Die Theorie des Glücks in Aristoteles' Eudemischer Ethik 9783666252228, 3525252226, 9783525252222

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Die Theorie des Glücks in Aristoteles' Eudemischer Ethik
 9783666252228, 3525252226, 9783525252222

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H Y P O M N E M A T A 125

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones / Günther Patzig/ Christoph Riedweg / Gisela Striker

HEFT 125

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

FRIEDEMANN BUDDENSIEK

Die Theorie des Glücks in Aristoteles' Eudemischer Ethik

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortliche Herausgeber: Dorothea Frede und Günther Patzig

Die Deutsche Bibliothek-

CIP-Einheitsaufnahme

Buddensiek, Friedemann: Die Theorie des Glücks in Aristoteles' eudemischer Ethik / Friedemann Buddensiek. [Verantw. Hrsg.: Dorothea Frede und Günther Patzig]. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Hypomnemata ; H. 125) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-525-25222-6 D 29 © 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort

9

Kapitel 1: Einleitung

11

1. Die Problemstellung 2. Die Theorie der eudaimonia in der EE: Überblick und These

11 12

3. Philologische Vorbemerkungen 21 3 .1. Zum Text 21 3.2. Zur Authentizität 22 Neuere Überlegungen zur Unechtheit der EE 29. Flashars Zweifel gegenüber der Echtheit 29. Pakaluk zur Unechtheit der EE 30. 3.3. Relative Chronologie 36 3.3.1. Gegenüberstellung der ergon-Argumente von Politela, EE und NE .. . 37 3.3.2. Platonische Ausdrücke in der EE 41 3.4. Die gemeinsamen Bücher 41 Kapitel 2: Das Prooimion der EE

44

1. Das Prooimion über den Gegenstand der EE 2. 'Inclusive end' im Prooimion? Zum 'größten Gut' und zum Begriff der phronêsis 3. Konstitutive Teile und notwendige Voraussetzungen (EE 12) 4. Die Relevanz der Meinungen und die Erreichbarkeit des guten Lebens (EEI3f.) 5. Leben und Lebensform (EE I 4f.) 6. Theorie und Praxis: die Tugenden als Gegenstand der Untersuchung 7. Zusammenfassung

45

Kapitel 3 : eudaimonia als Gutes

64

1. Was ist eudaimonia? 1.1. Aristoteles' zugrundeliegende Theorie: eudaimonia in EE I 7f. — ein Überblick 1.2. Zum Aufbau von £ ΐ Ί 7, 1217al8 — II 1, 1219a39 2. Die Präzisierungen in EE I 7 als Eingrenzungen des Bereichs für die Bestimmung von eudaimonia 2.1. Das 'dem Menschen Zugehörige' (to anthrôpinon) 2.2. Das 'Göttliche' (to theiori) 2.3. Das 'Machbare' (toprakton) Zur Übersetzung von prakton

64

46 50 54 56 59 62

64 66 68 69 72 73 73

Inhalt

6 3. Die EE über das Gute: EE I 8

76

3.1. Die Fragestellung in EEl 8 3.2. Die Ideenkritik 3.2.1. Das Ziel der Ideenkritik: ihre Rolle bei der Lokalisierung der eudaimonia 3.2.2. Die Idee des Guten (nach EEl 8) Lesart-Anmerkung zu 1217b5 3.3. Aristoteles'Konzeption des Guten 3.3.1. 'Auf vielfache Weise ist vom Guten die Rede': Aristoteles' Konzeption des guten Seienden 3.3.2. Das Seiende und das Eine 3.3.3. Das Gute als Seiendes 3.3.4. Das Gute als Zielhaftes 3.3.4.1. Das Zielhafte als Seiendes, das sich charakteristisch, oder: seinem Wesen entsprechend, verhält 'Zielhaft': zum Sprachgebrauch 3.3.4.2. Das Gute als Ziel in der EE Zur Diskussion: Austin über das Gute 97. Eine Interpretation Ackrills im Sinne des guten Seienden 98. Berti über focal meaning in EEl 8 100. 4. eudaimonia als Gutes

Kapitel 4: Das ergon-Argument

78 78 78 80 81 82 83 85 88 89 90 91 95

102

der EE

104

1. Einleitung

104

2. Das ergon-Argument der Politela

Ill

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Überblick ergon und 'ergon von etwas' 'Leben' als ergon der Seele Das ergon als Grundlage für die Rede von Tugend

3. Das ergon- Argument der EE 3.1. Das ergon als 'bedingter' Ausgangspunkt 3.2. Das ergon und die spezifische Aktualität 3.3. Die Einheit des Individuums 3.4. Das ergon als Ausgangspunkt 3.4.1. Das ergon von etwas und von diesem als Gutem 3.4.2. 'Die erga verhalten sich zueinander wie die Habitus' 3.5. Das ergon der Seele 3.5.1.'Leben machen' 3.5.2. teleion 3.5.2.1. teleion als 'Zielhaftes' 3.5.2.2. Eine Mehrdeutigkeit? 3.5.2.3. Das Ganze als Struktur

Ill 112 113 114 116 116 118 121 127 129 130 133 134 136 136 137 138

4. Eine Präzisierung des Begriffs des Guten

144

5. Zusammenfassung

146

Inhalt

7

Kapitel 5: eudaimonia als Schönes

148

1. Einleitung 2. Methode 2.1. Ethik, endoxa und Metaphysik 2.2. Probleme bei der Bestimmung dessen, was das Schöne ist 2.3. Der Weg im Symposion 2.4. Bestimmungen des Schönen? 3. Das Schöne als Eigenschaft der eudaimonia 3.1. Der theos verhält sich schön 3.2. eudaimonia als Schönes 3.3. Metaphysik und EE 4. Die Schönheit charakterlich tugendhaften Handelns 4.1. Aspekte charakterlich tugendhaften Handelns 4.2. Inwiefern ist charakterlich tugendhaftes Handeln schön? 4.3. Tugend als Werkzeug des Intellekts 5. Zusammenfassung

148 149 149 153 154 157 159 159 161 166 171 171 174 180 184

Kapitel 6: EE VIII 3

185

1. Philologische Fragen zu EE VIII 3 2. Teiltugend und kalokagathia: EE VIII 3, 1248b8-16 2.1. Zum Projekt von EE VIII 3 2.2. Perspektiven auf das, was Tugend ist 2.2.1. Teil und Ganzes im Fall des Körpers 2.2.2. Teil und Ganzes im Fall der Tugend 2.2.3. Reziprozität der Tugenden 2.3. Zusammenfassung 3. Schöne Dinge als lobbare Dinge: EE VIII 3, 1248M6-26 Vorbemerkung zum Text 1248bl9f

185 188 188 192 193 194 196 197 199 201

3.1. Die spezielle Lobbarkeit schöner Dinge 3.2. Der Sinn der Rede von'Lobbar-Sein' 3.3. Zusammenfassung 4. Die Einheit der Position des Schönen-und-Guten: EE VIII 3, 1248b261249a21 4.1. Der Spartaner 4.1.1. Der'halb-tugendhafte'Zustand 4.1.2. Zur Unmöglichkeit, Spartaner zu sein 4.2. Die 'relativ' schönen Dinge 4.3. kalokagathia als zielhafte Tugend 4.4. Der Schöne-und-Gute als eudaimôn 4.4.1. Der systematische Ort der Rede von der Lust 4.4.2. Der systematische Ort der Rede vom Glücklichen 4.5. Zusammenfassung

204 207 212 213 215 215 217 218 220 224 224 225 227

Inhalt

8

5. Die Betrachtung des Gottes als Ziel von eudaimonia: ££VIII, 1249a211249b25 Vorbemerkung: 'Wirklich' Guter (spoudaios) und Schöner-undGuter 5.2. Die Intention des Abschnitts 5.3. Fragestellungen 5.3.1. Was ist der Gute? 5.3.2. Ist für die klare Angabe des Standards ein Gegenstandsbezug erforderlich? 5.4. Antwort 5.4.1. Zur Notwendigkeit des Gegenstandsbezugs 5.4.2. Die Aktualitätsstruktur des Guten 5.5. Anmerkungen zur Struktur 5.5.1.'Verehren'und'betrachten' 5.5.2. Unbewegter Beweger oder (heos in uns? 5.6. Zusammenfassung 5.7. Schön-und-Gut-Sein und eudaimonia

229

5.1.

231 233 233 233 234 234 234 237 241 241 246 248 249

6. Die EE VIII 3 zugrundeliegende Theorie der eudaimonia

255

Anhang: Lesartabweichungen gegenüber dem O C T

258

Literaturverzeichnis

260

1. Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu Autoren der Antike und des Mittelalters 1.1. 1.2.

Aristoteles und Ps.-Aristoteles Übrige Autoren

260 260 263

2. Hilfsmittel

264

3. Verzeichnis der zitierten Literatur

264

Index

272

1. Index nominum

272

2. Index rerum

274

3. Index locorum

281

Abkürzungsverzeichnis

288

Vorwort

Die vorliegende Abhandlung ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1997/98 in der Philosophischen Fakultät I der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Während der Arbeit an dieser Abhandlung habe ich vielfache Unterstützung erhalten. Professor Theodor Ebert danke ich für alle Hilfe und insbesondere für die zahlreichen detaillierten Anmerkungen zu den verschiedenen Versionen. Professor Maximilian Forschner danke ich ebenfalls für vielfaltige Hinweise und für die beständige Ermutigung, Professor Jens Kulenkampff und Dr. Alexander Aichele für Anmerkungen zu einzelnen Abschnitten, Ahmad Berwari für Informationen zum Arabischen und Dr. Andreas Schubert für gründliche Kritik zur gesamten eingereichten Version. Alexander Brungs und Dr. Wolfgang Erti danke ich für stets zuverlässiges Gegenlesen und für ihr bestärkendes Interesse während der gesamten Zeit. Bei verschiedenen Gelegenheiten konnte ich Vorüberlegungen zur Abhandlung, Teile daraus oder Zusammenfassungen mit Gewinn zur Diskussion stellen: so im April 1996 Überlegungen zu Aristoteles' Theorie der Affekte und im Januar 1998 eine Zusammenfassung der Hauptgedanken der Abhandlung — beides auf Tagungen der Studienstiftung in Berlin — sowie beim Kolloquium zur antiken Philosophie in Würzburg, ebenfalls im Januar 1998, eine Version der ersten beiden Abschnitte von Kapitel 6. Ganz besonders habe ich von einem Aufenthalt in Oxford während des akademischen Jahres 1995/96 profitieren können. Dies verdanke ich zunächst der freundlichen Studienumgebung, die ich in dieser Zeit im Corpus Christi College kennenlernen durfte. Vor allem danke ich dafür Professor Michael Frede, von dem ich während dieser Zeit wesentliche Anregungen nicht nur zur Arbeit an dieser Abhandlung, sondern auch zur Beschäftigung mit antiker Philosophie überhaupt erhalten habe. Die Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium nach dem Gesetz zur Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses des Freistaates Bayern sowie hauptsächlich durch eines der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht. Der Studienstiftung danke ich darüber hinaus für die ideelle Förderung. Den Herausgebern danke ich schließlich für die Aufnahme der Abhandlung in die vorliegende Reihe. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern: ihnen ist dieses Buch gewidmet. Erlangen, im Juli 1999

Friedemann Buddensiek

Kapitel 1: Einleitung

1. Die Problemstellung Die zentrale Frage, die der aristotelischen Ethik zugrunde liegt, ist die Frage, worin eudaimonia, d.h. Glück im Sinne eines guten Lebens, besteht. In zwei Werken, die im Titel als "Ethik" bezeichnet werden, nämlich in der Nikomachischen Ethik (NE) und in der Eudemischen Ethik (EE), geht Aristoteles dieser Frage nach. Darüber, wie seine Antwort lautet, gab und gibt es, was die NE angeht, eine intensive Diskussion: je nach Interpretation besteht der NE zufolge ein gutes Leben wesentlich aus Aktivitäten des theoretischen und des politischen Bereichs oder aus Aktivitäten nur eines Bereichs, nämlich des theoretischen. (Aktivitäten des theoretischen Bereichs sind solche, die wir heute wohl am ehesten dem Bereich selbstzweckhafter, zweckungebundener Wissenschaft, oder eben: theoretischer Beschäftigung, zuordneten; Aktivitäten des politischen Bereichs sind solche des Engagements in der Polis oder in der politischen Gemeinschaft.) Die EE hingegen wird bisher kaum als eigenständiges Werk diskutiert, sondern fast nur in Gegenüberstellung zur NE, und es wird für sie mit relativer Einmütigkeit angenommen, daß ihr zufolge ein gutes Leben in Aktivitäten verschiedener Bereiche bestehe. Diese Zeichnung der Diskussionssituation ist zweifelsohne ziemlich grob.1 Im Fall der EE, um die es hier gehen soll, ergibt ein Blick auf den Stand der Diskussion jedoch tatsächlich nichts Genaueres, und das, worüber jene Ein1 Dennoch scheint es im vorliegenden Fall nicht zweckmäßig, da nicht ergiebig, einleitend einen Forschungsbericht zur eudemischen Konzeption der eudaimonia vorzuschalten. Die Literatur, die die zur Diskussion stehenden Passagen der EE, d.h. insbesondere EE I, II 1 und VIII 3, behandelt, ist für sich genommen gut überschaubar. Im wesentlichen handelt es sich um Werke, die Vergleiche zwischen beiden Ethiken anstellen, wobei die früheren dieser vergleichenden Arbeiten fast ausschließlich in philologischer oder historischer Absicht verfaßt wurden. Als eigenständiges Werk und unter Blick auf die in ihr verhandelte Sache wurde die EE erst in neuerer Zeit zum Gegenstand der Untersuchung. Hier sind v.a. die Arbeiten von Monan (1968), Rowe (1971a), Cooper (1975) und Kenny (1978, 1979) zu nennen, die ihrerseits wiederum vorwiegend vergleichende Arbeiten sind, sowie insbesondere der Kommentar zur EE von Woods (zuerst 1982, in zweiter Auflage 1992; v. Fragsteins kommentarähnliche Arbeit [1974] und Dirlmeiers ££-Kommentar sind philosophisch nicht sehr ergiebig). Hinsichtlich der hier zu untersuchenden Sache, nämlich der Konzeption von eudaimonia in der EE, findet sich als zentraler Bezugspunkt heutiger Forschung, wie es scheint, lediglich eine These wie die von Kenny, derzufolge die Konzeption von eudaimonia in der EE eine solche 'inklusive' Konzeption ist, daß die für eudaimonia konstitutiven Teile als voneinander unabhängige Teile anzusehen seien (zur Diskussion u.a. dieser These s.u. Kapitel 4). Eine wichtige Alternative zu dieser Interpretation bietet die ältere Arbeit von Defourny (1937), die der theôria theou den ihr zukommenden Platz einräumt, allerdings das Verhältnis dieser Aktivität zu den übrigen für eudaimonia konstitutiven Aktivitäten noch im unklaren beläßt.

12

Kapitel 1: Einleitung

mütigkeit besteht, ist für sich genommen noch nicht klar. Zu sagen, der EE zufolge bestehe ein gutes Leben in Aktivitäten, die verschiedenen Bereichen zuzuordnen sind, sagt relativ wenig, wenn man wissen möchte, wie ein gutes Leben tatsächlich aussieht. Denn dies zu wissen scheint Klarheit darüber zu verlangen, wie das Verhältnis jener Aktivitäten zueinander beschaffen ist, und mehr noch: die Gründe zu kennen, die Aristoteles veranlaßt haben könnten, nur bestimmte Aktivitäten als konstitutiv für eudaimonia anzusehen und sie in gerade dieses Verhältnis zueinander zu stellen. Diesen Fragen, die sich auf die Struktur der eudaimonia in der EE beziehen, wird in der vorliegenden Abhandlung nachgegangen. Dabei soll es unter anderem um zwei Dinge nicht gehen. (1) Es soll nicht ein Vergleich der eudaimonia-Konzeption in der EE mit der oder einer eudaimom'a-Konzeption in der NE angestellt werden, denn ein Vergleich setzte hinreichende Kenntnis des zu Vergleichenden voraus. Es geht insbesondere auch nicht um die gelegentlich aufgeworfene Frage, welches, mit Blick auf die Konzeption von eudaimonia, die eigentliche oder die 'reifere' der aristotelischen Ethiken sei. Die Frage, welche der Ethiken sich durch größere Reife auszeichnet, ist insofern eine uninteressante Frage, als das Kriterium der Reife vermutlich in der größeren Übereinstimmung der jeweiligen Konzeption mit der des Rezipienten liegt. (2) Es soll ferner nicht der Versuch unternommen werden, ausgehend von der Eudemischen Ethik ein Modell des guten Lebens zu entwickeln, welches dann als bessere Alternative heutigen Modellen gegenüberzustellen wäre. Es geht auch nicht um den Versuch einer Bewertung des aristotelischen Modells, sondern nur um die Erarbeitung einer aristotelischen Theorie des guten Lebens. Gleichwohl scheint mir die Entwicklung bzw. Nachzeichnung einer solchen Theorie auch von systematischer Relevanz, nämlich dort, wo sie zur Auseinandersetzung mit ihr provoziert. Voraussetzung dafür ist aber eine Bestimmung dessen, worin die Theorie besteht.

2. Die Theorie der eudaimonia

in der EE: Überblick und These

Drei Besonderheiten kennzeichnen die aristotelische Theorie des guten Lebens und ihre Präsentation. Zum einen beschreibt die Theorie eine vermeintliche Idealform guten menschlichen Lebens. Zum andern liegen dieser Beschreibung bestimmte Annahmen zugrunde, die in der Regel als "metaphysisch" bezeichnet werden — Annahmen, die das betreffen, was Individuen der Art Mensch als solche auszeichnet. Zum letzten erfolgt die Präsentation der Theorie aus einer bestimmten Perspektive, nämlich jener, die auf die Verwirklichung jenes guten Lebens gerichtet ist. (Entsprechend gibt die EE als Ethik,

Kapitel 1: Einleitung

13

nicht als Glückstheorie, der Behandlung der sog. "Charaktertugenden" den größten Raum, weil die Behandlung dieser Bestandteile des guten Lebens für seine Verwirklichung die zunächst relevantere sein dürfte; s. dazu Kapitel 2.) Eine Anmerkung zur ersten Besonderheit: bei der Präsentation jener Idealform kann es nicht darum gehen, Menschen ein bestimmtes Leben vorzuschreiben und ihnen etwa das Recht auf eine selbstbestimmte Wahl und Verwirklichung von Lebensinhalten abzusprechen. Eine relevante Verschiedenheit der Menschen einmal angenommen, ergibt sich aus jener Idealform nicht der Schluß, sie seien unterschiedlich zu behandeln. Daß Aristoteles selbst, etwa im Fall des sog. "Sklaven von Natur", vermutlich der Auffassung war, diesen Schluß ziehen zu dürfen, betrifft nicht seine Theorie des guten Lebens als solche. Die Präsentation der Idealform beruht vielmehr auf folgender Überlegung: Wenn jemand die Möglichkeit hat, ein Leben nach eigener Wahl zu führen, wenn er (oder sie) des weiteren bestimmte individuelle Voraussetzungen erfüllt und wenn er ferner ein gutes Leben führen möchte, dann überlege er, ob nicht folgende Theorie des guten Lebens genau dasjenige beschreibt, das er sich zum Ziel setzen sollte; denn das, was ihm hier präsentiert wird, ist das Beste überhaupt, das irgendein Mensch aus seinem Leben machen kann. Diese Theorie sei hier ausgehend von den folgenden vier leitenden Gedanken im Überblick dargestellt: (1) das Wesen des Individuums, um dessen gutes Leben es geht, ist eines; (2) das eine gute Leben ist das Schönste, Beste und Lustvollste; (2.1) das gute Leben steht, als Gutes, in einer Beziehung zu den Kategorien des Seienden; (2.2) das gute Leben steht, als Schönes, in einer Beziehung zu bestimmten Inhalten oder Gegenständen. (1) Das ergon und die Einheit des Individuums. Aristoteles' Theorie, d.h. sein in Frage stehendes System von Sätzen über das gute Leben, beruht auf bestimmten metaphysischen Annahmen über das, was Menschen als Menschen auszeichnet. Theorien über das gute Leben bzw. Ethiken unterscheiden sich in diesem Punkt, so würde Aristoteles vielleicht sagen, nicht dadurch, ob sie solche Annahmen machen oder nicht, sondern allenfalls dadurch, ob diese Annahmen, so verschieden sie sein mögen, expliziert oder zumindest zugestanden werden oder nicht. Diese Grundlage außer acht zu lassen führte ungünstigenfalls dazu, daß eine Ethik nicht das trifft, worüber sie handelt, nämlich den Menschen. Die These, Grundlage der aristotelischen Theorie über das gute Leben seien bestimmte Annahmen über das, was Menschen als Menschen auszeichnet, stützt sich auf Aristoteles' Verwendung des Begriffs des ergon. Das ergon des Menschen ist das für ihn spezifische 'Funktionieren'. Dies entspricht seiner wesentlichen Aktualität, oder: 'SeinsWirklichkeit', und nur über diese reicht er überhaupt an jene Seinsweise heran, die "eudaimonia" genannt wird (und der die Eigenschaft zukommen soll, 'göttlich' zu sein): die eudaimonia des

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Kapitel 1: Einleitung

'Glücklichen' ist nichts von dem Verschiedenes, was der Glückliche wesentlich ist. Nun zeichnet sich das Individuum Mensch, um dessen gutes Leben es geht, zuerst dadurch aus, ein Individuum (der Art Mensch) zu sein. Diese, wie es scheint, triviale Feststellung besagt unter anderem, daß es bei der Aktualität des Glücklichen um etwas geht, das in relevanter Hinsicht so kohärent ist, daß es unteilbar ist: das Wesen von etwas ist eines, nicht zwei. Das gute Leben des Menschen (als Menschen) muß etwas sein, das in seinen Bestandteilen so geordnet ist, daß seine Teile zusammenhängen und aufeinander bezogen sind und daß dadurch in relevanter Hinsicht Einheitlichkeit dieses menschlichen Lebens gegeben ist (es ist nicht ein bloßes Bündel von Eigenschaften oder Ereignissen). Darin, daß es sich beim Träger der eudaimonia um ein Individuum handelt, dessen Aktualität so geordnet ist, daß seine Einheit gewahrt bleibt, besteht der erste leitende Gedanke der vorliegenden Abhandlung. (S. dazu Kapitel 4.) 2 Zwei Fragen verbinden sich damit. Zum einen muß jene einheitsbildende Ordnung die Ordnung von etwas sein. Es stellt sich also die Frage, was zu dem solchermaßen Geordneten gehört: was ist konstitutiver Bestandteil des guten Lebens? Zum andern stellt sich die Frage, wie jene Ordnung aussieht. Die erste der beiden Fragen scheint Aristoteles eindeutig zu beantworten: das, um dessen Ordnung es geht, sind die spezifischen Teile oder Bereiche der menschlichen Seele, nämlich die, bei denen die Rede davon sein kann, daß der Mensch Prinzip ihrer Aktualität ist, und die sich dadurch auszeichnen, daß sie in irgendeiner Weise am logos teilhaben — wobei "logos" Verstand, Vernunft oder insgesamt den rationalen Bereich der menschlichen Seele bezeichne. Das schließe Bereiche ein, die selbst logos besitzen, und Bereiche, die auf den logos 'hören' können. Zu ersteren gehört etwa die Aktualität des Denkens, theoretischen Betrachtens oder der Klugheit, zu letzteren gehört die Aktualität der Affekte. Die Auswahl dieser Aktualitäten, die für eudaimonia konstitutiv sein sollen, ist für Aristoteles nicht willkürlich, sondern richtet sich nach bestimmten Kriterien, und zwar den folgenden vier: Ein erstes Kriterium ist das der Machbarkeit für den Menschen: das gute Leben soll für den Menschen machbar oder durch eigenes Tun erreichbar sein — der Mensch soll Prinzip für die relevanten Aktualitäten sein können. (S. dazu Kapitel 3.) Ein zweites Kriterium ist, wie gesehen, die Wesentlichkeit: für jedes Individuum einer bestimmten Art ist das das Beste, was es für ein Individuum

2 Die Tatsache, daß es sich beim Menschen um etwas Einheitliches handelt, wurde im Zusammenhang mit Überlegungen zur eudaimonia etwa schon von Léonard hervorgehoben (s. 1948:29).

Kapitel 1: Einleitung

15

dieser Art heißt zu sein. So ist es für den Menschen wesentlich, am logos teilzuhaben, und so sind etwa Aktivitäten (als für eudaimonia nicht konstitutive) ausgeschlossen, die als solche auf äußere, dem Menschen nicht wesentliche Güter, wie z.B. Reichtum, gerichtet sind. (S. dazu Kapitel 4.) Dieser letzte Punkt, nämlich der des 'Gerichtet-Seins', führt — in einem Vorgriff auf die Überlegungen zum Begriff des Schönen — zu einem dritten Kriterium für die Auswahl bestimmter Aktualitäten: der absolute und relative Wert von Aktualitäten bemißt sich für Aristoteles wesentlich nach dem, worauf diese Aktualitäten gerichtet sind, d.h. nach ihrem Gegenstand. Als Gegenstand der Aktualität ist der beste zu wählen, weil dann auch die ihm zugeordnete Aktualität die beste ist. (S. dazu Kapitel 5.) Das vierte und letzte Kriterium ist das der Vollständigkeit: unter den Aktualitäten sind alle diejenigen zu wählen, die jene drei Kriterien erfüllen. Damit die Einheit des Individuums gewahrt bleibt, kann mit "Vollständigkeit" hier nicht eine Ansammlung einzelner Aktualitäten gemeint sein, sondern nur die Vollständigkeit des Prinzip-Seins: die für eudaimonia konstitutive ganze Aktualität zeichnet sich dadurch aus, daß sie nur aus Prinzip und vom Prinzip Abhängigem besteht (daneben gibt es nichts für eudaimonia Konstitutives). Das Prinzip ist aber das, von woher etwas ist. Auch hier kann es im Fall eines Individuums nur eines geben. Dieses, d.h. das beste Prinzip (das, von dem alles Übrige abhängt), dürfte — Aristoteles zufolge — jenes sein, welches auf den besten Gegenstand gerichtet ist. Das dürfte auf den Intellekt zutreffen, denn dieser ist seinerseits auf das Beste gerichtet, nämlich die Prinzipien. (S. dazu Kapitel 4.) (2) eudaimonia als Gutes und Schönes. Während sich anhand dieser Kriterien bestimmen läßt, welche Aktualitäten für eudaimonia konstitutiv sein sollen, scheint — folgt man der Literatur — Aristoteles' Antwort auf die zweite Frage weniger klar. Dies war die Frage nach dem Verhältnis der Aktualitäten, die jenem Bereich des Rationalen in irgendeiner Weise zugeordnet sind. Ein Schlüssel für die Beantwortung dieser Frage liegt darin — so der zweite leitende Gedanke —, daß Aristoteles der eudaimonia bestimmte Eigenschaften zuschreibt, nämlich schönstes und bestes und deshalb auch lustvollstes von allem zu sein. Ein Schlüssel ist dies deshalb, weil eine genauere Bestimmung dessen, was es für den Menschen heißt, gut zu sein, und dessen, was es für ihn heißt, schön zu sein, eben etwas für die Bestimmung jenes Verhältnisses oder jener Struktur austrägt. 3

3 Ausschließlich aus pragmatischen Gründen soll im folgenden nicht auf die Eigenschaft der eudaimonia, Lustvollstes zu sein, eingegangen werden. Die relevante Textpassage EE\ 1, 1214a7f. dürfte so zu verstehen sein, daß eudaimonia als schönstes und bestes von allem auch das Lustvollste ist. Da die Zuschreibung der Eigenschaft 'Lustvollstes' auf der Zuschreibung der beiden ersten Eigenschaften beruht, dürfte die Beschränkung auf diese legitim sein. — Es sei darauf hingewiesen, daß Aristoteles den Begriff des ergon einführt, um die Rede von der

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Kapitel 1: Einleitung

Hinsichtlich des Besten scheint dies, wirft man einen Blick auf die Forschungsdiskussion, nicht überraschend: ein guter Teil der Diskussion zur aristotelischen eudaimonia knüpft an die Frage nach dem Guten für den Menschen an. Daß eudaimonia hingegen auch als das Schönste gekennzeichnet wird, hat bisher nicht die angemessene Beachtung gefunden. Zu beidem, nämlich (2.1) dem Besten und (2.2) dem Schönsten, sind hier einige Erläuterungen anzubringen, und zwar mit Blick auf die Frage, wie die Struktur der für eudaimonia konstitutiven Aktualität aussieht. (2.1) Gutes als Seiendes verschiedener Kategorie. Im Fall des Besten ist eine bestimmte Überlegung zur Ergänzung oder Präzisierung der vorliegenden Diskussion anzustellen, und zwar die folgende. (S. dazu Kapitel 3.) Aristoteles stellt eine Beziehung zwischen den Kategorien des Seienden (d.h. dessen, was es gibt) und dem Guten her. Diese Beziehung besteht darin, daß jedes Gute einer Kategorie des Seienden zuzuordnen ist und es für Seiendes jeder Kategorie ein Gutes gibt. Dies gilt nun — das sei der dritte leitende Gedanke — auch für die eudaimonia, die immerhin das Beste für den Menschen sein sollte: eudaimonia muß — als Bestes — einer oder mehreren Kategorien des Seienden zuzuordnen sein.4 Der entscheidende Punkt ist hierbei nun der, daß im Fall der eudaimonia Gutes verschiedener Kategorie eine Rolle spielt, woraus sich bestimmte Folgerungen für die Struktur des guten Lebens ergeben. Es gibt nämlich Aktualitäten des Menschen, die wesentlich gut sind, und solche, die der Qualität nach gut sind. Erstere sind die, die dem Intellekt und dem Bereich der Ratio (des logos) im eigentlichen Sinn zuzuordnen sind, letztere sind etwa Aktualitäten wie die der Affekte, deren Gut-Sein die sog. "Charaktertugenden" sind und die am logos nur insofern teilhaben, als sie auf jenen anderen Bereich 'hören' oder ihm 'gehorchen' können. Es gibt im Bereich der Affekte Tugenden und, wenn wir so wollen, "Schlechtigkeiten", und Affekte liegen auf eine dieser Weisen vor. Anders verhält es sich im Bereich der Ratio: jemand ist entweder scharfsinnig oder nicht, sein Intellekt ist aktual oder nicht etc. ; er kann aber nicht in schlechter Weise scharfsinnig sein oder sein Intellekt kann nicht in schlechter Weise aktual sein. Die Konsequenzen für die Struktur des guten Lebens bestehen nun darin, daß sich das Gut-Sein der Aktualität der Affekte nach dem Verhältnis dieser Aktualität zu jenen Aktualitäten bemißt, die nicht als 'gehorchende', sondern von sich aus am logos teilhaben: die guten Aktualitäten des affektiven Bereichs üben eine unterstützende Funktion

eudaimonia als etwas Gutem zu spezifizieren, nicht die Rede vom Guten, um den Begriff des ergon zu spezifizieren. Der Begriff des Guten scheint aber etwas für die Frage nach dem Verhältnis der für eudaimonia konstitutiven Aktivitäten verschiedener Bereiche auszutragen. Somit scheint es sinnvoll, seine Explikation zur detaillierteren Bestimmung der durch das ergon umrissenen Aktualität heranzuziehen. 4 Dieser Gedanke geht auf eine Anregung Michael Fredes zurück.

Kapitel 1: Einleitung

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aus, indem sie den im eigentlichen Sinn rationalen Aktualitäten Raum schaffen. 5 Die hier entwickelte Struktur der für eudaimonia relevanten Aktualität wird durch keine der Interpretationen erfaßt, die eingangs angeführt wurden. Es handelt sich bei dieser Aktualität, um Hardies bekannte Unterscheidung aufzugreifen, 6 weder um ein sog. "inclusive end' noch um ein sog. "dominant end", wenn ersteres besagt, daß eudaimonia in Aktivitäten mehrerer, untereinander unabhängiger Bereiche besteht, und wenn letzteres besagt, daß sie in der Aktualität nur eines Bereichs besteht.7 Der oben entwickelten eudaimoniaKonzeption der EE zufolge sind nämlich einerseits Aktualitäten verschiedener Bereiche für eudaimonia konstitutiv, zum andern sind sie dies so, daß die Struktur ihres Zusammenwirkens (d.h. die der Gesamt-Aktualität des Menschen, dessen Leben als gutes anzusehen ist) streng hierarchisch ist, und zwar so, daß die leitende Aktualität in bestmöglicher Weise verwirklicht und unterstützt wird. Die relevanten Aktualitäten können nicht untereinander unabhängig sein. Die Struktur der eudaimonia in der EE dürfte eher der einer Pyramide zu vergleichen sein oder, vielleicht besser, der eines Gewölbes, dessen Schlußstein die leitende, einheitsstiftende Aktualität entspricht. (Zu dieser Struktur s.a. Kapitel 6.) Bei diesen Überlegungen kommt wieder der erste oben angeführte leitende Gedanke zum Tragen, nämlich der der Einheit des Individuums: das Wesen des Menschen, um dessen gutes Leben es geht, ist eines, nicht zwei oder mehrere. Sofern für dieses gute Leben mehrere Aktualitäten konstitutiv sind, müssen sie so geordnet sein, daß die Einheit des Individuums gewahrt bleibt. Voraussetzung dafür ist, daß sich die Teile als Teile eines Ganzen verhalten. (Im Kapitel 6 wird davon die Rede sein, daß sie sich der EE zufolge sogar auf dieselbe Weise wie das Ganze verhalten müssen.) Dieses Ganze erfordert wiederum jenes einheitsstiftende Prinzip, das die Aktualitäten zu diesem Ganzen fügt. Die Eigenschaft der Aktualität, ein solches Ganzes zu sein, heißt 'Schön-und-Gut-Sein' (kalokagathia — zu dieser s. Kapitel 6). (2.2) Schönheit als absolute Eigenschaft. Bisher war im Umriß von eudaimonia als dem Besten die Rede. Nun sollte eudaimonia aber auch das Schönste sein, und dies ernst zu nehmen sollte einer der leitenden Gedanken der vorliegenden Abhandlung sein. Dem ersten Blick nach scheint sich dabei das 5 Der hier relevante Punkt ist nicht der der Arationalität der Affekte, sondern der, daß der Umgang mit den Affekten bzw. die jeweilige Einstellung zu ihnen gut oder schlecht sein kann und daß hierfür ein Kriterium erforderlich ist. Weil es nicht um die Arationalität der Affekte bei Aristoteles geht, muß hier auch nicht für sie argumentiert werden. 6 S. Hardie 1965:279. 7 Es scheint mir eher verwirrend, bezieht man beide Ausdrücke auch auf Mischformen (z.B. eine solche, in der bei Unabhängigkeit der relevanten Bereiche ein bestimmter Bereich gleichwohl herausgehoben ist). Mißverständnisse lassen sich vermeiden, sieht man von der Verwendung der Ausdrücke ganz ab.

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Problem zu stellen, daß die skizzierte beste Seinsweise des Menschen keinen Raum mehr für eine schönste Seinsweise läßt, sollte es sich bei letzterer um eine Alternative zur ersteren handeln. Die Frage danach, was das Beste für den Menschen ist, war als Frage nach seinem bestmöglichen Organisiertsein zu verstehen, d.h. als Frage nach der bestmöglichen Struktur der ihm möglichen Aktualität. Nun ist menschliche Aktualität aber nicht nur etwas Strukturiertes, sondern sie ist auch auf etwas gerichtet: wir nehmen etwas wahr, wir denken über etwas nach, wir betrachten etwas etc. So muß also die im Fall der eudaimonia vorliegende Aktualität ebenfalls auf etwas gerichtet sein. Dadurch, daß sie dies ist, wird sie in einer aristotelischen Welt gewissermaßen 'verankert'. Das Schöne — so der vierte leitende Gedanke — kommt nun dort ins Spiel, wo es um diese Verankerung geht: die für eudaimonia konstitutive Aktualität ist schön, weil sie auf Schönes gerichtet ist. Versuchen wir, dieses Schöne, auf das jene Aktualität gerichtet ist, schon hier etwas genauer zu bestimmen. (S. dazu Kapitel 5.) Sofern Untersuchungen zur eudaimonia Aristoteles' Rede vom Schönen überhaupt berücksichtigen, beschränken sie sich in der Regel darauf, hinter dieser Rede den Hinweis auf irgendeine Art von Wertschätzung zu vermuten. Damit erfahren wir aber noch nichts darüber, weshalb etwas "schön" genannt wird. Wenn die Rede vom Schönen tatsächlich etwas mit einer Wertschätzung zu tun hat, so muß diese Wertschätzung einen Grund haben. Es muß einen Grund dafür geben, daß eudaimonia "schön" genannt wird. (Es geht hier also um das, was das Schöne an schönen Dingen ist, nicht darum, daß wir sie als Schönes schätzen. Gleiches gilt für alle Arten von Äußerungen der Wertschätzung gegenüber dem Schönen, z.B. auch für Lob oder Bewunderung.) Es scheint lohnend, für die Bestimmung dieses Grundes einen Hinweis aus Metaphysik XII 7 aufzunehmen, wo u.a. davon die Rede ist, der unbewegte Beweger verhalte sich schön. Dieser Hinweis soll aus drei Gründen aufgenommen werden: zum einen weil in Met. XII 7 explizit etwas darüber gesagt wird, was es — im Fall des unbewegten Bewegers — heißt, sich schön zu verhalten; zum andern weil der Seinsweise des unbewegten Bewegers zugleich auch die Eigenschaften zukommen, gut und lustvoll zu sein: seiner Seinsweise kommen also drei Eigenschaften zu, die gerade auch der eudaimonia des Menschen zukommen sollten und diese auszeichneten; und zum dritten weil es vom Menschen heißt, er verhalte sich (vermutlich: gegebenenfalls und idealerweise) wenigstens zeitweilig so wie der unbewegte Beweger. Wenn also (1) Met. XII etwas über das 'sich schön Verhalten' sagt, wenn sich (2) der unbewegte Beweger schön verhält und ihm die anderen für eudaimonia relevanten Eigenschaften zukommen, und wenn (3) wir uns zeitweilig wie der unbewegte Beweger verhalten, dann dürfte es naheliegen, den Hinweis aus Met. XII auf das 'sich schön Verhalten' des unbewegten Bewegers als Hinweis auch darauf aufzunehmen, was es für uns heißt, daß wir uns schön ver-

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halten (jedenfalls im Idealfall, welches aber genau der der eudaimonia ist). Dies sei kurz ausgeführt: Der unbewegte Beweger verhält sich, Met. XII 7 zufolge, genau deshalb schön, weil er eine bestimmte Aktualität ist: er ist eine Aktualität, die sich nicht anders verhalten kann, als sie es tut, weil sie Aktualität einer solchen Substanz ist, die wesentlich vollständig aktual ist. Letzteres ist wiederum genau deshalb der Fall, weil diese Substanz sich selbst denkendes Denken ist: insofern sie dies ist, ist sie 'mit Notwendigkeit', insofern sie 'mit Notwendigkeit' ist, verhält sie sich, Aristoteles zufolge, schön und auf solche Weise ist sie Prinzip wiederum für alles andere, und das heißt: Gegenstand allen Strebens. Der Mensch ist nun ein solches Wesen, daß er jener Aktualität nach, die wesentlich gut ist, Intellekt ist und daß er durch diesen in bestimmter und spezifischer Weise auf jenen unbewegten Beweger gerichtet ist (dazu, daß er auf diesen auch der EE zufolge wesentlich gerichtet ist, s. Kapitel 6). Genauer: in seiner intellektiven Aktualität ist er wesentlich auf die Grundstrukturen der Wirklichkeit (und, als deren 'Ausgangspunkt', auf den unbewegten Beweger) als Gegenstand seines Denkens gerichtet. Dem Denken ist es nun in formaler Hinsicht eigen, daß es das Gedachte wird: der Mensch verhält sich (als Denkender) — zeitweilig — wie der unbewegte Beweger. Er verhält sich deshalb — zeitweilig — wie der unbewegte Beweger auch schön: es ist das Schönste, das ihm zukommen kann, sich in dieser Weise zu verhalten. Die Kennzeichnung von eudaimonia als 'Schönstes' muß auf dieses 'sich Verhalten' Bezug nehmen, weil es nur ein Schönstes geben kann. Das Schönste 'für' den Menschen ist demnach seine intellektive Aktualität, weil diese ihm einen Zugang zu den Grundstrukturen der Wirklichkeit und dadurch zum unbewegten Beweger vermittelt, der sich schön verhält, weil er sich selbst denkendes Denken ist. Als ganzer verhält sich der Mensch genau dann schön, wenn er aktual auf das Schöne gerichtet ist. (Weil es nur ein Schönstes gibt, kann es auch keine Konkurrenz unter den verschiedenen Arten von Aktivitäten des rationalen menschlichen Vermögens geben — anders als im Fall des herkömmlich aufgefaßten inclusive end.) Dies könnte im Fall des Intellekts vielleicht gerade noch nachvollziehbar sein. Es soll aber, der EE zufolge, auch charakterlich tugendhaftes Handeln um des Schönen willen geschehen (und nicht nur gut sein). Wie läßt sich das zu jenem 'sich schön Verhalten' in Beziehung setzen? Insofern Charaktertugenden Habitus der Affekte sind, sind sie etwas vom Intellekt Verschiedenes. Sie verhalten sich gut, insofern sie ihn in seiner Aktualität unterstützen. Nun heißt es in einer (von der bisherigen Diskussion kaum berücksichtigten) Passage der EE von der Charaktertugend aber auch, sie sei Werkzeug des Intellekts. Werkzeuge zeichnen sich als solche dadurch aus, daß ihre Aktualität (oder: Wirklichkeit) darin besteht, daß sie gebraucht

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werden: in dieser Hinsicht ist ihre Aktualität Verwirklichung eines Teils der Aktualität dessen, der sie gebraucht. Insofern die Aktualität der Charaktertugenden nun Verwirklichung des auf die Grundstrukturen Gerichtetseins des Intellekts ist, ist sie — und das Verhalten, dessen Art und Weise sie ist — schön. (Charaktertugenden sind jene Verwirklichung, insofern das Verhalten, dessen Art und Weise sie sind, sich in die von jenen Grundstrukturen geprägte Welt einfügt.) Wenn Charaktertugend als Verwirklichung des Intellekts vorliegt, sprechen wir bei demjenigen, bei dem dies der Fall ist, vom Typus des 'Schönen und Guten': dann ist es nämlich der Fall, daß die Teile (der Tugend bzw. der Aktualität) als Teile eines Ganzen vorliegen und daß sie die Bedingung erfüllen, die die EE an diese Teile stellt, nämlich sich auf dieselbe Weise wie das Ganze zu verhalten. (Dazu s. Kapitel 6.) These. Fassen wir das Gesagte zu einer These zusammen. Die der Eudemischen Ethik zugrundeliegende Frage des Aristoteles ist die Frage danach, worin das schönste und beste Sein des Menschen — oder: sein gutes Leben — besteht. Der Mensch ist ein Individuum: sein Sein muß, um bestmöglich zu sein, in relevanter Hinsicht eine Einheit bilden. Um eine Einheit zu bilden, müssen sich die Teile seiner Aktualität, die für das Ganze seines Lebens relevant sind, in einer bestimmten Weise zu diesem Ganzen fügen. Relevant sind alle diejenigen Teile, die zum Menschen gehören und über die er verfügen kann. Fügen müssen sie sich so, daß das, was unter ihnen von sich aus gut ist (wie etwa die Aktualität des Intellekts), bestmöglich verwirklicht und von den anderen, nicht von sich aus guten Teilen (wie etwa der Aktualität der Affekte) unterstützt wird. Diese so strukturierte Aktualität wird durch das 'auf etwas Gerichtet-Sein' des Intellekts gewissermaßen in der Welt verankert. Seine Aktualität, und mit ihm die der eudaimonia, ist schön, weil das, worauf sie gerichtet ist — nämlich die Aktualität des unbewegten Bewegers — schön ist. Die Aktualität des Intellekts gebraucht die Charaktertugenden als Werkzeug: sofern sich im Gebrauch des Werkzeugs der Gebrauchende verwirklicht, überträgt sich auf das Gebrauchte die Wirklichkeit des Gebrauchenden: als Werkzeuge im Gebrauch des Intellekts sind die Charaktertugenden schön. Die auf den unbewegten Beweger gerichtete Aktualität des Intellekts übernimmt in der ganzen menschlichen Aktualität so etwas wie die Funktion des Schlußsteins eines Bogens oder Gewölbes. Daß es sich bei der so strukturierten Aktualität um die der eudaimonia in der Eudemischen Ethik handelt, ist die These der vorliegenden Arbeit.

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3. P h i l o l o g i s c h e V o r b e m e r k u n g e n Vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Eudemischen Ethik stehen bestimmte philologische Probleme, zu denen Stellung zu nehmen ist, weil sie die Grundlage dieser Arbeit betreffen, nämlich den Text der EE und seine Einordnung ins Corpus Aristotelicum. Es handelt sich um folgendes: (1) den Zustand des uns überlieferten Textes; (2) die Authentizität der EE; (3) die relative Chronologie der EE im Verhältnis zur NE und ihre Stellung im Corpus Aristotelicum-, (4) die Zuordnung der sog. 'gemeinsamen Bücher'. Es soll hier nicht der Anspruch einer Lösung (oder auch nur einer vollständigen Behandlung) der damit verbundenen Probleme erhoben werden. Es geht nur um eine Bemerkung dazu, welche Haltung zu diesen Problemen im folgenden eingenommen wird.

3.1. Zum Text Der griechische Text der EE ist bekannt für seine Verderbtheit. So spricht Harlfinger in seiner einschlägigen Arbeit zur Überlieferungsgeschichte der EE mit Blick auf die EE von "dieser wohl zu den korruptesten Traktaten des Corpus Aristotelicum zählenden Schrift". 8 Das hat zur Folge, daß jede Arbeit über die EE zwangsläufig auch philologische Detailarbeit verlangt: wenn über die im Text zum Ausdruck gebrachte Sache diskutiert werden soll, muß Klarheit darüber bestehen, über welchen Text diskutiert wird (wobei beides Hand in Hand geht). Obwohl also das Anliegen der vorliegenden Arbeit ein philosophisches ist, muß auch die erforderliche philologische Arbeit geleistet werden. Die erste brauchbare kritische Textausgabe zur EE ist die Teubner-Ausgabe Susemihls aus dem Jahr 1884. Eine neuere kritische Ausgabe von Walzer und Mingay ist 1991 als O C T erschienen (nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert, soweit nicht anders angegeben). Die OCT-Ausgabe ist nun allerdings, wie etwa auch aus ihrer Besprechung durch Barnes (1992) hervorgeht, nicht immer glücklich geraten. Barnes' abschließendes Urteil lautet: WM [d.h. der OCT — F.Β.] will surely be the standard text of EE for decades to come. But all in all it is a disappointment. [...] WM's text is, on average, no better and no worse than S.[usemihl — F.B.]'s old Teubner. And as for the app.crit., 'slipshod' is a generous description.9

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Harlfinger 1971:3. Barnes 1992:31.

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Die schwerwiegendste Unsicherheit des OCT zeigt sich vielleicht dort, wo — philologisch unbegründet und systematisch unhaltbar — die ursprüngliche Rede vom "Gott" zum "Göttlichen" abgeändert wird. 10 Unter den Versäumnissen fällt u.a. auf, daß der OCT die 1970 vom Dirlmeier-Schüler Dieter Wagner nach den drei bekannten erhaltenen Handschriften angefertigte Edition der Vetusta zu EE VIII 3 nicht kennt. Das hat zur Folge, daß bestimmte Lesarten nicht überliefert werden und daß im OCT-Apparat bestimmte Verlesungen stehenbleiben, die Wagner zufolge erst dem Herausgeber des Latinus (den der OCT hier benutzt) unterlaufen sind.11 Mit diesen Bemerkungen sei nur angedeutet, daß wir uns auch beim OCT des öfteren auf schwankendem Boden befinden und daß entsprechende philologische Arbeit häufig erst noch zu leisten ist. Dabei ist insbesondere bei Konjekturen und Emendations versuchen der Recentiores, d.h. der jüngeren Philologie, soweit sie der OCT übernimmt, eine gewisse Zurückhaltung geboten. In manchen und v.a. auch in wichtigen Fällen zeigt sich, daß den Lesarten älterer Handschriften der Vorzug zu geben ist.

3.2. Zur Authentizität Wie viele andere Werke des Corpus wurde auch die EE für unecht gehalten. Sind solche Echtheitszweifel erst einmal ausgesprochen worden, lassen sie sich nicht endgültig wieder ausräumen: Echtheit läßt sich nicht beweisen, weil es sich hier um Probleme von solcher Art handelt, für deren Lösung "Beweis" die falsche Bezeichnung ist. Weil es nun aber ebensowenig sinnvoll ist, die EE losgelöst vom Corpus Aristotelicum zu betrachten, wie es auf der anderen Seite methodisch fragwürdig wäre, die Interpretation einer unechten EE im Kontext eines Corpus, zu dem sie nicht gehört, durchzuführen, soll wenigstens kurz auf jene Echtheitszweifel eingegangen werden. Von "Echtheit" eines Textes (etwa des Aristoteles) sei in folgenden Fällen die Rede: (1) Der Text wurde so, wie er vorliegt, von Aristoteles geschrieben. (2) Der Text wurde ursprünglich von Aristoteles geschrieben, aber von einem Späteren herausgegeben, wobei er durch diesen Herausgeber in keinem

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Vgl. dazu Kapitel 6, Abschnitt 5. " Bezeichnend ist der Hinweis von Barnes (1992:31 Anm.13) auf die Übernahme eines Druckfehlers aus Susemihls Ausgabe durch den OCT, den Susemihl sogar noch selbst in seinen Addenda korrigiert hat. Man vergleiche ferner die deutschen Titel im Literaturverzeichnis des OCT, die doch nur abzuschreiben gewesen wären; und auch nicht einmal der Conspectus siglorum ist fehlerfrei. Zumindest einmal ist die OCT-Mitteilung des Oxoniensis unzuverlässig, nämlich in 1219a30 (meinem Augenschein nach; ich habe den Codex aus bloßer Neugierde und nur sehr selektiv eingesehen).

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relevanten Punkt, d.h. für die philosophische Fragestellung: in keinem Punkt, der inhaltlich in irgendeiner Weise relevant ist, verändert wurde. Als ein Grenzfall, in dem aber nicht von "Echtheit" die Rede sein soll, gelte etwa eine Schülermitschrift einer Vorlesung des Aristoteles. Ein Text ist ferner teilweise echt, wenn er Einschübe enthält, die nicht echt im oben genannten Sinne von "Echtheit" sind. Es soll hier nichts Neues zur Echtheitsfrage vorgebracht werden. Man findet entsprechende Forschungsüberblicke etwa bei Schächer, Dirlmeier oder Rowe. 12 Es sei hier lediglich kurz Auskunft über die Argumente gegeben, mit denen die Echtheit angezweifelt wurde, und geprüft, wie weit diese Argumente tragen. Zweifel an der Authentizität der EE gehen bis auf den ältesten uns erhaltenen Aristoteles-Kommentar zurück, nämlich den des Aspasius (erste Hälfte des 2.Jh. n.Chr.). 13 Im Kommentar zu NE VII [ = EE VI] 13, 1153b9-12 hält Aspasius die Tatsache, daß Aristoteles in NE X 14 über die Lust so spreche, als hätte er darüber in NE VII noch nicht gesprochen, für ein Zeichen dafür, daß "dies", d.h. wenigstens die kommentierte Passage, vermutlich aber die ganze Lust-Abhandlung in NE VII, nicht dem Aristoteles, sondern dem Eudemos, d.h. wohl: der EE zuzuordnen ist.15 (Zu beachten ist, daß er sich auf diese Zuordnung von NE VII aber auch nicht festlegen will.) 16 Grund dafür, Aristoteles die EE abzusprechen, ist für Aspasius hier, wie es scheint, der fehlende Querverweis zwischen zwei Textabschnitten, die denselben Gegenstand behandeln. Allerdings suggeriert die Rede von "fehlen", daß der Verweis tatsächlich zu erwarten gewesen wäre. Diese Annahme geht 12 S. Schächer 1940 I; II 112-117; Dirlmeier ΛίΕ:248-251, £ £ : 109-121, 127-143, MM: 93-113, 118-147; Rowe 1971a:9-14; ferner Kenny 1978:1-49. 13 Atticus, dem wir die früheste sicher belegte Erwähnung der EE mit Titel verdanken — nämlich aus der zweiten Hälfte des 2.Jh. n.Chr. — hält die EE (wie auch die Magna Moralia) für echt (s. unten zur Frage des Titels). Allerdings ist dies mit größter Vorsicht zu sehen, weil Atticus in seiner Attacke gegen Aristoteles an Differenzierungen innerhalb des Peripatos kaum gelegen gewesen sein dürfte. — Zu den Zeugnissen der Überlieferung der aristotelischen Ethiken s.a. Bodéüs (1973). 14 'X' ist spätere Ergänzung einer Textlücke. Gemeint ist jene Passage der NE, die die heutige zweite Lustabhandlung enthält, d.h. das heutige Buch NE X. 15 Aspasius in Eth. Nie. CAG XIX/1 151.21-24. 16 Aspasius in Eth. Nie. CAG XIX/1 151.24-26. Kenny (1978:31) meint dazu: "a closer reading of the text [i.e. Aspasius 151.24-26 — F.B.] suggests that his [i.e. Aspasius' — F.B.] doubt is not whether the present book belongs to the Eudemian Ethics, but whether the Eudemian Ethics, to which in his view the present book belongs, is by Aristotle or by Eudemos." Etwas anders s. Barnes (1999:20): der hier relevante Satz 151.25f. ('wie auch immer, sei das von Eudemos oder von Aristoteles: es ist auf weithin akzeptable Weise gesagt') "indicates that the authorship of the text was disputed — and that Aspasius was not greatly exercised by the issue." — An anderer Stelle erwähnt Aspasius Eudemos und Theophrast und schreibt ihnen eine bestimmte These zu, die im allgemeinen auf EE VII 4, 1239al-4 zurückgeführt wird (s. in Eth. Nie. CAG XIX/1 178.3-5; s. Dirlmeier EE: 117, Barnes 1999:26f.). Gründe für diese Zuschreibung der EE nennt er hier allerdings nicht.

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offensichtlich von der These aus, Aristoteles habe solche Querverweise wo immer möglich angebracht. 17 Diese These scheint aber zumindest dort nicht plausibel, wo es sich um Werke handelt, die beide nicht oder nicht in der vorliegenden Form zur Publikation gedacht waren. Es scheint sich bei dieser Absprechung der Authentizität in der Antike um einen Einzelfall zu handeln. Schächer, der selbst die EE für unecht hält, schreibt zu der Auffassung, Aristoteles sei Verfasser der drei Ethiken gewesen: "Diese Auffassung scheint im späteren Altertum die vorwiegende gewesen zu sein." 18 Die neuere Diskussion setzt mit Schleiermacher ein, der selbst nur die Magna Moralia (MM) für echt hielt. Entscheidungskriterium war für ihn offensichtlich die Frage, ob uns aus dem in Frage stehenden Werk "ein rein aristotelischer Geist anweht." 19 Abgesehen von bestimmten Vorannahmen darüber, wie die Art und Einheit eines Textes beschaffen ist, der von solcher Art ist, wie Aristoteles ihn verfaßt, entscheidet sich hier die Frage der Echtheit nach dem, was man, ausgehend von eigenen Präkonzeptionen, bei Aristoteles zu finden wünscht. Wenn dies, wie bei Schleiermacher, das ist, was in den MM steht, und dies zudem in einer bestimmten Weise verstanden wird, dann ergeben sich Zweifel an der Echtheit der EE und der NE mit Notwendigkeit. Nachhaltig meinungsbildend für die Annahme der Unechtheit der EE war dann, im Anschluß an Schleiermacher, Spengels Zuschreibung der EE an Eudemos. Argumente für diese Zuschreibung sah er (1) im Titel des Werkes; (2) in der Tatsache, daß Eudemos mehrere Werke, deren Bezeichnung jenen von Werken des Aristoteles gleich lauteten, geschrieben habe, und in der Tatsache, daß in Alexanders 7op/&-Kommentar einmal von 'Eudemischen Analytiken' die Rede ist; 20 (3) in der sich eng an die Vorlage anlehnenden Bearbei-

17 Die These, Aristoteles habe solche Verweise in der Mehrzahl oder der größeren Mehrzahl der möglichen Fälle angebracht, wäre zu schwach. 18 Schächer 1940: I 3f. — Einen antiken Hinweis auf die wohl für echt gehaltene EE dürfte eine Bemerkung in der De Λ/iima-Paraphrase des Themistius enthalten. Themistius kommentiert hier unter Verweis auf 'die Ethiken' jene Stelle aus De Anima, in der, wie in EE VIII 3, 1249bl5 vom zweifachen Ziel bzw. 'dessentwegen' die Rede ist, nämlich An. II 4, 415b2f. (s. in De An. CAG V/3 50.11-19; auf die Stelle verweist Fritzsche; s. anders Todd [Them. : 172 Anm.6]: "This is not directly verifiable from any Aristotelian text, but to Themistius may have represented a gloss on a text like EN 1.1."). Auch der P/2>'5j/:-Kommentar enthält an korrespondierender Stelle einen Verweis auf 'die Ethischen Überlegungen' (s. Themistius in Phys. CAG V/2 43.9). Ich vermute, daß Bernays' Verkennung des Bezugs jener Kommentar-Passage auf die EE auf der Annahme beruht, Themistius habe — wie zu Bernays' Zeiten üblich — die EE für unecht gehalten (s. Bernays 1863:169f.). Ich komme auf Themistius' Verweis unten im Zusammenhang der Behandlung von EE VIII 3 zurück. 19 20

Schleiermacher 1835:313. S. Alexander in Top. CAG II/2 131.15.

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tung der aristotelischen Physik durch Eudemos, welche ein Beispiel für eine Überarbeitung sei, wie sie auch in der EE vorliege.21 Um Spengels Argumentationsversuch richtig einordnen zu können, ist zu beachten — und ist nicht immer beachtet worden, weil Spengel selbst dies nicht klarstellt — daß er von vornherein gar nicht erst einen Nachweis der Unechtheit führt, sondern diese voraussetzt und lediglich die Frage diskutiert, welchem Verfasser, da nicht Aristoteles, die EE zuzuordnen ist, und dieser ist dann Spengel zufolge eben Eudemos. Daß dies dennoch als ein Nachweis der Unechtheit hat gelten können, ist um so auffalliger, als Spengel alles daransetzt, die EE nur so nahe wie möglich an Aristoteles heranzurücken, weil er meint, diese Nähe für die Zuweisung an Eudemos zu benötigen. So heißt es etwa: Die Eudemien unterscheiden sich von den Nikomachien mehr der Form als dem Inhalte nach, es ist dieselbe Lehre derselben Schule, das dort gegebene kehrt hier wieder, nur in anderer Folge und Ordnung.22 [...] Der Verfasser [der EE — F.Β.], wer er auch ist, hat die Absicht, eine Ethik im Geiste der Nikom. [achischen Ethik — F.B.] zu schreiben; daher gilt ungeachtet mancher Aenderung immer noch dasselbe.23 [... Die EE — F.Β.] geht von Eudemus, einem unmittelbaren Schüler aus, der zumeist den Lehren des Arist. anhing, und wie den Inhalt, so die Form, unwillkührlich nachbildete. Auch besitzen wir von Eudemus zu wenig, um mit grösster Sicherheit den Unterschied darlegen zu können.24

Wiewohl dies schon für sich genommen kaum gegen die Aristotelizität der EE sprechen dürfte, seien hier einige Bemerkungen zu Spengels Argumenten angeführt. (1) Das erste dieser Argumente bezog sich auf den Titel der EE. Dazu zwei Anmerkungen: (1.1) Die Formulierung des Titels ist schon in der Antike uneinheitlich. Es begegnen uns die Titel bzw. Bezeichnungen 'Eudêmeioi': 'Eudemeische (betitelte Pragmatien)' (Atticus, zweite Hälfte des 2. Jh. n. Chr.); 25 'ta êthika pros Eudêmon mathêtên': 'die an den Schüler 21

Spengel 1843:506f. Spengel 1841:477. 23 1841:479. 24 1841:483. 25 ai γοΰν 'Αριστοτέλους περί ταΰτα πραγματεΐαι, Ευδήμειοί τε καί Νικομάχειοι και Μεγάλων 'Ηθικών έπιγραφόμενοι (Atticus im Zitat von Eusebius Praep. ev. XV,4,9). — Die älteste Erwähnung der EE unter einem Titel geht vermutlich auf eine Werkliste bei Andronicus (1 .Jh. v.Chr.) zurück. Es ist uns hieraus aus syrisch-arabischer Tradition ein dem folgenden entsprechender, arabischer Eintrag erhalten: "31 l. tractatus minores de moribus ad U'dimis < et nominator ANINKUN (s. aningun, leg. itikun) U'DIMIS> tr. VIII" (Steinschneider fr. 1471; bei Baumstark [1900:64]: "33. Sein Buch, das er überschrieb 'Die kleinen Reden über die Sittenlehre [d.h. Abhandlungen über Ethik - F.B.], die er Eudemos geschrieben hat'. — Heißt 'Ηθικών Εύδημείων. 8 Bücher."; das Arabische enthält keine Numerierung. S. zusammenfassend zur Forschung Moraux [1951:289-294], Düring [1957:241-243]). Die Erwähnung der EE findet sich in der Überlieferung der Liste bei Ibn-al22

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E u d e m o s gerichteten ethischen Schriften' (Elias, vermutlich 6. Jh. 26 ); 'ία Eudêmeia': 'die Eudemeischen (ethischen Schriften)' (Simplicius, 6. Jh. 27 ); 'ία Eudêmia êthika': 'die Eudemischen Ethiken' (Simplicius 2 8 ). In j e d e m Fall sind diese Titel — w e l c h e n Wortlauts auch immer — deutlich später als das betitelte Werk. Für die Echtheit oder Unechtheit ergibt sich aus ihnen nichts. ( 1 . 2 ) Selbst nach Spengel schließt der Titel ' E n d e m i s c h e Ethik' eine Zuw e i s u n g des W e r k e s an Aristoteles nicht aus, w e n n es bei ihm heißt: so bleibt jenen, welche annehmen, Aristoteles habe die Bücher geschrieben, nur die Erklärung: Ethik des Aristoteles an Eudemus, eine Erklärung, die ich, wiewohl ich sie bei der vielfachen Aenderung der Bedeutung, welcher adjectivische Eigennamen unterworfen werden, nicht für unmöglich bezeichnen möchte, doch durch kein gesichertes analoges Beispiel zu bestätigen weiss. 29 Ein gesichertes analoges Beispiel hätte Spengel im Titel der NE finden können (diese hält er für echt). 3 0 Zusammengefaßt gesagt sieht Spengel also keine

Qiftî (44.13f.); s. dazu Baumstark: "Wie besonders die arabische Receniso des IBN-AL-QIFTÎ lehrt, verfuhr der Syrer so, daß er zuerst, soweit sein sprachliches und sachliches Verständnis ihm das ermöglichte, die griechischen Titel syrisch übersetzte oder umschrieb, dann aber durchweg seinen Verdolmetschungsversuch der griechischen Titel selbst, mit syrischen Charakteren transscribiert, beifügte." (1900:54). Demnach ist Aninkun U'dimis, d.h. 'Ηθικών Εύδημείων, vermutlich zusammen mit der Angabe der Buchzahl, aus der griechischen Vorlage entnommen, der Rest aber syrische Hinzufügung. Gerade wegen der komplizierten Überlieferungslage kommt jener Liste aber für die Tatsache der Tradition der EE in jedem Fall ein gewisser historischer Wert zu, weil eine spätere Hinzufügung des Titels der EE eher unwahrscheinlich gewesen sein dürfte, und weil die Zahl der Schritte jener Überlieferung häufiger Anlaß gerade zur Streichung und zur Einsetzung der in der Liste nicht enthaltenen NE geboten hätte. — Für Informationen zum arabischen Text danke ich Ahmad Berwari. 26

in Porph. Is. CAG XVIII/1 32.35. in Cat. CAG VIII 4.27 (cod. Marc.224 saec.xi); die Handschriften haben auch εύδήμια und ένδήμιχχ (s. Apparat). 28 in Cat. CAG VIII 170.6. - Zu den Handschriften meint Spengel (1843:506 Anm.): "Wie es scheint, geben die Handschriften alle den einfachen Vokal [d.h. ι — F.B.], nicht den Diphthong ει." Sie lesen also 'Êthika Eudêmia'. In der jüngeren Zeit findet sich bei Fritzsche (1849) zunächst 'Ethica Eudemea', im Vordertitel seiner EE-Ausgabe dagegen dann — wie schon bei Bonitz (1844) und später auch bei Susemihl und dem OCT — 'Ethica Eudemia'. Abwegig ist der Einfall von v.Fragstein (s.a. die vorige Anmerkung), der — nach der Behauptung, es gelte heute als sicher, daß "das Werk mit keinem der beiden Eudemos, die Ar. jemals nahestanden, zu tun hat" (1974:416) — einen Schreib- bzw. Lesefehler vermutet: man konnte — so v.Fragstein — "wohl das Werk im Gegensatz zu der exklusiven NE eine volkstümliche oder nationale Ethik, 'Ηθικά ενδημα oder ένδήμια nennen." (ebd.). 27

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Spengel 1843:506. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Eustratius (ca. 1060-1120), der sich als einziger griechischer Kommentator zum Titel der EE äußert, ihn gerade in der Weise auffaßt, für die Spengel eine bestätigendes Beispiel vermißt. Eustratius möchte erläutern, weshalb die NE 'nikomachische (Ethik)' heißt. Der Grund sei der, daß sie an einen gewissen Nikomachos 'ausgesprochen' (oder: 'herausgegeben') sei — womit der Sohn des Aristoteles oder jemand anderes dieses Namens gemeint sein könnte: "wie er (d.h. Aristoteles) auch 'Eude30

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echte Differenz zwischen der EE und der 'aristotelischen' Ethik, und sein Hinweis auf den Titel besagt — auch ihm selbst zufolge — für die Frage der Verfasserschaft des Aristoteles nichts. 31 (2) Zu Spengels Verweis auf das Vorliegen gleichbetitelter Werke bei Aristoteles und Eudemos ist anzumerken, daß nur zu erwarten ist, daß, sofern sich Eudemos mit denselben Gegenständen wie Aristoteles beschäftigt hat, auch die bibliothekarische Einordnung der zugehörigen Werke dieselbe ist. Bei Alexanders Rede von "Eudemischen Analytiken" geht es vermutlich nur um die Unterscheidung dieser Analytiken von den anderen, nämlich hier denen des Aristoteles. Die der Unterscheidung dienende, spätere Aufnahme des Namens "Eudemos" in den Titel der Analytiken bzw. der EE muß nicht den gleichen historischen Sachverhalt widerspiegeln. (3) Zu Spengels Heranziehung der Physik des Eudemos als Beispiel für eine Überarbeitung, wie sie auch im Fall der EE zu finden sei, hat sich u.a. schon Dirlmeier kritisch geäußert. 32 Tatsächlich dürfte ein Vergleich kaum

mien' herausgab, nämlich andere (Ethiken), die an einen gewissen Eudemos gerichtet sind und die denselben Inhalt haben wie jene [d.h. wie die NE — F.B.]." (Eustratius in Eth.Nic. CAG XX 4.17-21.) Eustratius sieht offensichtlich überhaupt kein Problem darin, den Titel der EE als Hinweis auf das Gerichtetsein dieser Schrift an jemanden namens Eudemos aufzufassen und diese Auffassung als Beleg für eine entsprechende Auffassung des Titels der NE heranzuziehen. 31 Zu den nachfolgenden, an Spengel anschließenden Behandlungen der Echtheitsfrage bei Brandis und v.a. Zeller s. Schächer (1940: I 30-36, 43-45). 32 Vgl. Dirlmeier (EE: 109). Einige Bemerkungen zu früheren Heranziehungen formaler Kriterien. Gadamer hält die EE (in einem frühen Aufsatz) für das Werk eines Schülers. Er verweist hierfür auf die Tugend-Analysen in EE III: auffallend sei hier nicht die "abweichende sachliche Tendenz, sondern die Vorliebe der Eth. Eud. für formale Schärfe, antithetische Formulierung, Schematisierung, die Eth. Nie. arbeitet dagegen mit einem Blick für das sachlich Besondere, der nirgends einer überspitzenden Schematisierung zum Opfer fällt [...] Man wird hier kaum an eine reifere Umformung von der Hand desselben Verfassers denken, vielmehr in der Eth. Eud. das sachlich Neue und eben deshalb Ungleichmäßige der Analysen der Eth.Nic. einer systematisierenden und damit zugleich zwangsläufig depravierenden Bearbeitung unterworfen finden." (1928:162). — Eine im einzelnen differenziertere Darstellung der NE schließt aber keineswegs aus, daß Aristoteles in der EE dasselbe zu einem früheren (oder späteren) Zeitpunkt schematischer behandelt hat. Gleiches gilt für Brzoska (1943), der — sein Urteil über die fehlende Originalität der EE (s. Brzoska 1943:104) einmal beiseite gelasser. — Unterschiede in den 'Formen des Denkens' zwischen der EE und der NE zum Anlaß für die These der Unechtheit der EE genommen hat. Tatsächlich dürften sich die vorhandenen formalen, d.h. die Präsentation betreffenden Unterschiede zwischen EE und NE wenigstens so gut wie die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Werken auch bei Annahme desselben Autors erklären lassen. Im wesentlichen auf formale Unterschiede zwischen NE und EE scheint sich auch Wehrli (Eudemos) in seinen Echtheitszweifeln gegenüber der EE zu berufen, wenn er sie als fr. 151 unter die Fragmente des Eudemos aufnimmt: "Die [...] dargelegte Beurteilung von Analytik und Physik legt vorerst die Annahme nahe, daß E.[udemos — F.B.] auch die aristotelische Ethik für eigene Vorlesungen redigiert habe" (Wehrli: 123). Es ist nicht leicht zu sehen, inwiefern die Beurteilung der Analytiken und Physik die Annahme einer (entsprechenden?) Redaktion der Ethik nahelegen könnte. Die Beurteilung der Physik bestand vermutlich darin, daß diese die "Anordnung und Problemstellung beibehält und nur in Einzelheiten der Behandlung

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Kapitel 1: Einleitung

zur Bestätigung der Annahme führen, daß die EE sich zur NE verhält wie die Physik des Eudemos zu der des Aristoteles, weil, wie es scheint, auch die EE und die Physik des Eudemos keine hinreichende Ähnlichkeit untereinander aufweisen. Während Spengel versuchte, die Ähnlichkeit der beiden Ethiken für eine Zuweisung der EE an Eudemos zu nutzen, hat man nun gerade auch in inhaltlichen Abweichungen der beiden Werke ein Argument für die Unechtheit der EE gesehen. Notwendig ist in diesem Fall die zusätzliche Annahme, daß eine Entwicklung von der einen Position zur anderen ausgeschlossen ist. Ein Beispiel: Mentzingen faßt die kalokagathia, d.h. jenen 'Inbegriff von Tugend', von dem in EE VIII 3 die Rede ist, als 'praktische Lebensform' (bios praktikos) — bzw. als Hinweis darauf — im Unterschied zur theoretischen Lebensform auf und meint, daß in der EE, anders als in der NE, dieser bios praktikos keinen Raum für "eine noch ausgezeichnetere Weise zu sein" lasse, d.h. für die theoretische Lebensform, sondern daß er, so ist zu ergänzen, selbst die einzige für eudaimonia konstitutive Lebensform ist.33 Mentzingen hält eine Entwicklung der Position der EE hin zur NE nicht für möglich (und eine umgekehrte von der NE zur EE erst recht nicht).34 Nun ist die Behauptung der Unüberbrückbarkeit zweier Positionen relativ stark. Als Kriterium für die Korrektheit der Zuweisung zweier Texte an zwei verschiedene Autoren dürfte sie nur dort gelten, wo zwei Texte inhaltlich Gegensätzliches enthalten und etwa zur selben Zeit abgefaßt sind. Während letzteres mit Sicherheit nachzuweisen vermutlich unmöglich sein dürfte, läßt sich zumindest prüfen, ob der Positionsunterschied tatsächlich besteht. Im Fall der Überlegungen Mentzingens etwa wird sich schon hier zeigen, daß die der EE zugrundeliegende Auffassung von dem, was kalon (schön) ist, eine andere als ihre ist, und daß es nicht richtig ist zu sagen (was Mentzingen auch nicht belegt): "Der Blick der eud. Ethik ist ganz ausschließlich auf das Kalon und das Handeln der Arete [d.h. hier: der Charaktertugend — F.B.] gerichtet."35 Wenn sowohl inhaltliche Nähe (Spengel) zweier Werke als auch inhaltliche Abweichung (Mentzingen) gegen die Annahme, ihr Verfasser sei derselbe, in Anspruch genommen wird, zeigt sich daran vermutlich nur, daß wir soweit noch keine hinreichend guten Mittel für die Bestimmung der Autorschaft an

selbständig ist." (Wehrli:87). Es finde sich in ihr eine "systematisierende Tendenz", die "sich Aristoteles gegenüber in der einheitlicheren Terminologie" zeige. "Den Ausbau der Lehre begleitet eine stilistische Abrundung, die stellenweise zu Merkmalen der Diatribe führt [...]; der alte hypomnematische Stil ist offensichtlich im Begriff, dem der philosophischen Abhandlung des Hellenismus sich anzugleichen." (Wehrli:88). Wird man das für die EE tatsächlich in Anspruch nehmen wollen? 33 Mentzingen 1928:25. 34 S. 1928:26. 35 Ebd.

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der H a n d h a b e n — u n d damit auch noch keinen Anlaß, die EE in A b w e i c h u n g v o n d e r Tradition Aristoteles a b z u s p r e c h e n . Neuere Überlegungen zur Unechtheit der EE. Es seien schließlich noch Überlegungen oder Zweifel diskutiert, die zwei Autoren, nämlich Flashar und Pakaluk, in jüngerer Zeit gegen die Echtheit der EE vorgebracht haben. Um zu zeigen, daß sich ausgehend von diesen Überlegungen die Echtheitsfrage nicht tatsächlich aufs neue stellt, muß die Diskussion hier etwas ausführlicher geführt werden. Flashars Zweifel gegenüber der Echtheit. Flashar hat — in einem in einer ersten Fassung bereits 1965 erschienenen Aufsatz — die Passagen zur sog. 'Platon-Kritik' der Ethiken untersucht, nämlich NE I 6 und EE 1 8 . Er meint mit Bezug auf die EE im Vergleich mit der NE: "Der Stil und Tenor der Piatonkritik ist aber ein völlig anderer. Sie ist von kühler Reserve und schneidender Schärfe getragen, keine Spur von innerer Nähe und persönlicher Empfindung, kein Versuch, an die kritisierte Lehre anzuknüpfen." 36 Flashar hält die Autorschaft (der EEÌ der Kritik?) des Aristoteles für "ungewiß". 37 Die Argumente, die auf die 'Zahlenlehre' Bezug nehmen, 38 träfen auf Xenokrates zu. Daraus (zusammen mit νυν, 1218al6) folgert Flashar eine Datierung (der EE? der fraglichen Passage?) in die Zeit von Xenokrates' Scholarchat (339/8314/3). Weiter meint er: "Es ist die Annahme kaum möglich, daß sich die warme, humane, von innerer Beteiligung getragene Auseinandersetzung mit Piaton in der Nikomachischen Ethik zu der schroffen Abfertigung der Eudemischen Ethik entwikkelt haben soll (umgekehrt schon gar nicht), zumal mit der aktuellen Bezugnahme auf Xenokrates in der Eudemischen Ethik ein zeitlicher Rahmen gewonnen ist, der über Aristoteles hinausgehen kann." 39 Die E E stelle eine "schulinterne Abhandlung" dar, die NE sei vor einem breiten Publikum vorgetragen worden. 40 Unter anderem folgendes ist dazu anzumerken: Piaton wird weder im entsprechenden Kapitel der NE noch irgendwo in der EE namentlich erwähnt. Man müßte zeigen, daß die jeweilige Kritik Ptoonkritik ist (auch Flashar nimmt schließlich nicht an, daß sie durchgängig Piatonkritik ist). Wenn es sich nicht in beiden Fällen um Kritik an Ansichten desselben Autors handelte, läßt dies zunächst einmal keinen Rückschluß auf den Autor der Kritik zu. Wenn Xenokrates einer der Zielpunkte der Kritik sein sollte, so hat das nicht notwendigerweise etwas mit seinem Scholarchat zu tun (mit 'jetzt' muß sich die E E nicht auf eine Doktrin eines Schuloberhaupts beziehen: es genügt, wenn es sich um eine aktuell diskutierte Doktrin handelt). Ferner: Wenn Aristoteles nicht der Verfasser der E E (bzw. der für Flashars Datierungsüberlegung ausschlaggebenden Passagen der EE) sein sollte, so läßt sich aus einer Differenz des Tonfalls beider Texte (dem der EE und dem der NE) keine Folgerung für ihr relatives zeitliches Verhältnis ziehen. Ferner: Weshalb sollte Aristoteles nicht als Mitglied der Akademie die Ideenlehre oder bestimmte Formen einer Ideenlehre

36 37 38 39 40

Flashar 1995:76. Ebd. Nämlich EE I 8, 1218al5-30; s. dazu Brunschwig (1971). Flashar 1995:79. Ebd.

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scharf angegriffen haben? Wann hätte Aristoteles sein Verdikt von den Ideen als τερετίσματα ('Gezwitscher'; APo. I 22, 83a33) seinem Verhältnis zur Akademie nach schreiben können, wann nicht? Freundlichkeit oder Schroffheit des Tons, wo sie sich überhaupt feststellen läßt (was ich mit Blick auf die in Frage stehenden Texte nicht für ausgemacht halte), ist nicht notwendigerweise Zeichen zeitlicher oder räumlicher Nähe oder Distanz: sie kann ebensogut durch den Gebrauch der Texte innerhalb oder außerhalb der Schule wie durch die Textform (Vortrag oder Notiz) wie durch eine momentane Laune oder Atmosphäre in der Schule erklärt werden. Freundlichkeit kann Zeichen von Gelassenheit oder von Servilität sein. Zu vieles ist hier zu unsicher, um daraus in der einen oder anderen Richtung Folgerungen für eine Chronologie und die Authentizität ziehen zu können. Pakaluk zur Unechtheit der EE. Pakaluk (1998) verwendet die vermeintliche Inauthentizität der E E zur Erklärung einer in ihr vermuteten systematischen Besonderheit. 41 Die systematisch besondere Position der E E ist Pakaluk zufolge die des Egalitarismus. Grundlage für die Feststellung dieser Besonderheit sind insbesondere sprachliche Unterschiede der EE gegenüber der NE bzw. Politik (sowie gegenüber dem Corpus Platonicum), nämlich hinsichtlich der Ausdrücke 'makarios' ('der Herausgehobene') 42 , 'hoi polloi' ('die Vielen') sowie 'charieis' ('der Elegante') bzw. 'eugenês' ('der von vornehmer Geburt'). Diese Ausdrücke, so Pakaluk, fehlen in der EE entweder ganz oder werden in ihr nicht 'inegalitär' verwendet oder werden dies nicht zum Ausdruck Aristoteles' eigener Meinung (sondern nur im Zitat). Gegen die so begründete Unterstellung eines eudemischen Egalitarismus läßt sich, die Richtigkeit und Relevanz dieser Beobachtungen gegeben, 43 einwenden, (1) daß sich klarerweise nicht aus dem Fehlen 'inegalitärer' Wendungen auf das Vorliegen eines Egalitarismus schließen läßt. (2) Ferner ist dem entgegenzuhalten, daß — was Pakaluk nicht zu berücksichtigen scheint — die EE ausdrücklich inegalitär ist, wenn Egalitarismus u.a. bedeutet: "being unwilling to view society as divided into ranks or classes [...] or even to use language suggestive of such a division; but rather [...] having a tendency to see the similarity of everyone with everyone else [...] and [...] insisting on the fundamental equality and likeness of human beings, so that their ine-

41

Vgl. Pakaluks Einschätzung (1998:431 Anm.26). Untersuchungen zu den 'Glücksausdrücken' μάκαρ und μακάριος einerseits und εύδαίμων, όλβιος und εύτυχής andererseits hat bis zum 5. Jh. de Heer angestellt. Zu den ersten beiden meint er: "the μάκαρ group is subjective in that it expresses admiration at the spectacle of others; at the same time it comes closest to being an expression of personal happiness." (1968:99). Unter der Voraussetzung, μακάριος habe sich in der Verwendung durch Aristoteles etwas davon bewahrt, dürfte der Ausdruck jemanden bezeichnen, bei dem ein (erstrebtes) Hervorgehoben-Sein oder Herausragen gegenüber den anderen vorliegt (s. de Heer 1968:85). 43 Aristoteles' Einschränkung der zu berücksichtigenden Meinungen auf die der Weisen (EE I 3f.) dürfte schon gegen eine Hinzuziehung der Meinungen der Vielen sprechen (s.u. Kap. 2, Abschnitt 4). Wie soll ferner die Klassifizierung bestimmter Lebensformen als solcher, die auf euhêmeria gerichtet sind, mit einer egalitaristischen Vorstellung zu verbinden sein, wenn sie gerade als solche disklassifiziert werden, die nicht auf die glückliche Lebensführung im Sinn der eudaimonia gerichtet sind, sondern sich bloß um das Notwendige bemühen (s. EE I 4, 1215a25-bl)? Aristoteles zufolge hat die große Zahl alltäglicher Berufe (und wohl auch: Lebens wählen) nichts mit eudaimonia zu tun. 42

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qualities and differences are regarded as secondary." 44 Die EE ist nämlich dort inegalitär (jedenfalls so inegalitär, wie Aristoteles nur sein kann), wo von der Gleichheit der Verhältnisse von Seele und Körper, Handwerker und Werkzeug und Herr und Sklave die Rede ist (vgl. EE VII 9, 124lb 17-24). An anderer Stelle ist davon die Rede, man müsse auf das Herrschende bezogen leben, d.h. bezogen auf jenen Zustand, welcher der Aktualität des Herrschenden entspreche: 'wie z.B. ein Sklave bezogen auf den Zustand, welcher der Aktualität des Herrn entspricht, leben muß' (vgl. EE VIII 3, 1249b6-8).45 Daß dies hinreichend für die Annahme eines Inegalitarismus oder Elitismus ist, soll kurz gezeigt werden. Aristoteles (oder: der Autor der EE) sieht allem Anschein nach im Verhältnis von Herr und Sklave ein gewissermaßen naturgegebenes Verhältnis vorliegen. "Naturgegeben" deshalb, weil es dem Verhältnis von Seele und Leib gleich sein soll. Beide Verhältnisse zeichnen sich nun durch einen Unterschied aus, wie er zwischen Herrschendem und Beherrschtem besteht (auch dieses Verhältnis soll den andern beiden Verhältnissen gleich sein). Aristoteles geht so weit zu behaupten, es handele sich bei Herr und Sklave nicht einmal um zwei Personen, sondern um eine Person und etwas 'an oder von jener einen her' (EE VII 9, 1241bl9f.). Aristoteles scheint den Unterschied zwischen Herr und Sklave ernst zu nehmen: es handelt sich allem Anschein nach nicht um ein Zugeständnis seiner Redeweise an eine gesellschaftliche Konvention. Daß es sich nicht um ein solches Zugeständnis handelt, zeigt etwa die aus EE VIII zitierte Passage: zu sagen, jemand müsse auf das Herrschende bezogen leben wie der Sklave im Verhältnis zum Herrn (auf das Herrschende bezogen leben muß), setzt voraus, daß auch die Rede vom Verhältnis von Sklave und Herr nicht deskriptiv, sondern normativ aufzufassen ist (der Vergleichspunkt ist nicht das Verhältnis, sondern die Notwendigkeit des Verhältnisses). Ferner erwartete man von jemandem, der eine egalitäre Position vertritt, daß er irgendeine kritische Bemerkung zu einem s.E. inhaltlich nicht korrekten Beispiel (wie dem des Sklaven) anbrächte, wenn ihm jene Position zu vertreten ein Anliegen ist. Da eine entsprechende Bemerkung nicht erfolgt, hat das Anführen jenes Beispiels vermutlich eher die bestärkende Wirkung, daß jenes Verhältnis von Herr und Sklave auch von den Hörern eben nicht kritisch, sondern als ein etwa von Natur und zu Recht bestehendes gesehen wird. 46 44

Pakaluk 1998:411. Vgl. ferner EE VII 5, 1239b24f. : Herr und Sklave brauchen einander — was voraussetzt, daß es sie gibt. Wenn die Beziehung zwischen Herr und Sklave nicht die für die Polis grundlegende ist, so setzt dies voraus, daß eine Auswahl getroffen wird, die diejenigen Menschen bestimmt, die wesentliche, die Polis konstituierende Teile sein sollen. Für eine nichtbeliebige Auswahl ist ein Kriterium erforderlich. Dies kann in diesem Fall kein egalitäres sein. 46 Man könnte dagegen noch einwenden, der eudemische Egalitarismus beginne erst jenseits der Sklaverei. Allerdings gibt es auch nach dieser Auffassung — der EE zufolge — prinzipiell Unterschiede zwischen Menschen, die auf die Ausprägung ihrer jeweiligen Fähigkeiten oder ähnliches zurückzuführen sind und die die Zuweisung unterschiedlicher Rollen und Aufgaben rechtfertigen. Dann ist aber nicht zu sehen, weshalb — der EE zufolge — solche Unterschiede nur zwischen Sklaven und Herren, nicht aber auch zwischen anderen, 'egalen' Menschen untereinander bestehen sollten. Die Begrenzung schiene willkürlich. Ferner könnten Bemerkungen zur natürlichen Gleichheit von Griechen und Barbaren, wie sie schon bei Anti45

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Zusammenfassend gesagt ist auch die EE prinzipiell bereit, natürliche Unterschiede zwischen Menschen anzunehmen, und zwar so, daß diesen Menschen aufgrund dieser Unterschiede verschiedene Rollen zugeordnet werden, die in Über- bzw. Unterordnung in entsprechenden Herrschaftsverhältnissen zu tragen kommen. Dies scheint mit der Position eines Egalitarismus nicht vereinbar zu sein. Ferner scheint in diesem Punkt kein signifikanter Unterschied zur NE vorzuliegen, sofern für diese eine nicht-egalitaristische Position in Anspruch genommen wird. Neben den sprachlichen Beobachtungen führt Pakaluk "broader textual evidence" dafür an, daß zwischen EE und NE eine "difference in philosophical outlook, arising from EE's egalitarianism" bestehe. Hier verweist er zunächst auf die "focal analysis" der Freundschaft, "which is, of course, intended as a device for unifying, into a coherent subject matter, various subjects which might be thought to be disparate. [...] the tendency of EE is to broaden the proper application of the term φιλία." 4 7 Die Annahme eines Egalitarismus soll hier, jene Kernanalyse zugrundelegend, allem Anschein nach dadurch begründet werden, daß sich in der E E eine "universal extension of friendship" finde, worauf der EE-Autor wohl wegen der "universal presence of some good in all human beings" vertraue. 48 Dagegen ist einzuwenden: selbst wenn man jene Auffassung vom Sinn der Kernanalyse einmal teilt, so ist noch keineswegs klar, wie man von einer entsprechend begründeten Auffassung der Freundschaft zu jener Gleichheitsvorstellung gelangen könnte. Eine zweite Überlegung Pakaluks bezieht sich auf die Freundschaft zwischen Ungleichen (kath ' hyperochên), die nicht im eigentlichen Sinn Freundschaft ist (unter Verweis auf EE VII 4, 1239a3-6). 49 Eine bestimmte politische Verfassung setzt vielmehr die sog. 'politische Freundschaft' voraus, welche eine Freundschaft zwischen in relevanter Hinsicht Gleichen ist. Es fehlt hier nun allerdings die entscheidende Prämisse (und die Textevidenz dafür), daß der EE-Autor diese Freundschaft zwischen Gleichen und mit ihr jene bestimmte politische Verfassung tatsächlich auch selbst vorzieht. Die Lektüre von EE VII läßt eher den Eindruck entstehen, es handele sich um eine Analyse bestehender Freundschafts- und verwandter Verhältnisse. Es seien hier Pakaluks anschließende Ausführungen zur megalopsychia und eudaimonia übergangen, da sie ihrerseits keine stärkeren Argumente anführen, als dies im Fall der Freundschaft geschieht. Zusammenfassend sei gesagt: weder sprachlich noch systematisch führt Pakaluk Evidenz für die Annahme eines eudemischen Egalitarismus an und somit auch keine Evidenz für die Annahme eines entsprechenden systematischen Unterschieds der verschiedenen relevanten Werke des Corpus. Ein weiteres sind nun seine Überlegungen zu möglichen Erklärungen von Unterschieden zwischen der EE und der NE,50 und darauf einzugehen mag von Interesse mit Blick auf andere, eventuell noch zu entdeckende Unterschiede sein. Pakaluk diskutiert fünf Erklärungsalternativen, von denen er selbst die letzte bevorzugt.

phon zu finden sind (s. DK 87 Β 44.B Col.2 [DK II 352f.J), dagegen sprechen, dem EE-Autor hier zeitbedingt fehlendes Bewußtsein zuzubilligen. 47 Pakaluk 1998:423. 48 1998:424. 49 1998:424f. 50 S. 1998:429-431.

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(1) Es handele sich um einen Unterschied lediglich des Ausdrucks. Dagegen spreche (so Pakaluk im Anschluß an Spengel), daß Philosophen typischerweise nicht zwei Abhandlungen über genau dasselbe Gebiet, für denselben Zweck und für dasselbe Auditorium schrieben. Ferner spreche dagegen, daß signifikante Unterschiede tatsächlich vorlägen. — Pakaluks Argument hier scheint zu sein, daß, wenn zwei Werke unter den angeführten Aspekten gleich sind, sie nicht vom selben Philosophen sind, daß wir aber im Fall der EE und der NE Werke vor uns haben, die sich (in systematischer Hinsicht) signifikant voneinander unterscheiden — und die deshalb nicht vom selben Autor sind. Davon abgesehen, daß die Begründung für die Annahme des in Frage stehenden systematischen Unterschieds noch aussteht, wüßte man gerne, wie verschieden zwei Werke sein müssen und dürfen, um als Werke ein und desselben Autors gelten zu können. Ich sehe nicht, was dagegen spräche, eine Überarbeitung durch Aristoteles selbst anzunehmen: dafür jedenfalls scheinen EE und NE hinreichend, wenn auch nicht unüberbrückbar verschieden zu sein. Aus der Beobachtung, daß gute historische Parallelen für solche Überarbeitungen zu fehlen scheinen, folgt nicht, daß eine solche Überarbeitung unwahrscheinlich ist oder daß es unplausibel ist, sie anzunehmen. 51 (2) Unter Beibehaltung desselben Standpunkts seien EE und NE für verschiedene Auditorien geschrieben. Dagegen (so Pakaluk) spreche, daß es sich um echte Auffassungs-, nicht um methodische Unterschiede handele. — Hier läßt sich die Kritik aus (1) wiederholen. Für unüberbrückbare systematische Differenzen führt Pakaluk keinen Beleg an. Für die beiden Werke verschiedene Auditorien anzunehmen scheint mir nicht notwendig, aber durchaus möglich und gewiß geeignet, bestimmte Differenzen zu erklären. (3) Es handele sich um dieselbe ethische Theorie, die durch die Ansichten von Mitschreibern oder Herausgebern gebrochen sei. Dagegen spreche (so Pakaluk), daß in hier relevanter Hinsicht von einer Veränderung oder Korrektur nicht die Rede sein könne — was wohl so zu verstehen ist, daß etwa eine Korrektur Hinweise auf Korrigiertes enthalten oder liefern müßte, diese aber fehlen. — Weshalb aber sollte eine Korrektur, wenn sie vorliegt, oder ein Einweben eigener Überzeugungen nicht stillschweigend vorgenommen worden sein können? (4) Es handele sich um eine entwicklungsgeschichtlich zu erklärende Einstellungsänderung auf Seiten des Autors. Dagegen (so Pakaluk) spreche, daß es angesichts des turbulenten politischen Hintergrunds des 4. Jh. nicht plausibel sei anzunehmen, ein Autor dieser Zeit, der sich mit ethischen und politischen Fragen beschäftige, wechsele von aristokratischen zu demokratischen Ansichten (oder umgekehrt). Für Aristoteles selbst gelte vielmehr, daß er sich zeitlebens durch eine wenig demokratiefreundliche Haltung ausgezeichnet habe. — Dazu ist zu sagen, daß letzteres sicher zutrifft, daß aber hinsichtlich der (nach Pakaluks Egalitarismus-These zu unterstellenden) Meinungsänderung nicht zu sehen ist, weshalb eine solche anzunehmen aus dem an-

51 Dirlmeier formuliert — unter Annahme der Echtheit der MM — lapidar: "Aristoteles hat, wie es bei den drei Ethikfassungen evident ist, eine Vorlesung mehreremale gehalten und dabei Änderungen hineingearbeitet, woraus sich die meisten der bekannten Inkonzinnitaten erklären." (1962:11). Das scheint mir (unter Ausklammerung der MM) den historischen Sachverhalt am besten zu treffen.

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geführten Grund, nämlich dem Vorliegen der Turbulenzen, nicht plausibel sein sollte. Die Tatsache, daß es wohl nicht viele historische Beispiele für eine solche quasi alkibiadeische Wechselhaftigkeit gibt, sollte nicht mit der (unterstellten) Implausibilität der Annahme dieser Änderung in einem bestimmten Fall verwechselt werden. (5) EE und NE stammen (so Pakaluk) von verschiedenen Autoren — wodurch sich der eudemische Egalitarismus am plausibelsten erklären lasse. Wieder davon abgesehen, daß es hier keinen systematischen Unterschied zu erklären gibt, findet Pakaluk verschiedene bestätigende Evidenz für die These, es handele sich um Werke verschiedener Autoren, so u.a.: (5.1) Es gebe Anzeichen "that EE, in various places, attempts to resolve difficulties in EN, or clarify or improve doctrines of EN, and its clumsiness in doing so makes it implausible to attribute these [nämlich was? — F.B.] to the author of EN."52 Pakaluk führt einige Stellen an, 53 von denen allerdings wiederum keine, um das geringste zu sagen, notwendigerweise in seinem Sinn zu verstehen ist. Werden bestimmten Stellen Aufgaben zugewiesen, die sie nicht erfüllen sollen, dann ist es wahrscheinlich, daß sie sich bei der Erfüllung ungeschickt verhalten. Ein anderes ist es zu prüfen, ob sie sich bei dem, was sie leisten sollen, ungeschickt verhalten. (5.2) "EE seems at times even to misunderstand doctrines stated in EN, which could hardly be attributed to the author of £7V."54 Das einzige von Pakaluk hier als Beleg angeführte Lehrstück ist die oben erwähnte Kernanalyse, von der Pakaluk nun meint: "that analysis, it seems, cannot be made to work." 55 — Damit dies einen Sinn ergibt, muß dies so zu verstehen sein, daß die in der EE mißverstandenen Lehren aus der NE allgemein die Freundschaft betreffen (nicht die Kernanalyse) und daß sich das in Frage stehende Mißverstehen daran festmachen lasse, daß die EE die Kernanalyse auf die nikomachische Theorie der Freundschaft (und der verschiedenen ihr verwandten Verhältnisse) anwende. Gesetzt, die EE sei tatsächlich das spätere Werk und die Kernanalyse sei der Zusatz ihres Autors, so ist jedoch nicht zu sehen, inwiefern hier ein Mißverständnis vorliegen soll: selbst wenn es sich — was mir immer noch eine vergleichsweise starke Behauptung zu sein scheint — um eine Analyse handelt, die nicht funktionieren kann, ist damit nicht gesagt, daß ein Autor, der die Analyse auf eine Theorie, die er vorfindet, anwendet, diese mißversteht. (5.3) In EE VIII 3, 1249b5f. werde NE VI 1, 1138b25f. so zitiert, daß dies Kritik an einem Autor vermuten lasse, der vom Autor dieser Kritik verschieden sei. — EE VIII 3, 1249b3-6 zufolge 'war im vorausgehenden die Rede von wie der logos es sagt', was — wie der Verweis auf die Heilkunst und ihren logos zeigen soll — 'zwar wahr, aber nicht klar' sei. NE VI 1, 1138b21-29 zufolge ist es wenig erhellend, lediglich von 'Zielpunkt', 'Mitten' und 'orthos logos' zu sprechen: so zu reden sei 'zwar wahr, aber nicht klar'. Es geht bei diesen Passagen um den Unterschied zwischen richtigem und klarem Standard. Dabei handelt es sich im Kontext der ME-Passage um den Standard 'der Mitten' oder der Habitus der Seele, im Kontext der E i Passage — jedenfalls auf den ersten Blick — um den Standard für den richtigen Um52 53 54 55

Pakaluk 1998:431. 1998:431 Anm.21. 1998:431. 1998:431 Anm.22; unter Hinweis auf Price (1989:134ff.) "and others".

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gang mit den lediglich guten Dingen (womit äußere Güter gemeint sind), nicht — wie Pakaluk meint56 — um den Standard für tugendhaftes Handeln. Selbst wenn es sich aber um den Standard für dasselbe handelte, es sich ferner bei der EE um das spätere Werk und bei der in Frage stehenden Wendung zudem noch um ein Zitat jener MiPassage handelte, 57 ist zum einen nicht zu sehen, inwiefern mit diesem Zitat Kritik zu verbinden ist, zum andern ist nicht zu sehen, inwiefern aus dem Zitat hervorgehen soll, daß es auf das Werk eines anderen Autors gerichtet ist. Pakaluk versucht dies wie folgt zu erläutern: "the author of EE, familiar with EN, is quoting EN, precisely at the point where the former provides its resolution for what EE has quite explicitly identified as the problem of the όρος for virtuous action — this in order to remind the reader that the problem, although raised, was never solved in EN."5S Nun muß aber zum einen die Aï-Passage nicht so gelesen werden, als erhebe sie ihrerseits tatsächlich Anspruch auf Lösung des Problems oder als werde diese Lösung in ihr angekündigt. Zum andern scheint das, was in der EE folgt, anderes leisten zu sollen als das, was in der NE anschließend ausdrücklich gefordert wird, nämlich anzugeben, was denn nun (etwa im Fall der Heilkunst) auf den Körper anzuwenden ist (s. NEW I 1, 1138b30f.): die EE spricht tatsächlich nur über den Blickpunkt (s. EE VIII 3, 1249b24). Dann ist es aber wenig plausibel anzunehmen, es handele sich in der EE zuvor um Kritik der NE. Zu beachten ist, daß (5.1) bis (5.3) die zeitliche Nachordnung der EE gegenüber der NE voraussetzen (sowie die Zuordnung der gemeinsamen Bücher zur NE). Dafür wünschte man sich ein Argument, und dieses soll — zumindest hinsichtlich der relativen Chronologie — vermutlich im folgenden Punkt erbracht werden: (5.4) "EE is later than EN, since it is plausible to argue that, if EE is later, and yet it is an inferior piece of philosophy, then it is not authentic." 59 Pakaluk bemerkt selbst, daß dies die meisten Interpreten den Schluß auf die umgekehrte relative Chronologie der Ethiken hat ziehen lassen — und dies, wie er meint, "even though Jaeger's arguments have been discredited, so that we really ought to consider that the debate has essentially returned to the terms originally defined by Spengel." 60 Die Tatsache, daß Jaegers Argumente widerlegt wurden (Jaeger bediente sich zur Erstellung der relativen Chronologie der ethischen Werke insbesondere einer entwicklungsgeschichtlichen Behandlung des Begriffs der phronêsis, und diese Behandlung war für jene Erstellung tatsächlich wenig geeignet), besagt nichts für die relative Chronologie, sondern nur etwas darüber, daß Jaegers Argumente für sie nicht überzeugten. Daraus zu schließen, die Debatte sei im wesentlichen wieder bei den 'terms' angelangt, die Spengel ursprünglich festgelegt habe, ist dann schon sehr gewagt — dies jedenfalls dann, wenn es besagen soll, der Stand der Diskussion sei der von Spengel erreichte. Gewagt ist dies u.a. schon deshalb, weil Spengels Standpunkt zu übernehmen auch schon eine Position zu übernehmen heißt, ferner weil wichtige Arbeit, wie sie etwa von Kapp (1912) oder Hall (1959) geleistet wurde, auch nicht im Ansatz 56 57 58 59 60

S. Pakaluk 1998:431 Anm.23. Für Stellenangaben zum Verweis in EE VIII 3, 1249b3 s. Dirlmeier (££:501 z.St.). Pakaluk 1998:431. 1998:431. 1998:431 Anm.26.

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berücksichtigt wird. Problematischer noch ist die ziemlich starke Behauptung — und dies scheint die allen anderen Überlegungen zugrundeliegende These zu sein —, es handele sich bei der EE um ein 'inferior piece of philosophy'. Das zu behaupten erforderte doch, zumal Pakaluk dieses Urteil wohl kaum auch auf den vermuteten Egalitarismus ausdehnen möchte, eingehendere Untersuchungen der EE. (Dies gilt sowohl dann, wenn "inferior" absolut zu verstehen ist, als auch dann, wenn — was Pakaluk vermutlich meint, so aber nicht sagt — die EE 'inferior' bloß gegenüber der NE sein soll.) Es besteht, zusammenfassend gesagt, kein Bedarf, den vermuteten systematischen Unterschied zwischer einer egalitären Position in der EE und einer inegalitären Position etwa in der NE mit der Inauthentizität der EE zu erklären, und zwar deshalb nicht, weil dieser Unterschied nicht vorliegt, und weil, läge er vor, dies nicht notwendigerweise mit der Inauthentizität zu erklären wäre. Die vorgebrachte Abweisung bestimmter Erklärungsalternativen für das Vorliegen zweier echter aristotelischer Ethiken ist in entscheidenden Punkten nicht stichhaltig. Dies gilt für den Verweis auf die mögliche Verschiedenheit der beabsichtigten Auditorien ebenso wie für den Verweis auf inhaltlich nicht relevante fremde Herausgebertätigkeit wie schließlich für den Verweis auf eine mögliche gedankliche Entwicklung auf Aristoteles' Seiten. Ein gültiges Argument für die Annahme der Inauthentizität der EE oder ein gültiges Argument für deren Plausibilität findet sich in Pakaluks Überlegungen nicht.

3.3. Relative Chronologie Über die relative Chronologie, d.h. über die zeitliche Einordnung der EE ins Corpus, besteht keine Übereinstimmung, wenn auch die überwiegende Meinung dahin gehen dürfte, sie gegenüber der NE als früher anzusetzen. 61 Wenn die EE das gegenüber der NE frühere Werk ist, dürfte dies als ein positiver Beleg auch ihrer Echtheit gelten. Ich nehme ebenfalls zeitliche Priorität der EE gegenüber der NE an, und zwar aus stilistischen Gründen, die in diesem Abschnitt erläutert werden sollen. Die Konzeption der eudaimonia in der EE soll jedoch unabhängig von 61 Der prominenteste unter den 'Frühdatierern' der EE im Verhältnis zur NE war Jaeger, zu den wichtigen 'Spätdatierern' gehört Kenny. Jaegers Argumentation für eine chronologische Linie 'Protreptikos — EE — NE — (unecht: MM)' (s. etwa 21955: Kap.5) ist v.a. des falschen phronêsis-Begriffs wegen, mit dem sie operiert, angegriffen worden. Kenny zieht für den Spätansatz neben sachlichen Erwägungen die antiken Zitate der aristotelischen Ethik heran, die sich entweder auf die gemeinsamen Bücher oder auf die EE bezögen — so etwa (bezogen auf die EE) schon Aristoteles' Selbstzitate der 'Ethik' in der Politik (s. 1978: Kap.l, v.a. 5-8). Nun geht man allgemein wohl nicht davon aus, daß Politik VII, woraus die beiden EEZitate stammen sollen (das eine mit Sicherheit, das andere mit größerer Wahrscheinlichkeit), definitiv spät ist: natürlich kann sich Aristoteles mit den Zitaten auf die ihm vorliegende Fassung seines Ethik-Konzepts beziehen, nämlich etwa auf EE mit den gemeinsamen Büchern, was aber nicht ausschließt, daß NE nicht doch später geschrieben sein könnte. Die MM, die die EE, die gemeinsamen Bücher und die NE benutzen, stellen einen Spezialfall dar. Zu Kennys Heranziehung der übrigen Ethik-Zitate in der Antike s. Cooper (1981:388f.).

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dieser Datierung erarbeitet werden. Ich gehe ferner d a v o n aus, daß der Protreptikos b z w . der ihm zugrundeliegende Text zumindest nicht später als die EE anzusetzen ist und daß die MM eine nicht-aristotelische Textzusammenstellung sind. 6 2 Für die Annahme zeitlicher Priorität der EE gegenüber der NE sei hier auf einen bekannten und wichtigen, m . E . aber nicht hinreichend beachteten Beleg h i n g e w i e s e n (er ist m . W . zuerst v o n Kapp angeführt worden). 6 3 W i e in der NE ist auch in der EE das ergorc-Argument das Kernargument für die Erarbeitung der Konzeption der eudaimonia, also nicht etwas, das beiläufig formuliert w o r d e n wäre. D i e Beziehung dieses Arguments in der EE z u m e r g o n A r g u m e n t in Piatons Politela ist nun — bis in die einzelne Formulierung hine i n — enger als die z w i s c h e n d e m Argument in der Politela und demjenigen in der NE. A u c h über das ergon-Argument hinaus scheint die EE in höherem Maße platonisches Vokabular zu verwenden. D i e s e größeren Ähnlichkeiten scheinen für größere zeitliche N ä h e zu sprechen.

3 . 3 . 1 . Gegenüberstellung der ergon-Argumente "ergon-Argument"

v o n Politela,

EE und NE

bezeichne die Argumente folgender Textabschnitte: rep.

3 5 2 d 9 - 3 5 4 c 5 ('Politeia-Argument'),

EE II I, 1 2 1 8 b 3 2 - I 2 1 9 a 3 9

I

(Έ£-Argu-

ment'), NE I 7 , 1 0 9 7 b 2 2 - 1 0 9 8 a 2 0 ('erstes AC-Argument'), NE II 6, 1 1 0 6 a l 5 2 4 ('zweites ΛΈ-Argument'). 6 4 D i e ersten drei der genannten Argumente ha-

62 S. aber auch Cooper, der für die Annahme argumentiert, die MM seien im wesentlichen dem Inhalt nach authentisch, der Form nach aber eine Schülermitschrift, die dieser Schüler später selbst überarbeitet habe (s. 1973:334). Seien sie nun eine Schülermitschrift, seien sie eine spätere Kompilation, so sind sie in jedem Fall für Behandlung der EE zumindest als sekundäre Quelle hinzuzuziehen. 63 S. Kapp 1912:29-31; es ist auffällig, daß Schächer, der die EE für unecht hält, in seinem ausführlichen Referat zu Kapp diese Passage übergeht (s. 1940: I 48-50 mit Anm.50f.). Es fallt ferner auf, daß von den neueren 'Spätdatierern' der EE Monan (1968) den erwähnten Bezug auf die Politeia nicht sieht (wie er auch die Arbeit Kapps nicht kennt), und daß Kenny (1978:203) den Bezug zwar sieht, nach dem Hinweis darauf aber geflissentlich darüber hinweggeht. Für die generelle These, Platonizität begründe ein relativ früheres Datum, s. schon Case: "Platonic influence is a sign of earliness in an Aristotelian work; and, generally, the same man may both think and write differently at different times, especially if, like Aristotle, he has been a prolific author. [...] he wrote the Eudemian Ethics and the Magna Moralia more or less together as the rudimentary first drafts of the mature Nicomachean Ethics." (1910:512). 64 Jaeger hat den Protreptikos gerade auch für wesentliche Passagen des ergon-Arguments als Vorlage der EE sehen wollen (s. 21955:257-262). Er stellt folgende Textpassagen einander gegenüber, ohne allerdings auch ihren Zusammenhang zu analysieren: Protr. B21 — EE 1218b32-34; B94 - 1218b34-36; B60 (bis αρχεσθαι) - 1219b28-31; B60 bis B65 - 1218b37 bis 1219al3 und 1219b32 bis 1220a5. Die Gegenüberstellung dieser Passagen zeigt keine Abhängigkeit, die jener zwischen Politeia-Argument und EE-Argument vergleichbar wäre. Den Protreptikos heranzuziehen, scheint mir für den vorliegenden Zweck nicht hilfreich.

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ben ihrer Stellung im Kontext nach die Gemeinsamkeit, daß sie jene Argumente sind, die zur Beantwortung einer Frage der Art fuhren, was das 'stärkere Leben' {kreittön bios; rep. 347e4) sei bzw. was 'besser leben' und 'glücklicher sein' sei (s. rep. 352d2f.) bzw. 'was die eudaimonia ist' (EE I 7, 1217a20f., s. NE I 7, 1097b23f.). Das in den Argumenten zentrale ergon ist in der Politela und in der EE das der Seele (rep. 353d3). Als ihr ergon wird in der Politela — neben dem 'sich um etwas Kümmern' (epimeleisthai) und dem Herrschen und Beraten 'etc.' (rep. 353d4-6) — 'das Leben' angegeben: in erster Linie soll bei diesem vom ergon der Seele die Rede sein.65 In der EE wird als ergon der Seele 'leben machen' angegeben, was im Sinn von 'Leben bewerkstelligen' zu verstehen sein dürfte.66 In den Argumenten der NE ist dagegen nicht vom ergon der Seele, sondern von dem des Menschen die Rede.67 Das erste Mi1-Argument lehnt 'leben' als Angabe des ergon des Menschen ab, weil diese Angabe nicht spezifisch genug ist; es nimmt, anders als die übrigen Argumente, eine entsprechende Spezifizierung vor (dies dürfte der Grund sein, weshalb es vom ergon des Menschen spricht: auch in den anderen Argumenten geht es nicht um das ergon irgendeiner Seele, sondern um das der Seele des Menschen — nur wird dies in den Argumenten so eben nicht gesagt).68 Das Argument der Politela und das der EE verwendet den Begriff des guten Lebens. 69 Die NE-Argumente verwenden den Begriff nicht. Nur das Poliíeííz-Argument und das ££-Argument sprechen von der 'guten Seele' (rep. 65

Τί δ' αΰ το ζην; ψυχής φήσομεν έργον είναι; — Μάλιστα γ', &ρη. (rep. 353d9f.). &τι 'έστω ψυχής έργον το ζην ποιείν (EE 1219a23f.). 67 NE 1097b24f., b28-33, 1098a7, al2f.; 1106a22-24. 68 Allerdings darf man allein aus dieser Spezifizierung keine chronologischen Schlüsse ziehen: auch der Protreptikos spricht vom ergon des Menschen (wie auch von dem der Seele; B65). Jedoch ist bei B65 wieder zu beachten, daß es hier einen Grund für die Rede vom ergon des Menschen gibt, und zwar einen anderen als in der NE. Im Protreptikos setzt sich der Mensch aus Seele und Körper zusammen ('das eine der Dinge in uns ist Seele, das andere Körper'; B59, s. Β17). Nun wird in B65 in zwei Richtungen dafür argumentiert, daß es für den Menschen kein anderes ergon als die Wahrheit gibt. Die beiden Richtungen sind: (1) der Mensch ist, so sei einmal angenommen, nicht etwas Zusammengesetztes, sondern etwas Einfaches (haploun) — hier wäre es nun nicht sinnvoll zu sagen, die Seele sei etwas nicht Zusammengesetztes: das ließe die Möglichkeit offen, daß der Mensch gleichwohl etwas Zusammengesetztes ist, nämlich etwas aus Körper und Seele Bestehendes, und in diesem Fall könnte er immer noch verschiedene miteinander konkurrierende erga haben — und um das auszuschließen, ist vom ergon des Menschen die Rede; (2) der Mensch (von dem hier nun in Analogie zu (1) die Rede ist) ist etwas Zusammengesetztes: in diesem Fall ist sein bestes ergon das ergon desjenigen Vermögens, von dem her er am meisten zustande bringt. 69 Ή μεν αρα δικαία ψυχή και ó δίκαιος άνήρ εΰ βιωσεται, κακώς δέ ό άδικος. — Φαίνεται, έφη, κατά τον σον λόγον. — 'Αλλα μην ö γε εΰ ζων μακαριάς τε καί ευδαίμων, ό δέ μη τάναντία. — Πως γαρ, οΰ; (rep. 353el0-354a3). — έργον αν εί'η της αρετής ζωή σπουδαία. (EE 1219a27). Unmittelbar im Anschluß an das EE-Argument, d.h. zu Beginn des Anmerkungsteils, heißt es: τό τε γάρ εΰ πράττειν καί το εΰ ζην το αύτό τ φ εύδαιμονείν (EE 1219blf.). 66

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353e4f., EE 1219a35) und verwenden den Begriff des 'guten Handelns' (eu prattein).70 Nur das erste Ms-Argument argumentiert überhaupt für das Gegebensein eines ergon des Menschen: ein vergleichbares Argument für das Gegebensein eines ergon der Seele findet sich in der Politela und in der EE nicht. In der Politela wird die Definition von "ergon" erläutert und das ergon der Seele dann, ausgehend von dieser Definition, gesetzt. In der EE wird es nur gesetzt: durch Auflistung von Beispielen wird hier nur für den Zusammenhang von Tugend und ergon auch im Fall der Seele argumentiert. In der Bestimmung dessen, was mit "ergon" gemeint ist — d.h. an zentraler Stelle — heißt es in der Politela, ergon von etwas sei das, was man nur mit jenem oder mit jenem am besten (im Vergleich mit anderen Dingen) machen (poiein) könne. In der Angabe dessen, was das ergon der Seele ist, heißt es in der EE: "leben machen". Dies ist insofern auffällig, (1) als es im Argument der EE die einzige Verwendung eines Ausdrucks für eine Tätigkeit in Verbindung mit dem ergon ist; (2) als es — das zweite Ms-Argument einmal beiseite gelassen — die einzige Entsprechung in diesem Punkt zwischen den Argumenten ist: die Politeia verwendet sonst die Ausdrücke "(ein ergon) bewerkstelligen" (apergazesthai) oder "bewirken" (ergazesthai). Das erste MsArgument enthält keinen entsprechenden Ausdruck ('apoteleitai' 1098al5 bezieht sich nicht auf 'ergon'). Im Unterschied zum ersten ΛΈ-Argument übernimmt also die EE (in ihrer Angabe des ergon der Seele) den entsprechenden Tätigkeitsausdruck, und dies aus der Bestimmung des ergon in der Politeia. In den Argumenten werden ferner das ergon und die Tugend von etwas in Beziehung gesetzt. In der Politeia heißt es: 'Nicht wahr, auch Tugend scheint dir jedem zuzukommen, welchem auch ein bestimmtes ergon zugeordnet ist?'71 Und weiter: 'Bei den Augen, sagen wir, gibt es ein bestimmtes72 ergon'? — Es gibt es. — Gibt es also auch eine Tugend der Augen? — (Es gibt) auch eine Tugend. — Nun: von den Ohren gibt es ein bestimmtes ergon? — Ja. — Also auch eine Tugend? — Auch eine Tugend. — Wie steht es aber bei allen anderen Dingen? Nicht ebenso? — Ebenso.' Diese Argumentation wird auch auf die Seele bezogen: 'Wie verhält es sich aber wiederum mit dem Leben? Sollen wir sagen, es sei das ergon der Seele? — Am allermeisten, sagte er. — Sagen wir, daß es also auch eine bestimmte Tugend der Seele gebe? — Wir sagen es.' 73 70

rep. 353e5, ausgehend von d4; EE 1219bl. Ούκοΰν και άρετή δοκεΐ σοι είναι έκάστφ ωπερ και ëpyov τι προστέτακται; (rep. 353b2f.). 72 Ich lese rep. 353M wegen 353b3 und b8 mit F, Stobaios und Burnet statt Εργον] τι 71

οφθαλμών, φαμεν, & m τι Εργον; — "Εστίν. — ' Αρ' οΰν και άρετή οφθαλμών Μστιν; — Καί άρετή. — Τί δε; ώτων ήν τι ëpyov; — Ναί. — Ούκοΰν και άρετή; — Καί άρετή. — Τί δε πάντων περι των άλλων; ούχ οΰτω; — Οΰτω. — ... Τί δ' αΰ το ζην; ψυχής φήσομεν Εργον

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In der EE heißt es: 'Und was Tugend angeht, sei angenommen, daß sie der beste Zustand oder der beste Habitus oder das beste Vermögen bei jedem der Dinge ist, bei denen es einen bestimmten Gebrauch oder ein ergon gibt. Das ist aber aus der Induktion klar. Denn wir setzen das so bei allen Dingen fest. Z.B. gibt es eine Tugend des Mantels: es gibt (bei ihm) nämlich auch ein bestimmtes ergon und einen Gebrauch; und der beste Habitus des Mantels ist (seine) Tugend. Der gleiche Sachverhalt liegt aber auch bei einem Schiff und einem Haus vor und bei den anderen Dingen. Daher liegt er auch bei der Seele vor; denn es gibt bei ihr ein bestimmtes ergon.'1* Im ersten AE-Argument wird im Prinzip das gleiche gesagt, aber anders formuliert: 'Wie nämlich fur einen Flötenspieler und einen Bildhauer und jeden Handwerker und überhaupt dort, wo es ein bestimmtes ergon und eine Handlung gibt, das Gute und das Sich-gut-Verhalten im ergon zu liegen scheinen, so dürfte es auch beim Menschen der Fall sein, wenn es ein bestimmtes ergon bei ihm gibt.' 75 Wie zuvor wird mittels Verallgemeinerung für die These geworben, das Gute (nicht: die Tugend; das erste Mi-Argument verwendet, anders als die übrigen Argumente, erst ganz gegen Ende den Ausdruck "aretê") liege im ergon, und dies wird auf den Fall des Menschen (nicht: die Seele) übertragen — gesetzt, es gebe auch dort ein ergon, und dafür wird eben erst noch argumentiert. Auffällig ist diese Abweichung in der Formulierung, weil auch die NE noch die engere Gegenüberstellung von ergon und Tugend verwendet, nämlich im zweiten ergon-Argument. In der Politela heißt es (sinngemäß): 'im Besitz ihrer spezifischen Tugend verrichten die Augen ihr ergon auf gute Weise', bzw.: 'durch die spezifische Tugend schafft das Schaffende sein ergon auf gute Weise' (rep. 353bl4-c3, c6-8). In der NE heißt es: 'jede Tugend bringt zustande, daß das, wovon auch immer sie Tugend ist, sich gut verhält, und macht sein ergon (sich) gut (verhalten); wie etwa die Tugend des Auges das Auge und sein ergon zu einem guten macht: denn durch die Tugend des Auges sehen wir gut.' (NE 1106al5-19). Die Politeia überträgt die Argumentation von den Augen auf die Ohren, 'alles andere' und die Seele {rep. είναι; — Μάλιστα γ', &ρη. — Ούκοΰν και άρετήν φαμέν τινα ψυχής είναι; — Φαμεν. (rep. 35304-13, d9-12). 74 και περί αρετής, (s. im einzelnen Wagner [1970:65f.]; entsprechend auch Woods: "healthy for a body"). Mir scheint die Konjektur nicht notwendig, und die Struktur des Abschnitts scheint mir gegen sie zu sprechen. Der gute Zustand von Körpern, nämlich Gesundheit, ist der Standard für die Beurteilung. Bevor ich beurteile, was für einen Körper gesund ist und was nicht, muß ich wissen, in welchem Zustand das ist, wofür es gesund sein soll (nämlich der Körper), d.h. die erste Frage ist die, ob der Körper dem Standard entspricht oder nicht, die zweite Frage ist die, was diesbezüglich jeweils zu tun ist. Diese Reihenfolge der Fragen wird in 1249a21-24 eingehalten. Daß nun die erste Frage — etwa gegen Dirlmeiers Auffassung (s. EE:500 zu 1249a22) — tatsächlich auch als das eigentliche Problem angesehen wird, zeigt etwa die korrespondierende Passage MM II 10, 1208a20-30. Nun wird man einwenden, daß anschließend in EE VIII 3, 1249a24-b3 für den Fall des Guten gerade aber nicht von einem Standard die Rede sei, anhand dessen ich beurteile, ob jemand gut ist oder nicht, sondern nur von einem Standard für den Besitz und die Wahl etc. Hierin liegt nun m.E. der Punkt: die erste Frage zu stellen, wird im Fall des Guten dadurch herausgefordert, daß die Struktur der Analogie zum Gesunden zunächst verletzt wird. Genau diese Lücke wird dann im folgenden mit den Bemerkungen zur Aktualitätsstruktur geschlossen. 98 1249a22 haben — anders als der Λ' — auch der Sa und Co der Vetusta das και2 entsprechende "et", so daß καί 2 gesichert ist. 99 Ich lese 1249a23 übereinstimmend mit der gesamten Überlieferung (s. Bekker, Susemihl, Harlfinger [1971:37]) statt OCT καί < ε ί > εΰ, ύγιεινόν] καί εΰ ύγιαίνον. Der OCTVerweis auf ύγιεινόν aus Π ist nicht korrekt; s.a. Barnes (1992:30): "My own notes from Walzer's seminar mark ύγιεινόν as a conjecture by Ross". Die Konjektur findet sich bei Ross (1918:158). In der Übersetzung des anschließenden Nebensatzes εί ... πλέον ist in jedem Fall, unabhängig von den vorausgegangenen Lesartentscheidungen, eine Ergänzung vorzunehmen. 100 Der Vetusta folgend ("[...] electionis et fuge de pecuniarum multitudine [...]") lese ich 1249b2 statt περί φυγής] φυγής περί. 101 Ich fasse 1249b7 καί explikativ auf (s. Verdenius [1971:287]: "specifying force").

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auf das Prinzip seiner selbst bezogen leben;102 das (Prinzip) ist aber zweifach: 1121 denn auf eine Weise ist die Heilkunst Prinzip, auf andere Weise die Gesundheit; "3I jene gibt es aber um dieser willen; auf solche Weise verhält es sich aber bei dem zum Betrachten fähigen Bereich der Seele: 1141 denn der Gott herrscht nicht auf anordnende Weise, sondern die Klugheit ordnet um seinetwillen an.1151 Die Verwendung von 'um seinetwillen' ist aber eine zweifache — festgestellt wurde dies an anderer Stelle103 —, 1161 weil jener natürlich keiner Sache bedarf. Welche Wahl und welcher Besitz1171 jener Dinge, die ihrer Natur nach gut sind, nun am meisten die Betrachtung des Gottes104 verschaffen wird, sei es (Wahl bzw. Besitz hinsichtlich)1181 des Körpers, von materiellen Gütern, von Freunden oder von den anderen guten Dingen, diese (Wahl) ist1191 die beste (bzw. dieser Besitz ist der beste), und dieser Standard ist der schönste. Welche (Wahl bzw. welcher Besitz) aber wegen Mangels 1201 oder Übermaßes daran hindert, den Gott105 zu verehren und zu betrachten, 1211 diese (Wahl bzw. dieser Besitz) ist schlecht. Dies 106 liegt aber für die Seele vor, und dieser 1221 Standard der Seele ist der beste, wenn man am wenigsten den anderen107 1231 Teil der Seele als solchen wahrnimmt. Welches nun der Standard des 'Schön-und-Gut-Seins' [241 ist und welches der Blickpunkt für die schlechthin guten Dinge ist, soll (damit)1251 gesagt sein. (1249a21-b25).

102

Zu 1249bl0f. einige Anmerkungen. (1) Zu "wohl": ich lese übereinstimmend mit dem ganz überwiegenden Teil der Überlieferung statt OCT (und Susemihl) αν] δή — so auch Verdenius (1971:287), mit Verweis auf Bonitz 41b4-10 für Potentialis ohne αν (s. dort die Verweise auch auf EE 1229b34, b38, 1230al7). (2) Zu "jeder": ich fasse εκαστον gegen Verdenius (ebd.) als Maskulinum auf (wie etwa auch Dirlmeier und Woods [££: 180f., 200 zu 1249bl0]). Es geht darum, daß unter der Bedingung, daß der Mensch aus Herrschendem und Beherrschtem besteht und daß jedes auf das Herrschende bezogen leben muß, auch jeder (Mensch) auf das Prinzip bezogen leben muß. (3) Zu "auch" (και2, blO): Verdenius (ebd.) faßt das oben als Hauptsatz Wiedergegebene als fortführenden Teil (καί) des έπεί-Satzes auf und das Folgende als Parenthese, so daß die Konstruktion anakoluthisch wird. Als Grund führt er an, daß andernfalls Εκαστον (bll) durch καί2 (blO) betont würde und eine solche Betonung hier nicht am Platz sei. Tatsächlich wird durch καί aber nicht εκαστον betont, sondern die Tatsache, daß es, da es auch beim Menschen ein Herrschendes und ein Beherrschtes gibt, auch in seinem Fall nötig ist, daß er auf sein Prinzip bezogen lebt. (4) Zu "seiner selbst": ich lese mit der Didotiana (und OCT) statt εαυτών] έαυτοΰ. Die Vetusta hat entsprechend: "ad suum principium vivere". 103 S. dazu Met. XII 7, 1072bl-3, Phys. II 2, 194a35f. (mit Verweis auf De Philosophie), An. II 4, 415b2f., b20f.; ferner s. Gaiser (1969: v.a. 102f.), Kulimann (1985). 104 Ich lese 1249bl7 übereinstimmend mit der gesamten Überlieferung statt OCT θείου] θεοΰ. Es fällt auf, daß der OCT Robinson, auf den die Konjekturen zu bl7 und b20 ausweislich des Apparats zurückgehen, nicht auch in bl4 folgt. 105 Ich lese 1249b20 übereinstimmend mit der gesamten Überlieferung statt OCT το θείον] τον θεό ν. 106 Die Vetusta hat Wagner zufolge 1249b21 für τοΰτο: "hoc", "haec", welches der OCTApparat als Lesart des Λ3 ( = Pa der Vetusta) angibt, beruht nach Wagner auf falscher Lesung des Λ3 durch Lacombe (s. Latinus:162; Wagner 1970:184). 107 Ich lese 1249b22 übereinstimmend mit dem ganz überwiegenden Teil der Überlieferung statt OCT άλογου] άλλου, da dies ohne weiteres verständlich ist (s. so auch Verdenius [1971:294]). "irrationalemque" des Λ' ist vermutlich Erläuterung zu "alteram" durch den Λ'. Fritzsche hat das überlieferte άλλου und merkt an: "Pro άλλου nescio an scriptum fuerit άλογου." (EE:262 Anm. zu 1249b22f.).

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Aristoteles hatte zuvor etwas über das Verhältnis des bloß Guten bzw. dem des Schönen-und-Guten zu den ihrer Natur nach guten, aber nicht lobbaren Dingen gesagt. Nun wird danach gefragt, welches der Standard (der horos) für den ('wirklich') Guten (den spoudaios) für den Umgang mit diesen Dingen ist. Dies ist so zu verstehen, daß das bisher Gesagte präzisiert werden soll: im vorausgehenden Abschnitt wurde gesagt, daß der Schöne-und-Gute die Güter in bestimmter Weise einsetzt bzw. daß es schön ist, daß sie ihm zukommen, doch gilt dies nicht für eine beliebige Menge dieser Güter, sondern für eine bestimmte. Eben dafür benötigen wir einen Standard, und wir müssen hinreichend genau wissen, worin er besteht. Im folgenden ist (1) zunächst das Verhältnis vom wirklich Guten zum Schönen-und-Guten zu bestimmen. (2) Daran schließt sich ein Abriß zur Problemstellung der Passage an. Es folgen (3 und 4) Erörterungen bestimmter Fragen zur Aktualitätsstruktur des wirklich Guten und zum Gegenstandsbezug eines bestimmten (nämlich des 'herrschenden') Bereichs seiner Aktualität sowie (5) Anmerkungen zu jener Struktur. Im Anschluß an (6) eine Zusammenfassung der zugrundeliegenden Überlegungen erörtert (7) ein abschließender Abschnitt das Verhältnis des in der Passage Gesagten zur eudaimonia.

5.1. Vorbemerkung: 'Wirklich' Guter (spoudaios) und Schöner-und-Guter In unserer Passage fällt zunächst auf, daß Aristoteles, ohne dies einzuführen, vom 'wirklich Guten' (dem spoudaios) spricht, während er zuvor vom 'kalos kagathos' (dem Schönen-und-Guten) und vom 'agathos' (dem lediglich Guten) sprach. Was ist unter 'spoudaios' zu verstehen, und in welchem Verhältnis zum kalos kagathos und zum agathos steht der wirklich Gute? Etwas wird Aristoteles zufolge 'spoudaion' genannt, wenn es im Besitz seiner Tugend ist.108 Das spezifische Werk von etwas ist spoudaion, wenn das, dessen Werk es ist, im Besitz seiner Tugend ist: das spezifische Funktionieren der Tugend der Seele ist das 'gute Leben' (zôê spoudaia).109 Für den Menschen soll zudem gelten, daß er von Natur aus spoudaion ist.110 Wenn nun im vorliegenden Abschnitt vom 'spoudaios' die Rede ist, so dürfte auch hier von einem die Rede sein, der im Besitz seiner Tugend ist. Dabei ist anzunehmen, daß er diese Tugend tatsächlich, d.h. in der richtigen Weise besitzt. Die Explikation der Aktualitätsstruktur dieses Guten, die im Abschnitt erfolgt, läßt sich vermutlich so deuten, daß im Fall des Guten jeder Bereich oder Teil dieser Struktur im Besitz der für ihn spezifischen Tugend ist: der 108 S. Kat. 8, 10b7f., Περί ευγενείας, fr.2.24f. Brunschwig; s. Bonitz 697b9-25, Aubonnet (Περί ευγενείας: 104f.). 109 S. EE II 1, 1219a21-23, a27. 110 S. EE VII 2, 1237al6.

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Mensch gehört zu den Dingen, die von Natur aus spoudaion sind. Es geht demnach um jemanden, der im Besitz der für ihn spezifischen Tugend ist, und es geht um ihn als ganzen. Wenn das zutrifft, ist nicht zu sehen, wie es sich beim Wirklich-Guten um jemanden handeln können sollte, der vom Schönen-und-Guten verschieden ist. Im vorausgehenden Text der EE sollte der Unterschied zwischen dem, der lediglich gut ist, und dem, der Tugend in zielhafter Weise besitzt und somit schön-und-gut ist, herausgearbeitet werden. Genau deshalb war es sinnvoll, den Guten und den Schönen-und-Guten auch durch entsprechende Ausdrücke zu bezeichnen. Möglicherweise wird durch 'spoudaios' aber besser zum Ausdruck gebracht, daß jemand tatsächlich gut ist — während durch 'kalos kagathos' zum Ausdruck gebracht wird, daß er die Tugenden, die er besitzt, in der richtigen Weise besitzt. In beiden Fällen scheint aber kalokagathia vorzuliegen. Einen Hinweis auf die enge Verbindung von 'spoudaios' und 'kalos kagathos' bietet (in der EE) EE WW, 1228a5-7, wonach derjenige Mensch, bei dem es selbst liegt, die schönen Dinge zu tun, die häßlichen aber zu lassen, der gleichwohl aber Entgegengesetztes tut, nicht spoudaios sei: d.h. wohl, wer spoudaios ist, tut, wo möglich, das Schöne. Das könnte er aber nicht, wenn er nicht auch selbst schön wäre (oder er könnte es nur in beiläufiger Weise). Ferner sollen im Falle des 'auf zielhafte Weise Guten' (des spoudaios teleôs) die schönen Dinge lustvolle sein.111 Das erinnert aber auffällig an 1249al8, wonach die schlechthin lustvollen Dinge auch schön sein sollten, und es war oben festgehalten worden, daß es bei dieser Verbindung um die Konsistenz der mit Lust verbundenen Aktualität mit der des Schönen-und-Guten gehe.112 Das scheint hinreichend für die Annahme, daß die Verwendung von 'spoudaios' die Rede vom 'kalos kagathos' fortführt. Im folgenden ist, wenn vom 'Guten' die Rede ist, immer der spoudaios gemeint.113

111

S. £ £ V I I 2 , 1236b39-1237a7, 1237a26-30. S. Punkt (5) der Zusammenfassung des vorigen Abschnitts. — Die MM sprechen explizit von kalokagathia in bezug auf den teleôs spoudaios: kalos kagathos nämlich sei (jemand), sage man, wenn er teleôs spoudaios ist — wobei letzterer wieder mit dem gleichzusetzen ist, der im Besitz der Tugend ist (s. MM II 9, 1207b22-24). Die Rede von 'zielhaft' scheint mir nicht problematisch zu sein: auch den MM zufolge heißt 'spoudaios-Sein' die Tugenden zu besitzen (MM I 1, 1181a28f.): man ist entweder spoudaios oder man ist es nicht (s. MM II 3, 1200a27-30). — Für die Gleichsetzung des spoudaios und des Schönen-und-Guten s.a. Pol. VII 12, 1332a21-25: 'dies ist nämlich auch in den Ethiken bestimmt worden, daß der spoudaios ein solcher ist, für den wegen der Tugend die schlechthin guten Dinge gute sind; es ist aber klar, daß auch sein Gebrauch (dieser Güter) gut und schlechthin schön sein muß'. Der Hinweis 'die Ethiken' wird in der Literatur als Verweis auf EE 1248b26f. (Dreizehnter Pol. : z.St.; Tricot Pol.·.520 Anm.4; Newman [Pol.: III 428 zu 1332a21]: "in some respects [...] a nearer approach"), 1236b36-1237a3, 1249al2f. (Kraut Pol.: 129: "Perhaps the most likely candidates in the Eudemian Ethics") sowie außerdem auf NE 1113a22-1113bl, 1170a21 (Newman, ebd.; Tricot, ebd.) verstanden. 113 So etwa auch Woods (££:178 zu 1249a21-b6). 112

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5.2. Die Intention des Abschnitts Worauf es im vorliegenden Abschnitt von EE VIII 3 für unsere Zwecke nun ankommt, ist die Forderung nach Herstellung von Klarheit (1249b6) über den richtigen Standard für den Umgang mit den bloß guten Dingen — wie es etwa körperliche und materielle Güter oder auch Freunde sind. Dieser Standard soll ein Standard für den Guten (den spoudaios) sein. Was mit der Frage nach dem Standard für den Guten gemeint ist, wird vorweggenommen erläutert durch den Hinweis auf den Standard für den Arzt. 114 Nur beim Standard des Arztes wird ausgeführt, was dieser Standard für ihn ist: anhand dieses Standards beurteilt er den gesunden und den kranken Körper sowie das, was den Körper gesund macht (erhält), und das, was dies nicht tut, und anhand des Standards beurteilt er, in welchem Maß zu tun ist, was zu tun ist. Es wäre nun zwar richtig, aber nicht klar, so die EE, wenn man sagte, es sei — im Fall des Arztes bzw. der Gesundheit — das zu tun, wie es die Heilkunst oder ihr logos täten bzw. sagten. Nur sagen zu können, man solle nicht zuviel und nicht zu wenig tun, sondern das richtige Maß treffen (welches darin bestehe, wie es der richtige logos angebe), heißt nicht, daß man schon wüßte, mit Dingen welcher Art z.B. der Leib zu versehen ist. Der Standard setzt vielmehr ein bestimmtes, noch zu spezifizierendes Wissen voraus. 115 Um welches Wissen geht es im Fall des Guten? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Antwort auf die Frage, welches der Gegenstand dieses Wissens ist. Hierfür sind wiederum zwei Fragen zu stellen.

5.3. Fragestellungen 5.3.1. Was ist der Gute? Die Klärung der Frage, in welchem Umfang bestimmte Dinge zu gebrauchen sind, setzt ein Wissen davon voraus, was es ist, mit Blick worauf sie angewendet werden sollen. Genauer: um sagen zu können, in welchem Maß jene guten Dinge gute Dinge sind, müssen wir wissen, was es ist, wozu sie gut sein sollen: 114 Es fällt auf, daß nicht etwa der Gute und der Gesunde bzw. irgendein Anordnender und der Arzt einander gegenübergestellt werden, sondern der Gute und der Arzt. 115 Vgl. NE VI 1, 1138b26-32. Es fällt auf, daß NE VI das dort in Frage stehende Wissen, welches mit der Richtigkeit des logos verbunden ist, gerade aber nicht weiter spezifiziert. Das Problem, welches der richtige logos ist, wird zwar in NE VI 13 wieder aufgegriffen, wo es heißt, richtig sei der logos, der der Klugheit entspricht, bzw. der richtige logos über "derartige Dinge" (d.h. über Dinge, die in den Bereich der Charaktertugenden fallen) sei die Klugheit (s. 1144b23f., b27f.). Eine Klärung dessen, was mit dem Standard gemeint ist bzw. worin er besteht, erfolgt jedoch nicht. Obwohl es naheläge, muß man NE VI 1 allerdings auch nicht so lesen, als werde diese Klärung tatsächlich angekündigt.

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der Umgang mit den Gütern orientiert sich an dem, was es für den, für den sie gut sind, heißt, unter dem Aspekt, unter dem sie für ihn gut sind, der zu sein, der er ist. Nur im Ausgang von diesem bestimmten Wissen darüber, wie sich die hier relevanten Dinge verhalten, können jene guten Dinge als solche gebraucht werden. Etwas einfacher formuliert: das richtige Maß guter Dinge ist insofern abhängig von dem, für den sie gute Dinge sein sollen, als es das richtige Maß für ihn sein können muß. Die Ermittlung des 'saphes', des Klaren des Standards, muß somit darauf gerichtet sein zu klären, was der Gute ist. Der Standard für den Guten im Umgang mit jenen guten Dingen ist der Gute selbst (und zwar sich selbst). Genau das, nämlich was der Gute ist, deutet Aristoteles im folgenden an, wenn er mit der Unterscheidung zwischen Dingen fortfährt, aus denen der Mensch besteht, nämlich zwischen dem Herrschenden und dem Beherrschten: hierdurch wird die Aktualitätsstruktur des Guten expliziert. Zwei Dinge sind hier zu beachten: (1) Es geht, wie der Ausgangspunkt 'gesunder Körper' zeigt, nicht um einen Teilbereich dessen, was der Gute ist. Es geht vielmehr um einen Standard für den Umgang mit den guten Dingen für den Guten als ganzen. (2) Es geht um die Aktualitätsstruktur, nicht um eine Vermögensstruktur: man muß bezogen auf den Zustand, der der Aktualität des Herrschenden entspricht, leben. 5.3.2. Ist für die klare Angabe des Standards ein Gegenstandsbezug erforderlich? Wenn wir davon ausgehen, daß es im vorliegenden Abschnitt um die Gewinnung eines klaren Standards für den Umgang mit bestimmten Gütern geht, so stellt sich die folgende Frage: ist es für die Bezugnahme auf jene Aktualität, die den Guten kennzeichnet, erforderlich, daß auch auf einen Gegenstand dieser Aktualität Bezug genommen wird, wenn dieser für sie wesentlich ist, oder genügt es für die korrekte und hinreichend klare Bestimmung des Standards für den Umgang mit den Gütern festzustellen, welche Aktualität für den Guten eben kennzeichnend ist? 5.4. Antwort 5.4.1. Zur Notwendigkeit des Gegenstandsbezugs Beginnen wir mit letzterem. Es scheint so, als müsse der Bezug auf einen Gegenstand der Sache nach notwendig erfolgen. Wenn dies richtig ist, wird man, dem Grundsatz wohlwollender Interpretation folgend, prüfen, ob der Text eine entsprechende Bezugnahme enthält. Es scheint so zu sein, daß der Text durch den Hinweis auf den theos diesen Bezug herstellt.

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Die gesuchte Klarheit über den in Frage stehenden Standard besteht genau dann, wenn man angeben kann, worin er besteht. Gewißheit über die Richtigkeit des in Frage stehenden Standards ist nur dann gegeben, wenn Klarheit darüber besteht, daß der Umgang mit jenen Gütern, den er festlegt, tatsächlich dazu führt, daß das, wozu diese Güter gut sein sollen, auch erreicht wird. Es geht nun aber eben nicht um irgendeinen Standard, sondern um den Standard für den Guten. Der Gute ist durch eine bestimmte Aktualität bzw. Aktualitätsstruktur gekennzeichnet. Ob die den Guten kennzeichnende Aktualität erreicht bzw. unterstützt wird (und ob die Korrektheit des Standards vorliegt), läßt sich nur feststellen, wenn die Aktualität erfolgreich 'betrieben' wird, d.h. tatsächlich vorliegt. Der Gegenstandsbezug ist nun erforderlich für den Nachweis des tatsächlichen Gegebenseins der Aktualität. Die Aktualität, die den Guten kennzeichnet, ist — der EE zufolge — eine Form von theôria. Es ist anzunehmen, daß jene in Frage stehende Form von theôria sich in irgendeiner bestimmten Weise mit Gegenständen (mit 'Gegenstand' im allerweitesten Sinne) beschäftigt. Das heißt, die Aktualität des Guten ist von solcher Art, daß sie notwendigerweise mit bestimmten Gegenständen zu tun hat: wann immer diese Aktualität vorliegt, liegt auch der zugehörige Gegenstandsbezug vor. Der Verweis auf diesen Gegenstand ist nun Voraussetzung für eine entsprechende Erfolgsmeldung als Bestätigung für die Richtigkeit des Standards.116 Das Gesagte läßt sich mit einem Blick auf andere Aktualitäten erläutern. Wenn wir z.B. sagen, daß jemand etwas unscharf sieht, verlangen wir nicht, daß er sagen kann, was er unscharf sieht. Wir verlangen aber wohl, daß er — die erforderlichen Fähigkeiten vorausgesetzt — zumindest eine Erfolgsmeldung der Art von sich gibt oder geben kann, die darauf schließen läßt, daß er tatsächlich etwas sieht (und wir müssen erschließen können, daß er dies unscharf sieht). Wenn wir sagen, daß jemand scharf sieht, impliziert dies, daß er etwas sieht und daß er sagen oder zumindest in irgendeiner relevanten Hinsicht beschreiben kann, was er sieht (und wir müssen erschließen können, daß er dies scharf sieht). Die Richtigkeit des Ausmaßes eventueller Unterstützung und die Richtigkeit der Auswahl der Mittel läßt sich nur an derartigen Erfolgsmeldungen ablesen.

116 Da eudaimonia die eudaimonia eines Individuums ist, da sie ferner für dieses das Beste und das Schönste ist und es von diesem nur jeweils eines geben kann, da außerdem Charaktertugend der EE zufolge Werkzeug des Intellekts sein soll und da schließlich die so strukturierte Aktualität eindeutig auf den unbewegten Beweger bezogen ist, scheint es mir nicht angemessen zu sagen, die Konzeption der eudaimonia in der EE sei gegenüber jener in der NE "meno sviluppato, o alquanto preliminare" (La Croce 1985:40). La Croce meint weiter (ebd.), "che EN attua uno sviluppo conclusivo che EE non può [...] portare a compiuta espressione, ma a cui lascia il campo aperto." Es ist u.a. zu unterscheiden, ob eine Konzeption nicht entwickelt ist oder ob sie nicht entwickelt wird. Allenfalls letzteres scheint mir — und auch dies nur in sehr eingeschränktem Maß — für die EE zuzutreffen: offen bleibt das Feld in ihr nicht.

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Der Erfolg des Arztes, um ein weiteres Beispiel zu nehmen, bemißt sich daran, ob der behandelte Körper auf die Behandlung hin in bestimmter Weise funktioniert. Der Körper gerät durch die Behandlung, die sich am relevanten Standard orientiert, in die Lage, bestimmte Dinge, die ein gesunder Körper tut, zu tun. Die Gesundheit des Körpers ersehen wir gerade aus seiner Fähigkeit, diese bestimmten Dinge erfolgreich zu tun. Den guten Läufer, den der Trainer anhand des hier relevanten Standards mit Gütern versieht, erkennt man nur daran, daß er sein Ziel als erster erreicht, d.h. daß er erfolgreich das tut, was für einen guten Läufer typisch ist (nicht nämlich das Laufen, sondern das Laufen in der Weise, daß man siegt). Könnten nun nicht aber, so ließe sich fragen, theoretische Aktivitäten verschiedener Arten erfolgreich betrieben werden? Muß der für die Erfolgsmeldung erforderliche Gegenstandsbezug tatsächlich unbedingt der auf den theos sein? Was den Text der EE betrifft, so ist zumindest auffällig, daß Aristoteles den theos nicht als ein Beispiel anfuhrt, sondern daß das Einhalten des richtigen Standards ihm zufolge eben genau die Betrachtung des theos in bestmöglicher Weise fördern soll. Aus folgendem Grund scheint das Einhalten des Standards auch der Sache nach nicht zu beliebigen theoretischen Aktivitäten führen zu können: wenn der Gegenstandsbezug Voraussetzung für die Erfolgsmeldung und somit für die Gewinnung von Klarheit über den Standard ist, so muß man sich klarmachen, was es heißt, diesen Gegenstandsbezug zu haben. Nun sind wir durch theoretische Aktivität auf Gegenstände in einer bestimmen Weise bezogen, nämlich so, daß wir diese Gegenstände in bestimmter Weise haben. Und das heißt, daß wir sie als das haben, was sie sind. Eine vollständige, und das heißt auch: erfolgreiche, Angabe dessen, was etwas ist, muß nun aber das, was bestimmt werden soll, in Abhängigkeit von seinen Prinzipien erfassen, weil von den Prinzipien her etwas ist, entsteht und erkannt wird. Das, wovon alles als seinem Prinzip abhängt, ist nun aber einmal der unbewegte Beweger. Genau deshalb ist theôria letztlich nur dann erfolgreich, wenn sie auf jenen unbewegten Beweger gerichtet ist.117 Und entsprechend liegen Aktualitäten nicht dann 'erfolgreich' vor, wenn sie um jenen Bezug verkürzt werden. Der Platz, den unsere betrachtende Aktualität in unserer Aktualitätsstruktur einnimmt, scheint dem eines Schlußsteins vergleichbar.118 Durch das Gerichtetsein auf jenen Gegenstand erhält unsere Aktualität — im Fall der eudaimonia — eine 'Verankerung' in der Welt (sie ist nicht nur bestmöglich organisiert, sondern auch schön).

117 Vgl. Met. I 3, 983a25f.: 'dann glauben wir ein jedes zu verstehen, wenn wir glauben die erste Ursache zu kennen' (vgl. den Kommentar von Ross [Met.: I 126 z.St.]: es geht um die "primary, ultimate cause"), sowie Phys. I 1, 184al2-14. 118 Die Verwendung des Bildes vom Schlußstein soll und muß keine entsprechenden architektonischen Vorstellungen auf Seiten des Aristoteles unterstellen.

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5.4.2. Die Aktualitätsstruktur des Guten Wir kommen damit zur ersten Frage, nämlich zur Frage, was der Gute ist. Bisher wurde die theôria des theos mit der Aktualität des Guten in Verbindung gebracht. Die Berechtigung für die Auszeichnung der theôria bestand darin, daß durch sie der Standard für den Umgang mit den bloß guten Dingen angegeben wird. Was hat die theôria aber mit der Aktualität des Guten zu tun? In 1249b6-15 ist von einer bestimmten Aktualitätsstruktur die Rede, und in diesem Zusammenhang kommt Aristoteles auf die 'Betrachtung des theos' zu sprechen. Zu beachten ist hier zunächst, daß mit jenem Abschnitt zur Aktualitätsstruktur die Herstellung des gesuchten 'saphes', der Klarheit über den Standard, beginnt: die Behandlung der Aktualitätsstruktur steht genau in diesem Zusammenhang. Die Aktualitätsstruktur wird nun durch den Bezug auf das Verhältnis von Herrscher und Beherrschtem expliziert. Erläutert wird dies anhand des Herrschaftsverhältnisses, das zwischen einem Herrn und einem Sklaven besteht. Es handelt sich also um ein Herrschaftsverhältnis mit festgelegten Rollen und strikten Zuordnungen. Welche Rolle spielt in einer so strukturierten Aktualität — welche die des Guten sein soll — die theôria des theos? Wie lassen sich jene 'bloß guten Dinge' in ein Verhältnis zu jener Aktualität setzen? Wir stehen hier vor dem Problem, daß wir einerseits mit einem Herrschafts Verhältnis konfrontiert werden, andererseits aber nicht zu sehen ist, in welcher Beziehung die Betrachtung des theos zu diesem Verhältnis steht, dann aber auch nicht zu sehen ist, in welcher Beziehung das Herrschaftsverhältnis zum Umgang mit den lediglich guten Dingen steht, für deren richtiges Maß die Betrachtung des theos den Standard bildete. Für die Lösung des Problems ist nun die Art des Herrschafts Verhältnisses zu erläutern. Zeichen für das Vorliegen des richtigen Maßes im Umgang mit den bloß guten Dingen, d.h. des Vorliegens der richtigen Unterstützung, ist der Erfolg der zu unterstützenden Aktivität, d.h. das Vorliegen jener bestimmten Aktualität. Nun erhalten wir aber aus der erfolgreichen Aktivität oder eben dem Vorliegen der Aktualität keinen Hinweis auf die Konkretisierung desjenigen Standards, der der richtige ist, wenn er diese Aktualität unterstützt. Die erfolgreiche Beschäftigung mit dem theos sagt uns nicht, was konkret zu tun ist (vielmehr müssen wir das Notwendige schon tun, bevor jene Beschäftigung überhaupt möglich ist). Die Aktivitäten, die der gesunde Körper als solcher ausführt, liefern zwar die erforderliche Erfolgsmeldung für den Arzt, nur geht aus ihnen bisher lediglich hervor, daß der Standard der richtige ist, nicht aber, welcher Umgang mit den relevanten Gütern zu jenen Aktivitäten führt. Wenn der Läufer das Ziel als erster erreicht, zeigt dies, daß der entsprechende Standard der richtige ist, nicht aber, worin er besteht. Wir benötigen hier eine Umsetzungsinstanz.

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Aus diesem Grand kommt Aristoteles auf die Klugheit zu sprechen: nicht der theos sagt uns (d.h. richtig: nicht die Betrachtung des theos sagt uns), was zu tun ist, sondern die Klugheit sagt uns, was zu tun ist. Auch die Rede von der Klugheit steht im Kontext der Behandlung des Standards: sie dient nicht der Einführung einer bestimmten Vermögensstruktur, sondern der Einführung der Umsetzungsinstanz des Standards.119 (Damit wird die zweite Hälfte der Eingangspassage des Abschnitts aufgenommen: '... und anhand dessen der Arzt beurteilt, bis zu welchem Maß jedes zu tun ist', 1249a22f.) Hier könnte man einwenden, daß in diesem Fall Klugheit aber nichts davon 'weiß', wofür sie das, was sie anordnet, anordnen muß: woher 'weiß' sie dann, ob sie richtig anordnet? Muß sie nicht in irgendeiner Weise mit dem Betrachten bzw. dem betrachtenden Teil kommunizieren können? Es scheint nützlich, an dieser Stelle einen Blick auf die Illustration der entsprechenden Verhältnisse zu werfen, welche sich in den MM findet. Wie die EE operieren die MM mit einem Herrschaftsverhältnis zwischen Herrschendem und Beherrschtem. Sie bedienen sich dabei der Analogie des Hauses, so wie die EE sich der Analogie des Arztes und der Gesundheit bedient. Die MM fuhren nun aber zusätzlich einen Verwalter des Hauses ein (dieser entspräche in der EE dem Arzt; in Paraphrase): die Klugheit herrsche nicht über die Weisheit, sondern kümmere sich um alles und ordne alles an wie im Haus der Verwalter. Denn dieser sei allem vorgeordnet und verwalte alles, und doch herrsche er nicht über alles, sondern verschaffe seinem Herrn Muße, damit jener nicht, von den notwendigen Verrichtungen behindert, abgehalten werde, etwas von den schönen und ihm zukommenden Dingen zu tun. So sei auch auf eine Weise, die dem vergleichbar ist, die Klugheit wie eine Verwalterin der Weisheit zugeordnet und bereite ihr Muße auch in bezug auf das Zustandebringen ihres ergon, indem sie die Affekte zurückhält und zur Besonnenheit bringt (s. MM I 34, 1198b 10-20). Was genau muß die Klugheit 'wissen', um die richtigen Anordnungen treffen zu können? Sie muß — wie der Verwalter — lediglich 'wissen', daß zum Betrachten Muße erforderlich ist. Sie muß nichts über den Gegenstand jenes Betrachter wissen, sondern muß nur die Rahmenbedingungen für das Betrachten kennen und herstellen: sie muß nur wissen, was Muße ist, nicht, wofür die Muße da sein soll. Die Rahmenbedingungen sind aber nicht der Gegenstand des Betrachtens — wie zu wissen, was Muße ist, durchaus in der Kompetenz der

119 Daß Klugheit um des theos willen anordnet — dies dürfte der Sinn von 1249b 14 sein —, ist nicht so zu verstehen, daß der theos etwas ist, woraufhin Klugheit Anordnungen trifft: zuvor war davon die Rede, daß 'es sich auf solche Weise aber beim theôrêtikon verhält'. Das theôrêtikon ist, sofern es sich um Betrachtung handelt, auf den theos (als ersten und obersten Gegenstand seines Betrachtens) gerichtet. Wenn Klugheit um des theos willen anordnet, dürfte dies so zu verstehen sein, daß sie um des Gegenstandes des Betrachtens willen anordnet, wobei der Gegenstand des Betrachtens als Stellvertreter für die Aktualität des Betrachtens oder sogar: als Stellvertreter für das auf Betrachten gerichtete Leben steht.

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Klugheit zu liegen scheint. Wenn sie das weiß, besitzt sie, die Klugheit, Klarheit über den Standard.120 Man könnte dies aufgrund des Verständnisses bestimmter Textpassagen anders sehen wollen, nämlich so, als habe oder sei Klugheit ein oder auch ein 'Ziel-Wissen'. Eine solche Auffassung scheint dann des weiteren gut mit einer Auffassung zusammenzupassen, derzufolge das betrachtende Vermögen das Ganze des rationalen Seelenbereichs umfasse. 121 Dazu einige Bemerkungen. (1) Ein gewisser Beleg für diese Annahme könnte in NE II 6, 1106b361107a2 gesehen werden, wonach Charaktertugend die Entschlußhaltung sei, die in der auf uns bezogenen Mitte liege, welche durch logos bestimmt sei, wodurch der Kluge sie bestimmen würde.122 Demzufolge legt Klugheit die Mitte für die Entschlußhaltung fest, was sie — so möchte man meinen — nur tun kann, wenn sie weiß, wo die Mitte liegt. Doch selbst dann, wenn für die Richtigkeit einer entsprechenden Festlegung eine bestimmte Zielkenntnis erforderlich sein dürfte, sagt der Text nicht, daß es sich dabei um Kenntnis des Gesamtziels oder um Prinzipienwissen handelt. (2) Einen stärkeren Beleg scheint die Passage NE VI 9, 1142b32f. zu liefern, wo es heißt: 'die Wohlberatenheit dürfte die Richtigkeit im Nützlichen für das Ziel sein, wovon die Klugheit das wahre Erfassen ist'. 123 Dies wird oft so ver-

120 Von diesen Überlegungen ausgehend läßt sich auch die Formulierung 1249b7 verstehen, derzufolge das Beherrschte bezogen auf die hexis leben soll, die der Aktualität des Herrschenden entspricht. Mit 'hexis' muß hier jener Zustand gemeint sein, der Voraussetzung für die Aktualität des Herrschenden ist, d.h. ein Zustand, der ein der Aktualität entsprechendes Sich-Verhalten des Herrschenden (dies entspricht der Auffassung von Tuozzo [1995b: 151]) ist, nämlich eben seine Muße. Die Aktualität als solche bleibt davon unberührt. — Mit Kraut (1993) meine ich, daß Klugheit ein 'Grand end' verlangt — was nicht heißt, daß sie es selbst besitzen muß, d.h. daß sie selbst wissen müßte, worin es besteht. 121 S. etwa Verdenius: das theôrêtikon und phronêsis "are as it were two faces of one and the same faculty, one directed to being, the other to practice" (1971:292f.); sowie Rowe (1971a:69): "By το θεωρητικόν, we are to understand the whole of the rational part." Für den vorliegenden Abschnitt der EE gelte, daß phronêsis "is not distinguished from any other άρετή of the higher part, nor indeed is the higher part treated as being anything other than strictly unitary. A natural reading of the passage suggests that there is a single rational faculty, with two different functions, that of controlling the irrational in us, and that of contemplating god; and if there is a gulf between those two functions, there is no hint of it in the text. On the positive side, it is, I think, significant that Aristotle chooses to call the rational faculty as a whole 'the theoretical faculty'. [...] Aristotle envisages no essential distinction between the two kinds of wisdom, speculative and practical." (ebd.). Rowe verweist darauf, daß das erhebliche Auswirkungen auf die Konzeption dessen hat, was Ethik ist. Die E E enthalte keine scharfe Trennung von Ethik und theoretischen Wissenschaften (s. a.a.O., 70). — Sprachlich scheint das sogar möglich zu sein, wenn es an anderer Stelle etwa heißt: 'der beratschlagende Teil der Seele ist das theôrêtikon einer Ursache' (EE II 10, 1226b25f.). Gut beratschlagen zu können ist aber gerade Kennzeichen des Klugen (s. NE VI 5, 1140a25-28). 122 Ich behalte 1107al die Lesart des OCT bei und folge in der Interpretation Gauthier/ Jolif (NE: II 1, 146-150 zu 1106b36). 123 ή ευβουλία είη αν όρθότης ή κατά το συμφέρον προς το τέλος, ου ή φρόνησις αληθής ύπόληψίς έστιν. Zur Diskussion s.a. Gauthier/Jolif (NE: I 1, 283-285 Anm.118).

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standen, als sei Klugheit ein wahres Erfassen des Ziels (telos) — was jedoch nicht gut mit dem zusammenzupassen scheint, wenn es heißt, die Tugend mache den Zielpunkt (skopos) richtig, die Klugheit aber das darauf Bezogene (s. NEVI 12, 1144a7-9). Deshalb wird jene Passage gelegentlich auch so verstanden, als beziehe sich 'wovon' auf das Nützliche, d.h. so als erfasse Klugheit das Nützliche. 124 Gegen diese zweite Interpretation wurde aber vorgebracht, daß nach der unmittelbar vorausgegangenen Textpassage 1142b29-31 in der vorliegenden Passage eine Präzisierung dessen, worauf sich 'Ziel' bezieht, zu erwarten wäre, da sonst nicht klar ist, ob es um irgendein Ziel oder um das Ziel überhaupt geht. Einer entsprechenden Präzisierung könnte nun der durch 'wovon' eingeleitete Relativsatz dienen sollen. 125 Nach dieser Lesart, die vorzuziehen zu sein scheint, stünde die Passage nicht mehr in Konflikt mit NE VI 12, 1144a7-9. Sie müßte nicht besagen, daß Tugend jedes Ziel, insbesondere auch jenes, welches die Tugenden richtig machen, erfasse. Keinesfalls ließe sich danach aus ihr die Zuschreibung von Prinzipienwissen für die Klugheit herauslesen. (3) Außerdem werden Klugheit und etwa Weisheit ausdrücklich verschiedenen Gegenstandsbereichen und damit auch Seelenbereichen zugeordnet. Prinzipien-Wissen für die Klugheit in Anspruch zu nehmen ist daher von vornherein ausgeschlossen. 126

124 S. etwa Walter (1874:470), Burnet (NE:211 Anm. zu §7), Aubenque ( 3 1986:118 Anm.5). 125 S. Stewart NE: II 83 Anm. zu 1142b32. 126 S. NE VI 1, 1139a6-8, VI 5, 1140a24-28, bl-6, VI 7, 1141b3-8, VI 11, 1143bl4-17; NE VI 8, 1142a25 zufolge ist — nach gemeinhin üblicher Lesart — Klugheit dem nous sogar entgegengesetzt. In NE VI 7, 1141b3-8 ist die Erwähnung des weisen, aber nicht klugen Thaies allerdings auffällig, von dem Aristoteles in Politik 1 1 1 selbst jene Anekdote über den durchaus klugen Erwerb des Ölpressenmonopols berichtet (s. 1259a9-19). Zumindest zwei weitere Passagen des Corpus seien hier angeführt, die meiner Auffassung von verschiedenen Arten rationaler Aktivität zu widersprechen scheinen. Die erste Passage findet sich im Protreptikos. Dort ist der Kluge oder Weise (d.h. der phronimos des Protreptikos) für uns das 'genaueste Vorbild' (kanôri) und stellt den genauesten Standard für die guten Dinge dar: denn was er seinem Wissen folgend wählt, das ist Gutes, und Schlechtes ist das dem Entgegengesetzte (B39). Aber das Wissen, das er hat, ist Wissen von der Natur und vom Göttlichen: mit Blick darauf lebt er (B50). Und wer, so bestätigen jedenfalls die klugen unter den Ärzten, ein guter Arzt sein will, braucht Erfahrung hinsichtlich der Natur (er muß ein εμπειρος της φύσεως sein; B46). Theoretisches Wissen sei von größtem Nutzen für das menschliche Leben (B46). Die Theorie oder das Philosophieren beschäftigen sich — dem Protreptikos zufolge — u.a. mit Standards (seien es geometrische, physische oder politische). Der Besitz solcher Standards ist nun tatsächlich von erheblichem praktischen Nutzen. Allerdings geht aus dem Protreptikos eben nicht hervor, wie sich jene Aktivitäten, die auf die Entdekkung solcher Standards und die Beschäftigung mit ihnen gerichtet sind, zu jenen Aktivitäten verhalten, die jene Standards in einer bestimmten Weise besitzen und auf konkrete und jeweils verschiedene Situationen anwenden.

Eine entsprechende Beziehung scheint in gewisser Weise aber in der NE vorzuliegen, wenn es heißt: 'Denn der Gute (spoudaios) urteilt über jedes Einzelne auf richtige Weise, und in jedem Einzelnen erscheint ihm das Wahre. Denn für jeden Habitus gibt es eigenes Schönes und Lustvolles, und der Gute zeichnet sich am meisten vielleicht dadurch aus, daß er das

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(4) Wenn nun Klugheit und Weisheit verschiedenen Bereichen zuzuordnen sind, so ist es nicht plausibel, gerade das theôrêtikon als das Ganze des rationalen Teils aufzufassen: fur die Bezeichnung eines solchen Ganzen hätte sich Aristoteles vermutlich des Ausdrucks 'logos besitzender Teil' bedient. Aus sachlichen Gründen ist jene Zuordnung des theôrêtikon nun aber sogar ausgeschlossen: das rationale Vermögen oder seine Bereiche müssen uns — jener ££-Passage zufolge — zumindest zu zweierlei in die Lage versetzen, nämlich zum Betrachten und zum Anordnen. Im Betrachten des theos ordnen wir aber nicht an, im Anordnen betrachten wir nicht den theos. Jene Aktivität, von der die Rede im Rahmen der Herstellung von Klarheit des Standards war, und jene Aktivität, die für die Umsetzung jenes Standards zuständig ist, gehören zu zwei völlig verschiedenen Arten von Aktivitäten.127 Ihre Verschiedenheit beruht darauf, daß ihr Gegenstandsbereich ein verschiedener ist. Ferner gewinnt Klugheit das, was sie anordnen muß, um den Standard zu treffen, nicht aus der Aktivität der Betrachtung als solcher: die Betrachtung des theos liefert als solche nicht die Information, die für kluges Handeln erforderlich ist. Wenn zudem, was anzunehmen plausibel scheint, das theôrêtikon in dem in Frage stehenden Abschnitt der EE mit theôria in Verbindung zu bringen ist, dürfte es sich bei ihm demnach kaum um das Ganze des rationalen Bereichs handeln.

5.5. Anmerkungen zur Struktur 5.5.1. 'Verehren' und 'betrachten' Wir haben soweit etwas über die Aktualitätsstruktur des Guten gesagt, soweit sich dafür aus dem Text etwas entnehmen läßt. Nun enthält unser Text eine bekannte Wendung, deren Auffassung die Überlegungen zur Aktualitätsstruktur insofern beeinflussen könnte, als sie Hinweise auf eine bestimmte zugrundeliegende eudaimonia-Struktur zu geben scheint. Ich beziehe mich auf die Wendung in 1249b 19-21: 'welche (Wahl bzw. welcher Besitz) aber wegen Mangels oder Übermaßes daran hindert, den Gott zu verehren und zu betrachten, diese (Wahl bzw. dieser Besitz) ist schlecht.' Traditionellerweise versteht man dies so, als beziehe sich Aristoteles damit auf zwei Arten von Aktivitäten, nämlich ethisch Wahre in jedem Einzelnen sieht — wie ein Vorbild (kanôn) und Maß dieser Dinge seiend.' (NE III 4, 1113a29-33). Es ist ein und derselbe Gute, der in jedem einzelnen das Wahre sieht. Wahrscheinlich ist dies so zu verstehen, daß er das Einzelne in Zusammenhang mit den Grundstrukturen der Wirklichkeit, d.h. den Prinzipien, bringen kann. Mir scheint dies nicht notwendigerweise problematisch zu sein: jener Gute kann eben das jeweilige Einzelne etwa in solcher Weise in jene Grundstrukturen einordnen, daß er erklären kann, wie es sich zu jenen Grundstrukturen verhält. Daraus geht keineswegs hervor, daß das Betrachten und das erforderliche Anordnen Tätigkeiten ein und desselben Vermögensbereichs wären. 127 Für die gleiche Auffassung s. Defourny (1937:94): "sa subordination [d.h. die der Klugheit — F.B.], et non son identification, au θεωρητικόν est nettement indiquée."

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und intellektiv tugendhafte. Dies könnte man dann auf eudaimonia beziehen wollen und so auffassen, als stünden die beiden Arten von Aktivitäten gleichberechtigt irgendwie nebeneinander.128 Mit einer solchen Gleichbehandlung ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, und zwar hinsichtlich der Einheit der Substanz (vgl. dazu Kapitel 4, Abschnitt 3.3.) sowie hinsichtlich der Frage, inwiefern ethisch tugendhaftes Handeln in Aristoteles' Sinn ein vom Betrachten unabhängiger 'Dienst am theos' sein können soll. Deswegen scheint es besser, eine Auffassung der Passage zugrunde zu legen, derzufolge sie nicht eine Gleichbehandlung impliziert. Eine naheliegende Lösung scheint nun jene zu sein, die Verdenius vorschlägt: demnach wäre καί (oben: 'und', 1249b20) explikativ aufzufassen, d.h. mit 'd.h.' wiederzugeben. Mit 'den theos zu verehren' gebrauche Aristoteles "a popular phrase", die er durch seine eigene Wortwahl expliziere (nämlich durch: 'd.h. zu betrachten').129 Dieser Vorschlag beläßt jedoch im unklaren, weshalb Aristoteles hier (und ausgerechnet hier) eine solche 'popular phrase' verwenden sollte. Es handelte sich bei der Wendung 'verehren, d.h. betrachten' schließlich nicht um eine Explikation von 'verehren' im herkömmlichen Sinn, sondern um eine Umdeutung. Welches Interesse könnte Aristoteles an einer solchen Umdeutung haben, wenn ihm für die Bezeichnung des Verhältnisses zum theos ein verhältnismäßig eindeutiger Ausdruck zur Verfügung steht (nämlich 'betrachten')? Es scheint nun die Rede von 'verehren und betrachten' am besten unter Heranziehung der anschließenden Passage 1249b21-23 zu verstehen zu sein. Danach 128 Silvester beläßt das Verhältnis im Kommentar zur Stelle im unklaren: das Glück bestehe in der Betrachtung des theos. Der beste und hervorragendste 'finis' des Lebens sei "contemplatio ac cultus Dei" (£Έ:485). Nicht wirklich klar scheint mir auch Fritzsches Auffassung der Wendung 'den Gott zu verehren und zu betrachten' zu sein, wenn er sie wie folgt kommentiert (EE:261 Anm. zu 1249b20): "His verbis summa totius disputationis continetur. Bonis externis homo uti debet tanquam instrumentis datis ad dei cognitionem augendam huiusque cultum nunquam negligendum. Itaque haec verba significant quo tendere debeant virtutes humanae ambae, et intellectuales (sapientia — θεωρεΐν) et morales (— θεραπεύειν), quae virtutes coniunctae conférant ad vitam beatam [...]. Differì autem haec Eudemi sententia a placitis Aristotelis non tam re ipsa quam gradu. Nam τ η θεωρία ita primas dat Aristoteles ut secundas eum dare ττ\ πράξει in universum non possis contendere." (Fritzsche hält die EE für ein Werk des Eudemos.) 129 Verdenius 1971:294. — Mentzingen nivelliert die Relevanz der Betrachtung des theos. Sie sieht diese Betrachtung falschlich expliziert durch das 'Verehren' (therapeuein, EE VIII 3, 1249b20), wenn sie meint: "Der Theos ist aber nicht nur Gegenstand der Theoria sondern zugleich auch Gegenstand einer weiteren Weise des Verhaltens des Menschen, des θεραπεύειν. Theoria ist wie diese Explikation zeigt, keine Weise zu sein — wie etwa die Theoria der nik. Ethik — sondern ein Gerichtetsein auf ein Seiendes. Die Theoria ist — so sonderbar dies auch zunächst aussieht — gerade Praxis, ein zu tun haben des Menschen mit einem Seienden." (1928:33). Selbstverständlich ist theôria praxis und selbstverständlich ist sie theôria von etwas, d.h. auf etwas gerichtet. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß es sich nicht um theôria im 'theoretischen' Sinne handeln könnte. Ferner explizierte, wenn es sich denn um eine Explikation handelte, nicht das therapeuein das theôrein, sondern das theôrein das therapeuein.

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gilt für das Verehren und Betrachten, daß der Standard der Seele dann der beste ist, wenn man ihren 'anderen' Teil so wenig wie möglich als solchen, d.h. als verschiedenen, wahrnimmt. Dies kann plausiblerweise nur jener Teil sein, dessen 'Wahrnehmungspräsenz' von uns zu beeinflussen ist, und das gilt, vom rationalen Bereich abgesehen, für den zu habituierenden Bereich des Arationalen: für diesen gilt, daß er so wenig wie möglich als solcher, nämlich als anderer, wahrgenommen wird, wenn er entsprechend habituiert ist, d.h. wenn seine Aktualität charakterlich tugendhaft ist. Charaktertugend ist aber, der EE zufolge, ein Werkzeug des Intellekts, und für das Werkzeug gilt, daß sich der Gebrauchende in seinem Gebrauch verwirklicht. Demnach wäre die Rede von 'verehren und betrachten' so zu verstehen, daß es bei ihr um intellektive Aktualität geht, und zwar insofern sie sich zum einen in charakterlich tugendhaften Handlungen manifestiert, d.h. sie verwendet (wofür Voraussetzung ist, daß man den anderen Teil so wenig wie möglich als verschiedenen wahrnimmt), und indem sie zum andern eben als intellektive Aktualität vorliegt. Hier läßt sich auch eine Deutung Kennys zu einer relevanten Passage aus dem Euthyphron aufnehmen. Dort wird das 'Werk' der Götter, zu dem unsere 'Verehrung' oder 'Pflege' der Götter beitragen soll, mit 'viele schöne Dinge' angegeben. Der Dienst an den Göttern besteht demzufolge, so Kenny, in tugendhaften Handlungen: diese Handlungen "could well be regarded as the many noble things which we, under the arkhê of God, find our fulfilment in performing and by which we make our contribution to the splendour of the universe."130 Vermutlich trifft dies genau den Kern: die tugendhaften Handlungen tragen tatsächlich zu jenem 'splendour' bei — nur eben nicht qua charakterlich tugendhafte Handlungen, sondern als Verwirklichung (Werkzeug) des nous.m Wenn die Rede von 'verehren' tatsächlich auf jene Aktualität zu beziehen ist, die sich in charakterlich tugendhaften Handlungen manifestiert, so ist für die Bestimmung des Verhältnisses dieser Aktualität zur betrachtenden Aktualität zu beachten, daß Aristoteles einmal eine positive Formulierung wählt und einmal

130 Kenny 1992:102, 1978:178; Euthyphron 13e6-14. - Allerdings sind der ££-Konzeption zufolge — im Unterschied zum Euthyphron — natürlich wir es, nicht die Götter, die die in Frage stehenden schönen Dinge tun. Das ergon des aristotelischen theos besteht nicht in jenem Abglanz, den wir als 'splendour of the universe' bezeichnen. Kenny müßte wohl schon etwas deutlicher machen, wie das Verhältnis der Charaktertugenden und der aus ihnen resultierenden Handlungen zu jenem 'universe' und dessen 'splendour' aussieht. — Vgl. auch Sokrates' Dienst am Gott (latreia bzw. hypêresia, s. Αρ. 23cl, 30a7). 131 Zur Diskussion zur Vertauschung von therapeuein und theôrein s. Wagner (1970:166). Wie Dirlmeier (EE:503f.) verweist Wagner (1970:163-165) für die Deutung von therapeuein auf den Schluß des Timaios 89d3-90d7. Dort ist tatsächlich davon die Rede, daß das Göttliche zu pflegen sei (s. 90c4), und davon, worin diese Pflege (c6) bestehe. Allerdings enthält auch diese Passage den Hinweis auf den Erfolg einer entsprechenden Aktivität, nämlich das 'Berühren' von Wahrheit, das Denken von Unsterblichem und Göttlichem und das Teilhaben an Unsterblichkeit (s. cl-3). Auch hier ist die erfolgreiche Beschäftigung mit bestimmten Gegenständen das Ziel, die etwas von dem 'Göttlichen in uns' (c7f.) Verschiedenes sind.

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eine negative. Der positiven Formulierung zufolge sind jene Wahl und jener Besitz bestimmter Güter die besten — und ist jener Standard für den Umgang mit jenen Gütern der schönste —, die am meisten die Betrachtung des theos befördern oder ermöglichen. Der negativen Formulierung zufolge ist jene Wahl (etc.) schlecht, welche den theos zu verehren und zu betrachten hindert. Von der Verehrung ist nur in der negativen Formulierung die Rede. Demzufolge besagt der Text, daß das Verehren — und damit, jedenfalls der obigen Setzung zufolge, das charakterlich tugendhafte Handeln — nicht behindert werden soll. Es wird nicht gesagt, daß es befördert oder ermöglicht werden soll. Genauer: der Text enthält keine explizite Aufforderung zur gezielten größtmöglichen Beförderung dieses Handelns — im Unterschied zum Fall der Betrachtung des theos. Es genügt, daß dieses Handeln bzw. die entsprechende Aktualität in einer bestimmten Weise und in einem bestimmten Maß vorliegt: es geht nicht um größtmögliche Förderung. Das heißt: die eine Aktivität (der Ausdruck "Aktivität" sei der Einfachheit halber gewählt) soll in größtmöglichem Ausmaß vorliegen, die andere in einem bestimmten Maß. Es dürfte dies kaum anders zu verstehen sein als als Ausdruck einer relativen Gewichtung: der einen Aktivität wird eine Grenze gesetzt, der anderen nicht. Daß ersterer eine Grenze gesetzt wird, kann nun nicht heißen, daß es sich bei ihr um eine Aktivität handeln soll, die in eingeschränkter Weise so und so ist, d.h. die in eingeschränkter Weise charakterlich tugendhaft ist. Es kann vielmehr nur heißen, daß es eine Aktivität ist, die in einem bestimmten Umfang auszuüben ist. Für diese Begrenzung gäbe es nun keinen Grund, wenn es sich — im Rahmen von eudaimonia — um gleichwertige oder -gewichtige Aktivitäten handelte, eudaimonia scheint vielmehr eine Aktualität von solcher Art zu sein, daß es im Fall der einen Aktivität, die für sie konstitutiv ist, nicht interessant ist, über ein bestimmtes Maß hinauszugehen: es muß für diese Beschränkung einen Grund geben. Es lassen sich diesbezüglich zwei Überlegungen anstellen: (1) Der Grund könnte darin bestehen, daß es sich bei jener auf ein bestimmtes Ausmaß beschränkten Aktivität um Aktivität handelt, die für den Menschen wesentlich ist und die dies insoweit ist, als sie eben in jenem Ausmaß vorliegt. Das ist aber höchst unplausibel: warum sollte ein solche Beschränkung vorgenommen werden, wenn es möglich ist, darüber hinauszugehen? Wie sollte es zu verstehen sein, daß jene Aktivität bis zu einem bestimmten Maß wesentlich ist, darüber hinaus aber nicht mehr? Wann ist es der Fall, daß jene Aktivität im erforderlichen Maß vorliegt? Was ist das Kriterium dafür? Wichtiger noch ist aber der Einwand, daß diese Einschränkung notwendigerweise zu einer Schieflage fuhrt, nämlich insofern, als eine Konkurrenz dieser Aktivität mit der uneingeschränkten unvermeidbar ist: selbst wenn diese Aktivität nur in einem bestimmten Umfang auszuüben ist, wird ihr die uneingeschränkte Aktivität den Platz streitig machen (weil die Aktualität des Menschen als ganze begrenzt ist).

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(2) Der Grund für die Beschränkung des Ausmaßes der einen Aktivität könnte darin liegen, daß es zweckmäßig ist, daß sie in diesem (und keinem anderen) Umfang vorliegt: nicht jede mögliche gerechte oder tapfere Handlung ist auszuüben, und Situationen, die solche Handlungen als erforderlich wahrscheinlich machen, sind nicht um ihrer selbst willen zu suchen oder zu provozieren (es ist nicht Krieg zu suchen, damit tapfere Handlungen stattfinden können). Vielmehr müssen bestimmte Situationen bewältigt werden, so daß ein bestimmtes Umfeld geschaffen wird: Tugenden sind gut zu etwas, sie sind Werkzeug des Intellekts.132 Die Bewältigung solcher Situationen soll weder durch Übermaß noch durch Mangel an bestimmten Gütern behindert werden. Jene Güter sollen aber nicht dazu dienen, solche Situationen zu schaffen. 133 Einen Zweck der Begrenzung anzunehmen hätte zudem den Vorteil, daß damit auch die Bestimmung des Umfangs der einzuschränkenden Aktivität getroffen wird. Diese Bestimmung erfolgt nicht willkürlich, sondern mit Blick auf etwas: es ist genau dann zweckmäßig, bis zu einem bestimmten Umfang charakterlich tugendhafte Handlungen zu vollbringen, wenn es eben einen Zweck gibt, an dem sich die Bestimmung des Umfangs orientiert. Festzuhalten ist: es lassen sich Aktivitäten zweier verschiedener Typen nicht parallel zueinander und zugleich konkurrenzlos in größtmöglichem Umfang fördern, sondern es kann nur eine solche Aktivität in solchem Umfang gefördert werden. Mit letzterem läßt sich problemlos verbinden, daß jene beiden Aktivitäten bis zu einem bestimmten Maß nicht behindert werden sollen. Dies läßt sich jedenfalls dann mit jenem verbinden, wenn hier eine Unterstützungsrelation angenommen wird.

132 Entspricht jemand, der so handelt, dem "theorizer" der minimalistischen ΛΕ-Interpretation, wie sie Kenny vorschlägt (1991:77f.; 1992:91f.)? Danach tut jener "temperate things" manchmal, um sich die Möglichkeit zu philosophieren offenzulassen, manchmal um ihrer selbst willen, nämlich etwa um nicht nachlässig zu werden. So jemand würde sich nicht an fremdem Gut vergreifen, um Mittel zum Philosophieren zu bekommen, er würde aber auch nicht freiwillig in den Krieg ziehen, sondern sich dem vielmehr entziehen, um ungefährdet seinen Studien nachgehen zu können (als Beispiel führt Kenny W.H. Auden an, der sich zu Kriegsbeginn in die Staaten begab). — Abgesehen davon, daß Aristoteles wohl eher sagen würde 'wir handeln auf besonnene Weise' statt 'wir tun besonnene Dinge', dürfte es zutreffen, daß für eudaimonia eine Kalkulation darüber anzustellen ist, welche Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen sind, um welchen Preis — z.B. den der Trennung von bestimmten Menschen — diese eventuell zu vermeiden sind und dergleichen, und die in Kauf zu nehmenden Schwierigkeiten sind dann in einer bestimmten Weise zu bewältigen. Femer ist zu beachten, daß 'sich nicht entziehen' nicht gleichbedeutend mit 'sich freiwillig melden' ist. Der "theorizer" würde sich, so ein Antwortversuch auf die oben gestellte Frage, im Rahmen der Polis vermutlich soweit engagieren, wie diese für ihn wichtig ist, und wichtig ist sie als Ort der philia. 133 Eine weitere Überlegung, für die hier aber aus Platzgründen keine Argumente vorgebracht werden können, ist die, daß das, worauf sich Charaktertugenden beziehen, Affekte (pathê) sind, daß Affekte aber dem Bereich des alogon zuzurechnen sind, so daß zu erwarten ist, daß Charaktertugenden in der ganzen Tugend, d.h. der kalokagathia, einen dem alogon entsprechenden Platz einnehmen werden.

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5.5.2. Unbewegter Beweger oder theos in uns? Es sollte oben gezeigt werden, daß wegen der Notwendigkeit des Gegenstandsbezugs anzunehmen ist, daß im vorliegenden Abschnitt vom 'theos' als theos im Sinne des unbewegten Bewegers die Rede ist. Eine alternative Interpretation besteht darin, diesen theos als 'theos in uns' (im Sinne des nous) aufzufassen. Von Arnim hat in diesem Sinne sogar in den überlieferten griechischen Text eingegriffen und 'theos' durch 'nous' ersetzt. 134 Ohne eine Änderung am überlieferten Text vorzunehmen versteht auch Dirlmeier die Rede vom theos als Rede vom 'theos in uns'. Hierauf einzugehen ist offensichtlich noch einmal nötig, nachdem der OCT 1991 seinerseits, ausgehend von einem Vorschlag Robinsons, ebenfalls den überlieferten Text verändert hat und zweimal, nämlich 1249bl7 und b20 (aber nicht, wie es konsequent gewesen wäre, auch in bl4) 'theos' durch 'theion' (das 'Göttliche') ersetzt hat. Die diesem Eingriff zugrundeliegende Auffassung ist OCT 1249b20 zufolge die, daß dieses 'Göttliche' ein 'Göttliches in uns' ist, und dies ist offensichtlich im Sinne des nous bzw. Dirlmeiers 'theos in uns' zu verstehen. Daß diese Auffassung wegen des Fehlens des Gegenstandsbezugs nicht zu halten ist, wurde oben zu zeigen versucht. 135 Dennoch soll hier noch ein Blick auf Dirlmeiers Argumente geworfen werden. Dirlmeier setzt für seine Auffassung voraus, (1) daß es 1249b 11 bei der Bestimmung des richtigen Herrschaftsverhältnisses um ein Verhältnis im zweigeteilten logikon geht; (2) daß b l 3 mit 'theôrêtikon' "jene Seelenkraft welche die philosophische Schau vollzieht" 136 gemeint ist; und (3) daß es sich allein "schon aus der Feststellung, daß es sich um Rangordnung κατά το θεωρητικόν handelt, ergibt [...], daß wir es mit Seelen-Immanentem zu tun haben, nicht mit a) Transcendentem b) Immanentem." 137 Dirlmeier sieht nun, ausgehend von diesen Voraussetzungen, "unüberwindliche Schwierigkeiten", 138 wenn man annimmt, es handele sich bei jenem theos um einen theos etwa im Sinne des unbewegten Bewegers. Seine Argumente für die Unüberwindlichkeit sind: (1) Der kosmische Gott ist nicht seelen-immanent: beginnend mit 1249b9 sei nur von einem inneren Herrschaftsverhältnis die Rede. (2) Es sei inkonsistent, daß dem theos, der doch nichts brauche, Verehrung oder Pflege zukommen solle. Es scheine absurd, daß phronêsis "durch Herstellung der rechten Mitte beim Erwerb von äußeren Gütern für angemessene Opfergaben zu sorgen 134

S. v.Arnim v.a. 1924:68. Anlaß für die Textänderung könnte auch der Wunsch gewesen sein, eine Parallelität der Passage mit NE X herzustellen, wo eben vom Göttlichen die Rede ist. Dies übersieht jedoch den Unterschied des Kontexts beider Passagen. 136 Dirlmeier ΕΕΛ98 zu 1249a21. 137 Ebd. 138 Dirlmeier ΕΕΆ99. 135

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habe".139 (3) phronêsis müßte, gesetzt, es handele sich bei jenem theos um den 'kosmischen Gott', selbst dasjenige sein, das "jene Schau des transzendenten Gottes vollzieht" und "für sich selbst die aus den äußeren Gütern zu befürchtenden Hindernisse wegräumt: sie, die p[er] analogiam] zu Medizin und Gesundheit selbst ein άρχόμενον ist, während Gott p.a. zur Gesundheit als Telos natürlich der οίρχων ist."140 Es sei ein unaristotelischer Gedanke, "daß die geistige Schau in dieser unmittelbaren Weise von der Herstellung einer richtigen Güterwahl abhängig gemacht wird."141 Zu (1): Wie oben ausgeführt geht es im Abschnitt um die Gewinnung eines klaren Standards, und aus bestimmten Gründen erfordert der Verlauf des Arguments den Bezug auf einen Gegenstand des Handelns als Zeichen seines Erfolges. Wenn mit 4 theôrêtikon' etwas "Seelen-Immanentes" gemeint ist, so schließt dies weder aus noch ein, daß mit 'theos' vom theos im Sinne etwa des unbewegten Bewegers die Rede ist. Zu (2): Mit 'Verehrung' oder 'Pflege' ('therapeia') ist eine aktive Leistung gemeint. Daß der theos nichts braucht, besagt der Text für jede jeweils angenommene Art von theos (s. 1249b 16). Wenn 'Verehrung' aus diesem Grund Probleme aufwirft, dann tut sie dies für jede Art von theos. Daß phronêsis sich um Opfergaben kümmern solle, ist in der Tat absurd, wird durch die Annahme des theos als unbewegten Bewegers aber auch nicht unterstellt und folgt auch nicht aus ihr. Zu (3): Ebenso wird durch diese Annahme auch nicht unterstellt bzw. folgt aus ihr nicht, daß phronêsis jene "Schau" vollzieht (und das übrige unter (3) Erwähnte tun müßte). Daß phronêsis etwas Beherrschtes wäre, ist im Text gerade nicht gesagt worden.142 Die Annahme des theos als unbewegten Bewegers sagt nicht und es folgt auch nicht aus ihr, daß die "Schau" in "unmittelbarer Weise" vom richtigen Umgang mit den Gütern abhängt, wenn dies heißt, daß sie als solche, d.h. als das, was sie ist, davon abhängt. Dirlmeier spricht davon, "daß die Selbstverständlichkeit, mit der unsere höchste Geisteskraft vergöttlicht wird, zutiefst der Eigenart griechischer 'Religion' entspricht",143 und verweist in diesem Zusammenhang auf den Alkibiades (sc. 1). Dessen Relevanz für die EE einmal zugestanden, geht es in Ale. 1, 132b133c um den Vorgang des sich selbst Erkennens. Etwas erkennt sich selbst, so der Alkibiades, wenn es sich selbst sieht. Es sieht sich selbst, wenn es sich in etwas anderem, das ersteres widerspiegelt, sieht. Das Sich-selbst-Erkennen ist darauf angewiesen, daß sich etwas in einem ihm gleichen spiegelt. Die Seele

139 140 141 142 143

Ebd. Ebd. Ebd. S. dazu Verdenius (1971:290). Dirlmeier ££:502 zu 1249bl5.

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erkennt sich, indem sie in eine Seele blickt. Sie erkennt das, was sie in erster Linie auszeichnet, indem sie auf Entsprechendes blickt. Das, was sie derart auszeichnet, gleicht dem Göttlichen. Um sich selbst am besten zu erkennen, muß man auf das Göttliche, nämlich theos und phronêsis sehen (s. Ale. 1, 133b7-c6). Danach geht aber — auch ohne den wohl späteren Zusatz 133c8-16 — aus dem Text hervor, daß die Seele, um sich selbst zu erkennen, gerade auf den theos sehen muß: dies ist nicht ein 'theos in ihr' — den oder das entsprechende theion will sie gerade erst erkennen.144 Dirlmeier führt für die "Vorstellung von dem Nus als dem Gott in uns"145 bei Aristoteles des weiteren Protreptikos B108-110 an. Dort spricht Aristoteles vom 'theion' mit Blick auf das, was in uns an nous und Klugheit ist: nur dies eine unter dem Unsrigen scheine theion zu sein. Im Vergleich mit den anderen Lebewesen, so der Protreptikos, scheint der Mensch ein theos zu sein. Von 'theos' ist hier im Zusammenhang mit Dichterzitaten die Rede, wie etwa: 'der nous sei unser theos', 'das sterbliche Leben habe Teil an einem theos'. Der Protreptikos spricht hier im übertragenen Sinne (und sicher auch rhetorisch) vom 'theos in uns' und tut dies, weil er den Bezug zu den Zitaten herstellen möchte.146 Von Dirlmeiers Argumenten für seine Auffassung vom theos als 'Gott in uns' scheint demnach nichts Relevantes übrigzubleiben.

5.6. Zusammenfassung Die vorausgehenden Überlegungen zum Abschnitt 1249a21-b25 lassen sich soweit wie folgt zusammenfassen: (1) Es geht im vorliegenden Abschnitt um Klarheit über die Richtigkeit eines bestimmten Standards (oder kurz: um Klarheit über einen bestimmten Standard) für den Umgang mit lediglich guten Dingen. Klarheit über einen Standard ermöglicht ggf. die Abgabe einer Erfolgsmeldung: der Standard ist dann erfüllt, wenn etwas Bestimmtes erreicht ist. (2) Das, was erreicht werden soll, d.h. das, woran sich das Erfüllen des Standards ablesen läßt, ist hier nun die erfolgreiche Beschäftigung mit einem 144 Der Alkibiades deutet im übrigen selbst an, daß das Lehren der sophia (es geht hier um ein Lehren von Seiten bestimmter Perser, die in gewisser Weise wiederum platonisch gefärbt zu sein scheinen) das Lehren der Zauberei des Zoroaster enthält: und dies sei die 'Verehrung der Götter' (θέων θεραπεία, s. Ale. 1, 121e5-122a3). 145 Ebd. 146 S. dazu Verdenius (1971:289); s. dort auch zu der ebenfalls von Dirlmeier angeführten Passage Politik III 16, 1287a28-30. Verdenius (1971:290f.) macht deutlich, daß es eben einen Unterschied macht, ob etwas, z.B. der nous, als 'göttlich' oder sogar als 'göttlichstes' bezeichnet wird oder ob etwas als 'theos' bezeichnet wird: die Eigenschaften, die dem theos zukommen, kommen dem nous gerade nicht zu (z.B.: nur sich selbst zu denken; auf diese Weise vollkommen autark zu sein; immer in vollkommener Aktualität zu sein). S. ebenso Kenny (1978:175). Gegen Dirlmeiers Interpretation s. etwa auch Gigon (1969:214).

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bestimmten Gegenstand, d.h. in unserem Fall: die erfolgreiche Beschäftigung mit dem Gegenstand der Betrachtung. Ohne einen entsprechenden Gegenstandsbezug wäre eine Erfolgsmeldung nicht möglich. (3) Das Betrachten (im Sinne der theôria) liegt vor, wenn es seinen Gegenstand erfaßt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß das Erfassen dieses Gegenstandes nur dann im eigentlichen Sinn gegeben ist, wenn der Gegenstand als das erfaßt wird, was er ist, und das heißt: wenn er in seiner Abhängigkeit oder Bezogenheit hinsichtlich der Grundstrukturen der Wirklichkeit erfaßt wird. Das Betrachten ist nur dann im eigentlichen Sinn erfolgreich, wenn es sich, gesetzt daß dies dem Menschen prinzipiell möglich ist, auf den Anfang dieser Grundstrukturen richtet, und das heißt: auf den unbewegten Beweger. (4) Die gesuchte Klarheit über den Standard liegt nun aber nicht für sich genommen irgendwo vor, sondern nur als etwas, das jemand besitzt. Im Besitz dieser Klarheit — und von daher für die Umsetzung des Standards zuständig — ist die Klugheit. Das dem Standard entsprechende Anordnen der Klugheit bezieht sich nun nicht auf das Betrachten als solches, sondern auf den Zustand, in dem Betrachten möglich ist, nämlich auf die Muße. Zur Erörterung der Aktualitätsstruktur des wirklich Guten lassen sich die MM mit ihrer Unterscheidung von Herrschendem, Verwalter und Beherrschtem heranziehen. (5) Mit Blick auf die Rede von 'verehren' und 'betrachten' ist zu beachten, daß beides — jedenfalls dem zufolge, was der Text ausdrücklich sagt — durch den Umgang mit den bloß guten Dingen nicht behindert werden soll, daß aber nur das Betrachten des theos in größtmöglichem Umfang gefördert werden soll. Gesetzt, "verehren" beziehe sich, wie allgemein angenommen, auf charakterlich tugendhaftes Handeln, so ist jene unterschiedliche Behandlung wohl am besten so zu verstehen, daß die eine Aktivität in einem bestimmten Umfang, die andere in unbestimmtem Umfang vorliegen soll. Das heißt aber, daß es für erstere eine Bestimmung oder Begrenzung geben muß. Die einfachste Deutung scheint nun darin zu bestehen, daß die Begrenzung daher rührt, daß die Aktivität als unterstützende angesehen wird und der Umfang ihrer Ausübung von jener Unterstützung her bestimmt wird: der Teil soll so wenig wie möglich als verschiedener wahrgenommen werden.

5.7. Schön-und-Gut-Sein und eudaimonia Die vorausgehenden Überlegungen zum Abschnitt 1249a21-b25 bezogen sich auf die Klarheit des Standards für den Umgang mit lediglich guten Dingen. Nun ist aber die Frage, die uns in der vorliegenden Abhandlung interessieren sollte, die Frage nach eudaimonia in der EE. Dazu äußerte sich Aristoteles in EE VIII 3 bisher nur am Rande, nämlich in 1249a20. Es stellt sich daher die Frage, ob der gerade ausfuhrlich behandelte Abschnitt — und mit ihm das Kapitel EE

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Vili 3 — in relevanter Hinsicht etwas fur die Frage, was der EE zufolge eudaimonia ist, austrägt. Zunächst ist zu unterscheiden, ob etwas, das in einem bestimmten Zusammenhang nicht erwähnt wird, wie hier die eudaimonia, einfach gerade nicht das behandelte Thema ist oder ob es mit den gegenwärtigen Ausführungen nicht vereinbar ist. Wäre letzteres der Fall, wäre das in der EE Gesagte inkonsistent — was zwar möglich ist, aber, dem principle of charity folgend, nicht ohne Not angenommen werden sollte. Vermutlich läßt sich nun aber schon aus dem, was bisher zum vorliegenden Abschnitt gesagt wurde, ablesen, daß die Behandlung des eigentlichen Themas, nämlich der Klarheit des Standards, eine bestimmte Seins weise des Menschen voraussetzt und teils auch expliziert, zu der sich keine konkurrierende Seinsweise denken läßt, die ihrerseits noch als 'eudaimonia' bezeichnet werden könnte. Vielleicht läßt sich dies durch einige Überlegungen plausibler machen: (1) Es gibt genau eine Seinsweise des Guten. Es handelt sich bei dem Herrschaftsverhältnis zwischen Herr und Sklave, von dem im Text die Rede ist, und dem ihm entsprechenden Verhältnis der Dinge, aus denen der Mensch von Natur aus besteht, um ein Herrschaftsverhältnis oder Zugeordnetsein, das sich dadurch auszeichnet, daß es auf Bewahrung oder Kontinuität ausgerichtet ist. Ein Herrschafts Verhältnis ist gut, wenn es, so die Politik, der 'Bewahrung' derjenigen, die in diesem Verhältnis stehen, dient. Dies heißt, daß es seine Teilnehmer als das bewahrt, was sie sind. Es dient der Bewahrung, indem die Teilnehmer in diesem Verhältnis sind, was sie sind, d.h. indem sie sich ihrer natürlichen Eignung gemäß verhalten. Der herrschende Teil in diesem Verhältnis zeichnet sich dadurch aus, daß er zu sehen vermag, was sich ereignet, ereignen wird und ereignen muß; der beherrschte Teil dadurch, daß er in der Lage ist, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen.147 Nur dadurch, daß wir auf jenen Zustand bezogen leben, welcher der Aktualität des Herrschenden entspricht (s. 1249b6f.), können wir eine bestimmte Kontinuität erreichen. Wir gelangen hier zu einer Präzisierung des Standards. Die Richtigkeit des Standards für den Umgang mit den Gütern besteht nicht in einer bestimmten 147 S. dazu Politik I: was ohne einander nicht bestehen kann, muß (in einem Paar) zusammen leben; und so tun es der Bewahrung wegen auch das der Natur nach Herrschende und das Beherrschte. Denn das, was fáhig ist, durch Überlegung vorauszusehen, herrscht der Natur nach, was aber in der Lage ist, mit dem Körper Anstrengungen zu ertragen, ist Beherrschtes und der Natur nach Sklave. Deswegen nützt dasselbe dem Herrn und dem Sklaven (s. Pol. I 2, 1252a26-34). Eine Herrschaftsgemeinschaft dient dem Nutzen. Die vollständige Gemeinschaft zeichnet sich durch Autarkie aus. Sie entsteht um des Lebens willen, sie besteht um des guten Lebens willen (nach 1252bl2-16, b27-30). Die Seele herrscht auf 'despotische' Weise über den Körper, der nous auf 'polistische' oder königliche Weise über das Streben. Beherrscht zu werden ist für das (der Natur nach) Beherrschte naturgemäß und nützlich (s. Pol. I 5, 1254b4-9). Zu ergänzen ist dies durch die Klugheit. — Klarerweise geht es hier nur um den Modellcharakter, nicht um die Kritikwürdigkeit der aristotelischen Theorie von der natürlichen Sklaverei.

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Verteilung dieser Güter zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern in einer bestimmten Verteilung dieser Güter (bzw. in einem bestimmten Umgang mit ihnen) über die Zeit hin. Ziel des Umganges ist die Bewahrung, Unterstützung bzw. Ermöglichung der Aktualität des Herrschenden über die Zeit hin.148 Unter diesem Gesichtspunkt, nämlich dem der Bewahrung, kann es nur eine Aktualitätsstruktur geben, für die es überhaupt einen richtigen Standard gibt, nämlich diejenige Struktur, die auf Kontinuität angelegt ist: es kann nicht zwei parallel auf Kontinuität angelegte Aktualitätsstrukturen geben, und es bleibt, da die Aktualität auf Kontinuität angelegt ist, auch kein Raum für Abwechslung. Jedenfalls ist es — unter Berücksichtigung der Kontinuität — ziemlich unwahrscheinlich, daß die eine Seinsweise die schönste, beste und lustvollste ist, während der Standard für den Umgang mit den bloß guten Dingen im Fall einer anderen Seinsweise der beste bzw. schönste ist, beide Seinsweisen aber voneinander verschieden sind, wobei es sich außerdem noch um Seinsweisen ein und desselben Individuums (derselben natürlichen Art) handeln soll. Sofern es sich um eine Aktualitätsstruktur handelt, kann es sich nur um einen Standard für den Umgang mit jenen Gütern handeln. Nur in diesem Fall ist die Rede vom klaren Standard sinnvoll. (2) Standard und kalokagathia. Es soll, so schließt das Kapitel, vom 'horos' des Schön-und-Gut-Seins, also der kalokagathia, die Rede gewesen sein. Die Rede vom 'horos' kann sich nur auf einen zuvor behandelten horos beziehen. Es ist wahrscheinlich, daß es sich hier um den horos der kalokagathia im Sinne der zu Beginn des Kapitels gestellten Aufgabe handelt, derzufolge die kalokagathia (als 'Tugend aus den einzelnen Tugenden') entwickelt werden sollte. 'horos' bezieht sich in diesem Fall auf eine Definition von kalokagathia. Eine solche Definition wurde gegen Ende des ersten Teils unseres Kapitels gegeben ('kalokagathia ist zielhafte Tugend', 1249a 16f.).149 Im zweiten Teil (1249a21-b23) wurde dann ein Zielpunkt (skopos) für die schlechthin guten Dinge angegeben — welche wohl mit den von Natur aus guten, d.h. den lediglich guten Dingen gleichzusetzen sind. So verstanden wird in der Schlußpassage (1249b23-25) die kalokagathia selbst mit dem Standard für den richtigen Umgang mit den bloß guten Dingen verbunden. Für die Entwicklung dieses Standards wurde die Ak-

148 Man könnte einwenden, daß die Rede vom Verhältnis vom Herrschenden und vom Beherrschten in der JSE-Passage eingeführt wird, um den Blick auf den Herrschenden zu lenken, daß der in jenem Verhältnis liegende Zweck des Bewahrens aber vom Zweck des Umgangs mit den lediglich guten Dingen zu unterscheiden sei. Das erforderte aber auch eine Trennung zwischen theôria und dem herrschenden Bereich, was ziemlich unplausibel ist. 149 Die EE verwendet den Ausdruck 'horos' in diesem Sinn u.a. an einschlägiger Stelle, nämlich als Ausdruck für die Bestimmung dessen, was eudaimonia ist (s. EE II 1, 1219a39). Man könnte in 1249b23f. όρος της καλοκαγαθίας allerdings auch als 'Standard der kalokagathia' auffassen. Dann wären horos und skopos vermutlich als Synonyme zu lesen. Auch nach dieser, m.E. aber unplausibleren Lesart wäre die Verbindung von kalokagathia und dem Standard für den Umgang mit den bloß guten Dingen gegeben.

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tualitätsstruktur des Guten expliziert (wovon es nur eine geben konnte). Dann ist aber nicht zu sehen, für welche Seins weise, wenn nicht für die der kalokagathia, der Standard des Guten Standard sein soll. Die Seinsweise der kalokagathia ist aber die des Glücklichen (vgl. oben den Abschnitt 4.4.). (3) Die nicht-beliebige Aktualität des Guten. Nun hat man die Auffassung vertreten, es handele sich bei den in 1249a21-b25 in Frage stehenden bloß guten Dingen um eventuell gegebene überschüssige gute Dinge, die der Gute außerhalb 'schöner praktischer Taten' — in moralisch indifferenten oder unentschuldbaren Situationen — einsetzen könne.150 Dies könnte entweder so zu verstehen sein, daß davon ausgegangen wird, über charakterlich tugendhaftes Handeln hinaus sei etwas zu tun und es stelle sich nur die Frage, was dies zusätzlich zu Tuende sei. Oder es könnte im Sinne der grundsätzlicheren Frage zu verstehen sein, ob überhaupt etwas zusätzlich zu tun sei. Gegen die zweite Auffassung spricht der Text der EE explizit, wenn es gerade darum geht, daß — nicht: ob — ein bestimmter Umgang mit den bloß guten Dingen die Betrachtung des theos unterstützen soll. Ferner spricht dagegen: (3.1) Der Gute diente als ganzer als Standard für den Umgang mit jenen bloß guten Dingen. Die guten Dinge helfen ihm genau bei der Aktualisierung dessen, was er ist. Wenn sie nicht oder nicht im richtigen Maß vorliegen, unterstützen sie nicht das, was er ist, sondern ver- oder behindern seine Aktualität. Dabei geht es nicht um einen beliebigen 'Rest' von Aktualität. Von der den Standard verfehlenden Wahl und dem entsprechenden Besitz dieser Dinge heißt es nicht, daß es sich dabei um etwas Beliebiges handelt, sondern daß es sich um etwas Schlechtes handelt (s. 1249b21). (3.2) Es ist nicht zu sehen, welches die entsprechend überschüssigen bloß guten Dinge im Fall des gesunden Körpers sein sollten. Dieser bildete aber den Vergleichspunkt. (3.3) Es war im ersten Teil des Kapitels nicht von der genau erforderlichen Menge jener guten Dinge die Rede, so daß nun von einem Überschuß die Rede sein müßte oder könnte, sondern es war zu Beginn vom richtigen Verhältnis zu diesen Dingen die Rede, so daß nun — im zweiten Teil — zum erstenmal überhaupt vom Standard die Rede ist. Der Text spricht nirgends von 'überschüssigen guten Dingen', sondern vom Standard für die Dinge, die ihrer Natur nach gut, aber nicht lobbar sind. Die erste Auffassung (derzufolge etwas mit eventuellen überschüssigen bloß guten Dingen zu tun ist, aber unklar ist, was zu tun ist) setzt voraus, daß charakterlich tugendhafte Aktivität etwas in sich Abgeschlossenes sei, das von dem, 150

S. Broadie 1991:385, Cooper 1975:140-142. Cooper scheint mir zu übersehen, daß durch die Rede von den Dingen, die von Natur aus gut, aber nicht lobbar sind (s. 1249a25), nicht ausgeschlossen ist, daß diese Dinge in der Verwendung durch den Schönen-und-Guten ebenso schön werden können, wie das bei den guten Dingen aus 1249a4f. der Fall war: es handelt sich um dieselben Dinge.

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was über sie hinaus zu tun ist, unabhängig ist: die bloß guten Dinge sind zuerst für charakterlich tugendhaftes Handeln einzusetzen, und dann ist zu überlegen, was mit einem eventuellen Überschuß zu tun ist. Dagegen läßt sich einwenden: (3.4) In einer auffälligen Ergänzung zur Behandlung des Standards für die bloß guten Dinge kommt die EE auf die Seele und auf den besten Standard der Seele zu sprechen (s. 1249b21-23).151 Dieser Standard liegt vor, wenn man den 'anderen' Teil der Seele als solchen am wenigsten wahrnimmt. (Das heißt nicht, daß man ihn unterdrückt, sondern daß man ihn in einer bestimmten Weise hat.) Der in Frage stehende Teil ist nun sicherlich der, der schon als 'Beherrschtes' bezeichnet wurde. Dieser Teil kann (wie weiter oben schon gesagt) nur derjenige arationale Teil sein, dessen Wahrnehmungspräsenz von uns beeinflußt, und d.h. habituiert, werden kann — so daß seine Aktualität, wenn dies geschieht, charakterlich tugendhaft ist. Nun scheint die Auffassung wenig plausibel, daß dieser Teil als vom beherrschenden Teil verschiedener so wenig wie möglich wahrzunehmen sein soll, daß er aber als in bestimmter Weise habituierter Teil etwas Unabhängiges und in sich Abgeschlossenes sein soll, das zuerst zu wählen sei. (Vielmehr scheint die Habituation eine gewisse Anpassung an den herrschenden oder prinzipiierenden Teil zu sein, genauer: an den Bedarf des herrschenden Teils.) (3.5) Es war oben (Abschnitt 5.5.1) auf die Unterschiede in der Formulierung in 1249bl6-21 hingewiesen worden: nur im Fall der theoretischen Aktivität sollte, dem Text zufolge, größtmögliche Förderung (durch den entsprechenden Umgang mit den bloß guten Dingen) erfolgen. Im Fall beider, d.h. der theoretischen und der verehrenden Aktivität, sollte lediglich keine Behinderung (durch jenen Umgang) vorliegen. Bestimmte Überlegungen führten oben zur Annahme eines Verhältnisses zwischen beiden Typen von Aktivitäten, welches sich am besten als Unterstützungsrelation charakterisieren läßt. Das heißt aber auch: die unterstützende Aktivität unterstützt nicht irgendeine beliebige Aktivität, sondern eine bestimmte ('bestimmt' im Sinne von 'Typ', nicht 'Ausmaß'): charakterlich tugendhaftes Handeln erfolgt aus einem bestimmten Grund. Da die Suche nach der Klarheit des Standards für den Umgang mit den lediglich guten Dingen von einer bestimmten Aktualitätsstruktur des Menschen ausgeht, deren Schlußstein sein Verhältnis zum theos ist, ist der Standard für den Umgang mit äußeren Gütern, der in unserem Verhältnis zum theos liegt, 151 Kenny stellt einen Bezug zwischen bestimmten, ihrer Natur nach guten Dingen, die am Ende der EE erwähnt werden, und korrespondierenden Charaktertugenden ('magnanimity', 'magnificence' und 'liberality') her sowie außerdem einen Bezug zwischen 'courage', 'temperance' und 'meekness' und den in 1249b22-25 auch s.E. erwähnten 'passions of the irrational soul', und meint: "Thus this last passage in the EE does give a standard for the exercise of the six virtues which are discussed in EE III and which are included in kalokagathia." (1992: 100). Tuozzo unterscheidet hier zwischen äußeren und inneren Aspekten jeweils ein und derselben Tugend: 1249bl6-19 und 1249b21-23 seien alternative Formulierungen ein und desselben Standards (s. Tuozzo 1995b: 143).

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zugleich der Standard für jene Aktualitätsstruktur. Der Umgang mit jenen Gütern ist nun aber in dem Fall der beste — und in dem Fall ist der Standard der schönste —, in dem die theoria theou, d.h. die Betrachtung des Gottes, und damit jene Aktualitätsstruktur am meisten gefördert wird. Die am meisten 'förderungswürdige' Aktualitätsstruktur kann aber nur jene sein, die im Fall von eudaimonia vorliegt. Das heißt nun aber auch, daß eudaimonia der EE zufolge wesentlich auf die Betrachtung des theos hin bezogen zu sein scheint. (3.6) Die Ansicht, unser Text beziehe sich auf den Umgang mit überflüssigen bloß guten Dingen, ließe sich etwa auch so formulieren: 'wenn wir das und das getan haben (charakterlich tugendhafte Handlungen vollzogen haben) und dann noch einige bloß gute Dinge übrig sind, dann können diese uns zur Unterstützung theoretischer Aktivität dienen.' Dem läßt sich mit der Frage begegnen, wann es denn der Fall sein soll, daß wir charakterlich tugendhaft gehandelt haben (oder: charakterlich tugendhaft aktual gewesen sind) und davon die Rede sein kann, bestimmte bloß gute Dinge seien für andere Aktivitäten übrig. Eine entsprechende Situation dürfte sich kaum jemals ergeben: es ist wenig plausibel anzunehmen, bloß gute Dinge ließen sich irgendwann einmal nicht für charakterlich tugendhafte Handlungen einsetzen. Und es ist ebensowenig plausibel anzunehmen, charakterlich tugendhafte Aktualität hätte in sich selbst eine (nicht willkürliche) Begrenzung, so daß irgendwann einmal davon die Rede sein könnte, jetzt sei charakterlich tugendhafte Aktualität vollbracht. Fassen wir das zusammen. Im vorliegenden Abschnitt geht es um die Klarheit des Standards für den Umgang mit den bloß guten Dingen. An der Behandlung der Frage, worin dieser Standard besteht, läßt sich etwas für die Aktualität ablesen, die der eudaimonia entspricht. Folgende Voraussetzung darf dem Gesagten zufolge gemacht werden: die am meisten förderungswürdige Aktualität ist sowohl die des Wirklich-Guten als auch die des Schönen-und-Guten wie schließlich auch die des Glücklichen — weil es nämlich (so schon die Quintessenz des vorausgehenden Abschnitts) nur eine solche Aktualiät geben kann. Innerhalb dieser Aktualität scheint die dem 'Verehren' korrespondierende Aktualität des charakterlich tugendhaften Handelns so eingeordnet zu sein, daß sie ihrerseits unterstützende Funktion hat, und zwar gegenüber der Aktualität des theoretischen Bereichs. Danach scheint unser Abschnitt für die Frage, was der EE zufolge eudaimonia ist, dann aber das auszutragen, daß eudaimonia wesentlich auf die Betrachtung des theos ausgerichtet ist, weil nämlich der theos das ist, worauf diejenige Beschäftigung gerichtet ist, deren Erfolg den Standard für den Umgang mit den bloß guten Dingen setzt.152 152

Eine Verbindung zwischen dem Abschnitt 1249a21-b25 und eudaimonia wurde — wenn der Anschein nicht trügt — schon in der Antike angenommen, nämlich in der De AnimaParaphrase von Themistius (4.Jh. n.Chr.). Themistius kommentiert hier jene Stelle aus De Anima, in der, wie in EE 1249bl5 (und wie nirgends in der NE), vom zweifachen Ziel bzw. 'um wessentwillen' die Rede ist, nämlich An. II 4, 415b2f. Dort heißt es: 'das um wessentwil-

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6. Die EE Vili 3 zugrundeliegende Theorie der

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eudaimonia

Greifen wir abschließend einige Punkte der Theorie auf, die dem Kapitel EE VIII 3 zugrunde zu liegen scheint. Leitendes Prinzip bei der Erstellung dieser Theorie ist das principle of charity : bestimmte Dinge, die Aristoteles sagt, implizieren bestimmte andere Dinge, die nicht zur Sprache kommen, gleichwohl aber die systematische Grundlage für erstere bilden. Wohlwollen läßt uns annehmen, Aristoteles sei sich dessen bewußt gewesen. Interesse läßt uns nach dieser Theorie fragen, weil sie es ist, die etwas für die Frage austrägt, worin — der EE zufolge — eudaimonia besteht. Nach der Behandlung der einzelnen Tugenden soll, so die EE, die Tugendaus-diesen entwickelt werden, nämlich die kalokagathia (oder: das Schön-undGut-Sein). Zuerst geht es dabei um die Frage, worin sie besteht bzw. wodurch sie sich auszeichnet (1248b8-1249a21). Dann geht es um die Frage, wie sie mit bestimmten Dingen umgeht, oder genauer: wie für die Aktualität, deren Art und Weise des Gegebenseins sie ist, mit jenen Dingen umzugehen ist (1249a21-b23). Tugend ist Tugend von etwas: sie ist die Art und Weise des Gegebenseins von Aktualität, kalokagathia ist zielhafte Tugend, d.h. eine zielhafte Art und Weise des Gegebenseins von Akualität. Aktualität ist der wesentliche Bezugspunkt für die Rede von Tugend. Aktualität ist zugleich Aktualität von etwas. Im vorliegenden Fall geht es um die Aktualität, die für etwas wesentlich ist, d.h. um die Aktualität eines Individuums einer bestimmten Art, und zwar dieses Individuums als solchen. Als wesentliche Aktualität eines Individuums zeichnet sie sich dadurch aus, daß es von ihr nur eine geben kann — was so zu verstehen sei, daß sie Einheit besitzen muß. Das setzt voraus, daß sie als die Aktualität dieses Individuums in einer bestimmten Weise strukturiert ist, nämlich so, daß die Einheit des Individuums garantiert ist. Dies wäre bei der Annahme etwa zweier verschiedener, voneinander unabhängiger und eventuell sogar konkurrierender Aktualitätsbereiche des Individuums nicht gewährleistet. Vielmehr müssen, damit die Einheit der Aktualität gewährleistet ist, die Bereiche in einem bestimmten Verhältnis

len ist in zweifacher Weise aufzufassen: in der einen Weise als weshalb, in der anderen als wofür.' Themistius kommentiert dies wie folgt: "Wie auch in den Ethiken gesagt, ist 'Ziel' in zweifacher Weise aufzufassen: im einen Sinn ist eudaimonia das 'weshalb', im andern Sinn ist jeder selbst für sich selbst das 'wofür'. Denn auch die eudaimonia wählt man seiner selbst wegen, d.h. um sie sich selbst zu verschaffen — wie auch bei der Heilkunst die Gesundheit 'weshalb' ist, 'wofür' aber ist: 'für den Kranken'; und so muß man nun auch im Fall der Natur diese Zweiheit des Ziels annehmen, und das eine ist das 'weshalb' — dies, so ist zu sagen, sei das Göttliche und das Ewige —, und das andere ist das 'wofür' — dies, so ist zu sagen, sei das Belebte und das, das sich im Werden befindet. Denn die Natur will diesem ein Bild von Göttlichkeit und Ewigkeit verschaffen, soweit es möglich ist." (S. in De An. CAG V/3 50.1119; auf die Stelle verweist Fritzsche).

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zueinander stehen: Einheit der Aktualität ist nur gegeben, wenn sie 'zusammenstimmt' . Voraussetzung dafür ist, daß die Aktualität in jeder relevanten Hinsicht zielhaft ist. (Deshalb kann, wenn dies gegeben ist, mit Blick auf die Art und Weise des Gegebenseins der Aktualität von 'zielhafter Tugend' die Rede sein. 'Zielhafte Tugend' ist aber wiederum das Defmiens für kalokagathia.) Dies ist nur möglich, wenn die verschiedenen Bereiche oder Teile der Aktualität (in der Weise, wie sie gegeben sind) ein Ganzes bilden: nur dieses zeichnet sich, im Unterschied etwa zu einem bloßen Konglomerat, dadurch aus, daß es eines ist. Voraussetzung dafür ist, daß es seine Teile in einer bestimmten Weise hat, nämlich so, daß sie sich auf dieselbe Weise verhalten wie das Ganze: es färbt vom Ganzen in gewisser Hinsicht etwas auf seine Teile ab. Bei diesem Ganzen soll es sich also um die zielhafte Art und Weise des Gegebenseins von Akualität handeln. Nur bei dieser Aktualität ist Einheit gegeben. Sie wird, anders als die Aktualität etwa des Spartaners, nicht durch etwas ihr nicht Wesentliches aufgespalten, weil sie auf solches nicht gerichtet ist. Dies impliziert einen Perspektivwechsel auf das, was Tugend ist: sie wird (auf Charaktertugend bezogen gesagt) — als Teil des Ganzen, der sich auf dieselbe Weise verhält wie das Ganze — nicht mehr nur als etwas Gutes betrachtet, sofern dies darin besteht, daß bestimmte Bereiche des Arationalen in bestimmter Weise habituiert sind. Sie wird vielmehr als etwas Schönes betrachtet, sofern dies darin besteht, daß tugendhaftes Handeln Verwirklichung des Schönen ist. Daß das Schöne diesen Theorieanteil zu tragen bekommt, ist darauf zurückzuführen, daß es dasjenige ist, welches das Neue auszumachen scheint, das mit der Rede vom Verhältnis von Teil und Ganzem und dem dazu gehörenden Perspektivwechsel auf das, was Tugend ist, verbunden ist. Das Schöne sollte aber — dem vorigen Kapitel zufolge — in einer bestimmten intellektiven Aktualität bestehen. Es ist dasjenige unter den wählbaren Dingen, welches unter allen Umständen wählbar ist — was Aristoteles so zu verstehen scheint, daß es etwas zu Wählendes ist. (Zu beachten ist hier, daß die in diesen Kontext gehörende Rede vom 'Lobbar-Sein' schöner Dinge eine der Einfachheit halber gewählte Kennzeichnung ist, nicht die Angabe einer wesentlichen Eigenschaft schöner Dinge, die zudem auch noch ein Hinweis auf eine etwaige altruistische Ausrichtung der in Frage stehenden Aktualität wäre.) Soweit war von der Aktualitätsstruktur die Rede, sofern es um ihre Einheit ging. Ihre Einheit hing wesentlich mit der Art und Weise ihrer Gegebenheit zusammen. Nun ist Aktualität aber notwendig auf irgendetwas gerichtet oder mit irgendetwas beschäftigt: absolute Aktualität gibt es — im Fall des Menschen — nicht. Aristoteles führt den Gegenstand dieser Aktualität gewissermaßen über einen Umweg ein, nämlich über die Frage, wie sich jemand, der wirklich gut ist, zu bestimmten Gütern verhalten soll: es geht um Klarheit über den Standard für den Umgang mit diesen Gütern. Kriterium ist hierfür die erfolgreiche Beschäfti-

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gung mit einem bestimmten Gegenstand, die durch den Umgang mit jenen Gütern (als notwendige Voraussetzung) zustande gebracht werden soll. Umsetzungsinstanz ist die Klugheit. Bei dem in Frage stehenden Gegenstand handelt es sich um den unbewegten Beweger. Dieser ist zum einen das Schönste, womit sich Menschen beschäftigen können. Zum andern greift jede theoretische Beschäftigung, die nicht auch eine Beschäftigung mit dem Prinzip ihres jeweiligen Gegenstandes als Möglichkeit oder Bedarf vorsieht, zu kurz; dieses Prinzip ist aber — letztlich — der unbewegte Beweger. Auf den unbewegten Beweger ist die eine Aktualität des 'wirklich guten' Menschen bezogen. Alles andere, insbesondere auch charakterlich tugendhafte Aktualität, ist dem untergeordnet: Charaktertugend soll dafür sorgen, daß der Bereich, für den sie zuständig ist, sowenig wie möglich als etwas wahrgenommen wird, was sich von der Aktualität unterscheidet, für die der Standard für den Umgang mit den lediglich guten Dingen der schönste ist. Charakterlich tugendhaftes Handeln soll — wie auch die Betrachtung des theos — durch den Umgang mit jenen guten Dingen nicht behindert werden. Den schönsten Standard für diesen Umgang bildet aber die Beschäftigung mit dem unbewegten Beweger und diese ist aktiv durch jene Güter in höchstmöglichem Maß zu fördern. Von dem Gerichtet-Sein auf den unbewegten Beweger hängt wesentlich die Schönheit menschlicher Aktualität ab. (S. dazu die Zusammenfassung zum vorigen Kapitel.) Es steht nicht zu erwarten, daß es sich im Fall des Erfüllens jenes Standards, d.h. im Fall der Beschäftigung mit dem unbewegten Beweger, um etwas anderes als das Schönste handelte, d.h. um etwas anderes als eudaimortia. Dies steht aus folgendem Grund nicht zu erwarten: der 'wirklich Gute', d.h. der spoudaios, zeichnet sich dadurch aus, daß er die Tugend besitzt, die für ihn als das, was er ist, spezifisch ist: die Art und Weise des Gegebenseins seiner Aktualität ist zielhaft, d.h. er ist schön-und-gut, und sie soll zudem auf Kontinuität angelegt sein (was sich aus der Explikation seiner Aktualitätsstruktur ergibt). Für den Schönen-und-Guten gilt aber, daß ihm dieselben Eigenschaften zukommen wie dem Glücklichen. Dann ist aber nicht zu erwarten, daß es sich bei dem schönsten Standard für den Umgang mit den lediglich guten Dingen im Fall des Wirklich-Guten und im Fall des Glücklichen um verschiedene Standards handelt. Danach ist eudaimonia in der EE wesentlich auf die Betrachtung des unbewegten Bewegers gerichtet, und zwar so, daß diese Betrachtung für die Aktualität, die für eudaimonia konstitutiv ist, etwas bildet, das dem Schlußstein eines Bogens oder Gewölbes vergleichbar ist.

Anhang: Lesartabweichungen gegenüber dem OCT

Im folgenden werden die Lesartabweichungen gegenüber dem Haupttext des OCT bzw. Vorschläge dazu aufgelistet, die in der vorliegenden Abhandlung diskutiert oder angeführt werden (die eingeklammerten Ziffern geben die relevanten Seitenzahlen an). Wenn andere eventuell strittige Lesarten des OCT hier nicht angeführt sind, so ist dies nicht notwendigerweise als Ausdruck meines Einverständnisses mit ihnen zu werten. Zum OCT hinzuzuziehen sind ferner insbesondere Margueritte (1930), Hall (1959), Wagner (1970) und Barnes (1992). 1214a6 1214b7 1214b34f. 1215a2