecepta« zu sprechen kommt. Dort betont er, »das dritte« praecetum, also die Billigkeit, sei »die ergiebigste Quelle von Rechtsregeln«.46 Wie Leibniz tritt Savigny damit in einen unversöhnlichen Gegensatz mit den Lehren eines Kant, Thomasius, Pufendorf, Hobbes oder Bodin. Warum die meisten Naturrechtsdenker sich genötigt sahen, materiale Elemente aus dem Recht zu verbannen, ist bereits ausgeführt worden : Eine ›duale‹ Strukturierung der Rechtsquellen würde der Jurisprudenz ein Maß an Gestaltungsmacht verleihen, das mit dem Souveränitätskonzept des staatsrechtlichen Positivismus inkompatibel wäre.47 43 System I (Fn. 41), S. 408, 410 (siehe hierzu und zum Folgenden bereits die Ausführungen im 4. Kapitel I 1 und im Vorspann zum III. Teil). 44 Savigny, System I (Fn. 41), S. 54–56, 55. 45 Savigny, System I (Fn. 41), S. 54 f. 46 Savigny, System I (Fn. 41), S. 410. Im Beruf (Fn. 2) erblickt Savigny in der Gerechtigkeit die Ausgangsfrage aller Wissenschaft : »Aber die erste Frage darf doch wieder seyn : was ist recht und gut ?« (S. 2). 47 Nur am Rande sei noch einmal daran erinnert, dass vier Jahre nach Erscheinen von Savignys »System« der damals völlig unbekannte Jhering, der ihn 1861 einen Begriffsjuristen schelten wird, in einer Schrift mit dem Titel »Abhandlungen aus dem römischen Recht« (1844) verlautbaren lässt : »Allein mit bona fides und aequitas könnten wir das ganze Recht über den Haufen werfen. Die heutige Jurisprudenz darf keine bona fides und aequitas mehr kennen ; daß sie es nicht darf, ist ihr Vorzug vor der römischen (S. 51). Auch die »Fundamental-Operationen« seiner Lehre von der juristischen Konstruktion sind, wie Jhering selbst einräumt, lediglich »formaler«
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Die Gemeinsamkeit von Leibniz und Savigny besteht nun darin, dass beide der Jurisprudenz eine solche Gestaltungsmacht einräumen können. 7. Unterschiede zwischen Leibniz und Savigny
Neben den skizzierten Gemeinsamkeiten gibt es aber auch Themen, bei denen Savigny und Leibniz voneinander abweichen. Ein Beispiel bildet die Frage nach dem Rechtsquellencharakter des Naturrechts. Den Ausgangspunkt bildet hier für Leibniz die bereits angesprochene Fallbezogenheit der Rechtswissenschaft. So heißt es in der Nova methodus : täglich tauchen neue Fälle auf. Indessen muß sich der Rechtsgelehrte die Arbeit machen, zumindest die bekannten Regionen zu durchqueren, d.h. die bereits durchgesegelten Fälle zu sichten und zu entscheiden. Wenn er vom Sturm an neue Gestade geworfen wird, d.h. auf neue Fälle stößt, so wird er mit Hilfe eines Kompasses, nämlich des Naturrechts, leicht hindurchfinden.48
An anderer Stelle sagt Leibniz ausdrücklich, dass in bestimmten Fällen das Naturrecht als Rechtsquelle mit herangezogen werden darf.49 Savigny verneint dagegen den Rechtsquellencharakter des Naturrechts und lehnt seine subsidiäre Anwendung mit der ironischen Bemerkung ab : Wenn es »in einem Rechtsfall ein Gericht« vorziehe, »irgendeine »loi naturelle anzuwenden« und dies unter dem »Vorwand einer Ungerechtigkeit« geschehe, so könne »ihm durchaus kein Vorwurf gemacht werden«.50 Er beanstandet also vor allem die Unbestimmtheit des Naturrechts und warnt vor den Gefahren einer Kadi-Justiz. Der Abstand zu Leibniz sollte gleichwohl nicht überschätzt werden. Denn Leibniz hat zur Vermeidung willkürlicher Entscheidungen immer auch gefordert, das Naturrecht erst einmal »in Form zu bringen«, es zu systematisieren.51 Hinzu kommt, dass er eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Lehren der klassischen römischen Juristen und dem Naturrecht gesehen hat. Er hatte kein beliebiges, sondern ein durch Wissenschaft bearbeitetes Naturrecht vor Augen, das die Möglichkeit willkürlicher Entscheidungen weitgehend ausschließt. Art. Erst im reifen Alter gelangte er zu der Einsicht : »Über dem bloß Formalen […] steht als Höheres und Höchstes die substantielle Idee der Gerechtigkeit« (Nachweise im 2. Kapitel VI). 48 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 21), § 69 (S. 71). 49 Brief an Hermann Conring vom 9./19. April 1670, in : Frühe Schriften zum Naturrecht (Fn. 21), S. 339–347, 341. 50 Savigny, Beruf (Fn. 2), S. 76 und 78. 51 Z.B. im Brief an Conring vom 9./19. April 1670 (Fn. 49), S. 341.
Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm
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8. Zwischenergebnis
Die eingangs erwähnte Aussage, wonach der Kampf gegen das Naturrecht den eigentlichen Anstoß zur Gründung der Historischen Rechtsschule gegeben habe, bedarf also einer Präzisierung. Das historische, auf die römischen Juristen gegründete und an die Systematiker der humanistischen Jurisprudenz anknüpfende Naturrecht von Leibniz ist damit nicht gemeint. Im Übrigen lässt das rege Interesse an Leibniz’ Nova methodus erkennen, dass ›historisch‹ zur Umschreibung der Ziele der Historischen Rechtsschule in der Tat nicht ausreicht.52 Diesen Befund bestätigt der Enthusiasmus, mit welchem der Mitbegründer der Historischen Rechtsschule, Gustav Hugo (1764–1844), Leibniz’ Werk begegnet.
II. Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm Wie Savigny hegt der Göttinger Rechtslehrer und »erste Begründer« (Wieacker) der Historischen Rechtsschule, Gustav Hugo, Zweifel an der »Regierungsweisheit« des nach ›Vollständigkeit‹ strebenden aufgeklärten Gesetzgebers. Auch er lehnt das generalisierende, abstrahierende, ungeschichtliche Verfahren des vernunft- und naturrechtlichen Rationalismus seit Descartes und Hobbes ab. Wie ist nun zu erklären, dass Hugo als erster Vertreter der neuen, historisch orientierten Zivilrechtswissenschaft den Natur- und Vernunftrechtler Leibniz von dieser Kritik nicht nur ausnimmt, sondern geradezu fordert, zu ihm zurückzukehren ?53 Mit Savigny sucht Hugo den engen Horizont der »unmittelbar vorhergehenden Zeit« zu erweitern. Den Angriffspunkt bildet das Naturrecht von Christian Wolff (1679–1754) und seiner Schüler, die Leibniz’ Rechtslehre trivialisiert hätten. Hugo meint also eine »Rückkehr über den Kopf seines unmittelbaren Vor52 Siehe die Formulierung Savignys oben bei Note 1. Vgl. auch Heymann, Vortrag zur Feier des Leibnizischen Jahrestages (Fn. 11), S. LXXVI (Leibniz als »wichtigster Vorläufer der Historischen Rechtsschule«). 53 Erstmals im ersten Band seiner »Beyträge zur civilistischen Bücherkenntniß der letzten vierzig Jahre, aus den Göttingischen gelehrten Anzeigen und den Vorreden, besonders zu den Theilen des civilistischen Cursus, zusammen abgedruckt und mit Zusätzen begleitet. Beylage zum civilistischen Cursus und dem civilistischen Magazin« (1788–1807), Band 1–3, wo er Leibniz anführt : »Niemand komme dem Scharfsinn und der Sprache des Mathematikers so nahe, als die Verfasser, aus deren Schriften die Pandecten excerpirt sind«. In der Ausgabe von 1828 mit der Anmerkung : »Dies ist vielleicht die erste Anführung dieser von mir nachher, nicht immer zur Freude Anderer, so oft angeführten Stelle, in Allem, was ich habe drucken lassen« (S. 149–150).
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gängers Christian Wolff hinweg, dessen Schüler einen kritiklosen und äußerst engherzigen Dogmatismus in die Rechtswissenschaft eingeführt haben«.54 Über diesen Umweg soll für Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte jenes Terrain zurückerobert werden, das ihr die »unmittelbar vorhergehende Zeit« genommen hat. Schon in der ersten Lieferung der Zeitschrift, die Hugo 1790 unter dem Namen »Civilistisches Magazin« zur Verwirklichung seiner Reformbestrebungen ins Leben gerufen hat, lässt er Leibniz ein hohes Lob zuteil werden. Der erste Beitrag umreißt »den Plan, die Absicht und die Grenzen« des neuen Journals, wobei der Akzent auf dem Studium der römischen Jurisprudenz und dem Systemgedanken liegt.55 Bemerkenswert ist, dass Hugo hier den Titel von Savignys berühmtem Hauptwerk »System des heutigen Römischen Rechts« schon vorwegnimmt.56 Die eigentliche Eröffnung des Magazins erfolgt im Anschluss an die programmatische Einführung mit einem Beitrag, der den Titel »Leibnitz« trägt. Er besteht aus einer Übersetzung ausgewählter Teile der Nova methodus, die Hugo als Musterbeispiel für die Methodologie einer wissenschaftlichen Juris prudenz ansieht und mit einigen Anmerkungen versieht. Der Übersetzung ist ein kurzer Vorspann mit wertvollen Hinweisen zur damaligen Verbreitung von Leibniz’ Methodenschrift vorausgeschickt.57 So glaubt Hugo, sich entschuldigen zu müssen, dass er Leibniz präsentiert, weil es doch »ziemlich unwahrschein54 Fedor Taranowski, Leibniz und die sogenannte äußere Rechtsgeschichte, in : SZ (GA) 27 (1906), S. 190–233, 208. Taranowskis Studie darf als Pionierleistung bezeichnet werden, weil sie die Verbindungen zwischen Autoren der Historischen Rechtsschule (Hugo, Jhering) und Leibniz erstmals genauerer Betrachtung unterzieht. Leider ist sie bislang kaum zur Kenntnis genommen worden, sodass der Name »Leibniz« in der aktuellen Fachliteratur über die Historische Rechtsschule und die Pandektistik, wenn er denn überhaupt einmal erwähnt wird, nach wie vor ein Schattendasein führt (in der Studie von Joachim Rückert über »Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny« aus dem Jahre 1984 kommt er nicht einmal im Personenregister vor). 55 Gustav Hugo, Über den Plan dieses Journals, in : ders. (Hg.), Civilistisches Magazin, Bd. 1 (1791). Hier zitiert nach der »Zweyten Ausgabe« (1803), S. 1–9 (die erste Ausgabe von 1791 ist mit einem geringfügig erweiterten Vorspann und Nachwort erschienen). 56 Hugo, Über den Plan dieses Journals (Fn. 55), S. 8 : »Eben diese Bestimmungen gelten auch bey dem Systeme des heutigen Römischen Rechts selbst, welches der zweyte Punkt ist, worauf bey dem Römischen Rechte, nicht im Römischen Staate, sondern bey uns, gesehen werden muß« (Hervorhebungen im Original). 57 Hugo, Leibnitz, in : Civilistisches Magazin (Fn. 55), S. 10–18, 10–11 (Vorspann), 11–17 (Übersetzung), 17–18 (Nachwort). Im Vorspann betont Hugo : »Die Uebersetzung soll völlig getreu seyn« (S. 11). Dass sie aber eine Vielzahl von Freiheiten in Anspruch und zum Teil deutliche Akzentverschiebungen in Kauf nimmt, hat Maximilian Herberger nachgewiesen, Dogmatik (1981), S. 356–359.
Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm
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lich« sei, dass »der größere Theil« seiner Leser »diese Schrift nicht näher kennen wird«. Hugo verschweigt denn auch nicht, warum er die Auszüge gleichwohl bringt. Zwei Gründe stehen dabei im Vordergrund, nämlich die Kritik der »gewöhnlichen Methode« und Leibniz’ Würdigung der klassischen römischen Jurisprudenz. Früher habe er, Hugo, nämlich geglaubt, dass sich die Reformprojekte von Leibniz mehr auf das »deutsche Staats- und Privatrecht als das Römische« bezogen haben. Nachdem er aber, dem Hinweis eines Freundes folgend, die Nova methodus erneut in die Hand genommen habe, sei er sogleich eines Besseren belehrt worden : »Man stelle sich die Wohllust vor, mit welcher ich nun manche meiner Sätze oder Beweise bey ihm fand !«58 Hugo sagt also nicht, er sei in seinen Reformideen durch Leibniz unmittelbar ›beeinflusst‹ worden. Vielmehr behauptet er, diese Ideen schon vorher entwickelt zu haben. Seine Freude rühre vor allem daher, diese durch eine Autorität wie Leibniz bestätigt zu sehen. 1. Hugos »drey Punkte« der Jurisprudenz
Von den verschiedenen Passagen, die Hugo aus der Nova methodus in seinem Journal anführt, seien zunächst zwei Abschnitte aus dem zweiten Teil über »Einteilung und Methode« hervorgehoben. Darin unterscheidet Leibniz vier Teile der Jurisprudenz, nämlich Didaktik, Geschichte, Exegese und Polemik.59 Aus dieser viergliedrigen Einteilung entwickelt Hugo seine Lehre von den berühmten »drey Punkten«, die er in seinem »civilistischen Cursus« unter den Stichworten »Dogmatik«, »Philosophie des Rechts« und »Rechtsgeschichte« erstmals eingehender erörtert. Mit diesen Punkten korrelieren drei Fragestellungen, »welche bey irgend einem Unterricht in der Jurisprudenz« zu betrachten sind : (1) »Was ist Rechtens« ? (2) »Ist es vernünftig, daß es so sey« ? und (3) »Wie ist es Rechtens geworden« ?60
58 Hugo, Leibnitz (Fn. 57), S. 11. 59 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 21), §§ 2 und 3, S. 27 f. Die Stelle ist im 2. Kapitel V im Wortlaut wiedergegeben. 60 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 1, 2. Auflage (1799), § 16 (S. 14–16, mit erneutem Hinweis auf Leibniz). Siehe auch die stark verkürzte Darstellung im Lehrbuch der juristischen Encyclopädie, 8. Ausgabe (1835), S. 33. Dazu näher Herberger, Dogmatik (Fn. 57), S. 358–359. »Die beyden letztern Punkte«, also Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte, machen die »gelehrte, liberale« Jurisprudenz aus (iurisprudentia elegans) und führen sie zu ihren Grundlagen (siehe unten). Mit dieser Aussage bekräftigt Hugo, dass ihm, dem ›Neuhumanisten‹, in Übereinstimmung mit Savigny und Leibniz, vor allem die Epoche des juristischen Humanismus
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Unschwer ist schon beim ersten Punkt die Anlehnung an Leibniz zu erkennen, der sagte, es genüge »dem Juristen als solchem« zu wissen, »was in einem vorliegenden Fall Rechtens ist«.61 Hugo gibt auf die von ihm gestellte Frage »was ist Rechtens« folgende Antwort : »Die juristische Dogmatik. Sie macht das Handswerksmäßige der Jurisprudenz aus, und könnte auch empirisch gelernt werden, selbst ohne alle gelehrten Kenntnisse.«62 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Leibniz’ Einteilung in erster Linie als Vorlage zur Formulierung einer eigenen Konzeption dient. So führt Hugo bereits in einer Anmerkung zum »Leibnitz« im Civilistischen Magazin aus, der vierte Teil, die Polemik, sei inzwischen überflüssig geworden, sodass der »Unterricht in der Jurisprudenz« auf »drey Puncte« beschränkt werden könne.63 Das ist nicht unproblematisch, da Leibniz gerade dem polemischen Teil, dem »Gipfel aller übrigen«, besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat :64 Dass er in den casibus perplexis eine besondere Herausforderung der Jurisprudenz und in den Vorschlägen der Wissenschaft zur Lösung der hard cases den Gipfel und das Kernstück der »Dogmatik« gesehen hat, ist bereits ausgeführt worden.65 Hugo hat das Gebiet, welches wir heute als »Dogmatik« zu bezeichnen pflegen, also stark verkürzt. Die beiden anderen »Puncte« (»Ist es vernünftig, daß es so sey ?« und »Wie ist es Rechtens geworden ?«) betreffen Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte, die Hugo der »Dogmatik« gegenüberstellt.66 Dem Teil der »Exegese« misst er ebenfalls keine selbständige Bedeutung bei. Sie sei »eigentlich nur ein Theil der Rechtsgeschichte« und gehöre zur gelehrten, liberalen Jurisprudenz (iurisprudentia elegans, die nicht blos im Emendiren besteht). Durch sie ist die Jurisprudenz mit andern gelehrten Kenntnissen verwandt, die ohnehin zur Bildung der höheren Stände gehören, mit Philosophie und Geschichte.67 als vorbildhaft erscheint, wobei auch er den Akzent nicht auf die exegetisch, sondern auf die systematisch ausgerichteten Autoren legt. 61 Nova methodus II (Fn. 21), § 3 (S. 28). 62 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus (Fn. 60), § 16 (S. 15). 63 Hugo, Leibnitz (Fn. 57), S. 13, 14 (als Grund nennt Hugo, dass die Theologie inzwischen davon absehe, die Polemik oder Kontroversen »für einen eigenen Haupttheil zu halten«, S. 14). Eine ähnliche Anmerkung findet sich im Civilistischen Cursus (Fn. 60), § 16 (S. 16). 64 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 21), §§ 2, 3 (S. 27 f.) ; § 27 (S. 69), §§ 69–70 (S. 71–77) ; § 98 (nur in AA VI 1, S. 361). 65 Vgl. 2. Kapitel V und VI ; oben I 2. 66 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus (Fn. 60), § 16 (S. 15). 67 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus (Fn. 60), § 16 (S. 16). Der Mitbegründer der Historischen Rechtsschule stellt also die Philosophie (»Punct« 2) gleichberechtigt neben die Geschichte
Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm
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Hugo hat auch in späteren Werken nicht verschwiegen, dass seine drei Fragen durch Leibniz »veranlasst« gewesen seien. Aus heutiger Sicht muss interessieren, dass er den von Leibniz zuerst genannten »didaktischen oder positiven Teil« der Jurisprudenz als »Dogmatik« bezeichnete. Mit dieser Begriffswahl wird Hugo Leibniz’ didaktischen Ambitionen durchaus gerecht. Denn dieser hat, wie ausgeführt, immer wieder betont, dass seine Methodologie vornehmlich auf Sicherheit, Entlastung und Beschleunigung der Tätigkeit des Rechtsanwenders ziele, worin gegenwärtig die Hauptfunktionen von Dogmatik gesehen werden.68 Die Argumente, mit denen Hugo die auch heute noch wichtige Polemik ausblendet, vermögen zwar nicht zu überzeugen. Die zukunftsweisende Bedeutung seiner Einteilung ist aber darin zu sehen, dass er als einer der ersten und wahrscheinlich als erster überhaupt den Begriff »Dogmatik« in einem fachwissenschaftlichen Sinne in die Jurisprudenz eingebracht hat.69 Hinzu kommt der hohe Wert, den er Philosophie und Geschichte, also den Grundlagen der Rechtswissenschaft, beigemessen hat. An die Einteilung von Leibniz hat Hugo wohl nicht als erster angeknüpft. Er selbst verweist auf die Universität Halle, wo schon 1694 dogmatische, philosophische und historische Vorlesungen gehalten wurden.70 Doch ist diese durch Hugo herrschend geworden. Göttingen hat sie übernommen und bald wurde auch darüber diskutiert, wie sich aus den drei Fragestellungen drei Schulrichtungen entwickeln konnten. 2. Innere und äußere Rechtsgeschichte
Als weiteres Beispiel seien die §§ 28–29 aus dem zweiten Teil der Nova methodus angeführt, die Hugo in seinem Journal in verkürzter Fassung referiert.71 Leibniz erörtert darin die Einteilung der Rechtsgeschichte in eine »innere« und eine »äußere« Geschichte. Während die innere Rechtsgeschichte die verschiedenen Rechtssätze zum Gegenstand habe, handele die äußere Rechtsgeschichte von der (»Punct« 3). Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Savigny sagen konnte, »da doch das historische nur eine von mehreren nothwendigen Bedingungen [der Jurisprudenz] ist ?« Vgl. die in Fn. 1 wiedergegebene Stelle aus der Einleitung zu den Pandekten 1827/1828–1841/1842. 68 Siehe oben I 3 und 2. Kapitel V. 69 Dagegen verwenden ältere Autoren den Begriff »Dogmatik« in einem allgemeineren, weiteren und unbestimmten Sinne, wie er heute, zumindest in der Jurisprudenz, nicht mehr gebräuchlich ist, vgl. etwa Christian Wolff, Philosophia rationalis (1732), §§ 750 f. (S. 540 f.). Dazu näher Herberger, Dogmatik (Fn. 57), S. 330–332. 70 Hugo, Civilistischer Cursus (Fn. 60), § 18 (S. 17–19). Hier wäre vor allem an Christian Thomasius zu denken (siehe oben I 2). 71 Nova methodus II, in : AA (Fn. 21), S. 313–315.
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allgemeinen Geschichte, die zum Verständnis der Normen mit heranzuziehen sei. Dabei wird abermals deutlich, dass Leibniz den Akzent vornehmlich auf das dynamische Moment der Geschichte legt.72 Entsprechend kritisch äußert er sich über die zu seiner Zeit verbreiteten Werke zur Rechtsgeschichte, die sich häufig in einer Art Gesetzeschronik mit überwiegend antiquarischem Charakter erschöpften. Eine solch statische Sichtweise konnte einen Denker nicht zufriedenstellen, nach dessen Auffassung der Mensch in einem dauernden Zeitfluss lebt : Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen nach Leibniz in einem Kontinuum und sind eng miteinander verwoben.73 Hugo gehört nun zu den ersten Autoren, die um die Wende zum 19. Jahrhundert die bis heute geläufige Unterscheidung von innerer und äußerer Rechtsgeschichte wieder aufgreifen.74 Dabei versteht sich von selbst, dass er, wie bei den »drey Punkten«, Leibniz’ Terminologie nicht wortgetreu reproduziert, sondern in so mancher Hinsicht variiert und modifiziert.75 3. Resümee
Hugo möchte die Rechtswissenschaft nicht auf »Was ist Rechtens ?« beschränken, sondern um Philosophie und Geschichte erweitern. Im Namen der Wissenschaft kämpft er gegen jene »dogmatische Kahlheit«, die durch »die Wolffianer zur Mode geworden [war]«.76 Es überrascht daher nicht, dass Hugo auch in späteren Schriften aus seiner Bewunderung für Leibniz kein Hehl machte. So heißt es in seinem »Lehrbuch der juristischen Encyclopädie« von 1835 : Leibniz, »einer der größten Denker, ein Mathematiker und Rechtsgelehrter zugleich« habe »die Römischen Rechtsgelehrten an strenger Folgerechtigkeit [sic !] mit den Mathema-
72 Siehe bereits die Charakterisierung des historischen Teils im § 2 der Nova methodus II (Fn. 21, S. 27) : der historische Teil handele u.a. von den »Wandlungen« (mutationes) der Normen. 73 Vgl. 5. Kapitel IX. 74 Siehe z.B. Hugo, Lehrbuch der Rechtsgeschichte bis auf unsre Zeiten (1790), § 2 (S. 1) ; Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 3 : Geschichte des Römischen Rechts bis auf Justinian, 9. Auflage (1824), S. 2–3. Dazu Taranowski, Leibniz und die sogenannte äußere Rechtsgeschichte (Fn. 54), S. 208–212 ; Carmelo Massimo de Iuliis (Hg.), Gottfried Wilhelm von Leibniz. Il nuovo metodo di apprendere ed insegnare la giurisprudenza (2012), S. 80–81. 75 Siehe Taranowski, Leibniz und die sogenannte äußere Rechtsgeschichte (Fn. 54), S. 209–210. 76 Formulierung von Anton Friedrich Justus Thibaut, Über die sogenannte historische und nicht-historische Rechtsschule, in : AcP 21 (1838), S. 391–419, 407. In diesem Zusammenhang spricht Thibaut von »der, der jetzigen Periode unmittelbar vorhergegangenen Periode« (a.a.O.). Sein Sprachgebrauch stimmt also fast wörtlich mit der Formulierung von Savigny (oben bei Note 1) überein.
Die Nova methodus als Basis für Gustav Hugos Reformprogramm
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tikern verglichen, und nicht etwa im Eifer, sondern nach wiederholter ruhiger Überlegung«.77 Hugos bereits früher ausgesprochene Befürchtung, dass nicht alle Zeitgenossen seinen Enthusiasmus in Bezug auf Leibniz teilen werden, war nicht unbegründet. Denn an kritischen Stimmen hat es nach der Wende zum 19. Jahrhundert nicht gefehlt.78 Andererseits war Leibniz um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Rechtswissenschaften deutlich präsenter als zu Zeiten Savignys oder Hugos. Es sind daher noch weitere Autoren zu nennen, die an seine Rechtsphilosophie anknüpften.
77 Hugo, Juristische Encyclopädie (Fn. 60), S. 54 mit der Anmerkung (S. 56) : »Leibnit. Op. Vol. 4. P. 3 p. 267, Dixi saepius (auch Ep. T. 1. Ep. 119), post scripta geometrarum nihil extare, quod vi ac subtilitate cum Romanorum Jureconsultorum scriptis comparari possit ; tantum nervi inest, tantum profunditatis« (das ist die wörtliche Wiedergabe einer Passage des bei Dutens abgedruckten Briefes von Leibniz an Kestner aus dem Jahre 1716 ; siehe oben I bei Note 4). 78 Z.B. Paul Anselm Johann Feuerbach (1775–1833), Einige Worte über historische Rechtsgelehrsamkeit und einheimische teutsche Gesetzgebung (1816), in : ders. (Hg.), Kleine Schriften vermischten Inhalts (1833), S. 133–151, 145 (»große Verschiedenheit«) ; Johann Friedrich Kierulff (1806–1894), Theorie des gemeinen Civilrechts, Bd. 1 (1839), S. XXIII (»unsere Aufgabe eine andere«). Wie Hugo dagegen : Thibaut, Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 1, 2. Ausgabe (1817), S. 136–138 (mit Bezug auf Leibniz’ Brief an Kestner von 1716) ; Carl Theodor Welcker (1790–1869), Das innere und äußere System der praktischen natürlichen und römisch-christlich-germanischen Rechts-, Staats- und Gesetzgebungs-Lehre, Bd. 1 (1829), S. XVII und S. 74 (»bewundernswürdige Festigkeit und mathematische Folgerichtigkeit, die Wissenschaftlichkeit der römischen Jurisprudenz, die bei den Neueren nirgends vorhandene Übereinstimmung der Rechtsgelehrten«).
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12. Kapitel Leibniz’ Rechtsphilosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule : Jhering und Gierke Neben Bernhard Windscheid gehört Rudolf von Jhering zu den glänzendsten Vertretern der deutschen Pandektistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Hugo kommt auch Jhering in der Einleitung zu einer neu gegründeten Zeitschrift auf Leibniz zu sprechen, und zwar in seinem berühmten Aufsatz »Unsere Aufgabe« im ersten Band der seit 1857 gemeinsam mit Gerber herausgegebenen »Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts«. Dort wirft er die Frage auf, »warum mit dem Aufschwung der Jurisprudenz in unserem Jahrhundert zugleich ein entschiedener Widerwille gegen das Naturrecht eintrat, und warum auch die heutige Rechtsphilosophie sich eines so geringen Anklangs erfreut«. Den Grund sieht er darin, dass »unser philosophisches Bedürfnis in der Dogmatik des römischen Rechts, wie sie heutzutage behandelt wird, eine so vollkommene Befriedigung findet«. Unter dem »Eindruck dieses philosophischen Geistes« habe »Leibniz seinen bekannten und viel benutzten Ausspruch über das römische Recht« getan.1
I. Jhering liest Leibniz Leibniz’ Aussagen über die römische Jurisprudenz und die Methode sind um die Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar längst zum Gemeingut der Juristen des romanistischen Zweigs der Historischen Rechtsschule geworden. Sein Vergleich der römischen Juristen mit den großen Geometern im Kestner-Brief von 1716 wird nun mit dem Titel »bekannter und viel benutzter Ausspruch« geadelt. Damit soll nicht behauptet werden, dass sich der »Widerwille gegen das Naturrecht« abgeschwächt hätte. Nur scheint Leibniz davon auch weiterhin unberührt geblieben zu sein. 1. Ars combinatoria
Dies bestätigen die Überlegungen, die Jhering in Bezug auf die juristische Kombinatorik und die Möglichkeiten eines Rechtsalphabets anstellt. Jhering sieht 1 Jhering, Unsere Aufgabe, in : Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 1 (1857), S. 1–52, 19–20.
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das Hauptproblem der Jurisprudenz in der überbordenden Fülle des Stoffs und möchte es, wie Leibniz, durch Vereinfachung lösen.2 An diesem Punkt kommt für ihn die Methode, und zwar in Form eines Herauspräparierens von Elementen, deren Kombination und des bereits erwähnten Rechtsalphabets, ins Spiel. Jhering erörtert das Thema unter dem Stichwort »Zersetzung des Rechtsstoffs«, ohne Leibniz freilich ausdrücklich zu nennen : Nehmen wir an, daß die Zersetzung des Rechtsstoffs in der angegebenen Weise vollkommen gelungen ist, so stellt sich das Recht dar als eine Summe von einfachen, nicht weiter aufzulösenden Elementen, die wie die Buchstaben sich zu zusammengesetzten Einheiten vereinigen können und uns wie sie in Stand setzen, alle, auch die compliciertesten und ungewöhnlichsten Combinationen des Lebens zu entziffern. Wir wollen die Beschaffenheit, Brauchbarkeit und Benutzung dieses Rechtsalphabets unter beständigem Hinblick auf das der Sprache etwas näher erläutern.3
Der rechtstheoretische Zusammenhang dieser Ausführungen bedürfte einer eingehenderen Untersuchung. Hier genügt es festzuhalten, dass Jhering auch an anderen Stellen seines Werks auf Leibniz’ Kombinatorik Bezug genommen hat.4 Dabei wäre zu berücksichtigen, dass er in späteren Auflagen seines Hauptwerks einzelne Passagen, in denen sich die Verbindungen mit Leibniz geradezu aufdrängen, wieder gestrichen oder neue hinzugefügt hat.5
2 Vgl. nur Leibniz’ Darstellung der Methode in den Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in Theoria abzuhelfen (1671), in : Gottschalk Eduard Guhrauer, Leibnitz’s Deutsche Schriften, Bd. 1 (1838), S. 256–263, und im Brief an Kaiser Leopold I. (August 1671), in : AA I 1, S. 57–62 (dazu näher im 2. Kapitel). Die folgenden Ausführungen fußen auf meinem Beitrag : Leibniz’ Methodologie und politische Philosophie im Spiegel der Historischen Rechtsschule, in : Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Das Naturrechtsdenken von Leibniz – Säkularisierung der Moralphilosophie im historischen Kontext (im Erscheinen). 3 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, 1. Auflage (1858), § 39 (S. 572). Dass hier eine Verbindung mit Leibniz besteht, ist bereits im 19. Jahrhundert bemerkt worden, vgl. Gustav Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, in : Festgabe für Rudolph von Jhering, 1892 (ND Aalen 1979), S. 3–121, 38. Den Verbindungen von Leibniz und Jhering in Bezug auf das Konzept eines Rechtsalphabets wurde im 2. Kapitel (VI) eigener Abschnitt gewidmet. 4 Als Beispiel sei die Erste Abtheilung von Teil 2 des Geists des römischen Rechts, 1. Auflage (1854), genannt (§ 36, S. 512, 514). 5 Gestrichen wurde z.B. die vorstehend (Fn. 3) angeführte Stelle (Geist II/2, 1. Auflage, § 39, S. 572) in der dritten Auflage von 1875. Dort wurden aber auch neue Ausführungen hinzugefügt, die
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Jhering und Gierke
2. Der »Ort unseres Auges«
An Leibniz lässt darüber hinaus ein anderes Thema erinnern, nämlich die Augen-Metapher, die sich durch Jherings gesamtes Werk zieht.6 Ihr liegt der Gedanke zu Grunde, dass Abweichungen im Verständnis über einen Gegenstand nicht auf diesen selbst zurückzuführen sind, sondern auf die Perspektive, aus welcher wir ihn wahrnehmen. So hängt Jhering zufolge das Verständnis einer das Recht betreffenden Frage davon ab, ob wir sie entweder mit dem »Auge« bzw. »Blick« des Historikers oder mit »juristischem Auge« betrachten.7 Jhering berührt hier ein Thema, von dem bereits die Rede war. Johann Martin Chladenius hat es unter dem Stichwort des »Sehepunktes« erörtert : Wie nemlich der Ort unseres Auges, und ins besondere die Entfernung von einem Vorwurffe, die Ursach ist, daß wir ein solch Bild, und kein anderes von der Sache bekommen, also giebt es bey allen unsern Vorstellungen einen Grund, warum wir die Sache so, und nicht anders erkennen : und dieses ist der Sehe-Punckt von derselben Sache.8
»Diese Einsicht war ein Durchbruch«, weil sie den Weg zu einem Pluralismus der Erkenntnis und einer Relativität der Urteilsbildung eröffnete.9 Nun betont Chladenius ausdrücklich, er habe seine Lehre vom Sehepunkt im Anschluss an Leibniz entwickelt, der, wie ausgeführt, den Begriff der Perspektive und den mit ihm verbundenen »Standpunkt« in die Philosophie eingeführt hat.10 Dass Jheebenfalls von der Auflösung des »scheinbar unerschöpflichen Stoffs in seine einfachen Elemente« handeln (Geist II/2, 3. Auflage, 1875, § 39, S. 335). 6 Nachweise bei Christoph-Eric Mecke, Rudolf von Jhering. Anonym publizierte Frühschriften und unveröffentlichte Handschriften aus seinem Nachlaß (2010), S. 24–26 ; ders., Die Augen-Metapher bei Rudolph von Jhering (unveröffentlichtes Manuskript). 7 Jhering, Geist II/2 (Fn. 3), § 4 (S. 48). Dass bei Jhering »die historische Theorie des Rechts« gegenüber »den Grundsätzen der juristischen Wissenschaft« selbständigen Charakter hat, »obgleich der Gegenstand der Forschung eigentlich ein und derselbe ist«, betont Semen V. Pachmann, Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft (1882), hg. v. Manfred Rehbinder (1986), S. 50. 8 Lutz Geldsetzer (Hg.), Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, 1742 (ND Düsseldorf 1969), S. 187 f.; Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, 1752 (ND Wien u.a. 1985), S. 100–101 (jeweils mit Bezug auf Leibniz). 9 Reinhart Koselleck, Vorwort, in : Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft (Fn. 8), S. VII–IX, VIII (zu den Problemen dieser Auffassung siehe 8. Kapitel VI 2). 10 Dazu näher im 8. Kapitel VI 2 mit dem Hinweis auf § 57 der Monadologie (1714), übersetzt und
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rings Gebrauch der Augen-Metapher mit der durch Leibniz begründeten Perspektivität zusammenhängt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Die Frage ist nur, wie weit die Parallele trägt. Jhering begreift die ›Perspektive‹ in einem ›modernen‹, relativistischen Sinne, wonach eine Erkenntnis der Dinge, wie sie ›an sich‹ sind, im Grunde ausgeschlossen ist. Leibniz geht es dagegen weniger um die eigene Perspektive als um die des Anderen.11 Jhering hat sich beim Gebrauch der Augen-Metapher nicht explizit auf Leibniz berufen. Es ist nicht einmal sicher, ob er dessen Schriften über die Perspektivität überhaupt kannte. Feststehen dürfte jedoch, dass Jhering Leibniz sehr bewundert hat. Neben Kant und Bentham erblickt er in ihm einen der »drei bedeutendsten Schriftsteller der beiden letzten Jahrhunderte«.12 Es nimmt daher nicht wunder, dass es neben der ars combinatoria, dem Rechtsalphabet und vielleicht auch der Perspektivität noch weitere Themen gibt, die vermuten lassen, dass Jhering Anleihen bei Leibniz genommen hat. Dies gilt vor allem für sein Schaffen in der sogenannten zweiten Werkperiode.13 3. Die Frage der Gerechtigkeit
Der zweibändige »Zweck im Recht« (1877/1883) gehört bekanntlich zu den Hauptwerken des späten Jhering. Den Zweck des Rechts sieht Jhering in der Sicherung gesellschaftlicher Lebensbedingungen bei höchstmöglicher Entfaltung individueller Freiheit. »Aufgabe der Gegenwart« sei es, »an Stelle der Individual ethik die Socialethik zu setzen«.14 Der »Zweck« handelt also von der Frage, wie individuelle und kollektive Interessen in Einklang gebracht werden können. Es liegt daher nahe, einen Satz aus der Nova methodus aufzugreifen, in dem es heißt, dass
herausgegeben von Hartmut Hecht (2008), S. 41 f. (wo Leibniz sagt, dass »eine und dieselbe Stadt von verschiedenen Seiten betrachtet ganz anders und gleichsam perspektivisch vervielfacht erscheint«). Zur Einführung des Perspektivbegriffs und des Standpunktes durch Leibniz siehe nur Gert König, Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 1–13 (1971–2007), Bd. 7 (1989), S. 363–375, 366 f. (weitere Nachweise im 8. Kapitel VI 2). 11 Dazu näher im 8. Kapitel VI 2. 12 Jhering, Der Zweck im Recht, Zweiter Band, 3. Auflage (1898), S. 160. 13 Zur Unterscheidung einer ersten und zweiten Werkperiode bei Jhering vgl. Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage (2017), S. 333–337. 14 Jhering, Der Zweck im Recht II (Fn. 12), S. 159 f. (Hervorhebungen im Original).
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Jhering und Gierke
alles, was öffentlich, d.h. für das Menschengeschlecht und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es auch für die einzelnen nützlich ist, und daß somit alles Ehrenvolle nützlich und alles Schändliche schädlich ist.15
Jhering meint nun, in diesem Satz sei »das System des gesellschaftlichen Utilitarismus […] vollständig ausgeprägt«. Doch habe Leibniz es versäumt, den Gedanken zu Ende zu denken, »um das ganze System zu begründen«.16 Daran ist richtig, dass der Satz vom »utile« – vom »für das Menschengeschlecht und die Welt« Nützlichen handelt. Eine Theorie des Utilitarismus wollte Leibniz damit aber nicht begründen. Vielmehr ist der Kontext zu beachten, in welchem der Satz steht : Leibniz erörtert das Verhältnis von ius strictum und aequitas, die, wie ausgeführt, bisweilen in gegensätzliche Richtungen streben. Die Ausnutzung formaler Rechtspositionen kann zur höchsten Rechtsverletzung (summa iniuria) führen, während mit der einseitigen Verfolgung fremdnütziger Interessen die Gefahr einer Verletzung der utilitas propria einhergeht.17 In solchen Konflikten muss die Rechtsordnung auf eine höhere Art von Gerechtigkeit rekurrieren, um angemessene und ausgewogene Lösungen entwickeln zu können. Die Ziele dieser Gerechtigkeit bringt Leibniz auf die Formel : Vereinigung von Individualund Gemeinwohl ! Gerechtigkeit ist also keine statische Größe oder Proportion, sondern eine dynamische Kraft. Individual- und Gemeinwohl sind so zu optimieren, dass mit der Verfolgung eigener Interessen der soziale Gewinn für die Allgemeinheit möglichst gesteigert werde. Den Kern der Gerechtigkeit bildet mithin ein Optimierungsgedanke, den die Liebe des Weisen (caritas sapientis) zu verwirklichen sucht. Jhering erhebt nun den Einwand, Leibniz habe das »gesellschaftlich oder allgemein Nützliche mit dem individuell Nützlichen« identifiziert, und setzt dagegen : »Beides kann völlig auseinanderfallen.«18 Das hat Leibniz aber nie bestritten. Im 15 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 75 (S. 83). Siehe hierzu 7. Kapitel V (sowie das 9. und 10. Kapitel). Jhering zitiert die Nova methodus nicht aus der auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch gebräuchlichen Edition von Christian Wolff (1748), sondern aus der zwei Jahrzehnte später (1768) von Louis Dutens (1730–1812) erstellten sechsbändigen Ausgabe der Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, vgl. Der Zweck im Recht II (Fn. 12), S. 161. 16 Jhering, Der Zweck im Recht II (Fn. 12), S. 161. 17 Siehe 7. Kapitel V. 18 Jhering, Der Zweck im Recht II (Fn. 12), S. 163 (Hervorhebungen im Original). Auch in jüngerer Zeit ist noch behauptet worden, Leibniz hätte keinen Gegensatz zwischen Fremdnützigkeit und
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Gegenteil. Die von Jhering kritisierte Stelle handelt ja gerade von der Frage, wie im Falle einer Kollision des individuell Nützlichen mit dem allgemein Nützlichen ein Band geknüpft werden kann. Dabei ist Leibniz sich darüber im Klaren, dass es eine Harmonie oder Vereinigung von privaten und öffentlichen Interessen – oder in den Worten Jherings : eine »Identität des gesellschaftlich Nützlichen mit dem individuell Nützlichen« – nur im Reich der Gnade, in der Gemeinschaft der Geister mit Gott, im göttlichen und besten Staat geben wird. Den irdischen Staaten kann diese Harmonie allenfalls als Modell mit der Forderung dienen, fremdnütziges Handeln und utilitas propria in ein optimales Verhältnis zu bringen. Denn die Ziele der Gerechtigkeit lassen sich auf Erden nur annäherungsweise verwirklichen.19 Leibniz hat in seiner Nova methodus die Differenzen von Individual- und Kollektivwohl zum Gegenstand rechtsphilosophischer Untersuchung erhoben. So gelangt er zu der Frage, ob und wie eine Verbindung zwischen beiden Polen hergestellt werden kann. Dabei will er weder die »Socialethik« in einer »Individualethik« noch die »Individualethik« in einer »Socialethik« ›aufheben‹. Vielmehr begreift er die Spannung zwischen diesen beiden Polen als Differenz und als Angelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Jherings Behauptung, er hätte die Sozialethik mit dem individuell Nützlichen identifiziert, greift also zu kurz. Die Unzulänglichkeiten seiner Leibniz-Lektüre treten auch in einem anderen, thematisch verwandten Zusammenhang hervor. Abermals ringt Jhering mit dem Gerechtigkeitsbegriff : Leibniz findet das Wesen der Gerechtigkeit in dem Gedanken des Ebenmaasses relatio quaedam convenientiae und veranschaulicht es durch den Vergleich des »egregium opus architeconicum«. Aber das Ebenmaass, das er verlangt, scheint weniger den praktischen Zweck der gleichen Vertheilung des Schwergewichts und der dadurch zu erzielenden Festigkeit der socialen Ordnung als die ästhetische Befriedigung des Gefühls für Schönheit, den harmonischen Eindruck dieser Ordnung nach Art eines Kunstwerks im Auge zu haben. Bei einem Verhältniss aber, bei dem es sich nicht um die Schönheit, sondern um die Verfolgung praktischer Zwecke handelt, ist nicht der ästhetische, sondern der praktische Gesichtspunkt der maassgebende, und die Forderung der Gleichheit lässt sich hier nur durch den Nachweis begründen, dass und wie sie durch die Natur jener Zwecke geboten ist.
Eigennützigkeit gesehen, z.B. Albert Heinekamp, Das Glück als höchstes Gut in Leibniz’ Philosophie, in : The Leibniz Renaissance (1986), S. 99–125, 112. 19 Siehe 10. Kapitel III.
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Es muß mithin nachgewiesen werden, wie die Aufgabe, welche die Gesellschaft zu leisten hat, durch die Verwirklichung der Gleichheit bedingt ist.20
Jhering bezieht sich hier auf eine Passage aus der Theodicée, die ebenfalls bereits ausführlicher erörtert wurde.21 In einer Anmerkung stellt er klar, dass er die Stelle nicht selbst eingesehen, sondern einem Zitat der Rechtsphilosophie von Friedrich Julius Stahl entnommen hat.22 Sie handelt von der Vollkommenheit menschlicher Leistungen in verschiedenen Disziplinen einschließlich der Juris prudenz und der Gerechtigkeitslehre. Leibniz’ Ausführungen stehen abermals unter der Prämisse, dass es schlechthinnige Vollkommenheit auf Erden nicht gibt. So muss auch die vollkommene Gerechtigkeit der göttlichen Erkenntnis überlassen bleiben. Auf Erden kann sie bestenfalls annäherungsweise erreicht werden. Da der individuellen Vernunft Grenzen gesetzt sind, müssen sich die Menschen mit einer »ästhetischen« Deutlichkeit begnügen. So kommen die »Schönheit« und der »harmonische Eindruck einer Ordnung nach Art eines Kunstwerks« ins Spiel.23 Dabei geht es Leibniz darum zu zeigen, dass die Kunst vor allem durch eine bestimmte Art der Ordnung, durch Vollkommenheit und Harmonie auf den Menschen wirkt. Die »praktischen Zwecke« der Gleichheit, die Jhering anmahnt, hat Leibniz keineswegs verkannt. Nur erörtert er sie nicht in der Theodicée, sondern in seinen juristischen Schriften.24 Die von Jhering beanstandete Stelle ist als Fremdzitat offenbar aus dem Zusammenhang gerissen worden. Da sie von den Grenzen menschlicher Erkenntnis handelt, hatte Leibniz keinen Anlass, auf den »praktischen Zweck der gleichen Vertheilung« einzugehen.
20 Jhering, Der Zweck im Recht, Erster Band, 3. Auflage (1893), S. 370 (Hervorhebungen im Original). Der praktische Zweck der richterlichen Tätigkeit beschränke sich auf eine lediglich »formale«, »äußere« Gleichheit (a.a.O., S. 367 ; siehe auch 2. Kapitel VI). 21 Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), I, § 73 (S. 135 f.). Dazu näher im 10. Kapitel III 3. 22 Vgl. die Angaben im Zweck im Recht I (Fn. 20), S. 370, mit dem Hinweis, dass er »Stahl’s eigene Darstellung« für »völlig verfehlt« hält. Das kann nicht überraschen, da Stahl, obwohl er in seiner Rechtsphilosophie häufiger auf Leibniz Bezug nimmt, mit dessen Denken offenbar nur wenig anfangen konnte (siehe auch unten III). 23 Dazu im 7. Kapitel V 2 (in der Schönheit zeige sich eine Art der Vollkommenheit, die als Ausdruck eines göttlichen Willens gedeutet werden kann) ; siehe auch die Ausführungen im 10. Kapitel III 3 (zum Zusammenhang zwischen Schönheit, Vollkommenheit und Gerechtigkeit). 24 Z.B. in der Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693), in : Malte-Ludolf Babin, Gerd van der Heuvel (Hg.), Schriften und Briefe zur Geschichte (2004), S. 143–211, 171.
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4. Die Nützlichkeit des Sittlichen – ein göttliches Wunder ?
Jherings Spätwerk bildet eine reiche Fundgrube für Passagen, in denen Bezüge auf Leibniz sichtbar werden. Es sei daher noch ein letztes Beispiel genannt. Im zweiten Band seines »Zwecks« kritisiert Jhering Leibniz’ Zurückführung des Sittlichen auf Gott, der es einmal so eingerichtet habe, dass das Sittliche für die Gesellschaft gleichmässig wie für den Einzelnen nützlich sei. Es liegt darin bereits der erste Ansatz zu dem später von Leibniz ausgebildeten Gedanken der prästabilirten Harmonie der Weltordnung. Das Sittliche beruht dieser Auffassung zufolge nicht darauf, dass die Gesellschaft es selber aufgerichtet, weil sie es als unerlässliche Lebensbedingung erprobt hat, sondern darauf, dass Gott die positive Veranstaltung getroffen hat, dass es ihr und dem Einzelnen nützlich sei.25
Jhering weiß offenbar, dass Leibniz wichtige Teile seines juristischen Werks, etwa De casibus perplexis, Nova methodus, Ratio corporis juris reconcinnandi oder Elementa juris naturalis in jungen Jahren formuliert hat. Die Anfänge der Monadologie werden gemeinhin auf Mitte der 1680er-Jahre datiert, als Leibniz seinen Discours de métaphysique verfasste und mit Antoine Arnauld zu korrespondieren begann. Zutreffend stellt Jhering daher fest, Leibniz habe den »Gedanken der prästabilirten Harmonie« erst »später« ausgebildet. Worin liegt dieser Gedanke ? Jhering erblickt ihn darin, dass ein göttlicher Wundermann, der alles kann, auch »das Sittliche« (und dessen Nützlichkeit für den Einzelnen) durch seine absolute Macht geschaffen hat. Diese Lesart beruht auf einem Missverständnis, das bereits Kant unterlaufen ist, nämlich die prästabilierte Harmonie auf die Idee eines »großen Künstlers« der Welt zu reduzieren, der als perfekter Uhrmacher Leib und Seele synchronisiert habe. Diese Fehldeutung war lange herrschend und ist erst in jüngerer Zeit grundlegend in Zweifel gezogen worden.26 Mehrere Argumente nähren diese Zweifel : Leibniz hielt die Behauptung eines beständigen Eingreifens Gottes in das irdische Leben seiner Vollkommenheit unwürdig und warf den Okkasionalisten Wunderglauben vor. Schon deshalb 25 Jhering, Der Zweck im Recht II (Fn. 12), S. 163 f. (Hervorhebung im Original). 26 Zur Kritik der idealistischen Leibnizdeutung siehe Hubertus Busche, Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (§§ 4–7, 49–52), in : ders. (Hg.), Monadologie (2009), S. 49–80, 66–79 ; ders., Prästabilierte Harmonie – Skizze einer neuen, naturphilosophischen Interpretation, in : Herbert Breger, Jürgen Herbst, Sven Erdner (Hg.), Einheit in der Vielheit (2006), S. 27–38 (siehe hierzu und zum Folgenden auch die Ausführungen im 9. Kapitel III 2).
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musste es ihm fernliegen, das Kernstück seiner Metaphysik auf ein unerklärliches göttliches Wunder zurückzuführen. Aus seiner Sicht ist die Prästabilierung »etwas ebenso Natürliches wie die anderen, gewöhnlichsten Tätigkeiten der Natur«. Hinzu kommt, dass Leibniz das Übernatürliche nur im Urbeginn der Dinge zugeben möchte und den Substanzen (bzw. Gruppen von Substanzen) eine selbstproduktive, autonome Qualität attestiert. Immer wieder hat er betont, dass Gott die Prinzipien der Veränderung in die »Dinge selbst« gelegt hat und die ewigen Wahrheiten schon »in uns« sind, bevor wir sie wahrnehmen und zu realisieren suchen. Es sind also die Menschen selbst, und zwar sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft, welche Wahrheiten in sich tragen und für ihre Verwirklichung sorgen müssen.27 Einzelheiten können hier auf sich beruhen. Es sei nur noch darauf hingewiesen, dass Jherings Schüler ebenfalls ein reges Interesse an Leibniz, und zwar insbesondere am Gedanken des Zwecks im Recht, gezeigt haben.28
II. Sonstige Autoren und Themen Es wären noch viele weitere zeitgenössische Autoren zu nennen, die sich auf Leibniz’ Rechtslehre bezogen haben. Zu ihnen gehört Leopold August Warnkönig (1794–1866), langjähriger Redaktionsleiter der 1819 in Paris gegründeten Zeitschrift Themis, um die sich die wichtigsten Vertreter der Historischen Rechtsschule gruppierten.29 Er schrieb im Jahre 1839 : »Leibniz nimmt auch als Jurist eine eigene und ganz geniale Richtung. Er ist der erste Deutsche, der unsere Wissenschaft als Rechtsphilosophie auffaßte.«30 Bereits zehn Jahre vorher hatte Eugène Lerminier (1803–1857) in seiner auch außerhalb Frankreichs vielgelesenen Introduction générale à l’histoire du droit (1829) das Andenken an Leibniz wachgehalten.31 Zu erwähnen wäre noch Friedrich Julius Stahl (1802– 27 Siehe oben 10. Kapitel IV. 28 Vgl. z.B. Gustav Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph (Fn. 3), der in seiner noch heute lesenswerten Abhandlung dem »Zweckmoment« große Aufmerksamkeit gewidmet hat (etwa S. 9, 13 f., 16, 20, 25, 81, 97, 101, 115). 29 Vgl. Meder, Rechtsgeschichte (Fn. 13), S. 364–365. 30 Leopold August Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts (1839), S. 62. 31 In der Introduction générale à l’histoire du droit von 1829 spielt Leibniz eine zentrale Rolle, zwei Kapitel sind fast ausschließlich ihm gewidmet, und zwar das 9. (S. 127–139 : Leibniz’ Kritik an Pufendorf) und das 10. Kapitel (S. 140–156 : Leibniz’ Methodologie, seine Rechtsphilosophie, Kodifikationspläne etc.). Darüber hinaus erwähnt Lerminier Leibniz auf den Seiten X, XII, XV, XXII, 111 f., 158 f., 163 f., 223 f., 232, 235, 244, 279, 300.
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1861), der in seiner von Savigny mit angeregten Rechtsphilosophie Leibniz zwar erwähnt, ohne in ihm freilich einen bedeutsamen Rechtsdenker zu erblicken.32 Außer Betracht bleiben muss hier die Rezeption einzelner Inhalte von Leibniz’ romanistisch geprägter Privatrechtsreform. Das bekannteste Beispiel bildet das Bedingungsrecht, welches Leibniz erstmals in seinen beiden Disputationen De conditionibus von 1665 erörtert hat.33 Diese Lehre hat um die Mitte des 19. Jahrhunderts Hermann Fitting (1831–1918) wiederentdeckt.34 Ihre Bedeutung liegt auch darin, dass Leibniz hier erstmals ausführt, warum er glaubt, in den Rechtslösungen der römischen Juristen eine gleichsam mathematische Rationalität finden zu können, die er entwickeln und darstellen möchte.35
III. Zwischenergebnis Es sind also die Autoren des romanistischen Zweigs der Historischen Schule, die im 19. Jahrhundert Leibniz’ Rechtsphilosophie wiederentdeckt haben. Neben der Methode, dem System und den klassischen römischen Juristen gäbe es freilich noch viele weitere Gesichtspunkte, an welche die Romanisten hätten anknüpfen können. Stichwortartig seien nur einige Beispiele genannt : Kritik einer Ableitung des Rechtsbegriffs aus dem Phänomen der Macht, Rechtsentstehung vor und unabhängig vom Staat, Vergleich von Recht und Sprache, Unterscheidung von Gesetz und Recht, Rechtsquellenpluralismus, Föderalismus, Normsetzung durch intermediäre Zwischengewalten.36 Diese Themen fallen überwiegend in das Gebiet der Politik und wurden weder von Savigny noch von Hugo oder Jhe-
32 Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. 1 (1830), ND der 5. Auflage, 1878 (1963), S. 126–127. Siehe ferner Georg Jellinek, Die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers (1872), erneut in : Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. I (1911), S. 3–41 ; Julius Hermann von Kirchmann, Erläuterungen zu Leibniz kleineren, philosophisch wichtigeren Schriften (1879) ; ders., Erläuterungen zur Theodicée von Leibniz (1879) ; Theodor Sternberg, Vergleichende Methode und Struktur der Wissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der vergleichenden Rechtswissenschaft und ihrer Geschichte (1929/39), in : Manfred Rehbinder (Hg.), Theodor Sternberg. Zur Methodenfrage der Rechtswissenschaft und andere juristische Schriften (1988), S. 78–136. 33 AA VI 1, S. 97–150. Die Texte hat Leibniz später überarbeitet und 1669 als ein Specimen juris publiziert. Siehe Matthias Armgardt, Das rechtslogische System der Doctrina Conditionum von G.W. Leibniz, 2001 (mit Übersetzung). 34 Fitting, Über den Begriff der Bedingung, in : AcP 39 (1856), S. 305–350. 35 Dies hat zutreffend Mario Bretone hervorgehoben, Il »Beruf« e la ricerca del »tempo classico«, in : Quaderni Fiorentini 9 (1980), S. 189–216, 207 (siehe auch 1. Kapitel II). 36 Siehe nur die Zusammenfassung bei Meder, Doppelte Körper im Recht (2015), S. 321–328.
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ring mit Leibniz in Zusammenhang gebracht. Das Verdienst, an dessen politische Philosophie erinnert zu haben, gebührt denn auch einem Germanisten.
IV. Leibniz’ politische Philosophie als Fußnote der Rechtsgeschichte : Die Kritik von Gierke Der einzige Autor, der sich im 19. Jahrhundert mit Leibniz’ politischer Philosophie befasst hat, ist Otto von Gierke (1841–1921). Anders als Savigny oder Hugo begegnet der Germanist dem Philosophen mit großer Zurückhaltung. Der Kenner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Staatstheorien interessiert sich vornehmlich für Leibniz’ Konzept vom Staat als ›juristische‹ Person und sein Verständnis der Körpermetapher. Gierke kritisiert, dass Leibniz die Staatspersönlichkeit mit der Herrscherpersönlichkeit identifiziert und diese als »persona ficta« qualifiziert habe. Die Einwände formuliert er erstmals in seinem berühmten Buch über die Politik des Johannes Althusius in einer Fußnote mit den Worten : Leibniz setzt geradezu das Wesen des Staats in die »una voluntas unitasque personae civilis, qua Respublica constat«, identificirt dieselbe aber mit der durch Willensunterwerfung Aller zur Repräsentation befugten voluntas und »persona naturalis seu civilis ad instar naturalis« des Herrschers (Caesar.-Fürst. c. 11, Einl. zum Cod. dipl. 1 § 22 S. 306, Spec. dem. prop. 12 S. 532) ; wer die potestas hat, der hat das jus Reipublicae und in ihm »persona Reip. civilis seu moralis continetur«, denn diese persona ist nichts als eine persona ficta, quae in aggregatione jurium consistit (Spec. dem. prop. 1 S. 525, ähnlich bezüglich der fiktiven Natur ib. prop. 42 S. 561 und nova methodus II § 16) ; »persona summae potestatis continet in se personas subditorum civiles vel ut quidam vocant morales« (Spec. dem. prop. 57 S. 585).37 1. Die Kontroverse zwischen Gierke und Ruck über Leibniz’ Staatsidee
Diese Fußnote nimmt der Schweizer Staatsrechtslehrer Erwin Ruck (1882–1972) 1909 zum Anlass für eine monographische Untersuchung des Themas. Ruck ist 37 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880), 3. Ausgabe, Berlin 1913 (ND Aalen 1968), S. 197, Fn. 202 (Hervorhebungen im Original). Die folgenden Ausführungen fußen auf meinen Beiträgen : Leibniz’ Rezeption durch Friedrich Carl von Savigny und Otto von Gierke, in : Tilmann Altwicker, Francis Cheneval, Matthias Mahlmann, Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (im Erscheinen) ; Leibniz’ Methodologie und politische Philosophie (Fn. 2).
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der Meinung, Gierke habe die Originalität von Leibniz’ Staatsidee verkannt. Diese würde weit über ihre Zeit hinausgreifen und einem modernen Staatsverständnis Vorschub leisten. Gierkes Tadel einer Vermischung von Staatspersönlichkeit und Herrscherpersönlichkeit sei unzutreffend. Auch den Vorwurf der Fiktion will Ruck nicht gelten lassen : Leibniz’ Zusammenfassung des Staates zu einer Einheit sei eine »durch das Denken geforderte Synthese«, sein Rechtsbegriff der persona sei »nicht Fiktion, sondern Abstraktion«.38 In seiner Rezension von Rucks Monographie in der angesehenen »Deutschen Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft« (1880–1993) betont auch Gierke, dass es an einer wissenschaftlichen Untersuchung von Leibniz’ Staatsidee fehle. Er lobt Ruck, weil dieser mit seiner »Analyse noch nie im Zusammenhange gewürdigter Äußerungen Leibnizens über Begriff, Rechtsgrund und Zweck des Staates einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der politischen Ideen geliefert hat«.39 Gleichwohl hält er im Ergebnis an seinem Standpunkt von 1880 fest : Ruck habe »die Originalität der Leibnizschen Gedanken auf diesem Gebiet überschätzt«. Dabei bekräftigt Gierke noch einmal die beiden Hauptkritikpunkte : ›Identifizierung der Staatspersönlichkeit mit der Herrscherpersönlichkeit‹ und ›Fiktionstheorie‹. Drei Jahre später publiziert Gierke den IV. Band seines »Genossenschaftsrechts«. Hier findet Leibniz, abermals beschränkt auf die Fußnoten, eine häufigere Erwähnung und insgesamt auch eine freundlichere Beurteilung. Von seiner Grundposition will Gierke aber nicht abrücken. Seine Einwände formuliert er im Jahre 1913 wie folgt : Leibniz führt in der nova methodus § 16 aus, daß Rechtssubjekt (subjectum qualitatis moralis, die entweder jus oder obligatio ist) entweder eine persona oder eine res sein kann ; die Person definiert er als »substantia rationalis«, unterscheidet aber die »persona naturalis« (Deus, angelus, homo) und die »persona civilis« (»collegium, quod quia habet unam voluntatem certo signo dignoscibilem, v.g. ex pluralitate votorum, sorte etc., ideo obligare et obligari potest«) ; eine Sache erklärt er für das Subjekt, wenn z.B. einem »officium« etwas vermacht oder ein »officium« haftbar gemacht wird, sowie bei jedem »jus reale«. Die »persona civilis seu moralis« bezeichnet er ausdrücklich als eine »persona ficta«, die »ad instar naturalis« durch künstliche Willenseinigung hergestellt wird, und führt ihr Wesen schließlich auf eine Zusammenfassung von Rechten zurück ; vgl. Spec. dem. polit. prop. 1 p. 525 38 Erwin Ruck, Die Leibniz’sche Staatsidee, 1909 (2. ND Aalen 1987), S. 41–52, 47–48, 48–50. 39 Gierke, Rezension von Erwin Ruck, Die Leibnizsche Staatsidee, in : Deutsche Literaturzeitung 31 (1910), S. 564–569, 564, 566.
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(»in jure reipublicae persona ejus civilis seu moralis continetur ; nam omnes personae civiles seu fictae corporum, collegiorum, universitatum in aggregatione jurium consistunt«), prop. 57 p. 585 (persona civilis omnium jurium collectio est) ; Einl. zum Cod. gent. dipl. I § 22 p. 306 ; Caesar.-Fürst. c. 11. Die Staatspersönlichkeit deckt sich für ihn mit der Herrscherpersönlichkeit, ist daher in der Monarchie »persona naturalis«, in der Republik »persona civilis« ; Einl. zum Cod. gent. a.a.O., Caesar.-Fürst., a.a.O., Spec. dem. pol. prop. 1, 12, 57. Im Völkerrecht treten daher teils personae naturales, teils personae civiles als Subjekte auf (Einl. zum Cod. gent. a.a.O.) ; ist schon inter Principes heute Freundschaft selten (Spec. dem. pol. prop. 41 p. 560), so ist inter Respublicas weder Freundschaft noch Haß möglich, da sie ex animo stammen, jedoch »animus non nisi personarum naturalium est, civilium nullus«, während die personae naturales und ihre animi in solchen personae civiles »in perpetuo fluxu sunt« (ib. prop. 42 p. 561). – Gegen die neuerdings von E. Ruck, Die Leibnizsche Staatslehre, Tübingen 1909, verfochtene Ansicht, daß Leibniz die Staatspersönlichkeit im modernen Sinne erfaßt und für den Herrscher den Rechtsbegriff des »Organs« geprägt habe, vgl. meine Anzeige in der Deutschen Literaturzeitung von 1910, S. 566–568.40 2. Würdigung von Gierkes Leibniz-Kritik
Die Hauptkritikpunkte, die Gierke hier vorbringt, lassen sich wie folgt zusammenfassen. An erster Stelle steht wieder der Einwand, Leibniz habe die Staatspersönlichkeit mit der Herrscherpersönlichkeit identifiziert. Dieser wird nun dahingehend präzisiert, dass Leibniz je nach Staatsform zwei Arten der Herrscherpersönlichkeit unterscheide : In einer Monarchie habe die Herrscherpersönlichkeit die Bedeutung einer »persona naturalis«, während sie in der Republik als »persona civilis« zu begreifen sei. Hinzu kommen die Vorbehalte gegen die Fiktionstheorie. Die Kritikpunkte hängen zusammen und sollen im Folgenden auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Im Wesentlichen geht es dabei um die Frage, auf welchem corpus- bzw. persona-Begriff Leibniz’ politische Theorie fußt. a) Der Staat als politischer Körper Die römische und mittelalterliche Jurisprudenz hat zur Bezeichnung von Personengemeinschaften eine ganze Reihe von Fachbegriffen zum Einsatz gebracht, die mehr oder weniger gleichbedeutend sind. Dazu gehören collegium oder uni40 Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV, 1913 (ND Graz 1954), S. 446–447, Fn. 253 (Hervorhebungen im Original)
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versitas und unter dem Einfluss frühchristlicher Theologen zunehmend auch corpus. Neben den Begriff des »Körpers« ist im Laufe der Zeit noch jener der »Person« hinzugekommen, der in der »juristischen Person« sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht bis heute fortlebt. Leibniz war mit den Traditionen dieser komplizierten Terminologie gut vertraut, er handhabt sie mit der Souveränität eines professionellen Juristen. Es gibt mehrere Schriften, in denen er den Staat (res publica) als corpus und als persona charakterisiert. Das wohl bekannteste Beispiel bildet eine Passage aus seiner sogenannten »Sekuritäts-Denkschrift«, der »Securitas publica« von 1670. Dort heißt es : Denn das Reich soll eine Persona Civilis sein. Gleich wie nun in einer persona naturali oder menschlichen Leibe sich die Spiritus, das Blut und die Glieder finden, also ist in der persona civili ein perpetuum consilium, welches den Verstand und die Spiritus, ein perpetuum aerarium, welches geblüth und adern, ein perpetuus miles, welcher die Glieder repräsentiert, von nöthen, und gleichwie die Glieder von dem bluth sich nehren, das blut nicht ohne der spirituum bewegung sich reget, also kan der perpetuus miles ohne stetswerendes aerarium nicht verpfleget, das aerarium sowohl als miles sine consilio perpetuo in ordentlicher bewegung nicht erhalten oder regirt werden.41
Leibniz qualifiziert weder den Körper oder die Person des Herrschers noch den Kaiser oder König, sondern das Reich und damit den Staat (res publica) als Person. Was »Person« bedeuten kann, hatte er bereits in seiner Nova methodus von 1667 kurz umrissen.42 Dort unterscheidet er zwischen einer natürlichen (persona naturalis) und einer kollektiven Person (persona civilis). Als Beispiel für eine kollektive Person nennt er das collegium. Dabei handelt es sich, wie bereits angedeutet, um einen Terminus aus dem Gebiet des römischen Rechts. Die römischen Juristen hatten ihn in der klassischen Epoche neben corpus, universitas und anderen Bezeichnungen zur Abgrenzung von Personengemeinschaften mit geringerer Organisationsdichte gebraucht. Das schon in der antiken und mit41 Der genaue Titel der zur Verteidigung des Reichs gegen französische Truppen verfassten Denkschrift lautet : Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich iezigen Umbständen nach auf festen Fuß zu stellen, in : AA IV 1, S. 132–173 (1. Teil vom 6.-8. August 1670) und S. 174–214 (2. Teil vom 21. November 1670), S. 135 (Hervorhebungen im Original). Zur Parallelisierung von corpus und persona siehe Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (1957, dt. 1992), z.B. S. 216, 314 (die Passage wurde in einem anderen Zusammenhang im 5. Kapitel IV bereits vorgestellt). 42 Leibniz, Nova methodus II (Fn. 15), § 15 (S. 47–48). Darauf bezieht sich auch Gierke in der erwähnten Passage aus dem IV. Band des Genossenschaftsrechts (oben bei Note 40).
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telalterlichen Jurisprudenz am häufigsten genannte Beispiel für solche Gemeinschaften ist die Gesellschaft (societas), die, wie heute die Gesamthandsgesellschaft, von juristischen Personen unterschieden wird. Erst später hatte Leibniz Anlass, näher darzulegen, dass er in Parallele zu corpus, collegium oder universitas auch den Staat, das Reich oder die Kirche als persona (civilis) betrachtet.43 All das steht im Einklang mit jener Tradition, die in der Epoche von Aufklärung und Vernunftrecht allmählich brüchig zu werden beginnt. Denn schon die römischen und mittelalterlichen Juristen haben auf die Ähnlichkeit der res publica mit Personengemeinschaften wie corpus, collegium oder universitas aufmerksam gemacht.44 Die Gemeinsamkeit von Person (persona naturalis) und Staat (persona civilis) sieht Leibniz in der Willensfähigkeit, die er als Voraussetzung für die Rechtsund Handlungsfähigkeit begreift.45 Dieser Wille ist beim Staat aber kein »natürlicher«, sondern ein kollektiver Wille, der aus dem Zusammenspiel verschiedener Kräfte, aus der Wechselbeziehung zwischen den Organen des Staatskörpers resultiert.46 Im Ansatz bringt Leibniz diesen Gedanken bereits in der Nova methodus zum Ausdruck. Dort heißt es, das Merkmal einer persona civilis bestehe darin, dass sie einen einheitlichen Willen ausbilden könne. Das sei der eigentliche Grund, warum sie »verpflichten und verpflichtet werden« könne. Dieser Wille müsse »durch ein bestimmtes Zeichen erkennbar sein, z.B. durch Mehrheit der Stimmen, durch Losverfahren usw.«.47 Später wendet Leibniz diese auf das collegium zugeschnittenen Überlegungen auch auf den Staat an, wenn er betont, das wichtigste Merkmal einer res publica bestehe in einem einheitlichen Willen.48 Dieser Wille muss auf Grundlage eines 43 Vgl. neben der oben (Fn. 41) im Wortlaut wiedergegebenen Passage von 1670 die Ausführungen im Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae (1677), in : AA IV 2, S. 3–270, 57, und in der knapp zwanzig Jahre später verfassten »Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs gegen die harte Beschuldigungen eines falschgenannten Caesarei Turriani« (1696), in : AA IV 6, S. 185–239, 200–208 (zur Kirche siehe 5. Kapitel VI). 44 Dazu näher Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 36), S. 33–42. 45 Vgl. Leibniz, Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs gegen die harte Beschuldigungen (Fn. 43), S. 203 ; Praefatio (Fn. 24), S. 201. Siehe auch Ruck, Die Leibniz’sche Staatsidee (Fn. 38), S. 42. 46 Leibniz hat immer wieder betont, dass es wichtig sei, Institutionen zu schaffen, die eine Willensbildung der persona civilis ermöglichen. Wenn derartige Willensorgane fehlen, »möchte man wohl sagen, das Reich schlaffe, oder sey interims-weise bis auff eine beßere zeit, gestorben«, Wagschal gegenwärtiger Conjuncturen. Was aniezo zu thun : zu ChurMaynz und des Reichs besten (1672 ?), in : AA IV 1, S. 514–516, 515. 47 Nova methodus II (Fn. 15), § 15 (S. 47) ; dazu näher in der Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 43), S. 201. 48 Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo Rege Polonorum, 1669 (unter dem Psyeud-
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rationalen, verfassungsmäßigen Verfahrens gebildet werden und immer mit Sicherheit zu ermitteln sein. So seien in Polen die »Comitia« die Organe zur Bildung eines Staatswillens. Doch sollen dort nur einstimmig gefasste Beschlüsse gelten, was Leibniz ablehnt, weil Einstimmigkeit nur in seltenen Fällen erzielt werden könne und es dann vom Zufall abhänge, ob der Staat überhaupt handlungsfähig sei. Wie schon in der Nova methodus betont Leibniz auch in späteren Schriften, dass er Mehrheitsbeschlüsse für das bessere Mittel zur Staatswillensbildung hält.49 In all diesen Überlegungen ist nicht erkennbar, dass Leibniz Staats- und Herrscherpersönlichkeit identifizieren wollte. Sie bringen nur den bis heute gültigen Gedanken zum Ausdruck, »der Staat habe in seiner Verfassung solche Bestimmungen über die Bildung des staatlichen Willens durch Organe zu treffen, daß dieser Organ- und deshalb Staatswille im Einzelfalle stets erkennbar wird«.50 b) Juristische Fiktion und Verdoppelung des politischen Körpers Es gibt aber noch ein weiteres Argument, das gegen Gierkes Annahme spricht, Leibniz habe die Staats- mit der Herrscherpersönlichkeit gleichgesetzt, nämlich das »Trennungsprinzip«, auf welchem die antike und mittelalterliche Lehre von den juristischen Personen fußt. Es besagt, dass zwischen der kollektiven Person als solcher und ihren Mitgliedern eine scharfe Grenzlinie gezogen werden muss. onym Georgio Ulicovio Lithuano), in : AA IV 1, S. 3–98, 12 : »una voluntas unitasque personae civilis, qua Respublica constat« (Hervorhebungen im Original). 49 Specimen demonstrationum politicarum (Fn. 48), S. 12 ; siehe auch Securitas publica (Fn. 41), S. 160 (die Willensbildung erfolge in den Ratsversammlungen, deren Beschlüsse das »directorium« dann auszuführen habe). 50 Ruck, Die Leibniz’sche Staatsidee (Fn. 38), S. 47–48. Der Sache nach handelt es sich um eine Aufgabenteilung nach Funktionen, wie sie Leibniz auch in seiner »Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs« (Fn. 43) charakterisiert (S. 203). Zu den Grundlagen dieser Sichtweise in der mittelalterlichen Staats- und Korporationslehre siehe die Nachweise bei Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. III, 1881 (ND Graz 1954), S. 554 f. Es erscheint daher zweifelhaft, ob Gierke in seiner Rezension von Ruck (Fn. 39) dessen »Schluß auf eine organische Auffassung der Staatspersönlichkeit« bei Leibniz zu Recht beanstandet (S. 567 ; genau genommen geht Leibniz über den Organbegriff sogar noch hinaus, wenn er diese Kräfte als »Personen« qualifiziert, vgl. Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs, Fn. 43, S. 203–204, 206). Dass Leibniz zu den ersten modernen Theoretikern des »Organismus« gehört, ist heute anerkannt. Die Gründe sind insbesondere im Zusammenhang mit seiner Metaphysik erläutert worden, vgl. nur Marielle Echelard-Dumas, Der Begriff des Organismus bei Leibniz : »biologische Tatsache« und Fundierung, in : Studia Leibnitiana VIII/2 (1976), S. 160–186 ; Stefan Heßbrüggen-Walter, Ansgar Lyssy, Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur (§§ 63–76), in : Hubertus Busche (Hg.), Monadologie (2009), S. 175–195, 175 f. (näher im 7. Kapitel IV 2).
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Die Trennung zwischen der kollektiven Person und den (natürlichen) Mitgliedern (Individuen) führt zu einer Verdoppelung der juristischen Person, deren Konsequenzen für das Verfassungsrecht im 19. Jahrhundert erstmals Savigny in den Einzelheiten herausgearbeitet hat.51 Die durch das Trennungsprinzip erzeugte ›Doppelung‹ bildet auch das Fundament, auf welchem Leibniz’ Lehre von den juristischen Personen und damit seine politische Philosophie beruht. Er erläutert dies abermals anhand der Unterscheidung zwischen Korporation (collegium) und bloßer Gesellschaft (societas) : Durch eine Korporation werde eine »neue persona civilis geschaffen«, deren Merkmal darin bestehe, »daß das, was in das gemeinsame Vermögen fließt, nicht den Individuen, sondern der Korporation selbst gehört«.52 Dagegen beruht die bloße Gesellschaft (societas) auf einer identitären Struktur. Sie erzeugt keine ›Doppelung‹ im Sinne einer Differenz zwischen der Summe der Teile und dem Ganzen. Da sie lediglich einen ›einfachen‹ Körper bildet, darf sie nicht als persona civilis eingestuft werden. Diese Unterscheidung kommt auch auf politischer Ebene zum Tragen. Hier nennt Leibniz die confoederatio, die er dem Staat, der Kirche und der für die Idee einer europäischen Föderation wichtigen »Union« gegenüberstellt (»multum autem interest inter Confoederationem et Unionem«). Die »confoederatio« ist, wie eine societas oder eine moderne Gesamthandsgesellschaft, keine juristische Person. Dagegen muss bei Gemeinschaften wie Städten, Ländern, Reich, Staat, Europa oder Kirche zwischen der kollektiven Person als solcher und den einzelnen Mitgliedern differenziert werden. Sie haben mit den civitates und collegia also gemeinsam, dass sie eine persona civilis sind. Das ist, wie bereits angedeutet, der Gedanke der strukturellen Ähnlichkeit – oder wie es später heißen wird : der »Wesensgleichheit« von Staat (res publica) und Korporation (collegium), woran im 20. Jahrhundert die modernen Pluralismustheorien wieder anknüpfen werden. Als ein Ganzes ist der Staat von der Summe seiner Teile aber verschieden, sodass die persona naturalis mit der Persönlichkeit des Herrschers gerade nicht identifiziert werden kann. Denn dieses Ganze ist in Übereinstimmung mit der römischen universitas-Lehre eine »res incorporalis«, d.h. etwas »Ideales«, eine »Fiktion« oder eine symbolische, jedenfalls keine »natürliche« oder »tastbare« 51 System des heutigen römischen Rechts, Bd. II (1840), S. 235–373, z.B. S. 283 f., 332 : Kritik des Konzepts einer identitären ›Demokratie‹ (wie sie Rousseau vorschwebte), die diese Doppelung nicht anerkennt. Siehe auch Albrecht Koschorke u.a., Der fiktive Staat (2007), S. 338–376. 52 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 43), S. 57 (»sed in Corpore vel Collegio nova quaedam persona civilis constituitur et quae in commune aerarium illata sunt, non singulorum sunt, sed Corporis ipsius«).
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Einheit.53 Auch Leibniz hat in der persona civilis eine persona ficta gesehen und folgt damit jener Lehre, die im 19. Jahrhundert als »Fiktionstheorie« zum Gegenstand lebhafter Diskussionen geworden ist.54 Gierke gehört bekanntlich zu den prominentesten Gegnern der ›Fiktionstheorie‹. Ihren Anhängern wirft er vor, dass sie begriffsjuristisch operieren und die soziale Realität der Verbände verkennen würden. Das Problem von Gierkes energisch vorgetragener Rechtskritik liegt nun darin, dass die Vertreter der ›Fiktionstheorie‹ über die Realität der Verbände gar keine Aussage getroffen und diese wohl auch niemals angezweifelt haben.55 Wenn also Leibniz sich des rechtstechnischen Instruments der Fiktion bedient, dann heißt das zunächst nur, dass er zwei differente Sachverhalte unter bestimmten Voraussetzungen als ›gleich‹ behandeln möchte. Dass der individuelle und der politische Körper, die natürliche und die juristische Person verschieden sind, wird sich kaum bezweifeln lassen. Denn im Unterschied zu individuellen Personen können kollektive Personen keine familienrechtlichen Positionen erlangen, sie können weder heiraten noch Erblasser sein oder Schmerzensgeldansprüche geltend machen. Dabei spielt auch die Differenz zwischen ›tastbarem‹ und ›nicht tastbarem‹ Körper oder zwischen ›leiblicher‹ und ›künstlicher‹ Erscheinung von Personen eine Rolle, die Ernst Kantorowicz in seinem Buch über die »Zwei Körper des Königs« herausgearbeitet hat.56 Gierke entfachte mit seiner Kritik der Fiktionstheorie im 19. Jahrhundert einen erbitterten Streit zwischen Germanisten und Romanisten über die Frage, ob juristische Personen wirkliche Personen seien oder ob ihnen eine lediglich fiktive Persönlichkeit zukomme. Bei dieser Kontroverse handelt es sich um eine Scheindebatte, weil die Realität dessen, dem die Eigenschaft einer juristischen Person zukommt, auch von jenen Autoren nicht bestritten wurde, die mit Hilfe einer Rechtsfiktion zu dem Ergebnis gelangen, dass natürliche und juristische Personen für ›gleich‹ zu erachten sind. Vielmehr stimmen die Anhänger der Fiktionstheorie darin überein, dass juristische Personen ebenfalls ›wirkliche Wesen‹ sind, nur dass sie die Unterschiede dieser ›Wirklichkeiten‹ stärker in den Blick genommen haben. Dass solche Unterschiede bestehen, mussten am Ende frei53 Näher Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 36), S. 33–42 passim. Speziell zur Unterscheidung zwischen Konföderation auf der einen und Staat (res publica), Union oder Kirche auf der anderen Seite siehe Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus (Fn. 43), S. 57 ; Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 43), S. 192, 195, 200, 206. 54 Z.B. in Specimen demonstrationum politicarum (Fn. 48), S. 6 ; Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs gegen die harte Beschuldigungen (Fn. 43), S. 200 f. 55 Näher hierzu und zum Folgenden Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 36), S. 167, 212, 55–57. 56 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Fn. 41), S. 221–224.
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lich auch ihre Gegner einräumen. Gierkes Lehre von der »realen Gesamtpersönlichkeit« darf heute als überholt bezeichnet werden. Damit verliert der Einwand, Leibniz habe die Staats- mit der Herrscherpersönlichkeit vermengt, einmal mehr an Überzeugungskraft. Dies gilt auch für einen weiteren Kritikpunkt, den Gierke glaubt, aus diesem Einwand ableiten zu können. Gierke behauptet nämlich, Leibniz habe zwei Arten von Herrscherpersönlichkeiten unterschieden : Nur in einer Republik habe die Herrscherpersönlichkeit die Bedeutung einer persona civilis, während sie in der Monarchie eine persona naturalis sei.57 Leibniz behauptet aber nirgendwo, dass der personale Herrscher in einer absoluten Monarchie eine natürliche Person und deren Wille ein natürlicher Wille im psychologischen Sinne sei. Vielmehr sagt er, »Frankreich«, damals das Musterbeispiel einer absoluten Monarchie, »weis meisterlich seine Person zu agieren«.58 An anderer Stelle heißt es : »Voluntas Monarchae est Voluntas Civitatis«.59 Auch in einer absoluten Monarchie, wo die Gefühle des Herrschers und damit seine »natürliche« Seite leichter ins Spiel kommen, wo die Staatspersönlichkeit durch die Herrscherpersönlichkeit vielleicht sogar weitgehend absorbiert oder mindestens schwerer zu unterscheiden sein wird, ist die Persönlichkeit des Herrschers also nicht auf die natürliche Person beschränkt. Vielmehr erscheint sie hier ebenfalls als kollektive Person, als doppelter Körper mit einer individuell-natürlichen und einer kollektiv-symbolischen Hälfte und in diesem Sinne als persona civilis. Mit dieser Annahme bewegt sich Leibniz im Übrigen abermals ganz im Rahmen jener Konzepte, die Ernst Kantorowicz in seinem berühmten Buch über die »Zwei Körper des Königs« in den Einzelheiten dargestellt hat.60 57 Siehe die oben (bei Note 40) im Wortlaut angeführte Stelle aus dem IV. Band des Genossenschaftsrechts. 58 »Securitas publica« (Fn. 41), S. 189 (Hervorhebung nicht im Original). Hier wird die persona civilis also ebenfalls mit dem Staat und nicht mit dem natürlichen Willen einer Herrscherpersönlichkeit identifiziert. Auch auf die oft missverstandene Stelle »civilis persona ad instar naturalis intelligitur« aus der Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus von 1693 (Fn. 24, S. 200) kann sich Gierke (Fn. 37, 40) nicht berufen. »Intellegere« ist hier im Sinne von »vorstellen«, »imaginieren« oder »vorbilden« (Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs, Fn. 43, S. 201) zu begreifen. Im Hintergrund steht abermals das überkommene Verständnis der persona ficta, wonach die Rechtsordnung natürliche und juristische Personen in gewisser Hinsicht (hier in Bezug auf den Willen) als »gleich« bewertet. Insoweit gehen die Ausführungen in der Praefatio über die Nova methodus (Fn. 15, § 15) nicht hinaus. 59 Carl Haas (Hg.), Wilhelm Gottfried Leibnitz’s theologisches System (Systema theologicum). Eine möglichst correcte Ausgabe des lateinischen Textes und dessen Uebertragung in’s Deutsche (1860), S. 171. 60 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Fn. 41), z.B. S. 105–114, 211–224.
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c) ›Natürlicher Körper‹ und ›Maschine‹ als Imaginationen des Politischen Auch Hobbes steht in jener Tradition, die zwischen einer individuell-natürlichen und einer kollektiv-symbolischen Seite der Herrschaft unterscheidet. Anders als Leibniz schreibt Hobbes die Möglichkeit, Person zu sein, aber nicht dem Staat, sondern der Herrscherpersönlichkeit zu.61 Wenn er den Souverän als persona civilis charakterisiert, fügt er der traditionellen Lehre noch eine weitere Fiktion hinzu. Denn nach seiner Auffassung hat es bekanntlich des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, durch einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän den Frieden zu sichern. Diesen Vertrag begreift Hobbes als einen Schöpfungsakt (imitatio creationis), durch den ein »künstlicher Mensch« (artificial man), ein Automat oder eine Maschine, erzeugt worden sei.62 Zwar lebt bei Hobbes die mittelalterliche Lehre von den zwei Körpern des Königs ebenfalls noch fort : Auch er begreift den anderen, zweiten und politischen Körper des Königs als »corpus fictum«.63 Doch hat er ihm ein mechanistisches Paradigma unterlegt. Hobbes’ Lehre von der Herrscherpersönlichkeit beruht damit auf einer doppelten Fiktion : Einmal auf der Fiktion einer Übereinkunft – eines Schöpfungsaktes, wodurch ein künstlicher Mensch geschaffen worden, und zweitens auf der aus der antiken und mittelalterlichen Tradition bekannten Fiktion, wonach die kollektive Person unter bestimmten Voraussetzungen wie eine individuelle Person zu behandeln sei. Dagegen bildet für Leibniz der natürliche Körper des Menschen die Grundlage für eine Imagination des Politischen. Gegen Hobbes betont er daher, dass es bereits im Naturzustand eine Rechtsordnung gegeben habe, dass zwischen Gesetz und Recht zu unterscheiden, der Voluntarismus abzulehnen und eine geteilte Souveränität zu befürworten sei. Ungeachtet dieser fundamentalen Differenzen lässt sich aber weder von Hobbes noch von Leibniz sagen, dass sie die Herrscherpersönlichkeit mit der Staatspersönlichkeit identifiziert oder den personalen Herrscher gar als natürliche Person qualifiziert hätten.
61 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Introduction by K.R. Minogue (1973), XVI (S. 85) und XVII (S. 89 f.). Siehe auch Janne Elisabeth Nijman, The Concept of International Legal Personality (2004), S. 51–53. 62 Hobbes, Leviathan (Fn. 61), Introduction (S. 1). Dazu näher im 5. Kapitel sowie im 7. Kapitel IV 1 (siehe ferner Meder, Doppelte Körper im Recht, Fn. 36, S. 112–120). 63 Horst Bredekamp, Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes Leviathan, in : Wolfgang Ernst, Cornelia Vismann (Hg.), Geschichtskörper (1998), S. 105–118 (unter dem Gesichtspunkt einer »künstlichen Ewigkeit« des Regenten).
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3. Zwischenergebnis
Im 19. Jahrhundert hat lediglich Gierke die Staatsidee von Leibniz, und zwar beschränkt auf eine Fußnote, untersucht. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dieser Fußnote gelangt Erwin Ruck 1909 zu dem Ergebnis, dass Leibniz die mittelalterliche Staatsidee mit neuen Problemstellungen in Verbindung gebracht und so einem modernen Staatsverständnis vorgearbeitet habe. Dies bestreitet Gierke in seiner Erwiderung aus dem Jahre 1910. Wer die Positionen würdigen möchte, muss zunächst klären, was ›modern‹ eigentlich bedeuten kann. Weder Ruck noch Gierke verstehen darunter den zentralistischen Einheits- oder Nationalstaat, wie er Bodin, Hobbes oder Pufendorf vorschwebte und bis heute als ›modern‹ bezeichnet wird. Das Gegenteil ist der Fall. Ruck sieht in Leibniz einen Vordenker des ›modernen‹ Staates, weil er der absolutistischen Richtung »rechtsund verfassungsmäßige Gedanken entgegensetzte«.64 Gierke, bekanntlich ebenfalls ein Gegner des zentralistischen Staatsmodells, ist dagegen der Meinung, dass nur eine »organische Staatsauffassung« das Prädikat ›modern‹ verdienen kann. Um eine solche zu begründen, bedürfe es einer Überwindung der Fiktionstheorie und der Anerkennung seiner Lehre von der »realen Gesamtpersönlichkeit«. Wer im Einklang mit den antiken und mittelalterlichen Autoren an der Unterscheidung zwischen der fiktiven Person auf der einen und der Summe ihrer Mitglieder auf der anderen Seite festhalte, gelange nicht zu einer ›modernen‹ Auffassung und bleibe vormodernen Vorstellungen verhaftet.65 Ruck sucht diesem Argument dadurch zu begegnen, dass er die Bedeutung der Fiktionstheorie für Leibniz’ politisches Denken herunterspielt.66 Dem hat Gierke zu Recht widersprochen.67 Denn Leibniz darf in der Tat als ein entschiedener Verfechter dieser Theorie angesehen werden : Als Grundlage der Lehre 64 Ruck, Die Leibniz’sche Staatsidee (Fn. 38), S. 53. 65 Gierke, Rezension von Ruck (Fn. 39), S. 567 ; Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (Fn. 37), S. 136–138 ; Genossenschaftsrecht III (Fn. 50), S. 285. Im Hintergrund stehen Gierkes Widerstände gegen die romanistische Tradition dieser Lehre (dazu näher Meder, Doppelte Körper im Recht, Fn. 36, z.B. S. 54–55, 57, 60). Das Lob der Romanisten (oben III) mag die Vorbehalte gegenüber Leibniz noch verstärkt haben. 66 Ruck, Die Leibniz’sche Staatsidee (Fn. 38), S. 49 : Wenn »auf das fictae besonderes Gewicht gelegt werden will, so ist dagegen zu sagen, daß es sich mit dem Zusatz »seu fictae« um eine durch die zu Leibnizens Zeit herrschende Terminologie (persona artificialis, ficta) bedingte Erklärung des civilis handelt«. Ruck meint also, es handele sich lediglich um eine zeitbedingte, terminologische Petitesse. 67 Rezension von Ruck (Fn. 39), S. 567.
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vom doppelten Körper ist die ›Fiktionstheorie‹ geradezu eine der tragenden Säulen seiner politischen Philosophie. Wenn Ruck im Ergebnis dennoch Recht zu geben ist, so hat dies einen anderen Grund. Aus der Kritik der ›Fiktionstheorie‹ lässt sich kein Einwand gegen die ›Modernität‹ von Leibniz’ Staatsidee herleiten. Gierkes Lehre von der »realen Gesamtpersönlichkeit« hat sich nicht durchsetzen können und die Annahme einer Trennung zwischen der juristischen Person als solcher und der Summe ihrer Mitglieder ist bis heute herrschend geblieben. 4. Weitere Äußerungen von Gierke über Leibniz : Relative Souveränität, Föderalismus, Bundesstaatstheorie
Obwohl Gierke in seiner Rezension an dem Standpunkt von 1880 festhält, scheinen ihn die Argumente von Ruck beeindruckt zu haben. Das zeigt nicht nur der milde Ton, den er in seiner Rezension anschlägt, sondern auch die Tatsache, dass er auf Leibniz im IV. Band seines Genossenschaftsrechts häufiger als in früheren Schriften zu sprechen kommt. Lässt man die vorstehend erwähnte Passage,68 die vornehmlich einer Verteidigung früherer Positionen dient, einmal außer Betracht, so erscheint Leibniz’ politische Philosophie an anderen Stellen, abermals überwiegend in Fußnoten, nun in einem günstigeren Licht. Ein Beispiel bilden die Ausführungen im Abschnitt über die »Staatstheorie des Naturrechts« (§ 17). Hier würdigt Gierke Leibniz’ Souveränitätsbegriff. Insbesondere findet seine Zustimmung, dass Leibniz den Boden für verfassungsmäßige Beschränkungen der obersten Gewalt dadurch zu verbreitern [suchte], daß er dem Souveränitätsbegriff der Schule grundsätzlich zu Leibe ging und wegen der Bedingtheit aller menschlichen Verhältnisse statt der absoluten Souveränität überhaupt nur eine relative Souveränität anerkannte.69
Mit »Bedingtheit aller menschlichen Verhältnisse« spielt Gierke auf eine Passage aus dem »Fürstenerius« an, in welcher Leibniz Hobbes entgegentritt und davor warnt zu glauben, dass sich das Leben auf Grundlage absoluter, abstrakter oder logischer Kategorien meistern ließe. Sobald mit diesen Kategorien etwas nicht 68 Siehe oben (bei Note 40). 69 Genossenschaftsrecht IV (Fn. 40), S. 461–462 ; ähnlich freilich bereits in : Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (Fn. 37), S. 178–178. Leibniz’ Vorstellungen über eine »relative Souveränität« beginnt die aktuelle Literatur gerade wieder neu zu entdecken, vgl. Nijman, The Concept of International Legal Personality (Fn. 61), S. 58–59 (freilich ohne Bezug auf Gierke, aber mit Verwendung des Begriffs »relative Souveränität«).
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übereinstimme, müsse dann gleich von einem »monstrum« oder Anarchie gesprochen werden. Im Grunde würden nach Bodins, Hobbes’ oder Pufendorfs Theorie der ungeteilten Souveränität fast überall, sogar in Frankreich, anarchische Verhältnisse herrschen, weil sich diese Lehre nur in Staaten verwirklichen lasse, deren König Gott ist.70 Leibniz warnt mithin davor, dass bei einer solchen Staatsphilosophie die Grenzen zu Despotie und Tyrannei leicht überschritten werden. Er wolle ja gar nicht bestreiten, dass ein relativer Souveränitätsbegriff viele Schwierigkeiten mit sich bringe. Doch habe die Erfahrung gezeigt, dass die Menschen gewöhnlich einen mittleren Weg einschlagen. Die Relativierung des Souveränitätsbegriffs steht also in einem breiteren erkenntniskritischen Zusammenhang, der sich auch als Relativierung des mos geometricus begreifen ließe. Offenbar folgt Leibniz seiner Maxime theoria cum praxi, ohne sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf sie zu berufen.71 Ähnlich positiv äußert Gierke sich in dem anschließenden Abschnitt über die »Korporationstheorie des Naturrechts« (§ 18). Zwar habe kein Autor eine »so kühne und folgerichtige Durchführung« des föderalen Gedankens unternommen, wie »sie Althusius vollzogen« habe. Doch wird Leibniz immerhin attestiert, diesen Ansatz »kraftvoll erneuert« zu haben.72 70 Caesarinus Fürstenerius, De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae (Fn. 43), S. 59– 60 (»locum ergo demonstrationes Hobbianae in ea tantum Republica habent, cujus Rex Deus est«) ; siehe auch Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs (Fn. 43), S. 205. 71 Nur am Rande sei bemerkt, dass in der Annahme eines gegliederten Aufbaus der Gesellschaft der Grund liegen dürfte, warum Leibniz so oft betont, die verschiedenen Machtzentren müssten sich im Falle eines Konflikts »vergleichen«, bei der Bildung eines einheitlichen Willens des »ganzten Staates« komme es »auff ein stillschweigendes Nachgeben des Interesses oder auff einen ausdrücklichen Vergleich« an (z.B. Verthaydigung der Hohen Stande des Reichs, Fn. 43, S. 204 und 205). Dabei verdient Hervorhebung, dass die Begriffe von Mediation oder Schiedsgerichtsbarkeit eine lange Tradition haben, die von der Antike über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis in die Epoche von Leibniz reichen. Zu Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit im römischen und mittelalterlichen Recht siehe Luciano Martone, Arbiter – Arbitrator. Forme di giustizia privata nell’età del diritto comune (1984) ; siehe auch Karl S. Bader, Arbiter arbitrator seu amicabilis compositor, in : SZ (KA) 77 (1960), S. 239–276 ; Heinz Duchhardt, »Friedensvermittlung« im Völkerrecht des 17. und 18. Jahrhunderts : Von Grotius zu Vattel, in : ders. (Hg.), Studien zur Friedensvermittlung in der Frühen Neuzeit (1979), S. 89–117 ; Victor Ivo Comparato, Mediazione politica e teoria dello stato. Note su Bodin e Hobbes, in : Archivio Storico Italiano 144 (1986), S. 2–33. Weitere Nachweise bei Andreas Blank, Leibniz and the Early Controversy over the Right of International Mediation, in : Wenchao Li (Hg.), »Das Recht kann nicht ungerecht sein …« (2015), S. 117–135. 72 Genossenschaftsrecht IV (Fn. 40), S. 491. Im Anschluss (S. 492) folgt der Hinweis, dass »jede Korporation als Erzeugnis eines gleichartigen Vorgangs [erscheint], wie er den Staat hervorge-
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Im selben Abschnitt würdigt Gierke zudem Leibniz’ Beitrag für die Entwicklung eines modernen Völkerrechts, welcher auch gegenwärtig wieder in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses zu rücken scheint.73 Erwähnt sei darüber hinaus Gierkes Bemerkung, dass Leibniz zu den ersten Autoren gehöre, die den Begriff des Bundesstaates »in gewissem Umfang« verfochten haben.74 Dies verdient Hervorhebung, weil Leibniz in der neuesten Literatur geradezu als ›Erfinder‹ der modernen Bundesstaatstheorie gewürdigt wird.75 Was Gierke unter »Bundesstaat« genau verstanden hat, ist freilich schwer zu beurteilen, da der im IV. Band des »Genossenschaftsrechts« geplante Abschnitt »über die Bundesstaatslehre in der Literatur des positiven Staatsrechts« (§ 22) nicht mehr zur Ausführung gelangt ist.
bracht hat«. Dass hier der Name Leibniz nicht genannt wird, muss verwundern. Denn kaum ein Autor (auch nicht Althusius) hat den von Gierke unter dem Stichwort »Wesensgleichheit« für die späteren Theorien des Pluralismus bedeutsamen Gedanken sorgfältiger begründet als Leibniz. 73 Siehe nur Francis Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung (2002), S. 51–131 ; Nij man, The Concept of International Legal Personality (Fn. 61), S. 58–68 ; Luca Basso, Regeln einer effektiven Außenpolitik, in : Studia Leibnitiana 40 (2008), S. 139–152 ; Thomas Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht (2012), S. 261–271 ; Peter Nitschke, Die Leibnizsche Vision von Europa, in : ders. (Hg.), Gottfried W. Leibniz : Die richtige Ordnung des Staates (2015), S. 91–111 ; Peter Schröder, Staat, Religion und Völkerrecht in der politischen Philosophie von Leibniz, in : Die richtige Ordnung des Staates, a.a.O., S. 33–47 ; Heinhard Steiger, Supremat – Außenpolitik und Völkerrecht bei Leibniz, in : Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.), Umwelt und Weltgestaltung (2015), S. 135–206, 193–194 ; Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts (2016), S. 221–233 ; Tilmann Altwicker, Völkerrechtsmetaphysik bei G.W. Leibniz, in : ders., Francis Cheneval, Matthias Mahlmann (Hg.), Rechts- und Staatsphilosophie bei G.W. Leibniz (im Erscheinen). 74 Gierke, Genossenschaftsrecht IV (Fn. 40), S. 539–541 ; Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (Fn. 37), S. 245–257 (dort auch zu älteren Autoren, die das Thema unter dem Stichwort des »zusammengesetzten Staates« erörtert haben). 75 Hans-Peter Schneider, Leibniz, in : Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (1977), S. 198–227 ; ders., Leibniz und der moderne Staat, in : Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.), Leibniz und Niedersachsen (1999), S. 23–34, 26 ; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (1988), S. 236–237 ; Nijman, The Concept of International Legal Personality (Fn. 61), S. 67 ; Wolfgang Burgdorf, Securitas publica, in : Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.), Umwelt und Weltgestaltung (2015), S. 57–79, 64 ; Friedrich Beiderbeck, Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das politische Denken von G.W. Leibniz, in : ders., Stephan Waldhoff (Hg.), Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G.W. Leibniz (2011), S. 155–173, 160. Bei keinem dieser Autoren findet Gierke Erwähnung. Zur Kritik dieser Sichtweise siehe oben 5. Kapitel III.
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5. Eher Leibniz als Althusius ?
Alles in allem hat Gierke zentrale Merkmale von Leibniz’ politischer Philosophie erkannt und auch zutreffend gewürdigt. Es fragt sich daher, warum er nicht Leibniz mehr in den Mittelpunkt jener Studie rückte, die er 1880 Althusius gewidmet hat. Ein möglicher Grund ist bereits angesprochen worden : Es darf vermutet werden, daß Leibniz’ starke romanistische Ausrichtung, die auch in seiner Lehre von den Korporationen einen Niederschlag gefunden hat, bei Gierke Widerstände erregt hat. Andererseits erörtert auch Althusius die Korporationen unter dem Begriff »persona repraesentata«, einem Synonym für die persona ficta.76 Unzweifelhaft hat Gierke fasziniert, dass die Politik des Althusius »von der Sohle bis zum Scheitel« im »Geist des Föderalismus« steht : Wenn der Aufbau der Gesellschaft im Sinne des korporativ gegliederten Ganzen ein Kerngedanke des echt mittelalterlichen Systemes war, so liegt doch der Unterschied darin, daß, was im Mittelalter in der Richtung von oben nach unten konstruirt worden war«, bei Althusius »in der Richtung von unten nach oben rekonstruirt wird.77
Leibniz hat zwar den engeren Kreisen, namentlich den »Sozietäten«, größte Aufmerksamkeit gewidmet und darf wie Althusius als entschiedener Verfechter der föderalen Idee bezeichnet werden. Allerdings hat er keinen linearen Ansatz verfolgt, der von unten nach oben oder in die umgekehrte Richtung führt.78 Gegen Gierke hätte sich Leibniz vielleicht mit dem Argument verteidigt, dass ein linearer Ansatz, selbst in Form einer bottom-up-Herangehensweise, dem Phänomen sich überlappender Normsetzung simultan operierender Akteure nicht hinreichend Rechnung tragen könne. Jedenfalls kreist sein politisches Denken um die philosophische Frage, wie sich in der größtmöglichen Vielheit die größtmögliche Einheit verwirklichen lasse. Es ist also ein dynamisches Weltbild, die Idee sich gleichzeitig bewegender Körper, welche über das mehr statische Ordnungsgefüge nicht nur des Mittelalters, sondern auch des Althusius hinausgreift. Ein weiterer Unterschied zu Althusius besteht darin, dass Leibniz fundamen76 Johannes Althusius, Politica methodice digesta (1603), 3. Auflage (1614), z.B. V 9, dt. Althusius, Politik, hg. v. Dieter Wyduckel (2003), S. 49–50. 77 Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (Fn. 37), S. 226. 78 Dabei wären auch die unterschiedlichen Biographien zu berücksichtigen : Während Leibniz im Dienste von Territorialfürsten stand, suchte Althusius als Stadtsyndikus die »engeren Kreise« vor hoheitlichen Übergriffen zu schützen.
Resümee
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tale Individualrechte wie Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Eigentum zur Grundlage seiner Rechtskonzeption erhebt.79 Derartige Rechte spielen bei Althusius keine große Rolle. Mit dem Begriff »politeuma« scheint er aber die Frage immerhin angesprochen zu haben, unter welchen Voraussetzungen der frühneuzeitliche Bürger Rechte der Partizipation und Mitbestimmung geltend machen kann.80 Mit Althusius verbindet Leibniz, dass er als Vordenker des politischen Pluralismus gelten darf, von denen aus eine Linie über Gierke, den englischen Pluralismus, den ›Neopluralismus‹ bis hin zu den aktuellen Debatten führt.81 Heute beginnt sich die Auffassung zu verbreiten, dass der gegenwärtige Rechtspluralismus dem mediävalen System mit seiner Teilung der Souveränitäten in vieler Hinsicht näher stehe als dem aus dem Geist des Absolutismus entsprungenen Nationalstaat. Das ist auch der Standort, von dem aus Leibniz seine politische Philosophie entworfen hat. Es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis diese eine Renaissance erlebt.82
V. Resümee Leibniz’ Rechtsphilosophie ist um die Wende zum 19. Jahrhundert durch Autoren der Historischen Rechtsschule wiederentdeckt worden. Ihr Interesse galt seinen Aussagen über die klassische römische Jurisprudenz, seiner Methodologie und seinen Vorstellungen über die Konzeption eines ›Systems des heutigen Römischen Rechts‹. Was den Zugriff auf die romanistische Tradition anbelangt, lassen sich mindestens drei Gemeinsamkeiten feststellen, die bislang nicht hinreichend gewürdigt wurden : Erstens steht Leibniz, wie Savigny oder Hugo, der mittelalterlichen Scholastik und den frühneuzeitlichen Anbauten an das römische Recht ablehnend gegenüber. Mit seiner Methodologie knüpft er zweitens 79 Dies folgt bereits aus der Dreistufenlehre, dazu jüngst Hubertus Busche, Leibniz’ Lehre von den drei Stufen des Naturrechts, in : »Das Recht kann nicht ungerecht sein« (Fn. 71), S. 29–53 ; siehe auch Ruck, Leibniz’sche Staatsidee (Fn. 38), S. 44–45 (zur Eindämmung einer schrankenlosen Ausdehnung staatlicher Tätigkeit unter den Bedingungen des aufgeklärten Absolutismus und gegen Hobbes). 80 Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 36), S. 93. 81 Patrick Riley, Three 17th Century German Theorists of Federalism : Althusius, Hugo and Leibniz, in : Publius 6 (1976), S. 7–41 ; Leroy E. Loemker, Leibniz and the Herborn Encyclopedists, in : Journal of the History of Ideas 22 (1961), S. 323–338. 82 Zur Frage, ob Leibniz als der erste Globaldenker zu betrachten ist, vgl. Meder, Letztes Universalgenie oder erster globaler Denker ?, in : JZ 71 (2016), S. 1073–1081, 1080–1081.
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an jene Richtung innerhalb der humanistischen Jurisprudenz an, die über bloße Textkritik hinaus das im Corpus iuris civilis kompilierte Recht nach ›logischen‹ Gesichtspunkten neu zu ordnen suchte. Und drittens möchte er den Weg zum Denken der klassischen römischen Juristen zurückfinden, um von hier aus ein »System« zu errichten, das imstande ist, modernen Anforderungen zu genügen. Die politische Philosophie von Leibniz war im 19. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten. Dies änderte sich erst, als Otto von Gierke in einer Fußnote seines berühmten Althusius-Buches mit einer ebenso konzentrierten wie kritischen Bemerkung eine Kontroverse über Leibniz’ Konzeption der Staatsund Herrscherpersönlichkeit entfachte. Gierkes Kritik an Leibniz ist stark durch die Einseitigkeiten seiner Lehre von der ›realen Gesamtpersönlichkeit‹ gefärbt und darf heute als zum Teil überholt bezeichnet werden. Zutreffend würdigte Gierke aber Leibniz’ Verdienste um eine Neuformulierung des Souveränitätsund Föderalismusgedankens. Darüber hinaus hat er in Leibniz einen Vordenker der modernen Bundesstaatstheorie gesehen. Diese Einschätzung ist, von einigen Schattierungen abgesehen, bis heute herrschend geblieben. Sie wird Leibniz freilich nur mit Einschränkungen gerecht. Denn Leibniz war der Meinung, dass die in einer »Union« vereinten Staaten volle Souveränität in Anspruch nehmen dürfen, während den modernen Bundesstaaten eine solche Selbständigkeit gerade nicht zukommt. Mit Blick auf die gegenwärtige Europa-Diskussion könnte Leibniz’ Idee, in der größtmöglichen Verschiedenheit die größtmögliche Einheit zu denken, zwischen Staatenbund und Bundesstaat einen dritten Weg eröffnen, welcher den Souveränitätsansprüchen der Nationalstaaten entgegenkommt.
Schlussbemerkung
Während heute selbst die meisten Juristen Leibniz als Rechtsdenker nicht mehr kennen, werden seine politischen, rechtsphilosophischen und juristischen Schriften außerhalb der Rechtwissenschaft oft nur als Ergänzung seiner Beiträge zum Fortschritt in der Mathematik, in den Naturwissenschaften oder in der Metaphysik gesehen. Vorliegend wurde versucht, dieses Bild zu korrigieren. Leibniz’ eigentliches Anliegen ist eine Reform der Jurisprudenz : Wiederholt klagt er über die unübersichtliche Materialfülle und den Informationsüberfluss, welcher es immer schwieriger mache, Rechtsgebiete insgesamt zu überblicken und juristische Streitfragen zu erfassen. So würde der geltende Normenbestand mit seinen kaum noch überschaubaren Interpretationen zu einer Quelle von Ungerechtigkeiten werden. Ihm fehle, was von jeder Gesetzgebung zu erwarten sei : Klarheit und Kürze. Leibniz sieht hier nicht nur ein Problem, das Studierende haben. Es ist das Thema der Jurisprudenz schlechthin. Nur wer methodisch denkt, kann Komplexes reduzieren. Leibniz möchte eine Vereinfachung dadurch erreichen, dass er die Stofffülle auf Prinzipien reduziert. Diese Prinzipien nennt er »Elemente«, die kombiniert werden können und deren Summe dem Juristen die regelungsbedürftigen Fälle vor Augen führe.
I. Hat uns Leibniz als Jurist heute noch etwas zu sagen ? Anders als die Repräsentanten säkularen Naturrechts – anders als etwa Hobbes, Pufendorf oder Kant, strebt Leibniz nicht danach, das Recht im Gesetz zu monopolisieren. Er trifft eine strenge Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht, zumal in der Praxis stets neue Fälle auftauchen, die der Gesetzgeber so nicht hat vorhersehen können. Leibniz will einen »Leitfaden« (compendium discendorum) ausarbeiten, der knapp und klar formuliert sein muss, damit »man die unendlichen Sonderfälle« rasch übersehen kann. Zunächst sollte sich der Rechtsgelehrte die Arbeit machen, zumindest die bekannten Regionen zu durchqueren, d.h. die bereits durchgesegelten Fälle zu sichten und zu entscheiden. Wenn er vom Sturm an neue Gestade geworfen wird, d.h. auf neue Fälle stößt, so wird er mit Hilfe eines Kompasses […] leicht hindurchfinden.1 1 Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae, 1667 (Neue Methode, Jurisprudenz zu
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Schlussbemerkung
Leibniz versteht die juristische Methodologie als eine Art Navigator. Zur Illustration ihrer Ziele greift er daher häufig auf die Kartographie und die Schiffsmetapher zurück. Seine Methodologie arbeitet vornehmlich in jener Schicht zwischen Gesetz und Einzelfall, die in der aktuellen Diskussion mit dem Begriff »Dogmatik« in Verbindung gebracht wird. Das muss als Vorzug gegenüber den meisten heutigen Methodenlehren betrachtet werden, die angesichts ihrer Regelorientierung mit den rechtsschöpferischen Elementen der Jurisprudenz wenig anfangen können. Differenz von Gesetz und Recht, theoria cum praxi, Fallorientierung, Dogmatik, richterlicher Entscheidungsspielraum – das sind erste Stichworte, die vermuten lassen, dass uns Leibniz’ Rechtsphilosophie heute mehr zu sagen hat als die eines Hobbes, Pufendorf oder Kant. Aus gegenwärtiger Sicht verdient namentlich die fundamentale Bedeutung Hervorhebung, die er dem strengen Recht (ius strictum) im Rahmen seiner Lehre von den drei Stufen des Naturrechts beimisst. Anders als die Protagonisten säkularen Naturrechts meint er aber, das Formalrecht müsse durch materiale Prinzipien ergänzt werden. Mit der Annahme einer Mehrgliedrigkeit der Quellen opponiert er gegen den Etatismus eines Hobbes oder Pufendorf, die den Fehler begangen haben, lediglich das ius strictum, also nur die Formalstruktur des Rechts in Erwägung zu ziehen. Die Aktualität von Leibniz’ Rechtsdenken liegt mithin darin, dass er auch der Billigkeit einen würdigen Platz zuweisen kann. Andererseits vermag er uns vor den Einseitigkeiten zu bewahren, die mit der aktuell viel diskutierten Behauptung einer ungebremsten ›Materialisierung‹ verbunden sind. Denn auf Grundlage der Lehre von den drei Stufen des Naturrechts lässt sich gut erklären, warum das Wechselspiel zwischen formalen und materialen Elementen zum Proprium des Rechts gehört und warum das Recht in Zukunft keineswegs nur material werden, sondern auch formal bleiben möchte. Dass Methodenfragen Verfassungsfragen sind, gehört zu den Grundüberzeugungen, auf denen Leibniz’ Rechtsphilosophie aufbaut. Andernfalls wäre es auch kaum möglich, materialen Elementen des Rechts in der Theorie jenen Raum zu gewähren, den sie in der Praxis benötigen.2 Aus heutiger Sicht interessieren vor allem Leibniz’ Vorschläge zur Lösung des Souveränitätsproblems. Während die Begründer der modernen Staatsrechtslehre, Bodin, Hobbes oder Pufendorf, unlernen und zu lehren), in : AA VI 1, S. 259–364 ; erneut in (Auszügen) : Hubertus Busche (Hg.), Frühe Schriften zum Naturrecht (2003), S. 25–87, Teil II, § 69 (S. 71). 2 Erinnert sei nur an einen Ausspruch von Gottlieb Planck, der mutatis mutandis auch im vorliegenden Zusammenhang zu bedenken wäre : »Mochte die Gesetzgebung bestimmen, was sie wollte« ; alternative Rechtsquellen haben »sich immer und allenthalben mit elementarer Kraft durchgesetzt«, BGB, Bd. I, 4. Auflage (1913), Einleitung (S. XXXIX).
Metaphysische Fundierung des Rechts
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ter Souveränität die Fähigkeit zu ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung verstehen, gliedert Leibniz das Deutsche Reich in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten. Es ist also die Idee einer geteilten Souveränität, die Leibniz’ Staatsrechtslehre von den zentralistischen Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus unterscheidet. Damit gehört er nicht nur zu den Vordenkern des politischen Pluralismus, sondern auch zu den ersten modernen Theoretikern eines europäischen Föderalismus. Sein Staatsrechtsdenken fußt auf einem pluralen Aufbau der Gesellschaft, in welcher die Verbände mit eigener Rechtsetzungskompetenz ausgestattet sind und als selbständige Gliederungen zwischen Staat und Individuum stehen. Die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts mit autokratischen Systemen – mit den chaotischen Folgen eines überspannten Souveränitätsbegriffs haben ein neues Licht auf die zukunftsweisende Bedeutung von Leibniz’ politischer Philosophie geworfen. Seine Sichtweise erfährt eine gewisse Renaissance durch die Aussagen moderner Globalisierungstheoretiker, die betonen, dass horizontal organisierte Systeme mit gemischter Verfassung die heutige Rechtswirklichkeit besser abbilden als der dem Geist des Absolutismus entsprungene zentralistische Nationalstaat : Die Suche nach älteren Vorbildern für »globale Ordnungsvorstellungen ohne steile Hierarchien und scharfe Kontraste führt in ein Zeitalter zurück, das mit Gottfried Wilhelm Leibniz begann«.3
II. Metaphysische Fundierung des Rechts Dass Recht und Gerechtigkeit keine in das Belieben des Staates gestellte Angelegenheiten sind, gehört zu den Grundaussagen jener Metaphysik, die Leibniz nach 1686 zunehmend verfeinert hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis kommt hier erneut ins Spiel, wobei nun die Metaphysik als Theorie und das Recht (im weiten Sinne) als Praxis auftreten.4 Im Hintergrund steht die Rückkehr zu den substantiellen Formen, die Leibniz zu der Feststellung führt, dass sich ohne das Wissen um die Substanz und die Monade keine universalen Begriffe von Recht, Gerechtigkeit und Politik formulieren lassen. Erinnert sei nur an seine Beschreibung einer moralischen Welt der Gerechtigkeit, die er 3 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens (2010), S. 407 4 Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), in : AA VI 6, S. 39–527 (IV Bücher) ; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1985), hg. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. III (zweite Hälfte), IV. Buch : Von der Erkenntnis, S. 223–681, 423.
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Schlussbemerkung
als Reich der Gnade dem Voluntarismus irdischer Herrschaft gegenüberstellt. Von den vielen Fragen, die mit einer metaphysischen Grundlegung von Recht und Politik einhergehen können, seien hier lediglich zwei aufgeworfen : Interagiert das Reich der Gnade mit der praktischen Jurisprudenz ? Und wie dürfen wir uns dies vorstellen ? Die Fragen stellen sich, weil Leibniz bereits in der Nova methodus betont hat, dass strenges Recht und Billigkeit auseinanderdriften – dass sie in Konflikt geraten und sich widersprechen können. Es mangele an einem Band, welches Gott mit seinem Beistand zu knüpfen imstande sei. Wer die Korrelate von Recht und Metaphysik einer genaueren Betrachtung unterziehen möchte, muss zwei Dinge berücksichtigen : Erstens, dass Leibniz die normativen Gehalte des Rechts in weitgehender Unabhängigkeit von der Theologie zu ermitteln sucht, und dass er zweitens, gegen die Lehren von Influxionismus und Okkasionalismus, jede Art eines direkten oder unmittelbaren Einflusses Gottes auf das irdische Rechtsgeschehen ausschließen möchte. Er nimmt vielmehr an, dass die notwendigen und ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit mit Gott in den Monaden gespiegelt werden. Unter diesen Prämissen rückt das Individuum in den Mittelpunkt seiner Theorie von Recht und Gerechtigkeit : Ihm will Leibniz letztlich die Aufgabe anvertrauen, das im Falle eines Konflikts unverzichtbare Band zwischen ius strictum und aequitas zu knüpfen. Andererseits versäumt er es nicht, darauf hinzuweisen, dass hier größte Vorsicht geboten ist. Denn die Körpergebundenheit des Menschen erzeugt vielfältige Hemmnisse und Widerstände, die einer Erkenntnis der universalen Gerechtigkeit im Wege stehen. Dem Optimismus, dass eine solche Erkenntnis im Grundsatz möglich sei, tritt also ein gewisser Pessimismus im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung entgegen. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten : Der Jurist bedarf, um perplexe Fälle oder hard cases überzeugend lösen zu können, einer doppelten Fähigkeit. Er muss in einer über die Inhalte positiver Gesetzgebung weit hinausgehenden Normenfülle zunächst Grundsätze aufspüren, um diese anschließend so aufzubereiten, dass sie in das Gesamtsystem eingepasst und später wieder zur Anwendung gebracht werden können. Savigny hat diese Fähigkeit gut hundert Jahre nach Leibniz als »Kunst« bezeichnet. Wer diese Kunst nicht beherrscht, dem droht das, was Mephisto in Goethes Faust so treffend beschrieben hat : »Dann hat er die Teile in seiner Hand – fehlt leider ! nur das geistige Band.«
Zu den Errungenschaften von Leibniz’ Metaphysik
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III. Zu den Errungenschaften von Leibniz’ Metaphysik Das Bild, das wir uns von Leibniz machen, ist in den letzten Jahren wieder stark in Fluss gekommen.5 Dies gilt nicht nur für seine Philosophie des Rechts, sondern auch für seine Metaphysik. Dass eine solch komplexe, nur aus den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen heraus verständliche Lehre leicht zu Missverständnissen und Fehldeutungen führen kann, bedarf keiner näheren Ausführung. Andererseits liegen ihre Vorteile gegenüber dem mechanistischen Paradigma und damit ihre zukunftsweisende Bedeutung auf der Hand : Sie bietet eine Erklärung dessen, was wir heute ›Organismus‹ nennen, ohne dabei auf das wundersame Eingreifen Gottes angewiesen zu sein. Sie sprengt zudem die Enge des cartesischen Konzepts einer res cogitans, indem sie auch Tieren und Pflanzen, die kein »Ich« im Sinne eines »denkenden« Bewusstseins besitzen, eine substantielle Aktivität und eine Art Seele zuzusprechen vermag. Diese Sichtweise, die im »Ich« nur einen besonderen Typ von Substanz erblickt, harmoniert mit Erkenntnissen der modernen Ökologie, die bei Pflanzen und Tieren zwar nicht von Perzeptionen, wohl aber von Informationsaufnahme spricht. Dabei ist vorausgesetzt, dass weder der Geist von Tieren noch von Menschen einfach nur ein unbeschriebenes Blatt, eine tabula rasa sein kann, wie es der Empirismus behauptet. Die These von der Unbeschriebenheit des menschlichen Geistes ist nach wie vor zwar weit verbreitet, wird aber gerade in jüngster Zeit wieder zunehmend in Zweifel gezogen. Denn einiges spricht dafür, dass seine differenzierten Strukturen, zumindest teilweise, auch auf ›natürliche‹ Anlagen zurückzuführen sind. Zentral ist dabei Leibniz’ Unterscheidung von Vernunftund Tatsachenwahrheiten. Nicht die Tatsachenwahrheiten, sondern nur die Vernunftwahrheiten können Ausdruck eingeborener Ideen sein. Gleichwohl wäre es ein Fehler, Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Empirismus so zu deuten, als ziele er auf eine Abwertung der Sinneserfahrungen oder Tatsachenwahrheiten.6 Das Gegenteil ist der Fall : Denn es ist die Berührung durch sinnliche Erfahrung, die jene »lebendigen Feuer« zu entzünden vermag, in denen die notwendigen und ewigen Wahrheiten (Zopyra) »aufscheinen«. ›Ideen‹ mögen schon vor und unabhängig von der sinnlichen Erfahrung in uns vorhanden sein. Sie bedürfen
5 Siehe die Beiträge von Michael Kempe und Maria Rosa Antognazza, in : Michael Kempe (Hg.), 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr (2016), S. 11–37 und S. 401–410. 6 Das ist in der Literatur wiederholt hervorgehoben worden, vgl. nur Joachim Vennebusch, Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph und Politiker im Dienste einer universalen Kultur (1966), S. 20–22.
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Schlussbemerkung
aber der »äußeren Gegenstände«, die sie erwecken, bekräftigen und bestätigen können, die sie uns fühlen und entdecken lassen.7 So erklärt sich, warum Leibniz auch nach 1686 Beispielen und Fällen noch große Bedeutung für die Rechtsgewinnung beimisst. Im Übrigen hat er seine Gedanken über die Struktur des menschlichen Geistes von Beweisen abhängig gemacht, die höchsten Anforderungen genügen müssen. Die ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit erscheinen so in Gestalt einer Begründungsaufgabe, die demjenigen, der sich darauf beruft, ein hohes Maß an kritischer Reflexion abverlangt. Genau genommen markieren sie eine erkenntnistheoretische Schranke : Die eingeborenen Ideen erinnern an die Relativität menschlicher Erkenntnis, da sie oft nur als unbestimmtes Streben, Verlangen oder Gefühl wahrgenommen und durch vielfältige Hindernisse und Widerstände verschüttet werden können. Unser Wissen um sie ist unvollständig, anfällig für Irrtümer, Missverständnisse und Fehldeutungen. Der Mensch kann den letzten Grund der Dinge niemals ausschöpfen und die Wahrheit allenfalls annäherungsweise erkennen. Er ist daher nicht selten genötigt, sich mit einer ästhetischen Deutlichkeit zufrieden zu geben. In Anbetracht dieser Grenzen bleibt die Erkenntnis der ewigen Wahrheiten der Gerechtigkeit eine schwierige, mühsame und mit vielen Unsicherheiten belastete Aufgabe. Andererseits vertraute Leibniz darauf, dass der Mensch zuverlässige Aussagen über die Wirklichkeit treffen kann. Insbesondere hat er geglaubt, dass sich die Menschheit auf lange Sicht in Richtung Verbesserung und Vollkommenheit bewegt. Einen Grund hierfür sieht er in den stillwirkenden Kräften der Substanzen, der substantiellen Aktivität der Monaden und ihrem Streben nach einer Verwirklichung der ewigen Wahrheiten. Ob dieser Optimismus überzeugen kann, ist letztlich eine Glaubensfrage, die sich rational nicht entscheiden lässt. Zwei Beispiele aus dem Gebiet der Jurisprudenz seien genannt : Wer das moderne Urheberrecht mit dem Schutz vergleicht, der Autoren im 17. Jahrhundert zuteilwurde, wird Leibniz’ erkenntnistheoretischem Optimismus leicht beipflichten können, zumal andere Rechtsgebiete ähnliche oder vielleicht noch größere Fortschritte zu vermelden haben. Wer dagegen den Begriff der Billigkeit als Beispiel wählt, wird rasch feststellen, dass ihre Funktionen nach wie vor weitgehend ungeklärt sind. Erinnert sei nur an die Defizite der aktuellen Materialisierungsdebatte oder an die Regelorientierung heutiger Methodenlehren. Es könnte also der Eindruck entstehen, dass Fortschritte, wenn überhaupt, nur in bescheidenem Maße erzielt werden. Dabei bleibt freilich zu 7 Dass Leibniz nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale Erkenntnis für möglich hält, ist im 9. Kapitel VII ausgeführt worden.
Zu den Errungenschaften von Leibniz’ Metaphysik
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beachten, dass das eine Beispiel eher ein rechtspraktisches und das andere mehr ein rechtstheoretisches Thema betrifft.8 Ein Vorzug von Leibniz’ Substanzlehre gegenüber dem mechanistischen Paradigma ist auch darin zu sehen, dass sie Raum für das Unbewusste – für die substantielle Aktivität bewusstloser, schlafender oder träumender Menschen schafft : Die Cartesianer begingen »einen schwerwiegenden Fehler, indem ihnen die Perzeptionen, deren man sich nicht bewußt ist, auch nichts galten«.9 »Die Seele denkt immer«, sagt er an anderer Stelle, auch im Zustand des Schlafes oder der Ohnmacht.10 Zu Recht wurde daher bemerkt, dass Leibniz als Vordenker jener Theorien anzusehen ist, die vom Einfluss unbewusster psychischer Prozesse auf die Tätigkeit des Menschen, auf sein Denken und sein Fühlen handeln.11 Überhaupt gibt seine Lehre von den Substanzen wichtige Impulse zur Ergründung dessen, was wir heute Individuum nennen. Denn, wie die Monade, ist auch das »In-dividuum« unteilbar. Obwohl die Individuen Spiegel Gottes sind, dürfen sie einander nicht gänzlich ähnlich sein, ja sie müssen die Prinzipien der Verschiedenheit enthalten, da sie ja nach ihrem Gesichtspunkt das Universum verschieden zum Ausdruck bringen. Eben dies ist ihre eigentliche Aufgabe, damit sie ebensoviele lebendige Spiegel der Dinge oder ebenso viele konzentrierte Welten sind.12 8 Zu den Deutungen von Leibniz’ Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Optimismus, Hans Pichler, Vorurteile gegen die Weltanschauung von Leibniz, in : Georgi Schischkoff (Hg.), Beiträge zur Leibniz-Forschung (1947), S. 9–25, 11–17 (»faustischer Optimismus«) ; Paul Rateau, La question du progrès universel avant les années 1694–1696, in : Herbert Breger, Jürgen Herbst, Sven Erdner (Hg.), Natur und Subjekt (2011), S. 233–241 ; Jean Grondin, The Possible Legacy of Leibniz’s Metaphysics in Hermeneutics, in : Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado, Miguel Escribano Cabeza (Hg.), Leibniz and Hermeneutics (2016), S. 3–15, 12 f. (zum hermeneutischen Moment von Leibniz’ Optimismus und seiner Berechtigung – trotz Voltaires Candide und trotz der chaotischen Folgen autokratischer Herrschaft im 20. Jahrhundert mit seinen zerstörerischen Kriegen). Von diesem Thema handelt auch der unten in Note 17 genannte Beitrag. 9 Monadologie, § 14, S. 17 (verwendet wurde die von Hartmut Hecht übersetzte und herausgegebene Ausgabe von 2008). 10 Nouveaux essais I (Fn. 4), S. 117. 11 Vgl. etwa Joachim Christian Horn, G.W Leibniz, Grundwahrheiten der Philosophie – Monadologie (1962), S. 55 ; Patrizia Giampieri-Deutsch, Nach Leibniz : Die Entwicklung der Auffassung eines nicht-bewussten Denkens bei Freud, in : Wenchao Li (Hg.), 300 Jahre Monadologie (2017), S. 237–253. 12 An de Volder, 20. Juni 1703, in : Ernst Cassirer, G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II (1906), S. 320–329, 326. Zutreffend stellte Ernst Cassirer (1874–1945), einer der bedeutendsten Leibniz-Forscher des vergangenen Jahrhunderts, fest : Leibniz hat in der Monadologie »das Individualitätsproblem auf seinen schärfsten Ausdruck gebracht«, Die Philosophie der Aufklärung (1932), S. 305 (ND Hamburg 1998). In einer häufiger zitierten Stelle
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Schlussbemerkung
Eines dieser »Prinzipien der Verschiedenheit« ist die Geschichte, da individuelle Substanzen ihre gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassen. Auch in dieser Hinsicht muss jede Monade »von jeder anderen verschieden sein«. Es gebe »niemals zwei Wesen«, deren Geschichte vollkommen gleich und bei denen es nicht möglich sei, einen »Unterschied auszumachen«.13 Diese Vielfalt begreift Leibniz zugleich als Verschiedenheit der Gesichtspunkte und damit als Frage der Perspektive, die ebenfalls zu den Errungenschaften seiner Metaphysik gehört. Die Individuen sind also einerseits verschieden und andererseits gleich, soweit sie als Spiegel, als Ebenbild Gottes verstanden werden. Leibniz war immer bemüht, praktische Konsequenzen seiner Metaphysik zumindest anzudeuten. So wollte er zeigen, dass es ohne Substanzen z.B. keine ›Bürger‹ geben könne. Denn als Spiegel Gottes ist das Individuum als ›Kraft‹ und damit als aktiver Bürger zu begreifen, der sich von einem bloßen Untertan oder Subjekt (subicere : unterwerfen, unterordnen) deutlich unterscheidet. Zudem ist an seine Verteidigung individueller Autonomie und personaler Freiheit gegen Fénelons Quietismus zu erinnern. Ein latentes ›demokratisches‹ Element darf schließlich in der bereits angedeuteten Spannung von Verschiedenheit und Gleichheit gesehen werden, die Leibniz’ Metaphysik kennzeichnet. Sie hat ebenfalls eine politisch-praktische Dimension, da sie jedes noch so unscheinbar wirkende Individuum in den Mittelpunkt treten lässt, um die Würde und den Wert gerade dieses Menschen zu betonen. Daher erscheint es folgerichtig, wenn Leibniz gegen die stoische, platonische und neuplatonische Annahme einer »Weltseele« die Pluralität von Seelen, Monaden und Individuen verteidigt.14 Deren »Aufgabe« kulminiert in der Seelenergründung, einem Hauptmotiv der christlichen Philosophie, wofür der Name des von Leibniz häufig zitierten spätantiken Kirchenlehrers Augustinus (354–430) steht.15 Den Hintergrund bilbemerkte Cassirer in derselben Schrift schon vorher : In Leibniz’ Philosophie »wird zuerst dem Individuellen ein unveräußerliches Eigenrecht erkämpft« (Cassirer, a.a.O., S. 42 ; Hervorhebung im Original). Siehe auch Michel Fichant, La Monadologie comme métaphysique de la subjectivité : La lecture d’Ernst Cassirer, in : 300 Jahre Monadologie (Fn. 11), S. 173–194. 13 Vgl. Monadologie (Fn. 9), § 9 (S. 15). 14 Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (1996), Einl., § 10 (S. 41) ; Brief an den Philosophen, Theologen und Mathematiker Michael Gottlieb Hansch (1683–1752) vom 25. Juli 1707, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, Bd. II (1768), S. 222–225 ; Cornelius Zehetner, Vinculum substantiale, in : Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses (2007), S. XXV–CXXVI, XXIX f.; Patrick Riley, Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit (2017), S. 24–28 (Kritik der »Monopsychoten«). 15 In der Theodicée ist Augustinus noch vor Aristoteles, Cicero und Plato der am häufigsten genannte Autor.
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det der auch für die Monadologie zentrale Gedanke, dass die Ergründung der eigenen Seele zugleich die Ergründung Gottes sei. Danach erscheint der Mensch nicht als Mensch in bloß endlichen Zwecken und Ausführungen, sondern als der sich wissende oder noch nicht wissende Gott, in dessen Leben, Sterben und Auferstehen sich zeigt, was Seele oder Geist in Wahrheit seien. Wegen dieser Art von »Substantialität« des Inneren der Monade bedeutet das Individuum für Leibniz immer mehr als bloß ein einzelner Mensch. Indem ihm eine Seele gegeben ist, hat er Teil am Allgemeinen, sodass jede Erkenntnis einer Person über das eigene Selbst zur Kenntnis des Universums aufgewertet wird.16 Weil Leibniz’ Metaphysik überall in der Natur wache und schlafende Monaden kennt, bewirkt sie eine Zurückverzauberung der von Mechanizismus und instrumenteller Vernunft entzauberten Welt. Sein Widerstand gegen die Leugnung geheimnisvoller Mächte und gegen die Behauptung, der Mensch könne die Natur durch Berechnung beherrschen, bedeutet keine irrationale Opposition gegen die Vernunft, sondern eine Steigerung von Rationalität. Im Übrigen kommt Leibniz’ Annahme, dass es einen Einfluss aller Dinge des Universums aufeinander geben muss, modernen Überlegungen zu Biosphäre und Ökosystem durchaus nahe.17 Dabei gelingt es ihm, die Allgegenwart Gottes mit der Idee einer selbstreproduktiven Kraft des Individuellen und personaler Autonomie zu vereinbaren. Indem Leibniz die Abgeschlossenheit und Selbsttätigkeit der Monaden hervorhebt, kann er eine Erklärung ganz unterschiedlicher Fragen geben, etwa, ob Gott zur Durchsetzung des Rechts in das irdische Leben eingreift oder inwieweit »Einflüsse« anderer Denker für die Entstehung großer Werke der Wissenschaft eine Rolle spielen. Und hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis jener Kunst, die Goethe ex negativo mit den Worten so trefflich beschrieben hat : »Dann hat er die Teile in seiner Hand – fehlt leider ! nur das geistige Band.«
16 Das gesteigerte Interesse an Introspektion und Psychologie zeigt sich auch in der Bedeutung, die Leibniz Kategorien wie Strafe und Belohnung beimisst, wobei der Zusammenhang mit der Heilslehre zu beachten bleibt. Erst durch ihre Bezogenheit auf das einstige Heilsgeschehen beginnen sie, sich in philosophische Begriffe zu transformieren und in dieser Bezogenheit gewinnt das individuelle Moment abermals eine zentrale Bedeutung in Leibniz’ Rechtsphilosophie. 17 Giridhari Lal Pandit, A Science of Universal Interconnectedness, in : Natur und Subjekt (Fn. 8), S. 214–225 (unter dem Gesichtspunkt der Szenariotechnik).
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Verzeichnis der Quellen und Literatur
I. Quellen 1. Briefe und Eingaben von Leibniz
An Antoine Arnauld vom Juni 1686, in : Ernst Cassirer (Hg.), G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II Bände (1904–1906), Band II, Leipzig 1906, S. 189–206. An Antoine Arnauld vom 8. Dezember 1686, in : Ernst Cassirer (Hg.), G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II Bände (1904–1906), Band II, Leipzig 1906, S. 207–214. An Antoine Arnauld vom April 1687, in : Ernst Cassirer (Hg.), G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II Bände (1904–1906), Band II, Leipzig 1906, S. 214–231. An Antoine Arnauld vom September 1687, in : Ernst Cassirer (Hg.), G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II Bände (1904–1906), Band II, Leipzig 1906, S. 231–255. An Antoine Arnauld vom 23. März 1690, in : Ernst Cassirer (Hg.), G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II Bände (1904–1906), Band II, Leipzig 1906, S. 255–257. An Henri Basnage de Beauval vom 20. (30.) Juni 1695, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875– 1890), Band III, Berlin 1887, S. 116–117. An Friedrich Wilhelm Bierling vom 16. März 1712, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875– 1890), Band VII, Berlin 1890, S. 503–505. An Friedrich Wilhelm Bierling vom 19. April 1712, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875– 1890), Band VII, Berlin 1890, S. 503–505. An Friedrich Wilhelm Bierling von Mitte März 1713, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, VI Bände (1768), Band V, Genf 1768, S. 390–391. An Bartholomäus Des Bosses vom 11. März 1706, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band II, Berlin 1879, S. 304–308. An Bartholomäus Des Bosses vom 16. Oktober 1706, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band II, Berlin 1879, S. 324–325 ; dt. in : Cornelius Zehetner (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007, S. 55–59. An Bartholomäus Des Bosses vom 23. August 1713, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890),
Quellen
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Band II, Berlin 1879, S. 481–483 ; dt. in : Cornelius Zehetner (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007, S. 299–302. An Bartholomäus Des Bosses vom 29. Mai 1716, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band II, Berlin 1879, S. 515–521 ; dt. in : Cornelius Zehetner (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007, S. 350–360. An Jacques Bénigne Bossuet vom 8.-18. Januar 1692, in : Gottfried Wilhelm Leibniz, Über die Reunion der Kirchen, eingeleitet von Ludwig Athanasius Winterswyl, Freiburg im Breisgau 1939, S. 65–71. An Thomas Burnett vom 26. Mai 1706, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band III, Berlin 1887, S. 305–308. An Gui Leremite dit Candor vom 24. Februar (?) 1695, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Elfter Band : Januar-Oktober 1695, S. 279–281. An Jean Chapelain (?) von 1. Hälfte 1670, in : Hubertus Busche (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg 2003, S. 349–373. An Hermann Conring vom 13./23. Januar 1670, in : Hubertus Busche (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg 2003, S. 323–337. An Hermann Conring vom 9./19. April 1670, in : Hubertus Busche (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg 2003, S. 339–347. An Pierre Coste vom 30. Mai 1712, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band III, Berlin 1887, S. 421–431. An Honoratio Fabri von Ende 1676, in : Akademie-Ausgabe, Zweite Reihe, Philosophischer Briefwechsel, Erster Band : 1663–1685, S. 286–301. An Louis Ferrand vom 31. Januar 1672, in : Hubertus Busche (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg 2003, S. 375–379. An Herzog Johann Friedrich von 2. Hälfte Oktober (?) 1671, in : Akademie-Ausgabe, Zweite Reihe, Philosophischer Briefwechsel, Erster Band : 1663–1685, S. 159–165. An Herzog Johann Friedrich vom Februar (?) 1677, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Zweiter Band : 1676–1679, S. 19–21. An Herzog Johann Friedrich vom Mai (?) 1677, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Zweiter Band : 1676–1679, S. 22–23. An Johann Georg Graevius vom 6./16. April 1670, in : Akademie-Ausgabe, Zweite Reihe, Philosophischer Briefwechsel, Erster Band : 1663–1685, S. 58–61. An Christoph Gudenus vom 11. November 1669, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Erster Band : 1668–1676, S. 18–19. An Otto von Guericke vom August 1671, in : Akademie-Ausgabe, Zweite Reihe, Philosophischer Briefwechsel, Erster Band : 1663–1685, S. 238–243.
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Verzeichnis der Quellen und Literatur
An Michael Gottlieb Hansch vom 25. Juli 1707, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, VI Bände (1768), Band II, Genf 1768, S. 222–225 ; erneut in : Johannes Eduard Erdmann (Hg.), Opera philosophica quae exstant latina Gallica Germanica omnia, Berlin 1839, S. 445–447. An Thomas Hobbes vom 13./23. Juli 1670, in : Akademie-Ausgabe, Zweite Reihe, Philosophischer Briefwechsel, Erster Band : 1663–1685, S. 56–59. An Baron Hocher vom 7. Juli 1678, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Zweiter Band : 1676–1679, S. 346–352. An Daniel Ernst Jablonsky vom 26. März 1700, in : Akademie-Ausgabe, Erste Reihe, Allgemeiner, Politischer und Historischer Briefwechsel, Achtzehnter Band : Januar-August 1700, S. 478–485. An Isaak Jacquelot von September 1704, in : Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, VII Bände (1875–1890), Band VI, Berlin 1885, S. 567–573. An Heinrich Ernst Kestner vom 5. September 1708, in : Viri Illustris Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad Diversos, Theologici, Iuridici, Medici, Philosophici, Mathematici, Historici et Philologici Argumenti, 4 Bände (1734–1742), Band 1, Leipzig 1734, S. 168–171 (Epistola CXIX). An Heinrich Ernst Kestner vom 1. Juli 1716, in : Louis Dutens (Hg.), Leibnitii opera omnia nunc primum collecta, VI Bände