Die theologische Deutung des Todes bei Emanuel Hirsch: Eine systematisch-theologische Analyse mit einem Ausblick auf gegenwärtige glaubenspraktische Fragen 9783161556579, 9783161562235, 3161556577

Emanuel Hirschs theologischer Ansatz zeichnet sich durch das Bestreben aus, evangeliumsgemäß und zugleich den Bedingunge

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German Pages 468 [471] Year 2018

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Die theologische Deutung des Todes bei Emanuel Hirsch: Eine systematisch-theologische Analyse mit einem Ausblick auf gegenwärtige glaubenspraktische Fragen
 9783161556579, 9783161562235, 3161556577

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Siglen für die Schriften Hirschs
Einleitung: Die „Nacht, die wir nicht erhellen können“
Grundlegung: Die „bildlose Nacht“ – der eschatologische Rahmen der Todesdeutung
1 Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie
1.A Die modernen Herausforderungen der Eschatologie: Die ‚Umformungskrise‘ des Christentums
a) Die Stellung der Religion in der Moderne
b) Die Rationalisierung des menschlichen Lebens und die Krise des Christentums
c) Der Status der Eschatologie: Die „Nacht der Bildlosigkeit“
d) Résumé: Die Aufgabe der Theologie
1.B Die Berechtigung der Eschatologie: Argumente für die menschliche Ewigkeitsbezogenheit
a) Die wahrheitstheoretische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit
b) Die ethische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit
Exkurs: Die Ablösung der Seelen- durch die Herzensmetapher
c) Ewigkeit als Grund und Grenze der Zeit
1.C Die Methode der Eschatologie: Die Umformung der christlichen Überlieferung
a) Theologie als christliche Rechenschaft
b) Die ständige Aufgabe der Theologie: Die Herausarbeitung des Wesens des Christentums
c) Zwischenrésumé: Der Zusammenhang zwischen Gegenwartsdiagnose und theologischem Programm
d) Die methodische Selbstbegrenzung in der Eschatologie
2 Die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie: Die Gewissheit der Liebe Gottes
2.A Die Geheimnishaftigkeit der Offenbarung: Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Offenbarungsbegriffs
2.B Die Näherbestimmung der Liebe Gottes durch ihre Unerbittlichkeit
a) Die existenzialdialektische Verknüpfung des christlichen und des allgemein-menschlichen Gottesbildes
b) Das „Gesetz des Lebens“ und die Offenbarung der Liebe Gottes
c) Der zornige Gott: Gottes Verborgenheit unter dem Gesetz
2.C Die Gewissheit der Liebe Gottes im Glauben
a) Die unerfüllbare zwischenmenschliche Liebe und der Zweifel an der Liebe Gottes: Die Umformung der Sündenlehre
b) Liebesgewissheit: Der Glaube als Lebensmöglichkeit inmitten spannungsreicher Erfahrungen mit Menschen und Gott
c) Mit der Liebe gleichzeitig Werden: Die christologische Bestimmtheit des Glaubens
3 Die theologische Transformation der Eschatologie: Die Lehre vom Lebensende
3.A Die Hauptwidersprüche der traditionellen Eschatologie und ihre theologische Bedeutung
a) Der individuelle Tod und das Weltende
b) Die Auferstehung des Fleisches und die Unsterblichkeit der Seele
3.B Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Gerichtsgedankens
3.C Die Neuschöpfung und das innerliche Reich Gottes: Die präsentisch akzentuierte Eschatologie
a) Die Vollendung des Glaubens an den Schöpfer: Neuschöpfung im Glauben
b) Die Gestaltwerdung der Ewigkeit in der Zeit: Das Reich Gottes in der Innerlichkeit
c) Das eschatologische Geheimnis: Die Vollendung der Liebe Gottes
d) Résumé: Das Zusammenspiel von traditionell eschatologischen Momenten und Existenzanalyse
3.D Aussagemöglichkeiten im Bereich der futurischen Eschatologie
Hauptteil: Der Tod in der Spannung zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens
4 Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie
4.A Das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod als Zentrum der Eschatologie
4.B Das Todesthema in der ChR und im theologischen Spätwerk Hirschs: Die der Analyse zugrunde gelegten Quellen
5 Die „letzte Nacht“: Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung der Todesdeutung
5.A Das Zulaufen des Lebens auf den Tod
5.B Problematische Deutungen: Der Tod als Nichts und die Relativierung des Todes
5.C Die ideale Deutung: Der Tod als Offenbarungsmacht
5.D Die Todesangst und die Sehnsucht nach dem Leben
Exkurs: Der Begriff der Weltangst
Exkurs: Hirschs Todesdeutung im Rahmen der existenzphilosophischen Thanatologien Heideggers und Jaspers’
5.E Résumé: Die Spannungseinheit von Todes- und Ewigkeitsbewusstsein als Grund eines angemessenen Verständnisses menschlichen Lebens
6 Die „Hülle der Nacht“: Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung
6.A Das Leben und der Tod im Gottesverhältnis
a) Gott ist das Leben. Der Tod ist Gottgeschiedenheit
b) Gott tötet und macht lebendig
α) Die Argumentation gegen das Bild vom vergeltenden Gott: Der natürliche Tod
β) Der Glaube als Lebensmöglichkeit in der Spannung von Leben und Tod
γ) Die Doppeldeutigkeit des Todes: Vernichtung und Vollendung
6.B Die Macht des Todes im Leben: Der Stachel der Sünde
a) Todesähnliche Erfahrungen im Leben: Unglaube und Einsamkeit
b) Sündige Einstellungen zum Tod: Lebensgier und Lebensangst
Exkurs: Hirschs Interpretation und Anwendung des ethischen Arguments der Heiligkeit des Lebens
6.C Der Tod am Ende des Lebens: Der Sünde Sold?
a) Das Vergehen der Gottlosen im Tod
b) Tod als Verdammnis?
c) Allerlösung
d) Einordnung der verschiedenen Argumentationsfiguren
e) Résumé: Der bedingte Zusammenhang von Tod und Sünde
6.D Résumé: Die menschliche Sehnsucht nach dem Leben
7 Die „Nacht, welche alles Lichtes Fülle ist“: Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein
7.A Der Tod Jesu: Hingabe an Gott und Mensch
a) Jesus als Herr über Leben und Tod
b) Jesu Verhältnis zu seinem Tod
c) Das Kreuz Jesu – Jesus, der Versöhner
α) Die äußere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Der Gegensatz
β) Die innere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Die Aufhebung des Gesetzes
γ) Das Versöhnungsgeschehen
d) Kreuz und Auferstehung
7.B Die Vollendung des Glaubens im Tod
a) Wirklich mit Jesus sterben
b) Der Tod in der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium – was bleibt
c) Der Tod als Möglichkeit der Vollendung der Gotteskindschaft – was neu wird
d) Das Wesen des Glaubens als transitus – täglich sterben
Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten
8 Methodische Zwischenreflexion: Die Ausrichtung der systematischtheologischen Arbeit auf die Predigt
9 Die gegenwärtigen Herausforderungen für das theologische Reden vom Tod
9.A Kulturgeschichtliche Faktoren: Der veränderte Umgang mit dem Tod
9.B Gegenwartsdiagnostische Überlegungen: Zwischen Todesverdrängung und Sichtbarkeit des Todes
9.C Die Relevanz einer Predigt über den Tod: Spannungen aushalten
10 Möglichkeiten des Redens vom Tod: Drei Skizzen
10.A Sterben Lernen
a) Scham, Schuld, Scheitern und Tod: Die Angst vor der Nichtigkeit des Lebens wahrnehmen
b) Die Dialektik von Gericht und Gnade: Die Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens deuten
c) Das Leben vor dem Horizont des Todes gestalten
10.B Erinnerung und Vergegenwärtigung der Toten
a) Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten
b) Die Angst vor der gnadenlosen Erinnerung
c) Die Unvollkommenheit gelebten Lebens und seiner Beziehungen
10.C Todesangst und Weltende
a) Die Todesangst als Angst des Menschen um sich selbst
b) Das Leben vor dem Horizont des Weltendes
c) Die Angst vor dem Weltende als Angst des Menschen um sich selbst
d) Theologische Konsequenzen – Die Uneigentlichkeit der Bildsprache
Literaturverzeichnis
Schriften Emanuel Hirschs
Sekundärliteratur zu Emanuel Hirsch
Weitere Literatur
Filme und Fernsehsendungen
Liedtexte
Websites
Hilfsmittel
Namensregister
Sachregister

Citation preview

Dogmatik in der Moderne herausgegeben von Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel

20

Anna-Maria Herta Klassen

Die theologische Deutung des Todes bei Emanuel Hirsch Eine systematisch-theologische Analyse mit einem Ausblick auf gegenwärtige glaubenspraktische Fragen

Mohr Siebeck

Anna-M aria Herta K lassen, geboren 1986; 2005–11 Studium der Ev. Theologie in Göttingen und Halle (Saale); 2011–15 Repetentin der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers; 2016 Promotion an der theologischen Fakultät der Universität Göttingen; derzeit Vikarin der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers.

ISBN 978-3-16-155657-9 / eISBN 978-3-16-156223-5 DOI 10.1628/978-3-16-156223-5 ISSN 1869-3962 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnbde abrufbar. © 2018  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­tung außer­halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und gebunden.

Vorwort Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dis­ sertation, die im Sommersemester 2016 unter dem Titel Die dunkelste Nacht. Die theologische Deutung des Todes bei Emanuel Hirsch. Eine systematischtheologische Analyse mit einem Ausblick auf gegenwärtige glaubenspraktische Fragen von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen wurde. Der erste Dank gebührt Frau Prof. Dr. Dr. h. c. Christine Axt‑Piscalar für die Betreuung der Arbeit, für die Freiheit, die sie mir bei der Wahl des Themas gelassen hat, und für die Diskussionen, in denen trotz einer durchaus unterschiedlichen Beurteilung der Theologie Hirschs eine stets an der Sache interessierte und produktive Gesprächskultur gepflegt wurde. Herrn Prof. Dr. Martin Laube danke ich für das Zweitgutachten zur Arbeit, Herrn Prof. Dr. Notger Slenczka für die Mitgliedschaft im Prüfungsausschuss. Herrn Prof. Dr. Christian Danz und Herrn Prof. Dr. Hans‑Peter Großhans danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Dogmatik in der Moderne. Danken möchte ich auch jenen Einrichtungen, die das Entstehen der Arbeit finanziell gefördert haben. Auf meiner Stelle als Repetentin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers am Evangelischen Studienhaus Göttingen hat mir Herr Dr. Michael Emmendörffer stets genug Freiraum für das eigene Forschen gegeben. Ein Abschlussstipendium der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen hat mir ermöglicht, die Arbeit vor Beginn meines Vikariats fertigzustellen. Der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers danke ich für die Zuschüsse zum Druck des vorliegenden Buches. Die Idee zur Arbeit hat in den Gesprächen mit meiner Doktormutter konkrete Gestalt angenommen. Dem lief ein längerer Prozess voraus, den verschiedene Menschen geprägt haben, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Meine Religionslehrerin Frau Regine Huppenbauer‑Krause hat mir bereits in der Schulzeit gezeigt, wie wichtig das religiöse und ethische Nachdenken über den Tod ist. Herr Dr. Claas Cordemann hat mich am Anfang meines Studiums nachhaltig für die Systematische Theologie begeistert. Herr Prof. Dr. Ulrich Barth und Herr Prof. Dr. Joachim Ringleben haben mich auf ihre je eigene Art und Weise

VI

Vorwort

an Hirschs Denken herangeführt. Ein Protokoll im Seminar Die Sehnsucht des Menschen nach Vollendung bei Prof. Dr. Ulrich Barth, eine Hausarbeit zu Hirschs Eschatologie bei meiner Doktormutter und meine Examensarbeit zu Pannenbergs Deutung des Todes bei Prof. Dr. Notger Slenczka haben mich inhaltlich und konzeptionell auf die Spur gebracht und die jeweiligen Rückmeldungen waren sehr hilfreich für die Arbeit am Thema. Während der Entstehung der Dissertation haben mich viele Menschen be­ gleitet und unterstützt. Zunächst danke ich den Mitgliedern der Doktorandenkolloquien von Frau Prof. Dr. Dr. h. c. Christine Axt-Piscalar und Herrn Prof. Dr. Martin Laube für die kritisch-konstruktive und ausführliche Diskussion verschiedener Abschnitte meiner Arbeit. Karl-Ludwig Tetzlaff, Oskar Hoffmann und Jan-Philipp Behr danke ich sehr für ihren großen Einsatz bei der Korrekturlese, für die hilfreichen kritischen Anstöße und für rege Gespräche. Dr. Matthias Wilke danke ich für den intensiven Austausch über Hirsch, der mich immer wieder motiviert hat, weiterzumachen. Sehr dankbar bin ich für die Unterstützung meiner Familie, die von aufbauenden Gesprächen an Tiefpunkten bis zur Pflege von Kind und Haushalt in arbeitsintensiven Zeiten reichte. Besonders danke ich meinem Mann Philipp Klassen, der in der ganzen Zeit mich und meine Launen ertragen hat, der mir immer ein guter theologischer Gesprächspartner war und für mich da war. Göttingen, Juli 2017

Anna-Maria Herta Klassen

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die „Nacht, die wir nicht erhellen können“ . . . . . . . . . 1

Grundlegung: Die „bildlose Nacht“ – der eschatologische Rahmen der Todesdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1 Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie . . . . . . 27 1.A Die modernen Herausforderungen der Eschatologie: Die ‚Umformungskrise‘ des Christentums . . . . . . . . . . 28 a) Die Stellung der Religion in der Moderne . . . . . . . . . 28 b) Die Rationalisierung des menschlichen Lebens und die Krise des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Der Status der Eschatologie: Die „Nacht der Bildlosigkeit“ 38 d) Résumé: Die Aufgabe der Theologie . . . . . . . . . . . . 43 1.B Die Berechtigung der Eschatologie: Argumente für die menschliche Ewigkeitsbezogenheit . . . . 44 a) Die wahrheitstheoretische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Die ethische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Exkurs: Die Ablösung der Seelen- durch die Herzensmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 c) Ewigkeit als Grund und Grenze der Zeit . . . . . . . . . . 59 1.C Die Methode der Eschatologie: Die Umformung der christlichen Überlieferung . . . . . . . 64 a) Theologie als christliche Rechenschaft . . . . . . . . . . . 64 b) Die ständige Aufgabe der Theologie: Die Herausarbeitung des Wesens des Christentums . . . . 69 c) Zwischenrésumé: Der Zusammenhang zwischen Gegenwartsdiagnose und theologischem Programm . . . 74 d) Die methodische Selbstbegrenzung in der Eschatologie . . 76 2 Die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie: Die Gewissheit der Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.A Die Geheimnishaftigkeit der Offenbarung: Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Offenbarungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.B Die Näherbestimmung der Liebe Gottes durch ihre Unerbittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Die existenzialdialektische Verknüpfung des christlichen und des allgemein‑menschlichen Gottesbildes . . . . . . . 91 b) Das „Gesetz des Lebens“ und die Offenbarung der Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Der zornige Gott: Gottes Verborgenheit unter dem Gesetz 101 2.C Die Gewissheit der Liebe Gottes im Glauben . . . . . . . . . 105 a) Die unerfüllbare zwischenmenschliche Liebe und der Zweifel an der Liebe Gottes: Die Umformung der Sündenlehre . . . . . . . . . . . . . 106 b) Liebesgewissheit: Der Glaube als Lebensmöglichkeit inmitten spannungsreicher Erfahrungen mit Menschen und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Mit der Liebe gleichzeitig Werden: Die christologische Bestimmtheit des Glaubens . . . . . . 115 3 Die theologische Transformation der Eschatologie: Die Lehre vom Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.A Die Hauptwidersprüche der traditionellen Eschatologie und ihre theologische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Der individuelle Tod und das Weltende . . . . . . . . . . 126 b) Die Auferstehung des Fleisches und die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3.B Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Gerichtsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.C Die Neuschöpfung und das innerliche Reich Gottes: Die präsentisch akzentuierte Eschatologie . . . . . . . . . . 146 a) Die Vollendung des Glaubens an den Schöpfer: Neuschöpfung im Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Die Gestaltwerdung der Ewigkeit in der Zeit: Das Reich Gottes in der Innerlichkeit . . . . . . . . . . . 149 c) Das eschatologische Geheimnis: Die Vollendung der Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . 153 d) Résumé: Das Zusammenspiel von traditionell eschatologischen Momenten und Existenzanalyse . . . . . 157

Inhaltsverzeichnis

IX

3.D Aussagemöglichkeiten im Bereich der futurischen Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Hauptteil: Der Tod in der Spannung zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4 Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie . . . . . . . . . 169 4.A Das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod als Zentrum der Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.B Das Todesthema in der ChR und im theologischen Spätwerk Hirschs: Die der Analyse zugrunde gelegten Quellen . . . . 174 5 Die „letzte Nacht“: Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung der Todesdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.A Das Zulaufen des Lebens auf den Tod . . . . . . . . . . . . . 180 5.B Problematische Deutungen: Der Tod als Nichts und die Relativierung des Todes . . . . . 183 5.C Die ideale Deutung: Der Tod als Offenbarungsmacht . . . . 188 5.D Die Todesangst und die Sehnsucht nach dem Leben . . . . . 192 Exkurs: Der Begriff der Weltangst . . . . . . . . . . . . . . 196 Exkurs: Hirschs Todesdeutung im Rahmen der existenzphilosophischen Thanatologien Heideggers und Jaspers’ . . 201 5.E Résumé: Die Spannungseinheit von Todes- und Ewigkeitsbewusstsein als Grund eines angemessenen Verständnisses menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 6 Die „Hülle der Nacht“: Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.A Das Leben und der Tod im Gottesverhältnis . . . . . . . . . 216 a) Gott ist das Leben. Der Tod ist Gottgeschiedenheit . . . . 216 b) Gott tötet und macht lebendig . . . . . . . . . . . . . . . 220 α) Die Argumentation gegen das Bild vom vergeltenden Gott: Der natürliche Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 β) Der Glaube als Lebensmöglichkeit in der Spannung von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 γ) Die Doppeldeutigkeit des Todes: Vernichtung und Vollendung . . . . . . . . . . . . . . 229 6.B Die Macht des Todes im Leben: Der Stachel der Sünde . . . 232 a) Todesähnliche Erfahrungen im Leben: Unglaube und Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Sündige Einstellungen zum Tod: Lebensgier und Lebensangst . . . . . . . . . . . . . . . . 235

X

Inhaltsverzeichnis

Exkurs: Hirschs Interpretation und Anwendung des ethischen Arguments der Heiligkeit des Lebens . . . . . . 238 6.C Der Tod am Ende des Lebens: Der Sünde Sold? . . . . . . . 242 a) Das Vergehen der Gottlosen im Tod . . . . . . . . . . . . 243 b) Tod als Verdammnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 c) Allerlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 d) Einordnung der verschiedenen Argumentationsfiguren . . 254 e) Résumé: Der bedingte Zusammenhang von Tod und Sünde 260 6.D Résumé: Die menschliche Sehnsucht nach dem Leben . . . . 262 7 Die „Nacht, welche alles Lichtes Fülle ist“: Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7.A Der Tod Jesu: Hingabe an Gott und Mensch . . . . . . . . . 268 a) Jesus als Herr über Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . 269 b) Jesu Verhältnis zu seinem Tod . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Das Kreuz Jesu – Jesus, der Versöhner . . . . . . . . . . 280 α) Die äußere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Der Gegensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 β) Die innere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Die Aufhebung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . 284 γ) Das Versöhnungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . 288 d) Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7.B Die Vollendung des Glaubens im Tod . . . . . . . . . . . . . 299 a) Wirklich mit Jesus sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b) Der Tod in der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium – was bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 c) Der Tod als Möglichkeit der Vollendung der Gotteskindschaft – was neu wird . . . . . . . . . . . . . . 305 d) Das Wesen des Glaubens als transitus – täglich sterben . . 309

Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten . . . . . . . 317 8 Methodische Zwischenreflexion: Die Ausrichtung der systematischtheologischen Arbeit auf die Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . 319 9 Die gegenwärtigen Herausforderungen für das theologische Reden vom Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 9.A Kulturgeschichtliche Faktoren: Der veränderte Umgang mit dem Tod . . . . . . . . . . . . . 327 9.B Gegenwartsdiagnostische Überlegungen: Zwischen Todesverdrängung und Sichtbarkeit des Todes . . . 335

Inhaltsverzeichnis

XI

9.C Die Relevanz einer Predigt über den Tod: Spannungen aushalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 10 Möglichkeiten des Redens vom Tod: Drei Skizzen . . . . . . . . . 353 10.A Sterben Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 a) Scham, Schuld, Scheitern und Tod: Die Angst vor der Nichtigkeit des Lebens wahrnehmen . . 358 b) Die Dialektik von Gericht und Gnade: Die Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens deuten 366 c) Das Leben vor dem Horizont des Todes gestalten . . . . . 382 10.B Erinnerung und Vergegenwärtigung der Toten . . . . . . . . 385 a) Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten . . . . . . . 387 b) Die Angst vor der gnadenlosen Erinnerung . . . . . . . . 392 c) Die Unvollkommenheit gelebten Lebens und seiner Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 10.C Todesangst und Weltende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 a) Die Todesangst als Angst des Menschen um sich selbst . . 406 b) Das Leben vor dem Horizont des Weltendes . . . . . . . . 410 c) Die Angst vor dem Weltende als Angst des Menschen um sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 d) Theologische Konsequenzen – Die Uneigentlichkeit der Bildsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Schriften Emanuel Hirschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Sekundärliteratur zu Emanuel Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Filme und Fernsehsendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Liedtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Websites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Siglen für die Schriften Hirschs Ag Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube CF Christliche Freiheit und politische Bindung ChR I Christliche Rechenschaft I ChR II Christliche Rechenschaft II EE Ethos und Evangelium Eg Ewigkeitsglaube GG Das Gericht Gottes GGL Die gegenwärtige geistige Lage HchR Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie HD Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik KS 2 Kierkegaard-Studien 2 KS 3 Kierkegaard-Studien 3 Lf Leitfaden zur christlichen Lehre LS 1 Lutherstudien Bd.  1 Og Osterglaube Pf Predigerfibel RGB Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens SuS Schöpfung und Sünde WCh Das Wesen des Christentums WGJ Betrachtungen zu Wort und Geschichte Jesu WrCh Das Wesen des reformatorischen Christentums WuG Weltbewußtsein und Glaubensgeheimnis Zw Zwiesprache auf dem Wege zu Gott VZ Verkündigung und Zwiesprache

Einleitung: Die „Nacht, die wir nicht erhellen können“ „Der Tod ist ein Eingehen in eine Nacht, die wir nicht erhellen können. Wir wissen heute, daß jede Aussage (auch die, mit ihm sei alles aus!) eine Überschreitung der Grenzen unseres Wissens ist.“1 – Mit dieser Feststellung rekurriert der Theologe Emanuel Hirsch auf die seit der Aufklärung kultivierte und im 20. Jh. selbstverständlich gewordene Einsicht, dass der Tod kein Bestandteil menschlichen Erfahrungswissens ist. Er ist somit der erkenntnistheoretischen Einschränkung unterworfen, einer wissensmäßigen Aussage unzugänglich zu sein: Über den Tod selbst kann niemand Auskunft geben; keiner, der davon erzählen könnte, hat ihn erlebt. Er stellt sich für den Menschen dar, als dunkle, durch das aufklärerisch gepriesene Licht der Vernunft nicht zu erhellende Nacht, als „dunkle[s] Geheimnis[ ]“2. Selbst die äußerst rational anmutende Erklärung, der Tod bedeute das absolute Ende des Menschen, kann sich auf kein Erfahrungswissen ‚aus erster Hand‘ stützen, sondern ist von einer allein biologischen Definition des Lebens3 und der Erfahrung der Hinterbliebenen abhängig, die den toten Körper nicht mehr als Person wahrnehmen können.4 1 

ChR II, 244. ChR II, 240. 3  Einige Vertreter der gegenwärtigen Bioethik und Philosophie, wie z. B. Dieter Birnbacher, vertreten im Gegenzug zu der Annahme, dass ‚Leben‘ mehr meint, als die biologische Definition zu greifen vermag, den Standpunkt, dass Leben und Tod biologische Begriffe seien – die „Einfachheit und Eindeutigkeit“ dieser Definition sei gegenüber einer „Verdoppelung“ der Begriffe vorzuziehen (Birnbacher, D.: Das Hirntodkriterium in der Krise – welche Todesdefinition ist angemessen?, in: Esser, A. M./K ersting, D./Schäfer, C. (Hgg.): Welchen Tod stirbt der Mensch? Philosophische Kontroversen zur Definition und Bedeutung des Todes, Frankfurt a. M. 2012, 19–40, hier: 26). Für den bioethischen Diskurs um die Hirntoddebatte mag eine solche Eindeutigkeit im Sinne eines Minimalkonsenses (vgl. Wittwer, H.: Überlegungen zum Begriff des personalen Todes, in: Esser /K ersting/Schäfer: Welchen Tod stirbt der Mensch, 41–70, hier: 44 f.) hilfreich sein, allerdings entspricht sie m. E. der vielfältigen und teilweise metaphorischen Verwendungsweise der Begriffe nicht. Die theologische Perspektive auf Leben und Tod hält demgegenüber ihrem Wesen nach an einer solchen Verdoppelung des Lebensbegriffs fest, die daraus resultiert, dass Leben auf der Ebene der Gottbezogenheit des Geschöpfs über seine rein biologische Bedeutung hinaus als relationaler Begriff verstanden werden muss. Von dorther ergibt sich auch theologisch der Zugang zu einer personalen Dimension des Lebensbegriffs. Wie in der vorliegenden Arbeit ausgeführt 2 

2

Einleitung

Die ernüchternde Feststellung, über den Tod nicht reden zu können, mag zu der Haltung führen, sich damit abzufinden und eben über den Tod nicht zu reden, sondern sich – ganz im Sinne Epikurs5 – dem Leben zuzuwenden. Ob diese als Todesverdrängung kritisierte Einstellung dem gegenwärtigen Menschen pauschalisierend zuzuschreiben ist, ist angesichts der auch im 20. Jh. und zu Beginn des 21. Jh. nicht abbrechenden, komplexen, sich durch verschiedene Lebens- und Denkbereiche ziehenden Diskurse über den Tod zu bezweifeln.6 Das Todesbewusstsein des Menschen, das – unabhängig davon, ob es sich als „intuitive“7 Gewissheit einstellt, ob es durch das menschliche Zeitbewusstsein zustande kommt, ob es durch die Erfahrung des Todes eines anderen hervorgerufen wird, ob es sozial generiert ist, ob es mit der Erkenntnis der Kontingenz des Daseins oder mit dem Endlichkeitsbewusstsein des Menschen einhergeht8 – zum Wesen des Menschen gehört, scheint die menschliche Existenz bzw. den Lebenssinn so grundlegend zu verunsichern, dass das Fragen danach, was denn nun der Tod eigentlich sei, sich unermüdlich durch die Geschichte der Menschheit zieht9 – obwohl eine im Sinne einer empirischen Beweisbarkeit letztlich befriedigende Antwort aussichtslos ist.

(s. u., 1.B.b, 51 ff.; 5.A, 180 ff.; 6.C.a, 243 ff.), unterscheidet Hirsch dementsprechend zwischen kreatürlichem „Dasein“ und personalem, gottbezogenem „Leben“, zwischen kreatürlichem „Vergehen“ und personalem, gottbegegnendem Sterben bzw. Tod. 4  Vgl. die philosophische und phänomenologische Auseinandersetzung mit der als geistigem Allgemeingut angenommenen Absolutsetzung des biologischen Todesbegriffs bei Scherer, G.: Art. Tod VIII. Philosophisch, in: TRE 33, Berlin/New York 2002, 629–635, hier: 632–634. Scherer führt verschiedene phänomenologische Aspekte am Tod des Anderen an, die auf die Möglichkeit des Nichtseins schließen lassen: „Die genannten Todesphänomene der Verdinglichung, der Verhältnislosigkeit, des Entzuges von Sinn und der persönliche Weltuntergang lassen sich im Verlust des Seins zusammenfassen.“ (A. a. O., 634.) Er kommt aufgrund dessen, dass die eigentliche Todeserfahrung dem Lebenden entzogen ist, zu dem Schluss: „Daraus, daß unsere zeitliche Lebensgestalt im Tod an ihr definitives Ende kommt, folgt nichts hinsichtlich der Frage, ob es begründete Argumente für die Hoffnung auf eine Vollendung des Menschen jenseits der Todesgrenze gibt.“ (Ebd.). 5  „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ (Brief an Menoikeus, 125). 6  Zur Diskussion um die sog. Todesverdrängungsthese s. u., 9.B, 335 ff. 7  Scheler , M.: Tod und Fortleben, in: Ders.: Schriften aus dem Nachlass I. Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von M. Scheler, Bern 2 1957, 9–64, hier: 16 u.ö. 8  Vgl. die Darstellung und Diskussion der verschiedenen erkenntnistheoretischen Möglichkeiten für die Entstehung des Todesbewusstseins bei: Nassehi, A./Weber, G.: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989, 19–52. 9  Vgl. zu einem einführenden Überblick: Gehring, P.: Theorien des Todes zur Einfüh-

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Das Ergebnis liegt, unter den Bedingungen der Pluralisierung und Individualisierung,10 in einer Vielzahl von Deutungen des Todes, die sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der gesellschaftlichen Kommunikation eine Rolle spielen. Wird vom Tod geredet, erklärt sich nicht von selbst, was damit gemeint ist: Ist es der natürliche Tod, der biologische Tod, der klinische Tod, der Hirntod, der Organtod, der personale Tod, der soziale Tod, der selbstbestimmte Tod, der in die Ohnmacht treibende Tod, der Lebensmöglichkeiten eröffnende Tod, der Sünden- und Gerichtstod, der ewige Tod, der erlösende Tod, der Tod

rung, Hamburg 2010; Wittwer, H./Schäfer, D./Frewer, A. (Hgg.): Sterben und Tod. Geschichte, Theorie, Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011. 10  Hirsch selbst operiert in seinen zeitdiagnostischen Ausführungen mit dem Begriff der Moderne. Von seiner Zeit ist unsere Gegenwart so unterschieden, dass die von ihm diagnostizierten Elemente – die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Bereiche, die Ökonomisierung, die Rationalisierung, der Plausibilitätsverlust der christlichen Tradition, die religiöse und weltanschauliche Pluralisierung und Individualisierung (s. u., 1.A, 28 ff.) – radikalisiert sind. In der vorliegenden Arbeit wird auf eine adäquate Bezeichnung für unsere Gegenwart – die eine ausführliche Auseinandersetzung um die alternativen, schillernden Kategorien der Moderne, der Postmoderne (vgl. weiterführend Welsch, W.: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 51997) und der Spätmoderne voraussetzen würde – verzichtet und es wird sich auf eine Beschreibung der für den gegenwärtigen Umgang mit dem Tod entscheidenden Strukturelemente – seien sie nun typisch modern, postmodern oder spätmodern – beschränkt. Am ehesten decken sich die hier getätigten Annahmen mit dem zeitdiagnostischen – v. a. in der zeitgenössischen Praktischen Theologie populären – Begriff der Spätmoderne, mit dem unsere Gegenwart entgegen postmoderner Konzeptionen nicht als eine der Moderne entgegenstehende, sondern deren Tendenzen aufnehmende und zuspitzende verstanden wird und die Idee eines ganzheitlichen Subjekts nicht aber die Idee des Subjekts an sich in Frage gestellt wird. Kennzeichen sind vor allem „eine sich immer stärker pluralisierende Gesellschaft“, in der die „ausdifferenzierten Funktionslogiken der verschiedenen Teilsysteme“ dazu tendieren „auf andere Lebensbereiche überzugreifen“. „Dabei ist es insbesondere die Ökonomie, die gesamtgesellschaftlich zur Leitwährung zu werden droht und damit andere Leitorientierungen jenseits des Nutzen-Kalküls an den Rand drängt. Die Pluralität der spätmodernen Lebenswelt wird durch die Logik instrumentellen Handelns fortwährend nivelliert und dementiert […]. Dies bleibt der innere Widerstreit der fortgeschrittenen Moderne.“ (Fechtner, K.: Kirche und Gesellschaft, in: Gräb, W./Weyel, B. (Hgg.): Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 89–100, hier: 93.) Das „zweite[ ] Kennzeichen der Spätmoderne“ ist die radikale „Individualisierung“, mit der die individuelle Lebensgestaltung aus dem institutionellen Rahmen gelöst ist und die Herstellung von Identität zu einer „individuell zu verantwortende[n] Aufgabe“ wird. Die Individuen bilden dabei „das Bindeglied“ zwischen den verschiedenen Teilsystemen und agieren nicht „als ‚Ganze‘“, sondern in systemspezifischen Rollen. „Im gesellschaftlichen Leben der Moderne ist die Integration des Individuums notwendig unvollständig. Zugleich aber tendieren die Logiken der gesellschaftlichen Systeme dazu, auf das Individuum in allen seinen Lebensäußerungen durchzugreifen, um sie zu integrieren.“ (A. a. O., 94.)

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des Leibes, der Tod des ganzen Menschen, der das Leben abbrechende Tod oder der das Leben positiv begrenzende oder es gar vollendende Tod11? Die gegenwärtige Theologie sieht sich vor die Herausforderung gestellt, einerseits ihre eigene, sie von den anderen Deutungen unterscheidende Sicht auf den Tod herauszuarbeiten, andererseits sich die Komplexität der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurse so zu eigen zu machen, dass sich ihr Beitrag für die Lebensdeutung des im jeweiligen Diskursfeld stehenden Menschen als relevant erweist. Sie sieht sich dabei nicht nur durch den Umstand motiviert, dass das als anthropologische Konstante angenommene Sterblichkeitsbewusstsein und dessen irritierende Wirkung auf den menschlichen Lebensvollzug eine wichtige Anknüpfungsmöglichkeit bildet. – Dabei dürfte das empirische Ergebnis, dass der Tod von vielen nach wie vor als religiöses Thema eingeschätzt wird12 , zusätzlichen Antrieb bieten. Die Theologie ist zudem nicht allein durch die der Glaubenspraxis des zeitgenössischen Menschen gestellten Probleme für den Umgang mit dem Tod gefordert. Sondern ihr ist das Thema umso mehr ein Anliegen, als es für die theologische Reflexion selbst zentral ist.13 Dem christlichen Glauben ist es wesentlich, dass er – im Christusgeschehen begründet – auf 11  Vor dem Hintergrund der vielfachen Verwendungsweise des Begriffs ist es schwierig von ‚dem Tod‘ zu sprechen, der Begriff des Todes muss eigentlich immer mit einem „qualifizierenden Zusatz verwendet werden“ (gegen die Feststellung, dass der Begriff üblicherweise nicht qualifiziert wird, bei Wittwer: Überlegungen, 41). 12 Vgl. Weyel, B.: Lebensdeutung. Die Bestattungspredigt in empirischer Perspektive, in: K lie, T. u. a. (Hgg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/München/Boston (Mass.) 2015, 121–140, hier: 121, die auf Grundlage der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD angibt, dass 68% der Befragten „den Tod als ein religiöses Thema benannt haben“. Vgl. K irchenamt der EKD (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis (V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft), Frankfurt a. M. 2014, 25: „Der Tod, die Entstehung der Welt und ethische Fragen im Umfeld des Lebensendes sind die Themen, die von den Befragten am stärksten als religiöse Themen verstanden werden.“ Nach dieser Untersuchung müsste der Tod wohl als das religiöse Thema schlechthin (vor dem Sinn des Lebens, der Natur usw.) gelten. 13 Vgl. Stock , E.: Art. Tod V. Dogmatisch, in: TRE 33, Berlin/New York 2002, 614–619, hier: 615–617, der mit den Themen „Tod und Auferstehung“, „Tod und Sünde“ und „Tod und ewiges Leben“ die christologische, die anthropologische und die eschatologische Dimension der theologischen Deutung des Todes beschreibt. Vgl. die pointierte, auf die an der Liturgie des Kirchenjahres sichtbare Gestalt des christlichen Glaubens abhebende Feststellung bei Schibilsky, M.: Art. Tod VII. Praktisch-theologisch, in: TRE 33, Berlin/New York 2002, 624–629, hier: 625: „Eine religiöse Kultur, die alljährlich sieben Wochen des Jahres zu Sterbe­erin­nerungswochen deklariert, die eines ihrer höchsten religiösen Feste mit einem insgesamt fünftägigen Festtagszyklus zu Tod, Sterben und Auferstehung von den Toten begeht (von Gründonnerstag bis Ostermontag), hat kein selbstverständliches Verhältnis, sondern ein hochsensibilisiertes Grundverhältnis zu Tod und Sterben.“

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ein vollendetes Sein bei Gott hofft. Deswegen fragt er über den Tod hinaus nach dem Jenseits des Todes – die theologische Deutung des Todes ist ausschlaggebend für die Artikulation der christlichen Hoffnung, sie hat eine eschatologische Dimension.14 Von hier wird in anthropologischer Hinsicht entfaltet, wie das Verhältnis des Todes zur Gestalt der Vollendung – die traditionell mit der Vorstellung der Auferstehung gefasst wird – gedacht werden kann. Dabei muss v. a. geklärt werden, wie die Kontinuität der menschlichen Identität über den Tod, der dem zeitlichen Leben ein Ende setzt, hinaus gewährleistet sein kann. Für die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität wird die theologische Kategorie des Gerichts bedacht. Von der eschatologischen Dimension her wird zudem darüber reflektiert, was das angemessene Verhältnis des Menschen zu seinem Tod für die Realisierung seiner ewigen Bestimmung im Lebensvollzug und – damit verbunden – für eine lebensförderliche Sicht auf das Leben bedeutet. Mit der Reflexion über das Kreuz Jesu ist vom Anfang der Christentumsgeschichte an über die Heilsbedeutung von Jesu Tod nachgedacht worden und in Form der Kreuzestheologie ist sein Tod zum Zentrum der reformatorischen Theologie geworden – die theologische Deutung des Todes ist damit ausschlaggebend für die Aufklärung über die Vermittlung des Heils, sie hat eine christologische und damit verbunden eine soteriologische Dimension. Von hier aus wird in anthropologischer Hinsicht entfaltet, wie das Verhältnis des nicht heilsgewissen Menschen – des Sünders – zu seinem Tod bestimmt ist. Die theologische Argumentation will aufzeigen, inwiefern das Kreuz den Menschen in ein angemessenes Verhältnis zu seinem Tod setzen kann. Von ihrer spezifischen Deutungsperspektive her ergibt sich die Schwierigkeit, dass ihre Annahmen, weil sie sich aus der Gewissheit des Glaubens herleiten, „der alltäglichen Erfahrung [noch, A.‑M. K.] mehr entzogen“ sind „als das, was die anderen Experten zu berichten haben“.15 Auch sie muss der sich seit der Neuzeit stellenden Aufga14 Dementsprechend

steht der erkenntnistheoretischen Ernüchterung im Blick auf das Wissen um den Tod eine Entwicklung entgegen, aufgrund derer man das 20. Jh. zurecht als das „Jahrhundert der Eschatologie“ (Schwöbel, C.: Die letzten Dinge zuerst? Das Jahrhundert der Eschatologie im Rückblick, in: Ders.: Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 437–468) bezeichnen kann. Die insgesamt leitende Voraussetzung war hier, dass die eschatologische Perspektive für die Theologie so zentral ist, dass weder auf sie verzichtet noch dass sie nur als eigenständiger Topos, als ‚Anhang‘, eines dogmatischen Entwurfes verstanden werden kann, sondern dass sie das theologische Denken insgesamt bestimmen soll. Die Eschatologie handelt damit nicht primär von bestimmten Dingen, die auf das Ende des menschlichen Lebens folgen, sondern von der eschatologischen Qualifizierung des menschlichen Lebens vor Gott, dass sich insgesamt auf der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit bewegt bzw. nur von der Zukunft Gottes her verstanden werden kann. 15  R ahner , K.: Zu einer Theologie des Todes, in: Ders.: Schriften zur Theologie X, Zürich/Einsiedeln/Köln 1972, 181–199, hier: 181.

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be nachkommen, den Tod in seiner Unzugänglichkeit für die Erfahrung zu belassen, d. h. jeder Versuch einer eindimensionalen, eindeutigen Definition ist dem Thema unangemessen. Die innertheologische Multiperspektivität des Themas verdeutlicht, dass man theologisch streng genommen nicht isoliert von ‚dem Tod‘ reden kann.16 Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass es vergleichsweise wenige Einzelabhandlungen zu einem Thema gibt, das stets auf den breiteren systematischen Kontext angewiesen ist. Prägend waren für das 20. Jh. auf katholischer Seite der thanatologische Entwurf Karl R ahners17, den sein Schüler Ladislaus Boros18 aufgenommen und anders akzentuiert hat19, und auf evangelischer Seite die Konzeption Eberhard Jüngels20, der die Gedanken Karl Barths21 aufgegriffen und ausgebaut hat. Zu nennen sind außerdem die Einzelabhandlungen Helmut Thielickes22 , Paul Althaus’ im Gesamtkontext seiner Eschatologie verhandelte „Theologie des Todes“23 und die theologische Deutung des Todes im Gesamtwerk Wolfhart Pannenbergs24. Einzuordnen ist die Entstehung bzw. der Ausgangspunkt der meisten dieser Entwürfe in die in den 1960er/1970er Jahren gesellschaftlich und akademisch gleichsam ‚explodierenden‘ Debatten über den Tod.25 16 

Vgl. ebd. A. a. O.; R ahner, K.: Zur Theologie des Todes. Mit einem Exkurs über das Martyrium, Freiburg i. B./Basel/Wien 51965 [1958]. 18  Boros, L.: Mysterium mortis. Der Mensch in der letzten Entscheidung, Olten 1962. 19  Vgl. v. a. für die katholische Thanatologie: Sopata, M.: Zur Theologie des Todes, Frankfurt a. M./New York 1993; M anser, J.: Der Tod des Menschen. Zur Deutung des Todes in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1977. 20  Jüngel, E.: Tod, Stuttgart 21983 [1971]; Ders.: Der Tod als Geheimnis des Lebens, in: Paus, A. (Hg.): Grenzerfahrung Tod, Graz u. a. 1976, 9–40; Ders.: Der Tod in christlicher Perspektive, in: K linger, C. (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien 2009, 183–192. 21  Barth, K.: Kirchliche Dogmatik III. Die Lehre von der Schöpfung Teil 2. Das Geschöpf, Zürich 1992, 714–780. 22  Thielicke, H.: Tod und Leben, Tübingen 1946; Ders.: Leben mit dem Tod, Tübingen 1980. 23  A lthaus, P.: Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh 51949, 83–96. 24  Pannenberg, W.: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 81995 [1962], 31–58; Ders.: Tod und Auferstehung in der Sicht christ­ licher Dogmatik, in: Ders.: Grundfragen systematischer Theologie II, Göttingen 1980, 146–159 [zuerst erschienen in: KuD 20 (1974), 167–180] ; Ders.: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 22011 [1983], 116–138; Ders.: Systematische Theologie II, Göttingen 1991, 303–314; Ders.: Systematische Theologie III, Göttingen 1993, 598–624; Ders.: Tod und Sünde, in: BthZ 20 (2003), 103–110. 25  Inwiefern sich in dieser Zeit Philosophie, Theologie, Soziologie und Psychologie ge17 

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Ebenfalls aus dieser Zeit stammt der Versuch Emanuel Hirschs, zwischen der christlichen Perspektive auf den Tod und der menschlichen Lebenswirklichkeit der Moderne zu vermitteln. Dieser wurde bisher in der theologischen und auf die Glaubenspraxis bezogenen Selbstaufklärung über den Tod – bedauerlicherweise – nicht rezipiert und in der systematisch-theologischen Forschung nur am Rande bearbeitet. Bedauerlicherweise, denn – so die leitende Annahme der vorliegenden Untersuchung – Hirschs theologische Deutung des Todes ist nicht nur wesentlich für das Verständnis seiner Theologie, sondern stellt eine rezeptionswürdige Alternative zu den benannten anderen Konzeptionen dar und bietet auch im Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen, vor die sich die theologische, auf die christliche Glaubenspraxis bezogene Rede über den Tod gestellt sieht, hilfreiche Anhaltspunkte. Um die Überzeugungskraft der Hirsch’schen Todesdeutung im Vergleich zu den einschlägigen Konzeptionen anzudeuten, seien die wesentlichen Linien der genseitig beeinflusst haben, wäre eine eigene Untersuchung wert. An dieser Stelle sei zumindest ein kleiner Einblick in die einschlägigen akademischen Diskurse gegeben. Die damals für Furore sorgenden und mittlerweile zu Klassikern gewordenen Beiträge zur psychologischen Sterbeforschung (Kübler-Ross, E.: Interviews mit Sterbenden, hg. von U. Leippe, Gütersloh 41975; Moody, R. A.: Leben nach dem Tod, Reinbek 1977) fallen in diese Zeit. Damit verbunden war die Entstehung der Hospizbewegung, die die Frage nach einem menschenwürdigen Sterben aufwarf (vgl. Student, J.-C./Mühlum, A./Student, U.: Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care, München u. a. 2004). In der deutschen, französischen und amerikanischen Soziologie der 1960er/1979er Jahre ist ebenfalls eine stärkere Beschäftigung mit dem Thema Sterben und Tod zu verzeichnen (vgl. Fuchs-Heinritz, W.: Soziologisierung des Todes? Der halbherzige Diskurs über das Lebensende, in: Gehring, P./Rölli, M./Saborowski, M. (Hgg.): Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute, Darmstadt 2007, 15–30, hier: 20): z. B. bei H ahn, A.: Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968; Fuchs, W.: Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969; Becker, E.: Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht – Ursprung der Kultur, Olten u. a. 1976; A riès, P.: Geschichte des Todes, hg. von H. H. Henschen und U. Pfau, München 21980 [1975]. In der Zeit sind ebenfalls mehrere philosophische Einzelabhandlungen erschienen: z. B. Jankélévitch, V.: La mort, Paris 1966; Scherer, G.: Der Tod als Frage an die Freiheit, Essen 1971; Pieper, J.: Tod und Unsterblichkeit, München 1968; Ebeling, H.: Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein. Zur Analytik von Freiheit und Tod, Freiburg/München 1979. Zudem haben mehrere philosophische und interdisziplinäre Tagungen zum Thema stattgefunden, aus denen z. B. folgende Sammelbände hervorgegangen sind: Feifel, H. (Hg.): The meaning of death, New York 1959; Campenhausen, H. v. u. a. (Hgg.): Was ist der Tod? Elf Beiträge und eine Diskussion, München 1969; Bitter, W. (Hg.): Alter und Tod, annehmen oder verdrängen? Ein Tagungsbericht, Stuttgart 1974; Feifel, H. (Hg.): New meanings of death, New York 1977; Jenny, S./Staehelin, B. (Hgg.): Über Tod und Freizeit, Zürich 1972; Toynbee, A. (Hg.): Vor der Linie. Der moderne Mensch und der Tod, Frankfurt a. M. 1970; Paus, A. (Hg.): Grenzerfahrung Tod, Graz u. a. 1976; Ebeling, H. (Hg.): Der Tod in der Moderne, Königstein/Ts 1979.

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theologischen Thanatologie im 20. Jh.26 im Folgenden skizziert. Für diese sind zum einen die existenzphilosophische Thanatologie Martin Heideggers und der existenzialistische Ansatz Jean-Paul Sartres, die als exemplarische Positionen für einen Zugang zum Tod jenseits der Voraussetzungen des Glaubens gelten können 27, prägend. Für die philosophische Reflexion hatte die erkenntnistheoretische Begrenzung des Nachdenkens über den Tod und die damit verbundene Kritik am Gedanken der Unsterblichkeit der Seele zur Folge, dass sie nicht das Wesen des Todes an sich, sondern seine Gegenwart im Leben 28 zum Thema machte. Heidegger 29 entwickelt für die Frage danach, was der Tod für das menschliche Leben bedeutet, eine positive Antwort: Im Tod ist das Dasein in der Ganzheit seiner realisierten Möglichkeiten präsent, als solches kann es in der todesbezogenen Existenzweise vorweggenommen werden. Der Tod eröffnet für ihn die menschliche Möglichkeit, im Dasein zur Ganzheit zu kommen, und das Leben muss dementsprechend als ‚Sein zum Tode‘ geführt werden. – Davon grenzt sich Sartre30 ab, indem er den Tod als kontingentes Faktum bestimmt, dessen sich der Mensch in keiner Weise ermächtigen kann, das außerhalb des Lebens bleibt und als solches dem Leben jeglichen Sinn abspricht. Die Position Heideggers findet sich in solchen – hauptsächlich auf katholischer Seite zu entdeckenden – Entwürfen wieder, die den Tod nicht nur als Fluchtod, sondern als entbindendes Moment und Erkenntnisgrund der wahren endlichen, personalen Freiheit verstehen. Den Standpunkt Sartres nehmen solche Entwürfe ein, die den – hier hamartiologisch begründeten – mit Nichtigkeit drohenden Charakter des Todes und die menschliche Passivität gegenüber dem Tod betonen.31

26  Eine gute Gesamtdarstellung und Diskussion der hier erwähnten und weiterer Entwürfe vor dem Hintergrund der Existenzphilosophie gibt Peters, A.: Der Tod in der neueren theologischen Anthropologie, in: NZSTh 14 (1972), 29–67. 27  Einen Einblick in die philosophische Thanatologie des 20. Jh. geben: Ebeling, H.: Einleitung: Philosophische Thanatologie seit Heidegger, in: Ebeling: Tod, 11–31; Scherer, G.: Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979; Schumacher, B. N.: Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, Darmstadt 2004; Rölli, M.: Metaphysik der Endlichkeit. Heideggers Philosophieren im Schatten des Todes, in: Gehring/Rölli /Saborowski: Ambivalenzen, 171–191. 28  Theunissen, M.: Die Gegenwart des Todes im Leben, in: Ders.: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 197–217, hier: 198. 29  H eidegger , M.: Sein und Zeit (1927), Tübingen 71953, §§45–53. Ausführlicher s. u., Exkurs: Hirschs Todesdeutung im Rahmen der existenzphilosophischen Thanatologien Heideggers und Jaspers’, 201 ff. 30  Sartre, J.-P.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1991 [1943], 914–950. 31  Explizit bezieht sich Wolfhart Pannenberg (STh III, 600 f.) – der sich damit auch gegen die Annahme einer ‚Natürlichkeit‘ des Todes abgrenzt – auf Sartre.

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Zum anderen ist die – von Paul Althaus auf den Punkt gebrachte32 – Unterscheidung zwischen Schöpfungs-, Sünden- und Erlösungsaspekt des Todes für die theologische Thanatologie im 20. Jh. grundlegend, mit der zwischen dem natürlichen Tod, dem Gerichtstod und dem vollendenden bzw. in die Ewigkeit führenden Tod differenziert wird. Während Althaus von der simul-Struktur her, in der sich christlicher Glaube vorfindet – der Glaubende ist zugleich Sünder und Gerechter – dafür argumentiert, alle drei Aspekte stets zusammenzuhalten33, tendieren andere dazu, den Tod eindeutig auf seinen Gerichts- oder Gnadencharakter festzulegen und bzw. oder eine klare Alternative zwischen dem Tod des Sünders und dem Tod des Glaubenden aufzumachen: Der Sünder stirbt den Fluchtod, vor dem er zurecht Angst hat; der Glaubende stirbt den Tod, der ins ewige Leben führt, vor dem er keine Angst mehr haben muss. Der „Tod [ist] nur faktisch Gerichtstod, nicht seinem Wesen nach“34. Aus dem das Leben abbrechenden Tod wird der Mensch im Glauben zum natürlichen Tod befreit35 bzw. der vom sündigen Menschen als Abbruch wahrgenommene Tod wäre idealerweise als von Gott gesetztes Ende36 zu verstehen, das allerdings selbst noch nicht die Vollendung beinhaltet. Im kontroverstheologischen Diskurs wird von evangelischer Seite der Tod, der durch absolute Passivität37 gekennzeichnet ist, dem Tod, der in den einschlägigen katholischen Konzeptionen als die „tätige Vollendung von innen“38 verstanden wird, entgegengesetzt.39 In dieser Hinsicht 32 

A lthaus: Die letzten Dinge5, 88: „Der Tod will von unserer Geschichte mit Gott aus und zwar nach allen ihren Beziehungen verstanden werden: vom Schöpfungs-, Zornes- und Gnadenverhältnis aus.“ 33  A. a. O., 88 f. 34  So die Zusammenfassung der These Karl Barths bei Schmalenberg, E.: Der Sinn des Todes, in: NZSTh 14 (1972), 233–249, hier: 236. 35  Jüngel: Tod, 117.167. Der natürliche Tod wird hier als Idealbild eines friedlichen Todes zur rechten Zeit gezeichnet. Ausführlicher s. u., 226, Anm.  252. 36  A. a. O., 96.116; Pannenberg: STh II, 312; Ders.: STh III, 606; Ders.: Tod und Sünde, 107 f. 37  Pointiert hat diese These Wilfried H ärle formuliert: Der Tod „ist das definitive Ende aller aktiven Möglichkeiten“, der „Eintritt und die zeitlich unbegrenzte Dauer des Zustandes reiner Passivität“ (H ärle, W.: Dogmatik, Berlin/New York 22000, 633). Ob dieses ‚Kaltstellen‘ menschlicher Aktivität, die neben seinem Gegebensein ein wesentliches Merkmal seines Menschseins ist, nicht doch einer Vernichtung gleichkommt – gegen die H ärle eigentlich argumentiert – ist m. E. zu bezweifeln. Zudem liegt auch bei H ärle, wenn er den Tod „als (selbstvergessene) Hingabe“ (ebd.) versteht, im Tod selbst das aktive Moment, als das auch Karl R ahner allein die menschliche Vollendungstat verstehen will. 38  R ahner: Zur Theologie, 30. Ladislaus Boros steigert diese These ins – den Kult der Todesstunde propagierende – Extrem: „Im Tod eröffnet sich die Möglichkeit zum ersten vollpersonalen Akt des Menschen, somit ist der Tod der seinsmäßig bevorzugte Ort des Bewußtwerdens, der Freiheit, der Gottbegegnung und der Entscheidung über das ewige Schicksal.“ (Boros, L.: Der Tod in katholischer Sicht – Tod als letzte Entscheidung, in: Bitter: Alter und

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verdeutlicht die sog. Ganztodthese40 die menschliche Passivität in der Drastik, dass „kein Zug unseres gegenwärtigen Menschseins den Tod überdauern kann“41, sondern dass allein vom Glauben an Gottes Auferweckung des Menschen her auf dessen ewiges Leben gehofft werden kann. Das Auseinanderhalten von Tod und Auferstehung dient zudem dazu, den mit Nichtigkeit drohenden Charakter des Todes zu betonen, der von Eberhard Jüngel in diesem Sinne als „totale[ ] Verhältnislosigkeit“42 bestimmt wurde. Diese hamartiologisch begründete Definition birgt die Gefahr, dass entweder das Wesen des Menschen auf seine Passivität festgelegt wird und Phänomene endlicher Freiheit nicht erklärt werden können, oder dass das mit der Auferstehungsvorstellung ausgesagte Geschehen der befreienden Zuwendung Gottes zum Menschen, ja dass sogar Gott selbst, dem der Tod in einer solchen Denkweise schlichtweg entgegengesetzt ist, demselben völlig äußerlich bleibt und das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im Tod nicht gedacht werden kann. Die Engführung des christlichen Verhältnisses zum Tod auf die Gewissheit der Auferstehung tendiert dageTod, 169–179, hier: 169). Es ist zu bedauern, dass die evangelische Kritik an der R ahner’schen Todesdeutung dessen – der Konzeption Hirschs nicht unähnliches – Festhalten an der Doppeldeutigkeit des Todes nicht gewürdigt hat: „Und der Tod des Menschen als Ende des biologischen Lebens ist gleichzeitig in unauflösbarer und das Ganze des Menschen betreffender Weise Abbruch von außen, Zerstörung, Parzenschnitt, Widerfahrnis, das den Menschen unberechenbar von außen trifft, so daß sein ‚eigener Tod‘ von innen durch die Tat der Person selbst gleichzeitig das Ereignis der radikalsten Entmächtigung des Menschen ist, Tat und Leiden in einem“ (R ahner: Zur Theologie, 30). Ausführlicher, s. u. 278, Anm.  441. 39  Vgl. z. B. Jüngel: Tod, 116; Pannenberg: STh II, 313. 40  Zu den Vertretern der Ganztodthese werden Barth, A lthaus, Brunner , Jüngel, Moltmann (Belege bei Huxel, K.: Unsterblichkeit der Seele versus Ganztodthese? Ein Grundproblem christlicher Eschatologie in ökumenischer Perspektive, in: NZSTh 48 (2006), 341–366, hier: 341 f.) Schlatter, Stange, Elert (Belege bei Henning, C.: Wirklich ganz tot? Neue Gedanken zur Unsterblichkeit der Seele vor dem Hintergrund der Ganztodtheorie, in: ­NZSTh 43/2 (2001), 236–252 , hier: 238) und zuweilen auch Pannenberg (z. B. M ahlmann, T.: Auferstehung der Toten und ewiges Leben, in: Stock, K. (Hg.): Die Zukunft der Erlösung. Zur neueren Diskussion um die Eschatologie, Gütersloh 1994, 108–131, hier: 117) gezählt. Zu den Implikationen der Ganztodthese für die Alternative zwischen Auferstehungsvorstellung und Unsterblichkeitsgedanken vgl. Greshake, G.: Das Verhältnis „Unsterblichkeit der Seele“ und „Auferstehung des Leibes“ in problemgeschichtlicher Sicht, in: Greshake, G./Lohfink, G. (Hgg.): Naherwartung, Auferstehung, Unsterblichkeit. Untersuchungen zur christlichen Eschatologie, Freiburg u. a. 1975, 82–120; Henning: Wirklich ganz tot; Huxel: Unsterblichkeit; Schaede, S.: Bin denn ich es, der lebte und starb? Einige programmatische Analysen zum eschatologischen Problem, die Identität eines Menschen vor und „nach“ seinem Tod zu denken, in: Hess, R./Leiner, M. (Hgg.): Alles in allem. Eschatologische Anstöße, Neukirchen‑Vluyn 2005, 265–290. 41  Pannenberg: Was ist der Mensch, 37. 42  Jüngel: Tod, 145. Vgl. a. a. O., 99.

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gen dazu, den Tod als eine „unvermeidliche Äußerlichkeit“43, als „gleichsam nur noch […] biologische Larve, die für die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen ohne Belang ist“44, als Übergang in das ewige Leben zu beschönigen. Dagegen entwickelt Emanuel Hirsch eine Deutung des Todes, die dessen mit Nichtigkeit drohenden und dessen das Leben vollendenden Charakter, dessen den Menschen in die Passivität zwingenden und dessen Aktivität entbindenden Charakter in einer antinomischen Spannungseinheit zusammenbringt. Diese verbindet er theologisch mit dem Gedanken des göttlichen Gerichts, das für ihn in einem dialektischen Verhältnis zur befreienden und vollendenden Gnade steht 45 und als dessen Erlebnisgehalt die menschliche Angst vor dem Tod zu bestimmen ist. Er wird auf diese Weise nicht nur der Spannungshaftigkeit und Ambivalenz menschlicher Erfahrungen – die auch für den Glaubenden bestehen bleibt – gerecht, sondern er vermag es, den Gottesgedanken so mit dem Tod zu verbinden, dass das menschliche Gottesverhältnis sowohl mit der absurden als auch mit der auf die menschliche Bestimmung verweisenden Seite des Todes zusammengedacht werden kann. – Der Tod wird aus der Perspektive des Glaubens als den Menschen zugleich verneinende und bejahende – als gnädig rich­ tende – „Gottesbegegnung“46 verstanden. Im theologischen Diskurs der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart werden die Thesen der skizzierten prägenden thanatologischen Entwürfe entweder aufgenommen47 oder es wird sich kritisch zu ihnen ins Verhältnis gesetzt, wie 43 

Union Evangelischer K irchen (Hg.): Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, Neukirchen-Vluyn 22008, 125. 44  Thielicke: Leben mit dem Tod, 270. 45  Ähnlich beschreibt Christian H enning das Sterben im Anschluss an Martin Luther in der dialektischen Spannung zwischen Gesetz und Evangelium (Henning, C.: Art. Sterben II. Dogmatisch, in: RGG VI, Tübingen 4 2008, 1723–1724). 46  Zw, 83. 47  So ist v. a. Eberhard Jüngels These von der „Verhältnislosigkeit“ des Todes nach wie vor prägend, wie folgende Beispiele belegen: Gunter Wenz nimmt diese These in seinem für das theologische Studium gedachten Buch auf (Wenz, G.: Vollendung. Eschatologische Perspektiven, Göttingen 2015, 234). Gunda Schneider-Flume rezipiert diese ebenfalls in ihrer ­systematisch-theologischen Studie zum Altern (Schneider-Flume, G.: Alter – Schicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographischen Wandel und zum Alter(n), Göttingen 2008, 120). Die Handreichung zur Bestattungskultur der EKD und eine Handreichung der Diakonie Hessen zum Umgang mit Sterbenden zitieren diese Definition als das biblischchristliche Verständnis des Todes (K irchenamt der EKD (Hg.): Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur. Ein Diskussionspapier, Hannover 2004, 13 f.; Diakonie Hessen (Hg.): Mit Sterbenden leben – achtsam sein, Frankfurt a. M. 2014, 30–32). Websites, die sich zum Ziel setzen über den Umgang mit Tod und Trauer in den verschiedenen Weltreligionen

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besonders an der Diskussion um die Alternative zwischen der sog. Ganztodthese bzw. der Auferstehungsvorstellung und dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele48 deutlich wird. Während weitere mit dem Todesthema verbundene Einzelaspekte – v. a. die Vorstellung des Jüngsten Gerichts49 und der mit dem und in der Gesellschaft zu informieren, stellen (ohne explizit auf Jüngel zu verweisen) fest: „Für Christen ist der Tod das endgültige Ende, dazu gehörend zum Geschöpf des Menschen. Er ist der Eintritt in die Verhältnislosigkeit.“ (A horn AG, A bteilung Tod und Glaube: Die Bestattungskultur der Weltreligionen. Tod und Trauer im Zeichen des Glaubens und der Rituale, http://www.tod-und-glaube.de/christentum.php, zuletzt geprüft am: 17.02.2016; vgl. Social markets AG: Jenseite. Journal über Leben und Tod, http://www.jenseite.de/die-bestattungskultur-des-christentums/, zuletzt geprüft am: 17.02.2016). 48  Vgl. z. B. M ahlmann: Auferstehung; H enning: Wirklich ganz tot; Schaede: Bin denn ich es; Henning, C.: Was ist, wenn ich sterbe?, in: Hermanni, F./Buchheim, T. (Hgg.): Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, Paderborn/München 2006, 239–262; Huxel: Unsterblichkeit; Gestrich, C.: Die Seele des Menschen als Gegenstand der christlichen Pflege und der philosophischen Diskussion, in: Gestrich, C./Wabel, T. (Hgg.): An Leib und Seele gesund. Dimensionen der Heilung, Berlin 2007, 20–41; Ders.: Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung, Frankfurt a. M. 2009; R ingleben, J.: Auferweckung zum ewigen Leben (als Zeigfeld zur Logik des christlichen Gottesgedankens), in: Koslowski, P. (Hg.): Endangst und Erlösung. Untergang, ewiges Leben und Vollendung der Geschichte in Philosophie und Theologie, München 2009, 121–138; die Beiträge in Gräb-Schmidt, E. (Hg.): Auferstehung, Leipzig 2012. 49  Vgl. z. B. Janowski, J. C.: Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 2000; Stümke, V.: Das Jüngste Gericht – Apokalyptischer Mythos oder unverzichtbarer Bestandteil der Dogmatik?, in: Vögele, W. (Hg.): Aktuelle Apokalyptik!, Rehburg-Loccum 2000, 119–138; Etzelmüller, G.: „… zu richten die Lebendigen und die Toten“. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2001; Ders.: Die Bedeutung der Weltgerichtsrede Jesu (Mt 25,31–46) für eine realistische Rede vom Jüngsten Gericht, in: Bedford -Strohm, H. (Hg.): „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht, Neukirchen-Vluyn 2007, 90–102; Frettlöh, M. L.: „Ja den Namen, den wir geben, schreib’ ins Lebensbuch zum Leben“. Zur Bedeutung der biblischen Metapher vom „Buch des Lebens“ für eine entdualisierte Eschatologie, in: Hess, R./Leiner, M. (Hgg.): Alles in allem. Eschatologische Anstöße, Neukirchen-Vluyn 2005, 133–165; Slenczka, N.: Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter 12/1 (2007), 97–112; Fuchs, O.: Hoffnung über den Tod hinaus. Warum die Rede vom Jüngsten Gericht unverzichtbar ist, in: BiKi 63 (2008), 200–203; Ders.: Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2009; Tück, J.‑H.: In die Wahrheit kommen. Das Gericht Jesu Christi: Annäherungen an ein eschatologisches Motiv, in: Herkert, T./R emenyi, M. (Hgg.): Zu den letzten Dingen. Neue Perspektiven der Eschatologie, Darmstadt 2009, 99–121; Thiede, W.: Fegefeuer – Endgericht – Allversöhnung. Der Gerichtsgedanke im Licht des protestantischen Rechtfertigungsglaubens, in: ThLZ 136/11 (2011), 1129–1144; Danz, C.: „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Mt 25,46). Überlegungen zur Funktion und Bedeutung des Letzten Gerichts in der protestantischen Theologie, in: NZSTh 53/1 (2011), 71–89; Beintker, M.: Gottes Urteil über unser Leben. Das Jüngste Gericht als die Stunde der Wahrheit, in: ZThK 110 (2013), 219–233.

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Tod Jesu in Verbindung gebrachte Begriff des Sühnopfers50 – rege diskutiert werden, bringt sich die Systematische Theologie in eher geringem Maße in interdisziplinäre Diskurse über den Todesbegriff und den Umgang mit dem Tod in der Gegenwart51 ein und neue systematisch-theologische Gesamtkonzeptionen zum Thema bleiben weitestgehend aus.52 Das ist angesichts der anhaltenden ethischen Debatten um den Hirntod53, das Altern54 und die Sterbehilfe55 und der 50  Vgl.

z. B. die Beiträge in Frey, J./Schröter, J. (Hgg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 2005 und Acklin Zimmermann, B. (Hg.): Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank, Zürich 2009; Slenczka, N.: Wer sich selbst recht versteht, muss nach Sühne fragen, in: Luther 84 (2013), 168–178. 51  Vgl. z. B. die Beiträge Graf, F. W.: Todesgegenwart, in: Graf, F. W./Bruell, C. (Hgg.): Der Tod im Leben. Ein Symposion, München 2004, 7–46; Goertz, S./Striet, M.: Ein Gott der Lebenden! Systematisch-theologische Überlegungen zum Gelingen endlichen Lebens, in: Ebner, M. u. a. (Hgg.): Leben trotz Tod, Neukirchen-Vluyn 2004, 391–408; Jüngel: Der Tod in christlicher Perspektive; Rosenau, H.: Die Hirntoddebatte vor dem Hintergrund theologischer Deutungen des Todes, in: Oehmichen, M./K aatsch, H.-J./Rosenau, H. (Hgg.): Praktische Ethik in der Medizin, Lübeck 2003, 337–345. 52  Eine Ausnahme bilden die theologischen Essays von Ulrich Körtner , in denen er sich mit dem für das 20. Jh. prägenden Idealbild des natürlichen Todes, mit der Hirntodkontroverse, mit der Sterbehilfe, mit der Problematik der Aussegnung der Toten und den einschlägigen theologischen Thanatologien auseinandersetzt, und die in die Richtung eines eigenen Ansatzes weisen (Körtner, U. H. J.: Bedenken, dass wir sterben müssen. Sterben und Tod in Theologie und medizinischer Ethik, München 1996, vgl. Ders.: Der unbewältigte Tod. Theologische und ethische Überlegungen zum Lebensende in der heutigen Gesellschaft, hg. von H.-R. Buchmüller, Passau 1997; Ders.: Wie lange noch, wie lange? Über das Böse, Leid und Tod, Neukirchen-Vluyn 1998). Eine weitere – allerdings im erbaulichen Duktus gehaltene und die gegenwärtigen Diskurse kaum aufnehmende – Ausnahme bilden die Besinnungen Traugott Kochs über den Tod (Koch, T.: Das ewige Leben und der Tod, Stuttgart 2009; vgl. Ders.: Mit Gott leben. Eine Besinnung auf den Glauben, Tübingen 1989, 256–313.335–377). 53  Vgl. z. B. Schneider , W.: „So tot wie nötig – so lebendig wie möglich!“ Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Eine Diskursanalyse der öffentlichen Diskussion um den Hirntod in Deutschland, Münster u. a. 1999; Schlich, T. (Hg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt a. M. 2001; Esser /K ersting/Schäfer: Welchen Tod stirbt der Mensch. 54  Vgl. z. B. Rüegger , H.: Alter(n) als Herausforderung. Gerontologisch-ethische Perspektiven, Zürich 2009; K lie, T./Kumlehn, M./Kunz, R. (Hgg.): Praktische Theologie des Alterns, Berlin u. a. 2009. 55  Vgl. z. B. Zimmermann‑Acklin, M.: Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung, Freiburg (Schweiz)/Freiburg i. B. 22002; K ettler, D. u. a.: Selbstbestimmung am Lebensende. Ringvorlesung im Wintersemester 2005/06, Göttingen 2006; Schardien, S.: Sterbehilfe als Herausforderung für die Kirchen. Eine ökumenisch-ethische Untersuchung konfessioneller Positionen, Gütersloh 2007; Friess, M.: Sterbehilfe. Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe, Stuttgart 2010; K irchenamt der EKD (Hg.): Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Sammlung kirchlicher Texte, Hannover 2 2011.

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praktisch-theologischen Diskussionen um Sterbebegleitung56, Trauerarbeit57 und die Bestattung58 in einer sich wandelnden Trauerkultur erstaunlich. Auch in dieser Hinsicht erscheint die eingehende Beschäftigung mit einem zu den prägenden Entwürfen alternativen, im Rahmen einer theologischen Gesamtkonzeption entwickelten Ansatz lohnenswert. Es wäre anachronistisch, Hirschs Todesdeutung als bruchlose Antwort auf die in unserer Gegenwart drängenden Fragen zum Thema zu konstruieren. Im Vergleich zur Zeit der 1940er bis 1960er Jahre, in der die hier behandelten Schriften verfasst wurden, sind in unserer Gegenwart die von Hirsch nachgezeichneten Entwicklungen der Moderne – im Wesentlichen sind das die Ausdifferenzierung, die damit verbundene Pluralisierung, Individualisierung und Entkirchlichung – zugespitzt. Zudem haben sich im Blick auf den Umgang mit dem Thema Tod weitere Problemfelder aufgetan: So hat sich z. B. die Sterbehilfe­ debatte, deren Anfänge Hirsch noch registriert hat59, mit dem Ausbau der Hospiz­arbeit und mit den Diskussionen um die Patientenverfügung und den assistierten Suizid weiter entwickelt. In weltpolitischer Hinsicht war die atomare Aufrüstung und das damit verbundene verstärkte Bewusstsein für die Vergänglichkeit von Menschheit und Welt ein gravierender Einschnitt. Prägend ist zudem für unsere Gegenwart das Gefühl der Bedrohung durch Terror und globale Krisen.60 Trotz des zeitlichen Abstands lassen sich aus Hirschs Konzeption hilfreiche Einsichten für eine aktuelle theologische Deutung des Todes gewinnen: Sein Anliegen einer der menschlichen Lebenswirklichkeit angemessenen und zuge-

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Vgl. z. B. Strasser, K./Körber, K./Petzold, E. R. (Hgg.): Begleitet sterben – Leben im Übergang. Aspekte guter Sterbebegleitung, Gütersloh 2013. 57  Vgl. z. B. Lammer , K.: Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vluyn 22004. 58  Vgl. z. B. Roth, U.: Die Beerdigungsansprache. Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2002; Stebler, C.: Die drei Dimensionen der Bestattungspredigt. Theologie, Biographie und Trauergemeinde, Zürich 2006; Grünwaldt, K./H ahn, U. (Hgg.): Vom christlichen Umgang mit dem Tod. Beiträge zur Trauerbegleitung und Bestattungskultur, Hannover 22005; K lie, T. (Hg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008; Pock, J./Feeser‑Lichterfeld, U. (Hgg.): Trauerrede in postmoderner Trauerkultur, Münster 2011; Fix, K.‑H./Roth, U. (Hgg.): Lebensvergewisserungen. Erkundungsgänge zur gegenwärtigen Bestattungs- und Trauerkultur in Kirche und Gesellschaft, Gütersloh 2014; K lie, T. u. a. (Hgg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/München/Boston (Mass.) 2015. 59  Vgl. EE, 310. 60  Zu den zeitdiagnostischen Überlegungen für den gegenwärtigen Umgang mit dem Tod s. u., Kap.  9, 327 ff.

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wandten Theologie zeichnet eine zu einer rein mahnenden Haltung alternative Position ihrer Vertreter im gesellschaftlichen und akademischen Diskurs über den Tod vor. Sein Programm der Transformation traditioneller theologischer Gehalte vor dem Hintergrund der Moderne leitet zum weiteren Nachdenken über deren Tragfähigkeit und Relevanz für die Gegenwart an. – Dabei überzeugt vor allem die enge Verbindung der theologischen Deutung des Todes mit seinem transformierten, subjektivitätstheoretisch rekonstruierten Gerichtsgedanken61. Zudem wird sein Festhalten an der Doppeldeutigkeit des Todes nicht nur der Ambivalenz des menschlichen Lebens gerecht, sondern macht mit der erkenntnistheoretischen Einsicht ernst, auch als Glaubender über den Tod im strengen Sinne nichts wissen zu können. Der Grund für die fehlende Rezeption der Hirsch’schen Todesdeutung liegt wohl zuallererst in seiner durch nichts zu rechtfertigenden Befürwortung des Nationalsozialismus62 , deren Zusammenhang mit seiner Theologie in der Forschung verschiedenartig bewertet wird.63 Hier wird der Ansatz gewählt, diese Problematik zwar nicht vollständig auszublenden und „zwischen dem ‚guten‘ Theologen und dem ‚schlechten‘ Politiker zu trennen“64, sie aber auch nicht als notwendig mit Hirschs Theologie verbunden zu begreifen65. Die Gefahr, nicht das Evangelium, sondern menschliche Ideen, Anschauungen und Bedürfnisse zum theologisch letzten Maßstab zu machen, liegt wohl in jeder Theologie, die 61 

Zur Transformation des Gerichtsgedankens s. u., 3.B, 136 ff. zu Leben, theologischem Werdegang und Werk Hirschs: Gerdes, H.: Emanuel Hirsch, in: Schultz, H. J. (Hg.): Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Portraits, Stuttgart 2 1967, 328–332; Trillhaas, W.: Repräsentant und Außenseiter einer Generation. Nach dem Tode von Emanuel Hirsch, in: EK 5 (1972).; Neuenschwander, U.: Emanuel Hirsch, in: Ders.: Denker des Glaubens II. Emanuel Hirsch – Emil Brunner – Paul Tillich – Pierre Teilhard de Chardin – Karl Jaspers, Gütersloh 1974, 9–36; Trillhaas, W.: Der Einbruch der Dialektischen Theologie in Göttingen und Emanuel Hirsch, in: Moeller, B. (Hg.): Theologie in Göttingen, Göttingen 1987, 362–379; Schütte, H.‑W.: Christliche Rechenschaft und Gegenwartsdeutung. Zum theologischen Werk E. Hirschs, in: R ingleben, J. (Hg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewusstsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1991, 1–14; Herms, E.: Emanuel Hirsch, in: H auschild, W.-D. (Hg.): Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998. 63  Vgl. den Forschungsüberblick bei H entschel, M.: Gewissenstheorie als Ethik und Dogmatik, Neukirchen-Vluyn 1995, 10–16. 64  Ohst, M.: Emanuel Hirsch und die Predigt, in: R aschzok , K. (Hg.): Zwischen Volk und Bekenntnis. Praktische Theologie im Dritten Reich, Leipzig 2000, 127–150, hier: 127. 65  Dafür, dass die Theologie Hirschs notwendig die Konsequenz seiner politischen Haltung nach sich zieht, plädiert v. a. Hentschel: Gewissenstheorie. Sehr differenziert arbeitet hingegen Lobe, M.: Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs, Berlin 1996, die Zusammenhänge zwischen Theologie und politischer Haltung Hirschs heraus. 62 Vgl.

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auf die Vermittlung zwischen christlichem Glauben und menschlicher Lebenswirklichkeit ernsthaft bedacht ist. Allein eine sich selbst ständig hinterfragende Haltung kann davor schützen. Wer Hirsch als einen Denker kennengelernt hat, der stets die Spannungshaftigkeit betont, der sich dafür ausspricht, gegen sich selbst kritisch zu sein, und dem Glauben selbst ein polemisches Element gegen jede irdische Größe – die sogar dessen eigene Objektivationen und Vergemeinschaftungsformen einschließt – zuschreibt, für den ist es unverständlich, wie Hirsch seine theologische Position mit seiner eindeutigen und für Ideologien anfälligen politischen Haltung verbinden konnte. Theologische Argumenta­ tions­muster, die die Befürwortung des Nationalsozialismus begünstigen, sind in den für die vorliegende Arbeit herangezogenen Schriften v. a. da auszumachen, wo er diesen auf das Aufrechterhalten der Spannungshaftigkeit menschlichen Lebens bedachten und gegenüber allen menschlich-geschichtlichen Größen kritischen Anspruch nicht vollständig einlöst. In der vorliegenden Arbeit wird deswegen – weil nicht unmittelbar relevant für das Thema hauptsächlich im Anmerkungsapparat66 – der Weg gewählt, an den entsprechenden Stellen Hirsch gegen Hirsch argumentieren zu lassen. Ein weiterer Grund dafür, dass Hirschs Todesdeutung nicht rezipiert wurde, kann darin vermutet werden, dass die sprachliche Gestaltung seiner Argumentation bereits in seiner Zeit antiquiert gewirkt haben dürfte. Dabei richtet sich gerade sein Spätwerk, in dem er seine Todesdeutung hauptsächlich entfaltet hat, an ein breites und nicht auf den akademischen Bereich eingegrenztes Publikum, und behandelt für die in der kirchlichen Praxis tätigen Theologen und den christlichen Laien relevante Themen. Hirsch arbeitet sich hier nicht an „theologischen Spezialfragen“ ab, sondern behält „immer die Situation [seines] Zeitalters als zentrales Thema im Auge“67. Die Todesdeutung Hirschs hat auch in der bisherigen Forschungsliteratur, die von anderen bereits ausführlich dargestellt wurde68, wenig Beachtung ge­f unden. Die beiden jüngsten Publikationen beschäftigen sich allerdings mit Aspekten

66  S. u. 33, Anm.  23; 62, Anm.  178; 62, Anm.  180; 97, Anm.  336; 208, Anm.  186; 237, Anm.  293. 67  Müller , H. M.: Pectus facit theologum. Ein Blick auf das Alterswerk Emanuel Hirschs, in: Pth 57 (1968), 302–310, hier: 303. 68  H entschel: Gewissenstheorie, 10–16; Lobe: Die Prinzipien, 3–6; Lasogga, M.: Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne, Frankfurt a. M. u. a. 2009, 16–19; Zerrath, M.: Vollendung und Neuzeit. Transformation der Eschatologie bei Blumenberg und Hirsch, Leipzig 2011, 134–136.

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der Theologie Hirschs, die mit dem Todesthema in enger Berührung stehen und sich dementsprechend in ihrem jeweiligen Rahmen damit auseinandersetzen. Mareile Lasogga profiliert unter dem Titel Menschwerdung die „Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne“69 im Gegenüber zur für die Theologie des 20. Jh. prägenden Anthropologie Wolfhart Pannenbergs. Dabei dient ihr die mit dem Bildungsbegriff auf den Punkt gebrachte Annahme, dass Individualität „als prozessual zu realisierendes Konzept geschichtlicher Selbstwerdung“70 zu deuten ist, als zentraler Vergleichspunkt zwischen beiden Positionen. Ihre Ausführungen sind von dem Anliegen geleitet, die argumentative Überzeugungskraft und die Tragfähigkeit der Hirsch’schen Anthropologie für die Selbstvergewisserung menschlicher Identität in Moderne und Postmoderne herauszustellen. Weil die Anthropologie als leitende Perspektive der Hirsch’schen Theologie verstanden werden kann, kann Lasoggas Arbeit zugleich als – scharfsinnige und für das Verständnis Hirschs äußerst hilfreiche – Entfaltung der systematisch-theologischen Gesamtkonzeption Hirschs gelesen werden, in der Aspekte der Gotteslehre, der Christologie respektive Soteriologie und der Eschatologie zur Darstellung kommen. Das Todesthema wird dabei im Blick auf die menschliche Selbstwerdung erörtert. – Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist dieser Aspekt besonders wichtig hinsichtlich der Möglichkeit der Integration des ausstehenden Todes und sog. todesähnlicher Erfahrungen in Lebensdeutung und -vollzug. Im Bildungsprozess spielt – so Lasoggas Interpretation – der Tod die Rolle der potenzierten „krisenhafte[n] Selbstinfragestellung kreatürlicher Existenz“71, die im Glauben als „Wegerfahrung“72 der in die Vollendung führenden Selbstwerdung begriffen werden kann: Er ist für den vollendeten Glauben der „letzte Transformationsschritt“73 in die gegenseitige Erschlossenheit von Schöpfer und Geschöpf. Martin Zerrath profiliert unter dem Titel Vollendung und Neuzeit den Beitrag Hirschs zur „Transformation der Eschatologie“74 und dessen theologische Pointen im Gegenüber zum philosophischen Ansatz Hans Blumenbergs. Leitend ist für ihn die Frage nach der Plausibilität des christlichen Vollendungsgedankens, seiner charakteristischen Momente und seiner Implikationen für die Deutung des Lebens unter den Bedingungen der Neuzeit – Zerrath benennt die Dimensionen des Weltbegriffs, des durch die Spannung zwischen Kontingenz 69 

Lasogga: Menschwerdung, Titel. A. a. O., 19. 71  A. a. O., 362. 72 Ebd. 73  A. a. O., 364. 74  Zerrath: Vollendung. 70 

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und endlicher Freiheit, zwischen Fragmentarität und Bestimmtsein zur Vollendung gekennzeichneten menschlichen Lebensvollzugs und des Todes als die Grenze, hinter der sich das Wesen der Vollendung offenbart. Zerrath legt anhand der Neuzeittheorien der beiden Autoren dar, inwiefern der Vollendungsgedanke „im Horizont des für ihn charakteristischen Selbst- und Weltumgangs gebraucht (oder doch voraus[ge]setzt)“75 wird und welche – unterschiedlichen – Konsequenzen daraus gezogen werden können. Im Ergebnis stellt Zerrath die „Eschatologie der Erinnerung“76 Blumenbergs, „der es einzig um die Erträglichkeit des vergänglichen Lebens zu tun ist“77, der „Eschatologie der Vollendung“78 bei Hirsch gegenüber. Daran anschließend stellt er – sich zu beiden Autoren in ein konstruktiv-kritisches Verhältnis setzende – Überlegungen an, wie der genuin theologische Beitrag zu den im Vollendungsgedanken begriffenen Momenten – der „Vollendung der Welt, der Bejahung des Unvollendeten sowie der Vollendung des Menschen im Tode“79 – in der Gegenwart lauten kann. Zerrath erläutert die Umformung der Eschatologie bei Hirsch – ähnlich wie der grundlegende Teil der vorliegenden Arbeit – vor dem Hintergrund seiner Neuzeit- und Gegenwartsdiagnose und seiner Wahrheitstheorie und stellt dabei in überzeugender Weise heraus, dass es Hirsch nicht um eine Aussparung der theologischen Tradition, sondern um deren Umdeutung geht. Das Todesthema kommt dabei als eine Dimension des Vollendungsgedankens relativ knapp zur Sprache, dagegen stellt die vorliegende Arbeit dieses als Angelpunkt der Hirsch’schen Eschatologie heraus. Die theologische Kategorie des Gerichts – die in vorliegender Arbeit als zentral für das Hirsch’sche Verständnis des Todes und des Prozesses der Vollendung gesehen wird – wird von Zerrath in diesem Zusammenhang nicht bedacht. Die vorliegende Arbeit hat mit den beiden genannten Studien gemeinsam, dass sie im Unterschied zu der sonst werkgenetisch, problemgeschichtlich oder rezeptionsgeschichtlich ansetzenden Erforschung von Hirschs systematischtheologischer Konzeption nach deren theologischem Ertrag für die Gegenwart fragt und Hirschs Argumentation aus sich selbst heraus zu verstehen sucht. Dafür wird hier nicht die Gestalt einer vergleichenden bzw. gegenüberstellenden Profilierung, sondern einer Einzeldarstellung gewählt, die darauf zielt, die Relevanz der Hirsch’schen Todesdeutung für den gegenwärtigen theologischen Diskurs im Blick auf glaubenspraktische Problemstellungen – für die Predigt über und angesichts des Todes – aufzuzeigen. Dass diese Zielrichtung sich aus 75 

A. a. O., 5. A. a. O., 277. 77  A. a. O., 279. 78  A. a. O., 277. 79  A. a. O., 8. 76 

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Hirschs Ansatz selbst ergibt, zeigen Hirschs Selbstverständnis „als Prediger und der Predigt verpflichten theologischen Denker“80 und nicht zuletzt sein an einen breiten, nicht auf das akademische Fachpublikum begrenzten Adressatenkreis gerichtetes Spätwerk. Hirsch entwickelte seine Todesdeutung nicht in einer Einzelabhandlung, sondern innerhalb seiner theologischen Gesamtkonzeption. Sein theologisches Programm wurde im Leitfaden zur christlichen Lehre vollständig entfaltet und über mehrere Jahre hinweg kommentiert – die Ergänzungen und Erläuterungen sind unter dem Titel Christliche Rechenschaft posthum veröffentlicht worden.81 In seinem Spätwerk arbeitete Hirsch das Programm der ‚Christlichen Rechenschaft‘82 in verschiedenen Hinsichten – religionsphilosophisch, erbaulich, kon­ tro­verstheologisch, für die theologische Lehre bestimmt – und unter der Leitfrage nach dem Wesen des Christentums und der Plausibilität des christlichen Wahrheitsbewusstseins für die Lebenswirklichkeit des modernen Menschen aus.83 Seine theologische Deutung des Todes gewinnt in diesen Schriften an 80  Müller , H. M.: Emanuel Hirschs Bedeutung für die Predigt, in: R ingleben: Christentumsgeschichte, 226–246, hier: 227. 81  Arnulf von Scheliha stellt anhand der Frühschriften Hirschs dar, dass sie auf einen solchen systematischen Gesamtentwurf regelrecht drängen, der einen „umfassenden Beitrag zur Bewältigung derjenigen Probleme“ leisten soll, „die sich einer mit dem Anspruch auf Gegenwartsrelevanz auftretenden Theologie stellen“ (Scheliha, A. v.: Emanuel Hirsch als Dogmatiker. Zum Programm der „Christlichen Rechenschaft“ im „Leitfaden zur christlichen Lehre“, Berlin 1991, 104). Vgl. auch die Erläuterungen zur Entstehung und Rezeption des Lf a. a. O., 109–124. 82 Ulrich Barth und Arnulf von Scheliha haben in einleuchtender Weise aufgezeigt, dass die – durch Schriften, die sich mit Einzelproblemen auseinandersetzen, geprägte – frühe Schaffensphase Hirschs 1934 zu ihrem Ende kommt. Mit der auf den Antritt der Professur für Systematische Theologie (WiSe 1936/37) folgenden Abfassung des Lf (1938) und der – eine längere Zeit beanspruchende – Durchführung der Neuzeitanalyse in der Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949–1954) wird das zuvor „auf die Zeit der auf die französische Revolution folgenden Epoche“ konzentrierte und „auf Staats- und Geschichtsphilosophie und politische Theologie“ inhaltlich beschränkte Feld verlassen und „eine Geschichte des europäischen Geistes avisiert, die die gegenwärtige Krise aus der Perspektive der Entwicklung des neuzeitlich-abendländischen Geistes deutet“ (a. a. O., 113; vgl. Barth, U.: Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin u. a. 1992, 562–567). Das „Rahmenthema der gesamten Dogmatik“ – „Christentum, Kirche und Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit“ – leitet „von nun an fast sämtliche systematisch-theologischen Werke Hirschs einschließlich des bis 1967 reichenden Alterswerks“ ein und bestimmt es nachhaltig (Scheliha: Emanuel Hirsch, 125, Anm.  32). Durch den über seine Zeit hinausreichenden Ansatz bei der Neuzeitdiagnose gewinnt die Arbeit Hirschs an Gegenwartsrelevanz. 83  Zur ausführlichen Darstellung von Form und Intention der einzelnen Schriften s. u., 4.B, 174 ff.

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Kontur. Einen gegenüber der bisherigen Forschung neuen Akzent setzt die vorliegende Arbeit, indem sie zwar die Christliche Rechenschaft – die auch den beiden benannten Arbeiten als wesentliche Quelle dient – zur Grundlage und zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht, aber darüber hinaus die entsprechenden Kapitel in den Spätschriften Hirschs84 – besonders das bis jetzt wenig beachtete erbauliche Buch Zwiesprache auf dem Wege zu Gott – zur Interpretation der Hirsch’schen Todesdeutung ausführlich heranzieht. Dabei werden die Spätschriften als adressatenorientierte Variationen des einen Themas, der Frage nach dem Wesen des Christentums und seiner Relevanz für die moderne Lebenswirklichkeit, gelesen.85 Die zu Beginn zitierte „Nacht, die wir nicht erhellen können“86, die die erkenntnistheoretische Begrenzung des Wissens um den Tod zur Sprache bringt, bildet bei Hirsch nur eine Ebene der Nachtmetapher. Ohne deren ausführlicher Analyse im Blick auf die Lage der modernen Eschatologie87 vorzugreifen, soll der Aufbau der vorliegenden Arbeit anhand der mit Zitaten belegten weiteren Dimensionen der Nachtmetapher erläutert werden: „Der Mensch muß Sterben und Tod wissen als ein unwiderruflich gesetztes Ende der Lebensgestalt, durch die er mit Zeugung und Geburt als er selbst ins Dasein getreten ist, und kann darauf nach seinem menschlichen Denken und Verstehn nicht anders vorblicken als auf den Eingang in die Nacht eines heilig dunklen Geheimnisses […].“88 „Die Markscheide wird sichtbar, und auch dies wird sichtbar, daß es zwischen Gott und dem Herzen eine Hülle der Nacht gibt, die da durchschritten werden muß.“89 „Nicht leicht ist es zu glauben, daß uns, eben deshalb, weil unser erdgebundener Sinn nur des Endlichen mächtig und empfähig ist, die Nacht, die dunkle bildlose Nacht, die naturgemäße Erscheinungsform des wahren göttlichen Lichts mit seiner unendlichen Fülle bedeutet.“90 „Einig sind er und seine Gegner und seine irre gewordenen Freunde bloß in dem einem, daß er die letzte, die dunkelste Nacht durchgeht. Aber sie, die Erdgebundenen, die Blinden, halten den Nachtmantel Gottes für das Letzte, das Giltige, weil dieser das uns an unsers Lebens Grenze sich Zukehrende ist. Jesus hingegen, er weiß, daß eine ewige Liebe ist. Ihm ist der

84 

Die Bedeutung des Alterswerks Emanuel Hirschs wird gewürdigt bei Müller: Pectus. Das hat freilich zur Folge, dass der Schwerpunkt in dieser Arbeit auf dem Gesamtzusammenhang der verschiedenen Zugänge Hirschs zum Thema Tod liegt und die unterscheidenden Charakteristika einzelner Schriften in den Hintergrund treten. Eine ausführliche werkgenetische Untersuchung zum Spätwerk Hirschs steht noch aus. 86  ChR II, 244. 87  S. u., 1.A.c, 38 ff. 88  ChR II, 240; Herv. A.‑M. K. 89  HchR, 306; Herv. A.‑M. K. 90  WrCh, 175; Herv. A.‑M. K. 85 

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Nachtmantel Gottes nur die bergende Hülle, in welcher des Vaters Liebe das bebende Herz hält und trägt auf dem unbegreiflichen Wege hinein in sein Licht.“91 „Ja, und es gibt nur den einen Weg hinein in die Nacht, welche alles Lichtes Fülle ist: Jesus den Gekreuzigten.“92

Um der Mehrdimensionalität des Themas und der Tatsache, dass Hirsch seine Todesdeutung im Gesamtrahmen seiner Theologie entfaltet, gerecht zu werden, wird in einem grundlegenden Teil der Zugang zum Thema über eine auf die Eschatologie zugespitzte Darstellung seiner systematischen Gesamtkonzeption gewählt. Weil die Eschatologie für Hirsch die Theologie insgesamt unter neuer Perspektive betrachtet, fließen hier wesentliche Aspekte seines Denkens zusammen. Ihre methodische Durchführung ist wie Hirschs Theologie insgesamt durch seine Neuzeit- und Gegenwartsdiagnose bestimmt. Er nimmt die erkenntnistheoretische Begrenzung, die dem Wissen über den Tod auferlegt ist, ernst, indem er jegliche „Spekulation“93 über das Jenseits des Todes ablehnt. Die für den Verstand dunkle Nacht des Todes muss auch für die auf argumentative Nachvollziehbarkeit zielende wissenschaftliche Theologie eine „bildlose Nacht“94 bleiben.95 Die Umformung der traditionellen, durch mythologisches und bildhaftes Denken geprägten eschatologischen Gehalte wird damit zur Aufgabe einer dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein verpflichteten Eschatologie. Als Maßstab bestimmt Hirsch das Gottesverhältnis des Einzelnen vor dem Horizont seines Todes, womit der Tod des Einzelnen zum Zentrum der Eschatologie wird.96 Positive Aussagen können in diesem Bereich allein aus der Glau91 

WGJ, 241; Herv. A.‑M. K. WGJ, 239 f.; Herv. A.‑M. K. 93  ChR I, 29. 94  WrCh, 175. 95  Hinter diese nachvollziehbare leitende Annahme für die Entfaltung einer theologischen Eschatologie scheinen einige Vertreter der akademischen Theologie in jüngster Zeit zurückzufallen, wie Folkhart Wittekind kritisiert (Wittekind, F.: Tod, Auferstehung und ewiges Leben in der gegenwärtigen Theologie, in: Zager, W. (Hg.): Tod und ewiges Leben, Leipzig 2014, 127–158): „Die kritische Funktion der Rede von Gott als dem ganz Anderen wird verdrängt. Vielmehr tritt an ihre Stelle eine über die Allgemeingültigkeit theologischer Weltaussagen funktionierende neue weltliche Bildhaftigkeit. […] Die Theologie schließt damit an die Bildproduktion des Glaubens an, die aus der Hoffnung auf den end-gültigen Machterweis Gottes gegenüber dem sündenbesetzten weltlichen Geschehen stammt. Sie beschränkt sich nicht auf ihre eigentlich wissenschaftliche Aufgabe, die Funktion der Bildproduktion des Glaubens in Bezug auf die eschatologisch-apokalyptischen Bilder durchsichtig zu machen.“ (A. a. O., 156.) – Auch in dieser Hinsicht ist es m. E. lohnenswert, die Hirsch’sche Thanatologie und mit ihr seine transformierte Eschatologie neu zur Geltung zu bringen. 96 Hans-Joachim Birkner führt dementsprechend in seiner Betrachtung der Entwicklung der theologischen Eschatologie in der ersten Hälfte des 20. Jh. aus, dass – nimmt eine Theologie ihren Ausgang bei dem neuzeitlichen Diktum der Erfahrung – das objektive Ende von 92 

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bensgewissheit heraus getroffen werden, die sich aus der Erfahrung ableitet, dass sich Gott an mir als der Liebende erwiesen hat. Von dort aus bringt Hirsch die traditionellen eschatologischen Gehalte in neuer, rekonstruierter Gestalt zur Geltung. Die eigentliche Interpretation der Hirsch’schen Todesdeutung beginnt im Hauptteil mit einer Analyse seiner existenzanalytischen und phänomenologischen Reflexion auf den Tod, mit der der Ansatz seiner Theologie bei der menschlichen Lebenswirklichkeit verdeutlicht werden soll. Hier nimmt Hirsch die erkenntnistheoretische Begrenzung in der Weise ernst, dass er – ähnlich wie die einschlägigen existenzphilosophischen Entwürfe – über die Bedeutung des Todes für das menschliche Leben nachdenkt. Er versieht diese Stoßrichtung mit einer religionsphilosophischen Pointe, indem der Tod für ihn die äußerlich sichtbare Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit markiert, deren Gegenwart im menschlichen Leben zugleich auf die menschliche Sterblichkeit als auch auf die menschliche Ewigkeitsbezogenheit verweist. Der Tod ist in diesem Sinne der Gipfel aller Erfahrungen, in denen der Mensch an die Grenze seines Denkens und Lebens gerät, die „letzte“ und „dunkelste“97 aller Nächte. Wird dieses Verständnis des Todes auf das menschliche Gottesverhältnis bezogen, so wird die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit zum Ort der Gottesbegegnung: Die geheimnisvolle Nacht verweist auf die Heiligkeit Gottes.98 Der Tod wie die Grenzerfahrungen offenbaren, dass „es zwischen dem Herzen und Gott eine Hülle der Nacht gibt“99, in der die allgemeine Einsicht in die Begrenztheit der Erkenntnis und Gegebenheit des Lebens sich in Form der gegenwärtigen Erfahrung der Verborgenheit Gottes und des Gerichts niederschlägt und die den Menschen daran zweifeln lässt, dass der Tod der Weg in die Vollendung bei Gott ist. Erst die Gewissheit der Liebe Gottes kann die Vollendungsdimension des Todes so zur Geltung bringen, dass sie sich im eigenen Lebensvollzug in Form der entbindenden Kraft von Grenzerfahrungen als wirklich erweist. Für den Glauben, der sich aus der Begegnung mit Jesus versteht, bleibt die Todeserfahrung als undurchdringliche Nacht – wie Jesu Gottverlassenheit am Kreuz vor Augen führt – bestehen. Jesu Sterben zeigt allerdings auf, dass gerade in dieser Nacht – die aufgrund der Gestaltlosigkeit der Ewigkeit die „naturgemäße ErscheiWelt und Geschichte eschatologisch keine Rolle spielen, sondern die Erfahrung von Welt und Geschichte. Demzufolge reduziert sich eine der Neuzeit verpflichtete Eschatologie auf den klassischen eschatologischen Topos des individuellen Todes (Birkner, H.‑J.: Eschatologie und Erfahrung, in: Gerdes, H. (Hg.): Wahrheit und Glaube. Festschrift für Emanuel Hirsch zu seinem 75. Geburtstag, Itzehoe 1963, 31–41). 97  WGJ, 241. 98  Vgl. ChR II, 240. 99  HchR, 306.

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nungsform des wahren göttlichen Lichts in seiner unendlichen Fülle bedeutet“100 – die Möglichkeit der Vollendung des Glaubens liegt: Ein mutiges Vertrauen, das an nichts Äußerem festhalten kann, eine Hingabe, die aufgrund der Einsicht in das schlechthinnige Gegebensein des eigenen Lebens auf jede Selbstbehauptung verzichtet bzw. verzichten muss. Hirsch nennt diese Mischung aus passivem Dahingegebensein und aktiver Hingabe „bejahtes Gotterleiden“101. Die Nacht des Todes ist damit für Jesus zugleich die „dunkelste“ und „alles Lichtes Fülle“102 , die die Anfechtung ins Extrem steigert und zugleich die vollendete Möglichkeit des auf Gott vertrauenden Menschseins bietet. Der die Arbeit beschließende Ausblicksteil dient dazu, zum einen die wesentlichen Linien der Hirsch’schen Todesdeutung zu résumieren und zum anderen deren theologische Überzeugungskraft herauszuarbeiten. Die Situation der Predigt über den Tod und angesichts des Todes wird dabei als der Ernstfall der Theologie verstanden, in dem sich deren Deutungsangebot als relevant für die Lebenswirklichkeit der Gegenwart erweisen muss und auf den die Systematische Theologie so bezogen ist, dass sie eine Hilfsfunktion für die theologische Selbstaufklärung der Predigenden einnimmt. Durch ihren – insbesondere beim Kasus der Bestattung – heterogenen Adressatenkreis ist die Predigt unmittelbar mit den unterschiedlichen Facetten der gesellschaftlichen Diskurse über den Tod konfrontiert. Die Kenntnis dieser Vielfalt bildet eine wichtige Voraussetzung für eine angemessene Entfaltung der christlichen Todesdeutung. Sie wird hier im Überblick dargestellt und die damit verbundenen gegenwartsdiagnostischen Varianten werden diskutiert. Dabei wird die Position stark gemacht, die sog. Todesverdrängungsthese zu relativieren und sie durch eine Haltung zu ersetzen, welche die – als faktisch vorhanden angenommenen – verdeckten und sichtbaren Umgangsweisen mit dem Tod freilegt und sich kritisch-konstruktiv zu ihnen ins Verhältnis setzt. An dieser Stelle wird die Tragfähigkeit einer der menschlichen Lebenswirklichkeit zugewandten Theologie – wie der Hirschs – deutlich. Die Predigt nimmt die Dialektik zwischen der „dunklen“ und der vom Licht der Glaubensgewissheit erfüllten Nacht ernst, indem sie die Spannungen zwischen Sprachlosigkeit und Sinnstiftungsverlangen, zwischen vernunftgemäßer Bildlosigkeit und glaubenspraktischer Bildproduktion, zwischen Sinnlosigkeit des Todes und lebensnotwendiger Todesbewältigung reflektiert und aushält. Die inhaltliche Plausibilität der Hirsch’schen Todesdeutung wird abschließend von drei verschiedenen glaubenspraktischen Problemstellungen her skizziert, die sich sowohl aus homiletischen Anfragen an die theologischen 100  WrCh,

175. ChR II, 97. 102  WGJ, 239 f. 101 

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Einleitung

Grundentscheidungen einer Predigt über den Tod als auch aus gesellschaftlichen Phänomenen ergeben. Die Überlegungen zur Möglichkeit, Sterben zu lernen, die Reflexion einer aus der Perspektive des christlichen Glaubens gestalteten Erinnerung an die Toten und die Auseinandersetzung mit dem Gedanken einer Bedrohung der Menschheit durch ein katastrophisches Weltende thematisieren die sowohl verdeckt bleibende als auch offen zutage tretende Angst vor der Nichtigkeit des menschlichen Lebens als Angst vor der dunklen Seite des Todes und stellen sie in den Rahmen der mit Hirsch entwickelten christlichen Hoffnung auf Vollendung.

Grundlegung

Die „bildlose Nacht“ – der eschatologische Rahmen der Todesdeutung

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie Als Hauptaufgabe der Theologie ist mit Hirsch die methodisch reflektierte Transformation der christlichen Überlieferung zu bezeichnen, von der der mythologische Bildbestand der Eschatologie besonders betroffen ist. Diese leitet er sowohl aus den Forderungen, die das moderne Selbst- und Weltbewusstsein an die Theologie stellt, als auch aus der genuin theologischen Frage nach dem Wesen des Christentums ab. Wollen Theologie und Kirche Vertreter eines in der Moderne relevanten Christentums sein, müssen sie die an sie herangetragenen Ansprüche in ihre Aufgabenstellung integrieren. Wollen Theologie und Kirche dem Wesen des Christentums entsprechen, müssen sie stets das Bewusstsein mitführen, dass die äußere Gestalt der Kirche und die christliche Überlieferung an sich nicht mit dem wesentlich Christlichen gleichzusetzen sind, sondern nur die endlich-geschichtlichen Vermittlungszusammenhänge eines ewigen Gehalts bilden, welcher immer wieder neu zu ergründen ist. Diese beiden Per­ spektiven bilden die konzeptionellen Voraussetzungen der Theologie Hirschs, denen an dieser Stelle mit besonderem Blick auf die Eschatologie nachgegangen werden soll. Wie die Herausforderungen der Moderne beschaffen sind, denen sich die Theologie stellen muss, verdeutlicht Hirsch mit einer kritisch-konstruktiven Bewertung der Situation von Kirche, Theologie und Gesellschaft in der Moderne, die seine theologische Reflexion immer begleitet. Sein theologisches Programm steht eng mit seiner Zeitdiagnose, die mit dem Schlagwort der ‚Umformungskrise‘ des Christentums auf den Punkt gebracht wird, in Zusammenhang. Die gegenwartsdiagnostische Begründung und Stoßrichtung der Theologie Hirschs wird zuerst dargestellt und auf die modernen Herausforderungen für die Eschatologie zugespitzt (1.A). Den Implikationen der mit der Gegenwartsdiagnose verbunden Gesellschafts- und Kirchen- bzw. Theologiekritik soll anschließend in zwei Schritten nachgegangen werden. Erstens führt die Hirsch’sche Gesellschaftskritik darauf hinaus, dass er einen gesellschaftlich gewährleisteten Raum für die Religiosität des Menschen einfordert, von dem die menschliche Gemeinschaft letztlich selbst profitiert. Hirsch liegt daran, als allgemein einsichtigen Tatbestand herauszustellen, dass die Religiosität zum Wesen des Menschen gehört. Seine Ar-

28

Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

gumentation dafür, dass die Religiosität – mit Hirsch: die ‚Ewigkeitsbezogenheit‘ – eine allgemein-menschliche Anlage ist, liefert zugleich die Begründung dafür, dass die eschatologische Perspektive auf den Menschen unabdingbar ist. Sie legitimiert damit gewissermaßen aus allgemein-menschlicher Perspektive eine theologische Eschatologie (1.B). Zweitens führt die Hirsch’sche Kirchen- und Theologiekritik darauf hinaus, dass er eine umfassende Umformung der christlichen Traditionsbestände einfordert. Eine theologische Eschatologie kann auch in der Moderne allgemein relevant sein, sofern sie sich deren Lebens- und Denkbedingungen verpflichtet weiß. Diese Möglichkeit ist gegeben, indem methodische Konsequenzen gezogen werden, die die Herausforderungen der Moderne produktiv integrieren. Die theologische Methode Hirschs wird hier in groben Zügen unter dem Programmbegriff der ‚christlichen Rechenschaft‘ entfaltet und auf die Methode der Eschatologie zugespitzt (1.C).

1.A  Die modernen Herausforderungen der Eschatologie: Die ‚Umformungskrise‘ des Christentums a)  Die Stellung der Religion in der Moderne Hirsch sieht in Luthers theologischen Einsichten und der Reformation – zusammengefasst in der Trennung von sakral und profan, in der Idee der Berufsfrömmigkeit und in der Einsicht in die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses des Einzelnen – das angelegt1, was sich in der Aufklärung als erstem Stadium der sog. Umformungskrise des Christentums manifestiert. Diese ist gekennzeichnet durch die Fragwürdigkeit der herkömmlichen weltanschaulichen und geschichtlichen Voraussetzungen des Christentums, die durch das Zerbrechen der klassischen Metaphysik an der Naturwissenschaft und die Relativierung der christlichen Geschichtsphilosophie durch die Ausweitung der Grundlagen der Geschichtswissenschaft hervortritt. Daraus folgend findet die selbstverständliche 1  Prägnant fasst Hirsch die die Umformungskrise auslösenden Momente der Reforma­t ion in den Erläuterungen zu §1 seiner ChR zusammen: „Zweiter Leitsatz. Die Reformation lehrt: a) eine nicht christlich, sondern allgemein gegründete weltliche Obrigkeit; b) eine Heiligkeit des irdischen Berufs; c) eine Unmittelbarkeit des Gewissens zu Gott ohne priesterliche Vermittlung, und die Möglichkeit, kirchlichen Bann um Gottes willen zu verachten. Sie verändert damit Denk- und Lebensgefühl: das Menschliche, das Eigenverantwortete wird entbunden. Das reißt dann die Voraussetzungen des alten Zeitalters weg. Die Reformation bewirkt: a) daß das Christliche Gegenstand der Diskussion wird, b) daß die Einheit des Lebens jenseits der christlichen Voraussetzungen zu stehen kommt in Vernunft und Gewissen hinein.“ (ChR I, 12.)

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

29

Gültigkeit der Offenbarung an der autonomen Vernunft des neuzeitlichen Bewusstseins ihre Grenze.2 Hirsch fasst die Phänomene der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der ge­ sellschaftlichen Bereiche zusammen, indem er vom Auseinandertreten von christlichem und humanem Wahrheitsbewusstsein spricht. Mit dem ‚humanen Wahrheitsbewusstsein‘ ist bei Hirsch das von christlichen Voraussetzungen unabhängige und von einem neuzeitlich-wissenschaftlichen Weltbild geprägte Wahrheitsbewusstsein gemeint. Es ist gekennzeichnet durch die Momente der Autonomie und des Zweifels;3 der selbstständig fragende und forschende, vernünftige Mensch verhält sich „jedem an ihn kommenden Wahrheitsanspruch gegenüber zweifelnd“4. Der Begriff hat zwar in Hirschs Ausführungen die Tendenz, mit einer sehr optimistischen Sicht auf das Vermögen der Naturwissenschaft inhaltlich durch die naturwissenschaftliche Weltanschauung und das Kausalitätsdenken vorbestimmt zu sein. Nimmt man ihn aber als einen solchen formalen Begriff, als der er von Hirsch eingeführt wird – der nämlich das Bewusstsein erfasst, dass die Besinnung auf Gott und Selbst sich auch unabhängig vom Christentum vollziehen kann –, dann lässt er sich auch auf eine von Hirschs Zeit und Anschauung unterschiedene Umwelt des Christentums des 20. und 21. Jh. beziehen.5 Aus systemtheoretischer Perspektive müsste in dem Fall der 2 

WCh, 150–152. I, §44. Martin Zerrath unterscheidet richtigerweise zwischen der Form des wissenschaftlich-cartesianischen Zweifels, der sich methodisch an Traditionsbeständen abarbeitet und der des allgemein-weltanschaulichen Zweifels, der in der Haltung einer „innere[n] Reserve“ gegenüber religiösen Weltdeutungsangeboten seinen Ausdruck findet (Zerrath: Vollendung, 140). 4  ChR I, 156; Herv. A.‑M. K. Eilert H erms kritisiert Hirschs Erhebung des neuzeitlichen Zweifels zum Strukturprinzip humanen Wahrheitsbewusstseins: Die Beschreibung sei frühneuzeitlichen Denkformen verhaftet, beschreibe sie doch das Gegenüber eines Autoritätsanspruches von Tradition zum sich als selbstständig verstehenden Subjekt. De facto sei aber die Situation am Ende des 19. Jh. so zu beschreiben, dass zwei gleichermaßen durch Tradition inhaltlich gestützte Wahrheitsansprüche miteinander konkurrieren. Richtig beschrieben wäre die Struktur, wenn sowohl der kirchliche Wahrheitsanspruch als auch der neuzeitlich-naturwissenschaftliche Wahrheitsanspruch „vor das Forum des Wahrheitsbewußtseins des Einzelnen zitiert, hier in Frage gestellt und entschieden würden“ (Herms, E.: Emanuel Hirsch – zu Unrecht vergessen? Teil 2, in: Luther 60/1 [1989], 28–48, hier: 33 f.). Die Hervorhebung im Hirsch’schen Zitat und die hier gelieferte Interpretation des humanen Wahrheitsbewusstseins als strikt formalen (Ideal-)Begriffs, der für die theologische Arbeit immer nur in seiner Spannungseinheit mit dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums gesehen werden kann, macht dagegen deutlich, dass diese Strukturbeschreibung bei Hirsch selbst zu finden ist. S. 32.58. 5 Vgl. Zerraths Unterscheidung von vier Momenten am Begriff des Humanen, Zerrath: Vollendung, 143–146. 3  ChR

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

weltanschaulichen Pluralisierung – außerhalb des Christentums gibt es nicht eine Weltanschauung, die ihm gegenübersteht – Rechnung getragen werden.6 In Hirschs Gegenwart ist die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Bereiche weiter vorangeschritten. Hirschs gegenwartsdiagnostische Beobachtungen sind hier vor allem seinen Spätschriften der 60er Jahre entnommen.7 Die Gesellschaft dieser Zeit ist für Hirsch gekennzeichnet durch religiöse Pluralisierung und Individualisierung und durch die Eigenverantwortlichkeit weltlicher Bereiche.8 Die Einheit der weltlichen Bereiche verortet Hirsch in der Sphäre von „Vernunft und Gewissen“, in der menschlichen Subjektivität.9 Mit Dilthey formuliert ist das Individuum bei Hirsch „Kreuzungspunkt“10 der verschiedenen Ansprüche gesellschaftlicher Systeme. Der Religion wird in ihrem Bezug auf die gesellschaftlichen Systeme von Hirsch ein doppelter Platz zugewiesen. Einerseits wird sie als selbstständiger gesellschaftlicher Bereich neben anderen identifiziert. Ihre Eigenständigkeit ist für Hirsch gesichert, indem die Gesellschaft „die Frage des Glaubensgeheimnisses offen läßt, ihm gleichsam einen leeren Platz ausspart“11. Begründet ist diese Leerstelle in dem neuzeitlichen Prinzip der Gewissensfreiheit des Einzelnen. Das Gottesverhältnis des Einzelnen bricht für Hirsch in der Tiefe der persönlichen Gewissenserfahrung auf. Die damit verbundene Selbsterkenntnis bezieht sich explizit auf die eine Wahrheit – Gott –, die in jedem allgemeinen Erkenntnisakt mitgesetzt ist. Die religiöse Selbsterkenntnis vermag es also, den Bezug aller Erkenntnis auf die eine Wahr6  Im Gegensatz zu diesem Vorschlag kritisiert Kirsten Huxel heftig, dass „das als allgemeinmenschlich verstandene neuzeitlich-wissenschaftliche Wahrheitsbewußtsein, von Hirsch stets im fragwürdigen Singular angeführt, zwar nicht explizit, aber faktisch als norma normans theologischer Erkenntnis eingesetzt wird. Darüber kann auch die dezidierte Wertschätzung, die Hirsch der Schrift als historischer Quelle nicht zuletzt durch eigene Beiträge zur historisch-kritischen Forschung entgegengebracht hat, nicht hinwegtäuschen. In Bezug auf das ‚neuzeitliche Wahrheitsbewußtsein‘ fehlt Hirsch indes der Blick sowohl für dessen pluralistische Inhomogenität als auch für dessen unhinterfragte Selbstverständlichkeiten.“ (Huxel, K.: Die Kirchentheorie Emanuel Hirschs, in: ZThK 103/1 [2006], 49–76, hier: 75.) Zur Struktur des humanen Wahrheitsbewusstseins s. u., 31 f., und zum Evangelium als inhaltlichem Maßstab theologischer Erkenntnis s. u., 58. 7 Die sich im Lf verdichtende Zeitdiagnose blieb allerdings, so die These von Martin Ohst, „fortan leitend“ (Ohst, M.: Emanuel Hirsch und die Predigt, in: R aschzok, K. (Hg.): Zwischen Volk und Bekenntnis. Praktische Theologie im Dritten Reich, Leipzig 2000, 127–150, hier: 141), weswegen hier auch auf Aussagen aus der ChR, deren Kontext die späten 30er und die 40er Jahre sind, zurückgegriffen wird. 8  Vgl. v. a. WuG, 10 f. 9  So bereits in ChR I, 11 f. 10  Dilthey, W.: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte 1, Stuttgart 71973 [1883], 51. 11  WuG, 10.

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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heit offenzulegen, und sichert damit die Einheit des Individuums im Geflecht seiner gesellschaftlichen Vollzüge.12 Damit ist andererseits das religiöse Selbstverhältnis als der individuelle Einheitsgrund und die Tiefendimension der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zu begreifen. Hirsch bestimmt als Funktion des religiösen Selbst- und Weltverhältnisses im gesellschaftlichen Raum, dass es „zu tieferer und strengerer Geisthaftigkeit des menschlichen Verhaltens drängt“, auf „reinere[ ] und tiefere[ ] Menschlichkeit“ zielt13. Das „menschlich-weltliche Verhalten“ ist zwar in den meisten gesellschaftlichen Handlungsbereichen religiös „neutralisiert[ ]“14, kann aber von der Religion in ihrer vollendeten Form des christlichen Glaubens profitieren, indem diese den letzten Sinn menschlicher Handlungen und das Wesen des Menschen – nämlich in letzter Hinsicht unersetzliche Person zu sein15 – aufdeckt und sichert. Gleichzeitig mit dieser Bestimmung des Ortes von Religion ist die Struktur des humanen Wahrheitsbewusstseins konkretisiert: Zielt menschliches Selbstund Weltbewusstsein auf echte Humanität, nimmt es also den Menschen ernst, tritt es für dessen Gewissensfreiheit ein und lässt damit Platz für dessen Religiosität. Im weiteren Verlauf dieser Ausführungen wird deutlich, dass es die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen ist – wie Hirsch die menschliche religiöse Anlage bezeichnet –, die ihn zum Menschen macht.16 Beachtet das menschliche Selbst- und Weltbewusstsein dies nicht, so erliegt es der „Inhumanität“17, die sich in der gesellschaftlichen Vereinnahmung des Einzelnen auswirkt. Verneint das allgemeine Bewusstsein die Gewissensfreiheit des Einzelnen und damit verbunden die religiöse Anlage per se, ist es nicht (mehr) als humanes Wahrheitsbewusstsein im Hirsch’schen Sinne zu bezeichnen.18 D. h. aber auch, dass das christliche Wahrheitsbewusstsein in seiner Reflexions- und Organisationsform nicht einseitig durch das humane Wahrheitsbewusstsein bedingt ist. Sondern das humane Wahrheitsbewusstsein muss – will es seinem Wesen entsprechen – das christliche Wahrheitsbewusstsein als Korrektiv nutzen, das ihn an die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen erinnert.19 Aus existenzialdialekti47.

12 Zur

diese Ansicht begründenden Struktur der menschlichen Selbsterkenntnis s. u.,

13  WuG, 14 Ebd.

15 

11.

S. u., 1.B.b., 51 ff. S. u., 1.B.b., 51 ff. 17  ChR I, 67. 18  An entsprechenden Stellen wird in dieser Arbeit demzufolge eine begriffliche Differenzierung zwischen menschlichem Selbst- und Weltbewusstsein im Allgemeinen und dem humanen Wahrheitsbewusstsein als dessen idealer Ausformung vorgenommen. 19  Hirsch geht nicht so weit, zu sagen, dass die abendländische Gesellschaft ohne den christlichen Glauben dem Untergang geweiht wäre. „Es droht [aber] mindestens die Gefahr, 16 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

scher Perspektive wird zudem deutlich, dass das humane Wahrheitsbewusstsein in der Selbstbesinnung des Menschen an seine Grenzen stößt und auf die erschließende Kraft des christlichen Wahrheitsbewusstseins angewiesen ist, es ist – theologisch gesprochen – erlösungsbedürftig.20

b)  Die Rationalisierung des menschlichen Lebens und die Krise des Christentums Für das Christentum bedeutet die Ausdifferenzierung zwischen christlichem und humanem Wahrheitsbewusstsein: Die christliche Welt- und Lebensanschauung wird verhandelbar und gerät angesichts weltanschaulicher Alternativen unter Rechtfertigungsdruck. Sie muss sich vor dem autonomen modernen Welt- und Selbstbewusstsein verantworten können. Das Christentum steht so vor der Alternative, in die totale Krise mit dem modernen Weltbild zu geraten oder dieses positiv aufzunehmen. Die erste Möglichkeit würde nach Hirsch dazu führen, dass die theologischen Inhalte „zu seltsamen Überbleibseln einer vergangnen europäischen Epoche“21 werden und das Christentum seinen eigenen Untergang einläuten würde. Hirsch stellt vor die radikale Alternative, dass das Christentum „entweder sterben oder sich in eine Geistes- und Lebensgestalt hinein umformen [muss], in der es dieser Rechenschaft gewachsen ist“22. Die Umformung der Reflexions- und Organisationsgestalt christlichen Glaubens ist damit nicht willkürlich einer sich um ihn herum verändernden Welt ausgesetzt, sondern notwendig für das Bestehen des Christentums selbst. Zu seinem Wesen gehört es, Rechenschaft über seinen Glauben abzulegen. Die Zielgruppe einer solchen Rechenschaft ist durch die vorherrschende Weltanschauung geprägt. Dementsprechend muss sie auf eine den sich verändernden Denk- und Lebensbedingungen entsprechende Reflexions- und Organisationsgestalt christlichen Glaubens zielen. daß folgende Zersetzung eintritt: […] Die Freisetzung des Menschen vom urtümlich Heiligen bleibt, Vernunft und Reflexion behalten ihr Spiel. Aber die Bindung unter das christlich verstandene heilige Geheimnis des gemeinsamen Lebens verflüchtigt sich mit der christlichen Religion. Es entsteht eine nihilistische Egoität, die Hemmungslosigkeit menschlichen Beliebens im Setzen und Durchsetzen von Zielen. Dabei ist es gleich, ob der hemmungslose Wille als Einzelwille oder als Völkerwille auftritt: Die Humanität geht dahin.“ (ChR II, 122.) 20 A.  a. O., 9. Vgl. a. a. O., 122. Darauf verweist zurecht Mareile Lasogga (Lasogga: Menschwerdung, 30, Anm.  38) gegen Böbel, F.: Menschliche und christliche Wahrheit bei Emanuel Hirsch, Erlangen/Nürnberg 1963, 73; Hentschel: Gewissenstheorie und Roth, M.: Gott im Widerspruch? Möglichkeiten und Grenzen der theologischen Apologetik, Berlin 2002. 21  WCh, 152. 22 Ebd.

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

33

Eine konstruktiv-produktive Verbindung von christlichem und humanem Wahrheitsbewusstsein – dass also ersteres seine notwendige Umformung vollzieht und letzteres den Platz für das Glaubensgeheimnis lässt – erweist sich für Hirsch allerdings unter den Bedingungen seiner Gegenwart, der 60er Jahre, als problematisch. Statt sich zusammenzufinden, sind christliches und allgemeines Wahrheitsbewusstsein weiter auseinandergetreten: Hirsch spricht pointiert von einem „Zeitalter schizophrener Bewußtseinszerspaltung“23. Das Kennzeichen dieses Zeitalters ist die Unzugänglichkeit christlich-kirchlicher Vorstellungen für die Vernunft, woraus für den Christenmenschen ein Auseinandertreten von Alltagserfahrung und der Welt des Glaubens resultiert, die mythologischen Vorstellungen verhaftetet ist. Der Christenmensch kann unter diesen Bedingungen seinen Glauben nur leben und gleichzeitig sein alltägliches Leben gestalten, indem er sein Wahrheitsbewusstsein und sein Leben in zwei verschiedene Teile – den vernunftgemäßen und den glaubensgemäßen – aufspaltet. Oder der Mensch verweigert sich dieser schizophrenen Lebenshaltung und zieht die Konsequenz, auf ein Christentum, das für seine Lebensdeutung nicht mehr unmittelbar relevant ist, zu verzichten.24 Die Infragestellung der Relevanz des Chris23 

HchR, 1. Dagegen sieht Hirsch in den frühen 30er Jahren im Nationalsozialismus die Chance, humanes und christliches Wahrheitsbewusstsein zusammenzuführen, weil sich dieser seiner Meinung nach wieder neu auf die Wurzeln des Menschlichen besinnt und der Religiosität ihren Platz zugesteht, sie sogar braucht, um die Tiefe des Menschlichen zu erlangen. Die sich auf die neuzeitlichen Anforderungen besinnende Theologie gewinnt hier seiner Meinung nach die Möglichkeit, zu einer einheitlichen Linie zu finden und sich der neuen Lebenswirklichkeit – die ihr nicht mehr rationalistisch und nihilistisch entgegensteht – wirklich öffnen zu können. Der allgemein nachvollziehbare Wille zu einer gegenwartsgemäßen Theologie wird hier mit politischem Pathos verbunden, der in dem herbeigesehnten gesellschaftlichen Umbruch die Chance auf Erneuerung vermutet. Diese Kombination ist zweifellos als der – zutiefst problematische – Entstehungskontext der Hirsch’schen Zeitdiagnose wahrzunehmen (Ohst: Predigt, 142–147). Hirschs Hoffnung auf eine „große, konstruktive neue Kultursynthese“ wurde allerdings enttäuscht. Seine Zeitdiagnose wandelt sich Martin Ohst zufolge ab 1936. „Gegenüber der Fixierung auf die ‚deutsche Wende‘ in den Jahren 1933 ff. gewann Hirsch eine Perspektive zurück, die ihn die problematische Stellung des christlichen Glaubens in der modernen Welt wieder als gesamtabendländisches bzw. ‚euramerikanisches‘ Syndrom sehen ließ, dessen besondere Erscheinungsform neben anderen die spezifisch deutschen Zustände und Probleme sind. Aber es ist gegenüber der Zeit vor 1933 eine entscheidende Umakzentuierung der Wertungen zu registrieren: Die unter dem Stichwort ‚Zweifel‘ zusammengefaßte Autonomisierung des Subjekts gegenüber allen traditionalen Geltungsansprüchen wertet Hirsch jetzt positiv, und zwar als wenn auch säkularisiertes, jedoch durch und durch legitimes Erbe der Reformation. […] diese Diagnose war so weiträumig begründet und durchgeführt, daß auch die Katastrophe des Nationalsozialismus sie nicht indiskutabel machte. Sie erwies sich auch noch als lebensfähig und wirklichkeitserschließend, als ihr unmittelbarer politisch-kultureller Entstehungskontext zerschlagen war.“ (A. a. O., 146 f.) 24  A. a. O., 1–7.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

tentums wird auf die Spitze getrieben im agnostischen ‚Kreuzzug‘ des menschlichen Selbst- und Weltbewusstseins gegen das Christentum bzw. die Religion an sich.25 Eine falsch verstandene Berechtigung der autonomen Vernunft und des Zweifels hat Hirsch zufolge das humane Wahrheitsbewusstsein in eine der eigentlichen Funktion des Zweifels fremde nihilistische Skepsis und zu einer die Idee der Autonomie konterkarierenden ethisch-religiösen Beliebigkeit verfremdet, die meinen, des Gottesgedankens nicht mehr zu bedürfen.26 Hinzu treten bzw. aus dem Verzicht auf den Ewigkeitsbezug des Menschen 27 resultieren Hirsch zufolge die mit dem technischen Fortschritt im 19. Jh. angebahnten Phänomene der politischen und wirtschaftlichen ‚Vermassung‘, Gleichmacherei und Funktionalisierung des Einzelnen, die keinen Raum mehr für die Innerlichkeit des Gewissens lassen.28 Der Einzelne wird ersetzbar, zwischenmenschliche Verhältnisse werden unter dem Vorzeichen der ökonomischen Nutzbarkeit gestaltet. Die lebendige, durch selbsttätige Subjekte konstituierte menschliche Gemeinschaft wird verkehrt in eine den Einzelnen vernachlässigende äußerliche und starre Organisation menschlichen Zusammenlebens. In dem einen Großteil des Alltags einnehmenden Arbeitsleben bergen die Phänomene der zunehmenden Spezialisierung und Arbeitsteilung die Gefahr der Depersonalisierung des Einzelnen, für den der Beruf „kaum noch ein Ort individueller Selbstbildung in freier Kommunikation mit gleichfalls sich selbst bildenden Subjekten“29 ist.30 In den Tendenzen solch einer Gesellschaft sieht Hirsch die Gefahr eines „Menschentums ohne Geheimnis“: „Die grübelnden, nach innen lebenden Menschen werden unter der Herrschaft der naturwissenschaftlich bedingten Technik und der Entstehung der biologisch gefaßten Gesamtwillen seltener. Das Menschentum ohne Geheimnis verfällt dem Dämon des entfesselten Zweckwillens.“31

Die Rationalisierung der verschiedenen Lebensbereiche, die im Anschluss an Matthias Lobe als zeitdiagnostischer Leitbegriff Hirschs zu bezeichnen ist,32 ist 25 

WuG, 16. WCh, 155–159; WuG, 21–23. 27  S. u., 1.B.b., 51 ff. 28  Zw, 67; ChR II, 122 f. 29  Lobe: Die Prinzipien, 206. Lobe weist (ebd.) in diesem Zuge auf einen bemerkenswerten Aspekt an Hirschs Ethik hin: Indem der Mensch der Möglichkeit der Selbstbildung im Arbeitsleben unter modernen Bedingungen verlustig geht, wird für die Ausbildung seiner Personalität die Freizeit zum überlebensnotwendigen Raum. 30  ChR II, §117. 31  ChR I, 67. 32 Vgl. Lobe: Die Prinzipien, 204–217. Lobe hebt für Hirschs Zeitdiagnose dessen lebensphilosophische Anleihen hervor, die er vor allem in den aufgemachten Differenzen zwischen tot–lebendig, krank–gesund usw. ausmacht. Auch der Begriff der Lebensmächte leite sich 26 

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Hirschs Analyse zufolge insofern in ihr Extrem gesteigert, als sie nicht nur einzelne Bereiche menschlichen Lebens – zurecht – betrifft, sondern den Lebensvollzug und die Selbstdeutung des Menschen insgesamt – unrechtmäßig – dominiert. Problematische christliche Reaktionen auf diese Entwicklung sieht Hirsch sowohl in der Abschottung gegen die Belange des modernen Menschen – womit dem ganzheitlichen Wesen des Menschen nicht entsprochen wird – als auch in deren unangemessenen Aufnahme – womit dem Wesen des Christentums, Ewigkeitsreligion zu sein, nicht entsprochen wird. Hirsch führt für seine Zeit zwei christlich-religiöse Spielarten des Umgangs mit den gesellschaftlichen Herausforderungen an: zum einen die Gestalt der Bildungsreligion, zum anderen eine übersteigerte Kirchlichkeit. Die moderne, idealistisch geprägte Bildungsreligion versucht einerseits das Individuum gegen die Tendenzen der Vermassung stark zu machen, nimmt aber die gesellschaftlichen Tendenzen unangemessen auf, indem sie dazu neigt, das Gottesbild zu rationalisieren. Sie bewegt sich inhaltlich im Allgemeinen und ist durch „[z]wei Grenzerlebnisse“ geprägt, „die Rätselhaftigkeit allverfügender Schicksalsmacht und das Geheimnis eines alles tragenden geistigen Lebensgrundes“.33 Der Gedanke der Beseeltheit des Menschen mit göttlichem Geist wird für die menschliche Selbstverklärung in Anspruch genommen. Sie dominiert den Schicksalsglauben, der damit seiner Rätselhaftigkeit gewissermaßen entbehrt. Das Grundproblem dieses Selbstverständnisses ist für Hirsch neben der Aufhebung der Spannungen im Gottesbild die Vernachlässigung des persönlichen, in die Entscheidung stellenden Gottesbezugs. Damit ist die Bildungsreligion für ihn nicht mehr Religion, sondern „vornehme Spielart der Weltanschauung postreligiöser Prägung“34, die dem Christentum allein zugesteht, „Bildungsmacht“35 zu sein. Im Blick auf die Kirche verbindet Hirsch seine Gegenwartsdiagnose mit einer grundsätzlichen Institutionenkritik. Protestantische Innerlichkeit ist für Hirsch von sich aus polemisch auf die Gestalten ihrer Institutionalisierung gerichtet, die damit einer ständigen Revisionsbedürftigkeit unterliegen. Die sich gegenüber dem Einzelnen verselbstständigende Institution unterliegt der Tendenz, den Einzelnen vollkommen für sich in Anspruch zu nehmen.36 Diese beobachtet Hirsch bei den christlichen Kirchen seiner Zeit. Gegen die dem christlichen wohl daher. Außerdem berühre sich der zeitdiagnostische Leitbegriff der Rationalisierung mit dem Konzept Max Webers. 33  WrCh, 21. 34 Ebd. 35  A. a. O., 22. 36  Lobe, M.: Der Protestantismus als religiöser Subjektivismus. Emanuel Hirschs Kritik des religiösen Institutionalismus, in: Scheliha, A. v./Schröder, M./Fischer, H. (Hgg.): Das

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Glauben widerstrebenden gesellschaftlichen Kräfte denken diese, sich immunisieren zu können, indem sie „sich zu geschlossenen Gruppenmächten“37, zu Interessengemeinschaften und Vereinen verbinden und sich gegen innerkirchlichen und theologischen Pluralismus mittels starrer Ordnungen und theologischer Setzungen abzuschließen versuchen.38 Diese Reaktionen finden für Hirsch ihren Höhepunkt in den ökumenischen Einheitsbestrebungen der Nachkriegszeit, die das unmittelbare und individuell geprägte Gottesverhältnis des Einzelnen nicht berücksichtigen, und die zudem in ihrer letzten Logik auf eine Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche zielen, die für Hirsch der Inbegriff eines objektivistischen Christentumsverständnisses39 ist.40 Die Kirche wird von Hirsch in diesem Sinne als uniforme Stellvertreterin des Glaubens, Mitteilerin von Offenbarungen und Gerichtspredigerin gegen die an sich selbst zugrunde gehende Gesellschaft beschrieben. Sie nimmt einerseits die problematischen gesellschaftlichen Tendenzen der Vermassung auf, andererseits schottet sie sich protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, 103–117, hier: 113 37  WuG, 16. 38  ChR I, 11 f. Hirsch streitet damit nicht eine über die Ortskirche hinausgehende Verbindung von Christenmenschen und eine über menschliche Grenzen hinausgehende Universalität des Christentums ab, meint aber, diese würden allein über die „unorganisierte“ und „individualisierte“ Frömmigkeit, nicht über „Uniformität von Lehre, Brauch und Ordnung“, hergestellt (ChR II, 123). Hirsch unterscheidet also zwischen der Einheit einzelner Christen untereinander und der Einheit von „Korporationen“, erstere kann unabhängig von letzterer entstehen. Geschichtlichen Ausdruck kann sie in gemeinsamer theologischer und diakonischer Arbeit finden. Das ökumenische Projekt einer Weltkirche sieht er vor dem Hintergrund, dass sich der Inhalt des Evangeliums nur im Gegensatz klar zeigt und nur durch unruhiges Fragen hervorgebracht werden kann (a. a. O., 161 f.), als von seinen Voraussetzungen her sinnlos an. Gemeinschaftspflege jenseits einer dogmatisch festgesetzten Einheit hält Hirsch für sinnvoll (a. a. O., 164). 39  WrCh, 128. Auf diese Pointe von Hirschs antirömischer Haltung verweist Müller: Pectus, 305 f. 40  WrCh, 1–8.; WuG, 22 f. Der geschichtliche Hintergrund, den Hirsch hier schlagwortartig andeutet, kann an folgenden Entwicklungen festgemacht werden: (1) Die Gründung verschiedener Kirchenbünde nach dem Zweiten Weltkrieg (1947 LWB, 1948 ÖRK). (2) Der Zusammenschluss der Landeskirchen in Deutschland zu EKD (1945/48) und VELKD (1948). (3) Die Politisierung der Kirche in der Frage der Wiederbewaffnung und der damit verbundene Versuch eine EKD-weite einheitliche ethische Meinung zu forcieren. (4) Die Entstehung des Denkschriftenwesens infolge der Diskussion um die Wiederbewaffnung. (5) Eine Form von Ökumene, die zugunsten des gemeinsamen Dienstes an der Welt den Ernst konfessioneller Differenzen relativiert. Der Anstoß zu diesen Entwicklungen kann zusammengefasst werden unter der Frage von Weltverantwortung und Öffentlichkeitsrelevanz der Kirchen, die über ethisch-politische Positionierungen geklärt werden soll. Inwiefern dabei der genuine Auftrag der Kirche verloren geht, ist eine Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft und des Wesens der Kirche.

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vor der Rationalisierung durch die Flucht in eine theologisch autoritär verbürgte mythische Vorstellungswelt ab. So ist sie selbst nicht in der Lage, eine Leerstelle für die subjektive Frömmigkeit zu lassen.41 Damit tritt sie nach Meinung Hirschs weit hinter die Einsichten der Reformation und ihr reformatorisches Selbstverständnis zurück und befördert ihre eigene Ghettoisierung.42 Für den christlichen Glauben bedeutet das, dass er nicht mehr die Kraft hat, das Leben des Menschen von Grund auf zu bestimmen. Auf dem Gebiet der Eschatologie seiner Zeit identifiziert Hirsch zwei theologische Versuche, die auf die modernen gesellschaftlichen Tendenzen reagieren, sich bei genauerer Analyse aber als nicht zuträgliche Repristinationen mythologischer Denkfiguren erweisen.43 Zum einen meint die zeitgenössische (dialektische) Theologie auf das „Zusammenkrachen“44 des Ewigkeitsglaubens reagieren zu können, indem sie den Auferstehungsglauben gegen die philosophisch und biologisch destruierte Unsterblichkeitsidee ins Feld führt.45 Diese „Flucht aus dem Platonismus in die Apokalyptik“46 führt Hirsch zufolge allerdings zum endgültigen Zerbrechen der Plausibilität christlichen Ewigkeitsglaubens.47 Denn alle wissen um das Nichtwissen angesichts des Todes, das, so Hirsch, als anthropologische ‚Grundgewissheit‘ den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele abgelöst hat, und können der sich an eindeutigen Aussagen festhaltenden Theologie nur erstaunt gegenübertreten.48 Den anderen Antwortversuch der Theologie auf die moderne Lage sieht Hirsch in der Rezeption säkularisierter Reich-Gottes-Gedanken.49 Das Reich Gottes ist ihm zufolge die einzige christlich-eschatologische Vorstellung, die durch die Umformungskrise nicht zerstört worden ist, sie ist aber in der vorfind41 

HchR, 1–7; WuG, 21 f. ChR I, 21. 43  Die theologischen Argumentationsfiguren, die Hirsch für seine den identifizierten Problemen gegenübergestellten Thesen nutzbar macht, werden unten näher erläutert. 44  Zw, 66. 45  Ebd.; Eg, 211 f. Vgl. zu dem Versuch der Wiederbelebung der Auferstehungsvorstellung die exemplarische Aussage bei Barth, K.: Dogmatik im Grundriss. Im Anschluss an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, 180: „Was bedeutet die christliche Hoffnung in diesem Leben? Ein Leben nach dem Tode? […] Ein Seelchen, das wie ein Schmetterling über dem Grab davonflattert und noch irgendwo aufbewahrt wird, um unsterblich weiterzuleben? So haben sich die Heiden das Leben nach dem Tode vorgestellt. Das ist aber nicht die christliche Hoffnung: ‚Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches‘ […] Auferstehung heißt nicht Fortsetzung dieses Lebens, sondern Lebensvollendung.“ 46  Zw, 66. 47  A. a. O., 66 f. Vgl. Eg, 211 f. 48  ChR I, 278 f. 49  Ausführlicher ist die geschichtsphilosophische Abhandlung Hirschs zu aus den Ideen der Reformation abgeleiteten säkularen Reich-Gottes-Konzepten in RGB. 42 

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lichen Denkform eigentlich nicht wesentlich christlich. Die soziale, gerechtigkeitsstiftende Ausrichtung auf eine Sozialutopie ersetzt hier das eigentliche Wesen des christlichen Glaubens, nämlich die unmittelbare, im Innerlichen verborgene Gottesbeziehung des Einzelnen.50 An dieser Stelle verschwistert sich die Theologie auf falsche Weise mit einer Abart des humanen Wahrheitsbewusstseins, dem „praktischen Atheismus“51. Mit diesem Ausdruck belegt Hirsch den Diesseitsglauben, der auf eine Gottes- und Ewigkeitsbeziehung bewusst verzichtet und sich der Illusion hingibt, die Vollendung der Gesellschaft auf irdischem Weg erreichen zu können. Der praktische Atheismus zieht die falsche Konsequenz aus der Unfasslichkeit des Ewigkeitsglaubens, indem er auf ihn ganz verzichtet. Dabei verkennt er, dass der Gottesgedanke in den Kategorien von Grund und Grenze für den Bereich des Wissens und die Erfahrung grundlegend ist und ohne den Ewigkeitsbezug des Einzelnen ideale menschliche Gemeinschaft nur schwer realisiert werden kann.52 Der säkularisierte Reich-Gottes-Gedanke ist somit Hirsch zufolge in sich selbst widersprüchlich. Angesichts des Scheiterns marxistischer Sozialutopien darf die Theologie, so Hirsch, nicht darauf spekulieren, „daß nunmehr die nach einem ewigen Sinn verlangende menschliche Idealität reuig heimkehren werde zu dem alten unumgedeuteten Lehrstück von den letzten Dingen“53. Beide Konzepte – Sozialutopien ebenso wie die traditionelle Eschatologie – haben für Hirsch ihre Wurzel in selbstwidersprüchlichem mythischen Gedankengut, vernachlässigen je auf ihre Weise den unmittelbaren Gottesbezug des Einzelnen und sind damit für das humane Wahrheitsbewusstsein in seiner Idealgestalt und eine sich aus reformatorischen Grundeinsichten verstehende Theologie anstößig.

c)  Der Status der Eschatologie: Die „Nacht der Bildlosigkeit“ Die angemessene theologische Reaktion auf die Rationalisierung des menschlichen Lebens sieht Hirsch in der methodischen Umsetzung der Einsicht, dass humanes und christliches Wahrheitsbewusstsein einander kritisch-konstruktiv 50 

Eg, 206–208. Die Kritik richtet sich hier wohl implizit gegen Moltmann, J.: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 121985 [1964]. Vgl. die Problemanzeige, dass die eschatologischen Konzepte des 20. Jh. die dem christlichen Glauben wesentliche Hoffnung auf individuelle Vollendung u. a. durch die Überbetonung der universalen Vollendung zurückgedrängt haben bei Beintker, M.: Einführung, in: Union Evangelischer K irchen (Hg.): Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, Neukirchen-Vluyn 2 2008, 7–14, hier: 7 f. 51  Eg, 211. 52  S. u., 1.B.b., 51 ff. 53  WuG, 146.

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ergänzen, dass sie einander ‚wahlverwandt‘ sind. Den Ausgangspunkt nimmt die Theologie dafür bei der Gestalt, die die allgemeine Religiosität unter den modernen Bedingungen annimmt. Hirsch zufolge korrespondiert der Rationalisierung der menschlichen Lebensbereiche eine religiöse „Kargheit und Wort­ armut“54: „Unsere Zeit ist im allgemeinen ausdrucksarm: alles ist technisiert, vereinfacht, unsymbolisch, über vieles Entscheidende wird nicht geredet. Der Mensch ist mit seinen Erlebnissen schamhaft, nicht nur stumm vor andern, sondern auch stumm vor sich selbst. […] Darunter hat nichts so sehr gelitten wie das Religiöse: wir können nicht mehr so empfinden, denken, beten, uns gehaben wie die Menschen der alten Zeit. Die Innerlichkeit ist unkenntlich, vor andern und vor sich.“55

Die Frömmigkeit ist nicht mehr in der Lage, sich auszudrücken, nicht nur sprachlich, sondern auch im rituellen Vollzug. Nicht nur in der Kommunikation seines Glaubens mit anderen ist der Mensch hilflos, sondern auch in der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für sich selbst. Die Wucht der christlichen Tradition hilft dabei nicht, weil das Bewusstsein der „Uneigentlichkeit der frommen Rede“56 und der Überholtheit alter Riten eine unmittelbare Aneignung unmöglich macht. Die Schwierigkeit, eine Aussage aus einer individuellen Glaubenserfahrung abzuleiten, betrifft besonders den Bereich der Eschatologie: Für das Ergehen des Menschen im Tod und jenseits der Todesgrenze gibt es keine Erfahrungswerte. Hirsch betitelt die moderne Lage der Eschatologie mit der Metapher der „Nacht der Bildlosigkeit“57: „Dies ist die Nacht, in die für unsern Verstand und unseren von verständig umgrenzbaren Vorstellungen bewegten Willen der Gedanke der Ewigkeit getaucht ist.“58 Dem Glauben an die Ewigkeit scheinen durch die menschliche Einsicht in die Uneigentlichkeit mythischer Bilder jegliche Symbolisierungsmittel genommen zu werden. Er ist „Bejahung eines unfaßlichen, aller Denk- und Vorstellungskraft entzogenen Unsagbaren“59. In der Nachtmetapher klingt zwar die johanneische „Nacht, da niemand wirken

54 

ChR I, 138. ChR II, 90. 56  ChR I, 138. 57  WrCh, 174; Eg, 213. Vgl. die Rede von der „bildlosen Nacht des Todes“ (HchR, 129). 58  WrCh, 175. Vgl. ChR II, 240: „Der Mensch muß Sterben und Tod wissen als ein unwiderruflich gesetztes Ende der Lebensgestalt, durch die er mit Zeugung und Geburt als er selbst ins Dasein getreten ist, und kann darauf nach seinem menschlichen Denken und Verstehn nicht anders vorblicken als auf den Eingang in die Nacht eines heilig dunklen Geheimnisses […].“. A. a. O., 244: „Der Tod ist ein Eingehen in eine Nacht, die wir nicht erhellen können. Wir wissen heut, daß jede Aussage […] eine Überschreitung der Grenzen unsers Wissens ist.“ 59  WuG, 213. 55 

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kann“ (Joh 94)60 an, dennoch ist das, was vordergründig den Untergang der christlichen Eschatologie einläutet, Hirsch zufolge ambivalent. „Nicht leicht ist es zu glauben, daß uns, eben deshalb, weil unser erdgebundener Sinn nur des Endlichen mächtig und empfähig ist, die Nacht, die dunkle bildlose Nacht, die naturgemäße Erscheinungsform des wahren göttlichen Lichts mit seiner unendlichen Fülle bedeutet.“61

Hirsch übernimmt die metaphorische Sprache Novalis’62 , um die Zweideutigkeit der „Nacht der Bildlosigkeit“ herauszustellen. Die Nacht ist kein lichtloses Dunkel, sondern das „Gewand überschwenglichen Lichts“, das „uns alles Überirdische verhüllt“.63 Sie ist die Metapher für die unendliche Tiefe des göttlichen Geheimnisses, das für den menschlichen Verstand unter seinem Gegenteil verborgen liegt. Durch die Abwehr gegenständlichen Sprechens vom Ewigen wird dem Glauben der Geheimnischarakter christlicher Offenbarung64 vor Augen geführt. Was für den endlichen Verstand in der abstrakten Sprachlosigkeit – 60  Im

johanneischen Sinne verwendet K ierkegaard die Nachtmetapher. Er verweist damit darauf, dass die Toten und das Wesen des Todes dem letzten Zugriff des menschlichen Verstandes entzogen sind (K ierkegaard, S.: An einem Grabe, in: Ders.: Vier erbauliche Reden 1844. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, Gütersloh 1981, 183). 61  WrCh, 175. 62  Novalis Friedrich von Hardenberg: Hymnen an die Nacht (1800), Hannover 1923. Hirschs eigener Verweis auf Novalis findet sich in WrCh, 175. Vgl. zur hier gegebenen Novalis-Interpretation: Janke, W.: Fichte, Novalis und Hölderlin: Die Nacht des gegenwärtigen Zeitalters, in: Schrader, W. H. (Hg.): Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre, Amsterdam u. a. 1997, 1–24. Die Nacht ist in den Hymnen an die Nacht das Symbol der Geheimnishaftigkeit, Heiligkeit und Unaussprechlichkeit, die im Gegensatz zu den „Wünsche[n] der Jugend“ und „der Kindheit Träume[n]“, die das „allerfreuliche Licht“ der Nacht vorziehen, steht (1. Hymne). Dem kindlich-mythischen religiösen Bewusstsein wird mit der Nacht die Rätselhaftigkeit und Bedrohlichkeit des Todes vor Augen geführt, der mit einer Ästhetisierung des Todes begegnet wird. Mit dem christlichen Glauben erhält die Todesnacht eine Doppeldeutigkeit, sie wird zum Zeichen der Rettung (1. und 5. Hymne). Ebenso wie Hirsch verwendet Novalis das Bild der Nacht als Signum des neuen Zeitalters. Die Neuzeit wird von Novalis als Zeit beschrieben, in der über der religiösen Vorstellungswelt der „Schleyer der Nacht“ liegt (5. Hymne). Die Profanisierung von Welt und Natur führt dazu, dass sie allein unter der geschichts- und naturwissenschaftlichen Perspektive verstanden werden und in der gegenständlichen, rationalisierten Betrachtung erstarren. Dem setzt Novalis eine Romantisierung der Welt mittels poetischer Phantasie entgegen, die „dem Gewöhnlichen und Profanen sein geheimnisvolles Ansehen wieder[gibt]“, „dem Bekannten die Würde des Unbekannten“ verleiht und „das wirklich Endliche in einen unendlichen Schein“ erhebt (Janke: Fichte, Novalis und Hölderlin, 13). Die Nacht besitzt nämlich auch für Novalis entbindende Kraft, indem sie aus sich heraus eine neue Wirklichkeit und eine neue Art der Kindlichkeit, die christliche Gotteskindschaft, freisetzt: Jesus macht im „Tode … das ewge Leben kund“ (5. Hymne). 63  WuG, 214. Die Parallele bei Novalis lautet: „Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht?“ (1. Hymne). 64  S. u., 2.A, 85 ff.

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metaphorisch gesprochen: in der absoluten Dunkelheit der Nacht – enden muss, eröffnet für den christlichen Glauben die Möglichkeit, auf sein wahres, ewiges, unsichtbares Wesen verwiesen zu werden, das sich aller Festlegung auf eine endlich-sichtbare Gestalt entzieht.65 Die „Nacht der Bildlosigkeit“, in der sich der christliche Ewigkeitsglaube befindet, ist damit ein wichtiges Indiz für die „Wahlverwandtschaft“66 von humanem und christlichem Wahrheitsbewusstsein. Nimmt christliche Selbst- und Weltdeutung diese Lage ernst, akzeptiert sie zum einen die ihr vom humanen Wahrheitsbewusstsein aufgezeigten Grenzen der Erkenntnis. Zum anderen sieht Hirsch hier die Möglichkeit, jede verstandesmäßige abschließende Objektivation des Ewigkeitsgedankens zu vermeiden67 und damit zum Wesentlichen des christlichen Glaubens vorzudringen.68 In die andere Richtung besteht die Wahlverwandtschaft, indem der christliche Glaube die Leerstelle des menschlichen Gewissens – die das humane Wahrheitsbewusstsein durch die erkenntnismäßige Selbstbegrenzung und in Aufnahme des aufklärerischen Prinzips der Gewissensfreiheit idealerweise lässt – füllt und verteidigt. Darüber hinaus eröffnet Hirsch mit der Metapher der „Nacht der Bildlosigkeit“ einen spezifisch theologischen Deutungshorizont für den Schritt von re­ ligiöser Stummheit zu religiöser Bildsprache, die sich ihrer Uneigentlichkeit bewusst ist. Für das Bewusstsein der Uneigentlichkeit der Bilder muss der christliche Glaube durch die Rätselhaftigkeit der bildlosen Nacht, durch das Be65  In der Tat sind die „Idee einer Religion ohne Bilder“ (Trillhaas, W.: Religionsphilosophie, Berlin 1972, 257) und das „Interesse an dem sublimierten und bildlosen, abstrakten Gottesgedanken“ (a. a. O., 259) nicht genuin christlich, sondern durch jedes gebildete religiöse „Aufklärungsinteresse“ (ebd.) motiviert. Mit dieser Kritik an der Rede von der bildlosen Nacht nimmt Wolfgang Trillhaas offensichtlich indirekt auf Hirsch Bezug. Genuin christlich ist es aber wohl, aus einem aufgeklärten religiösen Selbstverständnis nicht den Bildverzicht abzuleiten, sondern die „Nacht der Bildlosigkeit“ mithilfe der kreuzestheologischen Deutungskategorie als Möglichkeit eines neuen, kritischen Bildgebrauchs zu begreifen. Das Interesse daran, die Bilder im Modus ihrer Uneigentlichkeit weiterhin religiös fruchtbar zu machen, entspringt aus dem Bewusstsein der Grenzen der rationalen Darstellung und der Spannungshaftigkeit des religiösen Verhältnisses. 66  WrCh, 177. 67  A. a. O., 172. 68  Indem Hirsch den „Mangel an darstellbarer Eindeutigkeit, an anschaulicher Glaubensmitteilung, an dogmatisch-sakramentaler Objektivität und an institutioneller Klarheit“ (Lobe: Der Protestantismus, 110) nicht als solchen, sondern als den Kern des Christentums treffend begreift, interpretiert er diesen im Rahmen einer für die Moderne fruchtbar gemachten theologia crucis. „Das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes, das sich mit der spezifisch modernen Einsicht in die eigene Substanzlosigkeit verbindet, findet in der Negativitätserfahrung, welche die ‚theologia crucis‘ formuliert, einen sachlichen Anknüpfungspunkt in der christlichen Tradition.“ (A. a. O., 112.)

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wusstsein der Verborgenheit Gottes, geläutert werden. Insofern verweist Hirsch mit der Nacht-Metapher auf den gerichthaften Charakter der Todesnacht des endlichen Verstandes.69 Das Gericht trägt zugleich die Gnadenseite in sich: Für den Glauben wird das Rätsel der Nacht mit der göttlichen Offenbarung in der Begegnung mit Jesus zu einem mit dem „wahren göttlichen Licht[ ]“70 erfüllten Geheimnis. Die Sprachlosigkeit angesichts der Ewigkeit wird im Glauben gewissermaßen relativiert, indem er aus seiner Erfahrung der Liebe Gottes eine „Fülle von Aussagen“71 ableiten kann, um deren Uneigentlichkeit er im Gegensatz zum mythischen Glauben weiß. Noch einmal in der Nacht-Metaphorik gesprochen: In der Todesnacht des Gerichts kommt das göttliche Gnadenlicht zum Leuchten. Für den Glaubenden „wölbt sich ein heimlicher Himmel mit glänzenden Sternen über dem irdischen Dasein“72 , der sich von dem sichtbaren, „durch und durch irdischen Sternenhimmel[ ]“73 durch seine Ewigkeitstiefe und seine Innerlichkeit unterscheidet.74 Die Bezeichnung der modernen Lage unter dem Schlüsselwort der „Nacht der Bildlosigkeit“ entzieht also der bildhaften Sprache nicht vollkommen ihre Legitimität, sondern dient dazu, die Einsicht des endlichen Verstandes in die Uneigentlichkeit der Bildsprache herauszustellen und theologisch für das Selbstverständnis des ewigkeitsgewissen Glaubens fruchtbar zu machen.75

69 

S. u., 7.A.b., 273 ff. 175. 71  ChR II, 110. Zur Durchführung dieser Annahme in der Eschatologie s. u., 160. 72  ChR II, 105. Es ist bemerkenswert, dass Hirsch mit dieser Aussage bereits in der ChR auf seine in den Spätschriften verwendete Metapher der ‚Nacht der Bildlosigkeit‘ verweist. Gleichzeitig nimmt er damit wohl indirekt Bezug auf K ants „bestirnte[n] Himmel“ (KpV Beschluss [A 289]). Dieser äußere Himmel verweist den Menschen angesichts der Unendlichkeit des Universums auf seine Kreatürlichkeit, jener innere, „heimliche[ ] Himmel“ verweist ihn auf die Ewigkeit. 73  WuG, 214. 74  Die Parallele bei Novalis lautet: „Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.“ (1. Hymne.) 75  Damit ist die Konsequenz, die Eberhard Jüngel aus der Hirsch’schen Diagnose zieht, nämlich dass damit dem Gebrauch eschatologischer Bilder die endgültige Absage erteilt ist, nicht zutreffend. Ebenso bricht die Abwehr mythologischer Redeweise nicht der willkürlichen Phantasie Bahn, sondern mit der an Gottes Offenbarung zurückgebundenen Ewigkeitsgewissheit ist ein Maßstab des bildhaften Redens geliefert (gegen Jüngel, E.: Anteilgeben an der Ewigkeit. Erwägungen zu einem christlichen Ewigkeitsbegriff, in: K ratz, R. G./ Spieckermann, H. (Hgg.): Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven, Berlin 2009, 299–316, hier: 299). 70  WrCh,

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d)  Résumé: Die Aufgabe der Theologie Hirschs auf das Theorem der ‚Umformungskrise‘ aufbauende Diagnose seiner Gegenwart ist zugleich Gesellschaftskritik und umfassende Kirchen- und Theologiekritik. Die Verantwortlichkeit für das Dilemma des Relevanzverlusts des Christentums sieht er eher bei den kirchlichen und theologischen Immunisierungsstrategien selbst als in reaktionär-nihilistischen Kräften der Gesellschaft.76 Das Verhalten von Kirche und Theologie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich teils in ihrer Reflexionsform nicht auf die sie umgebende Denk- und Lebenswelt einlassen, teils in ihrer Denk- bzw. Organisationsform gerade deren problematische Ausformungen zueigen machen. Damit leisten sie letztlich der Tendenz Vorschub, die Religiosität vom Wesen menschlichen Lebens abzulösen, indem sie entweder als ein dem allgemein-menschlichen Denken und Leben entgegengesetzter Sonderbereich markiert wird oder indem die Ewigkeitsbezogenheit des Einzelnen faktisch aufgegeben wird. Die Krise ist in doppelter Hinsicht zweigesichtig. Zum einen ist das neuzeitliche Wahrheitsbewusstsein von seiner Struktur und seinen Prinzipien her auf die Ewigkeit und Gott hin geöffnet, verneint aber aus seiner Selbstüberschätzung heraus sowohl seine ­eigenen Prinzipien als auch seine Ewigkeitsbezogenheit und den Gottesgedanken. Zum anderen sind evangelisches Christentum, Theologie und Kirche zwar vom Untergang bedroht, können aber aus der Lage heraus die Chance ergreifen, zu einer ihrem genuin reformatorischen Selbstverständnis gemäßen Form zu finden. An Hirschs zeitdiagnostischen Analysen wird deutlich, dass es ihm zufolge die Aufgabe von Theologie und Kirche ist, aus der Problemlage herauszuführen und die Umformung des Christentums einzuleiten, indem sie sich erstens bemühen, den Anspruch des humanen Wahrheitsbewusstseins zu integrieren und zweitens den Einzelnen zur Freiheit des subjektiv angeeigneten Glaubens zu ermutigen. Dies schließt drittens einen kritisch-produktiven Umgang mit der christlichen Überlieferung – besonders auf dem Feld der Eschatologie – ein. Hirsch stellt dabei klar, dass dieses Unternehmen kein einseitiges Zugeständnis von Theologie und Kirche an das allgemein-menschliche Selbst- und Weltbewusstsein ist. Im Gegenteil: So wie Theologie und Kirche dem durch zeitlich bedingten christlichen Glauben nur gerecht werden können, wenn sie den Anspruch des humanen Wahrheitsbewusstseins integrieren, so kann das allgemein-menschliche Selbst- und Weltbewusstsein nur zu seiner idealen Form des 76 

In der Linie seiner kirchenkritischen Zeitdiagnose führt Hirsch die neuzeitliche Kritik am Christentum auf eine „Verwechslung der christlichen Wahrheit mit kirchlichen Ver­falls­ erscheinungen“ zurück (ChR II, 121).

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humanen Wahrheitsbewusstseins finden, wenn es der religiösen Deutung des menschlichen Lebens Raum gibt.

1.B Die Berechtigung der Eschatologie: Argumente für die menschliche Ewigkeitsbezogenheit Die „Wahlverwandtschaft“77 zwischen dem humanen und dem christlichen Wahrheitsbewusstsein herauszustellen, ist Hirschs Zielsetzung, die sich insbesondere im Lf und in den theologischen Spätschriften als Mitte seines theologischen Programms erweist.78 Hirsch zufolge besteht der Nutzen aus der produktiv-kritischen Verbindung beider Größen für das humane Wahrheitsbewusstsein in der christlicherseits eingeforderten Ewigkeitsbezogenheit des Menschen, die er sowohl auf wahrheitstheoretischer als auch auf ethischer Ebene als unabdinglich erweist. Auf diese Argumentation, die die Grundlage für eine die Bedingungen des humanen Wahrheitsbewusstseins integrierende Eschatologie ist, soll im Folgenden eingegangen werden. Daran anschließend wird die Hirsch’sche Fassung des Ewigkeitsbegriffs näher beleuchtet – die Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit bildet die religionsphilosophische Voraussetzung für eine Eschatologie.

a)  Die wahrheitstheoretische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit Von der wahrheitstheoretischen Annahme der einen, absoluten Wahrheit her, zu der sich „menschliche[s] Denken und Leben […] in jedem Augenblick des Sich-Vollziehens“79 verhält, begründet Hirsch die Bezogenheit aller Erkenntnis auf einen gemeinsamen Grund.80 Er subsumiert die Natur- und die Geschichtswissenschaft, die ethische Selbstbeurteilung und den christlichen Glauben unter eine Grundstruktur: Sie sind auf die absolute Wahrheit bezogen, sie sind Erkenntnis. Aus der Unerschließbarkeit des Gegebenen für die Vernunft leitet Hirsch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrheitsbewusstsein ab. Die Wahrheit ist für die endliche Vernunft nicht letztgültig zu bestimmen. Das Ziel jeder 77  WrCh,

177. Vgl. weiterführend zum Verhältnis von humanem und christlichem Wahrheitsbewusstsein die Arbeit von Böbel: Menschliche und christliche Wahrheit. 79  ChR I, 162. 80  Vgl. zum Folgenden ChR I, §§44–46. 78 

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Erkenntnis, die Erschlossenheit des Gegebenen für und seine Durchdringung durch die Vernunft, kann nicht erreicht werden. Die Vernunft kann sich für die Reflexion über ihren unendlichen Gegenstand nicht von ihren endlichen Bedingungen lösen. Die Wahrheit ist ein nicht zu erreichender Grenzbegriff. Indem die Vernunft daran einsieht, dass der Erkenntnisakt selbst durch die Wahrheit bedingt ist, die sich dem Erkennenden erschließt, muss sie das Absolute zugleich als ihren allbedingenden Grund „postulieren“81. So ist die Wahrheit als Grund, auf den sich menschliches Fragen und Forschen bezieht, in jedem Erkenntnisakt „mitgesetzt“82 und als „Geheimnis […] darin gegenwärtig“83, aber nie vollständig zu erfassen. Hirsch stellt heraus: Der Mensch kann sich allein in der Form der Antinomie der Wahrheit bewusst sein, dass er „das Absolute zugleich als seinen Grund und seine Grenze weiß“84. Diese Antinomie durchzieht alle menschlichen Erkenntnisbereiche, Hirsch bezeichnet sie als das „Grundgesetz“85 des menschlichen Denkens. Die antinomische Struktur der Wahrheitsbezogenheit spiegelt sich für die Natur- und die Geschichtserkenntnis in der Unabschließbarkeit des Forschens wider. Die Wissenschaften treiben in ihrem Streben nach einem eindeutigen Verständnis von Welt und Mensch in forschender und fragender Unruhe stets über die Aporien, auf die sie stoßen, hinaus, jenseits derer sie wiederum auf neue Aporien stoßen.86 Der Drang nach vollendeter Erkenntnis, nach der „Einheit“ 81 

ChR I, 167. ChR I, 168. 83  ChR I, 163. 84  ChR I, 167. Mit der Antinomie als wesentlichem Merkmal des humanen Wahrheitsbewusstseins soll die Vorstellung vermieden werden, Gott fungiere als „Lückenfüller“ für die Leerstellen in der wissenschaftlichen Forschung. Der unendliche Forschungsdrang besitzt vielmehr selbst ein religiöses Moment, weil er in Form der Antinomie auf eine Grenze stößt und an dieser Stelle die Unendlichkeit von Wahrheit gegen die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis steht. Folglich muss die Theologie im Bezug auf die Gottesfrage der wissenschaftlichen Erkenntnis keine Grenze von außen setzen. 85 Ebd. 86  Die Antinomien gestalten sich in den einzelnen Erkenntnisbereichen folgendermaßen: In der Naturerkenntnis stehen die endliche Exaktheit der Erkenntnisse gegen die unendliche Reihung der Erkenntnismöglichkeiten, die Erklärbarkeit von Einzelphänomenen gegen die Unmöglichkeit, zu einem umfassenden Weltbild zu gelangen, der Mensch als Gegenüber zur Natur gegen den Fakt, dass auch der Mensch selbst Teil der Naturerkenntnis ist und sich nur bedingt transzendieren kann. In der Geschichtserkenntnis stehen der Kausalzusammenhang gegen die schicksalhafte Lenkung der Geschichte, die Erfahrung von Sinn gegen die Unmöglichkeit, einen Standpunkt einzunehmen, der das Ganze der Geschichte überblicken kann. In der Selbsterkenntnis stehen die Spontaneität gegen die Rezeptivität, die subjektive Freiheit gegen das Bewusstsein der Abhängigkeit (§§47–49). Einen ausführlichen Überblick über die religiöse Dimension in Natur-, Geschichts- und Selbsterkenntnis gibt Zerrath: Vollendung, 192–232. 82 

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und dem „Zusammenhang“ aller Erkenntnis87, ist dabei das Zeichen dafür, dass sie sich zur absoluten Wahrheit verhalten: Das wissenschaftliche Denken ist nicht in der Lage, sich diesseitig zu vollenden. Es selbst vermittelt durch die Kategorie der „Notwendigkeit“88 die Einsicht in die Bedingtheit allen Denkens. Werden die Formen der Wahrheitsbezogenheit der Wissenschaften in ihrer antino­mischen Struktur durchsichtig gemacht, so haben sie mit ihrem Voll­ endungsstreben eine implizite Ausrichtung auf das transzendente Absolute, das freilich als im Erkenntnisakt mitgesetzter Erkenntnisgrund zugleich immanent gedacht werden muss.89 Die dem Bereich der Selbsterkenntnis eigene Bezogenheit auf die Wahrheit ist die – von der naturwissenschaftlichen Sach- und der geschichtlichen Sinnwahrheit unterschiedene – Form der „Gewissenswahrheit“, in der „die letzte, ursprüngliche Wurzel des Menschseins aus Gott“90 liegt. Die vom wissenschaftlichen „Verstehen und Erklären“91 durch das Moment der persönlichen Betroffenheit unterschiedene Form von Wahrheitsbezogenheit bringt Hirsch auf den Begriff des (Sich-)„Vernehmen[s]“92. Diese Begrifflichkeit reflektiert auf die rezeptive Struktur der Selbsterkenntnis: Sie wird dem Menschen zuteil.93 Gleichzeitig entdeckt er sich darin als ein gegenüber den Anderen selbstständiger Einzelner. Hirschs Lob des Einzelnen entspringt damit nicht einer Überhöhung des aufgeklärten, autonomen Subjekts, sondern der grundlegenden wahrheitstheoretischen Einsicht, dass sich die Wahrheit „nur der Subjektivität“ erschließt und deren Objektivationen lediglich „Spiegelreflex der Wahrheit“ sind.94 In dem Selbstvollzug, der durch die Gewissenswahrheit bestimmt ist, liegt eine Polarität zwischen Selbstständigkeit und Hingabe, die sich in der Spannung zwischen „Freiheit und Unfreiheit“ des individuellen geschichtlichen Handelns 87 

Zw, 68.

88 Ebd. 89 

ChR I, 168. ChR I, 189. 91  ChR I, 188. 92 Ebd. 93  Als Belege für das Passivitätsmoment der Selbsterkenntnis seien folgende Sätze aus §49 inklusive Erläuterungen angeführt: „[…] das ein sich in Gott durchsichtig Gemachtwerden des sich in seinem Sein mit den andern als Einzelnen entdeckenden Menschen“ (a. a. O., 189; Herv. A.‑M. K.). „Am leichtesten sieht der Mensch den andern, persönlichen Sinn des Getroffenwerdens [Herv. A.‑M. K.] von Ruf und Fügung an der Fügung [Herv. i. O.] ein: er weiß sich darin als unmittelbar von der unbegreiflichen Hoheit des Göttlichen berührt, er schaut darin ein unerbittlich schweigendes Gesicht und ist als Person geadelt dadurch, daß er es sieht.“ (A. a. O., 191.) 94  WrCh, 129. Darauf verweist nachdrücklich Müller: Pectus, 305. Offenbarungstheologisch ist diese Einsicht so gewendet, dass erst die Anrede Gottes – die den Menschen in die schlechthinnige Abhängigkeit stellt – ihn zu einem endlich freien Einzelnen macht. 90 

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ausdrückt.95 Der ethische Wille findet sich in der Spannung zwischen unhintergehbarer Situationsgebundenheit und endlicher Freiheit wieder. Religiös gedeutet wird die Erfahrung der Situationsgebundenheit Hirsch zufolge als Gottes Fügung, die Erfahrung endlicher Freiheit wird auf Gottes Ruf des Einzelnen in die Verantwortung zurückgeführt.96 Das Gewissen, an das Fügung und Ruf ergehen, wird zum Ort von Religion. Hirsch gibt damit die wahrheitstheoretische Grundlegung für das an Luther anschließende Programm einer ‚Gewissensreligion‘. Hirsch bewertet die allein endlichkeitstheoretische Reflexion auf den Menschen in der Spannung zwischen Bestimmung und Faktizität als nicht zureichende Deutung des Menschseins.97 Das menschliche Leben ist nicht nur gesetzt, sondern steht unter dem Gesetz seiner Kreatürlichkeit, die es zutiefst von Gottes Leben unterscheidet. Die Bedingtheit des Menschen von Gott, seine Endlichkeit, gewinnt damit eine existenzielle Dimension. Schöpfungstheologisch bestimmt Hirsch die Antithese des Geschöpfs zu seinem Schöpfer als Kreatürlichkeit, die in Spannung zur Personhaftigkeit des Menschen steht. In dem personhaften Selbstvollzug wird dem Menschen Anteil am Wesen des Schöpfers gegeben. Er ist näher bestimmt als „Lieben“ – im Folgenden wird dafür der Begriff der Hingabe verwendet – und „Schaffen“ – im Folgenden als Kreativität bezeichnet –, die Ausdruck menschlich-endlicher Freiheit sind.98 Die in Gott gegründete Selbsttätigkeit ist der Grund der dem Menschen eigentümlichen Lebendigkeit, mit der er Anteil am Leben Gottes hat. Hirsch verwendet den Begriff des Lebendigen im Gegensatz zum Starren, Formalen, Künstlichen, Zweckdienlichen, rein Rationalen: Lebendig zu sein, heißt für den Menschen, aus der subjektiven Persönlichkeit heraus kreativ-hingebend selbsttätig zu sein. Durch das damit verbundene Moment des Spontanen ist der lebendige Selbstvollzug nicht vorhersehbar, der Mensch entzieht sich dem eindeutigen, rationalisierten Zugriff. Die Selbsttätigkeit des Menschen findet ihre Grenze an der Freiheit des Anderen. Auf methodischer Ebene stellt Hirsch damit klar: Menschsein lässt sich nicht eindeutig definieren, sondern es muss die Unbegreiflichkeit, seine „Lebendigkeit“ zum Ausdruck gebracht werden.99 Der denkerische Zu95 

ChR I, 189. die Geschichtserkenntnis folgert Martin Zerrath: „Die Situation, in der sich geschichtliches Handeln ereignet, sperrt sich gegenüber ihrer rein handlungstheoretischen Erfassung, da das betroffene Subjekt sie (und seinen eigenen Ort in ihr) schon immer unter Zuhilfenahme von Kategorien versteht, die ethisch-religiös aufgeladen sind.“ (Zerrath: Vollendung, 207.) 97  ChR I, 234. 98  ChR I, 236. 99  ChR II, 53. 96  Für

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griff auf das Wesen des Menschen kann deswegen „zuletzt keine Erklärung, sondern nur eine Deutung“100 sein. Die menschlich-geschöpfliche Eigenschaft der Hingabe spielt eine Rolle in den verschiedenen Dimensionen der sozialen Interaktion. Sie macht das Subjekt dem Anderen zugänglich und lässt es auf den Anderen zugehen,101 sie öffnet den Menschen für die Fremddeutung102 und ermöglicht auf diese Weise die Geschichtserkenntnis.103 Sie vermag es, trotz dieser Offenheit bei sich selbst zu bleiben. Sie ist begrenzt durch die Unkenntlichkeit des Anderen und den Selbstbehauptungsdrang des Ich. Die Kreativität ist der Ausdruck menschlich-endlicher Freiheit gegenüber der Welt und sich selbst. Sie hinterlässt ein Bleibendes in der Geschichte, was selbst die weitere Geschichte zu beeinflussen vermag.104 Sie zielt auf die Welterklärung und -beherrschung und die „Selbstdeutung und [die] Selbstdarstellung personhaften Lebens“105. Sie wird durch zwei Notwendigkeiten begrenzt, im Besonderen die charakterliche Prägung des Menschen, im Allgemeinen die Erfahrung von Schicksal.106 Zudem hat sie ihre zeitliche Grenze darin, dass sowohl das Leben ihres Subjekts als auch das Leben ihres Objekts begrenzt ist. Menschlich-irdisches Leben „hat nicht die Macht der Dauerbehauptung“107. Kreativ-freiheitlicher Selbstvollzug bedeutet Weltgestaltung und -beherrschung, die vernünftige Selbstbesinnung auf eigene Handlungen und die Unterdrückung der kreatürlichen Triebhaftigkeit im durch die äußeren Bedingungen jeweils gesetzten Rahmen.108 Die Bindung der Selbstbestimmung unter ihre endlich-irdischen Bedingungen wird Hirsch zufolge durch die gewissenhafte Selbstbesinnung gesteigert in das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. In dieser Perspektive wird dem Menschen vor Augen geführt, dass freiheitlicher, selbstbestimmter Selbstvollzug darin besteht, die individuelle Bestimmung zu „treffen“.109 Auf diese Weise werden der endlichen Freiheit ihr Horizont und ihre Gründung in Gottes ewi100 

ChR II, 174. ChR I, 230. 102  Lasogga: Menschwerdung, 120. 103 Ebd. 104  ChR I, 230. 105  Lasogga: Menschwerdung, 119. 106  ChR I, §68. 107  ChR I, 230. 108  ChR I, 236. 109  ChR II, 207: „Selbstbestimmung im ethischen Sinne ist also das Treffen der uns mit unsrer Bestimmung gesetzten Pflicht durch Wollen und Handeln in strenger Besinnung auf die uns gesetzten Lebensmöglichkeiten.“ A. a. O., 266: „Der Mensch ist da ein sich selbst bestimmendes Wesen, wo er innerhalb der gesetzten Lebensmöglichkeiten die ihm durch seine Bestimmung gesetzte Pflicht mit seiner Einzelentscheidung trifft.“ 101 

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gem Leben vor Augen geführt.110 Das „Treffen“ der Bestimmung ist nach Hirsch nicht so zu denken, als gebe es eine allgemeine Bestimmung, die sich für jedes Individuum gleich auswirkt. Für Hirsch zeichnet sich die göttliche Bestimmung des Menschen gerade durch ihre Verbindung von Allgemeinheit und Besonderheit aus, sie ist auf die Realisierung im für das Individuum gesetzten Rahmen angewiesen.111 Die Gegründetheit und Begrenztheit menschlichen Denkens und Lebens wird in der menschlichen Selbsterkenntnis, sich im Spannungsfeld von Freiheit und Situationsgebundenheit, von Personhaftigkeit und Kreatürlichkeit zu vollziehen, explizit. Von hier überträgt das Individuum die antinomische Grundstruktur des Wahrheitsbewusstseins auf die Aporien, die sich in den anderen Erkenntnisbereichen auftun, und wird sich darüber klar, in den verschiedenen Erkenntnisbereichen auf eine einzige Wahrheit bezogen zu sein. Die Einsicht in die Einheit der Wahrheit sichert zugleich die Einheit des Selbst, indem dieses in der Lage ist, die verschiedenen Erkenntnis- und Handlungsbereiche seines Lebens in einem letzten Bestimmungsgrund zusammenzubringen.112 Indem Hirsch das menschliche Wahrheitsbewusstsein in der Selbsterkenntnis verankert, liefert er die subjektivitätstheoretische Begründung für das Zusammenspiel von Allgemeinheit und Besonderheit, das sich in der Unterscheidung von allgemeiner Wahrheit und endlich bedingtem Wahrheitsbewusstsein ausdrückt: Die menschliche Bezogenheit auf die eine, absolute Wahrheit kann nur so gedacht werden, dass der Mensch von der Wahrheit persönlich betroffen ist, dass sie sich ihm erschließt, dass er sich durch sie in seinem Selbstvollzug bedingt weiß. Die Einsicht, dass Gott die Wahrheit ist, ist mit der analysierten Struktur menschlicher Erkenntnis Hirsch zufolge allgemein nachvollziehbar. In jedem Akt, in dem der Mensch sich auf die Wahrheit bezieht, ist er implizit auf Gott bezogen. Damit ist klar, dass die Analyse des humanen Wahrheitsbewusstseins „in der Aufdeckung [endet], daß das menschliche Denken und Leben am Ver-

110 

ChR II, 207.210. Dementsprechend ist Hirschs ethischer Entwurf in die Kategorie einer Güterethik einzuordnen. Hirsch selbst bezeichnet seinen Ansatz als „deskriptive“ Ethik im Unterschied zu einer imperativischen Ethik (ChR II, 174). „Es kommt nicht so sehr auf die bestimmte einzelne Unterweisung an, die praktische Beantwortung von Fällen schwieriger sittlicher Entscheidung; als vielmehr auf Sichverstehen, Sichinnesein.“ (A. a. O., 175.) Hirsch unterscheidet dabei zwischen endlichem (konkret bestimmtem, inhaltlich und individuell verschiedenem) Ethos und unendlichem (absolutem, zeitlosem) Ethos (das Soll). Das unendliche Ethos steht dem endlichen einerseits kritisch gegenüber (Schuldbewusstsein), andererseits begründet es die Menschlichkeit, die für das Leben in irdischer Gemeinschaft notwendig ist (Personsein). (A. a. O., 183.) 112  ChR I, 210. 111 

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hältnis zu Gott seinen es zugleich tragenden und verzehrenden Grund hat“113, dass sie an die Grenze des dem menschlichen Wahrheitsbewusstsein impliziten Gottesbewusstseins führt. Der allgemeinen Plausibilität des Gottesgedankens korrespondiert in fundamentalanthropologischer Perspektive die Annahme eines zur Grundkonstitution des Menschen gehörenden Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit und die Ableitung endlicher Freiheit aus Gott selbst. Der theologische Reflex auf die Einzigkeit der Wahrheit ist der monotheistische Gottesgedanke: Gott als der Eine und Allbedingende. Wahrheitserkenntnis drängt auf die Einheit und Ganzheit des Erkenntniszusammenhangs und erschließt ihren endlichen Gegenstand als einen vom Unbedingten bedingten. Das Zusammenspiel von Allgemeinheit und Besonderheit in der Wahrheitsfrage, von allgemeiner Sach- und Sinnwahrheit und existenzieller Selbsterkenntnis, macht Hirsch an den „zwei Urbeziehungen des Gottesbegriffs“ deutlich: Gott ist sowohl der letzte Horizont allgemeiner Erkenntnis als auch der, mit dem der Mensch eine persönliche Erfahrung macht. Während die Wissenschaft im Bereich von Natur- und Geschichtserkenntnis in Form des Gottesgedankens implizit auf Gott bezogen ist, setzt sich die Frömmigkeit in ein explizites, persönliches Verhältnis zu ihm.114 In dieser personhaften Form der Bezogenheit auf Gott liegt der denkerische Widerspruch, dass der endliche Mensch und der unendliche Gott auf eine Ebene gestellt werden und die Allbedingtheit der Welt durch Gott infrage gestellt wird. Gleichzeitig liegt in der persönlichen Gottesbeziehung die Möglichkeit endlicher Freiheit gegenüber Gott begründet, die Hirsch an verschiedenen Stellen stark macht, wobei er aber an dem göttlichen We­sens­ attribut der Allbedingung festhält. Die Spannung zwischen endlicher Freiheit und Gottes Allbedingung ist mit Hirsch denkerisch nicht aufzulösen.115 Die Form der Antinomie ist damit nicht nur ein notwendiges wissenschaftliches Darstellungsmittel, das auf die sprachliche Gebrochenheit der Aussagen über das innerliche Gottesverhältnis reflektiert, sondern wird im Bereich der Selbsterkenntnis als ein das Selbst und damit das menschliche Leben insgesamt betreffender Widerspruch erfahren.116 Das Recht der Eschatologie ist wahrheits- bzw. erkenntnistheoretisch so begründet, dass der Mensch an seinem Denken und Leben seines Transzendenzbezugs ansichtig wird. Gesteht sich der Mensch nicht ein, dass der Zusammenhang seiner Erkenntnistätigkeit außerhalb seiner selbst liegt und er damit durch einen nicht näher definierbaren einheitgebenden Grund bedingt ist, so muss er 113 

ChR I, 167. ChR I, 209. Hirsch verbindet mit dieser doppelten Reflexionshinsicht des Gottesgedankens philosophische und frömmigkeitstheoretische Theologie. 115  ChR I, 213 f. 116  Vgl. ChR I, 167. 114 

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auf die Annahme der Einheit aller Erkenntnis in ihrer Zielgerichtetheit auf die Wahrheit verzichten. Würde sich die Erkenntnis gegen den unendlichen Drang des Forschens verschließen, so würde sie vor unlösbaren Rätseln stehen bleiben und damit ihrer wesenhaften Zielrichtung auf die Wahrheit nicht entsprechen.117

b) Die ethische Begründung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit Die wahrheitstheoretisch begründete allgemein-menschliche Plausibilität des Gottesgedankens und das damit verbundene Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit werden fundamentalanthropologisch von Hirsch als einschlägige Wesensmerkmale des Menschen herausgestellt, die eine gelingende menschliche Gemeinschaft begründen. Hirsch arbeitet das ethische Wesen des Menschen als entscheidenden Unterschied zur tierischen Kreatürlichkeit heraus. Der Mensch steht grundsätzlich in der Spannung zwischen seiner Kreatürlichkeit und dem Bewusstsein, eigentlich ein über die bloße Kreatürlichkeit hinausgehendes Wesen zu haben. Die Kreatürlichkeit ist das, was er mit dem Tier gemeinsam hat. Sie ist bei Hirsch näher bestimmt als das Leben „unter dem Gesetz des Kampfes und der Zucht des Todes“118. Im Unterschied zum wahren Leben ist dieses Leben bei Hirsch zuweilen mit dem Begriff des ‚Daseins‘ belegt; kreatürliches Leben ist daher mit Hirsch nur im unvollkommenen Sinne als Leben zu bezeichnen.119 Es vollzieht sich unter den Regeln der Selbsterhaltung (‚Kampf‘)120 und der Sterblichkeit (‚Zucht des Todes‘). Hirsch stellt diese 117 

Zw, 67–69. ChR I, 237. 119 Dem entspricht die ethische Abstufung der Heiligkeit des Lebens, die Hirsch vornimmt. Während dem menschlichen Leben Unbedingtheit zugesprochen wird, ist das andere organische Leben nur insofern unantastbar, als es dem Menschen als Lebensgrundlage dient und für zukünftige Generationen als solche erhalten werden muss (Lobe: Die Prinzipien, 182 f.). 120 Matthias Lobe interpretiert den Begriff des Kampfes bei Hirsch im Sinne der Selbstbehauptung auf Kosten anderen Lebens. Dem kreatürlichen Leben „eignet eine immanente Destruktivität“ (a. a. O., 145), die zugleich notwendig für die Selbsterhaltung ist. Er ordnet Hirsch in dieser Hinsicht in die philosophische Tradition von Hobbes über Schelling, Hegel, M arx und Nietzsche bis zu Weber ein (a. a. O., 145–147). Mareile Lasogga zeigt die Parallele des Hirsch’schen Begriff des Kampfes zu Plessners Terminologie auf. Der ‚Kampf‘ ist auch dort Signum der tierischen/kreatürlichen Dimension des Menschen, die durch die „primäre Unerfülltheit seines Seins“ (Lasogga: Menschwerdung, 57) gekennzeichnet ist. Denn „auch er steht seiner Umgebung als selbständiges und damit bedürftiges Wesen gegenüber und strebt in unablässig ringender Auseinandersetzung mit derselben – im ‚Kampf‘ mit ihr – nach Befriedigung und Erfüllung“ (a. a. O., 57 f.). Eine weitere Parallele ergibt sich bei der Gegenüberstellung mit dem Begriff des Kampfes bei Jaspers, der die Dimension des spezifisch menschlichen, geistigen Kampfes differenziert entfaltet (näheres s. u., 207, Anm.  184). 118 

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Gesetzlichkeit evolutionstheoretisch als notwendig für das Überleben der Spezies und für die Artenvielfalt heraus. An dem gewählten Ausdruck wird die Ambiguität des ‚Gesetzes des Daseins‘ deutlich: Der Tod steht dem Leben als es gefährdende Schreckensmacht gegenüber, entbindet aber zugleich die Produktivität der Selbsterhaltung. Diese ist beim Menschen nicht nur auf die materielle Sicherung der Lebensgrundlage bezogen, sondern durchzieht auch die geistige Dimension des Selbstvollzugs, die auf die Weltgestaltung zielt: „Allein im Kampf widereinander und in der Arbeit miteinander können sie [die Menschen] ihre Kraft und ihre Möglichkeit kundtun und bewähren, und eine reiche und bewegte geschichtliche Welt aufbauen.“121 Von hier aus kann der geistige Kampf nach seiner produktiven Seite hin als „Kampf zwischen Wahrheit und Unwahrheit“122 , als ein Ringen um die Wahrheit in den verschiedenen Erkenntnisbereichen, als „schöpferische Unruhe“ der „lebendig bewegten Humanität“123 verstanden werden. Der Mensch kann im Unterschied zum Tier seinem Wesen nach über die kreatürliche Gesetzlichkeit des bloßen Selbsterhaltungstriebs hinausgehen. Er ist in der Lage, sich selbst zu transzendieren, und besitzt damit die Fähigkeit, die Bedürfnisse und das Urteil anderer in seinen Selbstvollzug mit einzuschließen. Er vollzieht sich als Gewissen. Dieses seines wahren Wesens wird sich der Mensch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft bewusst. Hirsch legt seinem Gewissensbegriff das empirische Phänomen des Ich­ bewusstseins zugrunde, das erst in der Unterscheidung des Einzelnen von anderen Menschen entsteht. Ichbewusstsein schließt damit immer schon das Bewusstsein von Anderen ein.124 Die Selbstdeutung des Menschen ist somit von seiner sozialen Verfasstheit nicht zu lösen. Die empirischen Gegebenheiten menschlichen Lebens lassen es nicht zu, den Einzelnen von der Gemeinschaft – aus der er sich selbst versteht und in der er sich selbst verwirklicht – zu isolieren.125 Mit der Definition des Menschen als Gemeinschaftswesen stellt Hirsch die wesentliche Differenz des Menschen zum Tier auf. Sie leitet sich her aus seiner ihm wesentlichen Kommunikabilität. Kommunikation ist „Verstehen und Gemeinschaft irgendwelcher Art begründendes Sichmitteilen von Mensch zu Mensch“126. Sie ist die menschliche Anlage, die die Möglichkeit schafft, sich sowohl in einen anderen hineinzuversetzen als auch sich für die Deutung eines anderen offen zu halten. Sie ist die Bedingung dafür, dass das Fremdurteil anti121 

ChR II, 266. WuG, 98. 123  ChR I, 189. 124  ChR I, 284. 125  ChR I, 264. 126  ChR II, 115. 122 

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zipiert und in das Selbsturteil integriert werden kann. Tierisch wäre nach Hirsch „eine Verständigung ohne Verstehen“127, eine Art von Austausch also, die nicht zur Introspektion und Fremddeutung befähigt. Für das Gelingen menschlicher Gemeinschaft muss der Einzelne den Anderen in seiner Unterschiedenheit von sich, in seiner Individualität, wahrnehmen. Das ist nur möglich, indem er dazu in der Lage ist, von sich selbst abzusehen und sich in die Situation des Anderen hineinzuversetzen. Er handelt dem Anderen gegenüber verantwortlich. Verantwortung ist der Modus, in dem menschliche Freiheit, die sich durch die Freiheit des Anderen begrenzt weiß, vollzogen wird. Sie wertet die Ungleichheit der Menschen untereinander, die durch ihre Situationsgebundenheit zustande kommt, insofern auf, als sie diese positiv im Sinne von Besonderheit deutet: Dem Einzelnen ist in seiner besonderen Situa­ tion eine spezielle Verantwortung zugedacht; er ist nicht austauschbar. Mit der Verbindung von Ungleichheit und Verantwortung128 liefert Hirsch ein weiteres Differenzmoment des Menschen zum Tier: Die Unterschiedenheit der Leistung und Fähigkeiten begründet im Medium der menschlichen Gemeinschaft die Individualität des Menschen. Die geschichtliche Individualität des Einzelnen, die in der verantwortungsbewussten Lebensgestaltung einen charakteristischen und unverwechselbaren Ausdruck findet, bringt Hirsch auf den Begriff der Ehre. Dieser ist zugleich allgemein in der Hinsicht, dass die Ehre jedem Menschen zueigen ist.129 Die Ehre ist zu umschreiben als Gefühl, von der Gemeinschaft in seiner Individualität anerkannt zu sein, und äußert sich in der persönlichen Lebensgestaltung so, dass der Einzelne „für die andern da“130 ist. Sie hat, so Hirsch, ihren „unzerstörbaren Grund“131 darin, dass sie sich letztlich aus dem Gottesbezug herleitet. Der Mensch deutet seine Situationsgebundenheit, die seine Ungleichheit zu anderen bedingt, so, dass er sich und alle anderen als von Gott gesetzt weiß. Er begreift diese besondere Situation als Grund seiner Verantwortung, indem er weiß, dass er zu mehr bestimmt ist, als ihm in seiner Situation vor Augen steht. Er ist in seinem geschichtlichen Selbstvollzug auf sein ewiges Wesen ausgerichtet. Die von Hirsch für die Einheit von Gesetztsein und Bestimmung veranschlagte Deutekategorie ist der Begriff der Pflicht.132 Die verantwortliche Haltung gegenüber dem Anderen ist letztlich darin begründet, dass das ewige Wesen jedes Einzelnen anerkannt wird, das dem Zugriff

127 

ChR II, 116. ChR I, §  62. 129  ChR I, 264. 130 Ebd. 131  ChR I, 272. 132  ChR I, §  63. 128 

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seiner Mitmenschen entzogen ist. Mit Hirschs Worten: Der Einzelne muss in seinem ‚Geheiligtsein‘ anerkannt werden. Wird der Ewigkeitsbezug des Einzelnen aufgegeben, dann kann es allein eine von der Gemeinschaft selbst gelieferte, zeitliche Begründung für die Würde des Einzelnen geben. Die Gemeinschaft würde mit ihren Ansprüchen an den Einzelnen letzter Entscheidungsgrund des Gewissens sein, der Würde wäre ihr Unbedingtheitscharakter genommen. Der Mensch wäre ein im Diesseits aufgehendes Wesen und wäre als solcher bis ins Letzte definierbar. Es gäbe nichts an ihm, was dem Zugriff der anderen entzogen wäre, mit Hirsch gesprochen: Er hätte kein Geheimnis mehr mit Gott und vor den anderen. Der Wert des Einzelnen würde dann von seinem Wert für die Gemeinschaft her bestimmt. Der Einzelne wäre den Ansprüchen der Masse schutzlos ausgeliefert, er wäre in seinem Nutzen für die Gemeinschaft austauschbar, er ginge letztlich in der Gemeinschaft auf.133 Die Gemeinschaft selbst entbehrt damit ihres Charakters ein lebendiges Zusammenwirken von entscheidungskräftigen, freiheitlichen Individuen zu sein, sie wird „Machtballung, Zweckverband, Eigentumsverhältnis“134, sie würde ihre sie konstituierenden Glieder zersetzen, weil es keine Begründung für ein sie verpflichtendes Ethos gäbe. Mit einem rein diesseitigen Verständnis menschlichen Lebens steht Hirsch zufolge letztlich das Konzept von menschlicher Gemeinschaft selbst in Gefahr, die ohne den Ewigkeitsbezug keine Instanz – bei Hirsch ist diese das Gewissen – mehr für die Regelung des Zusammenlebens hätte. Die den Menschen auszeichnende Fähigkeit zur Selbstranszendenz, die seine Verantwortlichkeit begründet, will Hirsch nicht in der menschlichen Vernunft verortet wissen. Die Vernunft ist nicht das Vermögen des Menschen, das den Menschen über die kreatürliche Gesetzlichkeit erhebt. Lediglich mit auf den Gegenstandsbereich des Endlichen bezogenen Vernunft ausgestattet wäre er bloß ein vernunftbegabtes Tier, eine „Reflexionsbestie“135 oder „nichts anderes […] als [ein] besonders kranke[s] und bösartige[s] Tier“136. Die Vernunft ist stetig der Gefahr ausgesetzt, in eine die Würde des Menschen vernachlässigende reine Selbstermächtigung und in eine den Anderen für eigene Zwecke funktionalisierende reine Rationalität zu verfallen.137 Sie ist unter den Selbsterhaltungstrieb der Kreatürlichkeit gebunden. Sie bedarf, um wahrhaft menschlich zu sein – d. h. um die individuelle Personalität des Menschen und seines Gegenübers zu gewährleisten – eines Korrektivs, das den Menschen über die kreatürlichen Ge133 

ChR I, 279 f. ChR I, 279. 135  HchR, 293. 136  HchR, 296. 137  ChR I, §66, inklusive Erläuterung. 134 

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setzlichkeiten insofern hinaushebt, als er in der Lage ist, im menschlichen Miteinander von sich selbst abzusehen. Das Vermögen zur Selbsttranszendenz verortet Hirsch in dem Bestandteil menschlichen Wesens, den er mit der Metapher „Herz“ bezeichnet. Das sich hingebende und empfangende Herz bildet den Gegenpol zur reflektierenden, zweckbestimmten und selbsttätigen Vernunft. Das Herz und die Vernunft sind als nicht voneinander abgespaltene Teile des Gewissens zu verstehen, das durch die unauflösliche Verbindung von Selbst- und Fremdbeurteilung gekennzeichnet ist. Die „Doppelbestimmtheit [des] Seins“138 als äußerer und innerer Mensch ist für Hirsch grundlegend. So wie die Innenperspektive des Menschen nicht ohne die Außenperspektive – und umgekehrt – zu verstehen ist, so ist die Herzensseite des Gewissens nicht ohne die Vernunftseite des Gewissens – und umgekehrt – zu begreifen. Hirsch vertritt dementsprechend keine modifizierte Vorstellung von verschiedenen Seelenvermögen. Zudem grenzt er seinen Herzensbegriff gegen Psychologismus und Gefühligkeit ab. Das Herz ist weder rein emotionsbestimmt noch rein innerlich. Es spiegelt zwar die Affektgeladenheit des Gewissens wider139, ist aber trotzdem als Medium der Selbstbeurteilung „dem Phänomen der Verantwortlichkeit, der Rechenschaft zugehörig und […] daher geistig“140. Sein Vermögen der Hingabe und der Empfänglichkeit schließen das ‚von Außen‘ mit ein. Die Herzensseite des Gewissens ist bei Hirsch der Grund der dem Menschen wesentlichen Kommunikabilität, die ihn zur Intro­ spektion befähigt und für die Fremddeutung öffnet. Beide Seiten des Gewissens haben an seiner genuinen Tätigkeit der Selbst- und Fremdbeurteilung teil. Dabei bewahrt die Herzensseite die Menschen vor Selbstbehauptung und Zweckrationalität, indem sie ihn von sich selbst absehen lässt, und führt ihn damit zu einem von unlauteren Motiven unabhängigen Urteil über den Anderen. Die Vernunft­ seite bewahrt den Menschen vor der Selbstaufgabe, indem sie ihn auf seine Unterschiedenheit vom Anderen verweist, und führt ihn damit zu einem sich selbst bestehen lassenden Selbsturteil. Damit stehen die beiden Seiten des Gewissens gleichzeitig in Spannung zueinander. Während die Vernunft sich in der Selbstbeurteilung als abwägende, relativierende, einzelne Handlungen bewertende 138 

ChR I, 282. ist besonders aussagekräftig, wie Hirsch die Affektbestimmtheit des Luther’schen Gewissensbegriffs herausarbeitet: „Das Gewissen schreit und lärmt. Es ist unruhig, es fürchtet sich, ängstigt sich, es zittert oder bebt, es ist verzweifelt. Es ist der Ort der bittersten Betrübnis, des Schmerzes, und zwar eines Schmerzes, der über allen andern Schmerz geht […]. Nicht ganz so oft werden die Affekte des von Sünde und Schuld befreiten Gewissens geschildert. Hier spricht Luther von der Freude, dem Frieden, der Ruhe, der Sicherheit des Gewissens.“ (LS 1, 130 f.). 140  ChR I, 291. 139 Hierfür

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erweist, kennt das Herz nur „ein ganzes Ja oder ganzes Nein“141 zum Selbst. Es geht ihm nicht um die Frage ‚Habe ich mich in dieser bestimmten Situation richtig entschieden?‘, sondern ‚Besteht mein Leben als Ganzes?‘. In das menschliche Selbsturteil wird über die Tätigkeit des Herzens nicht nur das Urteil anderer Menschen mit einbezogen, sondern das Urteil Gottes, des Heiligen, über den Menschen. Die Herzensseite des Gewissens stellt den Menschen vor die Alternative: ‚Bin ich sündig oder bin ich heilig?‘142. Exkurs: Die Ablösung der Seelen- durch die Herzensmetapher Hirsch modifiziert Luthers Gewissensbegriff, indem er ihn nicht ausschließlich mit „Herz“ oder „Seele“ gleichsetzt. Er verwendet in Zw und HchR das Bild von der menschlichen Seele synonym zu dem vom Herzen.143 Die Bilder von Herz und Seele bringen die Ganzheits­ dimension des menschlichen Lebens vor Gott zum Ausdruck.144 Sie sind der Ort des Gottesverhältnisses.145 Die Seelenmetapher wird von Hirsch zur Benennung des Wesenskerns einer Sache herangezogen.146 Über diese Semantik hinaus macht Hirsch auf die alltagssprachliche Relevanz des Wortes ‚Seele‘ aufmerksam. Die Alltagssprache unterliegt nicht einem strikt dualistischen Leib-Seele-Modell, sondern bezieht beide Worte eng aufeinander. Die Definition der Seele entzieht sich dabei der Eindeutigkeit.147 So hat z. B. die leibliche Versehrtheit oder Bedürftigkeit die innere Seite des seelischen Gefühls, das sie begleitet. Indem auch Tiere auf diese Weise empfinden, kann ihnen eine Seele zugeschrieben werden. Die Semantik, welche die Seele der Transzendenz zuordnet, geht darüber hinaus. Eine theologische Abschaffung dieser Differenzierung bzw. Polarität kann Hirsch zufolge nicht bezweckt werden, sondern vielmehr deren theologische Durchdringung als bildhaftes Reden. Das Spannungshafte

141 

ChR I, 288.

142 Ebd. 143 

Z. B. Zw, 78.116.171 f.182 f.211; HchR, 300 f.306 Besonders deutlich für den Seelenbegriff: Zw, 100 f.; HchR, 404 f. Vgl. GG, 111. Alternativ zum erkenntnistheoretischen Vernunftbegriff führt er an dieser Stelle den die Einheitlichkeit der Person betonenden Begriff „einer Gott verantwortlichen lebendigen Seele“ ein. 145  Vgl. LS 1, 128–142. Hier stellt Hirsch die verschiedenen Elemente des Luther’schen Gewissensbegriffs und dessen Gleichsetzung mit Herz und Seele heraus (a. a. O., 132). 146  Zw, 172. Hier wird die „Liebe zu Gott“ als „die Seele, das Wesentliche des Schuldgefühls“ beschrieben. ChR II, 166 f. Hier ist die unsichtbare Kirche „die Seele des menschlich-geschichtlichen Daseins“. 147  „a) Die Wunde ist leiblich, der Schmerz, den sie macht, seelisch: Leib = Mensch als Bestandteil der gegenständlichen Welt, Seele = Mensch in seiner Selbstempfindung. So haben auch die Tiere eine Seele und die Pflanzen wenigstens etwas Seelisches. b) Hunger (gerade auch der subjektiv empfundene!) ist etwas Leibliches, Reue (auch sofern sie leiblich krank macht!) etwas Seelisches. Leib = Mensch in den eigentümlich menschlichen Vorgängen. Die Unterscheidung ist ein Werturteil und schwankt deshalb in der Anwendung beträchtlich. c) Leiblich = irdisch; seelisch = dem Himmel zugeordnet (‚Du meine Seele singe‘).“ (ChR I, 284.) 144 

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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menschlichen Lebens, das begrifflich letztlich nicht festgehalten werden kann, gebietet es gewissermaßen sogar, bildhafte, durch Uneigentlichkeit charakterisierte Ausdrücke zu finden.148 Dem Bild der Seele schreibt Hirsch im Blick auf das Gottesverhältnis eine große Aussagekraft zu: „Das Wort Seele, auch arme Seele, ist als Ausdruck für das vor Gott stehende Gewissen von unvergleichlicher Bildkraft.“149 Hirsch konzentriert sich in seiner Anthropologie jenseits der erbaulichen Rede allerdings auf die Herzensmetapher als Ausdruck für die Ganzheitsdimension des Menschen vor Gott, m. E. um dem Vorwurf eines platonisierenden Leib-Seele-Dualismus vorzubeugen. Dementsprechend kann das Herz als Ersatzbild für die Seele verstanden werden.

Das Gewissen versinkt in seiner Tätigkeit der Selbstbeurteilung im Selbstwiderspruch zwischen Relativierung und Endgültigkeit. Dem Menschen wird im Medium seiner Selbstbeurteilung klar, dass vollendete Selbsterkenntnis unverfügbar ist und außerhalb seiner selbst liegen muss. Seine Fähigkeit zur Selbstranszendenz verweist ihn letztlich auf den Horizont der Ewigkeit. Hirsch zufolge führt diese Einsicht auf den Gedanken, dass der Mensch zum Personsein, zur vollkommenen Einheit von Vernunft und Herz, bestimmt ist, die sich in diesem Leben nur punktuell realisieren lässt. Er unterscheidet zwischen der „endlichen Persönlichkeit“ und der „ewigen Personhaftigkeit“, die diese als Soll begleitet.150 Der endlich verstandenen Persönlichkeit kann eine gewisse Ganzheitsdimension zugesprochen werden. Hirsch sieht diese in der Möglichkeit, „in das ihm Geheißene und Determinierte etwas, das sein ist, hineinzuweben“151. Gleichzeitig eignet dieser Möglichkeit eine negative Seite: Die lebensverändernde Macht der Selbstbestimmung verleiht ihr eine große Brisanz, weil sie nicht nur über das eigene Leben, sondern auch über das Leben von Anderen entscheidet. Die „Unwiderruflichkeit der Tat“152 verleiht ihr auch im Falle der Verfehlung eine unbedingte Dimension. Der geschichtliche Charakter der Entscheidung verweist auf die Ewigkeit, im Falle der Verfehlung auf den unendlichen Gegensatz zwischen Sündigkeit und Heiligkeit. Die Entscheidung bezeichnet Hirsch als „Hereinbruch des unendlichen Ethos in das endliche“153, der Ewigkeit in die Zeit.

148  „Der gegebene Anlaß, diese Bildworte zu brauchen, ist darin gegeben, daß wir in keiner einzigen Beziehung das menschliche Wesen beschreiben, erfassen, bestehen können, ohne in einer Doppelbeziehung uns zu bewegen: es liegt stets ein Zusammengehörigsein, Wechselbestimmtsein, Unterschiedensein und Einssein vom Äußerem und Innerem vor. Dies Ganze behält auch für uns etwas Rätselhaftes.“ (Ebd.) 149  ChR I, 283. 150  ChR II, 232. 151  ChR II, 233. 152  ChR II, 216, i. O. herv. 153  ChR II, 215

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Die Unvollkommenheit der endlichen Persönlichkeit zeigt sich an verschiedenen Faktoren. Sie ist begrenzt durch äußere Umstände: Sie braucht bestimmte Voraussetzungen, an denen sie sich abarbeiten kann, um sich auszubilden. „Sie kann uns, auch ohne unsere Schuld, genommen werden.“154 Sie kann in ihrer vermeintlichen Individualität rein äußerlich bleiben. Sie kann in eine Überbetonung des Individuums, das sich alles andere unterwirft, verkehrt werden. Indem die Persönlichkeit derart in die geschichtliche Wirklichkeit verwoben ist, bleibt sie unvollendet. Durch die ewige Dimension bekommt die endliche Persönlichkeit etwas mit den Mitteln der endlich-ethischen Vernunft uneinholbares, sie ist „mit ethischer Unkenntlichkeit umhüllt“155. Erst durch diese Tiefendimension wird die Gründung aller ethischen Entscheidung in einem ewigen Soll klar. Phänomenologisch macht Hirsch die unendliche Tiefendimension endlicher Persönlichkeit – die ewige Personhaftigkeit – an der Erfahrung des „einander unersetzlich Sein[s]“156 fest: Der und kein Anderer kann und soll es sein. Diese Erfahrung ist aus endlich-ethischen Kategorien nicht ableitbar. Sie schließt eine innere gegenseitige Erschlossenheit ein. Sie wird reflektiert, indem man dem Anderen Individualität zuspricht, ihn also gegen jede Verrechen- und Ersetzbarkeit schützt. Den traditionellen Begriff der Gottebenbildlichkeit nimmt Hirsch zur Illustration der menschlichen Bestimmung auf, grenzt ihn aber gegen ein platonisch-substanzhaftes Verständnis und ein aufklärerisch-ethisches Verständnis ab. Weder Gott noch der Maßstab menschlichen Selbstvollzugs sind mit der Vernunft erschließbar. Das „Bild vom Menschsein“157, zu dem der Mensch bestimmt ist, lässt sich aufgrund des lebendigen, spontanen Selbstvollzugs des Menschen nur erahnen. Das, was Hirsch zufolge über die naturhafte Ausstattung des Menschen hinausgeht und ihn wahrhaft zum Menschen macht, ist seine Bezogenheit auf die Ewigkeit, die sich in dem Vermögen ausdrückt, über den endlich gegebenen Gegenstandsbereich und die damit verbundenen Gesetzlichkeiten hinauszugehen. Der Mensch besitzt das Vermögen, sich und seine Mitmenschen auf eine solche Weise zu beurteilen, dass er sich über den bloßen nach Kosten und Nutzen rechnenden Selbsterhaltungstrieb erhebt. Der Mensch geht in seinem „wahren Wesen“ über die bloße Vernunftbestimmtheit hinaus; er ist Vernunft und

154 

ChR II, 233. ChR II, 232. 156  ChR II, 234. 157  ChR I, 292. 155 

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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Herz, er ist „Gewissen“.158 Das Gewissen ist der Ort, an dem der Mensch mit den Fragen nach Zeit und Ewigkeit konfrontiert ist, der Ort der Gottesbeziehung. Indem das wahre Wesen in die Existenz hineinscheint, gibt es ihr ihren eigentlichen Wert.159 Die Dimension des menschlichen Geistes wäre folglich beschnitten, wenn der Mensch ein in der Diesseitigkeit aufgehendes Wesen wäre. Das ethische Wesen des Menschen dient Hirsch als analytischer Ausgangspunkt für die Herausarbeitung der menschlichen Ewigkeitsbezogenheit. Dieses Vorgehen ist auf mehreren Ebenen begründet. Es leitet sich zum einen aus der epistemischen Voraussetzung her, dass der Mensch nur als Gemeinschaftswesen wahrnehmbar ist. Zum anderen macht das ethische Wesen des Menschen die entscheidende Differenz zur tierischen Kreatürlichkeit aus. Momente dieser Differenz sind die dem Menschen wesentliche Kommunikabilität, seine Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, seine relative Unabhängigkeit vom Selbsterhaltungstrieb, seine in der Verantwortlichkeit begründete Individualität. Das Recht der Eschatologie ist ethisch so begründet, dass der Mensch am Wesen menschlicher Gemeinschaft und an seiner Selbstunterscheidung vom Tier seines Transzendenzbezugs ansichtig wird. Mit dem Verzicht auf ein über die reine Immanenz hinausgehendes Wesen des Menschen könnte die eigentümliche Würde des Menschen und eine darauf aufbauende, die menschliche Gemeinschaft konstituierende Ethik nicht begründet werden.

c) Ewigkeit als Grund und Grenze der Zeit Der antinomischen Fassung des Wahrheitsbegriffs als Grund und Grenze menschlicher Erkenntnis entspricht bei Hirsch die zugleich transzendente und immanente Bestimmung des Ewigkeitsbegriffs: Die Begründetheit aller Dinge in einem außerhalb ihrer Endlichkeit Liegenden, das die Endlichkeit gleichzeitig auszeichnet, verweist auf das Ewige, das „zugleich in und über den Dingen“160 ist. Ewigkeit ist zugleich in der Immanenz und in der Transzendenz verortet, in keiner von beiden geht sie auf. Sie ist der Zeit schlechthin entgegen158  WrCh, 174. Hirsch bezeichnet an dieser Stelle das Wesen des Menschen mit den Begriffen „Herz, Gewissen, Geist, Gemüt“. Diese Begrifflichkeiten sind, wie aus Hirschs Anthropologie der ChR hervorgeht, nicht als Äquivalente zu verstehen. An dem der Aufzählung beigefügten Kommentar, „oder wie wir nun sagen mögen“, wird deutlich, dass sich Hirsch der begrifflichen Ungenauigkeit an dieser Stelle durchaus bewusst ist. M. E. ist diese Äußerung ein Anzeichen für die Einsicht in die Bildhaftigkeit und Uneigentlichkeit des Redens über den menschlichen Wesenskern, der sich nicht auf starre Begriffe festlegen lässt. 159 Ebd. 160  ChR I, 256.

60

Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

gesetzt, zugleich gibt sie ihr ihren eigentümlichen Wert. Die Ewigkeit ist der immer mitgeführte Horizont menschlich-zeitlichen Lebens. Die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit ist damit jederzeit gegenwärtig. Menschliche Zeiterfahrung ist für Hirsch geprägt durch die Spannung zwischen dem „Dauernde[n]“161 – dessen der Verstand an dem „Beständige[n]“162 , dem Unveränderlichen ansichtig wird –, dem „immer Wiederkehrende[n]“163 – dem stetigen Kreislauf des Lebens – und dem „Augenblicksbestimmte[n]“164 – das die unmittelbare, dem Immerwährenden gegenüber neue Erfahrung des Einzelnen bezeichnet. Letzteres wird im Medium der Erinnerung in die Dauerhaftigkeit der reflexiven Objektivation erhoben. Das „wahre Wesen der Zeit“165 liegt, so Hirsch, in der augenblickhaften Erfahrung, die das stetige Zerrinnen, das stetige Fortschreiten und das stetig Neue an der Zeiterfahrung vor Augen führt. Die Dauerhaftigkeit, die der Verstand meint festhalten zu können, indem er die Unmittelbarkeit des Augenblicks in die Reflexion erhebt, ist nicht zeit­ent­ hoben ewig. Indem sie durch das unmittelbare Neue des Augenblicks immer wieder relativiert wird, ist sie nur scheinbar von der Zeit unabhängig, „so etwas wie eine trughafte Zeitlosigkeit“166. Ewigkeit kann, so Hirsch, theologisch nicht aus Begebenheiten des menschlichen Lebens abgeleitet werden: Die Eigenschaften der transzendenten Ewigkeit sind denen menschlich-irdischen Lebens entgegengesetzt.167 Die Gegenwart der Ewigkeit in der Zeit findet sich gerade nicht in der zeitlichen Dauer und dem ewig Gleichen, sondern bricht als dem Herkömmlichen gegenüber unmittelbar Neues in der persönlichen Augen­blicks­ erfahrung in die Zeit ein. Allein von dieser immanenten Gestalt der Ewigkeit ist auf die überzeitliche, beständige Ewigkeit zu schließen. Ewigkeit äußert sich in der Zeit immer zugleich als das „unmittelbar Neue[ ]“ und „das Uralt-Ewige“, sie entbindet eine geschichtliche Bewegung und ist zugleich übergeschichtlich unveränderlich.168 Der alltagssprachliche Gebrauch des ‚Ewigen‘ wird zwar von Hirsch auf diese Weise kritisiert, zugleich legt er aber Anschlussmöglichkeiten für den theologischen Begriff dar. Konkret lässt sich theologisch an beide allgemeine Spielarten des Ewigkeitsbewusstseins anknüpfen. Die immer wiederkehrenden Mo-

161  HchR,

119. ChR I, 182. 163 Ebd. 164  HchR, 119. 165  HchR, 120. 166 Ebd. 167  ChR I, 182. 168  HchR, 125. 162 

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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mente menschlichen Lebens sind exemplarisch an den kontingenten Ereignissen von Geburt und Tod169 ansichtig. Indem in beiden die menschliche Passivitätsbzw. Abhängigkeitserfahrung nachdrücklich zum Tragen kommt, zeigt sich insbesondere hier, dass die Ewigkeit die Transzendenz menschlichen Lebens ist. Das unveränderliche Moment des Ewigen verweist auf die Ewigkeitsdimension des menschlichen Geistes, an der sich der immanente Ort der Ewigkeit ausweisen lässt. Hier kann das Verständnis der Ewigkeit als die Tiefenschicht, als „Kern und Wahrheit“170 menschlichen (endlichen) Lebens, anknüpfen. Durch die antinomische Struktur der menschlichen Selbsterkenntnis wird die Spannung des Zeit-Ewigkeit-Verhältnisses in den Menschen selbst verlagert. Das Verhältnis zur Ewigkeit wird einerseits zum Grund des menschlichen Lebens: „das die Persönlichkeit von ihrem Grunde her Bestimmende, als ihr Schicksal, durch welches sie unentrinnlich in die [Gewissens-]Entscheidung hineingestellt wird“171. Andererseits wird die Beziehung zur Ewigkeit als Grenze erfahren: „ein dem Verstande und Willen sich entziehendes Geheimnis, als reines Nahen des Göttlichen“172 , das eine nach eindeutigen Parametern getroffene, eine ‚richtige‘, Entscheidung unmöglich macht. Die der ethischen Entscheidung zugrunde liegende Ewigkeitsbeziehung ist selbst durch Entscheidungshaftigkeit gekennzeichnet: Zugespitzt besteht die Alternative – das Entweder/Oder173 – in der Frage: ‚Geht unser Leben im Zeitlichen auf oder geht es ins Ewige über?‘, die den Menschen als Rätsel und Geheimnis nicht loslässt. Es geht also um alternative Lebenshaltungen: ‚Verstehe ich mein Leben aus dem Zeitlichen heraus oder aus dem über das Zeitliche Hinausdauernden?‘. Spätestens im Angesicht des eigenen Todes ist der Mensch gezwungenermaßen mit dem Entweder/Oder zwischen Zeit und Ewigkeit konfrontiert. So wird deutlich gemacht: Der menschliche Geist kann entweder auf die Zeit oder auf die Ewigkeit ausgerichtet sein. Ein indifferente Haltung ist hier ausgeschlossen. Der Gedanke der Entscheidungshaftigkeit menschlicher Ewigkeitsbezogenheit verweist auf Hirschs mancherorts starken Begriff endlicher Freiheit, der in Spannung zum von ihm ebenfalls festgehaltenen Gedanken der göttlichen Allmacht und Allursächlich169 Matthias Lobe macht darauf aufmerksam, dass an Hirschs System im Vergleich zu anderen Güterethiken der Einschluss der Lebensmächte als ethische Dimension besonders hervortritt. Während Ehe, Familie und Volk auch in andern güterethischen Entwürfen eine Rolle spielen, sticht die Bedeutung, die Hirsch Geburt und Tod zuschreibt, hervor. (Lobe: Die Prinzipien, 173 f.) 170  WrCh, 172. 171  WrCh, 173. Einfügung A.‑M. K. 172 Ebd. 173  Diese sei dem ethischen Relativismus seiner Zeit fremd und stelle somit die Gegensätzlichkeit des christlichen Glaubens zum modernen Weltbild dar (vgl. a. a. O., 178 f.).

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

keit steht. So wie Hirsch die „Bereitschaft“ des Einzelnen „für das Ewige“174 zur Voraussetzung des Erschließungsgeschehens christlicher Offenbarung macht175, so schließt er denkerisch auch den Ernstfall einer menschlichen Entscheidung gegen seine Ewigkeitsbezogenheit ein.176 Die gleichzeitige Immanenz und Transzendenz der Ewigkeit wird vor dem Hintergrund der ethischen Dimension der Ewigkeitsbezogenheit von Hirsch mit dem göttlichen Attribut der Heiligkeit reflektiert. Heiligkeit ist nicht im Sinne einer von einem profanen Bereich getrennten Sphäre zu denken, sondern als Unbedingtheitsdimension der sozialen Sphäre. Die unmittelbare Offenbarung des Heiligen im Gewissen hat zwei Implikationen: Sie bleibt entzogen und sie ist nicht durch äußerliche Zusammenhänge vermittelt. Heiligkeit ist Hirsch zufolge die im Gewissen und – über dieses vermittelt – im endlich-geschichtlichen Leben aufscheinende und es fordernde Wahrheit derselben. Sie scheint als ewige Tiefendimension der Endlichkeit auf und ‚heiligt‘ diese. Damit ist das menschlich-endliche Leben nicht ‚heilig‘, aber ‚geheiligt‘.177 Die Heiligkeit ist ihm nicht substantiell zugeschrieben178, sondern sie bricht in ihm auf und ist ihm zugleich entzogen. Durch diese Fassung des Begriffs der Heiligkeit ist die räumliche, äußerliche Trennung zwischen einem sakralen und einem profanen Bereich aufgehoben.179 Das Gewissen deutet die Begebenheiten seines Lebens180, an denen ihm Freiheit und Situationsgebundenheit aufgehen, mittels der 174 

Zw, 290. S. u., 2.A, 85 ff. 176  ChR I, 213 f. S. u., 6.C.a, 243 ff. 177  Diese hilfreiche Interpretationsregel für den Hirsch’schen Begriff der Heiligkeit stellt Dietz Lange (Lange, D.: Der Begriff des Heiligen in den theologischen und politischen Schriften Emanuel Hirschs, in: R ingleben: Christentumsgeschichte, 188–225, hier: 189 f.) auf. Gleichzeitig zeigt er auf, dass Hirsch diese Regel bedauerlicherweise selbst nicht kon­ sequent befolgt. Vgl. z. B. die Spannung zwischen ‚heilig machen‘ und ‚geheiligt sein‘ in ChR I, 248. 178  Dem entgegen steht die Tendenz Hirschs zur Substantialisierung des Volksbegriffs. Matthias Lobe kritisiert diese als innerhalb Hirschs eigenen Denkens nicht folgerichtig (Lobe: Die Prinzipien, 177 f.) und relativiert sie zugleich, indem er sie als „semantische Undeutlichkeit“ Hirschs markiert (a. a. O., 178) und auf den mangelhaften Gewissensbegriff Hirschs zurückführt (a. a. O., 179). „Dieses Defizit äußert sich in der Unausgewiesenheit, mit welcher die empirischen Gegebenheiten ohne weiteres zum Gegenstand religiöser Erfahrung werden können. Das Gewissen, das Hirsch geltend macht, besitzt keinerlei Vermittlungsstrukturen, die zwischen unbedingter religiöser Sanktion und zufälliger kontingenter Gegebenheit rational kontrollierend treten könnten“ (ebd.), weil die individuelle Gewissensdimension und die Gewissensgemeinschaft des Volkes bei Hirsch unmittelbar miteinander verbunden sind. 179  Vgl. auch Hirschs Anmerkungen zur Zwei-Reiche-Lehre, in denen er die begriffliche Trennung von sakral und profan kritisiert: ChR II, 84. 180  Das sind mit Hirsch die „Lebensmächte“, die der vitalen Grundfunktion menschlichen 175 

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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Kategorie der Heiligkeit Gottes. Dadurch werden Zeit und Ewigkeit in ein positives Verhältnis zueinander gesetzt. Das Verhältnis zur Lebenswirklichkeit in ihrer Tiefe führt den Menschen hinüber zur Ewigkeit, gleichzeitig ist er an die Zeitlichkeit gebunden, weil in ihr die Ewigkeit aufscheint und ihr ihren besonderen Wert gibt (sie ‚heiligt‘). Diese Verhältnisbestimmung zwischen der Heiligkeit Gottes und der Welt führt zu einer grundsätzlichen „Bejahung der Weltlichkeit und Vernünftigkeit des Daseins“181, macht aber auch deutlich, dass das vertiefte Verständnis des Lebens auf die Gottesfrage hinausführt: Die Tiefenschicht menschlichen Lebens in theologischer und religionsphilosophischer Hinsicht ist „das Leben Gottes, das den Tod nicht kennt“182. Dieses zeichnet das menschlich-zeitliche Leben aus, indem es jenes an der gotteigenen Heiligkeit partizipieren lässt, ist ihm aber zugleich entgegengesetzt: Menschlich-endliches Leben ist durch seine Unheiligkeit bzw. Sündigkeit gekennzeichnet. Wird die Antinomie zwischen der Immanenz und der Transzendenz der Ewigkeit zugunsten einer der Seiten aufgehoben, entsteht der „falsche Ewigkeitsglaube“, der die Zeit gleichgültig betrachtet und damit im Widerspruch zur Heiligkeit des Lebens steht, oder die „verkrampfte Diesseitigkeit“, die glaubt, Ewigkeitssinn wende sich gegen die Ernsthaftigkeit eines irdischen Miteinanders.183

Lebens zugeordnet sind und die Hirsch mit Geburt und Tod, Ehe, Familie und Volk benennt. Dabei bricht mit Geburt und Tod die Bedingtheit menschlichen Lebens in der individuellen Sphäre auf, für die soziale Dimension der Lebensmächte steht das Volk, die Vermittlung zwischen individueller und sozialer Sphäre findet in Ehe und Familie statt. Wird der Volksbegriff durch den weiteren, strukturellen der ‚menschlichen Gemeinschaft‘ ersetzt, dann kann allgemein gesagt werden: Sich in sozialer Interaktion vorzufinden ist ebenso konstitutiv für das menschliche Selbstverständnis und ihm gleichzeitig entzogen wie Geburt und Tod. Das ist, trennt man Hirschs Theologie von seiner materialen Ethik, durchaus zulässig und zwar im Anschluss an Lobes Argumentation, der die Sonderstellung des Volksbegriffs als nicht unmittelbar schöpfungstheologisch ableitbare Verengung des allgemeineren Gemeinschaftsbegriffs herausstellt. Für Lobe ist die Substantialisierung der Heiligkeit des Volkes bei Hirsch nicht theologisch, sondern biographisch motiviert (Lobe: Die Prinzipien, 185–188). Hirschs Option für den Nationalsozialismus ist zwar auf diese Ausformung seiner Theologie zurückzuführen, aber nicht zwingend aus seinen theologischen Grundannahmen abzuleiten. 181  ChR I, 248. 182  ChR I, 182; i. O. herv. 183  ChR I, 255.

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1.C  Die Methode der Eschatologie: Die Umformung der christlichen Überlieferung Die drei Bedingungen der theologischen Aufgabenstellung – die Integration des Anspruchs des humanen Wahrheitsbewusstseins, die Ermutigung des Einzelnen zur Freiheit des subjektiv aneignenden Glaubens und der kritisch-produktive Umgang mit der christlichen Überlieferung – führen zu Konsequenzen für die theologische Methode, auf die im Folgenden eingegangen wird. Signifikant sind die Bestimmung der Aufgabe der Theologie unter dem methodischen Leitbegriff der „christlichen Rechenschaft“184 (a) und die Unterscheidung der „überbegriffliche[n] und übergegenständliche[n] Wahrheit“ von „ihrem menschlich-irdisch bedingten Ausdruck“185 bei der Bestimmung des Wesens des Christentums (b). Inwiefern die Gegenwartsdiagnose Hirschs und sein theologisches Programm einander bedingen wird durch eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenen Dimensionen des Umformungsbegriffs erhellt (c). Abschließend werden die methodischen Konsequenzen auf ihre Bedeutung für die Eschatologie zugespitzt (d).

a)  Theologie als christliche Rechenschaft „Rechenschaft ist da, wo ein lebendiger Mensch von einem ihn persönlich Betreffenden und ihm im Gewissen sich Bezeugenden in einer andern das Verstehen ermöglichenden strengen Sachlichkeit klare und bestimmte Mitteilung macht.“186

An dieser Definition werden die zentralen Elemente des Rechenschaftsbegriffs deutlich, die Hirsch vor allem in seiner 1960 zum Lf verfassten Vorrede187 und im Ersten Lehrkreis desselben herausarbeitet und die hier in ihren wesentlichen Zügen knapp dargestellt werden.188 Rechenschaft speist sich aus einem innerlichen Betroffenheitserlebnis, das auf Selbstmitteilung des Betroffenen drängt. Hirsch benennt sie auch als „das Zeugnis eines einzelnen Menschen von der ihn Dieser spielt bei Hirsch spätestens seit der ersten Auflage des Lf eine zentrale Rolle. WuG, 75. 186  ChR I, 30, Herv. i. O. 187  ChR I, 3–6. 188 Die Dimensionen der Verwendung des Rechenschaftsbegriffs und seine geistesgeschichtlichen Wurzeln hat ausführlich herausgearbeitet Scheliha: Emanuel Hirsch. Scheliha kategorisiert darüber hinaus den Ausgangspunkt des Rechenschaftsbegriffs bei Hirsch nach drei Ebenen: geschichtsphilosophisch-diagnostisch (Autonomie und Zweifel, Notwendigkeit des Abbaus von Traditionen), christlich-reformatorisch (unmittelbares Gottesverhältnis des Einzelnen), erkenntnistheoretisch (Nichtobjektivierbarkeit des Zeugnisses von der absoluten Wahrheit) (a. a. O., 313 f.). 184 

185 

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in Geist und Gewissen regierenden Wahrheit“189. Der Rechenschaft selbst als spontaner Akt geht das Empfangen der Wahrheit voraus – theologisch gesprochen: Sie entspringt aus der innerlichen, unmittelbaren Offenbarung der Wahrheit. Dieser wird im Akt der Rechenschaft durch das Medium der Sprache Ausdruck verliehen. Sprache ist für Hirsch ein zeitlich-kulturell bedingtes Ausdrucksmedium, die Wahrheit selbst vermag sie nicht zu ergreifen, sie bringt sie nur mittelbar zur Abbildung.190 Die Rechenschaft leitet sich auf der einen Seite aus der Betroffenheit von der Wahrheit ab, sie liegt in der Wahrheit begründet, auf der anderen Seite ist ihr diese in ihrer Sprachlichkeit aber entzogen. Sie hat die Form des Wahrheitsbewusstseins, das von der Wahrheit selbst unterschieden werden muss. Die Einsicht, dass die Wahrheit dem Akt der Rechenschaft entzogen bleibt und allein in einem innerlichen, subjektiven Evidenzerlebnis unmittelbar vorhanden ist, führt dazu, die Rechenschaft als wesentlich subjektiven Ausdruck von der Wahrheit zu begreifen. Das ihr zugrundeliegende Erlebnis ist nicht sprachlich verallgemeinerbar. Sie kann zwar den Zugang zur christlichen Wahrheit vermitteln, die Annahme der Wahrheit aufseiten des Gegenübers ist ihr aber entzogen. Letztlich muss jene von jedem selbst „neu anfangend[ ]“ und selbstverantwortlich191 ergriffen bzw. empfangen werden. Der Akt der Aneignung ist damit primär durch das persönliche Gottesverhältnis des Gegenübers der Rechenschaft bedingt und nicht durch die rationale Überzeugungskraft des Rechenschaft Gebenden. Theologisch begründet ist die Notwendigkeit der persönlichen Aneignung der Wahrheit durch die Unvertret-

189 

ChR I, 3. ChR I, 14. Reflexion und Kommunikation sind bei Hirsch nicht mit Sprachlichkeit gleichzusetzen, sondern Sprache ist ein geschichtlich bedingtes Ausdrucksmittel des Menschen. Die unmittelbare Reflexion ist für ihn nicht sprachlich, Reflexion kommt nicht „aus Sprache, sondern Sprechen aus Reflexion“ (a. a. O., 198). Sprache ist jedoch dem schöpferischen Geist nicht äußerlich, sondern ein Produkt seiner Schaffenskraft und solchermaßen findet sich dieser auch in der Sprache wieder. Ebenso ist Sprache nicht mit Kommunikation gleichzusetzen, sondern entspringt dem Drang nach Selbstmitteilung und Fremdwahrnehmung, nach Kommunikation. Reflexion und Kommunikation sind als Wurzeln der Sprache gleichursprünglich. „Sie sind Manifestation von etwas, was tiefer liegt als beide: von einer Bestimmung der Menschen, miteinander vor Gott (in Gott) Gemeinschaft zu haben. Das zugleich Gesetztsein von religiöser Beziehung und Gemeinschaftsbeziehung ist die Eigentümlichkeit der Gewissenswahrheit.“ (Ebd.) In diesem Sinne ist Sprache zwar auf Gott zurückzuführen, aber kein „Träger der Wahrheit“ (a. a. O., 199). „Die Wahrheit ist stets nur in Beziehung der Subjektivität, die Sprache zueignet und sich zueignen läßt. Worte sind Zeichen für die Subjektivität. […] Wahrheit ist also stets nur in der Rechenschaft, die sich des Mediums der Sprache bedient.“ (Ebd.) 191  ChR I, 14. 190 

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barkeit des Einzelnen vor Gott. Durch diese „Schwebelage“192 , in die die menschliche Freiheit zur Aneignung und die notwendige Unterscheidung zwischen Rechenschaft und Wahrheit führen, muss der dem humanen Wahrheitsbewusstsein wesentliche Zweifel in jede Rechenschaft integriert werden: Sie muss die Möglichkeit offenhalten, dass sie falsch liegt. Diese Seite der Rechenschaft – das Bewusstsein, subjektives Zeugnis von der Wahrheit zu sein – verweist auf die Motivation der christlichen Rechenschaft: Sie will nicht von der Wahrheit überzeugen, sondern will dem Gegenüber ermöglichen, das ihr zugrundeliegende Evidenzerlebnis zu verstehen. Die grundlegende Rahmenbedingung für das gegenseitige Verstehen vor dem Hintergrund geschichtlicher, kultureller und individueller Bedingtheit von Rechenschaft ist das Kontextbewusstsein des Rechenschaft Gebenden. Er muss sich kontextbedingter Formen der Mitteilung bedienen, um verständlich zu sein. Durch die Gewährleistung von „Klarheit, Durchsichtigkeit und innere[m] Zusammenhang“193 kann der Rechenschaft Allgemeinverständlichkeit zugesprochen werden. Auf diese Weise unterscheidet sich ihre Allgemeingültigkeit von einer mit dem Wahrheitsanspruch begründeten – sie zielt darauf, für allgemeine Denk- und Lebensstrukturen plausibel zu sein.194 „Ihre Aussagen sind […] nicht wahr oder unwahr, sondern entweder klar und folgerichtig und klärend und helfend, oder unklar, folgewidrig, irreführend.“195 Der Kontext der christlichen Rechenschaft ist im Allgemeinen für Hirsch das durch ein neuzeitliches Weltbild geprägte Umfeld, lässt sich aber auch spezifizieren, z. B. auf eine durch ein Bildungsgefälle bedingte Situation196 oder auf die Predigtsituation. Die geistige Verortung des Adressatenkreises im allgemein-menschlichen Selbst- und Weltbewusstsein begründet den Öffentlich­ keits­charakter von christlicher Rechenschaft. Trotz seiner Gebrochenheit kann das Zeugnis vom inneren Glaubenserleben auf allgemeinverständliche Begriffe gebracht werden. Hirsch parallelisiert den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit mit anderen wahrheitsbezogenen Darstellungsformen: Alle Erkenntnis192 

WuG, 75. ChR I, 3. 194 Vgl. Gräb, W.: Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, 138: „Der Geltungsanspruch theologischer Aussagen bezieht sich jetzt auf ihre Plausibilität im Kontext von Lebenserfahrung. Er ist lediglich getragen von der Annahme, daß andere die als Resultat einer subjektiv-persönlichen Rechenschaft auftretende theologische Aussage nachvollziehen können, weil sie an einem Ort erfolgt, der auch ihnen prinzipiell zugänglich ist.“ Damit nimmt Hirsch zugleich an, dass der Akt subjektiver Rechenschaft eine allen plausible „Grundstruktur individuell-geschichtlichen Daseins“ offenlegt, die freilich subjektiv eingefärbt ist. 195  ChR I, 4. 196  WuG, 68. 193 

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bereiche sind – implizit oder explizit – von der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrheitsbewusstsein und damit von dem Bewusstsein der grundsätzlichen Entzogenheit der Wahrheit begleitet. Sie können nicht den Anspruch erheben, ihre Aussagen mit der Wahrheit gleichzusetzen, sondern über ihre Angemessenheit entscheidet lediglich ihre Folgerichtigkeit.197 Der Rechenschaftsbegriff ist dem Parameter des Kontextbewusstseins entsprechend nicht notwendig mit Wissenschaftlichkeit verbunden, sondern er geht mit dem Verständnis des Glaubens198 als zugleich unmittelbar und reflexiv199 einher: „Ein neu anfangendes ursprüngliches Erkennen der christlichen Wahrheit braucht nicht erst gefordert zu werden: es vollzieht sich ganz von selbst in jedem Menschen, der persönlich glaubt.“200 Hier könnte man ergänzen: Und jede nach den genannten Parametern gemachte Mitteilung über diesen Glauben hat die Form der Rechenschaft. Der Unterschied der Theologie zur ursprünglichen Reflexion des Glaubens besteht nun darin, dass die Rechenschaft auf der Ebene der „kunstmäßigen wissenschaftlichen Reflexion“201 erfolgt. Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind allein die Methodik und das Systematisierungsvermögen, deren Sachgemäßheit durch die Vernunft bescheinigt wird.202 Theologie ist demzufolge bei Hirsch definiert als die methodisch-kritische und systematisierte Ausarbeitung eines Momentes, das zum menschlich-geistlichen Leben immer gehört. Auf dieser Ebene tritt ein weiteres Moment zur Rechenschaft hinzu: Ihr Stellvertretungscharakter.203 In ihrer ordnenden und deutenden Tätigkeit kann die Theologie dem Prediger und dem Laien-Christen Hilfestellung für einen persönlich-aneignenden Zugang zur christlichen Wahrheit leisten. Als Stellvertreterin gibt die Theologie, so Hirsch, ein Beispiel, wie die Freiheit im Verhältnis zu Gott auf dem persönlichen Erkenntnisweg gebraucht werden kann.204 Auf der Seite des Adressaten korrespondiert der Stellvertretung die Bedingung der freiwilligen Gegenzeichnung. Auf den Vorgang der Aneignung kann die Theologie lediglich über die argumentative Nachvollziehbarkeit, also die Anpassung der Kommunikationsart an den Kontext Einfluss nehmen. Ihre Voraussetzung, die Wahrheit des eigenen Selbst-, Gottes- und Weltverständnisses in der christ197 

ChR I, 5. Zu Hirschs Offenbarungs- und Glaubensbegriff s. u., 2.A, 85 ff. 199  Mit seiner Verhältnisbestimmung von Unmittelbarkeit und Reflexion und der Abstufung zwischen „unmittelbarer“ und „wacher“ Reflexion knüpft Hirsch an Fichte an. Vgl. dazu Scheliha: Emanuel Hirsch, 429–431. 200  ChR I, 16. 201  ChR I, 29. 202  ChR I, 16 f. 203  ChR I, 17. 204  ChR I, 25. 198 

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lichen Bezogenheit auf die Wahrheit zu finden, bildet dann auch die Voraussetzung für die Möglichkeit einer freiwilligen Gegenzeichnung durch den Rezipienten, der „sich in ihr wiederfinde[t]“205, sich durch sie „bestätigt, korrigiert oder revidiert findet“206. Über die Stellvertretungsfunktion wird die kirchliche Bezogenheit von Theologie eingespielt – bis hierhin ist die kunstmäßige wissenschaftliche Reflexion in Form der Rechenschaft an der allgemein-menschlichen Nachvollziehbarkeit orientiert.207 Die kirchliche Bezogenheit hat den Beruf des Predigers und das Selbstverständnis des modernen Christen vor Augen.208 Theologische Wissenschaft ist zwar wie jede Wissenschaft zuerst zweckfreie Wahrheitserkenntnis, die „Klarheit des Selbstverständnisses des Glaubens“ haben will „um der Klarheit selber willen“209, hat aber eine gesellschaftliche Funktion. Inhaltlich bleibt sie also durch institutionelle Realitäten ungebunden, funktional hat sie ihre gesellschaftliche Verantwortung, die aus ihrer geschichtlichen Eingebundenheit resultiert, wahrzunehmen. Ihre Bezugsgruppe bildet kein gesellschaftlicher Sonderkreis, sondern ist selbst in die Ganzheit des geschichtlichen Lebens eingeordnet, die eben keine kirchliche ist.210 Eine Reduktion der gesellschaftlichen Ausrichtung der Systematischen Theologie ist Hirsch zufolge trotz ihrer Hilfsfunktion für den Predigtberuf ihrer Selbstständigkeit und gesamtgesellschaftlichen Relevanz, also ihrer „universale[n] Zielsetzung“211 nicht angemessen. Wegen der funktionalen Ausrichtung der Rechenschaft auf das Ganze des Lebens und wegen ihrer inhaltlichen, zweckfreien Bezogenheit auf die christliche Wahrheit kann eine Systematische Theologie, so Hirsch, auch nicht (innerreformatorisch) konfessionell gebunden sein.212

205 

ChR I, 30. Scheliha: Emanuel Hirsch, 277. 207  Vgl. a. a. O., 363. Scheliha stellt den vorerst nicht-kirchlichen Bezugsrahmen des Rechenschaftsbegriffs als einen wesentlichen Unterschied zu Schleiermachers Mitteilungsbegriff, der über die kirchliche Sozialisierung funktioniert, heraus (a. a. O., 335–337). 208  Hirsch macht deutlich, dass allein eine Bezogenheit auf die Predigt zu verengt wäre. Die Systematische Theologie hat eine Hilfsfunktion für „alles christliche Zeugnis, vor sich und vor andern“ (ChR II, 172). 209 Ebd. 210  ChR I, §4. 211  ChR II, 171. 212  ChR I, §13. 206 

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b)  Die ständige Aufgabe der Theologie: Die Herausarbeitung des Wesens des Christentums Die Theologie erfüllt ihre Aufgabe, indem sie den ursprünglichen, subjektiven Erkenntnisakt christlicher Wahrheit rekonstruierend nachvollzieht. Sie trifft der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrheitsbewusstsein entsprechend und angesichts der subjektiven, augenblicksbestimmten Form der Gegenwärtigkeit der Ewigkeit in der Zeit keine Aussagen über Gott selbst, sondern über das menschliche Verhältnis zu ihm 213: Ihre Methode ist die Existenzialdialektik, die ihren Ausgangspunkt bei einer „gegenwärtigen Bestimmung der Subjektivität“214 nimmt.215 Die Aussagen über Gott haben dabei aufgrund der antinomischen Struktur des Wahrheitsbewusstseins selbst antinomische Form. Der denkeri­sche Zugriff auf das Wesen von Gott kann deswegen „zuletzt keine Erklärung, sondern nur eine Deutung“216 eines „eigentümlichen Sinn- und Erlebnisgehalt[s]“217 sein. Der Inhalt des „neu anfangende[n], ursprüngliche[n] Erkennen[s]“218, als das Hirsch den Glauben bezeichnet, ist das Evangelium, das als rational nicht greifbare Norm der christlichen Rechenschaft diese immer begleitet. Dem Evangelium wird von Hirsch die Funktion zugeschrieben, das „Glaubensgeheimnis“, die gesellschaftliche Leerstelle für die menschliche Anlage zur Religion christlicherseits zu sichern bzw. einzufordern. Als dieses kritische Korrektiv darf es, so Hirsch, „nicht Trivialität, nicht Verklärung der menschlichen Selbstverständlichkeit unter religiös hohen Worten werden“219. Für die Methode der Theologie 213 

ChR I, 170 f. ChR II, 110. 215  Eine existenzialdialektische Form von Theologie führt immer, nicht nur im Bereich der Eschatologie, eine „kritische Enthaltsamkeit“ mit sich (dieses und alle folgenden Zitate bei Rosenau: Allversöhnung, 4). Sie macht Theologie nicht „im Ganzen unmöglich“, sondern bestimmt diese als „verantwortliche Rede“ vom Gottesverhältnis des Menschen. Damit bleibt „am Ende“ kein „andächtiges Schweigen“ übrig, sondern die Einsicht, keine „allgemein verbindliche[n] Aussagen“ über Gott treffen zu können. Hat die Theologie dagegen den Anspruch „etwas Definitives“ über Gott zu sagen, so macht sie nicht nur weitere theologische Arbeit – die hier mit Hirsch als ein ständiges Sich-Abarbeiten verstanden wird – unnötig, sondern beansprucht auch, aus ihrer Begrenztheit heraus Gottes unendliches Wesen vollständig zu begreifen. 216  ChR II, 174. 217  HchR, 124. 218  ChR I, 16. 219  ChR I, 68. Damit muss sowohl Michael Roth als auch Friedrich Böbel widersprochen werden, die behaupten, „die kritische Funktion […], die das Evangelium am vorgegebenen menschlichen Selbstverständnis übt“ (Böbel: Menschliche und christliche Wahrheit, 169) werde „lahm gelegt“ (Roth: Gott, 272). 214 

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bedeutet die Mitführung des Evangeliums als nicht rational erkennbare Norm, dass sie sich immer in der antinomischen Schwebe befindet zwischen „menschlicher Wahrhaftigkeit“, die den Anspruch auf allgemeinverständliche, alles durchdringende Mitteilung hat, und der Evangeliumsoffenbarung, die jener „nicht zugänglich ist“, sie aber begründet.220 Sie gibt in rational-allgemeinverständlicher Form – die das Bestehen des christlichen Glaubens in der Welt notwendig bedingt – Auskunft über eine der rationalen Zugangsweise eigentlich entzogene Erfahrung. Mit Hirsch gilt es, diese Schwebelage aufrecht zu erhalten. Dies wird von ihm selbst allerdings nicht konsequent beachtet. Hirsch tendiert bisweilen dazu, das humane Wahrheitsbewusstsein anstelle oder an der Seite des Evangeliums zur inhaltlichen Norm von Theologie zu erheben. An solchen Stellen müsste Hirsch von seinen eigenen Voraussetzungen her kritisiert werden. Hirsch trifft einige recht polemische Abgrenzungen gegen Formen von Theologie, die seiner Meinung nach die eigentümliche Schwebelage zwischen endlicher Erkenntnis und ihrem ewigen Grund und Ziel nicht berücksichtigen. Er sieht diese vor allem in der Locimethode und der heilsgeschichtlichen Theologie repräsentiert.221 Die gegenwarts- und evangeliumsbezogene Form der Rechenschaft schließt „die Theorie, die Spekulation, den Mythus, die Tatsachenwiedergabe“222 , „Objektivitäten“223, die Mitteilung „ewige[r], göttliche[r], zeitliche[r] Wahrheit“224 aus. Positiv gewendet führt diese traditionskritische Haltung zu einem der Form der Rechenschaft eigenen Verfahren: die „Aneignung oder Abstoßung“225 des überlieferten Stoffs. Diese Methode, die Hirsch in der Wesensbestimmung des (reformatorischen) Christentums durchführt, ist nicht einseitig traditionsablehnend, sondern arbeitet sich an dem geschichtlich Gegebenen ab, über das das Verhältnis zum Christlichen allein zustande kommen kann.226 Die im Zuge von Hirschs Gegenwartsdiagnose recht radikal formulierte Aufgabe der Umformung erweist sich in ihrer Ausführung weniger destruktiv als suggeriert, sie ist „weniger ein Wegschneiden und Kürzen des traditionellen Sperrgutes“ als dessen geschichtshermeneutisch vorgehende „Umdeutung“.227 220 

ChR I, 68. ChR I, 30. 222  ChR I, 29. 223  WuG, 59. 224  ChR I, 3. 225  ChR I, §§6 f. 226  Hier wird deutlich: Die polemische Beziehung theologischer Reflexion auf sich selbst resultiert keineswegs in ihrer „Selbstauflösung“ (gegen Hentschel: Gewissenstheorie, 289). 227  Zerrath: Vollendung, 154 f. 221 

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Der Überlieferung – einschließlich der biblischen, die der Rechenschaft lediglich als Mittel zum Verständnis Jesu dient228 – kommt so wie der Theologie im Allgemeinen keine normative, sondern eine Hilfsfunktion zu. Im Umgang mit dem überlieferten Stoff bedient sich der Theologe dem Mittel der Interpretation bzw. Geschichtshermeneutik, die sich für Hirsch aus den Elementen der historischen Einordnung und der „Einfühlung“ in die geschichtliche Situation zusammensetzt.229 Durch die Ausrichtung der Interpretation am Kriterium des eigenen Erkenntnisgewinns, also des über das Subjekt vermittelten Gegen-

228  ChR I, §§10 f. Hirsch wird im Bezug auf dem Umgang mit dem NT sehr konkret, wenn er sagt: „Es steht der Dogmatik frei, theologische Aussagen des Neuen Testaments als rechter Erkenntnis der christlichen Wahrheit nicht gemäß zu verwerfen. Ein Dogmatiker, der von dieser Freiheit keinen Gebrauch macht, erfüllt seine Pflicht nicht.“ (A. a. O., 48). Der Beliebigkeit gibt er die Bibelinterpretation dennoch nicht preis. Er gesteht zwar aus hermeneutischer Perspektive die „nachschaffende[ ] Einbildungskraft“ ein, bindet diese aber historisch zurück an das, „was ist und gewesen ist“ (WrCh, 157), andernfalls würde sich die Interpretation nicht mehr christlich nennen können. Beliebigkeit zeichnet seiner Meinung nach den katholischen und den modernen, ‚patchwork-religiösen‘ Umgang mit der Bibel aus (a. a. O., 157 f.). Die glaubende Subjektivität ist der Maßstab, an dem sich der Umgang mit der Bibel messen lassen muss. Die bleibende Wirkkraft der Bibel als Glaubenszeugnis und als eines „das Evangelium aufschließende[n] Buch[es]“ (a. a. O., 158) hängt für Hirsch von der Ausrichtung der Exegese an diesem Maßstab ab. Das AT steht bei Hirsch zum NT in einer dialektischen Beziehung wie das Gesetz zum Evangelium. Deutlich wird aber bei Hirsch, dass dieser Gegensatz nicht einer platten antijüdischen Polemik dient, sondern letztlich alle außerchristliche Religion aus der Perspektive des christlichen Glaubens als Gesetz beschrieben werden muss, da christliche Gottes- und Selbsterkenntnis den Anspruch mit sich trage, den ganzen Menschen neu zu bestimmen (ChR I, 63). Indem AT und NT zusammen die christliche Bibel bilden, zeigt diese in ihrer Struktur den Übergang vom Gesetz zum Evangelium auf, der in theologischer Textauslegung wie in glaubender Selbstbesinnung ständig vollzogen werden muss. Wie in allen anderen Religionen auch ist im AT das Evangelium – die Vaterliebe Gottes – nur so da, dass es unter dem Gesetz gefangen liegt: „auf die Zusage der gnädigen Stiftung des Bundes (1. Gebot) folgt unmittelbar die Aufzählung der Bedingungen für die Zugehörigkeit zu ihm“ (Lange: Der Begriff, 200). Eine ausführliche Erläuterung des methodischen und gedanklichen Zugriffs Hirschs auf das AT gibt Ohst, M.: Emanuel Hirsch. Antithetische Vertiefung. Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: Wagner, T. (Hg.): Kontexte. Biografische und forschungsgeschichtliche Schnittpunkte der alttestamentlichen Wissenschaft, Neukirchen-Vluyn 2008, 191–222. Vgl. auch die Relativierung des Antisemitismus-Vorwurfs, der auf Hirschs Stellung zum AT reagiert, bei Müller: Predigt, 236 f. 229  Hirsch verbindet auf diese Weise historische und systematische Theologie miteinander und macht deutlich, „daß gerade die spezifische Funktion der systematischen Theologie – eben Wahrheitsansprüche zu bewähren – nur vom Historiker, will sagen: dem historisch arbeitenden Theologen, also im methodisch kontrollierten Versuch des historischen Verstehens erfüllt werden kann“ (Herms, E.: Emanuel Hirsch – zu Unrecht vergessen? Teil 1, in: Luther 59/3 (1988), 111–121, hier: 114).

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wartsbezugs, treten die Momente der Aneignung und Abstoßung hinzu.230 Diese sind nicht als voneinander getrennte, rein selektive Vorgänge zu denken, so dass bestimmte Überlieferungen abgestoßen und andere angeeignet werden, sondern als Momente eines Vorgangs zu begreifen. Nachdem durch den Nachweis „eine[s] Gegensatze[s] im Verständnis des Christlichen oder eine[s] Unterschied[es] in den geistigen Voraussetzungen und wissenschaftlichen Mitteln“ das christlich und für die Gegenwart Wesentliche und das zeitlich und im Verständnis des Christentums Unterschiedene herausgearbeitet worden ist, kann die „Wiederkehr alter Fragen, Gegensätze und Erkenntnisse in neuen auf freie, der Geschichte gemäßen Weise“ vermittelt werden.231 Da dieses Verfahren ein historisch-kritisches und durch den Akt der „Einfühlung“ und subjektiven Aneignung zugleich ein meditatives ist232 , wird hier deutlich der Charakter der „Verinnerlichung“233 jeder christlichen Rechenschaft herausgekehrt. Hirsch verwahrt diese Form der Geschichtserkenntnis gegen den Vorwurf der subjektiven Willkür, indem er sie mit seiner Gleichzeitigkeitslehre hermeneutisch reflektiert und absichert.234 Geschichte ist nach der Seite der endlichen Vernunft hin als vergangener, faktenbestimmter Kausalzusammenhang zu verstehen. Nach der Seite der persönlichen Begegnung hin betrifft sie den sich mit ihr Beschäftigenden gegenwärtig und bestimmt dessen eigene Geschichte. Aus der persönlichen Betroffenheit heraus ist der Historiker in der Lage zu einer ethischen Bewertung der Geschichte. Die hermeneutische Grundeinsicht, dass „alles Sinnverstehen allererst durch die Subjektivität (die eigene Gewissenserkenntnis) des Historikers ermöglicht ist und auch durch sie begrenzt“235 ist, baut Hirsch intersubjektivitätstheoretisch aus. Das interpersonale Phänomen der Gleichzeitigkeit, das die Bedingung der Möglichkeit jeder zwischenmenschlichen Verständigung ist, ist begründet durch die wesentliche Gleichheit der Menschen: Sie sind Gewissen. Indem der Eine vom Anderen annimmt, dass er ebenso Mensch ist wie er, ist er in der Lage zur Introspektion. Er kann sich „die Gewissenssituation der anderen […] imaginär als eine kontextbedingte Varia­ tion der strukturell identischen menschlichen Gewissenssituation vergegenwär230 

ChR I, 26.

231 Ebd. 232 

Besonders deutlich wird das Moment der Meditation in Hirschs Zugang zur biblischen Überlieferung (ChR I, §15). 233  WuG, 76. 234  Vgl. im Ganzen zur Gleichzeitigkeitslehre HchR, 351–365 und Barth, U.: Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin u. a. 1992, 280–303. 235  H erms: Emanuel Hirsch 1, 119.

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tigen“236. Verstanden werden kann der Andere Hirsch zufolge nur, indem man dessen Entscheidungssituation innerlich nacherlebt, also die Beobachter­posi­ tion verlässt. Der Verstehende wird durch dieses Nacherleben – indem er sich denselben (ethischen) Fragen ausgesetzt sieht wie der Andere – selbst in seiner Existenz betroffen, die Situation des Anderen gewinnt existenzbestimmende Macht. Die Gleichzeitigkeit zwischen zwei Menschen markiert damit die besondere, schicksalhafte, für das eigene Leben entscheidende Begegnung. Dem echtzeitlichen Interpersonalitätsverhältnis strukturell gleichartig ist das Verhältnis zu „Persönlichkeiten der Vergangenheit“237. Der Historiker vollzieht die den historischen Fakten zugrundeliegenden persönlichen Entscheidungen verstehend nach und ist selbst in den Vorgang der Geschichtsdeutung involviert, lässt sich durch ihn bestimmen. „Historisches Verstehen kann demzufolge als Spezialfall von Fremdverstehen aufgefasst werden“238. Indem die Geschichtserkenntnis ihren Grund und ihre Grenze selbst in dem religiösen Verhältnis hat – weil ethische und religiöse Dimension des Gewissens nie gänzlich auseinander zu dividieren sind –, ist über die Gleichzeitigkeit auch das Gottesverhältnis einer anderen Person zugänglich. Hirsch unterscheidet dementsprechend zwischen einer geschichtlichen und einer religiösen Form der Gleichzeitigkeit.239 „Das Gleichzeitigwerden mit vergangenem entscheidungshaftem Dasein ist nicht auf das Nachverstehen äußerlich greifbarer Handlungen beschränkt, sondern schließt den Gesamtkomplex ethisch-religiöser Subjektivität ein. Wo sich die ‚Gleichzeitigkeit alles persönlichen Lebens im letzten Verhältnis‘ (ChR II, 22) ereignet, dort geschieht beides: man wird eines anderen Menschen inne nach dessen Sein vor Gott, und zugleich erlangt jener andere die Vollmacht, das eigene Gottesverhältnis über zeitliche und räumliche Abstände hinweg zu affizieren.“240

Indem das der theologischen Überlieferung und Rechenschaft zugrundeliegende Gottesverhältnis ausschließlich über die Gleichzeitigkeit des historisch arbeitenden Theologen mit seinem Gegenstand freigelegt werden kann, wird deren äußere Beurteilbarkeit in der durch die geschichtliche Subjektivität bedingten Schwebe gehalten: „Es gibt keine mechanische Regel, keine lehrmäßige Norm, mit deren Hilfe man Glaubensgeheimnis und Reflexionsform an einer persönlichen Rechenschaft einfürallemal unterscheiden lernen könnte.“241 Das bedeutet 236 

A. a. O., 118. HchR, 355. 238  Barth: Die Christologie, 290. 239  Vgl. Pf, 109 f. Hier unterscheidet Hirsch zwischen der „träumenden oder dichterischen [geschichtlichen] Gleichzeitigkeit“, die das Geschehen nacherlebt und der „meditativen [religiösen] Gleichzeitigkeit“, die mit dem Geschehen (dem Bibeltext) in eine „Zwiesprache“ tritt. 240  A. a. O., 302. 241  WuG, 75. 237 

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außerdem: Das Evangelium (Glaubensgeheimnis) als das Herauszuarbeitende christlich Wesentliche ist kein statischer Kern von Glaubensgeschichte, der durch eine subtraktive Aussonderung gewonnen werden könnte. Es vermittelt sich immer in einer bestimmten Reflexionsform. Damit ist es gleichzeitig nicht zu greifende Norm dafür, ob und inwiefern ein geschichtliches Ereignis als wesentlich für den Glauben zu bewerten ist. Typisch für Hirschs Wesensbestimmung ist, dass er sie durch die ständige Antithese von Evangelium und Gesetz vollzieht – was Evangelium ist, wird vor allem durch Negativabgrenzungen gegen den Wesensbegriff des Gesetzes deutlich. Das Verfahren der Abstoßung und Aneignung liegt theologisch in der Dialektik von Gesetz und Evangelium begründet.242 Die von Hirsch beschriebene Stellvertretungsfunktion der Theologie kann man im Anschluss an die hier gegebene Darstellung als Realisation der Unvertretbarkeit des Einzelnen vor Gott bezeichnen. Realisiert wird diese erstens, indem sie sich selbst als Zeugnis von einem subjektiven Erkenntnisakt versteht, das von sich aus keine Geltungsansprüche mit sich führt. Zweitens wird sie realisiert in dem vorbildhaften freien Umgang mit der christlichen Überlieferung. Hirschs Methode zur Wesensbestimmung des Christentums verdeutlicht, dass die „Möglichkeit, dem Christentum gegenüber eine kritisch-distanzierte Haltung einzunehmen […] zum Wesen des Christentums selber“243 gehört. Damit schließt sie auch die vorgefundene Pluralisierung religiöser Ausdrucksformen produktiv mit ein. Drittens wird die Unvertretbarkeit des Einzelnen vor Gott realisiert, indem das Verfahren auf eine subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Wesens des Christentums zielt; Hirsch nennt es die „Rückübersetzung in das zugrunde liegende Herzens- und Gewissenserlebnis“ und Ausscheidung „d[es] Nichtrückübersetzbare[n] aus der Rechenschaft vom Christlichen“244.

c)  Zwischenrésumé: Der Zusammenhang zwischen Gegenwartsdiagnose und theologischem Programm Für die Reflexion darüber, inwiefern Hirschs Gegenwartsdiagnose und theologisches Programm einander bedingen, ist der Schlüsselbegriff die ‚Umformung‘, die zugleich das Signum der gegenwärtigen Lage und die Aufgabe für Theologie und Kirche ist. Hirsch bezeichnet das Christentum seiner Gegenwart 242 Vgl.

Ohst: Antithetische Vertiefung, 211. Scheliha, A. v.: Die Überlehrmäßigkeit des christlichen Glaubens. Das Wesen des (protestantischen) Christentums nach Emanuel Hirsch, in: Delgado, M. (Hg.): Das Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom „Wesen des Christentums“ zu den „Kurzformeln des Glaubens“, Stuttgart u. a. 2000, 61–73, hier: 63. 244  ChR I, 5. 243 

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als in einer ‚Umformungskrise‘ befindlich. Deren Ursache ist die Ablösung des christlich dominierten Weltbildes durch das neuzeitliche, mit der sich humanes und christliches Wahrheitsbewusstsein differenzieren. Indem Kirche und Theologie dieser gesellschaftlichen Umformung bisher nicht nachgekommen sind, befinden sie sich in einer Krise, die durch die Verhärtung von in der Ausdifferenzierung angelegten Tendenzen gezeichnet ist: Das humane Wahrheitsbewusstsein hat seine Humanität hinter sich gelassen und ist in skeptischen bisweilen religionsfeindlichen Nihilismus umgeschlagen; Kirche und Theologie versuchen an längst vergangenen Gewissheiten des christlichen Wahrheitsbewusstseins festzuhalten und verstärken damit die problematischen Tendenzen des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins. Die Umformung des christlichen Wahrheitsbewusstseins ist in dieser Lage die alternativlose Lösung. Ihre Zielsetzung ist eine Vermittlung zwischen christlichem und humanem Wahrheitsbewusstsein. Hier geht es einerseits darum, den christlichen Glauben durch eine neue Reflexions- und Organisationsgestalt wieder relevant zu machen. Andererseits soll auf diese Weise das Christentum ein ernstzunehmendes Korrektiv für problematische Spielarten des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses werden. Zur Umformung motiviert ist die christliche Rede von Gott durch die dem christlichen Wahrheitsbewusstsein wesentliche reflexive Mitteilungsform der Rechenschaft, die auf die Allgemeinverständlichkeit der Reflexionsgestalt des christlichen Glaubens zielt. Das Bewusstsein der Entzogenheit der Wahrheit im Prozess ihrer Mitteilung fordert die existenzialdialektische Deduktion und die antinomische Form theologischer Aussagen. Indem auf diese Weise das gegenwärtige, subjektive allgemein-menschliche und christliche Wahrheitsbewusstsein in den Mittelpunkt der theologischen Arbeit rückt, ist die christliche Überlieferung von dorther zu bewerten. Die stetige Veränderung des Referenzrahmens, innerhalb dessen sich die christliche Wahrheit vermittelt, begründet die geschichtliche Mannigfaltigkeit christlicher Glaubenszeugnisse. Diese werden als Rechenschaft von der christlichen Wahrheit begriffen, in der das Evangelium aufscheint, und auf ihren wesentlichen Gehalt hin befragt. Die hierfür nutzbar gemachte Methode der Umformung setzt sich aus den Elementen der Geschichtshermeneutik und der kritischen-produktiven Aneignung von Glaubensgeschichte zusammen, die Entscheidungen über das dem christlichen Glauben Wesentliche trifft. Die hierbei angelegten Kriterien sind sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur. Der Inhalt christlicher Rechenschaft ist dem allein im subjektiven Erkennt­ nis­akt zugänglichen und damit gleichzeitig entzogenen Evangelium verpflichtet. Obwohl dieses nicht mittels reflexiven Ausdrucksformen auf einen statischen Kern festgelegt werden kann, bildet es die immer mitgeführte inhaltliche

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Norm der Bewertung dessen, was für den christlichen Glauben wesentlich ist. Diesem nicht gänzlich rational festzulegenden Inhalt wird sich im Umgang mit der christlichen Überlieferung angenähert über die meditative Methode der Einfühlung in das Glaubenszeugnis von Menschen vergangener Zeiten. Der Reflexionsmodus der gegenwärtigen Theologie ist den Reflexionsformen des humanen Wahrheitsbewusstseins verpflichtet, das als die formale Norm der Umformung bezeichnet werden kann und als Kriterium dafür dient, was an der Überlieferungsgestalt eines Glaubenszeugnisses aussagekräftig für die Gegenwart ist. Interpretiert man die Funktion des humanen Wahrheitsbewusstseins bei Hirsch auf diese Weise, so ist dessen Absolutsetzung durch das inhaltliche Kriterium christlichen Glaubens – allein das Evangelium – der Riegel vorgeschoben. Dafür spricht die Verpflichtung seiner Theologie auf eine Darstellungsform, die immer bestimmt ist durch die Antinomie zwischen dem unbedingten Willen zur allgemeinverständlichen Mitteilung des Evangeliums, das doch dieser Mitteilung entzogen bleibt.245

d)  Die methodische Selbstbegrenzung in der Eschatologie Für Hirsch ist es die Aufgabe der Eschatologie, „der modernen Verwechslung von Ewigkeitsglauben und Urzeitphantasien über das Jenseits entgegenzuarbeiten“246, was nicht nur ihre Berechtigung, sondern zugleich die notwendige Ewigkeitsbezogenheit menschlichen Lebens sichern soll. In der Eschatologie ist die Gefahr, sich in einem „Wirrwarr von Widersprüchen“247 und in „Sinnlosigkeiten“248 zu verfangen, besonders groß, weil sie sich oberflächlich besehen auf keine diesseitigen Erfahrungswerte gründen kann. Eschatologische Rede scheint allein „das unruhige Vermuten und das seiner Willkür sich bewußte Phantasieren“249 sein zu können. Einen Ausweg aus dieser Problematik bietet die Verpflichtung auf die existenzialdialektische Methode und die antinomische Aussageform. Die Eschatologie setzt, um eschatologische Aussagen treffen zu können, bei der Ewigkeitsgewissheit des Glaubens an. Mit Hirsch ist der feststellbare ‚Inhalt‘ der Gewissheit angesichts des ewigen Lebens, „daß wir durch den Tod dem Geheimnis Gottes entgegengehen und an diesem entweder ewig sterben oder ewig das Leben fin-

245  Das

wird immer wieder in Hirschs Vorgehen deutlich, pointiert stellt er seine Verpflichtung auf diese Antinomie heraus in a. a. O., 68. 246  WrCh, 183. 247 Ebd. 248  Ag, 101. 249  ChR II, 109.

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den werden“250. In seinem Verhältnis zum Tod ist sich der Glaubende dessen gewiss, dass er im Tod Gott begegnet. Der Ausgang dieser Begegnung ist auch für den Glaubenden nicht sicher abzuschätzen, er kann aufgrund der Gewissheit der Liebe Gottes nur auf einen guten Ausgang hoffen. Für ihn ist im strengen Sinne kein zusätzliches Wissen über das ewige Leben gewonnen, zumindest wenn er nach der konkreten Gestalt seines Ergehens nach dem Tod fragt. Das Thema der Eschatologie ist damit nicht das ewige Leben, sondern das durch die Ewigkeitsgewissheit bestimmte Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod.251 Die Reflexion über den Tod als das „einzige[ ] Ende aller Dinge“252 ersetzt somit die traditionelle ‚Lehre von den letzten Dingen‘, als die Hirsch den Begriff der Eschatologie streng verstanden haben will.253 Mit dieser Fragestellung nimmt die Theologie eine neue Perspektive auf die in den anderen Bereichen getroffenen Aussagen ein. Sie trägt für Hirsch damit zur vorhergehenden Betrachtung nichts wesentlich Neues bei, sondern hat mehr eine bündelnde Funktion 254, indem sie das Gottesverhältnis des Einzelnen auf die entscheidende Frage zuspitzt: ‚Ist das Ziel meines Lebens die Gemeinschaft mit Gott oder nicht?‘ Hirsch bestimmt die Aufgabe der Eschatologie dahingehend, dass sie das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod als Maßstab auf die Aussagen der christlichen Überlieferung anlegt. Damit ist ein individualeschatologischer Schwerpunkt gesetzt, der zugleich das Problem des Verhältnisses zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie bzw. der Spannung zwischen Nah­ erwartung und Parusieverzögerung lösen soll. Dafür liefert Hirsch vier Argumente, die er in dem für ihn typischen Gedankengang von einer religionsgeschichtlichen Auswertung des neutestamentlichen Gedankenguts über einen 250 

HchR, 392. WrCh, 181. 252  HchR, 395. Zur Argumentation für die Gleichsetzung von individuellem Tod und Weltende, s. u., 3.A.a. 253  ChR I, 89: „Die dialektische Theologie hat dann das Wort [Eschatologie, A.‑M. K.] aufgegriffen und in verschwommener Ausweitung (etwa Glaube an die Nichtigkeit des Menschen und an die verborgene Herrlichkeit Gottes, die sich uns offenbaren soll) zum theologischen Schlagwort gemacht. Ich brauche Eschatologie streng im Sinne von ‚Lehre von den letzten Dingen‘; jeder andere Sprachgebrauch ist Geschwätz.“ Hirsch bezeichnet dementsprechend v. a. mythologische Form des Nachdenkens über den Tod als Eschatologie (z. B., ChR I, 88; ChR II, 98.108; HchR, 395.398; KS 3, 170). Dass der Begriff allerdings auch als dem Anliegen Hirschs angemessene Bezeichnung für seine Reflexion über das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod und das damit verbundene Verhältnis von Zeit und Ewigkeit dienen kann, legt sich z. B. von seiner Äußerung nahe, dass die „christliche[ ] Eschatologie“ durchaus „von allem Zufälligen und Mythischen befreit werden kann“, wenn sie sich auf die Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit konzentriert (HchR, 405). 254  ChR II, 98. 251 

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Ausweis der These am Leben Jesu hin zu deren Begründung durch reformatorische Theologie und religionsphilosophische Erkenntnisse entwickelt.255 Zum einen ordnet er religionsgeschichtlich die Form der Beziehung auf die Ewigkeit, die sich in der urchristlichen Vorstellung eines Weltendes und eines damit verbundenen neuen Äons ausdrückt, als zeitverhaftete Vorstellung ein. Zum anderen liest er an Jesu eigenem Verhältnis zur Ewigkeit ab, dass dessen Naherwartung nicht auf ein allgemeines Weltende gerichtet ist, sondern Zeichen eines Lebens ganz im Bewusstsein des bevorstehenden eigenen Todes ist. In dem Sinne bringt dann die reformatorische Akzentuierung des Todes des Einzelnen den genuinen Kern christlichen Glaubens zum Ausdruck. Zugleich entspricht Luther, so Hirsch, mit der Ineinssetzung von individuellem Tod und Weltende dem religionsphilosophischen Verständnis von Zeit und Ewigkeit, die nicht in einem Nacheinander angeordnet sind, sondern deren Zusammenhang in jedem Moment des Lebens präsent ist, weswegen der Durchgang in die Ewigkeit jederzeit mit dem Tod des Einzelnen vonstatten gehen kann.256 Jegliche Repristination neutestamentlicher Zukunftsbilder, die über den individualeschatologischen Kern hinausgeht, ist Hirsch zufolge dem reformatorischen Christentum wesensfremd.257 Allerdings verfährt Hirsch nicht einseitig ausgrenzend, sondern spricht den traditionellen eschatologischen Bildern ein begrenztes Recht zu. „[S]ie sind nicht reine Träume. Sie sind ein Stammeln von dem, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, und das in keines Menschen Herz kommen ist.“258 Aufgrund ihrer traditionsgeschichtlichen Wirkung können sie nicht ohne die Frage nach ihrem Wahrheitskern einfach aufgegeben werden. Jahrhundertelang dienten sie zur Beschreibung der Ewigkeitshoffnung, ihr 255 

WrCh, 180–182. Inwiefern Hirsch damit den Kern reformatorischer und Luther’scher Theologie trifft, kann in diesem Rahmen nicht bewertet werden. Hier stellt er jedenfalls Luther so dar, dass dieser die These der Innerlichkeit des Reiches Gottes in seiner Theologie anbahnt (das belegt er hier vor allem mit folgendem Zitat: „Das Wesen der ewigen Seligkeit ist, ‚daß Gott in uns regiert und wir sein Reich sind‘“ [a. a. O., 165, zitiert nach Luther, M.: Auslegung deutsch des Vaterunsers, 1518, WA II, 98 f.]). In folgender Aussage sieht er die Einheit von Tod und Welt­ ende bei Luther (die von der lutherischen Orthodoxie verworfen und in der neuprotestantischen Theologie ausbuchstabiert wird) angedeutet: „Eben indem er, Martin Luther, sterbend die Augen schließen werde, werde er schon den Schall der Drommete, welche alle Toten weckt, vernehmen, die da rufe: ‚Martine, geh herfür.‘“ (A. a. O., 180). Dazu gesellt Hirsch in HD eine Stelle aus Luthers Hauspredigten: „Alsbald die Augen zugehen, wirst du auferweckt werden. Tausend Jahre werden sein, gleich als wenn du ein halbes Stündlein geschlafen hättest.“ (HD, 266) – Luthers Lehre vom Seelenschlaf läuft Hirsch zufolge – denkt man sie konsequent zuende – auf den Verzicht auf einen Zwischenzustand und auf die Gleichsetzung von Tod und Weltende hinaus. Ausführlicher s. u., 3.A.a. 257  WrCh, 182. 258  WuG, 154. Vgl. WrCh, 183. 256 

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Wahrheitskern ist das verbindende Element zwischen den verschiedenen Generationen des Christentums.259 Hirsch nimmt damit einerseits den Anspruch der christlichen Überlieferung ernst, Rechenschaft vom im Glauben offenbarten Evangelium zu sein und trägt andererseits der Eingebundenheit des Glaubenden in einen Traditionszusammenhang Rechnung. Die wissenschaftliche Verwendung der Bilder schließt er unter den gerade genannten Bedingungen allerdings aus. Im poetischen und liturgischen Bereich befürwortet er ihren Gebrauch, hält diesen aber nicht für unbedenklich: Sie sollten nur unter dem Vorzeichen ihrer Uneigentlichkeit verwendet werden. Sie sind selbst nicht in der Lage, das Eigentliche auszusprechen, sie sind nicht die Sache selbst, sondern bedürfen der Interpretation, um den Kern christlichen Glaubens in ihnen freizulegen. Dem Theologen steht an dieser Stelle die Aufgabe zu, zu diesem Bewusstsein der Gleichnishaftigkeit anzuleiten.260 Die Interpretation der Bilder muss nach Hirsch am Maßstab des Evangeliums ausgerichtet sein. Eine weitere Bedingung benennt er mit dem allein kirchlichen Gebrauch der Bilder: Adressaten sind die, die glauben.261 Diese Einschränkung ist als Konsequenz aus der Frage nach dem Öffentlichkeitscharakter von Theologie zu betrachten: Die Theologie ist für Hirsch auf die Gesellschaft als Ganze gerichtet und hat dementsprechend ihre Methode nach dem Prinzip der Rechenschaft zu gestalten. Nicht öffentlichkeitsfähige Bilder, die aufgrund ihrer Uneigentlichkeit nicht unmittelbar einleuchten können, haben in diesem Diskurs keinen Platz. Allein der Christenmensch, der durch theologisch-kirchliche Bildung im Idealfall um den Uneigentlichkeitscharakter religiöser Sprache weiß und einen Deutungsrahmen hat, in den er diese einordnen kann, kann die Bilder produktiv und angemessen für sich nutzbar machen. Alle anderen sind Hirsch zufolge nicht in der Lage, die Uneigentlichkeit der Bilder aufzudecken, und begegnen ihnen entweder mit einer Skepsis, die den christlichen Glauben für unvereinbar mit modernem Bewusstsein hält, oder machen sie für eine sich an Eindeutigkeiten festhaltende Frömmigkeit nutzbar. Um den Status von Bildern in nicht-wissenschaftlicher theologischer Rede zusammenfassend näher zu erhellen, sei hier Hirsch Theorie von der Dreischichtigkeit des Symbols262 , wie er sie im Anhang zu WuG, „Die Bildlichkeit 259 

ChR II, 106.110. Ebd.; ChR I, 88; WrCh, 172. 261  So ist m. E. folgender Satz zu verstehen: „Der Gebrauch dichterischer Bilder solcher Art hat für uns Sinn, wenn die in ihnen eingekleidete Wahrheit uns hat; es kann aber dieser Sinn sich für uns nicht mehr aus diesen Bildern selber erzeugen.“ (ChR I, 88; Herv. A.‑M. K.). 262  Obwohl Hirsch den Symbolbegriff häufig pejorativ (z. B. a. a. O., 5) verwendet und stattdessen vom „Gleichnis“ oder „Bild“ spricht, kann an dieser Stelle von einer Symboltheorie gesprochen werden. 260 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

des religiösen Ausdrucks“, ausführt, angesprochen.263 Ein Symbol wird Hirsch zufolge in einer dreifachen Weise verwendet. Auf der Oberfläche und mit der Tendenz zum Gegenständlichen liegt die mythische Beschreibung. Diese „hat nur ein dunkles Bewußtsein von ihrer Uneigentlichkeit“264, das sie mitführen muss, um eine über das bloße Bild hinausgehende Wirklichkeit anzunehmen. Gegenstand und Sinngehalt sind aber auf dieser Ebene noch nicht voneinander getrennt. Die Uneigentlichkeit des Bildes wird deutlich vom Eigentlichen dahinterliegenden unterschieden in der zweiten Dimension, in der das Bild transzendiert wird. Die Spannung zwischen dem ewigen Sinn und der endlichen Gestalt des Bildes und das Bewusstsein über die endliche Unaussagbarkeit des ewigen Sinns führt hier zur Form antinomischer Aussagen, die immer zugleich in einer These und einer Zurücknahme dieser (für den Sinngehalt des Bildes unangemessenen) These bestehen. Die dritte und tiefste Schicht ist die den „Transzendierungsakt tragende Wirklichkeit“265, die innerliche Erfahrungswelt des Menschen, in der sich der Sinn des Bildes vermittelt. Die theologische Interpretation religiöser Symbole muss sich, so Hirsch, von der ersten Schicht bis zur dritten, zum Kern – dem Gottesverhältnis des Einzelnen –, ‚hindurchschälen‘. Dabei muss sie vor allem die Uneigentlichkeit des Bildes, die in der zweiten Dimension verstärkt zum Ausdruck kommt, betonen. Die Dichtung deckt an einem Bild hingegen nur eine über die mythische Bildhaftigkeit hinausgehende Schicht auf; der über die äußere Gestalt hinausgehende Gehalt des dichterischen Bildes ist kein erst vom Endlichen als ewiger Sinn zu transzendierender, sondern liegt unmittelbar in der Innerlichkeit des Dichters begründet.266 Während es der dichterischen Darstellung darum geht, die menschliche innere Erlebniswelt zu vergegenwärtigen, geht die religiöse Deutung eines Bildes darüber hinaus, indem sie die Sinnfrage zur Wahrheitsfrage macht. Im wesentlich religiösen Transzendierungsakt, der auf den ewigen Sinngehalt des Bildes geht, wird diese gestellt. Im Bild kommt nicht nur eine kontingente menschliche innerliche Verfasstheit zum Ausdruck, sondern der Mensch und sein Bezug auf die ewige Wahrheit, sein Gottesverhältnis. Das Bild hat nicht nur individuell erzeugten Sinn, sondern Ewigkeitswert. Das Problem an der Exegese seiner Zeit sieht Hirsch in der fehlenden Berücksichtigung der dritten Schicht, die durch den Akt des Sicheinlebens in ein frommes Erleben freigelegt wird. Ein das Moment der ‚Einfühlung‘ nicht berücksichtigendes exegetisches Verfahren führt für ihn zu zersetzender Reflexion und einem zu starken Bewusstsein der Uneigentlichkeit der Aussagen, bei der der 263 

WuG, 155–159. A. a. O., 155. 265  A. a. O., 156. 266  A. a. O., 157. 264 

1  Die konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie

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Auslegende nur in leerer „Abstraktheit“267 zu reden vermag, „ohne sich [den] Lebenssinn zu vergegenwärtigen“268. Hirsch wirft damit der historisch-theologischen Forschung vor, bei der Beurteilung der Geschichte nach naturwissenschaftlich-kausalen Kategorien stehen zu bleiben und mittels einer radikalen Entmythologisierung die Unbrauchbarkeit mythischer Bilder in jeder Hinsicht zu provozieren, statt den tieferen religiösen Sinn mythischer Bilder aufzudecken. Als angemessenes Verfahren könnte Hirschs geschichtshermeneutisch in der Gleichzeitigkeitslehre begründeter Zugang bezeichnet werden, der den Akt des Nacherlebens mit einschließt.269

267 

A. a. O., 159. 110. 269  S. o., 72 f. Die Predigtmeditationen der Pf (143–415) sind ein Beispiel für eine exegetische Arbeit, die das Moment der Einfühlung einschließt, bei der aber freilich der Überschritt von der ersten, geschichtlichen Form der Gleichzeitigkeit zur existenziell-religiösen Form gemacht wird. 268  Pf,

2  Die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie: Die Gewissheit der Liebe Gottes Die Voraussetzung dafür, dass eine theologische Eschatologie für das allgemein-menschliche Wahrheitsbewusstsein relevant ist, wird von Hirsch durch die wahrheitstheoretisch und ethisch begründete Annahme geschaffen, dass der Mensch wesentlich auf die Ewigkeit ausgerichtet ist. Diese ist seiner Meinung nach denkerisch nachvollziehbar – wobei sie explizit nicht zum Beweis der Existenz Gottes dienen soll, sondern lediglich den Gottesgedanken und die Möglichkeit eines ewigen Lebens allgemein plausibel macht. Die inhaltliche Bestimmung der Eschatologie geht über die allgemeine Annahme der Ewigkeitsbezogenheit hinaus. Sie wird aus der Ewigkeitsgewissheit des Glaubens heraus entfaltet, die sich aus dem unverfügbaren Offenbarungsgeschehen ableitet. Dieser Möglichkeitsbedingung der Eschatologie soll im Folgenden nachgegangen werden. Dafür wird zunächst die spezielle Form der Wahrheitsbezogenheit des Glaubens beleuchtet, der sich bei Hirsch aus einem subjektiven Offenbarungserlebnis ableitet (2.A). Dieses begründet die Möglichkeit, trotz der erkenntnistheoretischen und methodischen Begrenzung der Theologie zu eschatologischen Aussagen zu gelangen. Hirsch macht deutlich: Im Offenbarungsgeschehen selbst, das als innerliches geheimnishaft ist, liegt der Grund für die Grenzen der Objektivierbarkeit der Glaubenserfahrung. Der subjektivitätstheoretische Vorbehalt, dass Ewigkeitsgewissheit nicht erzwungen werden kann, sondern dem Glaubenden gnadenhaft zugeeignet werden muss, muss in der wissenschaftlichen Argumentation immer mitgeführt werden.270 Anschließend wird der inhaltlichen Seite der Ewigkeitsgewissheit nachgegangen: Diese gründet auf dem Inhalt der Offenbarung, auf der Erfahrung der Liebe Gottes im eigenen Leben, die darauf hoffen lässt, dass sich diese Liebe 270 

„Erzwingen mit den Daumschrauben des wissenschaftlichen Beweises kann man dieses Verständnis von Jesu Gang in den Tod nicht. […] Wo es sich um das Eindringen der Nachgeborenen in Geist, Seele und Leben eines nicht mehr unter uns weilenden Menschen handelt, da wird das Letzte, Entscheidende niemals gelingen, wenn man nicht den Mut hat, nacherlebend, alle Kräfte der eigenen Seele brauchend, sich dem in uns sprechenden Gefühl hinzugeben.“ (Zw, 284 f.). Vgl. WuG, 138–140.

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über den Tod hinaus als beständig erweist. Soll die christliche Ewigkeitsgewissheit nicht jenseits der allgemein-menschlichen Erfahrungswelt liegen, sondern an diese anknüpfen, so muss der antinomischen Verfasstheit der menschlichen Existenz Rechnung getragen werden: Der Hirsch’sche Begriff der Liebe Gottes wird anhand der theologischen Dialektik von Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung entfaltet, die die gleichzeitige Verborgenheit und das Offenbarsein der Liebe Gottes im Leben des Einzelnen zum Ausdruck bringt. Ihr korrespondieren die antinomische Einheit von Schuldgefühl und Vertrauen, die das menschliche Leben ausmacht, und die antinomische Einheit des Bildes vom zornigen und liebenden Gott (2.B). Der vollständig bestimmte Begriff der Liebe Gottes besteht Hirsch zufolge in der dialektischen Einheit von Liebe und Zorn – sie ist unerbittliche, in die Entscheidung stellende Liebe –, die die Grundlage für die Verankerung des Gerichtsgedankens im Bild vom liebenden Gott bildet. Das Korrelat zur Offenbarung der Liebe Gottes ist der ewigkeitsgewisse Glaube, der die Haltung des Menschen zu Leben und Tod bestimmt. Die wesentlichen Linien des Hirsch’schen Glaubensbegriffs sollen als Grundlegung der weiteren Ausführungen zur menschlichen Vollendung nachgezeichnet werden (2.C). Aus der Perspektive des Glaubens wird die durch das Gesetz bestimmte Existenz mit der theologischen Kategorie der Sünde gedeutet, die von Hirsch als Schuldgefühl bezeichnet wird, das den Menschen in die Gottes- und Selbstentfremdung führt und im Leben nichts als Perspektivlosigkeit bereithält. Der Glaubende wird dem gesetzhaften Selbstvollzug insofern enthoben, als der Glaube die Möglichkeit des Lebens mit dem Schuldgefühl eröffnet. Die subjektive Form der ewigkeitsgewissen Wahrheitsbezogenheit bedingt zugleich die Angefochtenheit des Glaubenden, die ihn stetig der Gefahr aussetzt, seiner Ewigkeitsgewissheit verlustig zu gehen. In der simul-Struktur des Glaubens begründet Hirsch die Ungewissheit über den Ausgang des Menschen nach dem Tod. Der Glaube gibt keine letzte Sicherheit, er eröffnet lediglich die Möglichkeit, die Verborgenheit Gottes unter seinem Gegenteil zu bejahen, den Unbegreiflichkeiten des Lebens (und des Todes) standzuhalten. Dieser Lebenshaltung wird der Mensch am Leben und Sterben Jesu ansichtig. Sie wird ihm, indem er im Glauben mit Jesus gleichzeitig wird, zugeeignet.

2  Die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie

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2.A Die Geheimnishaftigkeit der Offenbarung: Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Offenbarungsbegriffs Hirsch fasst sein Offenbarungsverständnis in folgender Definition zusammen, die hier als Grundlage für die skizzenhafte Darstellung seines Offenbarungsbegriffs dient: „Christlich verstanden ist Offenbarung ein mich in meinem persönlichen Vernehmen vor Gott bestimmendes und mir darin Gott erschließendes gegenwärtiges Handeln Gottes an mir.“271 Offenbarung ist das Erschließungsgeschehen, das die Erkenntnis christlicher Wahrheit begründet. Hirsch kehrt das für ihn notwendige Moment persönlicher Betroffenheit von Wahrheit heraus: Offenbarung ist ein „gegenwärtiges“ Geschehen „an mir“. D. h., es gibt nichts, was im Bereich von Geschichte und allgemeiner Erkenntnis unmittelbar als echte Offenbarung bezeichnet werden könnte, ihr Ort ist die menschliche Erfahrung.272 Offenbarung geschieht immer in dem Zusammenspiel von Allgemeinheit und Besonderheit. Sie hat „einen Inhalt, der ins Universale weist“273, aber sie muss sich jedem Menschen präsentisch neu ereignen.274 In der Subjektivität durchdringen sich auf diese Weise das Ewige und das Endliche.275 Allein aufgrund dieses Moments der subjektiven Erfahrung, die sprachlich nicht verallgemeinerbar ist, und aufgrund der Unverfügbarkeit von Offenbarung – nicht im Sinne einer ‚Geheimlehre‘ – spricht Hirsch vom Geheimnischarakter der Offenbarung.276 Die Geheimnismetapher ist nicht misszuverstehen als lediglich formaler vor die weitere theologische Reflexion vorgeschobener Riegel. Ihrer methodischen Bedeutung korrespondiert eine inhaltliche: Das Geheimnis, auf das der Mensch stößt, ist von Hirsch benannt mit „Gott selber […], der alles in allem ist“277 und dennoch den Menschen Person sein lässt. Das Geheimnis ist die nicht nur äußerliche Grenze menschlicher Freiheit, sondern die 271 

ChR II, 9. Weinrich sieht darin eine Parallele zu personalistischen Konzeptionen: „Die Erlebnisse werden zu den zentralen Erfahrungen der wahren Wirklichkeit, ja in ihnen zeigt sich überhaupt erst an, in welchen Bereichen erfolgversprechend nach der Wirklichkeit gesucht werden kann.“ (Weinrich, M.: Die Entdeckung der Wirklichkeit im personalistischen Denken. Studien zu den Konzeptionen von Martin Buber, Eberhard Grisebach, Friedrich Gogarten, Dietrich Bonhoeffer und Emanuel Hirsch, Göttingen 1978, 361.) 273  ChR II, 14. 274  Hirsch grenzt sich damit gegen ein seiner Meinung nach unterstufiges Verständnis „einer durch Amt, Priestertum oder heiliges Buch vermittelten Offenbarung“ (ChR II, 9) ab. Offenbarung geschieht unmittelbar am Ort der subjektiven Innerlichkeit. 275  WuG, 78. 276  Vgl. z. B. ChR II, 12; WuG, 83 f. 277  ChR I, 305. 272 Michael

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sie zugleich begründende. Es ist mit Hirsch nicht ein rein formaler Begriff gleich dem Schleiermacher’schen Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit, sondern das durch die Gottesbegegnung „erfüllte Geheimnis“: „Gott ist der, den das Herz als den Allbedingenden, Lebendigen, Heiligen kennt, und der in dem allen auf geheimnisvolle abgründliche Weise der Träger unsers menschlichen Daseins ist“278. Gott ist zugleich der Grund und die Grenze menschlichen Denkens und Lebens. Er steht im Gegensatz zur menschlichen Kreatürlichkeit, zugleich gibt er dem Menschen Anteil an seinem schöpferischen Wesen und lässt ihn so Person sein. Er begrenzt den Menschen in seinen Möglichkeiten, indem er ihn in eine bestimmte Situation stellt, zugleich eröffnet er den Horizont für die freiheitlich-verantwortliche Selbstentfaltung. Gott kann im Glauben erkannt werden und unter endlichen Bedingungen doch nicht erkannt werden. Hirsch gebraucht diesem Geheimnischarakter entsprechend eine durch Lichtmetaphorik geprägte Sprache, wenn es um die Erschlossenheit der Gotteserkenntnis im Glauben geht.279 Er nennt diese Form von Erkenntnis auch die „überwissensmäßige“.280 Mit der Geheimnismetapher illustriert Hirsch das Zusammenspiel von „Erkennbarkeit und Entzogenheit“281 – die antinomische Grundstruktur des sich vollziehenden und reflektierenden menschlichen Verhältnisses zu Gott – sowohl an den Grenzen des humanen Wahrheitsbewusstseins als auch im Glauben. Offenbarung ist Handeln Gottes am Einzelnen „als Wort“282. An der Worthaftigkeit der Offenbarung hält Hirsch fest, um die Geheimnismetapher vor einer ekstatischen Deutung zu verwahren. Zugleich grenzt er sich mit diesem Kriterium gegen ein dinglich gebundenes Verständnis der Offenbarung ab – das göttliche Wort ist strikt von seiner menschlich-geschichtlichen Vermittlung zu unterscheiden. Die Offenbarung bricht im subjektiven Gewissen auf, sie ist damit weder in einem abgegrenzten Gefühlsbereich verortet – sondern mit dem ethischen Lebensvollzug des Menschen verbunden – noch verallgemeinernd objektivierbar – sondern personal. Das in der Offenbarung „gleichsam sprechende[ ] Geheimnis“283 ist nur mit dem Doppelschlag zwischen subjektiver, augenblickhafter Unmittelbarkeit und objektiver Reflexion, in „subobjektive[r] Schwebe“284 zu denken. Das worthafte Handeln Gottes verweist zudem darauf, dass die Glaubenserkenntnis in Intersubjektivitätsvollzüge eingebettet ist. Wort 278 

ChR I, 306. Vgl. z. B. ChR II, §73; WuG, 81. 280  Vgl. HchR, 392; Eg, 221. 281  Zerrath: Vollendung, 156. 282  ChR II, 9. 283  Z. B. ChR I, 182. 284  HchR, 124. 279 

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und Begriff können den sprach- und wahrheitstheoretischen Betrachtungen Hirschs zufolge nicht unmittelbar Offenbarung sein.285 Gleichzeitig gehört zum Glauben wesentlich der Übergang in die Reflexivität: „Es ist dem Gottesverhältnis wesentlich, in Wort und Begriff gefaßt zu werden: das gilt in aller persönlichen Religion, die als Rechenschaft lebendig ist.“286 Indem zum Personsein der reflexiv-kommunikative Selbstvollzug gehört, schließt die Bestimmtheit der Person durch Gottes Offenbarung die Kommunikation des Selbstverständnisses mit ein. „Gott zwingt mich also, oder entbindet mich (beide Wendungen sind wahr), von ihm in Wort und Begriff Rechenschaft zu geben.“287 D. h., offenbarungsbestimmter glaubensmäßiger Selbstvollzug ist Reflexion und Kommunikation durch das Medium der Sprache. Damit ist er notwendigerweise intersubjektiv, aber nicht nur in der Form der Rechenschaft, also nach außen, sondern auch in umgekehrter Richtung. Wie Kommunikation zum Träger des Glaubens wird, so sind interpersonale Vollzüge auch Träger von Offenbarung, „an einem Verhältnis zu anderen Menschen geht uns die Tiefe eines Verhältnisses zu ihm, der die Wahrheit ist, auf“288. Der „andern kundwerdende lebendige Einzelne [wird] zu einer Entbindung neuen gegenwärtigen Offenbarwerdens Gottes in ihnen und an ihnen“289. In dieser Weise ist Offenbarung nicht als eine von anderer Erkenntnis gesonderte Geheimlehre zu verstehen, sondern ist vermittelt über das menschlich-geschichtliche „Erkennen der Gewissenswahrheit, Sinnwahrheit und Sachwahrheit“290 – über ihr Medium, das Gewissen, vermittelt ist sie zugleich auf die anderen Wahrheitsbereiche bezogen, von denen die Selbsterkenntnis auch abhängig ist. Hirsch gibt eine entsprechende, die Interpersonalitätsvollzüge einbindende Definition: „Der Offenbarungsvorgang ist also der, daß ich, an der Begegnung mit menschlichen Personen selber zur Person werdend, Gott mir in Ruf und Fügung das Leben gebend erkenne.“291 Indem Gottes Wortsein als Handeln verstanden wird, sind auch Versöhnung und Neuschöpfung Weisen seines Wortseins. Hirsch konstruiert diese Begrifflichkeiten als Seiten derselben Sache parallel zum Offenbarungsbegriff. Damit hat sein Offenbarungsverständnis eine soteriologische Pointe. Er versteht Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung strikt als ein präsentisches Handeln Gottes pro me und findet Formen derselben im Bereich außerhalb der spezifisch 285 

ChR I, §50. ChR I, 202. 287  ChR I, 203. 288  ChR I, 202. 289  WuG, 85. 290  ChR I, 200. 291  ChR I, 203; i. O. herv. 286 

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christlichen Offenbarung, die dann christlich vertieft und verwandelt werden 292. Wie Offenbarung wahre Gotteserkenntnis ermöglicht, so ermöglicht Versöhnung in der Antinomie zwischen Gericht und Gnade vollkommene Gottesgemeinschaft, bestimmt also menschliches Leben neu als freiheitliches vor Gott und mit den Anderen. Schöpferisch ist Offenbarung schon, weil sie sich im Sinne einer creatio continua immer wieder neu ereignet.293 Der verwandelnde Charakter der Offenbarung wird in der die Antinomie von Tod und Leben überspannenden Neuschöpfung Realität. Das Menschsein wird von Grund auf „neu bestimm[t]“294 als die „Berufung, mein Leben aus Gott zu leben“295: Das ganze Leben ist auf Gottes ewiges Leben ausgerichtet, das durch den Tod hindurch sich verwirklicht. Die Offenbarung begründet die Personhaftigkeit, sie geht auf das Ganze des Lebens. Um noch einmal auf die oben gegebene Grunddefini­ tion 296 zurückzukommen: Sie ist ein „mich in meinem persönlichen mich Vernehmen vor Gott bestimmendes“ Geschehen, sie ist existenzbestimmend. Sie ist der das Subjekt bestimmende Grund des Selbstvernehmens und -vollzugs des Subjekts, mit der Gotteserkenntnis vermittelt sie die Selbsterkenntnis. Der Geheimnischarakter der Offenbarung begründet die überwissensmäßige Form der Glaubensgewissheit. Für den Glauben bleibt mit seiner antinomischen Struktur die Paarung einander konträrer Aussagen über Gott in ihrer Spannung bestehen. Das Evidenzerlebnis, das die beiden Momente zusammenbringt und überspannt, ist auf logischer Ebene als Synthesis der einander vernunftmäßig widersprechenden Elemente des Gottesverhältnisses zur Einheit zu bezeichnen.297 Glaubensgewissheit ist „persönlich durchlebte Synthesis per hiatum irrationalem“298: „Die Gewißheit, die dem Glaubensgeheimnis eigen ist, bleibt ein von Gottes Verborgenheit her unbegreiflich uns ins Herz hineinleuchtendes Wunderlicht. Eben darum ist der Glaube

292  Damit meint Hirsch die ursprünglich urchristliche Einheit von Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung gedanklich wiederhergestellt zu haben und macht nachdrücklich deutlich, dass Versöhnung und Offenbarung keine vergangenen, sondern sich immer wieder neu ereignende Geschehnisse sind (ChR II, 50 f.). 293  HchR, 80: „Das Schöpfungswerk ist in ihr [der Geschichte] immer noch zugange. Immer neu spricht sich in sie mit aller ihrer Not und Dunkelheit ein göttliches ‚Es werde‘ hinein. Nach dieser ihrer tieferen Seite hin ist Geschichte ein ständig neu sich vollziehendes Sichoffenbaren Gottes durch das Medium des menschlichen Geistes.“ 294  ChR II, 49; Herv. A.‑M. K. 295 Ebd. 296  ChR II, 9. 297 Vgl. Barth: Die Christologie, 382–387. 298  WuG, 98.

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wehrlos gegen den Verdacht, dies Wunderlicht sei in Wahrheit nur menschlicher Wahn oder menschlicher Willkürakt.“299

Sie ist von der rationalen, allgemein-nachvollziehbaren Syntheseleistung durch das Moment der Innerlichkeit, durch ihre Passivität und durch das Bestehenbleiben des Widerspruchs unterschieden. Der Glaube muss dementsprechend ständig mit dem Projektionsvorwurf leben und findet keinen Weg, diesen argumentativ endgültig auszuräumen. Dennoch hat der Glaube, weil er wahrheitsbezogen ist, mit Hirsch die Form von Erkenntnis. Hirsch macht mit dieser Definition des Glaubens das reflexive Moment des Glaubens stark gegen die Gefühlstheorien des 19. Jh.300, gleichzeitig grenzt er sie aber gegen ein intellektualistisches Verständnis wie das der altprotestantischen Orthodoxie ab. Er verneint den kognitiven Glaubenszugang über den Dreischritt von notitia, assensus und fiducia, lässt aber das Vertrauen als Ausgangsbestimmung für den Glaubensbegriff auch nicht gelten. Die Näherbestimmung echten Glaubens als Vertrauen im Sinne persönlichen Ergriffenseins – dem dann die Aneignung des Glaubensinhalts folgt – setzt, so Hirsch, die Selbstverständlichkeit traditioneller Gehalte voraus. Der Begriff des Vertrauens allein würde die Wahrheitsbezogenheit des Glaubens nicht zum Ausdruck bringen. Unter den Bedingungen des Traditionsabbruchs und dem auf Wahrheitserkenntnis hinaustreibenden Zweifel ist Hirsch zufolge die Gotteserkenntnis die adäquate Definition für Glauben. In derselben liegt schon das Moment des Vertrauens begriffen, weil wahre Gotteserkenntnis das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen, der sich dem Gott der Liebe vertrauend hingibt, ist. Dementsprechend beschreibt Hirsch den Glauben auch als Zusammenspiel von Erkenntnis und Vertrauen.301 Die Gottes- und Selbsterkenntnis des Glaubens besteht in der Einheit von Erschlossenheit und Erkenntnis bzw. Hingabe und Erkennen. Damit ist korrelierend zum Offenbarungsbegriff auf der einen Seite dessen Unverfügbarkeit begrifflich gefasst. Auf der anderen Seite ist der Glaube durch diese Einheit „Totalbestimmung[ ] des Menschseins“302 , „Neubestimmung der Person in ihrem Grundwesen“303, „Bestimmung des ganzen vor Gott stehenden Menschen in allen seinen Regungen“304. Die existenzbestimmende Einheit der Antinomien im Gottes- und 299 

WuG, 99.

300 Dementsprechend

kann man Hirsch keinen „romantischen Irrationalismus“ (gegen Weinrich: Die Entdeckung, 362) unterstellen. 301  ChR II, 67–69. 302  ChR II, 70. 303  ChR II, 71. 304  ChR II, 65. Daran wird deutlich, dass die Erkenntnisweise des Glaubens nicht wie die der Vernunft auf den gegenständlichen Bereich gerichtet ist, sondern sich auf der Ebene der

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Selbstverhältnis wird im Glauben gnadenhaft durch das Handeln Gottes als Wort, durch das Erschließungsgeschehen der Offenbarung, ermöglicht. Dass der Glaube ein innerliches Phänomen ist und sich in keinem Fall an äußere Tatsachen binden kann, dass er sich selbst aus der geheimnishaften Offenbarung herleitet, macht Hirsch deutlich, indem er ihn als Glauben an die „gestalt­lose Ewigkeit“305 bezeichnet. Der Begriff „Ewigkeitsglaube“ schließt zugleich andere Aspekte des Glaubens mit ein. Er impliziert die zugleich präsentische und futurische Bezogenheit des Glaubens auf die Ewigkeit. Dieser ist eine präsentische Evidenzerfahrung im Medium der Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit und er ist zugleich auf seine Zukunft, in der die Ewigkeit ohne Zeit sein wird, ausgerichtet. Zudem wird mit dem Begriff erwiesen, dass der Glaube an die allgemein-menschliche Ewigkeitsbezogenheit anknüpft, indem er diese vertieft und zur Ewigkeitsgewissheit verwandelt. Mit dem Glauben ändert sich nicht der Inhalt des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins in Bezug auf die Ewigkeit – es ahnt, dass Gott Liebe ist –, sondern der Glaube gibt dem Verhältnis zur Ewigkeit die Form der Gewissheit. Indem der Glaube zwar keinen neuen Inhalt liefert, aber einem allgemein angenommenen Gedanken über Gott die Macht verleiht, existenzbestimmend zu sein, hat er einen Überschuss im Vergleich zum humanen Wahrheitsbewusstsein: Er schließt erst die Möglichkeit auf, dass das ideale menschliche Selbstverständnis Lebenswirklichkeit wird.306 Der Begriff ‚Ewigkeitsglaube‘ ist als religionsphilosophischer Allgemeinbegriff höchst anschlussfähig, weil er noch keine bestimmten Inhalte intendiert, wobei der christliche Ewigkeitsglaube freilich durch aus der Begegnung mit Jesus gewonnene Bilder gefüllt wird. Der explizit christliche Folgebegriff für den Ewigkeitsglauben ist bei Hirsch der „Osterglaube“307.

Selbsterkenntnis bewegt und damit auf die Bestimmung der Existenz zielt. Damit ist der Glaube bei Hirsch, wie Mareile Lasogga feststellt, trotz „seiner reflexiven Letztbegründungsfunktion für den Konstitutionsprozess von Subjektivität“ (Lasogga: Menschwerdung, 327) nicht in der Polarität von Glaube und Vernunft zu begreifen. 305  Z. B. ChR II, 54. 306  Auch wenn der christliche Glaube damit vom Gehalt her nicht „informativ“ (H erms: Emanuel Hirsch 2, 44) für das humane Wahrheitsbewusstsein ist, kann nicht behauptet werden, dass er gegenüber der allgemeinen Ewigkeitsbezogenheit nichts qualitativ Neues bringt. Er löst die alte Lebenswirklichkeit durch eine vorher nicht in ihrer Ganzheit erfahrene und damit neue Existenzform ab. Hirsch unterscheidet also sehr wohl zwischen Schöpfung und Erlösung (gegen Roth: Gott, 279). 307  S. u., 7.A.d, 295 ff.

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2.B  Die Näherbestimmung der Liebe Gottes durch ihre Unerbittlichkeit a)  Die existenzialdialektische Verknüpfung des christlichen und des allgemein‑menschlichen Gottesbildes Offenbarung zielt auf den Selbstvollzug des Glaubens, der als religiöse Selbsterkenntnis antinomisch strukturiert ist. Die Grundantinomie menschlichen sich selbst Vernehmens vor Gott bezeichnet Hirsch als die „Antinomie der Religion“, in der das Verhältnis zu Gott als dem „Herrn“ und dem „Geist“ beschrieben ist: „Daß Gott der Herr ist, ist der Ausdruck auf dem Boden der religiösen Antinomie dafür, daß er als der Allbedingende sowohl der Verborgene, der schlechthin unsrer Einsicht Entzogene ist, für dessen Fügen kein Gesetz, kein Warum aufgewiesen werden kann, als auch der Alleinwirkende, der sich und sein Fügen an jedem Endlichen und Bedingten und durch jedes Endlich-Bedingte vollzieht und so uns selbstherrlich im Kern unsers Seins bestimmt. […] Daß Gott Geist ist, ist der Ausdruck auf dem Boden der religiösen Antinomie dafür, daß er als der Allbedingende der ist, dem wir innerlich verwandt sind, den wir da kennen, wo wir bei uns selbst und wir selbst sind, in dem und aus dem wir zur Freiheit verantwortlichen Menschseins entbunden sind, der mit seinem unerbittlichen Fügen durch Zeichen an unsern Sinn und Geist sich wendet.“308

Mit dieser Definition der ‚Antinomie der Religion‘ markiert Hirsch die wesentlichen Linien seiner Theologie. Erkenntnistheoretisch können an die Begriffe ‚Herr‘ und ‚Geist‘ die Kategorien von Grenze und Grund angelegt werden. Religionsphänomenologisch können sie mit Rudolf Ottos tremendum und fascinans309 verglichen werden. Offenbarungstheologisch können sie auf die Begriffe von Gesetz und Evangelium bzw. fremdem Gott und offenbarem Gott gebracht werden. Hirsch selbst füllt sie mit den Gegensatzpaaren „Verschlossenheit und Erschlossenheit“, „zugleich fremd und vertraut“, „zugleich fern und nah“310. Der Grundgedanke der Gotteslehre, Gott als der Allbedingende, wird sowohl im Hinblick auf seine Verborgenheit als auch im Hinblick auf sein dem Menschen innerlich Offenbarsein durchbuchstabiert. Der allgemein-menschlichen Erkenntnis ist er als deren Grenze schlichtweg entzogen – sein Wille ist und bleibt rätselhaft – und doch bedingt er zugleich als deren Grund alle menschliche Erkenntnis. Als dem Weltzusammenhang gegenüberstehende Macht bestimmt er diesen. Die Bedingung dafür, dass ein persönliches Gottesverhältnis 308 

ChR I, 214. Otto, R.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 171991 [1917]. 310  ChR I, 218. 309 

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– angesichts des Wesens Gottes als des allbedingenden Herrn, angesichts seiner Verborgenheit und Rätselhaftigkeit – möglich ist, ist sein Geistsein. Mit diesem Ausdruck belegt Hirsch das personale Gottesbild, das freilich nur in der Spannung zu Gottes Entzogenheit gedacht werden kann – Gott ist nur uneigentlich Person. Die Verwandtschaft zwischen göttlichem und menschlichem Geist, die Hirsch hier beschreibt, ist nicht substantiell zu denken, sondern bringt die Nähe zwischen Gott und Mensch durch das innerliche Erschlossensein Gottes zum Ausdruck.311 Indem der Mensch sich als ein dem Anderen gegenüber Verantwortlicher erfährt, bricht am Ort der Selbsterkenntnis die Gotteserkenntnis auf. Zugleich führt die Gotteserkenntnis in die vollendete Selbsterkenntnis, dass der Mensch nur frei sein kann, wenn er seine Freiheit, die in Kreativität und Hingabe Gestalt gewinnt, in Gott gründet. Die wesentlichen Momente personhafter menschlicher Freiheit erlauben eine Näherbestimmung der (uneigentlichen) Personhaftigkeit Gottes. Hirsch macht deutlich, dass die personhaften Eigenschaften Gottes aus menschlichen Wesenseigenschaften abstrahiert werden. Auf Gottes Wesen bezogen sind diese Eigenschaften nicht durch Schicksal, Charakter, Selbstbehauptung und auf eine zeitliche Dauer begrenzt,312 sondern „Totalitätsbestimmung[en]“313. Damit ist der Begriff der Person zwar auf Gott anwendbar, aber allein in dem Bewusstsein seiner Entschränktheit. Der Gedanke absoluter Freiheit ist – von dem Charakter menschlich-endlicher Freiheitserfahrung her abgeleitet – schöpfungstheologisch durch die lebendige Einheit von Lieben und Schaffen qualifiziert. Beide Ausdrucksformen von Freiheit bestimmen sich gegenseitig: Die Liebe prägt das Schaffen in dem Sinne, dass es nicht nur Selbstdarstellung ist und darin allein auf die Beherrschung des Geschaffenen zielt, „kaltes Schaffen“314 ist. Sie verleiht dem Schaffen die Qualität, dass es selbstständiges Leben ermöglicht. Das Schaffen prägt die Liebe in dem Sinne, dass es ihr Vollmacht verleiht, dass sie nicht „dienende Liebe“315 ist. Gottes Schöpfersein kann nicht allein im Sinne des Allbedingenden gedacht werden, sondern muss durch die Liebe näherbestimmt werden. Gleichzeitig würde die göttliche Liebe unterbestimmt sein, wenn sie nicht damit verbunden wäre, dass Gott in seiner Liebe seine Vollmacht erweist. Indem Gott dem Menschen liebend-schöpferisch Anteil an seinem Wesen gibt, wird der Ursprung der endlichen Freiheit und die damit verbundene Kon­ 311 Vgl.

Böbel, F.: Allgemein menschliche und christliche Gotteserkenntnis bei Emanuel Hirsch, in: NZSTh 5 (1963), 296–335, hier: 302. 312  S. o., 47. 313  ChR I, 230. 314  Ebd.; i. O. herv. 315  Ebd.; i. O. herv.

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stitution der Person unmittelbar in Gott selbst gelegt. Der Gedanke der Liebe Gottes legt sich vom Selbstverständnis endlicher Freiheit her nahe: Der Mensch führt seine Erfahrung, bedingt zu sein, auf den Allbedingenden zurück, seine dazu in Spannung stehende Freiheitserfahrung kann nur plausibel sein, wenn Gott gleichzeitig der den Menschen selbstständig sein lassende Liebende ist. Gottes Liebe ist damit eine mit der menschlichen Selbsterkenntnis verbundene allgemeine Annahme.316 Diese hat im Bereich des humanen Wahrheitsbewusstseins allerdings die Form einer auf eine Evidenzerfahrung angewiesenen „Ahnung“317, eines „ungewisse[n] Vertrauen[s]“318. Hier ist nicht Gewissheit der Liebe Gottes, sondern Sehnsucht nach dem Erweis der Liebe Gottes im eigenen Leben. Den Zweifel am pro me der Liebe Gottes vermag dieses allgemeinmenschliche Gottvertrauen von sich aus nicht zu überwinden. Die Gewissheit der Liebe Gottes wird erst durch ihre Offenbarung im Leben des Einzelnen ermöglicht, nach der die Frage an dieser Grenze aufbricht. Die persönliche Gottesbeziehung nimmt insofern die allgemeine Erfahrung des Allbedingenden in sich auf, als der Mensch die Gegründetheit aller Dinge in Gott auf sich selbst bezieht und sich selbst als in Gott gegründet zu verstehen vermag: Er stellt sich in den rätselhaften Willen Gottes ein.319 Die persönliche Beziehung zum geisthaften Gott steht insofern zu Gottes Herrsein in Spannung, als das damit gesetzte partnerschaftliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch den Allbedingenden und den Endlichen auf eine Ebene stellt: Der Mensch wendet sich an Gott und tritt in einen inneren Dialog mit ihm, er ringt mit ihm.320 Diese Seite des Gottesverhältnisses schließt damit die Möglichkeit ein, dass der Mensch sich gegenüber Gott ablehnend oder zustimmend verhält.321 Die endliche Entscheidungsfreiheit gegenüber Gott ist in der Seite des Gottesgedankens begründet, ohne die ein positives Gottesverhältnis nicht möglich wäre. Gleichzeitig liegt hier die Möglichkeitsbedingung der Verneinung Gottes, des Schuldigwerdens an Gott, der Sünde. Gleichermaßen kann eine Überbetonung der passiven, dem Herrsein Gottes korrelierenden, Seite des Gottesverhältnisses insofern in das Schuldigwerden an Gott führen, indem dieser nicht als Gott der Liebe, sondern allein als herrischer, machtgieriger, den Menschen nicht in die Freiheit führender begriffen wird. Nur wenn beide Seiten des Gottesbildes zu316 

ChR II, 32. Hirsch bezeichnet (ebd.) das Wissen um Gottes Liebe als „Urwissen“, das freilich nicht von vornherein explizit gegeben ist. Bereits in der naturreligiösen Wahrnehmung Gottes als „letzte[r] Segensmacht“ schwingt dieses Wissen mit. 317  ChR II, 105. 318  ChR I, 262. 319  Hirsch nennt diese Seite des religiösen Selbstvollzugs Andacht (ChR I, §  55). 320  Hirsch nennt diese Seite des religiösen Selbstvollzugs Gebet (ebd.). 321  ChR I, 213 f.

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sammengehalten werden, können sie eine angemessene Aussage über das Wesen Gottes sein. Diese Möglichkeit ist, so Hirsch, allerdings unter den Bedingungen menschlich-geschichtlicher Erkenntnis nicht realisierbar, sondern allein mit dem Offenbarwerden der Liebe Gottes im Glauben gegeben.322 Der antinomischen Struktur des Gottesbildes entspricht die dialektische Bewegung des Glaubens zwischen zwei „stets erlebnismäßig kopräsent[en]“323 Momenten. Die dialektische Grundstruktur ist bei Hirsch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, der theologisch weitere solche Verhältnisse zuzuordnen sind. Der Sinn einer solchen Insverhältnissetzung ist der Aufweis, dass die jeweils negative Seite der material bestimmten Antinomie nicht einseitig negativ zu beschreiben ist, sondern ein Moment der Wahrheit an sich hat, das durch die jeweils positive Seite bestätigt wird, wobei das unwahre Moment überwunden wird. Indem dieser Vorgang im Evidenzerlebnis des Glaubens verortet wird, wird dadurch der vernunftmäßige Widerspruch beider Seiten nicht aufgehoben. Dieser bleibt auch für den Glaubenden in seinem zeitlich-endlichen Selbstverständnis bestehen, weswegen die dialektische Bewegung stetig neu vollzogen wird. Das Moment der Bestätigung und des Festhaltens an der Wahrheit der negativen Seite des Verhältnisses ist mit dem Hegel’schen Begriff der Aufhebung nicht abgedeckt.324 Aus dem Vorgang der Aufhebung geht bei Hirsch kein Drittes hervor. Während (nicht beide, sondern nur) eines der beiden Prinzipien zum Moment herabgesetzt wird, behauptet sich das andere als das Letztgültige: „Aufhebung ist die Herabsetzung eines Prinzips zum Moment eines anderen Prinzips. […] Der scheinbar unvermeidliche kontradiktorische Widerspruch jener beiden Prinzipien, von dem der Aufhebungsvorgang seinen Ausgang nahm, ist verwandelt in ein wechselseitiges Sich-Fordern zweier konträrer Bestimmungen auf der Gültigkeitsebene der Momente, und zugleich fungiert eine dieser beiden Bestimmungen auf der übergeordneten Gültigkeitsebene noch immer als letztgültiges Prinzip.“325

Daraus folgt im dialektischen Verhältnis von Gesetz und Evangelium für die Evangeliumsoffenbarung: Sie „ist nur dann ein Sich-Erschließen von Wahrheit, wenn sie zugleich die Aufdeckung der Unwahrheit und die Anerkennung von Wahrheit der Gesetzesoffenbarung impliziert“326. Als terminus technicus für die Bestätigung der Wahrheit der negativen Seite des dialektischen Verhältnis322 

ChR I, 220 f. Barth: Die Christologie, 386. 324  Wie Ulrich Barth herausgearbeitet hat, modifiziert Hirsch den H egel’schen Aufhebungsbegriff. Diese Modifikation ist m. E. mit dem Hirsch’schen Begriff der Vertiefung zu greifen. 325  Barth: Die Christologie., 622. 326  A. a. O., 624. 323 

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ses verwendet Hirsch den Begriff der Vertiefung.327 Das Moment der Aufdeckung und Bestätigung des Bestehenden ist als die Vertiefung, das Moment der Entgegensetzung einer anderen Bedeutung oder der Neubestimmung ist als Verwandlung zu verstehen. Beide Bewegungen zusammengebracht zielen auf die Vollendung. Hirsch nimmt innerhalb des Offenbarungsbegriffs eine Abstufung vor, die sich daran orientiert, ob und inwiefern die Selbst- und Gotteserkenntnis des Menschen vertieft oder neu bestimmt bzw. verwandelt wird, ob also die durch die Offenbarung bedingte Seinsweise des Menschen und dessen sie begründendes Gottesverhältnis in Kontinuität oder Diskontinuität zur vorherigen Seinsweise steht.328 In diesem Sinne ist auch das Verhältnis zwischen Gesetz und Evangelium zu verstehen, das Hirsch mit dem Verhältnis zwischen der Offenbarung im Bereich des humanen Wahrheitsbewusstseins und der spezifisch christlichen Offenbarung gleichsetzt. Hirsch benennt letztere als „letzte (entscheidende, vollkommene) Offenbarung“329, verzichtet aber auf eine entsprechende Negativbezeichnung, vermutlich, um einem überbieten wollenden Geltungsanspruch christlicher Offenbarung vorzubeugen.330 Die Erfahrung des Offenbarseins Gottes im menschlichen Leben endet in Aporien, auf die Hirsch in seiner Analyse des humanen Wahrheitsbewusstseins331 immer wieder hinausführt. Sie ruft die „Frage nach ganzer, vollkommner Offenbarung“332 wach.

327  Hirsch unterscheidet „zwischen das Gewissen vertiefender und es verwandelnder Offenbarung: die erste hellt mir das Gottesverhältnis auf, in dem ich schon bin, die andre gibt mir ein irgendwie gegensätzlich zu dem bisherigen bestimmtes Gottesverhältnis“ (ChR II, 10). Die zwei Weisen der Offenbarung spiegeln sich im Verhältnis von Gesetz und Evangelium wider: „Das Ziel der Gesetzesoffenbarung ist, den Menschen in sein Gewissen und das darin gegebne Gottesverhältnis zu vertiefen bis zur vollendeten Durchsichtigkeit seiner selbst vor Gott: und das ist ihre Wahrheit. Sie gelangt zu diesem Ziel, indem sie uns den unendlichen und uns nicht erfüllbaren Sinn des Lebens in geschichtlicher Gemeinschaft mit den andern, ihnen in Liebe gerecht zu werden, als unser wahres Sein in und vor Gott enthüllt […]“ (a. a. O., 16; Herv. A.‑M. K.). „[…] das Evangelium gibt die Freiheit vom Gesetz zugleich mit der Vertiefung in die vom Gesetz erwirkt werdende Durchsichtigkeit des Menschseins vor Gott […]“ (a. a. O., 36; Herv. A.‑M. K.). Das Gesetz vertieft hier die außerchristliche Selbsterkenntnis des Menschen nach ihrer wahren Seite hin, das Evangelium verwandelt den Menschen so, dass es diese Wahrheit bestätigt und dass es freiheitlichen Selbstvollzug ermöglicht. 328  ChR I, 203; ChR II, 10.13; LS 1, 14. 329  ChR II, 9; Herv. A.‑M. K. 330  Vgl. Hirschs Ausführungen zum Absolutheitsanspruch des Christentums ChR II, 14 f. 331  ChR I, Zweiter Kreis. Das Selbstverständnis des abendländischen Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit (Dogmatik I), §§  43–71. 332  ChR I, 9.

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Die Bewegung der Vertiefung bedeutet hier, dass das allgemein-menschliche Wahrheitsbewusstsein seiner selbst als vor Gott stehend und durch ihn bedingt bewusst wird – mit Hirsch: dass es auf die Ewigkeit bezogen ist, dass wahres Menschsein sich vor Gott vollzieht. Die religiöse Tiefendimension des humanen Wahrheitsbewusstseins, das sich selbst als bedingt und begrenzt erfährt, ist als Schöpferglaube zu bezeichnen, der eine Ahnung in sich birgt, dass Gott Liebe ist. Indem die Güte des Schöpfers – die Frage, ob er wirklich das Leben seines Geschöpfes will – allerdings unter humanen Bedingungen zweifelhaft und die Gotteserkenntnis aporetisch bleibt, drückt sich in dieser Ahnung gleichzeitig die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen – die sich nach einer Beantwortung der Frage, nach Gewissheit der Liebe Gottes, sehnt – aus. Die Bewegung von der Ahnung der Liebe Gottes hin zur Gewissheit der Liebe Gottes – von der Ewigkeitsbezogenheit zur Ewigkeitsgewissheit, vom Menschsein zum wahren Menschsein –, mit der das christliche Gottesverhältnis ausgebildet wird, muss mit Hirsch als verwandelnde verstanden werden, die gleichwohl an eine allgemeinmenschliche Ahnung anknüpft. Vertiefung ist als die Ausbildung eines expliziten Gottesverhältnisses zu verstehen, das auf seine Verwandlung in das spezifisch christliche Gottesverhältnis angelegt ist. Damit lässt die Hirsch’sche Definition des Glaubens als „Vollendung im Menschsein“333 den christlichen Glauben an das allgemeine religiöse Selbstverhältnis anknüpfen.

b) Das „Gesetz des Lebens“ und die Offenbarung der Liebe Gottes Die Gesetzesoffenbarung ist mit Hirsch weder auf den Begriff eines empirisch fassbaren Gesetzes zu bringen noch auf das Naturrecht zu verengen, sondern umfassende „Wirklichkeitsmacht“334, die das Individuum „nicht primär im Gewissen bestimmt, sondern die Gesamtheit aller Daseinsvollzüge fundiert“335. Das „Gesetz des Lebens“, das Hirsch aufgrund seiner Unterscheidung zwischen 333 

ChR I, 63. ChR I, 19 Vgl. dazu Ulrich Barths Kategorisierung des Gesetzesbegriffs bei Hirsch: „Das Gesetz ist für Hirsch vielmehr der ethisch-religiös reflektierte Umgang mit Wirklichkeit überhaupt. Vermöge des Gesetzes wird die Lebenswirklichkeit als ganze in die Perspektive des Gottesverhältnisses gerückt. Das Insgesamt der Normen, Rollen und Verhaltensmuster, die zur Regulierung des menschlichen Zusammenlebens erforderlich sind, kann als lex simplex bezeichnet werden. Deren Unbedingtheitsdimension, das alles endliche Sollen konstituierende unbedingte Sollen, bildet gewissermaßen die lex in lege. Gesetzesoffenbarung ist die ethisch-religiöse Reflexion auf den Unbedingtheitssinn des Gesetzes des Daseins.“ (Barth: Die Christologie, 596). 335  Lasogga: Menschwerdung, 104. 334 

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dem ewigen Leben und dem endlichen Leben auch als „Gesetz des Daseins“336 bezeichnet337, schließt sowohl die kreatürliche Gesetzlichkeit der Selbstbehauptung und Sterblichkeit als auch die ethische Dimension des gewissenhaften menschlichen Selbstvollzugs ein. Diesen umfassenden Gesetzesbegriff verdeutlicht Hirsch, indem er drei Erscheinungsweisen des Gesetzes beschreibt: Das „Gesetz des Schicksals, das Gesetz der Vernunft und das Gesetz des Herzens“338. Die Erfahrung der schicksalhaften Kontingenz des Lebens, deren der Mensch besonders an Geburt und Tod ansichtig wird, führt die Gebundenheit des Einzelnen vor Augen;339 wird 336  ChR II, 19. Eine Absolutsetzung der Form, in der sich das Gesetz des Daseins äußert, z. B. in Form des nationalsozialistischen Staates, ist m. E. in diesem Begriff nicht zwingend angelegt. Allerdings geht bei Hirsch, indem er die in der sozialen Interaktion aufbrechende Heiligkeit menschlichen Lebens auf den Volksbegriff verengt, die Tendenz dahin, dass die Volksgemeinschaft als göttlich verfügtes Schicksal, dem der Mensch sich hingeben muss, absolut gesetzt wird. Seiner radikalen Unterscheidung zwischen irdischer Bedingtheit und göttlichem Geheimnis entspricht das allerdings nicht. Ebenfalls ist ethisch die Objektivierung der Heiligkeit des Volkes nicht unmittelbar aus Hirschs schöpfungstheologischer Grundlegung abzuleiten, die eigentlich erstens auf Formen der Gemeinschaft im Allgemeinen zielt (vgl. Lobe: Die Prinzipien, 185–188) und zweitens deutlich macht, dass Heiligkeit eben keine objektivierbare Größe ist, sondern im Gewissen der Einzelnen verortet ist und sich als Gewissenserfahrung an sozialen Zusammenhängen entzündet und als deren Tiefendimension aufscheint. Martin Zerrath macht darauf aufmerksam, dass die starke Hervorhebung des Volksgedankens als unantastbare Grundlage menschlicher Gemeinschaft und die damit verbundene Option für den Nationalsozialismus bei Hirsch auf die von ihm mitgeführte Ambiguität des Autonomiegedankens zurückzuführen sind. Neuzeitliche Autonomie sei zwar genau das Moment, was den Menschen zusammen mit dem Zweifel als freiheitlichen bestimme, andererseits sei sie immer in Gefahr in ethischen Nihilismus und sich auf erworbenem Wissen ausruhende, wahrheitsfeindliche Skepsis umzuschlagen. Um dieser Gefahr vorzubeugen ziehe Hirsch die Möglichkeit der Selbstbindung der Vernunft unter unantastbare Prinzipien in Betracht, die für ihn in der Volksgemeinschaft verwirklicht sind, welche durch den totalen Staat zur Darstellung gebracht wird (Zerrath: Vollendung, 177–181). Diese Notwendigkeit liegt Matthias Lobe zufolge in der defizitären Bestimmung des Gewissensbegriffs: Das subjektive Gewissen gehe bei Hirsch in seiner Äußerungsform direkt in die so­ ziale Sphäre des Volkes über und habe keine dazwischen geschaltete Reflexionsinstanz in Form von allgemeinen, unaufgebbaren Maximen (Lobe: Die Prinzipien, 179). Mareile Lasogga weist darauf hin, dass es Hirsch mit der ethischen Vorschaltung des Volkes vor die autonome Subjektivität nicht gelingt, seine eigenen wahrheitstheoretischen Prinzipien „sozialphilosophisch fruchtbar zu machen in der Begründung einer dezidiert pluralismusfähigen Subjektivität“ (Lasogga: Menschwerdung, 315). 337  ChR I, 275. 338  Zw, 194. 339  Mindestens hier ist entgegen der Kritik Heinrich Assels an Hirsch vom „Widerfahrnischarakter des Gesetzes“ (Assel, H.: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance. Ursprünge, Aporien und Wege. Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994, 481) zu sprechen.

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sie als das letzte Wort über das menschliche Leben erfahren, so droht dieses der Sinnlosigkeit anheimzufallen. Die Vernunft ist für das menschliche Sich-Selbst-Verstehen notwendig, sie zwingt ihn zum „Durchdenken [s]einer Lage“340. Gleichzeitig zu ihrer entbindenden Funktion begrenzt sie den Menschen, indem sie ihm Regeln vorgibt. Sie ist selbst als endliche Vernunft in ihrer Erkenntnisfähigkeit begrenzt. Sie kann zweifach zum Gesetz werden, das den Menschen bis ins Letzte bestimmt: Auf der einen Seite hat der Mensch die Tendenz, die durch die Vernunft aufgestellten Regeln in Form starrer Ordnungen zu verabsolutieren; auf der anderen Seite versucht er die Begrenzung seiner Erkenntnisfähigkeit zu überspringen und will sich allein aus seiner endlichen Vernunft heraus verstehen. Indem das Herz als Kern des Menschen versucht, sich gegen Vernunft- und Schicksalsmacht selbst zu behaupten, „angstvoll und verkrampft auf sich selbst und seine Würde hält“341, richtet es sich sein eigenes Gesetz auf. Hirsch sieht dieses im verkrampften Entwerfen und Planen der eigenen Biographie.342 Die moderne Spielart der gesetzhaften Selbsterfahrung lässt sich mit Hirsch zusammenfassen als „Starrheit, Zweifel, Gottesresignation“343. Das Gesetz des Daseins wird in der Coram-Deo-Dimension religiös gedeutet als Gesetzesoffenbarung, als unbedingtes, göttliches Soll.344 Dem korrespondiert das Gottesbild des Heiligen. Indem Gott als derjenige erkannt wird, der zur Pflicht ruft, wird das Ethos als Gesetzesoffenbarung religiös gedeutet. Dass der Mensch Person ist, geht ihm durch Ehre und Pflicht gegenüber der Gemeinschaft am intersubjektiven Selbstvollzug auf: Er versteht sich selbst von seiner ewigen Dimension her, indem er sein Handeln in Gott gründet.345 Diese Selbsterkenntnis ist mit Hirsch als Seite des gesetzhaften Selbstverständnisses zu bezeichnen, die auf das Evangelium verweist. Ehre und Pflicht werden dem Menschen zugleich zum unerbittlichen, weil schier unerfüllbaren Gesetz. An der sozialen Realität geht dem Menschen „die Unendlichkeit des Gefordertseins zur Liebe gegeneinander und die Unwiderruflichkeit des einander nicht Genügens und einander zum schicksalhaften Gesetz Werdens“346 auf. Mit dem Bewusstsein, in der Ewigkeit gegründet zu sein, geht zugleich das Bewusstsein einher, 340 

Zw, 194. Zw, 196 f. 342  Zw, 197 f. 343  ChR II, 20. 344  Dadurch verbindet Hirsch den ersten und den zweiten Gebrauch des Gesetzes miteinander, wobei der erste die „unmittelbare Wirklichkeitsbezogenheit“ des zweiten sichert und der zweite „dem ersten seine aporetische Grundstruktur“ mitteilt (Barth: Die Christologie, 597). 345  S. o., 1.B.b, 51 ff. 346  ChR II, 88. 341 

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„in Sündigkeit sich zur Heiligkeit zu verhalten“347. Dieses wird mit dem expliziten Gottesbezug zum Schuldbewusstsein, mit dem der Mensch ohne „eine andere Möglichkeit des Menschseins“348 ein sich selbst bzw. der Wahrheit über sich entsprechendes Leben nicht führen kann. Durch den Begriff des Evangeliums wird das Spezifikum christlicher Offenbarung inhaltlich und formal bestimmt. Er setzt sich aus drei miteinander zusammenhängenden Definitionselementen – Vaterliebe Gottes, Sohnschaft Jesu, Reich Gottes – zusammen: „Der Gehalt der Evangeliumsoffenbarung ist gewiß gedanklich dahin ausdrückbar, daß Gott die grundlose Liebe ist, die mir das mit sich selber Gesetz, Sünde und Tod überwindende Leben ist. Als dieser bloße Gedanke, als Idee, aber wäre sie nicht die das gesetzesumfangne, der Schuld und dem Zorn verfallne Gewissen verwandelnde Gottestat, darin ich Gott wirklich empfange […] Nur indem sich uns eine menschlich-geschichtliche Wirklichkeit aufschließt, die unter dem Gesetze stehend von ihm frei ist als Leben in der das Gesetz seiner Gottesmacht über den Menschen entsetzenden Liebe Gottes, spricht Gott zu uns als Evangelium, das die Gewissen verwandelt.“349 „a) Sie [die Evangeliumsoffenbarung, A.‑M. K.] hat den einfachen Inhalt, daß Gott der Vater ist, der uns in sich umsonst hinschenkender Liebe an seinem Leben und seiner Wahrheit Teil haben läßt, und dies, im Kontrast zur Selbsterkenntnis, die bestätigt wird, und im Gegensatz zum Teufelskreis, der durchbrochen wird, ist das Ganze. b) Sie ist verknüpft mit der Begegnung mit Jesus.“350 Evangelium ist da „wo Gott als der Verborgene der Vater, das Reich als das ewige, unenthüllte das Leben, Jesus als der, der ganz anders Mensch ist als wir, der Sohn ist“351.

Der zentrale Inhalt des Evangeliums ist die Vaterliebe Gottes, die die Teilhabe am ewigen Leben – am verborgenen Reich Gottes – und Erkenntnis der Wahrheit vermittelt. Die so konstituierte Gemeinschaft des Menschen mit Gott steht im Kontrast zur menschlichen Selbstwahrnehmung als getrennt von Gott, hebt aber diese Unterschiedenheit von Gott nicht auf. Indem diese Vaterliebe nicht an den Verdienst des Menschen geknüpft ist, sondern sich „umsonst hinschenk[t]“, durchbricht sie den Teufelskreis der durch die Selbstwahrnehmung als getrennt von Gott hervorgerufenen gesetzhaften Versuche, sich Gottes Liebe zu sichern. Erst durch die Begegnung mit dem Menschen Jesus kommt das pro me der Offenbarung zustande, ohne das die Liebe Gottes als allgemeinmenschliche Idee

347 

ChR I, 304. ChR I, 308. 349  ChR II, 17. 350  ChR II, 21. 351  ChR I, 68. 348 

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leerer Begriff bliebe und nicht die Kraft hätte, die Gottes- und Selbsterkenntnis in ihre Wahrheit zu überführen, existenzbestimmend zu sein.352 Damit wird das Evangelium seinem Inhalt nach weiter differenziert: Die Liebe Gottes, die gesetzhaft als unter ihrem Gegenteil verborgen erfahren wird – bzw. ein reiner Gedanke ist, der sich nicht in der existenziellen Lebenswirklichkeit abbildet –, wird im persönlichen Glaubensbezug zur mir bestimmten Liebe, die ich in meinem eigenen Leben erfahre. Als Vaterliebe setzt sie den Menschen in eine persönliche Beziehung zu Gott. Damit tritt die Sohnschaft Jesu, der „ganz anders […] als wir“ diese Möglichkeit des Gottesverhältnisses in vollendeter Weise aufzeigt, als weiteres inhaltliches Element neben die das ewige Leben aufschließende Liebe Gottes. Existenzbestimmung durch das Evangelium heißt von dorther Gotteskindschaft. Das ‚Kindsein‘ nimmt Hirsch wörtlich und verbindet es mit der kindlichen Wehrlosigkeit gegenüber Gottes Willen und dem alles verlangenden, „aber auf nichts bestehende[n]“ Wesen des Kindes, das unbeirrt auf ein Leben bei Gott hofft.353 Gotteskindschaft bedeutet damit das Freisein vom gesetzhaften Sichernwollen der Liebe Gottes, das durch das unbedingte kindliche Vertrauen auf Gottes Liebe ermöglicht wird, und die Freiheit für das menschlich-geschichtliche Leben, die daraus entspringt, dass sich der Mensch in Gott gegründet weiß, dass er nicht von endlichen Maßstäben letztgültig abhängig ist und bestimmt werden kann. Evangeliumsgemäßheit kann einer menschlichen Rede von Gott dementsprechend zugeschrieben werden, insofern sie „heilsam“354 für das Leben vor Gott und Mensch ist. Daran, dass das Gesetz allein in der individuellen Lebensgeschichte überwunden werden kann, zeigt sich die formale Seite des Evangeliums, seine notwendige menschlich-geschichtliche Vermittlung. Diese ist aus seinem ihm wesentlichen Gegensatz zum Gesetz begründet, ohne den es nicht als kontrafaktische Überwindung zu erfahren und zu begreifen ist.355 Daran, dass dieser 352 Mareile

Lasogga kritisiert in diesem Sinne zurecht die Aussagen bei Böbel: Menschliche und christliche Wahrheit, 171 und Herms: Emanuel Hirsch 2, 44: Die von beiden „monierte mangelnde Faszination bzw. Reizlosigkeit einer sog. ‚homogenen‘ Offenbarung, die der humanen Gottes- und Selbsterkenntnis keine informativen Einsichten präsentiert, verkennt die Letztbegründungsfunktion des Evangeliums für die Konstitution ethisch-religiöser Subjektivität in den Antagonismen von Selbstverlust und Selbstgewinn individueller Freiheit, die Hirsch mit der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium verbindet.“ (Lasogga: Menschwerdung, 328, Anm.  616.) 353  ChR II, 76 f. 354  Diesen treffenden Begriff verwendet Notger Slenczka zur Bezeichnung des Maßstabs einer existenzialen Christologie für den Umgang mit der christlichen Tradition (Slenczka, N.: Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins, in: Schröter, J. (Hg.): Jesus Christus, Tübingen, Tübingen 2014, 181–232). 355 Vgl. Ohst: Antithetische Vertiefung, 214 f.

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Gegensatz im menschlich-geschichtlichen Leben bestehen bleibt, wird deutlich, dass das Evangelium in seinem Vermittlungszusammenhang nicht vollends aufgeht, durch ihn also nicht vollkommen abgebildet werden kann und der allgemein-menschlichen Erkenntnis entzogen bleibt.

c) Der zornige Gott: Gottes Verborgenheit unter dem Gesetz Das Evangelium ist Hirsch zufolge auf das Gesetz insofern dialektisch bezogen, als es die Wahrheit der Gesetzesoffenbarung bestätigt und deren Unwahrheit negiert. Die mit der Gesetzesoffenbarung vertiefte und zu bestätigende Wahrheit ist die Selbsterkenntnis, dass der Mensch unter der Wirkmacht des Gesetzes von Gott getrennt ist. Damit geht die Selbsterkenntnis vor dem Forum der Sozialität einher – bzw. geht der explizit gottbezogenen Selbsterkenntnis mitunter voraus –, dass es der „nicht erfüllbare Sinn des Lebens“ ist, den andern „in Liebe gerecht zu werden“356 – der Getrenntheit von Gott ist die Unerfüllbarkeit vollendeter menschlicher Gemeinschaft zur Seite gestellt. Diese Selbsterkenntnis birgt die Gefahr, dass aus ihr ein unwahres, unangemessenes Verständnis des Menschen abgeleitet wird. Der Mensch denkt, er sei so von Gott getrennt, dass Gott nicht der Grund seiner selbst sein kann. Er zieht die Konsequenz, dass er sich allein aus sich selbst heraus verstehen und in sich selbst gründen muss.357 Die Heiligkeit Gottes, das mit der Gesetzesoffenbarung vermittelte wahre Gottesbild, führt aber gerade darauf hinaus, dass der Mensch sich nicht selbst heilig machen kann, dass echte menschliche Freiheit sich in Gott gegründet weiß. Die Heiligkeit Gottes ist falsch verstanden, wenn sie darauf reduziert wird, allein fordernd zu sein, und der Mensch angesichts dieser unerfüllbaren Forderung eine selbstvernichtende Haltung annimmt. Indem der heilige Gott den Menschen in die Pflicht nimmt, führt er ihm gleichzeitig seine Bestimmung zum freiheitlichen, personhaften Selbstvollzug vor Augen. Das unwahre Gottesbild eines allein zornigen Gottes wird durch die existenzbestimmende Erkenntnis, dass Gott wesentlich Liebe ist, negiert. Das mit der Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung verbundene, spannungsreiche Gottesbild ist das des zugleich liebenden und zornigen Gottes, das bereits für die allgemein-menschliche Religiosität in Form der Theodizeefrage aufbricht. Man muss Gott als Liebe denken, die zum Personsein bestimmt, gleichzeitig erfährt man ihn unter den Bedingungen des schicksalhaft bestimmten 356 

ChR II, 16. Insofern muss das Christliche dem Menschlichen nicht nur im Blick auf sein unwahres Gottesverhältnis, sondern auch im Blick auf sein unwahres Menschenbild widersprechen (gegen Böbel: Gotteserkenntnis, 313). 357 

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Lebens als „Zornesmacht“358. Soll das menschliche Sein als in Gott gegründet und als selbstständig gedacht werden, so gehört die Wesensbestimmung Gottes als Liebe zum Gottesbild notwendig hinzu. Ist diese Liebe zweifelhaft, so ist auch der menschlichen Existenz vor Gott der Boden entzogen. Indem Gott notwendig Ursprung allen Lebens – auch des Bösen – ist, „hat er zugleich die Zornesmacht in sich“359. Ohne die Offenbarung der gnadenhaften Vaterliebe Gottes im Evangelium ist das Wissen um die Liebe Gottes ein bloßes Ahnen, eine Idee, die nicht die Kraft hat, den eigenen Lebensvollzug so zu bestimmen, dass die Spannung zwischen Liebe und Zorn Gottes ausgehalten werden kann. Unter allgemein-menschlichen Bedingungen gerät die Ahnung von der Liebe Gottes in einen Zwiespalt: Indem sie eudaimonistisch an die Erfahrung von Glück gekoppelt wird, ziehen schicksalhafte Negativerfahrungen im Leben die Liebe Gottes in Zweifel und werfen die Frage nach seiner Gerechtigkeit auf. Angesichts seiner Allmacht müsste er anders handeln, wäre er wirklich ein liebender Gott. Die Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit wird vor dem Hintergrund von Gottes Allmacht als willkürlich strafender Zorn Gottes gedeutet, der auch anders handeln könnte – er kann kein liebender Gott sein. Allein eine Vorstellung von Gottes Liebe, die sich nicht am äußeren Wohlergehen des Menschen messen lässt und die sich mit Gottes Allmacht verbinden lässt, vermag es, die Spannung zwischen dem Zorn und der Liebe Gottes zu überbrücken. Alle denkerischen Versuche der Vermittlung zwischen Allmacht und Liebe müssen allerdings, so Hirsch, an den Bezeichnungen Gottes als „Schicksal“ und „Geheimnis“ ihr Ende finden.360 Allein mit der Evangeliumsoffenbarung lassen sich die Bilder vom zornigen und liebenden Gott angemessen verbinden. Hirsch bedient sich der Luther’schen Figur von opus alienum und opus proprium Dei, das der Schlüssel zu einer angemessenen Deutung der Erfahrung des Zornes Gottes ist.361 Die falsche Interpretation der Erfahrung des Zornes Gottes setzt diesen mit göttlicher Vergeltung gleich und bleibt ohne den Glauben an die im Evangelium offenbarte Liebe Gottes im Kreislauf des Gesetzes gefangen.362 358 

ChR I, 239; i. O. herv.

359 Ebd. 360 

Ebd.; i. O. herv. „Das kann man nur ausdrücken durch die Aussage, daß dem Glauben die als Zorn erfahrene Bannung des Lebens unter Gesetz, Tod und Sünde Gottes fremdes Werk sind [sic; A.‑M. K.], durch das hindurch Gott liebend hingeht zu seinem eignen Werke, der Ursprung von frei als schaffende Liebe sich vollziehendem personhaftem Leben zu sein, in welchem Gesetz, Tod und Sünde überwunden sind.“ (ChR I, 234.) 362  Das Bild von Gottes Zorn ist nicht an sich ein „falsches Verständnis Gottes“ (gegen Roth: Gott, 280), sondern nur, indem es mit der Vergeltung gleichgesetzt wird oder absolut gesetzt wird. Falsch sind mit Hirsch die Aussagen: Gott ist „nichts als unheimliche Heischeund Zornesmacht“ (ChR II, 16; Herv. A.‑M. K.), er ist „Zornes- und Verderbensmacht nach 361 

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Aus dem christlichen Glauben heraus sind Zorn und Liebe Gottes mit Hirsch zur antinomischen Einheit zu bringen. Zorn bedeutet im Hirsch’schen Sinne nicht Vergeltung, sondern ist das Bild für die Verborgenheit Gottes, die der Mensch notwendig in seinem endlich-irdisch bedingten Verhältnis zu Gott erfährt.363 Das „Rätsel“, warum der liebende Gott zugleich als der zornige erfahren wird – das „uns den Glauben an Gottes Liebe verdunkelt oder verschlingt“364 –, wird im christlichen Glauben nicht aufgelöst, sondern ‚durchlebt‘.365 Der Glaube ist in der Lage, Gott als „Liebe im Zorn“366 zu erkennen, den Zorn rückblickend als „heimliche Güte“367 zu deuten. Gott ist nicht nur verborgen, sondern der „pater absconditus“368. Er spricht sowohl das heilige Nein gegen den sündigen seinem wahren letzten Wesen“ (a. a. O., 20; Herv. A.‑M. K.) – Michael Roth übersieht leider in seiner Interpretation die hervorgehobenen Wendungen. 363 Friedrich Böbel fasst die Hirsch’sche Umformung der Zornesmetapher folgendermaßen zusammen: „Hier ist Rätsel statt Strafe, dunkles Schicksal statt Gericht, antinomische Dunkelheit statt Vergeltung. Damit ist der Zorn Gottes indirekt und mittelbar geworden, zum andern hat er seinen eminent aktiven, willentlichen Charakter verloren, wodurch er ein positives Tun war, indem Hirsch ihn als Mangel an Liebe, als deren Abwesenheit faßt. Aus einem positiven, selbsttätiges Sein aussagenden Begriff wurde ein defektiver. Schließlich tritt an Stelle der personalen Kategorie, häufig mit forensischer Einfärbung, die impersonalistische Schicksalserfahrung als der Erfahrungsgrund des Zornes Gottes.“ (Böbel: Menschliche und christliche Wahrheit, 102). Rätsel, Schicksal, Antinomie sind zweifelsohne mit dem Zornesbild in Verbindung zu bringen. Dass die Zorneserfahrung Gott eine ‚defektive‘ und passive Haltung zuschreibt, ist mit Hirsch zu bezweifeln, vor allem, wenn er den Zorn als das züchtigende Element der Liebe begreift. Sicher ist das Bild des zornigen Gottes bei Hirsch von dominanten anthropomorphen Zügen befreit, dennoch ist es – weil Gott auch in seinem Zorn spricht (nämlich: ‚Nein!‘) – wohl nicht als ‚impersonalistisch‘ zu interpretieren. Impersonalistisch ist die allgemeine Erfahrung des Schicksals, die noch nicht im Horizont religiöser Unbedingtheit gedeutet wird. Den Zorn als ‚Mangel an Liebe‘ zu definieren, trifft Hirschs Gedanken auf jeden Fall nicht. Er ist Verborgenheit der Liebe, „heimliche Güte“. Böbel interpretiert m. E. unzutreffenderweise Zorn und Liebe bei Hirsch als einander ausschließende Gotteserfahrungen (vgl. Anm.  365). Dagegen sind bei Hirsch Zorn und Liebe nur in ihrer Spannungseinheit erfahrbar. 364  ChR I, 235. 365  ChR I, 234. Dementsprechend kann nicht von einem „Austausch der Gottesbilder“ (gegen Böbel: Gotteserkenntnis, 314) in der Erlösungserfahrung gesprochen werden. Auch Gottes Liebe und Zorn müssen im Hirsch’schen Sinne dialektisch gedacht werden, so dass beide Momente im Prinzip der Liebe als antinomische Spannungseinheit erhalten bleiben. Deswegen kann auch keine Rede davon sein, dass Hirsch die „Realdialektik von Gesetz und Evangelium ein[ ]ebnet“ und sie „durch einen Monismus“ überwindet (gegen Roth: Gott, 281). 366  ChR I, 240. 367  ChR II, 36. 368  Mit dieser Begriffsbildung bezeichnet Dietz Lange treffend die antinomische Figur Hirschs (Lange: Der Begriff, 202): Gott ist zwar auch für den Glauben der Verborgene, der

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Menschen, als auch das gnadenhafte Ja zu seinem Geschöpf.369 Indem der Mensch selbst immer zugleich Sünder und Geschöpf ist370, ist Gott immer zugleich Zorn und Liebe. Auch auf der Ebene allgemein-menschlicher Religiosität muss an der Verbindung von Liebe und Zorn Gottes mit Hirsch festgehalten werden. Hirsch bezeichnet das Gefühl, das diese Erfahrung begleitet, als „Einheit von Schuldgefühl und Vertrauen“371. Würde diese Einheit nicht bestehen, würde der Mensch mit dem Schuldgefühl aus seiner Gottesbeziehung herausfallen. Das würde dazu führen, dass die Bewegung des Gottesverhältnisses auf seine vollendete Form hin vom Menschen zum Stillstand gebracht würde. Explizit würde es in dem Fall in „reinen Gotteshaß umschlagen“372 oder in der rationalen Ablehnung des Gottesbildes als Wahnvorstellung resultieren.373 Aufseiten des menschlichen Selbstverhältnisses bewahrt die Doppelheit von Schuldgefühl und Vertrauen den Menschen vor der absoluten, perspektivlosen Verzweiflung, der Selbstzersetzung, die durch das Gefühl des Ausgeliefertseins an das Gesetz des Daseins ausgelöst wird.374 Insofern ist die Verborgenheit des Evangeliums unter dem Gesetz nicht nur der religiöse Anknüpfungspunkt für die Evangeliumsoffenbarung, sondern sie ist auch für das Bestehen der menschlichen Existenz außerhalb ihrer Bestimmung durch das Evangelium notwendig. Hirsch sieht die Widerspruchseinheit von Liebe und Zorn auf der Ebene menschlicher Erfahrung angelegt; sie kann auf diese Weise denkerisch nachvollzogen werden. Liebe und Zorn können phänomenal zusammengebracht werden, indem die „Liebe ein Moment der Härte und Zucht in sich trägt“375. Dieses verortet Hirsch sowohl auf der Seite des Liebenden – in der Erziehung – als auch auf der Seite des Geliebten, dessen Negativerfahrungen unter Umständen neue Lebensmöglichkeiten entbinden.376 In Hirschs Terminologie ist die göttliche Liebe, die die Einheit von Liebe und Zorn überspannt, durch ihre schlechthin Fremde, Entzogene. Er ist dies aber als der Vater, der seinem Geschöpf nahe sein will. 369  Vgl. ChR II, §77. 370  S. u., 2.C.b., 109 ff. 371  ChR I, §61. 372  ChR I, 259. 373  ChR I, 262. Hirsch gibt damit eine religionstheoretische Begründung der von der Psychologie als neurotisch bewerteten Gottesbilder. Die These, dass das religiöse Schuldbewusstsein notwendig zu einer neurotischen Gestalt des Gottesverhältnisses führen muss, räumt er allerdings mit seinem Gedanken der Doppelheit von Schuldgefühl und Vertrauen aus. 374  ChR I, 259.262 375  ChR I, 239. 376 Ebd.

2  Die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie

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„Unerbittlichkeit“377, die auf eine Entscheidung für oder gegen Gott drängt, gekennzeichnet. Der Gedanke der unerbittlichen Liebe Gottes liegt in der reflexiven Verbindung von göttlicher Liebe und göttlicher Allmacht378 und in der Erfahrung seiner Vaterliebe im Medium seiner Heiligkeit begründet.379

2.C  Die Gewissheit der Liebe Gottes im Glauben Der doppelten Offenbarungsgestalt von Gesetz und Evangelium korrespondiert der menschliche Selbstvollzug in Unglaube und Glaube. Die Alternative Glaube – Nichtglaube ist Hirsch zufolge als Deutungsmuster für den menschlichen Selbstvollzug vor Gott nicht zutreffend. Zum einen würde der Glaube in diesem Sinne als Existenzüberhöhung und nicht als Existenz(neu)bestimmung gedacht und als vom Menschen zuerst unabhängiges zum Menschsein hinzutreten. Zum anderen kann, so Hirsch, ein neutrales Verhältnis des Menschen zur Wahrheit nicht gedacht werden: Es gibt nur ein klares Ja oder ein klares Nein, das aus Glauben oder Unglauben heraus gesprochen wird.380 Glaube und Unglaube sind für Hirsch somit anthropologische Grundbestimmungen. Indem jeder Mensch sich in ein Verhältnis zur Wahrheit setzt bzw. in ein solches gesetzt ist, ist er „vom Anfang der Welt an stets zugleich Glaube und Unglaube“381. „[J]eder Mensch steht jeden Augenblick vor dem Entweder/Oder, daß entweder der Glaube oder der Unglaube in ihm Herrschaft hat“382 – je nachdem, ob die Gottes- und Selbsterkenntnis wahr oder unwahr ist.

377 

Z. B. WrCh, 184; HchR, 303. ‚Unerbittlich‘ ist hier wohl am besten im Sinne von ‚schonungslos‘ oder ‚unnachgiebig‘ zu verstehen, gleichzeitig schwingt aber die Bedeutung ‚gnadenlos‘ oder ‚erbarmungslos‘ mit – die Antinomie wird von Hirsch gleichsam in einem Oxymoron zusammengebracht. 378  S. o., 92. 379  Vgl. Hirschs Luther-Interpretation im Blick auf das Bild vom zornigen Gott: „Sein [Gottes, A.‑M. K.] Zorn ist nichts als die Heiligkeit seiner Barmherzigkeit.“ (LS 1, 15.) 380  ChR II, 69. Die religiös neutrale Haltung, mit der Michael Roth das humane Wahrheitsbewusstsein im Hirsch’schen Sinne ausgestattet sieht (Roth: Gott, 274–276), kann es somit nicht geben. Roth verkennt in seinem Bestreben, das allgemeine Wahrheitsbewusstsein per se mit „Götzendienst und Gottlosigkeit“ (a. a. O., 275) zu identifizieren und in einen ausschließenden Gegensatz der christlichen Gewissheit gegenüberzustellen, dass die Hirsch’sche Konzeption ihre Stärke darin hat, dass sie auch Unglaube und Glaube in eine dialektische Beziehung zueinander setzt. Unglaube kann für ihn dabei sehr wohl, nämlich im Extremfall (s. u., 6.C, 245 ff.), „faktischer Widerspruch zu Gott“ (gegen Roth: Gott, 274) sein. 381  ChR II, 70. 382 Ebd.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

a)  Die unerfüllbare zwischenmenschliche Liebe und der Zweifel an der Liebe Gottes: Die Umformung der Sündenlehre Der Unglaube ist bei Hirsch als allgemeiner Begriff zu verstehen, der eine Aussage über die menschliche Wahrheitsbezogenheit macht. Der Gedanke der Sündigkeit des Menschen verweist auf die existenzielle Dimension des Unglaubens, sofern sich der Mensch vor Gott weiß. Erst aus der Spannung zwischen Unglaube und Glaube heraus wird das Schuldbewusstsein im Menschen erzeugt: Erst wenn die Perspektive des Glaubens offengelegt ist, kann der Mensch sich dem Gott gegenüber wissen, demgegenüber er sich schuldig fühlt. Durch die Verlagerung der Polarität von Faktizität und Bestimmung auf eine Seite – Hirsch nennt die Alternativen „absolut[e] Resignation“ und „absolut[er] Entschluss“383 – entsteht der Selbstwiderspruch, den Hirsch als die Erfahrung, „in Sündigkeit sich zur Heiligkeit zu verhalten“384, identifiziert und als vorerst unreflektiertes Schuldgefühl benennt. Dieses wird mit dem expliziten Gottesbezug zum Schuldbewusstsein385, mit dem der Mensch ohne „eine andere Möglichkeit des Menschseins“386 ein sich selbst bzw. der Wahrheit über sich entsprechendes Leben nicht führen kann. Zugleich mit der Getrenntheit von Gott geht dem Menschen die Entfremdung von sich selbst auf.387 Die Analyse der Erfahrung des Schuldigwerdens, die im interpersonalen Selbstvollzug aufbricht, ist als umgeformte Sündenlehre zu verstehen, weil sie die „neue psychologische Gestalt der Gewissenserfahrung“, die „unmittelbar immer auf das Leben in Gemeinschaft mit andern Menschen bezogen ist“388, integriert. Das Schuldbewusstsein, das sich in der Theologie der Reformation aus dem direkten Widerspruch gegen Gott herleitete, ist nun vermittelt über den Selbstwiderspruch, den der Mensch in seinem Sein mit anderen erfährt und der in Resignation oder Aktivismus endet: Sich selbst als zugleich abhängig und frei zu vollziehen wäre Selbstentsprechung, wird aber in Resignation, welche die 383 

ChR I, 304.

384 Ebd. 385 

Bei Hirsch selbst ist terminologisch nicht ganz eindeutig, inwiefern er auf der Ebene der Schuld zwischen unreflektiertem Gefühl und reflektiertem Bewusstsein unterscheidet. Sinnvoll ist es m. E., den Glauben als Reflexion auf das Schuldgefühl zu begreifen. Im Glauben kommt das unbestimmte Gefühl des Widerspruchs – der „dämmernde[ ] Untergrund des Daseins“ (ChR I, 259) – zu dem Bewusstsein, dem wahren menschlichen Leben nicht zu entsprechen (vgl. ChR II, 91 f.). Mit der Unterscheidung zwischen Gefühl und Bewusstsein verweist Hirsch zudem darauf, dass die Rede von der Schuld nicht moralisch engzuführen ist: „Schuldgefühl ist etwas anderes als Bewußtsein ethischer Defekte.“ (ChR I, 262.) 386  ChR I, 308. 387  Barth: Die Christologie, 599 f. 388  ChR II, 88.

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Freiheit nicht gebraucht oder in Selbstbehauptung, welche die Freiheit übermäßig gebraucht, verkehrt. Menschliches Konstituiertsein aus der Einheit von Vernunft und Herz wird durch die Selbstmächtigkeit der Vernunft bzw. die Selbstaufgabe des Herzens verneint. Das den Einzelnen und die Gemeinschaft in ihrem Recht lassende Verhältnis beider wird durch die Selbstaufgabe des Einzelnen für die Gemeinschaft bzw. durch die Priorisierung eigener Interessen gestört. Die Bezogenheit auf die Ewigkeit, in der der Mensch sich wiederfindet und die ihn zur Person macht, führt in die Spannung zwischen dem faktischen Gesetz des Daseins, das die Realität des Todes einschließt, und der Ahnung eines ewigen Lebens. Diese versucht er aufzulösen durch „Lebenszersetzung oder Lebensflucht“389. Der „Streit zwischen göttlicher Wahrheit [Heiligkeit, A.‑M. K.] und menschlicher Unwahrheit [Sündigkeit, A.‑M. K.]“390 wirkt sich auf das Gottesbild des Menschen in der Vereinseitigung der oben beschriebenen Antinomien aus: Gott wird als der im Gesetz des Daseins wirkende allein zornige und vergeltende Gott wahrgenommen, das Gottesverhältnis schlägt in reinen Hass um oder der Gottesglaube wird als „Wahn“ und „Krankheitserscheinung“ rationalisiert.391 Den Erlebnisgehalt des Schuldgefühls beschreibt Hirsch auf der Ebene des expliziten Gottesverhältnis als „stummes Leiden“, „Anfechtung“ und „Verzweiflung“, auf der Ebene des Seins mit den Mitmenschen als „Demütigungs- und Unwertsbewußtsein“, als „Unrast“ und „subjektive Verschlossenheit“.392 Hirsch vermeidet den Begriff der Sünde in seiner Analyse des humanen Wahrheitsbewusstseins; er verwendet lediglich Terminus ‚Sündigkeit‘ als Gegenbegriff zur Heiligkeit. Sündigkeit ist strikt als personale Kategorie bestimmt; sie ist von der „Kreatürlichkeit“ unterschieden. Sie kommt als Gefühl, sich im Gegensatz zur Heiligkeit zu verhalten, im Gewissen des Menschen auf.393 Dieses wird in der „persönlichen Geschichte“394 mit Gott zum Schuldbewusstsein gesteigert. Indem dieses Bewusstsein schon Gottesverhältnis ist – ich kenne Gott als den Heiligen, sehe mich selbst als Sündigen im Gegensatz zu ihm – ist es bereits eine religiöse Kategorie.395 Weil das Gefühl der Sündigkeit notwendig mit dem personhaften sich Vernehmen vor Gott verbunden ist, ist es, so Hirsch, eine „Urtatsache“396. 389 

ChR II, 56. WuG, 96. 391  ChR I, 262. S. o., 104. 392  ChR I, 261. 393  ChR I, 234. 394 Ebd. 395  ChR I, 236–238. 396  ChR I, 238. 390 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Das Gefühl der Sündigkeit ist zwar von der Kreatürlichkeit unterschieden, geht aber mit der Verbindung von Kreatürlichkeit und Ewigkeitsbezogenheit, die sich im Menschen als Lebenswiderspruch äußert, notwendig einher. Was den Menschen zum Menschen macht, erzeugt zugleich in ihm das Gefühl seiner Sündigkeit. Daraus folgt zudem, dass Gott mit Hirsch als Ursprung des sündigen Lebens gedacht werden muss.397 Eine positive Seite eignet dem Sünden­ gefühl und dem Schuldbewusstsein allerdings, indem diese als „Schutzmittel“398 gegen die sich selbst behauptende Dämonie der Vernunft fungieren, sich allein aus dem Endlichen heraus verstehen zu wollen. Sie sind gleichsam „segnende und haltende Macht“399, durch die das Bewusstsein der Bezogenheit auf die Ewigkeit bestehen bleibt. Sie verweisen durch das unendliche Soll auf die unbedingte Dimension des Menschseins. Das Phänomen des Sündigkeitsgefühls, das sich im Schuldbewusstsein äußert, ist also bei Hirsch ambivalent zu verstehen. Einerseits ist es notwendig Teil der wahren Selbstverwirklichung des Menschen, andererseits hält es den Menschen gefangen, indem dieser sich durch es selbst verneint. Dementsprechend kann Schuld Hirsch zufolge nur gelebt werden, indem das Schuldbewusstsein die Liebe zu Gott und die liebende Bejahung durch Gott mit einschließt. Auf der allgemeinen religiösen Ebene ist es nur in der Doppelbewegung mit dem ahnenden, sehnsüchtigen, „ungewissen Vertrauen“400 zu begreifen.401 Die echte Möglichkeit, mit dem Schuldgefühl zu leben, schließt der Glaube auf. Hirsch lehnt zwar den Gedanken vom Sündenfall und eine Erbsündentheorie ab. Die existenzanalytische Fassung des Sündigkeitsbegriffs ist allerdings m. E. als Transformation der traditionellen Erbsündenlehre zu verstehen, weil auf diese Weise das universale Moment des Sündigkeitsgefühls eingeholt wird.402 Die 397 

„Wenn Gott Ursprung alles Lebens ist, so ist er auch der Ursprung eines die Willensfreiheit zur Sünde gebrauchenden menschlichen und eines sich zur Gottwidrigkeit verhärtenden teuflischen Lebens.“ (ChR I, 234.) Auf die Brisanz dieser These wird in der Darstellung des Verhältnisses von Tod und Gott und Tod und Sünde ausführlicher eingegangen werden, s. u., Kapitel 6, 215 ff. 398  HchR, 296. 399  HchR, 294. 400  ChR I, 262. 401  Hirsch grenzt sich dementsprechend gegen die reine Negativbestimmung des Gottesverhältnisses, die K ierkegaard mit seinem Begriff der Verzweiflung vornimmt, ab. Die absolute Verzweiflung bestimmt Hirsch als „Grenzfall im Kampfe zwischen Schuldgefühl und Vertrauen“ (a. a. O., 260). Deren Vorstufe ist die Anfechtung des Gottesverhältnisses, die sich in „Ratlosigkeit und Zweifel“ und im „Durchlaufen des Gottesbildes durch widersprechende Bestimmungen“ (a. a. O., 261) äußert. Hirsch holt damit den phänomenologischen Sachverhalt ein, dass für den Glauben nicht unbedingt eine tiefe Verzweiflung vorausgesetzt werden muss, sondern der Grad der Anfechtung sich von Mensch zu Mensch unterscheidet. 402  ChR II, 42: „Die Erbsünde muß gemäß reformatorischer Art als Personsünde, d. h. als

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Bezeichnung der Sündigkeit als „Urtatsache“ und die Notwendigkeit des Selbstwiderspruchs im Menschen zwischen Kreatürlichkeit und Ewigkeitsbezogenheit sind klare Indikatoren für diese Annahme.403 Erst aus der Perspektive des Glaubens, wird die analysierte menschliche Gewissenserfahrung explizit als Sünde bezeichnet: „Sünde ist das sich Vollbringen im Leben unter Zwiespalt mit Gott“404. Als solche ist sie der „Herzensreinheit“ des Glaubens, dem Wechselbegriff für die „Heiligung“, entgegengesetzt. Sie ist als „Ganzheitsbestimmung“405 des Menschen vor Gott zu verstehen – einem moralistischen Sündenverständnis wird damit die Absage erteilt.406

b)  Liebesgewissheit: Der Glaube als Lebensmöglichkeit inmitten spannungsreicher Erfahrungen mit Menschen und Gott Der Dialektik von Glaube und Unglaube entsprechend ist die Grunddefinition des Glaubens bei Hirsch folgendermaßen zu paraphrasieren: Der Glaube ist die Überführung des unwahren Gottes- und Selbstverhältnisses in das wahre Gottes- und Selbstverhältnis. Er ist Gotteserkenntnis, über die vermittelt er auch Selbsterkenntnis ist. Er ist damit bestimmt als Selbstdurchsichtigkeit vor Gott, die durch die Gründung des eigenen Lebens in Gott ermöglicht wird. Der Schritt vom Unglauben zum Glauben ist nicht als Überbietungs-, sondern als Vertiefungs- und Verwandlungsgeschehen zu denken. Die Beziehung zwischen Glaube und Unglaube geht in beide Richtungen. Einerseits ist Unglaube schon eine Form des Glaubens, insofern er „die an ihm mächtige Gottes- und Selbsterkenntnis in einem Hören und Vernehmen Gottes“407, also in einem Offenbarungsgeschehen gründet, dieses aber ungläubig in das menschliche Sein vor Gott, wie es ohne die ganze völlige Versöhnung ist und lebt und sich regt, verstanden werden: dann erst sieht man, was Paulus und Luther eigentlich gemeint haben. Alle Theorien über Entstehung und Fortpflanzung der Sünde, über Verdammnis usw. sind fernzuhalten; das Wort ist lediglich ein Index existentieller Selbsterkenntnis vor Gott. Wo es als solches nicht mehr verstanden wird, hat es aus dem christlichen Sprachgebrauch zu verschwinden. Der Versuch hier, das Menschsein unter dem Widerspruch mit Gott zu zeigen, ist ohne dieses Wort ausgekommen. Theologen aber müssen es richtig verstehen und erklären können. Echter Gegenbegriff gegen die Erbsünde ist Gottesgerechtigkeit, d. h. die von Gott dem Menschen in Christus geschenkte eigne Gerechtigkeit Gottes selbst. Dieser Ausdruck ist noch schwerer verständlich zu machen; man muß ihn ersetzen durch: mit und aus Gottes eignem Leben leben.“ Vgl. ChR I, 262. 403  Hirsch gibt selbst an, dass er mit seiner Sündenlehre den Luther’schen „Begriff peccatum originale = peccatum personale“ (ebd.) treffend interpretiert. 404  ChR II, 82. 405  ChR II, 88. 406  Vgl. ChR I, 235 f. 407  ChR II, 65.

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ein unangemessenes Gottesbild überführt. Andererseits nimmt der Glaube den Unglauben in sich auf, indem er gnadenhaft immer wieder neu aus der unwahren Gottes- und Selbsterkenntnis hinausgeführt werden muss: „Er lebt aus dem lebendigen Zeugnis Gottes in Sinn, Herz und Gewissen wider Sinn, Herz und Gewissen“408. Vor dem Hintergrund dieser dialektischen Bewegung zwischen Glaube und Unglaube ist der geschichtliche Glaube mit Hirsch nur in seiner simul-Struktur angemessen zu begreifen. Hirsch drückt die doppelte Bestimmtheit des Glaubenden durch Gesetz und Evangelium so aus, dass er den Glauben unter zeitlichen Bedingungen als ständige „Doppelbewegung“409 zwischen Glaube und Buße begreift, deren allgemein-menschliche Vorform in der Doppelheit von Schuldgefühl und Vertrauen liegt. Der Glaube ist in dieser simul-Struktur ständig bedroht: Indem er die Gesetzesoffenbarung in sich aufnimmt, ist diese immer präsent und kann den Glaubenden jederzeit wieder in ihre Gewalt nehmen. Indem das Evangelium die Geschiedenheit von Gott nicht verneint, sondern diese Wahrheit der Gesetzesoffenbarung unterstreicht, „macht es dem Gewissen diesen Widerstreit tief bewußt und also dafür anfällig“410. Terminologisch ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll für die Hirsch-Interpretation zwischen dem Glauben und dem Glaubenden unterschieden. Damit soll verdeutlicht werden, dass der Glaube – der an sich schon vollendete Gotteserkenntnis, vollkommene Ewigkeitsgewissheit und ewige Seligkeit411 ist – unter zeitlichen Bedingungen – im Glaubenden – immer nur in seiner Vermittlungsgestalt zu greifen ist, die ihn der generellen Gefährdung durch den Unglauben aussetzt. Diese Differenzierung tritt bei Hirsch selbst nicht immer ganz klar zutage, findet sich aber in der Unterscheidung von Glaube und Frömmigkeit, zwischen persönlichem, unmittelbarem Gottesverhältnis und dessen geschichtlicher Gestalt.412 Im Unterschied zum allgemein-menschlichen Vertrauen auf die Liebe Gottes, vermag es der Glaube, ein menschliches Leben mit Schuldbewusstsein zu ermöglichen. Die Buße, die Einsicht des Menschen in seine Getrenntheit von Gott, ist Hirsch zufolge keine Voraussetzung des Glaubens, sondern allein aus 408 Ebd. 409 

ChR II, 88. ChR II, 91. Indem Hirsch die simul-Struktur des Glaubens immer wieder stark macht, kann man für die geschichtliche Realität des Glaubens nicht von einem „Übergang von dem Einen in das Andere“ (gegen Zerrath: Vollendung, 237) sprechen, sondern der glaubende Mensch ist in seiner irdischen Eingebundenheit immer zugleich durch Glaube und Unglaube bestimmt. 411  S. u., 3.C.a., 146 ff. 412  ChR II, §  95A. 410 

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ihm heraus wahrhaft zu vollziehen.413 Sie ist an der Gesetzesoffenbarung im Schuldbewusstsein erlittene Buße, die im Glauben durch die Evangeliumsoffenbarung in die Liebe zu Gott verwandelt wird. Sie ist als „Erfahrung“414 dagegen abgegrenzt, als eine aktive Leistung missverstanden zu werden; sie hat an sich keinen die Trennung zwischen Gott und Mensch aufhebenden Charakter, sondern intensiviert die Erfahrung der Getrenntheit. Erst in der Doppelbewegung mit dem Glauben, der ihr wahres Wesen aufdeckt, indem er deutlich macht, dass der Mensch die Gottgetrenntheit nicht von sich aus überwinden kann und indem er demgegenüber dem Menschen ermöglicht, sein eigenes Leben aus Gott zu verstehen und es in Gott zu gründen, kann sie gesetzesüberwindend sein. Die von Hirsch auf diese Weise neu interpretierte reformatorische Bußlehre stellt in der Moderne vor ein Problem: Das reformatorische antimoralistische Sündenverständnis hat die früher selbstverständliche Verbindung zwischen dem ethischen und dem religiösen Schuldbewusstsein aufgelöst, „d. h. die Reue wird ein endliches Phänomen, ist allein coram hominibus (d. h. in der inneren Beziehung des heimlichen Gewissens auf das Urteil der andern) noch leicht erlebt“415. Die Bußbereitschaft vergangener Zeiten – die den expliziten Gottesbezug voraussetzt – wird Hirsch zufolge in seiner Zeit davon abgelöst, „sich in resignierter Kühle mit sich selber abzufinden und nicht nur vor andern, sondern auch bei sich selbst das Gesicht zu wahren“416. In Bezug auf Gott ist die Reue höchstens in Form der „Unlust zum Gottesverhältnis“417 zu greifen. Der Selbstwiderspruch, in dem sich der Mensch eigentlich befindet, wird nicht als solcher wahrgenommen, weil die Perspektive auf ein Auch-Anders-Sein-Können fehlt. Man gibt sich resignierend zufrieden mit der faktischen Lage, durch äußere und charakterliche Umstände in seinem Wesen bestimmt zu sein. Das Verlangen nach Anerkennung (bei Hirsch „Ehre“), das sich am Sein mit Anderen entzündet, verweist aber auf eine tiefere Dimension der Sozialität, „in der wir die Unendlichkeit des Gefordertseins zur Liebe gegeneinander und die Unwiderruflichkeit des einander nicht Genügens und einander schicksalhaft zum Gesetz Werdens vor uns selber verstummend durchleben“418. Diese zwischenmenschliche Dimension, die die schier unüberwindbare – durch die gegenseitige Verschlossenheit und die Selbstbehauptung bedingte – Trennung der Menschen voneinander offenlegt, ist für Hirsch die moderne Gestalt erlittener Buße, an der sich das Schuldbewusstsein entzündet. 413 

ChR II, 88 f. ChR II, 89. 415  Ebd.; Herv. A.‑M. K. 416  ChR II, 88. 417  ChR II, 89. 418  ChR II, 88. 414 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Für die zugleich rezeptive und spontane Struktur des Glaubens gebraucht Hirsch die Wendung des „bejahten Gotterleidens“419, welches ihm zufolge notwendig zur Entwicklung des Glaubens an Gottes Gnade und Liebe, zur wahrhaften Selbstwerdung des Menschen, gehört. Diese Figur scheint gegen die Bestimmung des Menschen zur Selbsttätigkeit zu stehen. Hirsch macht aber in fundamentalanthropologischer Hinsicht deutlich: Das (Er-)Leiden, die passive Empfänglichkeit, gehört ebenso zum sich in der Spannung zwischen Situationsgebundenheit und Freiheit wiederfindenden Menschen wie seine Spontaneität. Während das Handeln des Menschen auf die äußere Welt gerichtet ist, „treibt ihn [das Leiden] nach innen“420. Dass der Ort des bejahten Gotterleidens die Innerlichkeit ist, bedeutet für Hirsch zweierlei. In der Selbstreflexion sieht der Mensch zum einen ein: er ist abhängig von Gott. Zum anderen kann das Wesen des Erleidens nur verstanden werden in der persönlichen, subjektiven Gottesbeziehung. Indem Gott die „unendliche Möglichkeit“421 ist, sind auch die Möglichkeiten der Deutung der Erfahrungen mit ihm in der eigenen Lebensgeschichte unendlich. „Alles kann alles bedeuten […].“422 Auf eine Formel gebracht werden kann das Gotterleiden nicht. Damit deckt die Begrifflichkeit ein ganzes Spektrum an Erfahrungen ab. Sie verwahrt vor vorschnellen Sinnzuschreibungen an offensichtlich als sinnlos erfahrene Lebensereignisse und vor dem Drang nach allgemeingültiger Definition von zum Glauben gehörenden Einzelerfahrungen. Leiderfahrungen sind nicht von vornherein als Wegbereiter zum Glauben zu verstehen. Das Erleiden Gottes im Glauben ist zudem nicht engzuführen auf Schicksalsschläge im Leben, nach dem Motto: Nur wer durch das tiefste seelische und körperliche Leid gegangen ist, kann eine Beziehung zum Gott des Evangeliums haben.423 Indem das Erleiden bei Hirsch allgemein als Strukturbegriff zum Beschreiben von Passivitätserfahrungen fungiert, ist jegliche Erfahrung der unbedingten Begrenztheit des endlichen Lebens als Gotterleiden zu verstehen, sofern sie vor dem Horizont der

419  Zw,

113–119. 114. 421  Zw, 115. 422  Zw, 116. 423  Mancher ist verleitet, Hirsch so zu verstehen, was sich aufgrund bestimmter Äußerungen Hirschs auch nahelegt: Vgl. z. B. ChR II, 57: „Das Schauen der Herrlichkeit Gottes ist im Leiden am stärksten: das ist eine alte christliche Erfahrung.“ Oder Zw, 150, wo er den Schmerz als „Macht der Vergeistigung und Durchseelung“ beschreibt. Allerdings sind diese Erfahrungen der hier gegebenen Hirsch-Interpretation zufolge besondere Einzelerfahrungen, die in ein breites Spektrum an Anfechtungserfahrungen einzuordnen sind, die bereits auf der Ebene des cartesianischen Zweifels anzutreffen sind (vgl. ChR I, 260 f.). Zur Doppelbewegung von Gericht und Gnade s. u., 3.B, 136. 420  Zw,

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Gottesbeziehung gedeutet wird. Dieser Erfahrung korrespondiert die Einsicht in die Verborgenheit Gottes.424 Im Medium des geschichtsgebundenen Glaubens wird das Gotterleiden nicht aufgehoben, sondern es wird zur Lebensmöglichkeit, indem es nicht als Festlegung auf die Unmöglichkeit, selbsttätig zu werden, verstanden wird, sondern als Grund der Selbsttätigkeit: Erst wenn der Mensch seine Passivität gegenüber Gott vollends begreift, kann er sich in Gott gründen lassen. Diese Einsicht bringt der Mensch zum Ausdruck, indem er seine Unterschiedenheit von Gott bejaht. Das Ja ist nach Hirsch nicht bloße Resignation, „bloß ein Abfinden mit dem Unvermeidlichen“425. Das „Ja des Glaubens“426 ist das Vertrauen darauf, dass Gott durch das Leiden hindurch Leben schafft. Es ist der erste Akt der dem Ohnmachtsgefühl des Menschen entgegengesetzt wird. Gleichzeitig wird die Passivität aufgebrochen, indem das bejahte Gotterleiden zur „Basis eines Handelns“427 im geschichtlichen Rahmen wird.428 Der Glaube ist nach Hirsch aus der Doppelbewegung von Glaube und Buße heraus, als bejahtes Gotterleiden, Ermöglichungsgrund von Freiheit im Verhältnis zu Gott und anderen Menschen. Die Freiheit zum Mitmenschen drückt sich im unter geschichtlichen Bedingungen realisierten Leben des Glaubens aus. Die Totalität des Glaubens führt im glaubenden Selbstvollzug zu einer Berufsfrömmigkeit, die „das natürlich-geschichtliche Leben [zur] Stätte [ihres] Gottesdienstes hat“429 – mitten im irdischen Lebensvollzug wird der Mensch durch Gottes Bestimmung zur Freiheit befähigt, mitten im irdischen Leben gewinnen die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott Gestalt. Es gibt keinen Sonderbereich für das menschliche Gottesverhältnis.430 Die christliche Freiheit hebt den Menschen nicht aus der menschlich-geschichtlichen Gemeinschaft heraus, vielmehr verweist sie ihn darauf. Die Besonderheit der Freiheit des Glaubens gegenüber der allgemein-menschlichen Form endlicher Freiheit ist, dass sie in gewisser Weise unabhängig von den menschlich-geschichtlichen Bedingungen ist. Dadurch, dass ihm „ein gutes Gewissen“431 zugesprochen ist, ist er nicht in den Kreis aus 424 

Genauer s. u. die Ausführungen zur Gottverlassenheit, 275 f. ChR I, 245. 426 Ebd. 427 Ebd. 428  Mit dieser Verbindung von Rezeptivität und Spontaneität im Glauben will Hirsch falschen Vorsehungsglauben, den er als „Deisidaimonie“ bezeichnet und der auf dem Bild eines willkürlichen, „gegen Einsicht und Zweck des Menschen stehenden“ Gottes basiert, abwehren. Ebenso grenzt er sich gegen falsch verstandene menschliche Freiheit („Gottlosigkeit“) ab, die das Moment der Empfänglichkeit und der Abhängigkeit nicht sieht (ChR I, 243). 429  ChR II, 83. 430  ChR II, 94. 431  ChR II, 82. 425 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Fremdbeurteilung und Selbstverbesserung verstrickt. Der vollkommene Glaube ist den Anderen gegenüber frei in dem Sinne, dass er weiß: Ich muss mich nicht von ihrer Ankerkennung abhängig machen, ich brauche sie nicht, um mich selbst zu optimieren. Er ist seines Selbstbehauptungsdrangs entledigt.432 Dadurch zeichnet seine Liebe „Selbstverständlichkeit“433 aus – sie geht frei von sich aus und stellt keine Erwartungen an das Gegenüber. Der vollkommene Glaube eignet dem Menschen ein „völliges Erschlossensein für das Leben mit den andern“434 zu. Diese Ewigkeitsdimension zwischenmenschlicher Liebe verdeutlicht Hirsch phänomenologisch an der oft nicht vorrangig von äußerlichen Faktoren abhängigen menschlichen Partnerwahl: Hier wird der Andere nicht vernunftmäßig nach einzelnen Eigenschaften analysiert und letztlich rationalisiert, sondern indem die Liebe auf einem unableitbaren, unmittelbaren Gesamteindruck beruht, ist sie ein „unergründliches Ganzheitsgefühl“, „ein Ahnen, ein Vertrauen, daß man füreinander passe“435. Als solches trägt sie das Signum der Ewigkeit. Die Fremdbeurteilung ist durch die Eindeutigkeit der Entscheidung für den Anderen gekennzeichnet, die sich allerdings nicht aus einzelnen Faktoren ableiten lässt, sondern sich in der Begegnung einstellt. Menschliche Begegnungen insgesamt haben Hirsch zufolge desto prägendere Kraft für das eigene Leben je mehr sie durch diesen Ewigkeitswert gekennzeichnet sind.436 Im Blick auf die endliche Freiheit zur Weltgestaltung und -beherrschung mittels der Vernunft spricht Hirsch dem Glauben ebenfalls eine Funktion zu. Indem der Glaube der Wahrheit gewiss ist, bestärkt er den „Mut [i. O. herv.], meiner Erkenntnisfähigkeit allenthalben zu trauen und mich an die Erkenntnis der Dinge mit den mir gegebenen Möglichkeiten zu wagen“437. Der Glaube entbindet die freie Produktivität der Vernunft. Die Freiheit im Verhältnis zu Gott bedeutet die Vollendung des Gottesverhältnisses – der „Friede mit Gott im Gewissen“ und das „Einssein“438 mit Gottes Willen, die vollkommene Liebe zu Gott, die ebenso wie die vollkommene Liebe zum Menschen von ihrem Drang zur „Selbstbemächtigung“439 befreit ist. Die Freiheit des Glaubens ist die „erfüllte Lebensmöglichkeit in der Antinomie der Religion“440, ist aber erst eschatolo432 

ChR II, 45. ChR II, 82. 434  ChR II, 45. 435  HchR, 353. 436  HchR, 354–357. 437  ChR II, 28. 438  ChR II, 48; i. O. herv. 439  ChR II, 94. 440  ChR II, 97. 433 

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gisch voll realisierbar, weil der Glaube im geschichtlichen Leben immer durch den Unglauben gefährdet ist.

c)  Mit der Liebe gleichzeitig Werden: Die christologische Bestimmtheit des Glaubens Die spezifisch christliche Offenbarung ereignet sich, indem dem Menschen an der „Begegnung mit dem Menschen Jesus“441 die bedingungslose Liebe Gottes aufgeht. Die Zentralstellung der christologischen Reflexion in Hirschs Denken wird daran augenfällig, dass er das „Grundgesetz der Erkenntnis der christlichen Wahrheit“ folgendermaßen benennt: „Die mit dem Glauben empfangene Erkenntnis der christlichen Wahrheit ist die im Verhältnis des Glaubens zum Menschen Jesus aufgeschlossene Gottes- und Selbsterkenntnis.“442 Die Gottesund Selbsterkenntnis wird über die Jesusbeziehung des Glaubenden vermittelt. Die Gültigkeit dieser Formel macht Hirsch zur Bedingung für die Nachvollziehbarkeit der theologischen Rechenschaft. Obwohl die Christologie dieser Aussage zufolge als die „inhaltliche Mitte der Theologie Hirschs“443 zu bezeichnen ist, widmet er ihr kein eigenes Lehrstück. Sie wird von ihm unter soteriologischer Perspektive verhandelt und im Anschluss an Luther rechtfertigungstheologisch fokussiert. Methodisch begründet wird diese Vorgehensweise damit, dass Hirsch „keine Theorie über Jesus“444 aufstellen will. Er nimmt so die bereits von Schleiermacher herausgestellte Korrespondenz von Person und Werk Christi auch formal ernst, indem er beide Aspekte nicht getrennt voneinander betrachtet. Jesus ist nicht die Offenbarung selbst, sondern wird erst durch das gegenwärtig erfahrene pro me seines Lebens zum Träger von Offenbarung.445 Ohne das pro me eignet der Person Jesu lediglich geschichtliche Bedeutsamkeit. Deswegen muss für Hirsch die Verschränkung von Person und Werk integraler Bestandteil der glaubenden christologischen Reflexion sein. Er zieht die Konsequenz, dass theologisch keine Aussagen über Jesus „an sich“ zu treffen sind.446 441 

ChR II, 9. ChR I, 28. 443  Barth: Die Christologie, 580. 444  ChR I, 31. Dementsprechend und weil Hirsch selbst angibt, auf An-Sich-Aussagen zu verzichten, kann man Hirschs christologischen Ansatz auch nicht als eine den historischen Jesus absolut setzende ‚Jesulogie‘ bezeichnen (vgl. Barth: Die Christologie, 613 f.). 445  ChR II, 12: „Auch Jesus ist weder an sich noch a priori Offenbarung Gottes. Indem er mir gegenwärtig wird und mir mit überwindender Hoheit Gotteserkenntnis gibt, d. h. in Relation zu mir und sehr a posteriori ist er Offenbarung Gottes. An sich und a priori ist er nichts als merkwürdiges menschlich-geschichtliches Phänomen.“ 446  ChR II, 24. 442 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Die Relation des Menschen zu Jesus hat bei Hirsch ihren Grund in der Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus, die als Sonderfall der auf das Gottesverhältnis eines Menschen gerichteten Geschichtserkenntnis zu verstehen ist. Hirsch macht damit zweierlei deutlich: Zum einen kann die persönliche Betroffenheit durch den Menschen Jesus nur über die geschichtliche Vermittlung generiert werden. Jesus muss deswegen notwendig geschichtliche, lebendige Persönlichkeit gewesen sein und kann nicht zum bloßen Prinzip oder Mythos herabgesetzt werden.447 Zum anderen ist die Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus nicht im Sinne einer mystischen Vereinigung zu denken, sondern begründet sich aus einem hermeneutischen Grundvorgang: „In Wahrheit ist sie nichts als die Verwirklichung eines menschlichen Tiefenschichtgeschehens, welches allenthalben am Werke ist, wo eine Berührung zwischen Mensch und Mensch über den Alltagsbereich hinaus ein Innewerden aus ewigem Grunde ist.“448 Über die biblische Überlieferung als menschlich-geschichtliches Zeugnis von Jesus gewinnt der Mensch Zugang zur Person Jesu. Die Einfühlung in dieses Bild, das Nachverstehen der Lebensgeschichte Jesu führt zu einer geschichtlichen Erkenntnis über die Person Jesu, die dem Erkennenden „die Gleichheit und den Unterschied zum vergangenen Dokument herstellt“449. Der historisch-kritische Zugang zur Person Jesu vermag es selbst nicht, ein abschließend gültiges Bild von der Person Jesu zu rekonstruieren, er ist aber unabdingbare Voraussetzung für die unmittelbare Begegnung des Einzelnen mit der Person Jesu: Er hilft ihm, sich von traditionellen Setzungen, die sein Jesusbild bestimmen, frei zu machen.450 Ein ganzheitliches Bild Jesu und die persönliche, existenzielle Betroffenheit des ihm Begegnenden kommt über den Akt historischer Erkenntnis hinaus durch die „meditative Selbstbesinnung“ auf das eigene Gottesverhältnis im Bezug zur Lebensgeschichte Jesu zustande, durch die „der Umgang

447 

HchR, 362 f. HchR, 364. 449  ChR I, 47. Dieser Vorgang ist noch im Bereich der allgemeinen Geschichtserkenntnis angesiedelt, die Hirsch zufolge das Moment des Nacherlebens in sich schließt und sich dadurch von der naturwissenschaftlichen Objektivität unterscheidet, dass sie die „bedingende Mitte“ des Geschichtszusammenhangs „nicht in dem Typischen und Wiederkehrenden“, nicht in „Tatsachen und Tatsachenreihen“, sondern in dem „Einmaligen und Individuellen“, im „Entscheidungswille[n]“ des Einzelnen erkennt (a. a. O., 183 f.). Hirsch fasst zusammen: „Erkenntnis der Geschichte ist Verständnis lebendig handelnder, auf die Gemeinschaft bezogener menschlicher Freiheit im Zusammenhang ihrer Bedingungen“ (a. a. O., 184; i. O. herv.). Während das äußere Bedingungsgefüge rational zugänglich ist, sind die individuellen Äußerungen nur über das „nacherzeugende Verstehen individuellen Lebens, mit dem sich die produktive Freiheit des Interpreten selbst zum Zuge bringt“ (Gräb: Predigt, 133) zu greifen. 450 Vgl. Müller: Predigt, 239. 448 

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mit der Bibel zum Faktum der eigenen Geschichte mit Gott wird“451. Jesu Wort wird dem Nacherlebenden und Meditierenden auf diesem Weg Ausdruck seines eigenen Gottesverhältnisses und Jesu Lebenshingabe „als die ihm eigentümliche Erfüllung von Ruf und Fügung evident“452. Im Vergleich zu einer geschichtlichen Begegnung mit anderen Personen eignet der Begegnung mit Jesus ein Bedeutungsüberschuss, insofern sie glaubenweckend und ganzheitlich existenzbestimmend ist, insofern sie eine besondere ‚Vollmacht‘ hat, die von der allgemeinen ‚Vollmacht‘ geschichtlicher Personen – die nur begrenzt Betroffenheit generieren – unterschieden ist. Diese gewinnt das Verhältnis durch seine „Gnadenhaftigkeit“, mit der es „eine sonst persönlichen Begegnungen nicht eigne Lebenstiefe“ hat.453 Zur allgemein nachvollziehbaren geschichtlichen Vermittlung zwischen Jesus und dem Glaubenden tritt das Element der Gnade, das die religiöse Tiefendimension aufschließt und die Jesuserkenntnis zu einem unverfügbaren Evidenzerlebnis macht: „Dies Gleichzeitigwerden Jesu mit uns ist glaubenweckendes gnadenhaftes Reden des ewigen Vaters zum einzelnen Menschen“454. Die hermeneutische Reflexion auf den Vorgang der Gewinnung des Jesusbildes im Glauben verdeutlicht: Das aus der Erfahrung des Glaubens herausgesetzte Jesusbild kann je nach der kontextuellen Eingebundenheit des Subjektes variieren. Die Imagination und Konstruktion des Glaubenden455 im Selbstbezug auf die eigene Lebenserfahrung hat also erheblichen Anteil am Jesusbild. Die 451 

ChR I, 47. Barth: Die Christologie, 303. Ulrich Barth arbeitet heraus, auf welche Weise Hirsch Jesu Gottesverhältnis aus dessen Geschichte gewinnt. Dabei nimmt Hirsch weniger Bezug auf biographische Eckpunkte von Jesu Leben, sondern geht von der hermeneutischen Voraussetzung aus, dass Jesu Lehre mit seinem Leben und Selbstverständnis aufs engste verschränkt ist. Als Grunddatum des Selbstverständnisses Jesu gilt Hirsch dessen Messiasbewusstsein, das – gekoppelt an den Menschensohnbegriff und die Verborgenheit des Reiches Gottes – als jesuanische (nicht erst markinische) Umdeutung des jüdischen Messiasgedankens verstanden werden muss. Im Zentrum dieser Umdeutung steht Jesu Leiden und Sterben, an dem die Nichtanerkennung der Vollmacht Jesu durch die Juden deutlich zutage tritt und in dem Jesus Anfechtung und messianisches Sohnesbewusstsein zusammenzuhalten in der Lage ist (a. a. O., 109–120). Barth macht deutlich: „Hirschs Deutung der Geschichte Jesu hat mit der naiven Voraussetzung einer intakten Chronologie und eines authentisch dokumentierten unmittelbaren Selbstzeugnisses Jesu nichts gemein. Sie ist vielmehr das Resultat einer hochgradig reflektierten hermeneutischen Grundkonzeption.“ (A. a. O., 120.) 453  ChR II, 41. 454  ChR II, 48. 455 Martin Zerrath kritisiert zu Recht, dass Hirsch seine hermeneutischen Grundannahmen in dieser Hinsicht nicht zuende gedacht hat (Zerrath: Vollendung, 153 f.). Hirsch betont das gnadenhafte Sich-Einstellen des Jesusbildes zuweilen so stark, dass der Anschein erweckt wird, es handele sich um eine direkte, unmittelbare Begegnung zwischen dem Glaubenden und Jesus, die von ihrer geschichtlichen Vermitteltheit letztlich unberührt bleibt. 452 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

damit entstehende Pluralität von Jesusbildern456 kann gelesen werden vor dem Hintergrund der zugleich allgemeinen und individuellen Bestimmung des geschichtlichen Subjekts, die nicht nur in ethischer, sondern auch in religiöser Perspektive zum Tragen kommt. Die Begegnung mit der Person Jesu entbindet dann das für die je eigene Lebensgeschichte zu findende und zu realisierende ethisch-religiöse Idealbild des Menschseins. Jesus gleichzuwerden bedeutet damit nicht, von ihm ausschließlich fremdbestimmt zu werden, sondern dass der Mensch – bedingt durch das ihm gnadenhaft zuteilgewordene Gottesverhältnis Jesu – ein selbstständiges Gottesverhältnis im eigenen Lebensvollzug gewinnt und gestaltet.457 Die Glaubensgewissheit erhält ihre inhaltliche Bestimmung durch die Ausrichtung am in Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung subjektiv er456  Die in gewisser Weise ernstzunehmenden Bedenken gegen eine solche Pluralität von Jesusbildern äußert Eilert Herms (Herms: Emanuel Hirsch 2, 45–47). Er räumt ein, dass ein nicht selbst von der Innerlichkeit hervorgebrachtes Äußeres, das aus dem Konstitutionsvorgang der Innerlichkeit nicht wegzudenken sei, in den Wesensbegriff des Christentums mit eingeschlossen werden müsste. Das Verhältnis der Innerlichkeit zu diesem Äußeren sei dann nicht polemisch, sondern affirmativ. Die Beziehung auf den Menschen Jesus reiche als eine solche Äußerlichkeit nicht aus, weil sie sich letztlich in das menschliche Gottesverhältnis auflöse. Die Konsequenz ist Herms zufolge, dass die christliche Innerlichkeit in ihren Äußerungen der Beliebigkeit ausgesetzt sei, weil sie keinen äußeren Maßstab habe. Dagegen müsste man mit Hirsch sagen, dass sich die Äußerlichkeit der Jesusfigur durch ihre Aufnahme in den Glauben unter geschichtlichen Bedingungen nicht auflöst, sondern in ständigem Ringen, immer wieder neu evangeliumsgemäß verstanden werden muss. Der Maßstab des Evangeliums ist zwar nicht in dem Sinne äußerlich, dass er auf eine eindeutige Formel gebracht werden könnte, wird aber immer als Horizont mitgeführt. Hat ein Jesusbild die Kraft, eine menschliche Existenz vor Gott lebensfördernd zu bestimmen, spricht durch es das Evangelium. Für eine systematisch-theologische Aufnahme und Reflexion der Pluralität der Jesusbilder – die vor allem von der sog. ‚Third Quest‘ nach dem historischen Jesus eingefordert wird – votieren angesichts der Pluralität religiöser Spielarten des Christentums in neuster Zeit Scheliha, A. v.: Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Die „dritte Runde“ der Frage nach dem historischen Jesus und ihre christologische Bedeutung, in: ZNT 4 (1999), 22–31; Danz, C.: Der Jesus der Exegeten und der Christus der Dogmatiker. Die Bedeutung der neueren Jesusforschung für die systematisch-theologische Christologie, in: NZSTh 51/2 (2009), 186–204; Wittekind, F.: Christologie im 20. Jahrhundert, in: Danz, C./Murrmann-K ahl, M. (Hgg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 13–45, hier: 42–45. 457  ChR I, 297; Herv. A.‑M. K.: „Jesus Christus ist dem Menschen Gottesbild als Menschengestalt. Er hat also eine Vollmacht, uns das Bild vom Menschsein zu entzünden, das wir brauchen. Der Satz, daß er selber uns dies Bild vom Menschsein ist, wäre dagegen nur halbrichtig. Jedem muß sein Bild vom Menschsein in seiner eigenen Lage aufgehen. Man kann vielleicht mit dem Ausdruck sich helfen, daß unsere Bilder vom Menschsein in Richtung auf Jesus als Bild vom Menschsein gezogen werden.“

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schlossenen Bild des Menschen Jesus. Dieses entfaltet Hirsch mittels der Hoheitstitel Gottessohn, Menschensohn und Herr. Jesus ist für ihn wesentlich der Gekreuzigte, der sein Leben als Gang in den Tod hingegeben an Gott und Menschen vollzieht, die christologischen Titel sind an dieser Bestimmung ausgerichtet.458 Die Begriffe des Menschensohnes und des Herren sind dabei als Explikation des Gottessohnbegriffs zu verstehen. Jesus ist für Hirsch historisch als der Stifter der christlichen Religion wahrnehmbar: Er ist der Lehrer, der die mit dem Glauben an Gott den Vater verbundene Freiheit vom Gesetz verkündigt und, indem er daran sein Leben in Form des Leidensgehorsams gegenüber dem Vater ausrichtet, Zeuge des Evangeliums; Lehre und Person sind bei ihm zur Deckung gebracht. Seine Lehre ist nicht per se Evangelium, sondern genauso den geschichtlichen Bedingungen verhaftet, wie alle Rechenschaft vom Glauben.459 Seine Verkündigung und sein Leben werden lebensbestimmende Wirklichkeit, indem sich an seiner menschlich-geschichtlichen Gestalt der Glaube an das Evangelium entzündet, durch den das Bild Jesu für das Selbstbild bestimmend wird. Selbst zum Evangelium wird Jesus, indem an seinem Leben erkannt wird, dass Gott wesentlich Liebe ist und sein Leben dadurch zu einer „uns sich schenkend[en] neu[en] Lebenswirklichkeit wird“460. Dieser Glaube findet seinen Ausdruck in der Prädikation des Gottessohntitels an Jesus. Die Gottessohnschaft Jesu wird an dem Gehorsam Jesu gegenüber Gott ansichtig, der damit verbunden ist, dass er als Mensch unter dem Gesetz steht und doch vom Gesetz frei ist. Hirsch erhebt gegenüber der altkirchlichen Tradition die Evangeliumsgemäßheit der Deutung der Gottessohnschaft Jesu zum Kriterium. Im Evangelium wird ihm zufolge die Menschheit Jesu betont und es versteht Jesu Sohnsein als „eine durch den Gehorsam des Menschen Jesus geprägte Willensgemeinschaft mit Gott“461. Auf diese Weise ist die Gottessohnschaft relational gedacht und nicht zu verwechseln mit der traditionell Jesu Wesen zugeschriebenen Gottheit. Jesu im Glauben erschlossene Gottessohnschaft führt den Glaubenden in die Gotteskindschaft, die bei Hirsch der Folgebegriff für die Rechtfertigung ist und die er als Gottesgewissheit und „Schweben des Menschen im Frieden Gottes“ zwischen Gericht und Gnade, zwischen Schuld und Vergebung definiert.462 458 

Dementsprechend kann der Abschnitt zum Tod Jesu in dieser Arbeit (7.A) als genauere Ausführung zur Christologie Hirschs verstanden werden. 459  Hirsch hält Jesu Rede also für fehlbar. Damit ist es die „Aufgabe der christlichen Lehre, über Jesus als den Lehrer hinauszuwachsen zu tieferer Einsicht“ (ChR II, 3). 460  ChR II, 17. 461  Barth: Die Christologie, 59. 462  ChR II, §  83. Während Hirsch in seinem Frühwerk eine auf die sittlich-religiöse Erneuerung fokussierte Rechtfertigungslehre ausarbeitet, nimmt er auf Grundlage mehrerer

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Jesu wahres Menschsein wird ausgedrückt, indem er als Menschensohn tituliert wird. Vollendetes Menschsein zeichnet sich aus durch „vollkommen wehrlose, in echter menschlicher Bedürftigkeit geschehene Hingegebenheit an Gott in Anfechtung und Tod“463 und in der darin vollkommenen Einheit mit Gott. Der Gehorsam Jesu kennzeichnet sein Menschsein, gleichzeitig werden durch ihn die Erkenntnis Gottes und der vollkommene Vollzug von Liebe zu Gott und zum Nächsten ermöglicht. Zum Menschsein Jesu gehört seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gott; so muss m. E. Hirschs Aussage interpretiert werden, Jesus ist Gott „vollkommen wehrlos[ ], in echter menschlicher Bedürftigkeit“464 hingegeben. D. h. auch Jesus, obwohl er vollkommener Mensch ist bzw. gerade weil er ein solcher ist, ist auf Gottes gnadenhaftes sich Offenbarmachen, durch das dieser sich an ihm als der Liebende erweist, angewiesen. Jesu Hingabe an Gott ist das Zeichen dafür, dass er das Wesen des Menschen erkannt hat, von Gott schlechthin abhängig zu sein. Jesu Gottesverhältnis entspricht dem des Menschen und hat zugleich eine besondere Form der Individuation:465 Es ist das Ziel und die Grenzform des allgemeinen Gottesverhältnisses, von dem es sich nicht quantitativ, wohl aber qualitativ unterscheidet. Seine drei es auszeichnenden Momente, die „Gnadenhaftigkeit“, die „Willensübereignung an Gott“ und die „Ganzheits- und Letztbestimmtheit des Lebens“466, sind für Jesus im Unterschied zum allgemeinen Studien zu deren aufklärerischer und idealistischer Rezeption und Transformation Abstand von der Möglichkeit einer modernen Übernahme des Begriffes Rechtfertigung (vgl. Scheliha, A. v.: Die Rechtfertigungslehre bei Paul Tillich und Emanuel Hirsch. Problemgeschichtliche Perspektiven und systematische Entscheidungen, in: Danz, C./Schüssler, W. (Hgg.): Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Wien u. a. 2008, 67–84). Die Gotteskindschaft ist Hirsch zufolge ein von den kulturellen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Entstehung des paulinischen Rechtfertigungs- und Erwählungsgedankens unabhängiger Begriff, der auch für den modernen Menschen verständlich ist. Zudem zeigen die verschiedenen Gestalten der Rechtfertigungs- und Erwählungslehre auf, dass die theologische Theoriebildung hier an ihre Grenzen gerät, indem sie „in begrifflichen Spitzfindigkeiten und sachlichen Widersinnigkeiten strandet“ (ChR II, 73). Die paulinischen „Grundformeln“, die an sich eine angemessene Aussage über das menschliche Gottesverhältnis treffen, können nicht zu festen Theorien ausgearbeitet werden, sondern müssen religiös interpretiert werden (a. a. O., 76). Hirsch denkt in diesem Sinne an, den Begriff der Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der in der sozialen Sphäre aufbrechenden Religiosität durch die Begriffe der „Heiligkeit“ und der „Ehre“ zu ersetzen. Die Gotteskindschaft lehnt sich im Sinne der „Kindesannahme“ an den Rechtfertigungsgedanken an: „gerecht sein heißt an Gott und seiner Gemeinschaft volles Kindesrecht haben“ (a. a. O., 75; i. O. herv.). 463  ChR II, 37. 464 Ebd. 465  Barth: Die Christologie, 120–130. 466  A. a. O., 128.

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Menschen nicht durch Umkehr zu realisieren, sondern sind von Anfang seiner Geschichte an vorhanden und werden in seinem Lebensvollzug lediglich vertieft. Hirsch spricht Jesus Sündlosigkeit in dem Sinne zu, dass er schon immer ein vollkommenes Gottesverhältnis hatte. Dennoch besaß Jesus ebenso wie alle Menschen ein Schuldbewusstsein467, das für Hirsch notwendig zum Kontrasterlebnis im Gottesverhältnis hinzugehört. Dieses Schuldbewusstsein resultiert Hirsch zufolge jedoch nicht zwingend aus einem realen Schuldigwerden, sondern stellt sich mit dem Gottesverhältnis ein, indem sich der Mensch in seiner Kreatürlichkeit als ein solcher erfährt, der der Heiligkeit Gottes unwürdig ist.468 Der Titel des Menschensohns ist von Hirsch im Sinne des exemplarischen Menschseins verstanden und löst die traditionellen Begrifflichkeiten der Stellvertretung und des Sühnopfers ab. Die Bedeutung wird zusammengefasst folgendermaßen transformiert: Der Gang Jesu, des Herrn über Leben und Tod, in den Tod wird zum bestimmenden Bild des sich auf dem Weg durch den Tod vollendenden Glaubens.469 Bestimmend kann Jesu vollkommenes Menschsein werden durch sein Herrsein. Der Herrenname ist bei Hirsch die christologische Schlüsselkategorie. Die Gemeinschaft mit Jesus in Gottes- und Menschensohnschaft – die Hineinnahme in die vollkommene Gottes- und Selbsterkenntnis, die nicht selbstmächtig erzeugt sein kann – ist ermöglicht durch Jesu vollmächtige Bestimmung des menschlichen Gewissens, dadurch, dass Jesus zum Urbild des Menschseins wird. Diese Vollmacht kann Jesus zugesprochen werden, da er aufgrund der Vollkommenheit seines Gottesverhältnisses der Gefahr enthoben ist, sie zur Selbstermächtigung zu nutzen. Sein vollkommenes Menschsein begründet seine Partizipation am göttlichen Gnadenhandeln. Gnadenhaft von Gott ermöglicht, unverfügbar, wird Jesus in der Begegnung des Glaubenden mit ihm zum „Herr[n] unsrer Innerlichkeit: der, der uns inwendig im Herzen bewegt, der uns das Gewissen bestimmt, der uns entscheidend das Bild vom wahren Menschen gibt, durch das unsre Existenz vor Gott ihr Ziel und ihrer Richtung empfängt“470. Aus der Zuschreibung des Herrennamens an Jesus und dem damit verbundenen pro me der Person Jesu leitet Hirsch die frühchristliche Prädikation der Gottheit an Jesus ab. Diese ist als Glaubensaussage nicht notwendig, aber möglich. Sobald aber damit metaphysische Annahmen über die Person Jesu verbunden werden, wird sie, so Hirsch, widersprüchlich.471 467 

Das begründet Hirsch mit der fünften Bitte des Vaterunsers und mit Mk 1018 („Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“). 468  ChR II, 43 f. 469  Ausführlicher zur Transformation des Stellvertretungsgedankens, s. u., 7.A, 268 ff. 470  ChR II, 59. 471  ChR II, 60. Hirsch führt zwei Widersprüche der metaphysischen Fassung der Gottheit

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Die Transformation der klassischen Zwei-Naturen-Lehre bei Hirsch ist zusammengefasst wie folgt zu verstehen. Gottheit ist bei Hirsch nicht eine Wesenseigenschaft Jesu, sondern ein Ereignis: An Jesus als Offenbarungsträger geht dem Menschen die Wahrheit Gottes auf, die zugleich Gemeinschaft mit Gott ermöglicht. Gottes Wesen zeigt sich in der Relation des vollendeten Menschen Jesus zu Gott und zu den Menschen. Wollte man eine Aussage über Gott deduzieren, so wäre es diese, dass Gott als liebender Vater Gemeinschaft mit den Menschen will, auf vollendete Gemeinschaft der Menschen untereinander zielt und dabei die Einsicht des Menschen in seine schlechthinnige Abhängigkeit und ein unbedingtes Ja des Menschen zu Gott – auch in Leiden und Tod – einfordert. Dieses ist aber dem Menschen nur möglich, weil er sich durch die Offenbarung des Wesens Gottes dessen Liebe gewiss ist. Jesus kann nur durch die Einsicht in die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott und die vollkommene Gründung in Gott wahrer Mensch sein, die wie bei allen Menschen gnadenhaft bedingt ist. Er vollendet das Menschsein durch die unbedingte Hingabe an Gott und Mensch.472 Indem Jesus zugleich Sohn und Herr ist, tritt er zusammen mit den Menschen auf der einen Seite Gott gegenüber; auf der andern Seite tritt er dem Menschen an Gottes Stelle gegenüber. Hirsch drückt diese Antinomie durch die Wendung aus, dass Jesus zugleich Bruder und Herr des Menschen ist.473 Christologie ist bei Hirsch eine Analyse und Entfaltung der subjektiven Glaubenswirklichkeit. Das Verhältnis Jesu zum Vater und zu den Mitmenschen wird durch Gottes offenbarendes, versöhnendes und neuschaffendes Handeln zum Urbild des Menschseins. Weil er Jesu Wesen keine Gottheit zuschreibt, verzichtet Hirsch auf trinitätstheologische Verhältnisbestimmungen ganz.474 Hirschs pneumatologischer Ansatz475 liefert einen Geistbegriff, der die Verbundenheit Jesu an: Wird an einer substanzontologischen Bestimmung der Gottheit Jesu festgehalten, so kann seine Menschheit nicht ausgesagt werden. Der Theorie zufolge gewinnt der Mensch zudem durch die Anteilgabe an der Gottesgemeinschaft Jesu kein gottheitliches Wesen. „Es muß aber unzweckmäßig sein, eben das, was als empfangene menschliche Gotteskindschaft ist, im Geber mythisch-metaphysisch Gottheit zu nennen.“ (Ebd.) 472 Friedrich Böbel hält zurecht fest, dass man im traditionellen Vokabular „von einem Monophysitismus sprechen könnte“ (Böbel: Gotteserkenntnis, 321). 473  Z. B. WGJ, 237; ChR II, 42.169; Zw, 264 f. 474  Ulrich Barth (Barth: Die Christologie, 55–60) führt Hirschs Ablehnung der altkirchlichen Präexistenz- und Trinitätschristologie auf zwei Kritikpunkte zurück: Einerseits werden sie der Menschlichkeit Jesu nicht gerecht, andererseits ist der biblische Sinn des Sohnestitels nicht berücksichtigt. Die Anfrage Hirschs ist an zwei Kriterien ausgerichtet: Die Gottheit könne nicht an der Person Jesu verdinglicht werden, sondern ereignet sich im strikt worthaften Handeln Gottes und der Erfahrung persönlicher Gemeinschaft. Dementsprechend übt Hirsch auch Kritik an neutestamentlichen Formen der Präexistenzchristologie (z. B. ChR I, 80 f.). 475  S. u., 3.C.c, 153 ff.

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sowohl des Sohnes und des Vaters als auch der Glaubenden mit beiden zum Ausdruck bringt, der es aber nicht zulässt, den Geist als Person der Trinität zu bezeichnen.476

476  Inwiefern es sich hier um einen Abbruch des Denkens an einer beliebigen Stelle handelt oder inwiefern der Verzicht auf trinitätstheologische Spekulationen die notwendige Konsequenz aus der Verpflichtung auf die existenzialdialektische Methode ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht bewertet werden.

3  Die theologische Transformation der Eschatologie: Die Lehre vom Lebensende Hirsch ordnet ein ganzes Band von eschatologischen Lehren in den Bereich des Mythischen ein: „Die umfangreichen Aussagen zur christlichen Hoffnungslehre über Zwischenzustand oder Seelenschlaf, Totenauferstehung oder Unsterblichkeit, jüngstes Gericht, ewige Seligkeit und ewige Verdammnis oder Wiedereinbringung aller zum ewigen Leben sind das sonderbarste und widerspruchreichste Stück christlicher Theologie und gehören zweifellos zu den in der Geschichte der Religionen sonst gang und gäbe seienden mythologischen Produktionen […].“477

Er zieht allerdings aus dem mythologischen Charakter der herkömmlichen Eschatologie nicht die Konsequenz, das eschatologische Bildmaterial im Ganzen auszusondern. Die methodisch geleitete Befragung der traditionellen Hoffnungsbilder auf ihren Wahrheitskern und ihre Angemessenheit erweist sich an vielen Stellen als Umdeutung für eine evangeliums- und zeitgemäße Theologie. Hirsch geht dabei so vor, dass er zuerst die Widersprüche der betreffenden Vorstellung aufdeckt, die sie in der Form als unhaltbar erweisen. Gleichermaßen stellt er die Widersprüchlichkeit moderner Ersatzbildungen heraus, die sich Hirsch zufolge ebenso auf mythischem Boden befinden. Dann arbeitet er die wesentlichen, d. h. evangeliumsgemäßen Elemente des Bildes heraus, soweit sich diese ausmachen lassen. Kann er keine evangeliumsgemäße und für den modernen Menschen plausible Form des Bildes finden, wird dieses ausgesondert. Die Transformation der Eschatologie soll hier in groben Zügen dargestellt werden. Unter anderem lässt sich daran der individualeschatologische Schwerpunkt Hirschs aufzeigen, durch den dem Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod theologisch eine hohe Relevanz zukommt. Hirsch deckt zwei Hauptwidersprüche der traditionellen Eschatologie auf: a) Die Spannung zwischen individueller und universaler Eschatologie und b) die Spannung zwischen der Auferstehung des Fleisches und der Unsterblichkeit der Seele (3.A).478 Die Spannung zwischen individueller und universaler Eschatolo477  478 

ChR II, 106. ChR II, 107.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

gie, die mit den widersprüchlichen Vorstellungen eines Zwischenzustandes bzw. Seelenschlafs einhergeht, löst er so, dass er eine theologische Lehre vom Weltende für unhaltbar erklärt. Dennoch bemüht er sich im gleichen Zuge, die theologische Bedeutung der Vorstellung vom Weltende auszuloten. Die Spannung zwischen der Auferstehung des Fleisches und der Unsterblichkeit der Seele löst er so, dass er beide Gedanken zwar als mythische Vorstellungen aus einer theologisch-wissenschaftlichen Eschatologie aussondert, sie aber als Bilder des Glaubens, die gleichermaßen angemessen und unangemessen sind, qualitativ auf dieselbe Stufe stellt. Die Vorstellung vom ‚Jüngsten Gericht‘ im Sinne eines Gerichtes am Ende aller Tage sondert Hirsch aus verschiedenen Gründen aus. Am Gerichtsgedanken an sich hält er aber fest – er nimmt in Hirschs Theologie und insbesondere für die theologische Deutung des Todes eine zentrale Stellung ein (3.B). Die damit verbundene Frage nach dem Ausgang des Gerichts kann mit Hirsch theologisch nicht abschließend geklärt werden, wird von ihm aber ebenfalls auf ihre Bedeutung für das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod hin befragt.479 Als angemessene Bilder für das ewige Leben nimmt Hirsch die Neuschöpfung und das Reich Gottes auf, die ihm zur Entfaltung seiner präsentisch akzentuierten Eschatologie aus der Ewigkeitsgewissheit des Glaubens dienen (3.C). Abschließend ist in diesem Kapitel der Frage nachzugehen, ob und wie unter den methodischen und theologischen Voraussetzungen, die Hirsch macht, futurisch-eschatologische Aussagen getroffen werden können (3.D).

3.A  Die Hauptwidersprüche der traditionellen Eschatologie und ihre theologische Bedeutung a)  Der individuelle Tod und das Weltende Den ersten Hauptwiderspruch der traditionellen Eschatologie sieht Hirsch in der Verbindung der Reflexion über den Tod des Einzelnen mit der theologischen Lehre vom Weltende. Beide Ereignisse werden als Ende der Zeit und Übergang in die Ewigkeit verstanden. Während die biblische Apokalyptik diesen ausschließlich im Weltende lokalisiert, wird er in der theologischen Tradition vor dem Hintergrund der Parusieverzögerung zunehmend im Tod des Einzelnen verortet. Die damit artikulierte Hoffnung ist nicht mehr die „auf das kommende Gottesreich“, sondern die „Hoffnung des ewigen Lebens“, in das der Einzelne mit dem Tod übergeht.480 Bestehen beide Vorstellungen gleichzeitig, entsteht 479 

480 

Ausführlich s. u., 6.C, 242 ff. ChR II, 107.

3  Die theologische Transformation der Eschatologie

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das Problem eines doppelten Eintritts der Ewigkeit. Die Zeit zwischen diesen beiden Zeitpunkten wird entscheidend für die Kontinuität zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben des Einzelnen. Sie wird traditionell mit der Lehre vom Zwischenzustand begriffen,481 die konfessionell alternativ gestaltet ist: Die römisch-katholische Fegefeuerlehre kritisiert Hirsch vor allem in der Hinsicht, dass sie über den Tod hinaus einen zeitlichen Verlauf des menschlichen jenseitigen Lebens annimmt. Die qualitative Unterschiedenheit der Ewigkeit von der Zeit wird damit nicht ernst genommen.482 Die reformatorisch-Luther’sche Variante zur Fegefeuerlehre ist die Vorstellung vom Seelenschlaf, die zwar eine zeitliche Beeinflussung des jenseitigen Lebens ausschließt, der aber eine dem modernen Weltbild unangemessene dualistische Anthropologie zugrunde liegt und die de facto darauf hinausläuft, den individuellen Tod und das Weltende miteinander gleichzusetzen.483 Hirsch löst die Spannung mithilfe eines zeitlogischen Arguments: Aufgrund der Absolutheit der Ewigkeit muss der Übergang von der Zeit in die Ewigkeit als endgültiger gedacht werden. Es kann nur eine Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit geben. Aus anthropologischer Sicht macht Hirsch dementsprechend deutlich: Der Tod des Einzelnen und das Weltende müssen in eins gedacht werden. Der Einzelne geht mit seinem Tod in die Ewigkeit ein. Ihm vergeht mit seinem eigenen Tod auch die Welt. Die Wahrnehmung der Außenstehenden, dass zwischen diesem Tod und dem Ende aller Dinge eine unermessliche Zeitspanne liegt, ist durch ihre diesseitige Sichtweise bedingt.484 „Es gibt im religiösen Sinne somit nur ein einziges Ende aller Dinge, mit dem wir gemeinsam an der Markscheide zwischen dem Irdischen und dem Ewigen stehen. Dies ist der Tod, den ein jeder von uns sterben muß.“485 Diese Argumentation führt Hirsch zu der exegetischen Annahme, dass Jesu Naherwartung als Zeichen dafür interpretiert werden muss, dass er sich in jedem Moment seines Lebens seines eigenen bevorstehenden Endes bewusst ist, dass er sich jederzeit an der Grenze zur Ewig-

481 

WrCh, 180–188. Die ausführliche kontroverstheologische, an einigen Stellen sehr polemische, Auseinandersetzung mit den Problemen der Fegefeuerlehre ist besonders im ersten Teil des siebten Abschnittes des WrCh „Tod und Ewigkeit“ nachzulesen: A. a. O., 163–170. 483  HD, 262 f. Hirsch belegt diese These mit verschiedenen Zitaten aus Luthers Predigten und merkt an, dass die lutherische Orthodoxie die Lehre vom Seelenschlaf nicht beibehalten hat, sondern zur Lehre vom „Himmel der Seligen oder Himmel der endlichen Herrlichkeit“ übergangen ist (a. a. O., 263; i. O. herv.), womit sie die Spannung zwischen individuellem Tod und Weltende aufrechterhalten hat, statt der Tendenz Luthers nachzugehen, diese mit der Gleichsetzung beider aufzulösen. 484  WrCh, 181. 485  HchR, 395. 482 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

keit befindet.486 Damit erhebt Hirsch den Anspruch, dass allein eine „Lehre vom Lebensende“487 wesentlich christlich ist. Indem Hirsch den Übergang von der Zeit in die Ewigkeit im Tod des Einzelnen verortet, stellt er das Ende der Erdgeschichte als für eine christliche Eschatologie irrelevant heraus. Dies ist über das zeitlogische Argument und die exegetische Schlussfolgerung hinaus aus verschiedenen Richtungen zu begründen.488 Zuerst fällt in wissenschaftstheoretischer Hinsicht die Erklärung der Welt unter neuzeitlichen Bedingungen nicht in den Aufgabenbereich der Theologie, sondern in den der Natur- und Geschichtswissenschaft. Die Naturwissenschaft erschließt die Welt unter der Kategorie der Erklärung von Ursache und Folge. Sie sucht Entstehung, Fortbestand und evolutionäre Entwicklung der Welt und die natürlichen Bedingungen des Lebens zu erklären. Sie vermittelt anhand ihrer Erkenntnisse die Bedeutungslosigkeit menschlicher Geschichte im Horizont der Geschichte von Welt und Kosmos.489 Die Geschichtswissenschaft wendet sich von dem Schema der Heilsgeschichte ab, indem sie den Sinn der Geschichte nicht im Handeln Gottes erblickt, sondern den Menschen als Subjekt und Handelnden der Geschichte versteht, der ihr ihren Sinn verleiht. Die Sinnzuschreibung an geschichtliche Zusammenhänge ist nicht primär religiös, sondern bringt die Intentionalität menschlicher Handlungen zum Ausdruck. Das Handeln Gottes ist nicht als direkter Eingriff in die Weltgeschichte, sondern metaphorisch zu verstehen. Vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Erkenntnis erscheinen Erde und Menschheit unbedeutend. Ihnen mittels einer theologischen Kosmologie eine besondere Bedeutung zu verleihen, käme einem Rückfall in ein geozentrisches Weltbild gleich.490 Vor dem Hintergrund geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis kann die Geschichte nicht als nach einem bestimmten Schema ablaufende Heilgeschichte verstanden werden. Hirsch macht deutlich: Dem modernen Menschen liegt die neutestamentliche Vorstellungswelt, aus der heraus allein eine theologische Relevanz des Weltendes abgeleitet werden kann, fern. Historisch-kritisch muss die apokalyptische Deutung des Ergehens des Menschen demzufolge von dem wesentlichen Gehalt neutestamentlicher Aussagen unterschieden werden, dessen Maßstab das Gottesverhältnis des Einzelnen ist.

486 

WrCh, 181 f. ChR II, 107. 488  Vgl. die Kategorisierung der Argumentation Hirschs gegen eine eschatologische Kosmologie in ein neuzeittheoretisches, ein religionsphilosophisches und ein ideologiekritisches Argument bei Zerrath: Vollendung, 262–269. 489  HchR, 393–395. 490  HchR, 81–83. 487 

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Hirschs Reserviertheit gegenüber der theologischen Kosmologie ist nicht nur als Reaktion auf die moderne Ausdifferenzierung der Wissenschaften zu verstehen, sondern liegt im offenbarungs- und im schöpfungstheologischen Fokus auf das Gottesverhältnis des Einzelnen begründet. Vom Hirsch’schen Offenbarungsverständnis her ist eine Deutung der Geschichte mithilfe heilsgeschichtlicher Kategorien ebenso abzulehnen wie von der modernen Geschichtswissenschaft her. Der geschichtliche Charakter der Offenbarung gestaltet sich nicht so, dass sie an geschichtlichen Ereignissen ablesbar wäre, sondern dass sie sich immer wieder neu im persönlichen Gottesverhältnis des Einzelnen ereignet, über das allein sie vermittelt ist.491 Der Inhalt der vollkommenen Offenbarung ist nicht wie in einer heilsgeschichtlichen Konzeption durch bestimmte Ideen vordefiniert, sondern ihr muss aufgrund ihrer geheimnishaften Unverfügbarkeit der Charakter des „Unerwarteten, Neuen, Urlebendigen“492 zugeschrieben werden. Vom Hirsch’schen Schöpfungsgedanken her ist eine Weltentstehungstheorie theologisch irrelevant. Der Mensch weiß sich allein in Gott – und nicht in einem außerhalb seiner selbst liegenden Ereignis – gegründet und hat auf diese Weise Anteil an dessen schöpferischem Wesen. Er ist nicht aus „Nichts, sondern aus Gott“493. Die Vorstellung einer creatio ex nihilo lehnt Hirsch folglich ab. Dem theologischen Gedanken einer prima creatio schreibt er keine existenzielle Bedeutung zu, er kann also theologisch vernachlässigt werden.494 Das Bewusstsein der Bedingtheit allen Lebens in Gott allein – „daß das menschliche Leben mit der Gesamtheit aller seiner Bedingungen in dem Schaffen des Lebendigen seinen zugleich ewigen und gegenwärtigen Urstand hat“495 – beschreibt für Hirsch den Schöpfungsglauben im Sinne einer creatio continua adäquat. Der Fluchtpunkt dieser Bestimmungen ist darin zu sehen, dass Hirsch nicht die Welt als Gegenüber Gottes bestimmt, sondern das Leben des Einzelnen in seinen interpersonalen Beziehungen.496 Geschöpflichkeit ist streng von der personalen Beziehung her verstanden. Alles, was für die Realisierung dieser Beziehung notwendig ist, ist als deren Bedingung mit in den Schöpferglauben einbezogen.497 In den Weltbegriff wird damit folgende Differenzierung eingetragen: 491 

HchR, 81. 87. 493  ChR I, 230. 494  Zur genauen Argumentation: ChR I, 226–228.232. 495  ChR I, 227. 496 Ebd. 497  Dieser Weltbegriff, der strikt auf den Horizont der bedeutsamen Erfahrungen des Einzelnen mit seiner Welt bezogen ist, ähnelt dem phänomenologischen Weltbegriff Edmund Husserls (vgl. Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, hg. von Wal492  HchR,

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Die soziale Lebenswelt erhält eine besondere Bedeutung, insofern in ihr das Gottesverhältnis aufbricht. Der natürlichen Umwelt kann eine solche nicht in dem Maße zugeschrieben werden, sie ist Kreatur, Dasein. Sie ist zweifach mittelbar auf Gott bezogen. Einmal bricht auf erkenntnistheoretischer Ebene der Gottesgedanke als Grund und Grenze von Natur- und Geschichtswissenschaft auf. Dann ist die Umwelt auf lebensweltlicher Ebene Grundlage des menschlichen Lebens und bekommt von der Unbedingtheit desselben ihren Zweck zugeschrieben.498 Aus ihr selbst heraus muss sie also nicht notwendig erhalten werden, sondern sie wird in den Dienst der Erhaltung menschlichen Lebens gestellt.499 Den einzigen Sinn, die naturwissenschaftliche Lehre vom Weltende auf theologisches Denken zu beziehen, sieht Hirsch dementsprechend in einer „Besinnung darüber, was ein solcher Ausblick für das Verständnis des Menschseins bedeutet“500. Für die Deutung der Menschheitsgeschichte führt er zwei methodische Bedingungen ein. Zum einen ist der menschliche Blickwinkel trotz aller Transzendierungsmöglichkeiten begrenzt. Zum anderen ist eine Deutung von einem inhaltlich eingegrenzten Ganzen der Geschichte, „einem Endziel“501, her nicht möglich, weil wir dieses erkenntnismäßig nicht erreichen können – es bleibt ‚Geheimnis‘. Positivbestimmungen lassen sich aus der Faktizität des Menschseins mit Hirsch dennoch ableiten, nämlich aus dem Unterschied zwischen Mensch und Tier. Dieser besteht erstens in dem Verhältnis des Menschen zur Umwelt: Während dieses beim Tier durch den Instinkt bestimmt ist, ist der Mensch in der Lage, sich die Umwelt kognitiv zueigen zu machen, also ihrer Herr zu werden. „Die Menschheitsgeschichte hat zweifellos den Sinn, der Entfaltung menschlichen Lebens durch äußerste Steigerung dieser Fähigkeit, auch durch Naturbeherrschung aufgrund von Naturerkenntnis zu dienen.“502 Der zweite Unterschied besteht in dem für den Menschen wesentlichen ethischen Bewusstsein, das den Sinn eines sich fortwährend entwickelnden Gemeinschaftslebens stiftet. Naturerkenntnis und ethisches Bewusstsein reichen Hirsch zufolge allerdings nicht ter Biemel, Den Haag 1950 [1913], §§47–50), in diesem Sinne kann der Tod als „Weltzerfall“ gedeutet werden, mit dem der subjektive „Welthorizont zusammen[bricht]“ (Scherer: Art. Tod VIII, 634). 498  So weist Hirsch in seiner Ethik auf die Gefahr der Umweltzerstörung durch technische und wirtschaftliche Bemächtigung hin, die er mit dem Beispiel der problematischen Wirkung der Waldabholzung auf das Klima illustriert (ChR II, 271). 499 Friedrich Böbel kritisiert diese anthropozentrische Schöpfungstheologie als „Humanomonismus“ (Böbel: Gotteserkenntnis, 307). 500  ChR II, 166. 501  ChR II, 168, i. O. herv. 502 Ebd.

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aus, um die letzte Sinnfrage zu beantworten, die sich an der ihm in Wissenschaft und Ethos aufgehenden Ewigkeitsbezogenheit entzündet und nach dem Bestehen des Menschen angesichts der vergehenden Menschheitsgeschichte fragt. Eine solche Herausarbeitung des menschlichen Wesens verbleibt ja gerade in den Grenzen der Endlichkeit, über die der Mensch bestrebt ist hinauszugehen. In beiden Deutungsversuchen stehen der Mensch und seine kulturellen Erzeugnisse für den Sinn des Lebens ein. Dieser ist durch die fortbestehende Menschheit gesichert, der Tod des Einzelnen gefährdet den universalen Lebenssinn nicht. Problematisch wird es erst, wenn die Gattung Mensch selbst vom Untergang bedroht ist. An der These vom bevorstehenden Weltende wird somit deutlich: Der in der menschlichen Kondition verankerte Sinn des Lebens vermag es nicht, das Bestehen des Menschen angesichts der Vergänglichkeit zu erklären und zu vergewissern. Letztlich ist mit Hirsch nur in der Ewigkeitsbeziehung des Menschen zum Schöpfer als Urgrund und Vollender aller Dinge eine Antwort auf die Frage nach dem letzten Sinn zu finden. Indem die Vollendung des Menschen jenseits der Geschichte liegt, ist diese nicht als die Stätte der Vollendung, wohl aber als die „Stätte eines unendlichen Anfangs“503 der Vollendung zu begreifen. Das religiöse Selbstverständnis des Menschen allein also vermag die Frage nach dem letzten Sinn zu befriedigen. So hat die naturwissenschaftliche These vom Weltende bei Hirsch die Funktion, den Menschen auf den unbedingten Sinn zu verweisen, der allein in dem den Menschen erhaltenden Gottesverhältnis liegen kann. Der Gedanke vom Weltende hat – wie sich zeigen wird – auf diese Weise die gleiche Funktion für das menschliche Gottesverhältnis wie der individuelle Tod: den Menschen auf die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit von Menschheit und Welt zu verweisen, welche die Getrenntheit des irdischen Daseins von Gott vor Augen führen. Die theologische Aufgabe ist es dann, „den im Glauben an das Evangelium erschlossenen ewigen Sinn unsers Lebens gegenüber dem Rätsel von Weltall und Geschichte, dem Rätsel von der Episodenhaftigkeit und Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge zu bewähren“504.

b) Die Auferstehung des Fleisches und die Unsterblichkeit der Seele Der zweite Widerspruch der traditionellen Eschatologie liegt Hirsch zufolge in der Spannung zwischen der Auferstehung des Fleisches und der Unsterblichkeit der Seele. Beide Vorstellungen beruhen ursprünglich auf unterschiedlichen an503  504 

HchR, 91. ChR II, 169.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

thropologischen Voraussetzungen. Während der Unsterblichkeitsgedanke sich aus dem platonistischen Leib-Seele-Dualismus speist, liegt der Auferstehungsvorstellung ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde. Sie sind dennoch miteinander verbunden worden, um die Spannung zwischen individueller und universaler Eschatologie auszugleichen. Neben dieser Widersprüchlichkeit stellt Hirsch heraus, dass beide Bilder weder wesentlich christlich noch kompatibel mit dem modernen Welt- und Menschenbild sind. Dennoch schreibt er beiden einen Wert für den christlichen Glauben zu, weswegen ihr bleibender Bedeutungsgehalt theologisch ausgearbeitet werden muss. Im Gefolge von K ants Destruktion der klassischen Metaphysik505 und Humes Argumentation gegen die Unsterblichkeit der Seele506 ist die Unsterblichkeitsidee theologisch-wissenschaftlich nicht haltbar. In der Gegenwart von der Seele zu reden ist für Hirsch allein möglich in der religiösen Symbolwelt, weil biologisch und philosophisch die ‚Seele‘ als nicht denkbar erwiesen ist. Hirsch verweist auf folgende modern populäre Ersatzvorstellungen für die Unsterblichkeit, die dem Problem nicht abhelfen können: „a) Unsterblichkeit als unendliche Möglichkeit sittlicher Entwicklung; b) Auflösungsvorstellungen, Verschmelzungstheorien; c) Fortwirken durch die Folgen seiner Taten507; d) Wiedergeburt, Karma“508. Der auf Lessing zurückgehende Gedanke vom sittlichen Fortschritt des Menschengeschlechts bestimmt den Einzelnen als Durchgangspunkt für das Allgemeine, er vernachlässigt das Individuum und macht damit nicht den einzelnen Menschen, sondern lediglich eine Idee über den Menschen unsterblich. Ebenso können mystische Unsterblichkeitsvorstellungen die Individualität KrV, I.2,2 Die transzendentale Dialektik. Hume, D.: Essay II. On the Immortality of the Soul, in: Ders.: Essays on suicide and the immortality of the soul. By the late David Hume, Esq. With remarks by the editor. To which are added, two letters on suicide, from Rousseau’s Eloisa. A new edition, London 1799, 15–25. 507  Die Vorstellung vom Weiterleben in der „Erinnerung und Wertschätzung“ der Lebenden und in den eigenen prägenden „Gedanken und […] Arbeitsprodukten“ arbeitete Auguste Comte im 19. Jh. sozialphilosophisch aus. Bei ihm ist diese Vorstellung „das zentrale Mittel einer neuen sozialen Moral“ – „diejenigen, die ihr Leben nicht nach dem Grundsatz ‚vive pour autrui‘ geführt haben oder führen, sterben ganz. Ihrer wird nicht gedacht, sie erhalten kein Grabmal, sie werden zusammen mit den Hingerichteten, den Selbstmördern und den Toten aus den Duellen verscharrt.“ (Fuchs-Heinritz, W.: Die zerbrochene Vase, der zerbrochene Blumentopf. Überlegungen zur Ungleichheit der Toten im sozialen Gedächtnis, in: Becker, U./Feldmann, K./Johannsen, F. (Hgg.): Sterben und Tod in Europa. Wahrnehmungen, Deutungsmuster, Wandlungen, Neukirchen-Vluyn 1998, 128–134, hier: 132; vgl. Fuchs-Heinritz, W.: Auguste Comte: Die Toten regieren die Lebenden, in: Feldmann, K./ Fuchs-Heinritz, W. (Hgg.): Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes, Frankfurt a. M. 1995, 19–58, hier: 43–50, dort auch die entsprechenden Belege.) 508  ChR I, 278. 505 

506 

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des Menschen nicht gewährleisten. Das ‚In-Erinnerung-Bleiben‘ großer Menschen scheitert daran, dass es an die Geschichte gebunden bleibt, dass es nur eine durch die menschliche Erinnerungsfähigkeit „[b]egrenzte Unsterblichkeit“509 vermittelt. Die Vorstellung, dass ein „geistiger Teil“ des Menschen fortlebt, überfrachtet Hirsch zufolge außerdem das geistige Vermögen der meisten Menschen, sie wären einer unvollständigen Existenz ausgesetzt, ihre unsterbliche Zukunft käme „einem Dasein im Schattenreich oder einer Auflösung“510 gleich. Die Problematik der Reinkarnationslehre wird, so Hirsch, am besten durch die buddhistische Kritik offengelegt: Das Ziel des Menschen kann es nicht sein, sich immer wieder neu unter den Bedingungen endlicher Existenz zu finden, sondern er möchte aus seinen Bindungen befreit werden.511 Der mit der Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele einhergehende Gedanke, dass der Mensch mit dem Ewigen in der Form verbunden ist, dass ihm vollkommene Erkenntnis ermöglicht wird, kann unter den endlichen Bedingungen der Vernunft nicht gegeben sein. Selbst wenn man diese Form von Gottesverbindung über den Glauben bestimmen würde, würde ein wesentliches Element des Glaubens verloren gehen: Das „Gotterleben“512 ist nur lebendig in dem Gegensatz von Endlichkeit und Ewigkeit, zwischen Kreatürlichkeit und Personhaftigkeit, von Unheiligkeit und Heiligkeit. Die Ersatzbildungen für den Unsterblichkeitsgedanken scheitern daran, dass sie entweder nicht an der ewigen Bestimmung des individuellen, personhaften Menschen festhalten können oder dass sie die notwendigen Bedingungen menschlich-endlichen Erkennens und Glaubens vernachlässigen. Die Selbstverständlichkeit der Unsterblichkeit ist, so Hirsch, unter modernen Bedingungen abgelöst worden durch das Nichtwissen angesichts des Todes.513 Positiv wertet Hirsch zwei Momente an der Unsterblichkeitsidee. Zum einen ist sie der „Geistigkeit und Innerlichkeit des Gottesverhältnisses mehr gemäß“514 als die Auferstehungsvorstellung, betont also die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott und deren Bedeutung auch für seine Vollendung. Zum anderen vermag sie die Ewigkeitsdimension des endlichen Menschen herauszustellen.515 509  ChR 510 Ebd.

II, 111.

511 Ebd.

512 Ebd. 513 

ChR I, 278 f. ChR II, 108. 515  ChR II, 111. Vgl. Was ich Kierkegaard verdanke, in: KS 3, 168–185, hier: 170: „Die theologische Modemeinung […] in den letzten vierzig Jahren ist gewesen, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist abzutun. Es gibt nur noch den eschatologischen Wunderglauben – ja, an die Auferstehung. Gegensatz Kierkegaard, mir unverlöschlich eingebrannt: Wenn es kein ewiges Bewußtsein im Menschen gibt, also wohlgemerkt im Menschen als Menschen, 514 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Wie gezeigt,516 nimmt Hirsch den Seelenbegriff als Bezeichnung der Dimension des Menschen, in der er sich selbst vor Gott vernimmt, auf. Hier wird deutlich, dass der von ihm synonym verwendete Folgebegriff des Herzens Fehldeutungen theologischer Sprache Vorschub leisten soll. Um die Durchdringung von Endlichkeit und Ewigkeit im Menschen zu plausibilisieren, nutzt Hirsch den Gewissensbegriff. Dieser ist durch die sich gegenseitig korrigierenden Dimensionen des Herzens und der Vernunft näher beschrieben. Diese bringen unter endlichen Bedingungen zugleich den für das Gottesverhältnis konstitutiven Gegensatz von Endlichkeit und Ewigkeit im Menschen zum Ausdruck. Indem weder das menschliche Gewissen auf eine der Dimensionen reduzierbar ist, noch seine Dimensionen als voneinander abgespaltene – sondern immer zusammenwirkende – Teile des Menschen verstanden werden können, kann das Herz (die Seele) bei Hirsch nicht als statisch-ewiger Kern des Menschen verstanden werden, der im Eschaton von seiner endlichen Hülle befreit wird. Die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung am Ende der Tage ordnet Hirsch in den Bereich des Mythos ein.517 Positiv hält er an dem Auferstehungsmythos zwei Momente fest: Er ist zum einen im Gegensatz zu alten und neueren Gedankenbildungen um die Unsterblichkeitsidee „kein Denkversuch“518, sondern entspringt aus dem Bewusstsein „was Gott Macht hat, zu tun“519. Zum anderen integriert er im Gegensatz zur Unsterblichkeitsvorstellung den Gedanken von der Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens.520 Durch verschiedene religionsphänomenologische und -philosophische Abgrenzungen macht Hirsch deutlich, was seiner Meinung nach das genuin christlich-jesuanische Verständnis der Auferstehungsvorstellung ist. Die Auferstehungsvorstellung trifft keine Aussagen über das Leben nach dem Tod, sondern eine Aussage über Gott: Gott ist mächtig, den Menschen über den Tod hinaus lebendig zu machen.521 Gleichso ist das Leben ohne Sinn. […] Wer nicht in sich eine reich entwickelte, ideale Menschlichkeit hat und wer nicht von ihr her mit Vollmacht den Weg zum Glauben und zum Christlichen geht, der ist ein Jämmerling und Kümmerling und eine Blamage für die Firma ‚Christentum und Kirche‘!“ Es kann m. E. nicht eindeutig festgestellt werden, ob Hirsch neben der Würdigung des Unsterblichkeitsgedankens für die Aufklärung über das mit einer Ewigkeitsdimension ausgezeichnete menschliche Wesen diesen auch im Sinne des Aufzeigens eines Kontinuitätsmoments zwischen endlichem und ewigem Menschen nutzbar machen will – wie in der neueren Diskussion zuweilen vorgeschlagen wird (z. B. bei Christe, W.: „Unsterblichkeit der Seele“. Versuch einer evangelisch-theologischen Rehabilitierung, in: NZSTh 54/3 (2012), 262–284). 516  S. o., Exkurs: Die Ablösung der Seelen- durch die Herzensmetapher, 56 f. 517  Vgl. zur exegetischen Ableitung dieser These Ag, 27–94. 518  ChR II, 110. 519  ChR II, 111. 520 Ebd. 521  ChR II, 110 f. Der Verweis darauf, dass nach Hirschs Ansicht die Auferstehungsvor-

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zeitig drückt sie die Hoffnung aus, „daß Gott [dem Menschen] ein ganzes Leben gibt, das doch nicht dieser Erde angehört“522 – im ewigen Leben, obwohl es nicht im Sinne des irdischen Leben verstanden werden kann, wird der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit nicht beschnitten sein. Die Tendenz, dieses wesentliche Verständnis zu transportieren, sieht Hirsch in dem neueren Gedanken der „Auferweckung der Person“523, der als Versuch, die Ganzheitlichkeit des Menschen und das Handeln Gottes am Menschen herauszustellen und der gleichzeitig nicht von der Auferstehung des Leibes redet, zu würdigen ist. Allerdings hat diese Gedankenbildung Hirsch zufolge gerade wegen des Verzichts auf die Leiblichkeit nichts mit dem traditionellen Auferstehungsmythos zu tun.524 Hirsch äußert sich an dieser Stelle gegen eine leibhafte Vorstellung neuen, personhaften, vollendeten Lebens, das ist „ein Falschspiel, das die Worte mißbraucht“525. Er reduziert offensichtlich den Leibbegriff auf seinen rein biologischen Gebrauch – ‚Leib‘ ist die naturwissenschaftliche Kategorie zur Beschreibung des Organisch-Vergänglichen. In diesem Sinne kann der Leibbegriff nicht eschatologisch verwertet werden. Der theologisch-philosophische Gebrauch ist für Hirsch zudem immer vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Dualismus zu lesen. Der Leibbegriff muss also im theologisch-wissenschaftlichen Gebrauch als Relikt vergangener Zeiten hinter sich gelassen werden und existiert allein als stellung im Gegensatz zum Unsterblichkeitsgedanken die Sterblichkeit des Menschen betone (so Zerrath: Vollendung, 170) ist charmant, weil er die antinomische Verfasstheit des Menschen zugleich als Sterblicher und als zur Ewigkeit Bestimmter abbildet. Allerdings ist an dieser Stelle m. E. Vorsicht dabei geboten, die direkte Kritik am Unsterblichkeitsgedanken indirekt auf die Vorteile der Auferstehungsvorstellung zu beziehen. Hier geht es Hirsch wohl eher um die Gegenüberstellung „Denkversuch“ – ‚Gottesbild im Glauben‘. M. E. will Hirsch die Auferstehungsvorstellung gegenüber dem Unsterblichkeitsgedanken nicht übermäßig profilieren, sondern er stellt beide in ihrer Bedeutung eher auf eine Stufe. 522  ChR II, 111. 523  ChR II, 112. Vgl. die Formulierung dieses Gedankens bei A lthaus, P.: Art. Auferstehung VI. Dogmatisch, in: RGG I, Tübingen 3 1957, 696–698. 524  ChR II, 112. 525  Ebd. Diese Anmerkung ist wohl als Reaktion auf Paul A lthaus zu verstehen. Dieser verbindet den Gedanken der Auferweckung der Person mit dem einer „neuen Leiblichkeit“: „Totaliter aliter, völlige Andersheit – das gilt auch von dem seelischen Sein. Und doch Selbigkeit der ‚Person‘. Ich, dieser jetzige Mensch, werde von Gott aus dem Tode ins Leben gerufen; ich, nicht ein anderer. Mit diesem meinem Ich will Gott […] bis in Ewigkeit und unsterblicher Weise reden. Das bedeutet Zusammenhang, Kontinuität von Gott her: er handelt mit mir in der Einheit und Eigenheit einer Geschichte, die hier begonnen und dort vollendet wird; nicht in der organischen Einheit einer Entwicklung von hier nach dort, sondern in der personhaften Einheit einer Geschichte. […] Das Ich, das Gott auferweckt, bin ich in der Ganzheit und Leibhaftigkeit meines Seins […].“ (A lthaus, P.: Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh 51949, 119 f.) Die sog. „neue Leiblichkeit“ setzt A lthaus als Bedingung für die Intersubjektivität und gegenseitige Anerkennung der Individualität (a. a. O., 122–140).

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„Bildwort[ ]“526 der religiösen Alltagssprache weiter, das theologisch entsprechend gedeutet werden muss. Die Figur, die Hirsch stattdessen vorschlägt, ist, wie gezeigt, die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen – der Mensch vor Gott und bei sich selbst und der Mensch vor anderen Menschen, die „Doppelbeziehung des Gewissens“527. Am Umgang mit der Auferstehungs- und der Unsterblichkeitsvorstellung wird – wie auch im Folgenden – deutlich, dass es Hirsch nicht daran liegt, mit antimythologischem Pathos alle Bilder einseitig auszusondern, sondern lediglich ihre Uneigentlichkeit herauszustellen und sie auf ihre weiterhin tragbare Aussageintention hin zu beleuchten.528 – Hier ergänzen sich zum Beispiel beide Vorstellungen, indem sie zugleich die Ganzheitlichkeit des Menschen (Auferstehung) und die Innerlichkeit seiner Gottesbeziehung (Unsterblichkeit), die Anteilhabe des endlichen Menschen an der Ewigkeit (Unsterblichkeit) und seine Abhängigkeit von Gottes Wirken (Auferstehung) herauskehren. Der Mensch geht in dem, was von ihm sichtbar ist, nicht auf. Er hat innerlich Anteil an der Ewigkeit. Seine Innerlichkeit ist aber nicht ohne ihre äußerliche Vermitteltheit zu denken; der Mensch ist eine leibseelische Einheit, sein ewiger Wesenskern kann nicht durch ein Subtraktionsverfahren gewonnen werden. Gleichermaßen spricht die mit der Auferstehungsvorstellung verbundene Ansicht, dass die Person allein in Gott ihren Grund hat, gegen eine substantialistische Vorstellung des ewigen Wesens des Menschen, die traditionell mit dem Unsterblichkeitsgedanken einhergeht.

3.B  Die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion des Gerichtsgedankens Das Lehrstück vom Jüngsten Gericht, das traditionell verbunden ist mit der Frage nach seinem Ausgang und dessen Maßstab, hält Hirsch für äußerst widersprüchlich, er will den Gerichtsgedanken aber nicht gänzlich hinter sich lassen. Dass er ihn produktiv aufnimmt, begründet er einerseits mit dem antinomi526 

ChR I, 284; i. O. herv. ChR I, 285. S. o., 55. 528  Das sieht auch Martin Zerrath, der die „rhetorische[ ] Radikalität“ der Zeitdiagnose Hirschs und der damit verbundenen Konsequenzen der eher „behutsame[n] Umdeutung“ des traditionellen Materials gegenüberstellt (Zerrath: Vollendung, 154 f.). Der Vorwurf, die theologische Argumentation Hirschs leide – statt sich dem Programm einer Umformung zu verpflichten – unter „Substanzverlust“ (so die Kritik von Paul A lthaus an Hirsch, besonders im Blick auf seine Oster-Theologie [A lthaus, P.: Die Wahrheit des kirchlichen Osterglaubens, Gütersloh 1940, 5]), ist damit nicht nachvollziehbar. 527 

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schen Gottesbild – Gott ist zugleich Liebe und Zorn529 –, andererseits mit der ethischen Dimension, unter der sich der Christenmensch im Gegenüber Gottes notwendig befindet. Ein in dem Sinne als barmherzig bestimmter Gott, dass er nicht über den Menschen urteilt, kann Hirsch zufolge das Moment des Schuldbewusstseins des unheiligen Menschen gegenüber Gottes Heiligkeit nicht einschließen und macht den Glauben an Gottes Gnade obsolet.530 Hirsch übt indes an verschiedenen Stellen theologische Kritik an einem unangemessenen Bild von einem Gott der Vergeltung.531 In einem solchen Gerichtsgedanken sieht Hirsch „menschliche[n] Parteigeist“, der mit der Vorstellung einer „göttlichen vergeltenden Gerechtigkeit“ verbunden ist und auf dem „menschliche[n] Trieb nach Rache und Vergeltung“ beruht.532 Weil aber die religionsgeschichtliche Entwicklung zu einer starken Präsenz des Gedankens vom doppelten Ausgang in der Eschatologie und dessen Verbindung mit der Christusfigur geführt hat – Christus als Weltenrichter –, muss die Vorstellung vom Jüngsten Gericht auf ihren wesentlichen Gehalt hin durchleuchtet werden. Hirsch argumentiert über die theologische Kritik hinaus damit, dass der traditionelle Gerichtsgedanke in seiner Zeit an Plausibilität verloren hat. Dies ist erstens auf die allgemeine Lage der eschatologischen Aussagemöglichkeiten zurückzuführen.533 Zweitens hat durch die Ferne des Weltendes für den Einzelnen und die Irrelevanz desselben für die Theologie die Rede vom Jüngsten Gericht eine ihrer wesentlichen Funktionen verloren, nämlich den „Bußernst zu

529 

S. o., 2.B.c, 101 ff. nun diese beiden Seiten [die Bilder vom richtenden und barmherzigen Gott, A.‑M. K.] an Paulus ein Widerspruch? Soll man sie erklären als Zwiespalt zwischen einer sich in eigenem Sinn und Erleben gründenden Menschlichkeit und Resten uralten Gottesgrauens, das dazu nicht paßt? Viele, ich weiß es, urteilen so. Ich vermag es nicht. Für mich gehört beides unlöslich zusammen. Das Menschenherz, wo es sich selbst überlassen, mit sich selber allein ist, scheint mir eines lauteren strengen Gewissensernstes nicht recht fähig.“ (Zw, 88). Vgl. a. a. O., 89. 531  So kritisiert Hirsch in GG eine rationalistische („humane“) Fassung des Gerichtsgedankens, bei dem das Gericht zudem dem Wesenskern des Menschen äußerlich bleibt, der also weder theo-logisch noch anthropologisch angemessen ist (GG, 105). Im gleichen Sinne argumentiert er auch mit dem Beispiel der Geschichte des reichen Mannes und des armen Lazarus, hinter der das unangemessene Bild vom vergeltenden Gott liegt (HchR, 297–299): „Gott in seinem Geheimnis macht sich uns erst da gegenwärtig, wo er die inwendige Stimme, die leise und sanfte, in uns wird und uns damit wahrhaft ins Menschsein ruft. Dieser wahrhaft ewige Gott aber, der so tut, ist nicht Gesetz und Vergeltung, sondern schaffende heilige Liebe, deren innerliche Unerbittlichkeit nur ihre wesenhafte Selbstbezeugung ist und mit Gerechtigkeit und Vergeltung nichts zu tun hat.“ (A. a. O., 303.) 532  HchR, 298. 533  Zw, 85. 530  „Sind

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erwecken“534. Drittens ist der „Glaube[ ] an eine ewige Verdammnis“535 anstößig geworden.536 Letzterem Problem wird Hirsch zufolge mit verschiedenen theologischen Ersatzkonzepten begegnet: (a) die römisch-katholische Fegefeuerlehre, (b) die evangelische Tendenz zur Lehre von der ἀποκατάστασις πάντων, (c) die quasi-religiöse moderne Attraktivität der mit dem Gedanken des persönlichen Fortschritts verbundene Reinkarnationslehre, (d) der Gedanke, dass die Menschen ohne Gottesbeziehung im Tod ohne ein spezielles Gericht einfach vergehen. Hirsch beurteilt sowohl vor dem Hintergrund seiner theologischen Kritik am traditionellen Gerichtsgedanken als auch angesichts der fehlenden gegenwärtigen Plausibilität desselben den Versuch der unreflektierten Rückkehr zu den traditionellen Objektivationen als „[a]ussichtslos“537. Er steht allerdings auch den Ersatzbildungen kritisch gegenüber und bezeichnet sie als „einen gärenden Vorstellungsbrei, in welchem Willkür und Zweifel und ethisch-religiöse Restgefühle einen unschmackhaften Mischmasch anrichten“538. Die Fegefeuerlehre kritisiert er als für den wesentlich christlichen Glauben ungangbar.539 Die abendländische Form der Reinkarnationslehre entlarvt er als Verweichlichung der eigentlichen Intention der Karmalehre, die auf die Erlösung aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt und nicht auf ein immer besseres irdisches Leben 534 

HchR, 395. Zw, 85. 536  In seinem frühen Aufsatz GG arbeitet Hirsch hingegen den Gedanken der ewigen Verdammnis noch in den Gerichtsgedanken mit ein (GG, 123–127). Hier differenziert Hirsch den Gerichtsgedanken in zwei Richtungen, einmal vom Resultat auf der Seite der Person her gesehen (Verdammnis oder ewiges Leben) und zum anderen von der Beschaffenheit der Gottesbeziehung her gesehen (Trennung oder auf Gemeinschaft zielend). Beide Arten des Gerichts müssen hier zusammengedacht werden, um zur christlichen Form des Gerichtsgedankens zu gelangen. Hirsch bestimmt den Gedanken der Verdammnis als notwendige Folge eines allein sich „selbstzwecklich“ vollendenden Gerichts. Mit diesem Begriff soll die Unwiderruflichkeit des Urteils Gottes über die der Sünde verfallenen Person zum Ausdruck gebracht werden. Ohne eine von der Person ausgehende neue Bewegung ist sie der ewigen Kreisbewegung des Sündig-Seins, also auch der Gerichtserfahrung, verfallen, weil kein Mensch (außer Jesus) es vermag, ganz Glaube zu sein. Hirsch bezeichnet diese Erfahrung an selber Stelle als „Abstoßungsgericht“, das als solches in die ewige Verdammnis führt. Die neue Bewegung wird allein ermöglicht durch die göttliche Vergebung, die vorlaufende Gnade, die in der „werkzeuglichen“ Vollendung des Gerichts resultiert, in der Erfahrung eines „Anziehungsgerichts“. Letztere zielt auf die Gemeinschaft mit Gott. Die menschliche Angst vor der Verdammnis, die Hirsch schwerpunktmäßig der ersten Form des Gerichts zuordnet, bleibt auch in der zweiten Form noch präsent, sie ist „in jeder Gerichtserfahrung, die sich versteht, notwendig wirksam“ (124). 537  Zw, 86. 538 Ebd. 539  WrCh, 163–170. 535 

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zielt.540 Die Apokatastasislehre hält er dagegen zwar nicht als Lehre, aber als Glaubensgedanken für möglich und sinnvoll; dazu in Spannung steht seine Argumentation für das ‚einfache Vergehen‘ derjenigen ohne Gottesbeziehung.541 Beide Konzepte gehen zudem über Hirschs Selbstbegrenzung hinaus, die hier als Grundtenor seiner Transformation des traditionellen Gerichtsgedankens verstanden wird. Zusammengefasst liegt die Grenze theologischer Aussagen über ewige Seligkeit und ewige Verdammnis für Hirsch in folgender Aussage: „Der Gedanke, daß Gott einem jeden von uns das Entweder-Oder zum Schicksal macht, daß dem Begriffspaar Leben aus Gott und Glaube unentrinnlich das andre Unglaube und Sterben an Gott zur Seite geht, muß und soll uns der letzte sein, den wir hier haben. Darüber hinaus sollen und dürfen wir nichts denken und sagen. Einzig das Entweder-Oder, das wir über uns selbst hängen sehen und das seltsamerweise das uns zur Person Machende ist, geht uns an.“542

Angemessen reagiert die Theologie auf die fehlende Plausibilität des Gerichtsgedankens Hirsch zufolge, indem sie ihn subjektivitätstheoretisch auf eine solche Weise neu formuliert, dass der Wahrheitsgehalt der traditionellen Gerichtsvorstellung zum Tragen kommt.543 So besitzt für Hirsch die Vorstellung von Jesus als Weltenrichter, wie sie in der für den traditionellen Gerichtsgedanken zentralen Bibelstelle Mt 2531–46 transportiert wird, im Kern folgende Wahrheit: „a) daß von Gott geschieden sein in sich selber Gericht im Verhältnis zum Ewigen ist; b) daß Jesu Wort und Geschichte als Träger des Evangeliums die Macht haben, Geschiedensein von Gott uns zu enthüllen, wenn wir uns wider sie verschließen (als wider sie verschlossen uns finden).“544

540  ChR

II, 111. Ausführlich werden diese im Blick auf den Zusammenhang zwischen Tod und Sünde diskutiert, s. u., 6.C, 242 ff. (dort finden sich auch die entsprechenden Belege). 542  WrCh, 185. 543  Zw, 86 f. 544  ChR I, 88. Dementsprechend ist Folkhart Wittekind zuzustimmen, wenn er das Gericht bei Hirsch als „Getroffenwerden des Einzelnen von der Verkündigung Jesu“ definiert. Dass der Einzelne dieser „zustimmen“ oder sie „ablehnen“ kann und mittels seiner Entscheidung den doppelten Ausgang des Gerichts heraufführt, ist aber m. E. nur bedingt sachgemäß (Wittekind: Tod, 145). Zwar weist Hirsch, wenn er auf die Möglichkeit des Vergehens der Gottlosen im Tod zu sprechen kommt, einen relativ starken Begriff endlicher Freiheit auf (s. u., 6.C.a, 243 ff.), der aber im Verlauf seiner Argumentation immer wieder zurückgenommen bzw. in seiner Spannung zur göttlichen Allwirksamkeit stehen gelassen wird, so auch an zitierter Stelle, an der er die Möglichkeit einer aktiven und einer nicht selbst gewirkten Verschlossenheit nebeneinander stellt. Wittekinds Fokussierung des Gerichtsgedankens auf die Entscheidung ist zudem m. E. eine intellektualistische Engführung, die die von Hirsch mit der – zuweilen lähmenden und gerade nicht entscheidungsfähigen – Angst thematisierte Gefühlsdimension außer Acht lässt. 541 

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Mit dieser Aussage hält Hirsch die wesentlichen Elemente seines transformierten, personalen Gerichtsgedankens fest, der die interpersonale Dimension mit einschließt bzw. in ihr schon angelegt ist. Das Gericht wird mit der Gesetzesoffenbarung vollzogen. Es ist als solche „das den Menschen im sich Vernehmen vor Gott mit der Gewalt des ausschließenden Nein erschütternde göttliche Wort, das ihm die Entzweiung mit Gott in der Schuld zum Lebensstande macht“545. Es ist die Erfahrung der scheinbar unüberbrückbaren Trennung des Menschen von Gott, die mit dem Selbstverständnis eines an Gott schuldig Gewordenen einhergeht. Die Gerichtserfahrung ist unmittelbar auf das Gottesverhältnis des Einzelnen bezogen und bleibt der Person nicht äußerlich, sondern dominiert ihr Leben. Die Alternative von Gericht nach Glauben oder Gericht nach Werken – bzw. Gesinnung und Handlung – lehnt Hirsch ab, weil diese gegen die Ganzheitlichkeit und Einheit der Person spricht: „Ich kenne nur ein Gericht, das nach der Person.“546 Das Gericht ist nicht ein äußerliches dem Leben gegenüberstehendes und es bewertendes Ereignis, sondern die Lebenserfahrung der Gottgeschiedenheit selbst ist das Gericht. Existenzanalytisch ist die Getrenntheit von Gott, die im Gericht erfahren und offengelegt wird, die Tiefendimension der interpersonalen Verschlossenheit. Dieses Phänomen bietet zugleich einen Anknüpfungspunkt für den Gerichtsgedanken in Form der Religiosität des modernen Menschen, dessen Erfahrung nicht die Trennung von Gott ist, sondern der sich eher fragt, ob Gott überhaupt existiert. Die Gerichtserfahrung ist phänomenologisch als die „Verschlossenheit und Härte im letzten Verhältnis zum anderen“ gefasst.547 Diese wird religiös 545 

ChR II, 35. 110. 547  ChR II, 37. Dieser Gedanke ist als eine Weiterentwicklung der Ausführungen über das „Lebensgericht“ in GG (112–115) zu betrachten. Jenes ist in GG näherbestimmt als die allgemeine Erfahrung von Schicksal und der gleichsam kausalen Sanktion ethisch verwerflicher Handlungen, durch die die Schuld des Menschen schicksalhaft auf ihn selbst zurückfällt. Aus ihr leitet sich der allgemeine Gedanke ab, „daß eine Macht über uns steht […], daß eine Nemesis unser Tun und Geschick in eine Handlung webt“ (a. a. O., 113). Aus der Perspektive des Glaubens hat diese allgemeine Erfahrung zwei Bedeutungen: Zum einen verweist sie darauf, dass das ganze Leben Ort des Gottesverhältnisses ist. Zum anderen setzt der Glaube dem allgemeinen Maßstab, der die ethische Qualität einer Handlung nach deren Ergebnis bemisst und die Person von ihrem äußerlich messbaren Erfolg her charakterisiert, den der „schöpferische[n] Liebe“ entgegen, der den Zusammenhang von Person und Werk so wahrt, dass sie letzteres nicht von ersterer loslöst, sondern die Besonderheit des Einzelnen wahrnimmt, indem sie konsequent beide Größen zusammendenkt (a. a. O., 114). Damit „behält das Lebensgericht“ aus der Perspektive des Glaubens „eine gewisse geheimnisvolle Undurchdringlichkeit“ (ebd.), es muss vom einzelnen Gewissen als dessen persönliche Gotteserfahrung gedeutet werden. Dementsprechend ist das Lebensgericht schwerlich als „objektives Gericht“ oder „objektives Strafverhängnis“ zu bezeichnen (gegen Etzelmüller: …zu richten, 17 f.). Hirsch 546  GG,

3  Die theologische Transformation der Eschatologie

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folgendermaßen gedeutet: Die Verantwortung gegenüber dem Anderen, die dem Menschen als sein Soll aufgegeben ist, scheint unerfüllbar, weil sie einerseits an der Unzugänglichkeit des Anderen, andererseits an dem eigenen Drang der Selbstbehauptung gegenüber dem Anderen scheitert. Das Schuldbewusstsein ist hier nicht unmittelbar auf Gott bezogen, sondern hat sein Gegenüber im Mitmenschen. Die existenzanalytische Beschreibung der Gerichtserfahrung knüpft an die neue Gestalt von erlittener Buße548 – die Trennung der Menschen voneinander – an. Somit fängt Hirsch eine traditionell wesentliche Funktion des Gerichtsgedankens auf eine der Moderne angemessene Art und Weise wieder ein: Dem Menschen geht an seinem Verhältnis zum Anderen – stellt er dieses in die Unbedingtheitsdimension – auf, dass er schuldig ist bzw. sich schuldig macht. Fragt er nach dem tieferen Grund seines Schuldgefühls, erkennt der Mensch sich darin als schuldig vor Gott und deutet diese Erfahrung als Gericht Gottes: Er kann Gottes Ruf in die Verantwortung nicht erfüllen, er widerspricht in seinem Wesen der Heiligkeit Gottes. Die Stärke des Gleichnisses vom Weltgericht sieht Hirsch darin, dass es genau diese Verbindung des Schuldigwerdens vor Gott und Mensch – positiv gewendet: die Verbindung zwischen Gottes- und Nächstenliebe – leistet.549 Der ‚Richtspruch‘ ergeht an den Menschen in Form des Neins zur Selbstbehauptung und zur Selbstermächtigung, das ihn auf die einzig angemessene Form der Selbsterkenntnis vor Gott verweist, sich vor Gott als Schuldiger, der sich nicht in sich selbst gründen kann, zu wissen.550 Das menschliche Schuldbewusstsein ist selbst das Gericht, nicht eine Strafe, die darauf folgt.551 Die Außenperspektive hat dieses Bewusstsein, indem es sich vom Schuldigwerden am Anderen herleitet. Der gerichtliche Schiedspruch ist also mit einbegriffen, indem das in ein Selbsturteil überführte Fremdurteil als Auslöser der Erfahrung angenommen wird. Der Erlebnisgehalt der Gerichtserfahrung in ihrer potenzierten Form ist das Gefühl der Angst. So wie der Glaube für Hirsch schon Seligkeit ist552 , so ist auch geht es mit dem Begriff des Lebensgerichts m. E. nicht darum, den Gedanken des inneren Gewissensgerichts gegen den Imaginations- bzw. Projektionsvorwurf abzusichern – er bezeichnet auch die Deutung des Lebensgerichts als „das Imaginäre“ (GG, 116) –, sondern plausibel zu machen, dass der Glaube eine Totalitätsbestimmung ist, dass der Mensch es in seinem ganzen Leben mit Gott zu tun hat und umgekehrt: dass der Glaube in der allgemein-menschlichen Erfahrung angelegt ist und ihr nicht als etwas völlig Fremdes gegenübertritt. 548  S. o., 111. 549  GG, 94. 550 Vgl. Barth: Die Christologie, 599 f. 551  Vgl. WGJ, 102. 552  S. u., 146.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

die Angst, die durch die „Erschütterung der in sich ruhenden Selbstsicherheit“553 oder der „Selbstverfangenheit“554 im gesetzhaften Vernehmen Gottes hervorgerufen wird, Gerichtserfahrung im Diesseits. Hirsch bezeichnet diese auch als gegenwärtiges Fegefeuer555 bzw. als gegenwärtige Hölle556 und greift damit die traditionell mit einer jenseitigen Gerichtsvorstellung verbundenen Termini umdeutend auf. Über die Verankerung dieser Erlebnisdimension in der Gottesbeziehung rückt der Gerichtsgedanke in das Gottesbild hinein: Gott wird dem Menschen selber zu „Himmel und Hölle: das eine in seiner sich erschließenden Liebe, das andre in der Unkenntlichkeit seines heiligen Zorns“557. Gott wird mit dem Gericht als der Zornige erfahren, der zu dem Bild des liebenden Gottes in einem ausschließenden Gegensatz zu stehen scheint. Damit ist die eine Seite von Hirschs Definition – Gericht als von Gott Geschiedensein – bestimmt.558 Die andere Seite – die Enthüllung dieses Geschiedenseins durch das Evangelium – kommt in der Doppelbewegung von Gericht und Gnade zum Tragen, ohne die das Gericht gar nicht als solches verstanden werden kann. So wie Gesetz und Evangelium dialektisch aufeinander bezogen sind, so sind es bei Hirsch auch Gericht und Gnade. Die Trennung von Gott, in die der Mensch durch die Gerichtserfahrung vertieft wird, wird damit offengelegt als die Wahrheit menschlichen Gottesverhältnisses. Die versöhnende Gnade bestätigt diese Getrenntheit, ermöglicht aber ein Leben in der Unterschiedenheit, indem sie Frieden mit Gott trotz der Getrenntheit schenkt.559 Sie ist das „annehmende[ ] Ja“, 553  WrCh,

168. Zw, 150. 555  WrCh, 168; Zw, 131. 556  Zw, 81. 557  WrCh, 168. Diese Bestimmung ist wie alle anderen Gottesbilder antinomisch zu verstehen und nicht als Dualismus misszuinterpretieren. Streng genommen vermittelt dieses Gottesbild nicht die Alternative zwischen „Himmel oder Hölle“ (so die Interpretation und Kritik von Janowski: Allerlösung, 208.211), sondern ein stetiges Zugleich von Himmel und Hölle. Dass es mit Hirsch selbst zuweilen nicht einfach ist, diese Spannungseinheit aufrecht zu erhalten, wird an seinem Gedanken der annihilatio der Gottlosen deutlich (s. u., 6.C.b., 249 ff.; vgl. Janowski: Allerlösung, 208–213). 558 In GG als „Abstoßungsgericht“ bezeichnet (GG, 120). 559  In dieser Form der Bestätigung könnte man den von Hirsch früher entwickelten Gedanken des „Anziehungsgerichts“ (a. a. O., 120) wiederfinden. Hier ist er offensichtlich stärker als später darum bemüht, den Gedanken von Gottes Gericht und den von Gottes Gnade auseinanderzuhalten, wodurch in der Tat der Eindruck entstehen kann, dass das Gericht hauptsächlich in „seiner destruktiven Kraft“ gedacht wird und die Gnade als „etwas Neues gegenüber dem Gericht“ entfaltet wird (Etzelmüller: ...zu richten, 26). Das einzige Moment, das hier für Hirsch von der Gerichtserfahrung aus auf die Gnade verweisen könnte, ist die Erfahrung der Bedingtheit durch Gott, die ein Moment der „Gemeinschaft mit Gott im Elemente der Geschiedenheit“ ist (GG, 108). Hieran fällt auf, dass Hirsch die dialektische Bezogenheit beider einander widersprechenden Seiten der Antinomie in der ChR und Folgeschrif554 

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das vergebende, „aufrichtende göttliche Wort“,560 das Evangelium, das die Existenz so zu bestimmen vermag, dass das eigene Leben in Gott gegründet ist. In der Verschlossenheits- und Entfremdungserfahrung des Gerichts liegt damit immer die Möglichkeit der Erschlossenheit und Selbstdurchsichtigkeit vor Gott. Die Verbindung des Glaubens an das Gericht Gottes mit dem Glauben an die Gnade Gottes macht Hirsch zufolge das Eigentümliche der urchristlichen Gerichtsvorstellung aus, das als deren eigentliches Wesen verstanden werden muss.561 Im Bild von Jesus als Weltenrichter liegt die positive Seite der Sache: Jesus ist der Offenbarer der Liebe Gottes, „welche den Sünder durchs Gericht hindurchträgt auf verborgene Vollendung zu“562. Damit ist Jesus zugleich der Versöhner, der dem Menschen den Frieden mit Gott ermöglicht.563 Analog zum Offenbarungsgedanken sieht Hirsch Phänomene „gestückter“ Versöhnung außerhalb des christlichen Glaubens: Glück, menschliche Zuwendung und Möglichkeiten der eigenen Bearbeitung von Negativerfahrungen können als „Zeichen der göttlichen Güte“564 gelesen werden. Diese Lesarten von Versöhnung sind zwar von der Idee getragen, dass Gott Liebe ist, jedoch erscheinen sie insofern problematisch, als sie diese an einzelnen Liebeserweisen festmachen, Gottes unverfügbare Liebe also an den Tun-Ergehens-Zusammenhang koppeln wollen. Indem sie zudem die ganzheitliche Perspektive auf das Leben vernachlässigen, vermögen sie es im Gegensatz zur vollendeten Versöhnung nur punktuell wirksam und nicht existenzbestimmend zu sein.565 Den Beweis dafür sieht Hirsch darin, dass außerhalb des christlichen Glaubens auf der Ebene der Religion mittels „Sühne- und Opferhandlungen“566 der Segen Gottes gesichert werden soll und dass im nicht-religiösen Selbstverständnis die Tendenz gegeben ist, sich ideologisch verblenden zu lassen oder sich in „Geschäftigkeit“ zu flüchten567, um über die Rätselhaftigkeit des Lebens nicht weiter nachdenken zu müssen. Damit nagelt der Mensch Gott entweder einseitig auf die Eigenschaft seines vergeltenden Zorns fest oder er bricht das Gottesverhältnis ab. Für den ersten Typus Mensch bleibt die Angst explizit gegenüber Gott bestehen, für den zweiten Typus besetzt die Angst zusammen mit der Gier nach ten stärker ausarbeitet und damit das Gericht in seiner Zielrichtung als ein Zugleich des Nein und Ja Gottes zum Menschen, als zurechtbringende Krisis, versteht. 560  ChR II, 35. 561  HchR, 299 f. 562  HchR., 300. 563  Ausführlich zum Versöhnungsgeschehen s. u., 7.A.c, 280 ff. 564  ChR II, 30. 565 Ebd. 566 Ebd. 567  ChR II, 31.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Selbsterhaltung das Verhältnis zum Nächsten.568 Letzterer kann der Gesetzeserfahrung nämlich durch den Abbruch des Gottesverhältnisses nicht entfliehen, sondern indem er die Lebensbetrachtung rationalisiert, wird ihm dessen Gesetzhaftigkeit erst recht ansichtig.569 Zum Frieden mit Gott und sich selbst kann der Mensch damit von sich aus nicht kommen, die Frage nach der vollendeten Versöhnung bricht auf. Die in der Begegnung mit Jesus offenbarte Gnade Gottes verneint das unwahre Bild vom vergeltenden Gott, ihm wird das Bild vom Gott der Liebe, der durch das fremde Werk des Zorns zu seinem eigenen kommt, entgegengesetzt. Die göttliche Liebe ist als ‚unerbittliche‘, als ‚Liebe im Zorn‘, bestimmt und schließt so die Erfahrung des göttlichen Zorns – der nicht im Sinne der Vergeltung verstanden werden darf – mit ein.570 Das Zusammenspiel von Gericht und Gnade beschreibt Hirsch als fortwährende Bewegung menschlichen Glaubenslebens „von der Gnade Gottes durch das Gericht Gottes hindurch zur Gnade Gottes“571, womit er der simul-Struktur des Glaubens Rechnung trägt. Unter dem Zeichen der Gnade wird das zuerst ausschließend erscheinende Nein des Gerichts rückblickend zur „heimliche[n] Güte“572 Gottes. So kann Hirsch auch Negativerfahrungen, die man im eigenen Lebensentwurf für widersinnig hält, den positiven Sinn abgewinnen, dass nur durch sie die Selbstverfangenheit des Menschen durchbrochen wird und er offen wird für die Offenbarung des Evangeliums und die Erfahrung der Gnade: „So wunderlich es klingt: allein in der Zerstörung menschlicher Möglichkeiten kommt die Gewalt über uns, die uns Menschen wahrhaft erschafft, die uns werden läßt zu dem Bilde Gottes von uns.“573 Auf die existenzielle Ebene bezogen bedeutet das Zugleich von Gericht und Gnade also: Die krisenhafte Erfahrung der Selbstentfremdung entbindet die Produktivität der Selbstentfaltung, die religiös gedeutet eine von Gott bedingte ist.574 Diese Bewegung liegt in der notwendigen Spannungseinheit von Schuldgefühl und Vertrauen bzw. Buße und Glaube begründet. Das Gericht ist damit nicht ein einseitig ausschließendes Nein zum Men568 

ChR II, 33.

569 Ebd. 570 

S. o., 2.B.c, 101 ff. ChR II, 36. 572 Ebd. 573  Zw, 131. Vgl. a. a. O., 150, wo Hirsch den Schmerz als „Macht der Vergeistigung und Durchseelung“ beschreibt; a. a. O., 90, wo das Gericht dazu dient, den Menschen „aus der Kleinheit und Eitelkeit und Feigheit des ihm anhaftenden irdischen Sinns“ herauszureißen und ihn damit zur „Menschwerdung“ zu befähigen; WrCh, 168: „Es ist die durch das Gesetz zu uns kommende und uns zermahlende Begegnung mit dem im Mantel des Gerichts und Zorns an uns handelnden Gott.“ 574 Vgl. Lasogga: Menschwerdung, 228–231. 571 

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schen, sondern eröffnet den Horizont der Zurechtbringung seines Gottes- und Selbstverhältnisses. Die Bewegung vom Gericht zur Gnade ist nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass der Mensch zuerst völlig gebrochen werden muss, bevor er wieder aufgerichtet werden kann. Hirsch siedelt die Anfechtungserfahrung bereits auf der Ebene von „Ratlosigkeit und Zweifel“575 gegenüber den Aporien des menschlichen Lebensvollzugs und Gottesverhältnisses an, die im Ernstfall bis zur „Verzweiflung“576 gesteigert sind. Er ist damit insofern phänomengerecht, als der Glaubensvollzug eines Menschen nicht immer durch eine ihn anfechtende potenzierte Erfahrung von Selbst- und Gottesentfremdung gezeichnet ist. Der Gerichtsgedanke ist zusammenfassend mit Hirsch folgendermaßen zu bestimmen: Das Gericht ist eine gegenwärtige Erfahrung, die sich in zwischenmenschlichen Verschlossenheitserfahrungen oder in der Resignation gegenüber der Frage nach Gott anbahnt und im Schuldbewusstsein den Anderen und Gott gegenüber als Gerichtserfahrung explizit wird. Die Gemeinschaft des Menschen mit Gott wird verneint, er scheint von einem Leben mit Gott ausgeschlossen. Die Getrenntheit von Gott und den Anderen und das Schuldigwerden vor Gott und Mensch scheinen das letzte (Selbst- und Fremd-)Urteil über den Menschen zu sein. Gott wird als der Zornige oder der schlechthin Abwesende erfahren. Die Angst bestimmt das Leben des Menschen in jeder Hinsicht. Die durch das Evangelium vermittelte Erfahrung der Gnade enthüllt das wahre Wesen der Gott-Mensch-Beziehung. Der Mensch ist von Gott getrennt, daran hält auch die Gnade fest. Diese Trennung wird aber in die Versöhnung hinein aufgehoben, die sich in der Gemeinschaft mit Jesus ereignet. Existenzbestimmend ist nun das Wissen des Menschen um die eigene Gegründetheit in Gott und seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott. Die Gerichtserfahrung ist eine ständige Bewegung zwischen Gericht und Gnade und steht so in der Spannung zwischen Verschlossenheit und Enthüllung, zwischen Faktum und Möglichkeit, zwischen Schuldbewusstsein und Vergebungsbewusstsein, die sich im Glaubensleben stetig vollzieht. In dieser für den menschlichen Lebensweg notwendigen Spannung ist sie Wegbereitung zum Leben aus Gott.

575 

576 

ChR I, 261. ChR I, 260.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

3.C Die Neuschöpfung und das innerliche Reich Gottes: Die präsentisch akzentuierte Eschatologie Mit dem erkenntnistheoretischen Vorbehalt gegenüber eschatologischen Vorstellungen und der Reserviertheit gegenüber der Auferstehungsvorstellung sind der Eschatologie die positiven Aussagemöglichkeiten nicht im Ganzen genommen. Hirsch entfaltet seine Eschatologie aus der christlichen Ewigkeitsgewissheit heraus. Das Material der Eschatologie speist sich aus der Soteriologie, die bei Hirsch unter den Leitbegriffen der Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung behandelt wird. Dabei wird in letzterer die eschatologische Dimen­ sion explizit. Dem neuschaffenden Handeln Gottes korrespondiert die Definition des Glaubens „als Kommen des ewigen Gottesreiches“.577

a)  Die Vollendung des Glaubens an den Schöpfer: Neuschöpfung im Glauben Den Glauben versteht Hirsch in seiner vollkommenen Form als nicht nur intentionalen Bezug auf die Seligkeit, sondern als die Seligkeit selbst.578 Er ist nicht nur Glaube an die Ewigkeit, sondern die Erfahrung der Tiefenschicht des Lebens, Erlebnis von Ewigkeit. Der dynamische Charakter des zeitlich bedingten Glaubens – seine Strukturiertheit als zugleich Glaube und Buße, seine Erfahrung Gottes als des unerbittlich Liebenden – bleibt allerdings in diesem Leben bestehen und so ist Glaube „Anfang eines Lebens, das durch den Tod hindurch vollendet wird“579. Das Leben, zu dem der durch die Ewigkeit qualifizierte Glaube in Beziehung steht, ist das endliche. Die Antinomie der Ewigkeitsbeziehung in Form von Gesetz und Evangelium, Unglaube und Glaube, Gericht und Gnade, wie sie in der Doppelbewegung des Glaubens durchlebt wird, bleibt bestehen. Diese Dynamik kommt ebenfalls zum Tragen in Hirschs Begriff der Neuschöpfung, die er im Sinne einer creatio continua als sich täglich im Glauben ereignende Wiedergeburt versteht.580 Die Sündigkeit des Menschen, die 577  Im Teil der ChR zum christlichen Wahrheitsbewusstsein korrespondieren einander gemäß der Wort-Glaube-Relation die Kapitel Das Wort als Neuschöpfung (§§79–81) und Der Glaube als Kommen des ewigen Gottesreiches (§§88–90). 578  Dies wird besonders deutlich an Hirschs Luther-Interpretation, ChR II, 166. 579  ChR II, 109. 580 Hirsch grenzt sich zuerst gegen Interpretationsfehlschlüsse zum Begriff der Neuschöpfung aus der christlichen Überlieferung ab. Neuschöpfung ist weder im Sinne einer „wunderhaften Verwandlung“ noch einer „Steigerung menschlichen Lebens“ zu denken, wie er es in der katholischen Lehre von der gratia infusa und der altprotestantisch-orthodoxen Lehre der Wiedergeburt in der Taufe gegeben sieht (ChR II, 49).

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sich in seiner „Verfangenheit oder Ziellosigkeit“ äußert, wird durch die „Berufung, mein Leben aus Gott zu leben“ in der Neuschöpfung „überwunden“.581 In der Neuschöpfung wird über das Leben Jesu das geschichtlich bestimmte Bild des Menschseins vermittelt. Sie ist vollendet in der vollkommenen Gründung des individuellen und des interpersonalen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott. Weil aber das wahre Leben, das dem Menschen durch die Neuschöpfung zuteil wird, sich (noch) unter irdischen Bedingungen realisiert, bleibt das Ereignis der Neuschöpfung spannungsreich. Sie muss sich einerseits „in der Begegnung mit menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit“582 ereignen und in die persönliche Rechenschaft übergehen. Andererseits läuft sie gerade wegen ihrer Einbettung in die menschliche Geschichte Gefahr, verendlicht zu werden, d. h. an empirische Realitäten und Vorstellungen gebunden zu werden und damit in ihre gesetzhafte Vorform umzuschlagen. Das neue Leben ist aber gänzlich unabhängig von „alle[n] Vorstellungen […] einer besondern empirischen Gestalt“583. Die Einsicht in das neue Leben kann nicht vernunftmäßig erzielt werden, sondern nur von Gott in der subjektiven Glaubenserfahrung gnadenhaft vermittelt werden. Im ständigen Ausgleich dieser Spannung liegt die Dynamik der Neuschöpfung begründet. Dennoch gehören die Neuschöpfung durch das Wort und die Rechenschaft von der Neuschöpfung bei Hirsch untrennbar zusammen. Die Neuschöpfung ist wie die Offenbarung sowohl unmittelbar als auch vermittelt, sowohl neu als auch an Altes anschließend zu verstehen.584 Die Form der überbegrifflichen Vermittlung ist bei Hirsch die den Glauben weckende Begegnung mit Jesus. Fragmentarischen Charakter hat die – christlich so gedeutete – Neuschöpfungserfahrung im allgemein-menschlich erfahrbaren Zusammenhang von Ruf und Fügung, der dem Menschen seine Bestimmung aufzeigt: Ich nehme mich selbst wahr als eine unter das kreatürliche, endliche Leben Gebundene und doch als Person zu wahrem Leben bestimmt. Das wahre Menschsein, zu dem der Mensch bestimmt ist, kann er nicht inhaltlich füllen: Er scheitert entweder daran, dass er sich allein auf seine endliche Bestimmung ausrichtet oder daran, dass er aufgrund seiner Sprachlosigkeit im Blick auf die Ewigkeit überhaupt nicht in der 581 Ebd.

582 Ebd. 583 Ebd.

584  Es ist bemerkenswert, dass Hirsch am Begriff der Neuschöpfung festhält, obwohl der Gedanke einer eschatologischen creatio nova im theologischen Denken oft mit dem Begriff der creatio ex nihilo und der sogenannten Ganztodthese verbunden ist (vgl. Henning, C.: Wirklich ganz tot? Neue Gedanken zur Unsterblichkeit der Seele vor dem Hintergrund der Ganztodtheorie, in: NZSTh 43/2 (2001), 236–252, hier: 239 f.). Statt den Begriff der Neuschöpfung – z. B. durch den Begriff der Verwandlung – zu ersetzen, bestimmt Hirsch diesen selbst antinomisch.

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Lage ist, seine unendliche Bestimmung mit Gehalt zu füllen.585 Bei der Grenze des Endlichen zu verweilen würde bedeuten, das Personsein und damit das Menschsein aufzugeben. Unter allein endlichen Bedingungen ist aber, wie die in der Neuschöpfungserfahrung auftretende Spannung zeigt, kein bestimmendes Bild dafür zu finden, wie eigentlich dieses neue Leben aussehen soll. Wird ein Bild bestimmt, so verfällt es immer der Gefahr der an zeitlichen Maßstäben ausgerichteten Objektivation und bleibt anfechtbar: Leitet es sich wirklich aus der Ewigkeitsgewissheit her oder nicht?586 Mit dem Begriff der Neuschöpfung wird das allgemeinmenschliche Phänomen der Bestimmung christlich akzentuiert.587 Er ist damit als Vollendung der allgemeinmenschlichen Annahme eines Ursprungs und Ahnung eines das Leben seines Geschöpfes wollenden Schöpfers zu verstehen. Er ist mit Hirsch zu begreifen als sich durch die Begegnung mit Jesus ermöglichende Anteilhabe an Gottes Schöpfersein, durch die die eigentlich gestaltlose Ewigkeit „in der Zeitlichkeit“588 Gestalt gewinnt. Die Zielsetzung der Berufung ist dann nicht vereinzelt und irdisch, sondern auf den ewigen Gott und seine schaffende Liebe gerichtet bzw. empfängt sich aus ihm. Das eigentliche Ziel aller Berufung ist es, Gott ganz zu gehören und aus ihm zu leben.589 Dieses Ziel bestimmt Hirsch als das Gute im unendlichen Sinn590, das nicht an den menschlichen Lebenswillen gebunden ist, sondern in der Gotteshingabe aufscheint. Im unendlichen Sinn des Guten ist der Gegensatz zwischen Gut und Böse, an dem sich die endlichen Maximen der Vernunft bilden, aufgehoben.591 Dennoch schlägt sich gerade in der Gotteshingabe die Zielrichtung des menschlichen Miteinanders nieder. Indem der Mensch sein Personsein nicht von Anderen empfängt, sondern von diesem Ziel der Gemeinschaft mit Gott her, gewinnt er die „innere[ ] Unabhängigkeit“ von Irdischem.592 Er kann sich auf diese Weise dem Mitmenschen be585 

ChR II, 49. ChR II, 53 f. 587  S.o, 57 f. 588  ChR II, 50. 589  ChR II, 54 f. 590  Durch die Unterscheidung zwischen endlichem und unendlichem Sinn ergeben sich verschiedene Bedeutungen von Gut und Böse, von Freiheit und Gebundenheit, von Leben und Tod, die einander aber nicht entgegenstehen, sondern in der Tiefendimension-Relation aufeinander bezogen sind. Indem jeweils beide Bedeutungen nebeneinander stehen gelassen werden, weil es unter den Bedingungen menschlichen zeitlichen Daseins nicht anders sein kann, arbeitet Hirsch in jeder Hinsicht die Spannungen zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit heraus, in die der Mensch durch sein Gottesverhältnis und seinen Ewigkeitsglauben gestellt ist. 591  Genauere Ausführungen, s. u., 6.A, 216 ff. 592  ChR II, 54. 586 

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freit von seinem eigenen Drang zur Selbstbehauptung hingeben und das endlich Gute realisieren, als dessen Tiefendimension sich das unendlich Gute erweist. Durch seine Neuschöpfung erst kann der Mensch im unendlichen Sinn Person sein bzw. sich selbst jenseits des Widerspruches zwischen Sein und Sollen als eine „ewige Persönlichkeit“593 verstehen: Auf der empfangenden Seite ist er in Gott gegründet und von ihm abhängig, auf der spontanen Seite hat er an seinem Schöpfersein durch Kreativität und Hingabe an Gott und Mitmenschen Anteil.

b)  Die Gestaltwerdung der Ewigkeit in der Zeit: Das Reich Gottes in der Innerlichkeit Ewigkeit kann mit Hirsch in der Zeitlichkeit Gestalt gewinnen allein im Glauben. Für die Füllung dieser Insverhältnissetzung von Zeit und Ewigkeit bedient sich Hirsch des traditionellen eschatologischen Bildes vom Reich Gottes: Das verborgene Reich Gottes ist als Bild für die Ewigkeit die Tiefenschicht wahrhaft menschlichen (glaubenden) Lebens.594 Die neutestamentliche Überlieferung ist Hirsch zufolge nur schwer auf ihren eigentlichen, dem Evangelium gemäßen Sinn hin freizulegen. Im Blick auf den Reich-Gottes-Gedanken liegt nämlich nicht erst ein Missverständnis der späteren theologischen Überlieferung vor, sondern das Problem liegt im NT selbst, das Jesu Botschaft vom Reich Gottes mit der Apokalyptik verbindet. Hirschs eigenes Verständnis zielt auf „Jesu Sohnesverhältnis zum Vater“595, in das die Glaubenden mit hineingenommen werden. Er verortet das Reich Gottes in der Innerlichkeit des Glaubens. Hirsch begründet seine Deutung der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft methodisch mit dem Differenzkriterium und dem Grundsatz, dass Jesus in seiner Lehre den semantischen Gehalt traditioneller Begriffe, welche er polemisch gegen ihre geläufige Aussageintention selbst wendet, gezielt umwandelt. Pro­ pria der jesuanischen Reich-Gottes-Anschauung sind seine Plötzlichkeit – ohne am Weltgeschehen ablesbare Vorzeichen –, die fehlende Verbindung mit dem Vergeltungsgedanken – „stattdessen Verwerfung und Gnade“ –, seine Entschränktheit, seine Jenseitigkeit, seine Geheimnishaftigkeit (Mt 1127) und seine Gnadenhaftigkeit.596 Die Plötzlichkeit des Reiches Gottes liest Hirsch so, dass die Ewigkeit jederzeit in die Geschichte einbrechen kann, dass sie sich durch eine jederzeitige Nähe auszeichnet. Damit ist dem Ende der Geschichte seine 593 

ChR II, 232. WrCh, 170 f. 595  ChR II, 97. 596  ChR I, 59. 594 

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Bedeutung als entscheidender Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit genommen. Das Reich ist gegenwärtig verborgen und Gott erschließt sich gegenwärtig dem, der an ihn glaubt.597 Das Gericht ist ein entscheidender Bestandteil dieses Vorgangs, es ist aber (schon bei Jesus) „allein als Enthüllung bestehender Scheidung von Gott, bestehender Ferne vom Leben“598 gedacht. Darin ist das Moment der Buße gesetzt, auf die die mit der Reich-Gottes-Botschaft zugesprochene Sündenvergebung antwortet. Mit dieser ist der Mensch in die Gottesgemeinschaft, die sich in der Liebestätigkeit ausdrückt, eingesetzt.599 In Mk 115600 findet sich Hirsch zufolge die jesuanische Reich-Gottes-Vorstellung in nuce. Von dort leitet er die subjektive Erscheinungsgestalt des Reiches Gottes ab. Indem er das Reich Gottes in der Innerlichkeit des Einzelnen verortet, will er dessen geheimnisvolle Gnadenhaftigkeit betonen.601 Das von Gott gnadenhaft aufgeschlossene ewige Leben bleibt das Geheimnis zwischen Gott und dem einzelnen Menschen. Die gemeinsame Mitwirkung der Menschen am Reich Gottes ist damit ausgeschlossen, es will empfangen werden. Es wird Wirklichkeit in der Verbindung von Glaube und Buße, im bejahten Gotterleiden.602 Hier sind die Bedingungen für wahres Personsein erfüllt, die Hirsch als „Erlebnisinhalt“603 des bejahten Gotterleidens bezeichnet: „Herausgenommensein aus der Selbstmächtigkeit“604 und Gründung des eigenen Seins in der Gottesbeziehung. Auf diese Weise ist das Reich Gottes als „Herrschaft Gottes in 597 

ChR I, 59 f. ChR I, 60. 599  ChR I, 57. 600  „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ 601  ChR II, 102. Mit der Innerlichkeit des Reiches Gottes trägt Hirsch der Aussage des lukanischen Jesus Rechnung (Luther 1912, Lk 1721): „man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch“. Diese Übersetzungsvariante der Präposition ἐντὸς, die als Primärbedeutung „innen, drinnen“ hat und weiterhin mit „innerhalb, im Bereich von etwas“ übersetzt werden kann, wurde in der Revision der Lutherbibel von 1956/1964 verändert in die Aussage, „das Reich Gottes ist mitten unter euch“. Damit sollte wohl (im Rahmen des sozialpolitischen Aufbruchs der Kirche) zum einen die Verbindung von Gottesreich und Kirche gegen ein vergeistigtes Christentumsverständnis stark gemacht werden, zum anderen die schwebende Bedeutung der Präposition herausgekehrt werden, die auf keine klare Lokalisierung verweist. Die Bedeutungen „innerhalb, im Bereich von etwas“ scheinen aus exegetischer Perspektive gleichermaßen berechtigt zu sein, wohingegen für die Wendung „in eurer Mitte“ bei Lk eine andere Formulierung (ἐν μέσῳ) gebräuchlich ist, weswegen in der Variante „(mitten) unter euch“ das „mitten“ zumindest eingeklammert werden könnte (vgl. Bovon, F.: Das Evangelium nach Lukas. Lk 15,1–19,27 [= EKK III/3], Zürich u. a. 2001, 166–168). 602  ChR II, 97. 603  ChR II, 99. 604 Ebd. 598 

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uns“605 bestimmt. Zugeeignet wird es, indem Jesus im Glauben zum ‚Herrn der Innerlichkeit‘ wird. Im Anschluss an die idealistische Philosophie begreift Hirsch diese Form des Daseins und Sichselbstverstehens als Synthesis zwischen Autonomie und Theonomie.606 Ihm liegt daran, zusammen mit der idealistischen Philosophie die Vermittlung von Gottes Herr-Sein „an Gewissen und Geist“607 zu betonen. Damit will er dem Gedanken einer gleichsam übersinnlichen Realisationsgestalt des Reiches Gottes vorbeugen und die Glaubensrealität an das Menschsein an sich anbinden bzw. sie als solches erweisen. Gleichzeitig grenzt er sich gegen die idealistische Fassung dieser Synthesis insoweit ab, als er die das Leben gründende Macht als verborgen versteht, d. h. nicht in eindeutigen, vernunftgemäßen Maximen objektivierbar. Wird die Synthesis zu einer Seite hin aufgebrochen, so kann das Resultat mit Hirsch folgendermaßen beschrieben werden: Autonomie ohne Theonomie wäre gesetzesverhaftet durch Selbstvergöttlichung, Theonomie ohne Autonomie würde auf ein Bild von Gott allein als Gesetzgeber ohne schöpferische Liebe zielen. Die Bedingungen für die Realisierung des Glaubens als Herrschaft Gottes im Menschen sind also die Empfänglichkeit, die die Selbstmächtigkeit verneint, und das Verharren bei der Geheimnishaftigkeit der Macht Gottes. Dem scheinbaren Widerspruch zur Entscheidungshaftigkeit des Glaubens, der Befreiung des Menschen zu sich selbst und dem eigenständigen, dem menschlichen Wesen entsprechenden Lebensvollzug setzt Hirsch entgegen: Der Glaube zielt nicht auf Fragen des menschlich-geschichtlichen Lebensvollzugs, sondern auf die Tiefenschicht des Lebens, die im Lebensvollzug zutage tritt. Mit dieser sind Vernunft und Gewissen nicht sinn- und rücksichtslos autonom, sondern der Glaube bildet eine Art Handlungshorizont: „Glaube bestimmt Vernunft und Gewissen zum lebendigen Vernehmen, bewahrt sie davor, rechnende, rein eigene Ideen durchsetzende Organe zu sein.“608 Der Horizont des Glaubens bewahrt den Menschen vor der Selbstermächtigung, indem er seine Freiheit in Gott gegründet weiß. Er ermöglicht eine Kreativität, die um ihre Grenzen weiß. Indem er Anteil an Gottes schöpferischer Liebe gibt, bewahrt er den Menschen zugleich vor der Rationalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, die den anderen für seine eigenen Zwecke funktionalisiert. Vom Erlebnisgehalt her schreibt Hirsch dem Glauben in der Hinsicht eine „viel tiefer[e] innere[ ] Freiheit und Gelöstheit“609 als der sich Ma605 

ChR II, §88. ChR II, 97. 607  ChR II, 99. 608  ChR II, 100; i. O. herv. 609 Ebd. 606 

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ximen setzenden Vernunft zu, weil er durch die Gründung in Gott davor bewahrt ist, sich sein eigenes Gesetz aufzurichten. Auf die Relation von Reich Gottes und Reich der Welt wirkt sich diese Bestimmung in verschiedener Hinsicht aus. Das in der Innerlichkeit verortete Reich Gottes ist nicht als empirische Gestalt zu greifen, sondern ist verborgen im Glauben. Es ist das ewige Leben, das allein im Glauben Gestalt gewinnt. Daraus zieht Hirsch die ekklesiologische Konsequenz, dass die Kirche in ihrer menschlich-geschichtlichen Gestalt dem Weltreich zuzuordnen ist.610 Das Weltreich ist bei Hirsch strikt säkular und wenig wertend als das irdische Dasein des Menschen, „das Leben, das wir unter dem Gesetz des Daseins und nach der Bestimmung haben“611, gefasst.612 Die Kategorien von „Freiheit und Gebundenheit“613 unterscheiden sich in beiden Bereichen in ihrer Bedeutung: Sie sind auf der einen Seite ineinandergehende Bedingungen für das Gottesverhältnis – die Abhängigkeit von Gott ermöglicht Freiheit. Auf der anderen Seite sind sie auf weltlicher Ebene als einander entgegengesetzte und sich auszuschließen scheinende Bedingungen für das Leben in der Gemeinschaft zu begreifen. Dennoch sind die beiden Bedeutungen von Freiheit einander nicht entgegengesetzt, sondern miteinander verbunden: Indem das Gegründetsein in Gott die innere Unabhängigkeit von der Welt und von dem mit ihr verbundenen Drang zur Selbstbehauptung ermöglicht, leitet sich aus ihm die endliche Freiheit her. D. h., das wahre Wesen menschlich-endlicher Freiheit ist nur vor dem Hintergrund ihrer Abhängigkeit von Gott zu verwirklichen. Ohne diese Rückbindung würde Freiheit nicht gemeinschaftsfördernd sein und damit letztlich den Einzelnen nicht ernstnehmen, sondern rein egoistisch kalkulierend sein. Sowohl der Einzelne als auch die menschlich-weltliche Gemeinschaft wären ohne die Gründung endlicher Freiheit in Gott gefährdet. In die Welt sowohl reflektierend als auch handelnd hineingetragen wird der ewige Sinn endlicher Freiheit durch das einzelne Subjekt. Mit Hirschs Worten: Im weltlichen Gesetz des Daseins und der Zeitlichkeit scheint durch das Reich Gottes die Ewigkeit auf, die das Leben heiligt. So kann das Weltreich als Ort, in 610 

ChR II, 84. ChR II, 97. 612  Damit setzt sich Hirschs explizit von dem Konzept Augustins ab, der seiner Meinung nach falsche Gegensätze „von heilig und profan oder von geistlich und weltlich im greifbaren Sinne“ (ChR II, 84) verbindet und der Kirche im Gegensatz zum vergänglichen Staat Ewigkeit, dem Christenbürger Liebe, dem Weltenbürger Selbstsucht zuschreibe (a. a. O., 87). Luthers Zwei-Reiche-Lehre beruht, so Hirsch, hingegen allein auf Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die eine nicht auf einen ihrer Teile reduzierbare Grundstruktur jeder glaubens-empirischen Größe ist (ebd.). 613  ChR II, 97. 611 

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dem das Reich Gottes, „die eine Wirklichkeit, das eine wahre Leben“614, als dessen wahrer Kern verborgen ist und zur Vollendung im ewigen Leben strebt, verstanden werden – also ist das „Weltreich nicht ohne Gott“615 zu denken. Das Verhältnis von Reich Gottes und Reich der Welt kann demzufolge als christliche Qualifizierung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit im Subjekt verstanden werden. Trotz seiner innerlichen Fassung ist der Reich-Gottes-Begriff m. E. bei Hirsch nicht auf reinen Subjektivismus zu reduzieren. Es stehen sich nicht das ‚Reich Gottes des Individuums‘ und das Reich der Welt als der sichtbaren menschlichen Gemeinschaft gegenüber. In ekklesiologischer Hinsicht spricht er – der Luther’schen Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche folgend und sie zuspitzend – von der „Gemeinschaft im Glauben an das Evangelium oder auch Gemeinschaft aller Gläubigen in Jesus Christus als eine[r] verborgne[n], ewige[n] […], deren Geheimnis nur im Glauben selber vernommen werden kann“616. Diese Gemeinschaft ist zwar in keiner Weise empirisch zu fassen, da sie an die Innerlichkeit des Glaubens zurückgebunden ist, ist aber m. E. als (ewig-)soziale Größe zu verstehen. Sie realisiert sich da, wo „wir durch Wort und Glauben dem Sein füreinander aufgeschlossen sind“617. Weil Hirsch diese Art von Gemeinschaft als Tiefendimension der „geschichtlichen Beziehungen zwischen Menschen“618 bezeichnet, kann gefolgert werden: Die sich punktuell verwirklichende vollendete Gemeinschaft zwischen Menschen begründet im endlichen Rahmen gelingende Gemeinschaft.619

c) Das eschatologische Geheimnis: Die Vollendung der Liebe Gottes Über einen konkreten Inhalt der Ewigkeitsgewissheit im Sinne eines Wissens darum, wie die menschliche Existenzweise beschaffen ist, lässt sich mit Hirsch nicht spekulieren. Der in Verbindung mit der Begrenzung eschatologischer Aussagen wiederholt von Hirsch ins Spiel gebrachte Begriff des Geheimnisses betont hier erneut die verborgene Gegenwärtigkeit des Lebens Gottes, die einer614 

WrCh, 171 f. ChR II, 84. 616  ChR II, 126. 617  ChR II, 127. 618 Ebd. 619  Vgl. auch im folgenden Absatz die pneumatologische Dimension vollendeter menschlicher Gemeinschaft. Die Wendung „Gemeinschaft der Gewissen“ (RGB, 27) wäre dementsprechend eine Unterbestimmung des Reiches Gottes – sie geht zwar auf die in der Innerlichkeit verborgene Gemeinschaft zwischen Menschen, ist aber auf die diesseitige Gemeinschaft zwischen Menschen vor Gott bezogen. Das Reich Gottes ist eine Gemeinschaft der durch den Glauben bestimmten Gewissen. 615 

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seits vor der Flucht aus dem diesseitigen Leben schützt und andererseits der Eigenmächtigkeit des Menschen vorbeugt. Neben dieser Negativfunktion verbindet Hirsch mit dem Geheimnisbegriff eine positive Aussage über Gott – das Geheimnis ist eben nicht leere Grenze, sondern erfülltes Geheimnis.620 Positiv gewendet bedeutet die Qualifizierung des Geheimnisses als Geheimnis Gottes621: Die „sich selbst an uns mitteilende Liebe Gottes [ist] zu ihrem Ziele gelangt“622. D. h. mit Hirsch: Das ewige Leben, das auf Menschenseite als ewige Seligkeit, als das Reich Gottes in uns, beschrieben ist, ist die Vollendung der Liebe Gottes. Diese Vollendung der Liebe Gottes ist in der Begegnung mit Jesus „aufgeschlossen“623. Die Gewissheit im Glauben ist bei Hirsch in begrenztem Maße als Gewissheit ‚von etwas‘ bestimmt. Sie ist innerliche Gewissheit von Gottes Liebe, die als Ahnung schon im Menschen angelegt ist, in der Begegnung mit Jesus aber erst ermöglicht wird. Gottes Liebe ist auf Gemeinschaft ausgerichtet, sie führt den Menschen „ganz zu sich“624. Andernfalls wäre sie „Almosen“625, das sich dadurch auszeichnet, dass es keine Gegenseitigkeit der Zuwendung erwartet, und das den Empfänger nicht an dem Leben des Gebenden partizipieren lässt. Aufgrund der Ausrichtung der Gottesliebe auf Gemeinschaft ist in der Gewissheit der Liebe gleichzeitig diejenige begründet, dass das in Gott gegründete und erschlossene Menschsein „mit dem Tode vollendet wird zu überschwenglichem Leben“.626 Die Struktur dieser Gewissheit ist die, dass sie den Christenmenschen von „Ahnung oder Hoffnung“ überführt in „Bewährung und Erfüllung“.627 Das so Ausgeführte betrachtet Hirsch als „die einzige Aussage“, die im wissenschaftlichen Rahmen über die fundamentalanthropologische Analyse – die ja schon die Ewigkeitsbezogenheit offengelegt hat – hinaus getroffen werden kann. Im Glauben wird die allgemein-menschliche Ewigkeitsbezogenheit mit ihrer Hoffnung auf Gottes Macht über den Tod bestätigt und vollendet hin zur Ewigkeitsgewissheit.628

620 

S. o., 2.A, 85 ff. Genitiv dürfte hier mehrdeutig sein. Er bringt sowohl zum Ausdruck, (1) dass Gottes Eigenschaft die Geheimnishaftigkeit ist (qualitativ), (2) dass Gott in diesem Geheimnis der Handelnde als der Liebende ist (subjektiv), (3) dass das Ziel unseres Nachdenkens über Gott im nicht denkbaren Geheimnis liegt (objektiv). 622  ChR II, 62. 623 Ebd. 624  ChR II, 105. 625 Ebd. 626 Ebd. 627 Ebd. 628 Ebd. 621  Der

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Die gedankliche Füllung des ewigen Lebens mit der Vollendung der Liebe Gottes birgt Implikationen für das Aufscheinen des ewigen Lebens im diesseitigen Leben als dessen Tiefendimension. Es tritt zutage in Form der zwischenmenschlichen Liebe, die allerdings, wie wir gesehen haben, durch die Kräfte des Daseins, den eigenen Selbstbehauptungsdrang und die Verschlossenheitserfahrung im Verhältnis zum Anderen gehemmt ist. In der Begegnung mit Jesus wird dieses sich in der Liebe verwirklichende Leben dem Menschen aufgeschlossen. Hirsch liegt daran, jenseits der traditionellen Auferstehungsvorstellung zu erweisen, dass Jesus aus seiner geschichtlichen Gestalt heraus, aus seiner Lebendigkeit in dem Leben vor seinem Tod heraus, mit der der Glaubende gleichzeitig wird, Herr über Leben und Tod ist.629 Dies leistet er über eine pneumatologische Bestimmung des Menschseins Jesu. Um die Gemeinschaft mit Jesu Leben begrifflich zu fassen, bedient sich Hirsch der traditionellen Wendung des Geistempfangs, den er freilich gegen verschiedene Fehlinterpretationen abgrenzt. Der Geist ist weder mit Übersinnlichkeit noch mit einem Kraftfeld zu vergleichen, sondern ist allein aus der Wirkung von Gott als Wort in Offenbarung, Versöhnung, Neuschöpfung zu begreifen. Ebenso grenzt er sich gegen die Vorstellung einer auf sittliche Vervollkommnung zielenden Verwandlung durch den Geistempfang ab – christlich geht es allein um das menschliche Gottesverhältnis, das durch den Geistempfang zurechtgerückt wird630 und das in der Sphäre menschlich-geschichtlicher Gemeinschaft als Handlungshorizont der Ethik fungiert. Geistempfang bedeutet für Hirsch, „daß der Geist Jesu in dem Glaubenden das Lebendige sei“631. Für Hirsch ist der Geist zuerst als der Geist Jesu, dann unter dem Aspekt der sich vollendenden Liebe Gottes auch als „Gottes eigner Geist“632 bestimmt. Es ergibt sich für ihn folgendes Verständnis des Geistes Jesu: Er ist Ausdruck für „das lebendige und vollmächtige Menschsein“, das sich in Form der selbsttätigen Hingabe sowohl in dessen Gottesverhältnis als auch in seinem Verhältnis zu den Anderen manifestiert.633 Im Verhältnis zum Vater empfängt Jesus „das Leben als Sohn von Gott in Glaube und Gehorsam“634. Aus diesem Verhältnis he629  ChR II, 58. Vgl. a. a. O., 59: „Randglosse: Von Ostern ist nur das wahr und wesentlich, was in der Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus davon lebendig wird. Nicht ‚Jesus ist auferstanden‘, sondern ‚Jesus erweist sich an mir als der Lebendige‘ kann für uns Osteraussage sein.“ Die Implikationen dessen für den Auferstehungsglauben werden unten (7.A.d 295 ff.) näher erläutert. 630  ChR II, 62 f. 631  ChR II, 61. 632  ChR II, 63; i. O. herv. 633  ChR II, 61. 634  ChR II, 63.

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raus ist er für die Anderen da, es schließt das durch Liebe bestimmte Verhältnis zu den Anderen mit ein. Damit ist die traditionelle Funktion des Heiligen Geistes, gemeinschaftsfördernd zu sein, vom Sein Jesu her eingeholt. Die Besonderheit am Verhältnis Jesu zu den Anderen und der Anderen zu Jesus ist, dass das Moment der „Verschlossenheit“, das mit dem Menschsein unter irdischen Bedingungen eigentlich notwendig einhergeht, aufgehoben ist. Antinomisch drückt Hirsch dies dadurch aus, dass der Mensch Person sein kann – dass also sein ihm eigener Kern, auf den andere nicht übergreifen können, gewahrt wird und dass er selbsttätig ist – und dennoch dem Anderen völlig erschlossen und hingegeben ist. Das allgemein-menschliche Gefühl der Unersetzlichkeit635 wird hier gesteigert in das Gefühl einer „Nähe von Person zu Person“636. Wird diese realisiert, „ist einerseits Liebe im unendlichen ewigen Sinne zwischen uns wirklich, Liebe die einander zum Quell des Lebens wird, und anderseits einer dem andern Zeugnis, daß Gott Liebe ist“637. Die vollendete Liebe zum Anderen zeichnet sich dadurch aus, dass sie Leben ermöglicht und die Liebe Gottes dadurch offenbar werden lässt. Sie ist angesichts von Schuld und Entfremdung vergebende und sich selbst vergeben lassende Liebe.638 Die völlige gegenseitige Erschlossenheit wird im Blick auf den Geistbegriff so beschrieben, dass der Glaubende und Jesus in dem neuen Leben „Ein [sic] Geist in Gottes Geheimnis sind“639. Durch dieses Einssein mit Jesus verschwindet dann auch die Verschlossenheit im Verhältnis zu allen Anderen – „im Geheimnis Gottes“640 sind alle eins. Dennoch – so kann mit Hirsch gesagt werden – ist das ‚Miteinander‘ nicht aufgehoben, d. h. der Mensch als Gegenüber eines Anderen, als Person, bleibt. Wirklich möglich ist das Einssein mit Anderen nicht aus einem allgemeinen Gottesverhältnis heraus, sondern es ist angewiesen auf die Begegnung mit Jesus, auf das Leben aus Jesus, auf das Sein im Geist Jesu.641 Die Jesus-Beziehung ist demzufolge bei Hirsch Bedingung nicht nur für die rechte Gottes- und Selbsterkenntnis, sondern auch für die daraus entspringende Erkenntnis des Anderen, die sich in menschlichen Verhältnis zu ihm niederschlägt. Durch das Verhältnis zu Jesus und das Sein im Geist Jesu findet das sich vorher unter Unwahrheit gestellt sehende Gottesverhältnis, das als die Wurzel des Selbstverhältnisses und des Verhältnisses zum Anderen zu verstehen ist, seine Vollendung. 635 

S. o., 58. ChR II, 235. 637 Ebd. 638  ChR II, 232. 639  ChR II, 61. 640  ChR II, 62. 641  ChR II, 63. 636 

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Der Begriff des Geistes dient bei Hirsch dazu, die Dynamik des sich im Glauben realisierenden Gottesverhältnisses zum Ausdruck zu bringen. Diese Dynamik greift über auf das Verhältnis zum Anderen und wird damit zur dieses Leben beseelenden Lebendigkeit, die sich unter den Bedingungen des Daseins freilich immer wieder neu realisieren muss. Der Begriff des Geistes kennzeichnet von hier aus den Zustand des Einsseins von Mensch und Mensch in Gott. Er ist aber nicht nur Element der Verbindung, sondern auch der Individualisierung, bewahrt er doch den wesentlichen Kern der Person. Er ist in diesem Sinne zugleich als der Geist Jesu, als der Geist der einander erschlossenen Menschen und als der Geist Gottes zu bezeichnen.

d)  Résumé: Das Zusammenspiel von traditionell eschatologischen Momenten und Existenzanalyse Die Analyse der präsentisch-eschatologischen Aussagen Hirschs kann wie folgt zusammengefasst werden: Zentral für Hirschs Eschatologie ist der Personbegriff. Personsein ist als Bestimmung des Menschen definiert, die ihr passives Moment in der Gründung in Gott und der Enthobenheit des Menschen aus seiner Selbstmächtigkeit, ihr aktives Moment in der Anteilhabe an Gottes Schöpfersein im Medium von Liebe und Kreativität hat. Personsein ist mit der Erfahrung verbunden, Gewissen vor Gott und den Menschen zu sein, das auf die Einheit von Herz und Vernunft angelegt ist. Diese wird vollendet, indem der Mensch sich als ein in Gott Gegründeter (die Herzensseite des Gewissens) und zugleich als ein von ihm Unterschiedener (die Vernunftseite des Gewissens) weiß, indem er sich als ein dem Anderen Hingegebener (die Herzensseite des Gewissens) und doch nicht im Anderen Aufgehender (die Vernunftseite des Gewissens) versteht. Person zu sein heißt damit zugleich, dass das Selbst- und Fremdurteil im Menschen zu einer Einheit gebracht werden, dass er in die „vollendete Durchsichtigkeit seiner selbst vor Gott“642 geführt wird. Die Unverzichtbarkeit des Ewigkeitsgedankens für den Personbegriff – der die Ethik und die menschlichen Erkenntnisfähigkeit begründet – bekommt hier seine inhaltliche Füllung. Es stellt sich heraus, dass die Ewigkeitsbezogenheit nicht nur ein wesentliches Charakteristikum des Menschen ist, sondern erst in der durch Jesus vermittelten unmittelbaren Gottesbeziehung des Einzelnen voll realisiert werden kann. Sie wird hier in die Ewigkeitsgewissheit verwandelt. Das für den Schutz der Person in Anschlag gebrachte ethisch Gute, das in den Kategorien der Vernunft als Lebenserhaltung und das zu bewahrende Gleichgewicht zwischen Einzelnem und Gemeinschaft verstanden wird, bekommt seine 642 

ChR II, 16.

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wahre Gründung in dem im Glauben aufscheinenden Ziel. Das Ziel der Gemeinschaft mit Gott, aus dem heraus allein das Personsein und menschliche Gemeinschaft verstanden werden kann, ist das wahre Gute, dem im unendlichen Sinne kein Böses entgegengesetzt ist, das wahre Leben, dem im unendlichen Sinne kein Tod entgegengesetzt ist und die Vollendung der Liebe, die keine Verschlossenheit im Verhältnis zum Anderen kennt. Es ist in Jesu Sohnesverhältnis zum Vater, in dem sein Verhältnis zu den Menschen gründet, abgebildet. Indem das wahre Gottesverhältnis das vollendete Verhältnis von Mensch zu Mensch mitbedingt, in ihm aufscheint und auf es zielt, ist die ethische und damit die irdische Dimension wieder mit hineingenommen. Nicht nur, dass der Christenmensch sich in ihr faktisch wiederfindet, macht ihn zum in ihr Handelnden. Seine ewige Berufung wirft ihn auf die irdische Dimension der zu realisierenden Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch. Jesu Sohnesverhältnis zum Vater kann vom Christenmenschen angeeignet werden, indem er aus seiner Selbstmächtigkeit herausgenommen wird. Das wird ermöglicht, indem Jesus durch Gottes Handeln an ihm zum Herrn der Innerlichkeit wird. Das sich Einstellen in diese Herrschaft in der Gleichzeitigkeit mit Jesus ist auf menschlicher Seite realisiert durch den Glauben, in dem allein die Synthesis von Theonomie und Autonomie zustande kommen kann. In Form dieser Synthesis wird der Glaube im endlichen Leben als Handlungshorizont mitgeführt. Die durch die Gleichzeitigkeit mit Jesus ermöglichte Gemeinschaft mit Gott und Mensch beschreibt Hirsch pneumatologisch mit dem Gedanken des Geistempfangs, der das Ziel der vollendeten Liebe Gottes und der menschlichen Lebendigkeit abbildet. Hirsch führt in seiner Darstellung immer die Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung mit, die zum einen sein Verständnis einer punktuellen und dynamischen Gestaltwerdung der Ewigkeit bedingt. Zum anderen begründet diese Einheit die Geheimnishaftigkeit der Offenbarung, die es verbietet, jegliche eschatologische Objektiva zu formulieren. Dennoch ist mit dieser Einheit für Hirsch gesichert, dass, obwohl Aussagen über die Ewigkeit rational faktisch nicht greifbar sind, eine theologische Eschatologie nicht irrational und weltfern ist. Dem Glauben kommt auf diese Weise fundamentale Bedeutung zu: Die vernunftmäßig in der Gestaltlosigkeit bleibende Ewigkeit kann allein im Glauben des Einzelnen Gestalt gewinnen. Dementsprechend ist Eschatologie auf methodischer Ebene als eine Analyse des Glaubens zu beschreiben. Das dem endlichen Leben zugrunde liegende ewige Leben ist beschrieben als das wahre Leben, das in der Innerlichkeit der Glaubenserfahrung Realität wird und mit den transformierten traditionellen Bildern der Neuschöpfung und des Reiches Gottes illustriert und strukturell gefasst werden kann. Auch der klassische Topos der Vollendung des Schöp-

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fungswerkes Gottes durch den Geist wird eschatologisch aufgegriffen und an dem Maßstab des Gottesverhältnisses des Einzelnen ausgerichtet. Auf diese Weise vereint Hirsch in seinem Vollendungsgedanken Momente der traditionellen Eschatologie mit seinem existenzanalytischen Ansatz.

3.D  Aussagemöglichkeiten im Bereich der futurischen Eschatologie Eine Eingrenzung der Eschatologie auf rein präsentische Aussagen, die sich nach dem hier Dargestellten nahelegen könnte, ist bei Hirsch nicht festzustellen. Freilich legt Hirsch einen deutlichen Akzent auf die Sinnerfüllung des diesseitigen Lebens und die Gegenwart der Seligkeit im Glauben. Dennoch grenzt er sich gegen ein rein präsentisches Verständnis von Ewigkeit, wie er es z. B. in der aufklärerisch-idealistischen Philosophie gegeben sieht, dezidiert ab: „Das Christentum will Ewigkeitsreligion nicht bloß in dem Sinne sein, daß Gottes ewige Wahrheit, Freiheit und Liebe uns in unsrer Innerlichkeit auf eine dem Verstand nicht zugängliche Weise als unendlicher Geist gegenwärtig ist. Es ist vielmehr Ewigkeitsreligion auch in dem unfaßlichen Sinne, daß es uns über den Tod hinaus in eine unsre gegenwärtige Denkund Lebensmöglichkeit zersprengende Gemeinschaft mit Gott trägt.“643

Hirsch entwickelt mit wenigen, zaghaft zu nennenden, Ansätzen Aussagen über ein Leben nach dem Tod. Im Wesen des Glaubens selbst liegt die Ausrichtung auf ein zukünftiges jenseitiges Leben begründet: Gewissheit und Vertrauen sind an die Verheißung von Gottes Liebe und das wahre, nicht in der Zerrissenheit mit dem Dasein stehende Leben rückgekoppelt. Der Glaube ist „seinem Wesen nach transitus“644, der sich selbst als Anfang begreift, der auf die Vollendung ausgerichtet ist. Die menschliche Ahnung von der Liebe Gottes, die im Glauben zur Gewissheit verwandelt wird, begründet den Gedanken von der Macht Gottes über den Tod, nicht „irgendwelche[ ] Bilder[ ] und Begriffe[ ]“645. Diese Liebe verspricht ein „den Tod nicht kennendes Leben“646. Hier trifft Hirsch wiederholt eine Negativabgrenzung, die mit der Kritik an der Objektivation der Ewigkeit, die am Maßstab der endlichen Verstandeskategorien ausgerichtet ist, einhergeht: Dieses andere Leben ist nicht mit dem gleichzusetzen, was unter Leben landläufig verstanden wird – ich selbst im Mittelpunkt meines 643 

HchR, 40. ChR II, 109, Herv. A.‑M. K. Ausführlicher zur transitus-Struktur des Glaubens, s. u., 7.B.d, 309 ff. 645  Ag, 102. 646  WCh, 43. 644 

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Lebens, die sich selbst entwirft und auf irdisches Glück hofft. Dieses neue Leben dient nicht „meiner Lebensgier und Lebensangst“647, es besteht nicht in einer „Steigerung, Verklärung und unendliche[n] Fortdauer“648 meines irdischen Lebens. Das „wahre Leben“ ist für Hirsch das hier noch im Glauben „verborgene Gottesreich“, das uns im Tod „entweder in sich hineinnimmt oder von sich stößt in das Nichts“.649 Eine klare Aussage darüber hinaus, die auf die Frage antwortet, was dann mit Menschen konkret passiert, kann mit Hirsch nicht getroffen werden. Von der Gewissheit der Liebe Gottes aus, die Hirsch mittels der verschiedenen soteriologischen Kategorien und Wesensmerkmale des Glaubens entfaltet, meint er auch unter Verzicht auf die traditionellen Gehalte der Eschatologie eine „Fülle von Aussagen“ treffen zu können.650 So kann an Hirschs Ausführungen anschließend der zentrale Gedanke des innerlichen Reiches Gottes, das das im Tod sich eröffnende ewige Leben ist, mit verschiedenen Eigenschaften und Begriffen in Verbindung gebracht werden. Es hat seinen Ort im Glauben und kann deswegen mit anderen Wesensmerkmalen, die dem Glauben zugeschrieben werden, gefüllt werden. Die Naherwartung des Reiches Gottes deutet Hirsch durch eine zeitlogische Reflexion: Es kommt bei Jesus wie auch für den Menschen von heute in jedem Moment, d. h. die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit wird im Leben immer mitgeführt und tritt im Glauben zutage.651 Es hat seinen Ort im Glauben als „Herrschaft Gottes in uns“652. Weil dieser Glaube Gotteskindschaft ist, ist diese die Existenzform des Menschen in der Sphäre des Reiches Gottes. Weil im Glauben die wahre Liebe an ihr Ziel kommt, ist diese die Äußerungsform des Reiches Gottes. Sie schließt die vollendete Gemeinschaft mit dem Anderen ein. Weil im Glauben die Sünden vergeben werden, ist das Gottesreich Vergebung der Sünden. Weil der Glaube ewige Seligkeit ist und auf das ewige Leben, die „Teilhabe an Gottes Leben“653 geht, hat das Gottesreich eine auf die Zukunft ausgerichtete Seite, obwohl es gleichzeitig gegenwärtig ist. 647 

Zw, 282. ChR II, 103. 649  WrCh, 172. Diese Alternative, die hier als nicht abschließend zu klären stehen gelassen wird, baut Hirsch in HchR zum Gedanken der annihilatio bzw. dem ‚einfachen Vergehen‘ der Gottlosen aus, s. u., 6.C.a, 243 ff. 650  ChR II, 110. Vgl. WuG, 146 f. 651  ChR I, 60: „Damit verliert die irrtümliche Vorstellung von der Nähe des Endes der Geschichte ihren gegenständlichen Sinn, oder besser: dieser gegenständliche Sinn wird bedeutungslos. Jesus denkt mit dieser Form allein die unaufhaltsame durchdringende Nähe des Ewigen zu uns in der Zeitlichkeit: Gott steht vor der Tür.“ Vgl. WrCh, 181 f. S. o., 1.B.c, 59 ff. 652  ChR II, §88. 653  ChR II, 57. 648 

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Mit Reflexionen über den Personbegriff vor dem Horizont des ewigen Lebens wagt sich Hirsch ein wenig über die selbstauferlegte Grenze für die Frage nach der Existenzform des Menschen im ewigen Leben hinaus, markiert seine Aussagen aber als uneigentlich bzw. belässt sie in der Form der Antinomie. Der Gedanke vom ewigen Leben hängt an der vollendeten Gründung des Personseins in Gott ohne die gleichzeitige Bindung an das irdische Leben – die eigentliche Nichtfassbarkeit dieser Aussage signalisiert Hirsch, indem er sie in die Kategorie ‚Traum‘ einordnet: „Nur einen Herzenstraum vom ewigen Leben gibt es, der mir wahrhaft Ewigkeit, Vollendung, Verklärung verheißt: daß die mich zur Person machende Gegenwart Gottes mir ganze reine Seligkeit werde, daß ich mit ihm, dem Ursprung und Ziel meines Lebens ganz in Friede und Eintracht sei, daß er mit seinem sich schenkenden, sich mitteilenden Leben ganz mein Leben werde, in mir und durch mich hindurch Leben und Liebe sei, von keiner Hemmung meiner Endlichkeit, meiner Verfangenheit in meine Kreatürlichkeit gestört.“654

Hirsch trifft seine Aussage über das ewige Leben im Status der Uneigentlichkeit, weil in der Vereinbarkeit von Personbegriff und Ewigkeitsgedanken für ihn eine Schwierigkeit liegt. Die Furcht des Menschen, dass in der Vollendung durch den Tod hindurch von der eigenen Identität nichts übrigbleibe, weil alles ihn Prägende abgestreift werden könnte655, ist theologisch durchaus zu begründen. Hirsch führt die Antinomie vor Augen, an der alles Denken in diese Richtung grenzt. Es wird vorausgesetzt, dass ewiges Leben heißt „Gott alles in allem zu denken“ und dass gleichzeitig „echtes, erfülltes Personsein“ ermöglicht wird.656 Beide Definitionen können aber nicht zusammengedacht werden. Wenn Gott alles in allem ist, wo ist dann Platz für die Person? Ewiges Leben hieße so nicht Leben, sondern Tod der Person. Wenn das Personsein des Menschen in den Mittelpunkt gerückt wird, ist dann Gott nicht funktionalisiert zur Begründung dessen? Ewiges Leben hieße dann nicht Gottes Allgegenwart, sondern „Verletzung der Gottheit Gottes“657. Der Christenmensch ist sich zwar dessen gewiss, von Gott zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt zu sein, ist aber nicht in der Lage, diese denkerisch einzuholen – er bleibt hier bei der Antinomie stehen. Allein aus der Erfahrung vollendeter zwischenmenschlicher Liebe (Jesu) erwächst ihm die Gewissheit, dass beide Bedingungen für ein ewiges Leben im Einklang miteinander stehen können. Liebe bedeutet in dem Sinne Selbstbegrenzung, die dem anderen Leben ermöglicht. Hirsch reduziert seine Lehre von den Letzten Dingen nicht auf individualeschatologische Aussagen. So wie die Frage nach dem Verhältnis zwischen 654 

Zw, 100.

656 

ChR II, 64.

655 Ebd.

657 Ebd.

162

Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Mensch und Mensch in Hirschs Theologie eine tragende Rolle spielt, so wird sie auch im Bereich der Eschatologie – zumindest ansatzweise – thematisiert. Von einer universalen Eschatologie – der Frage nach dem Weltende – sind diese Aussagen vor dem Hintergrund von Hirschs Kritik an einer theologischen Kosmologie freilich abzugrenzen. Die Spannung zwischen der „Vorläufigkeit und Vergänglichkeit“ von Menschenleben und Erdgeschichte und der Unbedingtheit des Verhältnisses des Einzelnen zu Gott, das in der Sozialität eröffnet wird, nennt Hirsch „das Geheimnis der christlichen Eschatologie, wenn man sie von allem Zufälligen und Mythischen befreit“.658 Die durch die neuere Naturwissenschaft vermittelte Nebensächlichkeit der Erd- und Menschheitsgeschichte vor dem Horizont der Geschichte des Universums steht in Spannung zu dem Ewigkeitsbezug, der dem sozialen Verhältnis anhaftet und den Menschen unbedingt setzt. Ohne den Gottesbezug ginge der „Sinn des Lebens“659 dahin und da dieser über das Verhältnis zum Anderen vermittelt ist, muss der Sinn sich auch an der Vollendung des Verhältnisses zum Anderen bewähren. Drei kurze Anmerkungen weisen bei Hirsch auf eine Vollendung in der Dimension der Interpersonalität hin.660 (1) „Dies Verhältnis [zum Anderen, A.‑M. K.] hat angefangen und muß sich vollenden. Sollte das hier sich Verwirklichende das Ganze sein, so wäre es eine bloße belanglose Gefühligkeit.“661 (2) „Nichts, was in ein zu Gott sich glaubend verhaltendes Herz eingeht, ist verloren, es geht mit dem Herzen zusammen in Gottes Ewigkeit ein.“662

658 

HchR, 404 f. ChR II, 168. 660 Martin Zerrath kritisiert Hirsch dahingehend, dass er den Einzelnen eschatologisch isoliere (Zerrath: Vollendung, 138.259.267–269), also eine Vollendung der Welt im Sinne des sozialen Verhältnisses nicht in Betracht ziehe. Natürlich sind die hier aufgeführten Zitate recht kurz, dafür aber sehr ausdrückliche Voten für eine Vollendung, die über die Dimension des Einzelnen hinaus geht. Zerrath vernachlässigt in seinen Ausführungen Zitat Nr.  1., welches das wohl prägnanteste in dieser Hinsicht ist. Zudem verkennt er, dass die Bezugnahme auf ‚Gott alles in allem‘ nicht ein in „ganz untypischer Manier“ (a. a. O., 259) von Hirsch herangezogenes Bibelwort ist, sondern auf die Antinomie der Vorstellung einer personhaften Vereinzelung des Menschen in der Ewigkeit in Verbindung mit der Allgegenwart Gottes geht. Nimmt man die Anmerkungen ernst, kann man bei Hirsch wohl kaum auf den von Zerrath unterstellten „Heilsegoismus“ stoßen. („Dort, wo es ihm um das Letzte seines Lebens geht, scheint der Einzelne nur noch an sich, nicht aber an die anderen zu denken.“ [ebd.]) Auch Hirschs verhaltene Hinweise auf den Apokatastasisglauben (s. u., 6.C.c, 251 ff.) deuten darauf hin, dass für Hirsch entgegen Zerraths Annahme die Hoffnung des Glaubens „immer auch Hoffnung für andere ist“ (Zerrath: Vollendung, 268). 661  ChR II, 110. 662  ChR II, 169. 659 

3  Die theologische Transformation der Eschatologie

163

(3) „Die Gemeinschaft des Glaubens in Christus als letzte verborgene Einheit, in die uns das Evangelium stellt, vertieft und vollendet sich also in die vollkommene Gemeinschaft aller Gottessöhne ineinander mit Gott.“663

Eine Vollendung des Verhältnisses zum Anderen ist für Hirsch nicht zu denken ohne den darin aufscheinenden und dem Menschen wesentlichen Gottesbezug, womit er wiederholt rein diesseitigen Vorstellungen von einer vollendeten Gesellschaft die Absage erteilt.664 Das Bild dieses im Eschaton vollendeten Verhältnisses gewinnt der Mensch an der gegenwärtigen „Gemeinschaft des Glaubens [mit und] in Christus“665 – es bleibt allerdings wie alle Bilder uneigentlich. Diese Uneigentlichkeit macht Hirsch an der Spannung zwischen der unter endlichen Bedingungen notwendigen Aufschließung von Gottes Liebe durch die den Menschen „tragende Liebe“666 Jesu zu der Aussage von ‚Gott alles in allem‘ deutlich: Wenn Gott alles in allem ist, ist auch seine Liebe voll offenbar und gegenwärtig. Des Ansichtigwerdens und des Hineingenommenwerdens in die Liebe Gottes durch die Liebe Jesu bedarf es dann nicht mehr. In Hirschs Terminologie: Jesus muss nicht mehr ‚Herr der Innerlichkeit‘ werden und bleibt allein Bruder der Menschen. Wenn aber menschliche Gemeinschaft als endlicher Vermittlungsgrund göttlicher Liebe dient, bedarf es dann ihrer im eschatologischen Sinne überhaupt noch? Hirsch problematisiert diese sich aufdrängende Frage nicht direkt, macht aber eben zitierte Aussagen, die darauf hinweisen, dass zwischenmenschliche Gemeinschaft für ihn eschatologisch bestehen bleibt und sich vollendet. Vom Gewissensbegriff her – die Doppelbestimmtheit des Menschen durch Innerlichkeit und Äußerlichkeit –, der das Sein mit anderen impliziert, legt sich diese Interpretation ebenfalls nahe. Hirsch weist darauf hin, dass Jesu liebendes Verhältnis zu anderen Menschen im Eschaton nicht mehr paradigmatisch ist, sondern alle menschlichen Verhältnisse ihm gleichgestaltet sind. Ewige menschliche Gemeinschaft besteht nicht mehr „in Christus“, sondern „ineinander“667. Hirsch markiert diese Aussage als „Hieroglyphe, die nur vom Glauben unerkenntnismäßig geahnt werden kann“668, d. h. nicht einmal dem Glauben ist das vollendete Wesen der Gemeinschaft aller Menschen in seiner ihm eigenen ‚überwissensmäßigen‘ Erkenntnisform aufgeschlossen. Der Versuch, die Vollendung des zwischenmenschlichen Verhältnisses denkerisch zu greifen, bleibt offensichtlich – analog zum Denkversuch des eschatologischen menschlichen 663 Ebd.

664 

ChR II, 168. ChR II, 169; i. O. herv. 666  ChR II, 166. 667  ChR II, 169; Herv. i. O. 668 Ebd. 665 

164

Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Gottesverhältnisses – an einer Antinomie stehen: Die Liebe Gottes ist vollkommen offenbar, mit Gott findet der Mensch die Form vollendeter Liebesgemeinschaft schlechthin, und doch bleibt die zwischenmenschliche Gemeinschaft bestehen und die zwischenmenschliche Liebe vollendet sich. In christologischer Hinsicht wird deutlich, dass für Hirsch die exklusive Jesus-Beziehung in der Vollendung ihr Ende finden muss bzw. aufgehoben ist. Es bleibt das vollendete Verhältnis des Menschen zu Gott und die vollendete Gemeinschaft der Menschen untereinander. Ekklesiologisch zieht Hirsch daraus die Konsequenz, dass auch der unsichtbaren Kirche Vergänglichkeit anhaftet, die der Vollendung bedarf:669 Die verborgene, ewige menschliche Gemeinschaft als Tiefendimension der endlichen menschlichen Gemeinschaft konstituiert sich durch ihren Glauben an Jesus, der im Eschaton nicht mehr notwendig ist.670 – Die unsichtbare Kirche ist also nicht als sich linear ins Eschaton hinein fortsetzend, als deckungsgleich mit dem schon hier angebrochenen Reich Gottes, zu denken, sondern der Begriff von der unsichtbaren Kirche wird von Hirsch in seiner eschatologischen Bedeutung stark zurückgenommen. Deswegen kann m. E. mit Hirsch auch nicht gesagt werden, dass die eschatologische Vollendung in einer Überwindung des Antagonismus zwischen Einzelnem und Gemeinschaft bzw. in einer gelungenen Vermittlung zwischen beiden Größen besteht – diese ist wohl von der ewigen Tiefendimension her eher in der endlichen Sphäre selbst zu realisieren. Die Gemeinschaft steht dem Einzelnen im Eschaton m. E. nicht mehr als Kollektiv gegenüber, sondern es gibt unter der Bedingung der völligen Erschlossenheit des Anderen schlichtweg in dem Sinne kein ‚Gegenüberstehen‘ mehr, sondern eher ein verbundenes Nebeneinander, eine „Nähe von Person zu Person“671. Wirklichkeit wird die alles umgreifende Einheit des Verhältnisses des Einzelnen zu Gott, in dem sowohl sein Personsein als auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch aufgehoben ist.672 Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass die Vollendung des Gottesverhältnisses bei Hirsch die Vollendung des Verhältnisses zum Nächsten ist. Die Aussagen Hirschs, das Verhältnis zum Nächsten muss sich vollenden und alle Menschen werden Brüder sein, lassen nun aber darauf schließen, dass dieses nicht in die unterschiedslose Einheit aufgehoben ist. Unterstützend kann dazu der Geistbegriff Hirschs herangezogen werden, der sowohl als Element der Verbindung wie auch als Element der Individualisierung bestimmt wurde.673 669 

ChR II, 166 f. ChR II, 169. 671  ChR II, 235. 672  Deswegen wird hier auch die klassische Bezeichnung der Lehre von der sozialen Vollendung, ‚kollektiv‘, vermieden. 673  S. o., 155 ff. 670 

3  Die theologische Transformation der Eschatologie

165

Gleichzeitig mit der Vollendung des Einzelnen und seines Verhältnisses zum Nächsten finden offenbar alle individualitätsbestimmenden Momente ihren Platz im Eschaton, alles „was in ein zu Gott sich glaubend verhaltendes Herz eingeht“674. Inwiefern hier mittelbar die – freilich strikt auf das Verhältnis des Subjektes zu ihr bezogene – Umwelt eschatologische Wirklichkeit besitzt, deutet Hirsch durch folgende Aussage an: „Die Welt der Natur ist – natürlich ist dies ein den Verstand überschreitender glaubensbedingter Satz – auf den Menschen und den Geist zu. Sie ist ein gefangener, vergeblich nach seiner Erlösung und Erhebung sich sehnender möglicher Geist. In der menschlichen Seele, dem menschlichen Geist, bricht der Traum, welcher allem Sichbewegen der Welt und allem Sichregen der Natur zugrunde liegt, aus der Nacht heraus an den wirklichen Tag.“675

Die Natur dient zwar nach Hirsch allein als Grundlage menschlich-endlichen Lebens, besitzt jedoch Strukturen, die auf ihre Vollendung angelegt sind. Diese drücken sich an dieser Stelle in ihrer Sehnsucht aus, die auf Erfüllung drängt.676 Ihre Vollendung erfährt die Natur aus theologischer Perspektive im menschlichen Geist, darüber vermittelt ist sie auf Gott bezogen. Im menschlichen Geist, der sich auf Gott bezogen weiß, kommt ihre seufzende Sehnsucht zur Möglichkeit ihrer Erfüllung. Ohne diese Hinordnung sehnt sich die Natur „vergeblich“.677 Der kreatürlichen Welt ohne Gottesbezug steht mit Hirsch das Vergehen im Tod bevor, sie hat ihren Dienst erfüllt.678

674 

ChR II, 169. 352. Hirsch illustriert diese Annahme (ebd.) an Beispielen der Tierwelt, die menschliche Eigenschaften vorbilden – z. B. das eheähnliche Verhältnis mancher Tiere, das in der menschlichen Ehe seine vollendete Form findet. 676  Zur auf die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen verweisenden Doppelstruktur von Angst und Sehnsucht s. u., 5.D, 192 ff. 677  Mit seinen wörtlichen Anleihen bei Röm 8 legt Hirsch eine ihm eigene Paulus-In19–23 terpretation vor: Das „ängstliche Harren der Kreatur“ auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes wird von ihm so verstanden, dass die Vollendung der Schöpfung von der Vollendung des Menschen abhängig ist. Die Kreatur ist dann nicht selbst zur Gotteskindschaft, zur Vollendung, bestimmt, sondern die Freiheit der Kreatur besteht allein im Medium der Freiheit der Gotteskinder – so müsste der paulinische Satz, „denn auch die Schöpfung wird freiwerden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“, in dem Fall verstanden werden. Dementsprechend ist auch die Angst der Kreatur für Hirsch nur eine uneigentliche Angst, die der Mensch von seiner Angst um deren Bestehen her auf diese projiziert (s. u., 192 f., Anm.  98). 678  HchR, 304 f. Damit kann Hirschs Konzeption als Beleg für Mühlings These dienen, dass in der Ablehnung einer theologischen Lehre vom Ende der Welt und ihrer Vollendung der Gedanke der annihilatio mundi impliziert ist (Mühling, M.: Grundinformation Eschatologie. Systematische Theologie aus der Perspektive der Hoffnung, Göttingen 2007, 146). 675  HchR,

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Grundlegung: Der eschatologische Rahmen

Auf der theologischen Aussageebene muss die antinomische Spannung zwischen der alles umgreifenden Einheit Gottes und der Selbstständigkeit der Person und des interpersonalen Verhältnisses bestehen bleiben. Das lässt darauf schließen, dass auch die Antinomie des Gottesgedankens in eschatologischer Reflexion nicht aufgehoben werden kann. Um die Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch auch im Eschaton aussagen zu können, muss an Gottes Herrund Geistsein festgehalten werden.

Hauptteil

Der Tod in der Spannung zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

4  Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie An der hier gegebenen Analyse der konzeptionellen Voraussetzungen, der Möglichkeitsbedingung und der Transformation der Eschatologie Hirschs wird deutlich: Das Gottesverhältnis des Einzelnen und das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod bilden deren Zentrum. Die Reflexion über die zentrale Bedeutung des Todesthemas für Hirschs Theologie dient dazu, in die eigentliche Analyse und Interpretation seiner Todesdeutung überzuleiten. Dafür werden in einem ersten Schritt die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst und auf die Todesthematik zugespitzt (4.A). Daran schließt sich eine Darstellung der Quellengrundlage für die Analyse der Todesdeutung Hirschs an, die zugleich am Textbestand aufzeigt, inwiefern das Todesthema das gesamte theologische Denken Hirschs durchzieht (4.B).

4.A  Das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod als Zentrum der Eschatologie Unter dem Schlagwort „Nacht der Bildlosigkeit“ beschreibt Hirsch zeitdiagnostisch die Lage der traditionellen Eschatologie vor dem Hintergrund der Umformungskrise des neuzeitlichen Christentums. Die Theologie sieht Hirsch gerade auf diesem Gebiet vor der Herausforderung des Wegbrechens aller bisherigen Aussagen, da sie insgesamt unter die Kategorie mythologischer Rede fallen und damit für das neuzeitliche Wahrheitsbewusstsein nicht mehr unmittelbar einleuchtend sind. An der Analyse theologischer Reaktionsversuche, die für Hirsch nur noch tiefer in die Irrelevanz des Christentums hineinführen, werden für Hirschs eigenes Konzept wegweisende Gedanken angesprochen: Die theologische Verpflichtung auf das Nichtwissen des Menschen – auch des Theologen – angesichts des Todes und die Konstruktion der Theologie aus der Innerlichkeit des Glaubens des Einzelnen, aus der konsequenterweise auch die Eschatologie entfaltet werden muss. Hirsch meint, trotz der Problematisierung menschlicher Religiosität durch die Moderne, aus wahrheitstheoretischen und ethischen Gründen an der Ewig-

170

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

keitsbezogenheit des Menschen festhalten zu können und zu müssen. Er plausibilisiert diese These durch eine religionsphilosophische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit, in der die Ewigkeit als die Tiefendimension und das Jenseits der Zeit gefasst ist. Die These bildet die Grundlage für die Berechtigung der Eschatologie vor dem Forum des humanen Wahrheitsbewusstseins. Hirsch hebt sie zugleich immer wieder als den letzten Gedanken hervor, der im Bereich der Eschatologie noch auf dem Boden der Allgemeinverständlichkeit zu formulieren möglich ist. Die eschatologische Reflexion hat wie die Theologie insgesamt die methodische Gestalt der Rechenschaft vom subjektiven christlichen Glauben, die sich ihrer erkenntnistheoretischen Begrenztheit bewusst ist. Das Gottesverhältnis des Einzelnen ist für Hirsch folgerichtig der Maßstab für den Umgang mit traditionellen theologischen Aussagen. Der theologische Grund dafür liegt in dem von Hirsch subjektiv gefassten Gedanken der Offenbarung, die sich durch ihren Geheimnischarakter auszeichnet, und der damit verbundenen Figur eines ‚Über-Wissens‘, einer rein subjektiven Erkenntnis. Die subjektive Gestalt der Offenbarung ist in ihrer Begrenztheit zugleich die Möglichkeitsbedingung der Eschatologie: Sie verwandelt die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen in Ewigkeitsgewissheit und schafft so die Möglichkeit, über die rein formale Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit hinausgehende Aussagen zu treffen, die die geschichtliche Gestalt der subjektiven Erfahrung der Liebe Gottes thematisieren. Die Fragilität der Ewigkeitsgewissheit, die durch die Ambivalenz der Erfahrungen mit Gott bedingt ist, und die damit verbundene simul-Struktur des Glaubens unterstreichen von der materialen Seite her die methodische Begrenzung eschatologischer Aussagen: Sie können auch aus dem Glauben heraus nicht im Modus letzter Sicherheit getroffen werden, sondern sind dem Hin und Her zwischen Gewissheit und Zweifel, zwischen Glaube und Unglaube, ausgesetzt. Hirsch entwirft seinen konzeptionellen Voraussetzungen entsprechend das Programm einer Transformation der traditionellen Eschatologie, das der kon­ struktiven Verbindung von neuzeitlichem, bildlosem Wahrheitsbewusstsein und christlich(-reformatorisch)em, gestaltlosem Ewigkeitsglauben dienen soll. Er geht dabei nicht einseitig die mythologischen Gehalte aussondernd vor – womit er seine drastische zeitdiagnostische Traditionskritik relativiert –, sondern schält auf zwei Ebenen deren bleibende Bedeutung heraus. Zum einen betont er den Wert der Bildsprache im Bereich der Poesie und der Liturgie, wobei er freilich nicht müde wird, deren Uneigentlichkeit zu betonen. Für den theologischen Lehrer sieht er zum anderen die Aufgabe gestellt, zum Bewusstsein der Uneigentlichkeit der Bilder zu erziehen und diese sachgemäß auszudeuten. Mit der methodischen Konzentration auf das Gottesverhältnis des Einzelnen und das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod geht auf inhaltlicher Ebene ein

4  Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie

171

individualeschatologischer Fokus einher. Auf methodischer Ebene hat dies zur Folge, dass sämtliches eschatologisches Bildmaterial aus der theologisch-wissenschaftlichen Betrachtung zumindest soweit ausgeschlossen wird, dass es nicht unmittelbar übernommen, sondern auf seinen an dem Maßstab des Glaubens des Einzelnen ausgerichteten Wahrheitsgehalt hin überprüft wird. Konkret hat dieses Vorgehen zur Folge, dass die Lehre vom Weltende, der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele, aber auch die Auferstehungsvorstellung und die Lehre von einem Jüngsten Gericht samt der Frage nach seinem Ausgang kritisiert und geprüft werden. Dabei gewinnt Hirsch jedem einzelnen dieser Bilder einen theologischen Bedeutungsgehalt ab, der von ihm mehr oder weniger differenziert ausgeführt ist. Der transformierte Gerichtsgedanke nimmt in Hirschs Eschatologie eine Zentralstellung ein. Das Gericht wird von Hirsch als eine den Menschen seiner Selbstmächtigkeit beraubende, in die Ohnmacht treibende Struktur menschlicher Erfahrung gedeutet. Diese resultiert aus der sich im Schuldbewusstsein äußernden Getrenntheit des Menschen von Gott, die als solche aber nur im engen Zusammenspiel mit der Gnade zu verstehen ist, die die Gründung der Person in Gott und die Gemeinschaft mit Gott erschließt. ‚Gericht‘ ist in diesem Sinne als eine Deutungskategorie des Glaubens bestimmt. Hirsch deutet den als potenzierte Gerichtserfahrung im Medium der endgültigen Gottesbegegnung. Er verortet das sogenannte Letzte Gericht damit im Tod selbst und stellt eine strukturelle Entsprechung zwischen dem Gerichtsgedanken und dem Charakter des Todes her. Während der Gerichtsgedanke die Ambivalenz der Erfahrungen des Glaubenden im Leben thematisiert, greift Hirsch mit den traditionellen Termini der Neuschöpfung und des Reiches Gottes die Vollendungsdimension der Ewigkeitsgewissheit auf. Die Neuschöpfung dient dabei als Deutungskategorie für den Vorgang der sich immer wieder neu ereignenden Verwandlung der Ewigkeitsbezogenheit in Ewigkeitsgewissheit, die Stärkung der Gewissheit der Liebe Gottes auch angesichts der Ambivalenzen des Lebens. Die traditionell kollektive Größe des Reiches Gottes illustriert bei Hirsch das Aufeinandertreffen von Zeit und Ewigkeit im glaubenden Subjekt. Es bekommt auf diese Weise eine stark präsentische Note, auch wenn es erst mit dem Tod voll enthüllt wird. Das Verständnis der Ewigkeitsgewissheit als Prozess, der auf seine Voll­ endung angelegt ist, begründet die Möglichkeit, Aussagen über das ewige Leben auf Grundlage der Glaubenserfahrung zu machen. An der Person Jesu wird der Glaubende der ewigen Existenzform des Menschen ansichtig, Hirsch illu­ striert diese mit dem Bild der Gotteskindschaft. Trotz der starken Konzentration auf die Gegenwärtigkeit des Ewigen als Tiefendimension der Zeit und der Abwehr kosmologischer Reflexionen im Bereich der Theologie hält Hirsch an der

172

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Zukünftigkeit und Jenseitigkeit ewigen Lebens fest. Hierbei wendet er sich vor allem gegen säkularisierte Ideen von einem irdisch zu verwirklichenden Idealreich und gegen jede Vereinnahmung des Ewigen mittels zeitlicher Kategorien. Trotz der Subjektivierung des Reich-Gottes-Gedankens wird eine über die Subjektivität hinausgehende Form des ewigen Lebens angedeutet: die Vollendung des Verhältnisses zum Anderen. Dieses ist umgriffen von dem im Eschaton vollendeten Gottesverhältnis. Sowohl die Vorstellung der Vollendung des Einzelnen als auch die der Vollendung des Verhältnisses zum Anderen finden ihre Grenze am Gottesbegriff des Allmächtigen und Allgegenwärtigen. Die Erkenntnis bleibt an der antinomischen Spannung zwischen dem Gott, der die Ewigkeit ganz ausfüllt und dem Menschen, der auch in der Ewigkeit Person bleibt, stehen. Mit dem Fokus theologisch möglicher Aussagen auf die präsentische und die individuelle Eschatologie rückt das Gottesverhältnis des Einzelnen angesichts des Todes bei Hirsch ins Zentrum und wird so zum Konzentrationspunkt eschatologischer Aussagen. Diese Beobachtung kann in folgender These zugespitzt werden: Eschatologie ist bei Hirsch nichts anderes als eine theologische Deutung des Verhältnisses des Einzelnen zu seinem Tod vor dem Horizont seiner Gottesbeziehung. Der Tod des Menschen ist in eschatologischen Termini: das Weltende, die klare Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit, der letzte Ort der Entscheidung über Leben und Tod, der Ort des Gerichts, der Ort der Gottesbegegnung. Im Moment des Todes kommen alle Aspekte der Eschatologie zusammen. Ebenso wurde in christologischer Hinsicht eine Konzentration auf das Leben Jesu und sein Verhältnis zum Tod deutlich, die den Gedanken der Auferstehung fast auszuschließen scheint.1 Die Zentralstellung des Todes stellt Hirsch auch in der theologischen Grundlagenreflexion heraus: Religionsgeschichtlich bestimmt er die „Frage nach dem Geschick des Einzelnen im Tode“ als „Mittelpunkt“2 der Stiftungsreligion, mit dem sie sich von der mythisch begründeten „Volksreligion“3 deutlich unterscheidet. Dort ist das Leben als ständig wiederkehrender Kreislauf verstanden und hat seine Beständigkeit in der Gemeinschaftsordnung, man verbleibt meist in den Grenzen der Diesseitigkeit.4 Hier wird der Einzelne ins Zentrum gerückt, dem durch die religiöse Lehre ein Weg „zum gottgemäßen Leben“5 gezeigt wer1  Wie Hirsch die Implikate der Auferstehungsvorstellung – das Bild von Gott, der aus dem Tod ins Leben ruft, die lebendige Gegenwart Jesu nach seinem Tod – vom Charakter des Todes Jesu her erhellt, wird in Abschnitt 7.A.d dieser Arbeit deutlich. 2  WCh, 17. 3  WCh, 15. 4  WCh, 13–15. 5  WCh, 16.

4  Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie

173

den soll. Die Grenzen menschlich-geschichtlicher Gemeinschaft werden überschritten. Die zunehmende Transzendierung des Lebens führt zur Ausrichtung auf das Jenseits, in dem wie im Diesseits der Einzelne im Mittelpunkt steht. Geschichtsphilosophisch schreibt Hirsch dem Tod ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu: Indem der Tod das einzelne menschliche Leben auf eine bestimmte Zeitspanne in der Geschichte befristet, macht er es dem Menschen unmöglich, sich zu einer Perspektive auf das Ganze der Geschichte zu erheben. Er begrenzt den denkerischen Zugriff auf das Allgemeine, es ist immer an das Besondere gebunden, beide Momente bilden „eine unteilbare Einheit“6. Im Tod des Menschen fallen Allgemeinheit und Besonderheit insofern immer zusammen, als er zum einen die jedem Menschen gesetzte Grenze des Lebens ist und er zum anderen nur im individuellen Sterben als solche wirklich begriffen werden kann. Am Tod wird exemplarisch deutlich: Das Allgemeine und das Besondere, allgemein nachvollziehbare Argumentation und persönliche Betroffenheit, fallen im menschlichen Sinnverstehen immer zusammen.7 Endlichkeitstheoretisch reflektiert legt der Tod die im menschlichen Leben immer mitlaufende Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit offen. Ewigkeit und Zeit sind sowohl einander entgegengesetzt als auch miteinander verbunden, indem die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit aufscheint. Religionsphilosophisch, in den Kategorien der Grundantinomie der Religion formuliert, bedeutet das, dass Gott zugleich Grund und Grenze menschlichen Lebens ist. Indem der Tod diese Grenze offenlegt, ist er in jedem Moment der Beziehung zwischen Gott und Mensch präsent. Noch einmal mit Hirsch anders ausgedrückt: Insofern im Herzen des Menschen selbst die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit – der Ort der Gottesbeziehung – liegt, liegt in diesem zu jedem Zeitpunkt auch die Todesgrenze. Der Tod spielt nur eine besondere Rolle, weil er diese immer schon gegenwärtige Grenze offenlegt.8 Der Tod kommt in der Gottesbeziehung 6 

HchR, 85. HchR, 85 f. 8  HchR, 305 f. Vor dem Hintergrund dieser beiden Stellenverweise, in denen dem Tod sowohl religionsphänomenologisch als auch theologisch eine für den christlichen Glauben zentrale Rolle zugeschrieben wird, ist Martin Zerraths Aussage, dass für Hirsch das Sicham-Tod-Abarbeiten nicht im Zentrum des Glaubens steht, nicht ganz zutreffend. S. E. geht es Hirsch „im Zusammenhang des Ewigkeitsglaubens allein darum, dass dieser das Vertrauen auf den göttlichen Grund auch angesichts des Todes nicht zu verlieren braucht“ (Zerrath: Vollendung, 254). Sicher ist es bei Hirsch nicht so, dass sich der Ewigkeitsglaube erst an der Realität des Todes entzündet, wie es besonders an der Bedeutung des Lebens und des Todes Jesu für den christlichen Glauben zu sehen ist. Aber der Ewigkeitsglaube wird doch gerade an der Realität des Todes, der durch das ganze Leben hindurch und in jedem Moment der Gottesbeziehung präsent ist, vertieft, indem der Mensch die Herausforderung des unbedingten Vertrauens deutlicher denn je vor Augen gehalten bekommt. 7 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

derart zu stehen, indem er diese mit dem Gefühl der Gottgeschiedenheit einfärbt und indem an ihm das Wesen der Gottesbeziehung als bejahtes Gotterleiden in besonderer Weise offenbar wird.9 Er ist für das religiöse Verhältnis wesentlich.

4.B  Das Todesthema in der ChR und im theologischen Spätwerk Hirschs: Die der Analyse zugrunde gelegten Quellen Der hohen theologischen Relevanz entsprechend durchzieht das Thema Tod die unterschiedlichen dogmatischen Topoi und die verschiedenen theologischen Schriften Hirschs, die – soweit sie für das Thema ausschlaggebend sind – hier ihrer Intention und ihrem Inhalt nach skizziert werden sollen. Damit wird zugleich die Quellengrundlage für die hier gegebene Analyse der Hirsch’schen Todesdeutung eingegrenzt. In der ChR (1938–1945) wird der Tod außerhalb der Eschatologie10 klassischerweise aus schöpfungstheologischer, anthropologischer, soteriologischer und christologischer Perspektive thematisiert. Auffällig ist hier, dass die Bedeutung des Todes nicht – wie häufig in der theologischen Tradition geschehen – hamartiologisch verengt wird, sondern dass der Tod im Verhältnis zwischen Gott und Mensch nüchtern als unausweichliche Gegebenheit betrachtet bzw. sogar positive Funktionen zugeschrieben bekommt. So markiert er als Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit die anthropologisch notwendige Begrenzung der menschlichen Erkenntnis, die den Unterschied des Menschen zu Gott ausmacht. In dem Sinne ist menschliches Leben ohne den Tod nicht zu denken.11 Der Tod wird dementsprechend in den Gottesgedanken selbst integriert: Gott ist es, der tötet und lebendig macht.12 Soteriologisch wird der Tod in der Spannung zwischen Gericht und Gnade begriffen.13 Die Christologie ist im Rahmen der Soteriologie als Kreuzestheologie entworfen, in der die Auferstehung eine vergleichsweise marginale Rolle spielt.14 Im WrCh (1963) widmet sich Hirsch der Aufgabe, das Wesen des reformatorischen Christentums vor dem Hintergrund von Ausdifferenzierung, religiöser 9 

S. u., 6.A.a, 216 ff. ChR II, 97–112 (§§  88–90). 11 §64 Der Einzelne vor Gott und das ewige Leben (ChR I, 277–281). 12 §57 Die Antinomie des Glaubens an den Schöpfer (Gottes Töten und Lebendigmachen) (ChR I, 233–241). 13 §§79–81 Das Wort als Neuschöpfung (ChR II, 49–64). 14 §§74.77.80 […] Jesus der Gekreuzigte […] (ChR II, 16–24.35–44.57–61). 10 

4  Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie

175

Pluralisierung, Globalisierung und ökumenischen Einheitsbestrebungen mit dem Programmbegriff des Neuprotestantismus in Abgrenzung von Katholizismus und sittlicher Bildungsreligion neu zu erfassen. Das Thema Tod zählt er ebenfalls zu den kontroverstheologischen Hauptfragen, er verhandelt es in dem gesonderten Aufsatz Tod und Ewigkeit15, der neben den einschlägigen Passagen der ChR wohl die wichtigste Textgrundlage für eine Analyse von Hirschs theologischer Todesdeutung bildet. Hier liegt ihm daran, gegen mythische, dogmatisierende und damit verendlichende Tendenzen des Katholizismus seiner Zeit den Tod als die „Grenzscheide“16 zwischen Zeit und Ewigkeit zu markieren. Wesentlich reformatorisch ist das Bewusstsein der Uneigentlichkeit eschatologischer Bilder vor dem Hintergrund der „Nacht der Bildlosigkeit“17. Denselben Titel, Tod und Ewigkeit18, verwendet Hirsch in seinem Erbauungsbuch Zw (1960) für einen der Hauptabschnitte – der pointiert an dritter Stelle im Buch, gleich nach den Reflexionen über das Gottesbild, steht –; darüber hinaus arbeitet er hier in weiteren Unterabschnitten19 zum Thema. Der um Probleme des christlichen Glaubens kreisende, reflexiv-meditative Stil dieses Buches macht es nicht einfach, die einschlägigen dogmatischen Gedankengänge freizulegen. Dennoch liegt in der seelsorglichen Ausrichtung an ein breites Publikum – die kirchlichen Laien – die Chance eines weiteren Zugangs zum Thema. So werden hier von Hirsch z. B. die Fragestellung der menschlichen Einstellungen zum Tod aufgegriffen 20 und eine Phänomenologie der Angst21 entwickelt. Die Frage nach dem modernen Umgang mit dem Tod greift Hirsch ebenso in der ethischen Schrift EE (1966) auf. Diese liefert eine Grundlegung ethischer Begriffe, die Hirsch im Blick auf die Gemeinschaftsdimension und im Blick auf die individuelle Dimension reflektiert. Sie ist insofern relevant, als dem Todesthema eine ethisch zentrale Stellung eingeräumt wird: Hirsch eröffnet die Individual­ethik mit einer Reflexion über Geburt und Tod.22 Er gibt hier eine ausführliche Zeitdiagnose zum modernen Umgang mit dem Tod und führt die verschiedenen Einstellungen zum Tod auf ethisch-religiöse Grundsatzentscheidungen zurück. In den HchR (1963) geht Hirsch die Frage nach dem wesentlich Christlichen von der Klärung der religionsphilosophischen Denkvoraussetzungen her an. Er 15 

WrCh, 163–188. 171. 17  WrCh, 174. 18  Zw, 65–107. 19  Die da wären: Die Toten und ihre Ideale (Zw, 227 ff.), Der Herr des Lebens (Zw, 280 ff.). 20  Zw, 72 f. 21  Zw, 78 f. 22  EE, 309–322. 16  WrCh,

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

hat hierbei das Ziel, über die dem Menschen wesentliche Ewigkeitsbezogenheit das Christentum dem ‚Menschlichen‘ plausibel zu machen bzw. deren Wahlverwandtschaft herauszustellen und den von ihm diagnostizierten Graben zwischen beiden zu überwinden.23 Auch hier steht also ein breiteres Publikum – der imaginäre Leser, der Theologie und Kirche skeptisch gegenüber steht – im Hintergrund und die Frage der Anschlussfähigkeit christlichen Gedankenguts ist hier noch stärker als in den anderen Schriften treibendes Moment.24 Unter der Überschrift Totengericht und höllische Pein25 klärt Hirsch die anthropologischen und die theo-logischen Voraussetzungen seines transformierten Gerichtsgedankens26, der über die Gedankenfigur des Vergehens der Gottlosen im Tode27 eng mit dem Thema des Todes verbunden ist. Diese Gedankenfigur spielt ebenfalls eine Rolle in der in einer Mischung aus meditativem und wissenschaftlichem Stil abgefassten Schrift WGJ (1969). Hirsch verfolgt hier das Ziel, mittels einzelner Meditationen zu kontrovers interpretierten Überlieferungen der Geschichte Jesu ein Gesamtbild Jesu zu erzeugen. Einschlägig sind einige der Meditationen 28 für die Hirsch’sche Transformation des Gerichtsgedankens und die damit verbundenen Erwägungen über den doppelten Ausgang. Wichtig ist hier außerdem für die Deutung des Kreuzestodes Jesu, näherhin für das Verständnis der Gottverlassenheit, die im Anhang aus dem Roman Waldemar Attichs Wendejahr (1961) übernommene Meditation über Jesu Klage am Kreuz29. In Hirschs Monographie Ag (1940) finden sich einige Gedanken zum Thema Tod, die durch die Bezweiflung der Historizität der Auferstehung Jesu und die Verschiebung vom traditionellen Auferstehungsglauben zum neuen Osterglauben geprägt sind. Schon hier entfaltet Hirsch die Möglichkeit der Osterpredigt, die durch die im Band Osterglaube beigegebenen Predigten und Meditationen angereichert wird. Von letzteren ist besonders wichtig der ein Jahr vor Hirschs Tod veröffentlichte Aufsatz Eg (1971), in dem er wiederholt das zeitdiagnostische Schlagwort der „Nacht der Bildlosigkeit“30 aufgreift. Indem er hier die 23  Hirsch gibt folgenden Motivationsgrund für den Leser an: „Ich möchte nichts weiter, als daß sie das wahrhaft und wesentlich Christliche rein und lauter zu Gesicht bekommen und dabei begreifen, was es für menschliches Selbstverständnis bedeutet, wenn man sich mit diesem Christlichen einläßt.“ (HchR, 6). 24  Vgl. den ersten Brief Einverständnis mit dem Empfänger, HchR, 1–7. 25  HchR, 297–309. 26  S. o., 3.B, 136 ff. 27  S. u., 6.C.a, 243 ff. 28  Reich Gottes und Jüngster Tag (WGJ, 100–109); Die Verneinung des Vergeltungsdogmas (WGJ, 166–173); Die Ordnung des Heils (WGJ, 174–182). 29  WGJ, 233–241. 30  Eg, 213.

4  Die Bedeutung des Todesthemas für die Theologie

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Ewigkeitsgewissheit, die auch die Deutung des Todes einschließt, kategorial in den Bereich der „persönlichen Überzeugung“31 einordnet, schafft er einer Pluralität von Todesdeutungen Raum und stellt zugleich klar, dass eine bestimmte (auch die christliche) Todesdeutung nicht erzwungen werden kann.

31 

Eg, 222.

5  Die „letzte Nacht“: Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung der Todesdeutung Die zentrale Bedeutung des Todes für das menschliche Gottesverhältnis und die theologische Reflexion verankert Hirsch seinem existenzanalytischen Ansatz entsprechend in der Rolle, die der Tod für das menschliche Selbstverständnis überhaupt spielt. Dieser phänomenologische Zugang soll hier als argumentative Grundlage der explizit theologischen Todesdeutung dargestellt werden. Dabei wird in einem Exkurs auf die einschlägigen existenzphilosophischen Todesdeutungen Martin Heideggers und Karl Jaspers’ zurückgegriffen, die sich einerseits als hilfreich erweisen haben, um die argumentative Struktur hinter dem erbaulichen Stil der diesem Kapitel hauptsächlich zugrundeliegenden Quelle, Zw, freizulegen und die andererseits dazu dienen, die Hirsch’sche Konzeption in ihrer phänomenologischen und existenzialdialektischen Überzeugungskraft zu konturieren. Auf Søren K ierkegaard, der besonders für Hirschs Begriff der Angst die – von ihm selbst nicht benannte – Referenzgröße ist, wird in den Anmerkungen Bezug genommen. Grundlegend für Hirschs Todesdeutung ist die philosophische Bestimmung des Lebens als ein auf den Tod zulaufendes, von der her über die Auswirkungen des Todesbewusstseins im Leben reflektiert werden kann (5.A). Dieses nimmt Gestalt an in verschiedenen Einstellungen zu Tod und Leben, denen jeweils eine bestimmte Todesdeutung zugrunde liegt. Hirsch bringt deren Vielfalt zur Darstellung und bewertet sie danach, ob sie dem Wesen des menschlichen Lebens, das durch den Tod bestimmt ist, angemessen sind oder nicht (5.B). Vor diesem Hintergrund erweist sich diejenige Deutung als ideale, die den Tod als den Moment begreift, in dem die Wahrheit über das menschliche Leben so offenbart wird, dass erstens von dem Verhältnis des Menschen zu seinem Tod her der ambivalente Charakter des Lebens erklärt werden kann: Sie schließt sowohl mit der Todeserfahrung verbundene entbindende Durchbruchserlebnisse als auch durch diese hervorgerufene Lähmungszustände ein. Das zweite Kriterium, das diese Todesdeutung als eine dem menschlichen Leben angemessene erweist, bemisst, inwiefern am Wert sowohl des menschlich-geschichtlichen Lebens im

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Allgemeinen als auch des individuellen, persönlichen Lebens festgehalten wird (5.C). Dem menschlichen Todesbewusstsein korrespondiert die existenzielle Grundstimmung der Todesangst, die Hirsch als die das Leben in verschiedenen Facetten begleitende Selbstangst des Menschen entfaltet. Auch hier kommt der doppeldeutige Charakter des Todes zum Tragen, indem die Angst als sich sehnende Angst in ihrer Doppelwirkung von Lähmung der Selbsttätigkeit und Entbindung der Selbstwerdung begriffen wird (5.D).

5.A  Das Zulaufen des Lebens auf den Tod Hirsch bestimmt das kreatürliche Leben als Sterbeprozess, der im Tod endet. „Alle lebendigen Geschöpfe […] tragen tief in sich selber den Todeskeim: ihr Leben ist seiner eigenen inneren Art nach ein dem Tode zueilendes Leben.“32 Der Tod in diesem Sinne wird von Hirsch in evolutionstheoretischer Hinsicht als notwendig für das Überleben der Spezies und der Artenvielfalt herausgestellt.33 Zum einen ist das Ableben einzelner Kreaturen notwendig, um Platz für neues Leben zu schaffen. Zum anderen stachelt die Aussicht auf den Tod den kreatürlichen Trieb zur Selbsterhaltung und den evolutionären Wettbewerb an. Der kreatürliche Daseinsvollzug ist damit nicht nur dadurch charakterisiert, dass er durch das Lebensende begrenzt ist, sondern dass er wesentlich von seinem Ende her bestimmt ist. Das menschliche Leben ist wie das aller Kreatur „todverfallen von Anfang an“34. Im Unterschied zum Tier ist sich der Mensch allerdings des Zulaufens seines Lebens auf ein Ende bewusst. Hirsch differenziert terminologisch zwischen dem Tod der Kreatur und dem Tod des Menschen, zwischen dem Vergehen und Sterben: Im Unterschied zum Tier, das am Ende seines Lebens vergeht, stirbt der Mensch; er begreift sein Leben vor dem Horizont des Todes als Sterben.35 Das biologische Faktum der Sterblichkeit zieht für den Menschen den reflektierten Umgang mit dem Verhältnis von Leben und Tod nach sich, der von der Frage nach der Bedeutung des Todes für das 32 

Zw, 78. ChR I, 237: „Es ist dies Stehn unter dem Gesetz des Kampfes und der Zucht des Todes keine zufällige, äußere Bestimmung des kreatürlichen Lebens; sie ist vielmehr etwas das innere Wesen des kreatürlichen Lebens Betreffendes. Wir können sie nicht wegnehmen, ohne daß das Weltgefüge zerkracht: auch aller Reichtum, alle Fülle ist dadurch bedingt. Das kreatürliche Leben ertrüge es einfach nicht, ohne unter diesem Geschick dazusein.“ Das in dieser Aussage implizierte Paradigma des natürlichen Todes wird an späterer Stelle genauer ausgeführt werden (s. u., 6.A.b, 220 ff.). 34  ChR II, 244. 35  HchR, 302 f. 33 

5  Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung

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menschliche Leben ausgeht. Dieser wird in der philosophischen Reflexion über den Tod nachgegangen. Hirsch bestimmt das qualifizierte Verhältnis des Menschen zu seinem Tod seinen Annahmen über die dem Menschen wesentliche Religiosität entsprechend religionsphilosophisch. Es ist nicht nur durch das Todesbewusstsein charakterisiert, sondern auch durch die menschliche Ewigkeitsbezogenheit. Der Mensch erlebt nicht nur den organischen Tod als Ende seines kreatürlichen Lebens, sondern wie sein Leben so ist auch sein Tod mit der Dimension der Ewigkeit ausgezeichnet. Weil die Ewigkeitsdimension des menschlichen Lebens eine über die reine Diesseitigkeit hinausgehende ist und sie durch das mit dem Tod gesetzte Ende der Lebenszeit nicht verloren gehen kann, muss der menschliche Tod als „Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit“36 begriffen werden. Den vor dem Horizont der Ewigkeit verstandenen Tod unterscheidet Hirsch vom „äußere[n] Tod“37 am Ende des kreatürlichen Lebens. Diese Differenzierung ermöglicht es, den Tod so zu denken, dass er in potenziell jedem Augenblick des Lebens präsent ist, nämlich sofern der Mensch die Erfahrung macht, dass er sich auf der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit bewegt. Diese äußert sich implizit in den Grenzerfahrungen menschlichen Wissens und Lebens38 oder als explizite Grenze zwischen Gott und Mensch. An Erfahrungen der Entzogenheit und Begrenztheit des Lebens und des Wissens entzünden sich das Endlichkeits- und das Sterblichkeitsbewusstsein des Menschen: Die Erfahrung des Todes ist die Situation, an der jede menschliche kreative Selbsttätigkeit ihre Grenze hat. Sie muss als unausweichliches Schicksal hingenommen werden. So spiegelt sich die Spannung zwischen Kreatürlichkeit und Bestimmung des Menschen in der Doppelheit von Todes- und Ewigkeitsbewusstsein wider. Die Erfahrung des Todes des Anderen ordnet Hirsch in die Reihe der todesähnlichen Grenzerfahrungen ein.39 Sie nimmt nur insofern eine herausgehobene Stellung ein, als die Spannung zwischen dem Festhaltenwollen des Endlichen (im Gefühl des „wild zerreißenden Abschieds­schmer­ z[es]“40) und der Schicksalsergebenheit potenziert ist. 36 

HchR, 306.

37 Ebd. 38 

S. o., 1.B, 44 ff. Damit spricht Hirsch dem Tod des Anderen im Gegensatz zu Heidegger (vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit (1927), Tübingen 71953, §50, 253) einen relativen Erfahrungswert im Blick auf den eigenen Tod zu, betrachtet ihn aber im Gegensatz zu anderen philosophischen und soziologischen Ansätzen nicht als entscheidenden Moment, an dem sich menschliches Todesbewusstsein erst entzündet (vgl. die von Jean-Paul Sartres Kritik an Heidegger ausgehende und weitere prominente Vertreter dieser These mit einbeziehende Argumentation bei Schumacher, B. N.: Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, Darmstadt 2004, 117–173). 40  Zw, 282. 39 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Im Tod als zeitlichem Ende des Menschen wird das, was in den menschlichen Grenzerfahrungen das ganze Leben begleitet, offenbar.41 Im Augenblick des Todes ist im Umkehrschluss das Leben als Ganzheit präsent. Diese Verhältnisbestimmung ist die Möglichkeitsbedingung für den Gedanken einer Vollendung des Lebens mit dem Tod, den Hirsch ausarbeitet.42 Die Gestalt der Vollendung ist wie die Todeserfahrung überhaupt durch die Unvertretbarkeit des Todes dem Außenstehenden entzogen und bleibt allein der subjektiven Erfahrung vorbehalten.43 Hirsch reflektiert hier auf die allgemeine Einsicht, dass alle zwar wissen, dass sie sterben müssen, doch die Bedeutung dessen nur von dem ermessen werden kann, der selbst stirbt und von dieser Erfahrung nicht mehr berichten kann.44 „Die wissenschaftlich richtige Aussage ist, daß wir nicht wissen, was der Tod bedeutet. Am Ende unsers Lebens steht, wissensmäßig geurteilt, die Frage, das Geheimnis.“45 Hirsch gebraucht, um diesen Tatbestand zu verdeutlichen, neben dem Begriff des Todesgeheimnisses die für ihn charakteristische Wendung „Rune des Todes“46. Die Subjektivität der Todeserfahrung und die damit verbundene Geheimnishaftigkeit der Bedeutung des Todes und der Gestalt der Vollendung wirken auf den Entwurf des Lebens im Angesicht des Todes so zurück, dass auch das Leben durch eine Deutungsoffenheit gekennzeichnet ist. Mit den allgemeinen Kategorien der Einbildungskraft und des Verstandes erschließbar, eindeutig bestimmbar und sicher vorhersehbar ist der Lebensweg des Einzelnen nicht. Einen Sinn muss der Einzelne dem Leben im Medium seiner persönlichen Erfahrungen stets selbst abringen. Das Leben wird ihm nicht abgenommen, es ist durch Unvertretbarkeit charakterisiert: „Nur das, was ich selber lebe, gilt hier“47 (vor dem Horizont der Ewigkeit). Die Unmöglichkeit, den Zeitpunkt des Todes zu errechnen, schafft eine zusätzliche Verunsicherung, das Ziel der Vollendung

41  HchR,

306. Aus dieser Differenzierung heraus erklärt sich die von Martin Zerrath zurecht festgestellte Doppeldeutigkeit der Aussagen Hirschs über Leben und Tod, die einerseits „eine[ ] bestimmte[ ] Daseinshaltung“ (Zerrath: Vollendung, 248) zum Ausdruck bringen und andererseits das Verständnis des Todes selbst reflektieren. 42  S. u., 7.B, 299 ff. 43  HchR, 306. 44  ChR II, 240. Vgl. Zw, 72: „Zwei Gesichter hat der Tod. Das eine, klar, bestimmt, eindeutig, ist allen Lebendigen bekannt. Ein Menschenleben geht zu Ende. Einer, der unter uns stand, lebte, dachte, handelte wie wir alle, ist nicht mehr da. Das andre Gesicht, dunkel, geheimnisschwer, vieldeutig, kennt nur der, dem der Tod widerfährt, nur der, welcher wirklich stirbt.“ 45  ChR I, 279. 46  Z. B. WuG, 140.149; HchR, 302. 47  Zw, 304.

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des Lebens ist „immer gleich weit, gleich fern“48; es gibt keinen eindeutigen Punkt an dem der Mensch von sich aus sagen könnte: Schluss, es ist alles erreicht. Die Einsamkeit, die mit dem sterbenden Lebensweg verbunden ist, ist keine äußerliche, sondern eine dem Menschen wesentliche: Sie ist Ausdruck seiner ihn besondernden Innerlichkeit inmitten des allgemeinen Getriebes der Welt, von der her sich auf seine Ewigkeitsbezogenheit schließen lässt.49 Die Innerlichkeit ist allerdings nicht als Rückzug aus der Welt und die Ewigkeitsbezogenheit nicht im Sinne einer mystischen Selbstvergessenheit zu verstehen. Die „Kunst der wahren innerlichen Einsamkeit“ bringt Hirsch mit der Spannung zwischen „innere[r] Gelöstheit und innere[r] Gegenwärtigkeit“ zum Ausdruck: „Ich muß mich loslassen, ohne mich zu vergessen.“50 Sein Ewigkeitsbewusstsein wirft den Menschen in die Verantwortung gegenüber dem Anderen, in der er von seiner Selbstbehauptung ablassen muss; gleichzeitig zeichnet sie ihn so aus, dass er dabei sich selbst nicht aufgibt, sondern genau in der Wahrnehmung seiner freiheitlichen Verantwortung er selbst ist.51 Die Spannung zwischen Selbstvergessenheit und Selbstgegenwärtigkeit kann mit Hirsch auch metaphorisch als Tod im Leben bezeichnet werden: Wird das Leben im Horizont des Todes geführt, so ist es darauf ausgerichtet, „zu sterben und dadurch gerade erst recht zu leben“52. Indem der Einzelne von seiner absoluten Selbstbehauptung ablässt – seine Besonderheit also nicht so versteht, dass sie seine Selbstdurchsetzung legitimiert, sondern so, dass die individuelle Freiheit immer über den anderen vermittelt zu denken ist – stirbt gleichsam das egozentrische Ich und der Einzelne kann seiner wahren freiheitlichen Bestimmung nachkommen, wahrhaft leben. Der Tod wirkt sich nach dieser Deutung auf das Leben positiv, dynamisierend und entbindend aus.

5.B  Problematische Deutungen: Der Tod als Nichts und die Relativierung des Todes Diese ideale Existenzweise vor dem Horizont des Todes ist allerdings in der Lebensrealität des Menschen kaum zu greifen. Vielmehr schlägt sich die stetige Präsenz des Todes im Leben Hirsch zufolge ambivalent nieder. Die grundsätz48 Ebd. 49 

Zw, 305. Zw, 306. 51  Auf Hirschs Verbindung der Kategorie der Innerlichkeit mit der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen verweist auch Müller: Pectus, 305–307. 52  Zw, 306. 50 

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liche Deutungsoffenheit des Todes und des Lebens, die mit der Vereinzelung des Menschen in der Todeserfahrung hergeht, wirkt auf die Existenz des Menschen verunsichernd und führt zu dem Versuch, die Bedeutung des Todes festzulegen. Dieser resultiert der Subjektivität der Todeserfahrung entsprechend in verschiedenen Deutungsmodellen, die unterschiedliche Lebenshaltungen und Einstellungen zum Tod begründen. Hirsch verweist darauf, dass das Verhältnis zum Tod für den Menschen immer doppelt geprägt ist. Einerseits sind Leben und Tod schon immer – nicht erst im Zeitalter der Technik – „Naturgewalten“53, die der Mensch im begrenzten Maße kontrollieren kann.54 Andererseits gestaltet sich das Verhältnis zum Tod für das Individuum schon immer so, dass jener als „Herr des irdischen Daseins“55 wahrgenommen wird, dass der Mensch ihm also ausgeliefert ist, ohne dessen Sinn durchdringen zu können. Die Einstellungen bzw. „Gefühle“56 gegenüber dem Tod sind dementsprechend schon immer individuell ganz unterschiedlich und sowohl positiv als auch negativ besetzt. Hirsch zählt auf: „Leid und Freud, Unheil und Heil, Lebensgier und Todesangst, Freiheit vom Le­bens­ trieb und traumhaftes Glauben und Hoffen über das Geheimnis des Todes hinaus“57. Dem modernen Menschen sind diese Gefühle nicht fremd; auch wenn er ein rationalisiertes Verhältnis zum Tod hat, so bleiben sie zumindest abgeschwächt bestehen. Hirsch diagnostiziert die Pluralisierung und Individualisierung der Einstellungen zum Tod, die für ihn allerdings im menschlichen Verhältnis zum Tod selbst angelegt sind und dementsprechend an sich keine kritikwürdige Neuerung darstellen. Ebenso greift mit Hirsch die Kritik an einer gesellschaftlichen, strukturellen Todesverdrängung ins Leere. Weil das menschliche Todesbewusstsein sich nicht am Tod des Anderen, sondern an den persönlichen Grenz­ erfahrungen im Leben entzündet, kann die Gesellschaft nicht dafür verantwortlich sein, den Einzelnen mit dem Tod zu konfrontieren oder eine bestimmte Todeseinstellung zu kultivieren.58 Im Gegenteil, sie soll Hirsch zufolge den 53  EE,

312. Diese These, die gegen die populäre epochale Kategorisierung des Umgangs mit dem Tod von Philippe A riès (A riès: Geschichte) steht, ähnelt der von Fuchs: Todesbilder, die wie folgt zusammenfasst werden kann: „Der Tod wurde in allen Kulturen kontrolliert und gezähmt. Die magische Kontrolle in vorindustriellen Gesellschaften wurde durch eine technische wissenschaftliche Kontrolle in modernen Industriegesellschaften abgelöst.“ (Feld mann, K.: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, Wiesbaden 22010, 54). 55  EE, 312. 56 Ebd. 57 Ebd. 58  So der Vorschlag von Jüngel: Tod, 46–50. S. auch u., 185, Anm.  63. 54 

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Freiraum für die individuelle Lebens- und Todesdeutung schaffen, indem sie sich keine Deutungshoheit anmaßt und die Möglichkeit einer Unbedingtheitsdimension des Lebens und des Todes – zu ihren eigenen Gunsten – offenhält.59 Der Verzicht auf einen gesellschaftlich gesteuerten rationalistischen Letztbegründungsanspruch und der gesellschaftlich gewährleistete Raum für über die reine Rationalität hinausgehende Deutungsangebote ist eine Bedingung für die Sprachfähigkeit des Einzelnen im Blick auf seine Todeseinstellung, die dem modernen Menschen verloren gegangen zu sein scheint. Diesen Mangel identifiziert Hirsch neben der Beliebigkeit als Hauptproblem des modernen Umgangs mit dem Tod. Indem gesellschaftlich die Ausdrucks- und Deutungskraft in ihrer Vielfalt im Blick auf den Tod zurückgegangen ist, wird das Verhältnis zum Tod dem Einzelnen überlassen. Jeder macht den Tod mit sich selbst aus, weil er auf kein Bildmaterial zurückgreifen kann, das ihn zur Selbstdeutung angesichts des Todes befähigt, und somit nicht mehr in der Lage ist, das ihn darin Betreffende sowohl sich selbst als auch anderen zu kommunizieren – beiläufig bemerkt Hirsch, dass dies auch damit zu tun haben könnte, dass ein künstlich am Leben gehaltener Mensch schon rein physisch am Ende nicht mehr sprachfähig ist.60 Wird darüber hinaus die Unbedingtheitsdimension menschlichen Lebens verneint, kommt das menschliche Sterben dem des Tieres gleich.61 Die Beliebigkeit der modernen Einstellungen zum Tod führt Hirsch auf diesen Verlust der Unbedingtheitsdimension zurück, sie haben jeden Maßstab verloren.62 Von der Einsamkeit des Sterbens, die mit dem Charakter des Lebens und des Todes zwangsläufig gegeben ist, unterscheidet Hirsch eine kritisch zu bewertende soziale Einsamkeit des Sterbens, die er nicht primär auf die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sterbenden und die Institutionalisierung von Sterbeprozessen zurückführt,63 sondern auf den Mangel an Ausdrucks- und Deutungsmöglich59  Das wird deutlich an der Argumentation Hirschs für die ethische Notwendigkeit der Ewigkeitsbezogenheit des Menschen, s. o., 1.B.b, 51 ff. 60  EE, 310. 61  Ausführlicher s. u., 6.C.a, 243 ff. 62  EE, 312 f. 63  Diese Diagnose findet sich bei einigen soziologischen, philosophischen und theologischen Gesellschaftskritikern im 20. Jh. Sie wurde v. a. vehement vertreten von Elias, N.: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt a. M. 1983. Eine theologisch prominente und häufig rezipierte Position dieser Art findet sich bei Jüngel: Tod, 46–50. Jüngel diagnostiziert die soziale und kulturelle Unsichtbarkeit des Todes und unterstellt dem Menschen seiner Gegenwart ein fehlendes Todesbewusstsein. Diese Entwicklung begründet er vor allem soziologisch aus der Delegation des Todesbewusstseins an entsprechende Institutionen und aus dem fehlenden direkten Umgang mit dem Tod, der sich aus der mangelnden Verbindung zwischen unterschiedlichen Generationen und der Ersetzbarkeit des Anderen in technisierten Arbeits- und Alltagsprozessen (der Tod eines Anderen geht einem nicht so nahe, weil er nicht unersetzlich ist) herleitet. Der Tod wird vor dem Hintergrund einer sich als

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keiten aufgrund der Rationalisierung des Lebens. Der Einzelne ist von sich aus angesichts des Todes nicht mehr in der Lage, seiner sozialen Bestimmung nachzukommen, die in seiner ihm wesentlichen Eigenschaft der Kommunikativität begründet liegt. Verzichtet er darüber hinaus darauf, dem menschlichen Leben und Sterben eine Unbedingtheitsdimension zuzuschreiben und damit seiner Ewigkeitsbestimmung zu entsprechen, entledigt er sich der zweiten ihm wesentlichen Eigenschaft, seiner Reflexivität. Sein Lebensende unterscheidet sich nicht mehr von dem des Tieres. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Pluralität und Individualität der Todeserfahrungen und der zeitbedingten Rationalisierung des Lebens kategorisiert Hirsch die Vielfalt der Todesdeutungen in dreifacher Hinsicht: Die erste Personengruppe hält die rationalistische Definition des Todes als „das Nichts“64, die Ansicht „mit dem Tod sei alles aus“65, mit naturwissenschaftlichem Pathos für die allen unmittelbar einleuchtende und von vernünftigen Menschen allein vertretbare. Hirsch stellt heraus, dass diese Definition vor dem Hintergrund des Nichtwissens angesichts des Todes nicht in den Bereich des Wissens, sondern wie andere Perspektiven auf den Tod unter die Kategorie der Deutung fällt.66 Die Deutung des Todes als Nichts bringt zwei unterschiedliche Einstellungen zum Tod hervor – schon hieran wird ersichtlich, dass sie nicht so eindeutig ist, wie von ihren Vertretern insinuiert. Eine aus dieser Deutung resultierende Lebenshaltung flüchtet vor dem Tod verbunden mit der Meinung, „dies Leben hier sei die einzige uns gegebene Wirklichkeit“67, Carpe Diem. Die andere Lebenshaltung, die aus der Deutung des Todes als Nichts resultieren kann, flüchtet in den Tod, sie resigniert angesichts der Bedeutungslosigkeit menschlichen Lebens. Der phänomenologischen Analyse der Einstellungen zum Tod gesellt sich an dieser Stelle eine zeitdiagnostische Darstellung von deren spezifischen Ausformungen in Hirschs Zeit bei. Die eine Lebenshaltung, Carpe Diem, spiegelt sich in dem Wunsch nach Lebensverlängerung wider, die mit den Errungenschaften der Technik zur realen Möglichkeit wird. Hierbei handelt sich es allerdings Hirsch zufolge nicht um eine Verlängerung des wahrhaft menschlichen Lebens, sondern des kreatürlichen Daseins: Die medizinisch-technischen Möglichkeiallmächtig verstehenden Gesellschaft von dieser bewusst verschwiegen. Für Jüngel ist ausschlaggebend, ob eine Gesellschaft von ihren Werten und ihrer Struktur her in der Lage ist, ein bestimmtes Todesbewusstsein zu vermitteln und damit die beliebige Pluralität von Todesbildern auszuhebeln. 64  Zw, 73. 65  ChR II, 244. 66  Ebd.: „Der Tod ist ein Eingehen in eine Nacht, die wir nicht erhellen können. Wir wissen heut, daß jede Aussage (auch die, mit ihm sei alles aus!) eine Überschreitung der Grenzen unsers Wissens ist.“ 67  Zw, 72.

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ten führen zu einem Überhang an alten Menschen und lassen die „Ehrfurcht vor dem Greisenalter“ angesichts der „Unzahl der kümmerlich Vegetierenden“ zurücktreten.68 Trotz dieser offensichtlichen Einschränkung der Möglichkeiten personalen Lebens „stimmen alle überein, daß ein sinnlos und nichtsbedeutend gewordenes Leben immer noch tausendmal besser ist als der Tod“69. Gegenüber dem totalen Aus wird am Leben um jeden Preis festgehalten, selbst wenn dieses nicht mehr im Hirsch’schen Sinne als (personales, menschenwürdiges) Leben bezeichnet werden kann. Hirsch vergleicht die Form menschlichen Sterbens, die den wesentlich menschlichen Funktionen von Kommunikation und Reflexion entledigt ist, mit „dem Aushauchen des Daseins durch das sich im Winkel verkriechende Tier“70 – es hat jeden Bedeutungsüberschuss gegenüber dem kreatürlichen Sterben verloren. Eine konkrete Folge der anderen Lebenshaltung, die die Flucht in den Tod befürwortet, ist darin zu sehen, dass die Bewertung der Selbsttötung im Zuge der nach dem zweiten Weltkrieg aufkommenden Sterbehilfedebatte im Allgemeinen und selbst von der christlichen Ethik her „resigniert und widerspruchsvoll“71 ist. Hier wird, so Hirsch, der christliche Grundgedanke der Unverfügbarkeit von Leben und Tod vergessen und die Stellungnahmen zum Thema erscheinen äußerst willkürlich.72 Die zweite Kategorie von Personen, die Hirsch in seiner Phänomenologie der Einstellungen zum Tod ausmacht, verneint die Deutung des Todes als Nichts, indem sie den Fokus auf das Jenseits des Todes legt. Sie betrachtet den „Tod als ein Geringes und Gleichgiltiges ihren großen Zielen und Träumen gegenüber“73. Diese Deutung kann, wenn nicht aus „kindliche[r] Ahnungslosigkeit“74, durch verschiedene Gründe motiviert sein. Zum einen kann sich darin ausdrücken, dass das Individuum zugunsten der Überhöhung der Menschheit aufgegeben wird. Das Leben des Einzelnen hat einen geringeren Wert als das der menschlichen Gattung. Sein Leben und Sterben werden im Blick auf ihre Funktion für die Verwirklichung der Ziele der Menschheit bewertet. Solange die Menschheit besteht, ist der Tod des Einzelnen als Moment der ihm übergeordneten größeren Entwicklung zu vernachlässigen.75 Zum anderen kann die Deutung des Todes 68 

EE, 309. 310. 70 Ebd. 71 Ebd. 72  EE, 314 f. Auf welche Stellungnahmen Hirsch hier Bezug nimmt, ist nicht ersichtlich. Zu Hirschs Argumentation im Blick auf die Selbsttötung s. u., 237 f. 73  Zw, 73. 74 Ebd. 75 Die geistesgeschichtliche Grundlage für Thesen dieser Art lieferte Georg Friedrich Wilhelm Hegel. In der Begriffslogik hat der Tod des Einzelnen die Funktion, die Idee der Gattung als vollendete Form des Lebens zu realisieren (Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der 69  EE,

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als zu vernachlässigendes Moment einer größeren Entwicklung aus dem Bewusstsein der Ewigkeitsbezogenheit des Menschen resultieren, der auf die hinter dem Tod liegende Ewigkeit schaut und den Tod allein positiv als Übergang dorthin versteht. Dabei wird zwar dem Einzelnen sein unbedingter Ewigkeitswert zugestanden, das menschlich-zeitliche Leben aber wird als Unbedeutendes hinter sich gelassen und dessen Ambivalenzen werden nicht zu Geltung gebracht.76

5.C  Die ideale Deutung: Der Tod als Offenbarungsmacht Eine dritte Möglichkeit der Einstellung zum Tod, die jenen als Offenbarungsmacht begreift, kann Hirsch zufolge den Wert sowohl des menschlich-zeitlichen Lebens als auch des Individuums vermitteln und erhält zugleich die benannte Spannung zwischen Selbstvergessenheit und Selbstgegenwärtigkeit, zwischen Ewigkeits- und Weltbezug, aufrecht. Hirsch bringt sie folgendermaßen auf den Punkt: Wer „in allen wesentlichen Begegnungen seines Lebens es mit Gott zu tun hat, für den [ist] also auch der Tod ein Wort Gottes an ihn“77. D. h. religionsphilosophisch formuliert: Wer in seinen Lebenserfahrungen der Ewigkeitsdimension der Zeit ansichtig wird, deutet den Tod als ein in der Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit liegendes Ereignis, das den Blick auf das ihm im Tod erschlossene – offenbarte – endlich-ewige menschliche Wesen lenkt. Idealiter wäre das Verhältnis des Menschen zum Tod so beschaffen. Es stellt Leben und Sterben des Menschen in eine Unbedingtheitsdimension und unterscheidet ihn dadurch vom Tier, dass er Person ist. Leben und Tod werden nicht als allgemeine Schicksalserfahrungen wahrgenommen, sondern haben persönlichkeitsprägende Kraft.78 Darin liegt die Besonderheit der idealen Einstellung zum Tod, dass sie ihn als existenzbestimmende Größe ernstnimmt.79 Logik II. Die subjektive Logik 1816, Hamburg 1981, Dritter Abschnitt. Die Idee. Erstes Kapitel. Das Leben, 179–191). Die Reduktion des Todes des Einzelnen auf seine Funktion für die gesellschaftliche Entwicklung und die Stabilisierung gesellschaftlicher Systeme wurde im soziologischen Funktionalismus, die „dominante soziologische Theorie der 1940er und 1950er Jahre“ (Feldmann: Tod, 15) – auf die Hirsch hier sicherlich anspielt –, von der evolutionstheoretischen These ausgehend gewonnen, dass der Tod notwendig für die Vielfalt biologischen Lebens ist (a. a. O., 14 f.). 76  Zw, 73. 77  Zw, 73 f. 78  EE, 317–321. 79 Die einzelnen Elemente des Offenbarungsbegriffs (s. o., 2.A, 85 ff.) lassen sich am Tod als Offenbarungsmacht durchbuchstabieren: Der Tod ist in höchstem Maße existenzbestimmend, indem das Wissen von ihm die Personhaftigkeit des Menschen bedingt. Er ist

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Hirsch gibt für diese These eine existenzanalytische Begründung, die von der Perspektive der expliziten Gottesbeziehung zunächst unabhängig bleibt, aber auf die Struktur der Todeserfahrung des Glaubenden zielt. Zuerst ist mit der Ganzheitsdimension des Todes – die Präsenz des gesamten Lebens im Augenblick des Todes – eine Bedingung geschaffen, warum in ihm die Wahrheit über das Leben offenbart werden kann. Zudem geht vom Todesbewusstsein eine diese Wahrheit erschließende Kraft aus. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit liegt im Todesbewusstsein begründet, weil mit der Erfahrung des Todes als des „unwiderruflich gesetzte[n] Ende[s] der Lebensgestalt“80 die Einsicht verbunden ist, dass menschliche Möglichkeiten begrenzt und durch eine höhere Macht bedingt sind. Das Todesbewusstsein konstituiert damit gleichzeitig das Bewusstsein endlicher Freiheit, indem es mit der Begrenztheit des menschlichen Lebens die Einsicht vermittelt, dass alles Irdische „keine letzte Macht hat“81. Der tiefer gefasste Begriff dieser Freiheit ist die Verantwortlichkeit, die durch die erinnernde Funktion des Todes an die Unvertretbarkeit und die Unumkehrbarkeit des Lebens zustande kommt82: Das individuelle Leben ist nicht austauschbar und hat eine ihm zugedachte Bestimmung, jeder Augenblick zählt, jede Entscheidung ist Begegnung mit der Ewigkeit, trägt etwas in die Geschichte hinein, was nicht rückgängig zu machen ist. Der gewissenhafte Selbstvollzug prägt das eigene und das Leben der Anderen unwiderruflich. Diese Form der Verantwortlichkeit kommt aus „der Tiefe des Lebens“ oder der „Tiefe des Ernstes“ des menschlichen Lebens.83 Die Vergänglichkeit des Menschen geht über die naturhafte Vergänglichkeit anderen organischen Lebens insofern hinaus, als dass durch das Todesbewusstsein, „das Hören auf die Sprache des Todes“84, diese dem menschlichen Leben eigentümliche Tiefe hervorgebracht wird. Das Todesbewusstsein muss hier also im Unterschied zum bloßen Endlichkeitsbewusstsein verstanden werden, weil es sich nicht nur aus der Erfahrung der Bedingtheit, sondern auch aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit – theologisch Erschließungsgeschehen, indem er die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit offenlegt. Das Todeswissen wird, obwohl es eine allgemeine Grundkonstante von Menschsein ist, zu einem gegenwärtigen, subjektiven Geschehen, indem zwar das Wissen um das Sterbenmüssen allgemein ist, die Bedeutung dessen aber nur subjektiv angeeignet werden kann. Indem der Tod als Wort Gottes gedeutet wird, hat er den Charakter eines „erfüllten Geheimnisses“. Das Todeswissen geht notwendig in Reflexion und Kommunikation über, wie es z. B. an den verschiedenen Einstellungen zum Tod, aber auch an der das Leben dynamisierenden Kraft des Todeswissens deutlich wird. 80  ChR II, 240. 81  Zw, 74. 82  S. o., 1.B.b, bes. 57. 83  Zw, 76. 84 Ebd.

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gesprochen: der Mensch steht in seinem Leben unter dem Gesetz – speist. Ebenso ist es nicht nur Sterblichkeitsbewusstsein, weil es sich nicht nur auf den Tod am Ende des Lebens bezieht, sondern ein Bewusstsein der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit freilegt, die in jedem Moment des Lebens gesetzt ist. Das Todesbewusstsein ist allerdings nicht nur Grenzbewusstsein, sondern es legt mit dem ihm inhärierenden Bewusstsein der Vereinzelung und der Verantwortlichkeit das offen, was den Menschen wesentlich von anderen Lebewesen unterscheidet: Personhaftigkeit.85 Es verweist ihn auf die Ewigkeitsdimension menschlichen Lebens. Die Personhaftigkeit des Menschen schlägt sich in einer Dynamisierung des Lebens nieder. Das Ewigkeitsbewusstsein äußert sich im Gefühl, zur Verantwortung am Anderen berufen zu sein, welches zu Neuaufbrüchen und inneren Verwandlungen führt. Im Idealfall hat der Tod damit die ihm zugedachte Aufgabe am Menschen erfüllt und deswegen keine Macht mehr, den menschlichen Lebensvollzug in Form der Todesangst negativ zu bestimmen.86 Der Idealfall des Lebensverständnisses, das sich am Todesbewusstsein entzündet, wäre das Leben aus Gott: Das Grenzbewusstsein und die freiheitliche Verantwortlichkeit, die dem Menschen am Tod aufgehen, werden auf Gott zurückgeführt, der als der Grund und die Grenze menschlichen Lebens verstanden wird. Indem Hirsch den Tod als ein das Personsein gründendes Wort Gottes deutet, steigert er jede zu treffende Aussage über den Tod: „Nicht der Tod“, sondern „Gott selbst“ kommt durch den Tod zum Menschen.87 Der Tod als Offenbarungsmacht ist Gottesbegegnung. Der Tod markiert in diesem Sinne aufgrund der Unvertretbarkeit der Todeserfahrung zugleich die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung des Einzelnen.88 Seine existenzbestimmende Kraft wird auf das mit ihm verbundene persönliche Gottesverhältnis und die individuelle Einsicht in das Wesen von Leben und Tod durch die Offenbarung Gottes zurückgeführt.89 In der menschlich-diesseitigen Lebenserfahrung des Absterbens des egozentrischen Ich und der Befreiung zum wahrhaft freiheitlichen Leben mit den Anderen ist der mit dem Evangelium vermittelte Sinn des Todes am Lebensende angelegt, der als Durchgang zum wahren Leben verstanden wird.90 Die stetige Präsenz des Todes im Leben kann sich aber gerade durch die damit verbundene Gewissensdimension negativ auswirken. Der Anspruch, das 85 

S. o., 1.B.b, 51 ff. Zw, 76. 87  Zw, 76 f. 88  HchR, 90; Zw, 304. Damit wird erneut die zentrale Stellung deutlich, die der menschliche Tod für den Glauben und die theologische Reflexion einnimmt. 89  EE, 317–321. 90  S. u., 7.B.d, 309 ff. 86 

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menschliche Leben vor dem Horizont der Ewigkeit zu deuten, kann in die Überlastung mit unbedingter Verantwortung und in den verzweifelten Versuch, seiner Bestimmung zu entsprechen, führen. Weiterhin stellt die Aufgabe, Nega­tiv­ erfah­r ungen in ein Sinnganzes zu integrieren, vor Herausforderungen, die zuweilen nicht zu meistern sind.91 Das Verzweifeln am Tod und den mit ihm in Verbindung gebrachten Erfahrungen, durch das er doch Macht über den Menschen gewinnt, ist damit nicht ausgeschlossen. Hirsch nimmt die Einstellung zum Tod, die ihn als Abbruch, als Sinnlosigkeit, als Leid erfährt, in die Deutung des Todes als Offenbarungsmacht auf.92 Diese Seite des Todes ist, so Hirsch, nötig, um den Menschen auf seine Getrenntheit von und seine Ohnmacht gegenüber Gott zu verweisen.93 Hirsch deutet sie theologisch als Gesetzesoffenbarung. Die Passivität des Menschen gegenüber dem Tod, die sich in der Begrenzung seiner Möglichkeiten niederschlägt, ist Hirsch zufolge zuerst eine allgemein einsichtige ethisch notwendige Bedingung. Sie ist zwar in einzelnen Fällen zu vernachlässigen, in denen der Mensch sich des Todes durchaus ermächtigen kann, aber im Allgemeinen zu erhalten, um das menschliche Leben zu schützen.94 Sie wird religiös so gedeutet, dass im Empfangen des Todes der Glaube 91 

S. o., 2.B.b, 96 ff. und 2.C.a, 106 ff. 77. 93  Ebd.: „Wäre dem nicht so, daß Rätsel und Grauen, das ich nicht auflösen kann, an dem Tun des grimmen Knechts haftete, so wäre ich angesichts der segnenden, vertiefenden, befreienden, erlösenden Macht des Todes wohl in Versuchung, mich als des Todes Meister zu fühlen. […] Ich muß mich dem Unenthüllten, Grimmen, Dunklen, welches der Tod an sich hat, beugen lernen mit nacktem Nichtverstehen, wenn er mir wirklich Bote Gottes sein soll.“ ChR II, 244: „[Der Tod] ist das Erleiden einer Gewalt, die größer ist, als Einsicht und Wille. Die Passivität, die Gefügtheit der menschlichen Existenz ist hier noch stärker erlebt als in der Schicksalhaftigkeit der Geburt.“ Diese Sichtweise des Glaubens auf den Tod führt entgegen der Behauptung Markus Hentschels nicht zu einer „Rationalisierung“ (Hentschel: Gewissenstheorie, 315) des Leidens. Auch wenn Hirsch auf der Ebene der endlichen Vernunft den Tod als natürlichen Vorgang rationalisiert, so eröffnet er gerade mit der Gerichtsdimension des Todes den Deutungsrahmen, in welchen die Angst vor dem Tod und das Leiden am Tod gestellt werden können (s. u., 6.B, 232 ff.). 94  ChR II, 244: „Wir haben alle das Gefühl, daß wir den Tod nicht rufen dürfen. Es sollte nicht Gegenstand des Wollens sein, den Tod sich zu erwirken. So, als ob das ein Eingriff in ein Walten wäre, in das man nicht greifen darf. Dies Gefühl ist nicht logisch. Es kann gebrochen werden und soll vielleicht […] gebrochen werden. Wenn es aber entschwindet aus einem Lebenskreise, dann ist dessen Bestand in Gefahr. […] Die Mächte, die uns so in Geburt und Tod umfassen, haben da Gewalt am Leben von uns und unserm Geschlecht, sind da Schicksal der Gemeinschaft, wo wir nichts mehr vermögen. Wir erwarten von einem Menschen, daß er in Scham und Scheu die Unverletzlichkeit dieser Mächte ehre. Wo sie nicht geehrt wird, ist das Leben selbst in Gefahr.“ Ausführlich zu den Möglichkeiten von Passivität und Aktivität gegenüber dem Tod s. u., 6.B.b, 235 ff. 92  Zw,

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in Form des bejahten Gotterleidens ans Äußerste gebracht wird.95 Zugleich wird an dieser Seite des Todes als Offenbarungsmacht deutlich, dass die ideale Einstellung zum Tod allein mit dem Wissen um Tod und Ewigkeit nicht gewonnen werden kann, sondern dass das menschliche Todesbewusstsein immer der Gefahr ausgesetzt ist, der Negativität des Lebens letztbestimmende Hoheit einzuräumen und aus der Begrenzung menschlicher Möglichkeiten durch den Tod die Unmöglichkeit der menschlichen Selbsttätigkeit im Leben abzuleiten. Die mit dem Todesbewusstsein verbundene Einsicht in die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen muss in Ewigkeitsgewissheit verwandelt werden. Allein der Glaube an die Liebe Gottes vermag es, an der Personhaftigkeit des Menschen auch angesichts von Negativerfahrungen festzuhalten, indem er gerade die Passivität des Menschen dem Tod gegenüber – die die Abhängigkeit des Menschen von Gott zum Ausdruck bringt – als Grund seines freiheitlichen Selbstvollzugs begreift.

5.D Die Todesangst und die Sehnsucht nach dem Leben Die stimmungsmäßige Seite der Spannung zwischen Todes- und Ewigkeits-, zwischen Endlichkeits- und Freiheitsbewusstsein ist die menschliche Existenzangst, die Hirsch „Lebensangst“96 oder „Herzensangst“97 nennt und die er als Grundgestimmtheit menschlichen Lebens entfaltet, die in verschiedenen Facetten zum Vorschein tritt. Der Spannung, die den Sinn menschlichen Lebens grundsätzlich verunsichert und Angst hervorruft, versucht der Mensch zu entfliehen, indem er sie durch benannte Konzeptionen der Lebens- und Todesdeutung ersetzt. Hinter diesen Angstbewältigungsstrategien liegt strukturell die Festlegung des menschlichen Lebens auf eine der beiden Seiten der Spannungseinheit. Das menschliche Freiheitsbewusstsein kann verabsolutiert werden, indem es vom Endlichkeitsbewusstsein losgekoppelt wird: Der Mensch ist nur frei. Auf die menschliche Freiheit kann verzichtet werden, indem der Mensch sich darauf festlegt, dem Tier gleich bloß endlich zu sein. Die sich am Todesbewusstsein entzündende existenzielle Todesangst des Menschen unterscheidet Hirsch von der kreatürlichen, „natürliche[n] Todesfurcht“, der er grundsätzlich eine positive Funktion für den Erhalt des (biologischen) Lebens zuschreibt und über die der Mensch durchaus erhaben sein kann.98 Die menschliche Angst geht darüber hinaus, weil in ihr die Frage nach 95 

S. u., 6.A.b, 220 ff. und 7.A.b, 273 ff. Zw, 282. Vgl. ChR II, 33.45.72. 97  Zw, 79. 98  ChR II, 44, vgl. Zw, 282. Hirsch nimmt in seinen Ausführungen zur ‚Weltenangst‘ und 96 

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der menschlichen Bestimmung, nach dem Sinn des Lebens mitschwingt, die im menschlichen Gewissen aufkommt. Die Todesfurcht aller Kreatur, die das Leben zu einem „todverfallenen“ macht und die Kreatur zur Selbsterhaltung animiert, ist beim Menschen von der „Möglichkeit von Geist und Gewissen“ – der Möglichkeit der Freiheit, die dem Menschen in seiner Bestimmung vorgezeichnet ist –, die über die naturhafte Kreatürlichkeit hinausgeht, begleitet und zusätzlich angestachelt.99 In der gewissenhaften Selbstbesinnung wird die Unbedingtheitsdimension der Angst offengelegt: Die Todesangst speist sich nicht nur aus der Möglichkeit des Nichtmehrdaseins, sondern auch daraus, an seinem Lebensende darauf blicken zu müssen, in seinem Leben der eigenen Bestimmung nicht entsprochen zu haben. Hirsch differenziert das Phänomen menschlicher Angst, die sich am Tod entzündet, dreifach: (1) Die Angst vor dem eigenen Tod, (2) die Angst vor der Vergänglichkeit der anderen Lebewesen – im Todesschicksal ist der Mensch mit der Welt vereint („Weltenangst“)100, (3) die Angst vor der menschlichen Bestimmung – hier ist er seinem Wesen nach von der Welt getrennt. Die Verweisstruktur auf die Bestimmung des Menschen, die in der Angst trotz aller Angst vor dem Nicht-Sein zutage tritt, macht für Hirsch die Verbindung zwischen Angst und „Sehnsucht“ oder „Verlangen“ aus,101 die der Einheit von Schuldgefühl und ‚Herzensangst‘ die Differenzierung zwischen Furcht und Angst nicht direkt und eindeutig vor. Er scheint der Angst ihren existenziellen Charakter zu nehmen, indem er von der „Angst eines todverfallenen Lebens“ und von der „kreatürlichen Lebensangst“ spricht (a. a. O., 78). Zum einen markiert Hirsch aber die Zuschreibung der Angst an die außermenschliche Schöpfung als uneigentlich und vom Menschen her auf diese projiziert, nämlich mit der Aussage, dass die „lebendigen Geschöpfe“ von ihrem Leid „selbst nichts wissen“ und dass sie „in ihm [dem Menschen]“ (Herv. A.‑M. K.) leiden (a. a. O., 79). Terminologisch legt sich zum anderen die benannte Differenzierung vor dem Hintergrund der K ierkegaard’schen Unterscheidung zwischen objektbezogener Furcht und durch das menschliche Freiheitsbewusstsein bestimmter, dialektischer und existenzieller Angst nahe (vgl. K ierkegaard, S.: Der Begriff Angst. Vorworte, Gütersloh 31991, 40 [IV 313]). Die Nähe von Hirschs Terminologie zu der K ierkegaards ergibt sich aus dem weiteren Kontext einzelner Äußerungen Hirschs. Die „natürliche Todesfurcht“ illustriert Hirsch an dem Erlebnis des unmittelbar bevorstehenden Todes (Vaninis auf dem Scheiterhaufen und Jesu am Kreuz), der durch seine zeitliche Bestimmbarkeit ein klar zu greifendes Objekt ist. Sie erwächst zudem aus der unmittelbaren Bedrohung als „Beben des Leibs vor dem Schmerz und der Vernichtung“ (ChR II, 44). Der Mensch kann sie im Gegensatz zur Angst aus verschiedenen – vom Glauben unabhängigen – Motivationen heraus (Liebe, Ehrbewusstsein, fehlende innere Selbstachtung) besiegen (Zw, 283). So ist z. B. die Furchtlosigkeit des Heldentodes oder des Sterbens um der Wahrheit willen zu verstehen. 99  Zw, 78. 100  Zw, 79. 101  Zw, 80. Hirsch selbst gibt an, mit der Doppelstruktur von Angst und Sehnsucht an Paulus (Röm 819–23) anzuschließen. In ähnlicher Weise ziehen diese Verbindung Spengler und

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Vertrauen strukturell entspricht.102 Die Sehnsucht ist als Wunsch des Menschen danach, er selbst sein zu können, in unbestimmter Weise vorhanden und steht im Kontrast zu seiner faktischen Lage, seiner Kreatürlichkeit, seiner „Weltgebundenheit“103. Im Medium der expliziten Gottesbeziehung wird der Mensch sich dessen bewusst, dass seine Sehnsucht auf ein Heiliges – auf die Vollendung in Gottes Leben – gerichtet ist, gegenüber dem der Mensch sich als unheilig empfindet – er wird sich des Preises seiner Vollendung bewusst, dass alles Unheilige gegenüber Gott letztlich nicht bestehen kann und „dem Tode übergeben werden muß, wenn unser Sehnen sich erfüllen soll“104. Die Sehnsucht ist als die Seite der Angst zu begreifen, die den Menschen über seine Endlichkeit und damit über seine „Weltverbundenheit“ hinaushebt, die Angst wirft ihn auf seine Kreatürlichkeit zurück und hält ihm seine „Weltgebundenheit“105 vor Augen. Seine Sehnsucht verweist den Menschen auf das Ziel seines Lebens: Er ist dazu bestimmt, Person (Gewissen) zu sein. Diese Bestimmung eröffnet ihm einerseits die Möglichkeiten der endlichen Freiheit, andererseits untergräbt sie die „in sich selber pulsende[ ] unmittelbare[ ] Selbstbejahung“106, indem sie den Menschen darauf verweist, dass sein gegenwärtiges Leben nicht im eigentlichen Sinn Leben ist, weil die Begrenztheiten seines Lebens die Entfaltung seines eigentlichen, freiheitlichen Wesens hindern. Seine gegenwärtige Existenzweise scheint von seiner Bestimmung her verneint zu werden. Die von Hirsch benannten Formen der Angst können – Hirsch interpretierend und weiterführend – als Angst um das Dasein und als Angst vor dem Dasein,107 als Angst um das Leben und als Angst vor dem Leben bezeichnet werden.108 Die K ierkegaard. Bei Spengler geht die Bewegung von der Sehnsucht, indem mit ihrem Objekt das Objekt der Angst gesetzt ist, zur Angst: „Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es endet, so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon an das andere des Gewordenseins, die Angst.“ (Spengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte I. Gestalt und Wirklichkeit, München 21923, 105.) K ierkegaard setzt der Sehnsucht die Angst als Zustand voraus, der mit dem Ziel der Sehnsucht überwunden werden soll: „In den Zustand, in welchem der Erwartende ist, ist er nicht vermöge eines Zufalls usf. geraten, so daß er sich in ihm ganz und gar fremd fände, sondern er erzeugt ihn gleichzeitig selbst. Ausdruck eines solchen Sehnens ist Angst; denn in der Angst bekundet sich der Zustand, aus dem er sich heraussehnt […].“ (K ierkegaard: BA, 57 [IV 328].) Dementsprechend kann das Seufzen der Schöpfung (Röm 822) auch nicht als „süßes Sehnen“ bezeichnet werden (a. a. O., 52 [IV 324]). 102  S. o., 104. 103  Zw, 79. 104  Zw, 80. 105  Zw, 79. 106  Zw, 78. 107  Zu der Differenzierung zwischen ‚Dasein‘ und ‚Leben‘ s. o., 51 f.; s. u., 6.A.a, 216 ff. 108  Die Parallele zum K ierkegaard’schen dreistufigen Modell der Verzweiflung ist offen-

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Angst vor dem eigenen Tod und die Angst um das Leben der anderen, die ersten beiden Angstformen, können als Angst um das Dasein gefasst werden. Es ist die von der Faktizität des Sterbens aller Lebewesen gespeiste Angst um das Ende des Menschen, wobei der Mensch den Tod als Nichts, als absolutes Aus deutet. Diese Angst beruht auf einem ausschließlich kreatürlich-endlichen Selbstverständnis, das im „traumhaften Dämmerschein des Irdischen“109 verbleibt.110 Die Angst vor der eigenen Bestimmung kann als Angst um das Dasein und Angst vor dem Leben begriffen werden. Lebt der Mensch nach seiner Bestimmung, muss er sich von einem allein kreatürlichen Selbstverständnis, davon nur im Modus des Daseins zu sein, verabschieden: Er ist nicht ausschließlich Kreatur, sondern Person. Er hat Angst vor dem entscheidungshaften Leben des Gewissens – vor der Überforderung mit absoluter Verantwortung für sein Leben – er hat Angst vor dem Nein zur kreatürlichen Seite seines Seins – die ja in der absoluten Selbstverneinung münden könnte, wenn sich die Bestimmung menschlichen Lebens als Illusion erweist. Diese Form der Angst kann sich auf der Ebene der Gottesbeziehung in der Angst ausdrücken, sich selbst als Vernunft und Gewissen aufzugeben, wenn der Mensch sein Leben aus Gott lebt. Er hat Angst davor, dass das ewige Leben – bei Gott Sein – nicht die Vollendung der Person ist und sein wird, sondern deren Ende, indem ihr durch Gottes Allmacht die Selbstständigkeit entzogen wird und sie in Gottes Allgegenwart aufgeht.111 sichtlich. Die Entsprechungen sind folgende: „Sich verzweifelt nicht bewußt zu sein, daß man ein Selbst hat (uneigentliche Verzweiflung)“ – das ausschließlich kreatürliche Selbstverständnis. „Verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen“ – die Angst davor, sich als Gewissen zu vollziehen, wobei die eigene Bestimmung verweigert wird. „Verzweifelt man selbst sein zu wollen“ – der Versuch, die eigene Bestimmung von sich aus zu realisieren (K ierkegaard, S.: Die Krankheit zum Tode, Hamburg 1995, 9, i. O. herv.). Den an Hirsch herausgearbeiteten Formen der Angst können zudem die Angsttypen zugeordnet werden, die Fritz R iemann in seinem für die Angsttheorie des 20. Jh. bedeutenden Werk entwickelt hat (R iemann, F.: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München 382007 [1961], 27). Der Angst um das Dasein angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge entspricht der R iemann’sche Angsttypus der „Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt“. Die mit der Angst vor dem Leben gekoppelte Angst um das Dasein kann mit der „Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt“, und mit der „Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt“, parallelisiert werden, wobei sich letztere auch in der Angst vor dem Dasein widerspiegelt. Die Angst um das Leben kann als „Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt“, verstanden werden. 109  Zw, 79. 110 Vgl. K ierkegaard: BA, 39 f. [IV 313], der Zustand der ‚träumenden Unschuld‘, der trotz „Friede und Ruhe“ durch das Nichts geängstigt wird. 111  Zw, 100. Zur Berechtigung dieser menschlichen Denkweise vor dem Hintergrund der Antinomie des ewigen Lebens als Person s. o., 161.

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Wendet sich der Mensch der Aufgabe eines bestimmungsgemäßen Lebens zu, dann tritt eine neue Form der Angst auf: Die Angst um das (ewige) Leben, Gerichtsangst. Er hat Angst davor, am Ende seines Lebens darauf blicken zu müssen, dass er seine Bestimmung zur Personwerdung verfehlt hat. Eine Facette der Todesangst ist damit die Angst, sich gegenüber sich selbst (und anderen und Gott) schuldig zu fühlen. Damit geht auf der Ebene der Gottesbeziehung die Angst einher, sich des ewigen Lebens nicht als würdig zu erweisen. Die Herzensangst ist diesen verschiedenen Facetten entsprechend von Hirsch näher bestimmt als „Angst vor dem Gewissen oder Angst des Gewissens selber“112 – die Angst davor, sich als Gewissen zu vernehmen und damit den Widerspruch zwischen Sein und Bestimmung zu empfinden. Alle anderen Formen der Angst haben, so Hirsch, ihre Wurzel in dieser Gewissensangst. Die noch ausstehende vierte Form, die Angst vor dem Dasein, ist im Rahmen der Hirsch’schen Terminologie wohl als eine weitere Form der ‚Weltenangst‘ zu verstehen, die nach Hirsch ein Sonderfall der Selbstangst des Menschen ist. Exkurs: Der Begriff der Weltangst Ulrich Körtner weist darauf hin, dass der Begriff der Weltangst eine Neuschöpfung des 20. Jh. ist und zum ersten Mal in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918) zu verzeichnen ist.113 Die „Weltangst“114 bei Spengler besitzt ähnliche Facetten wie die „Weltenangst“ Hirschs und kann zur systematischen Erfassung der erbaulichen Ausführungen Hirschs nutzbar gemacht werden. Die Weltangst entsteht in dem Augenblick, in dem der Mensch in der Lage ist, sich selbst von der Welt zu unterscheiden, womit das Gefühl der „Einsamkeit“ einhergeht. „Hier […] enthüllt sich die Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist.“115 Die Weltangst projiziert das „Urgefühl […] des Gewordenseins“, die „ewige[ ] Angst“ des Menschen „vor dem Unwiderruflichen, Erreichten, Endgültigen, vor der Vergänglichkeit, […] vor dem Augenblick, wo das Mögliche verwirklicht“ ist, auf die „Welt selbst als dem Verwirklichten“.116 Die Welt als das Gewordene, das Vergängliche, das darin Kontingente überhaupt wird als Grenze der menschlichen „Sehnsucht“ erfahren, des „Urgefühl[s] des Werdens“, das auf die „Vollendung“ des Menschen in seiner Selbstverwirklichung gerichtet ist und dem

112 

Zw, 80. Körtner, U. H. J.: Apokalyptik: Weltangst und Weltende. Hermeneutik und Kritik apokalyptischen Daseinsverständnisses aus systematisch-theologischer Sicht, in: Koslowski, P. (Hg.): Endangst und Erlösung. Untergang, ewiges Leben und Vollendung der Geschichte in Philosophie und Theologie, München 2009, 183–203, hier: 189. 114  Spengler: Der Untergang, 106. 115  A. a. O., 216. 116  A. a. O., 105 f. 113 

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das zeitliche Ende des menschlichen Lebensprozesses als endgültige Möglichkeit der Verwirklichung grauenhaft vor Augen steht.117 Die „Unerbittlichkeit“ und „Nichtumkehrbarkeit“ des Lebens, „das ewig Unverständliche“ der Welt, das dem menschlichen Verstand „Fremde“ und Entgegenstehende, das „widerspruchsvoll Unheimlich und drückend Zweideutige“ der Welt befördern die menschliche „Angst vor fremden Mächten“, die das Wesen der „Weltangst“ ausmacht. Sie wird bewältigt durch die immer neue Ordnung des „Chaos“ der Welt zu einem „sinnvoll Gewordenen“, durch die „Kultur“; sie ist damit „sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle“, eine dynamische Größe.118 Der Bewältigungsprozess kann Spengler zufolge niemals als abgeschlossen gelten, weil „das Fremde“ nie endgültig gebannt werden kann – „eine geheimnislose ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘“, die die Welt bist ins Letzte durchrationalisiert, kann nur das Werk eines „innerlich erstorbene[n] Mensch[en]“ sein.119 Der Begriff der „Weltangst“ wurde ebenfalls von Hans Jonas geprägt, der sie als Grundstimmung der Gnosis im Gegensatz zum Weltvertrauen der Antike herausarbeitet und sie als „ungeheure Daseins-Unsicherheit“ und als „Angst vor der Welt und sich selbst“ definiert.120 Die Weltangst begegnet dem Menschen als Reflexion seiner eigenen „tiefe[n] Angst“121 im Gegebenen – so wie er sein schöpferisches Wesen der Welt eingeprägt hat, so auch seine Angst, die die Welt nicht in ihrer „Ihm-Gemäßheit“122, sondern in ihrer „Feindseligkeit und Fremdheit“123 erscheinen lässt. Der Mensch fühlt sich nicht mehr als ein der Welt gegenüber schöpferisch-freies Wesen, sondern als „Vasall der Weltwirklichkeit, die ihr im Darbieten vieler Möglichkeiten nur die Wahl zwischen dieser oder jener Dienstbarkeit läßt“124. Jonas charakterisiert die mit der Weltangst einhergehende Selbstangst als Gefühl der „Ohnmacht“, „ein tiefes Sich-Selbst-Unbekanntsein, Unheimlichsein“ und kommt zu dem Schluss: „[D]er Weltangst entspricht die Selbstangst, als Angst um sich selbst und vor sich selbst, da dies Selbst der Tummelplatz der Weltdämonen ist“.125 Der Terminus der Weltangst wird in der Interpretation von K ierkegaard, Heidegger, Jaspers, Sartre zuweilen auf deren Angstbegriffe übertragen, um ihren Charakter einer existenziellen Grundstimmung zu markieren. Die Angst entsteht Walter Schulz zufolge in allen diesen Konzeptionen dadurch, dass „die Tatsache, daß der Mensch in der Welt ist […] ein nicht erklärbares pures Faktum“ ist. „Kierkegaard konkretisiert die Weltangst als Angst vor der Freiheit. Heidegger stellt – noch radikaler als Kierkegaard – die Angst als Angst des In-der-Welt-Seins überhaupt heraus und thematisiert dann diese Angst als Angst vor dem Tode. Sartre, auf Heidegger

117 

A. a. O., 105. A. a. O., 106. Diese These hat Becker, E.: Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht – Ursprung der Kultur, Olten u. a. 1976 zu einer Theorie der Kultur ausgebaut, die alle Formen der Angst auf ihren einen Grund, die Todesangst, zurückführt. 119  Spengler: Der Untergang, 106. 120  Jonas, H.: Gnosis und spätantiker Geist 1. Die mythologische Gnosis. Mit einer Einleitung zur Geschichte und Methodologie der Forschung, Göttingen 1934, 143. 121 Ebd. 122 Ebd. 123  A. a. O., 144. 124  A. a. O., 145. 125 Ebd. 118 

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und Kierkegaard sich berufend, stellt mit Entschiedenheit heraus, daß die Angst zum Handeln gehört, insofern der existierende Mensch allererst im Handeln sich eine geordnete Welt erschaffen muß. Bei Jaspers werden verschiedenartige Aspekte der Angst aufgewiesen, im ganzen erscheint aber die Angst als eine Durchgangsstation zur Geborgenheit im Sein.“126 Inwiefern diese Zuordnung treffend ist, kann hier nicht geklärt werden. Bei Hirsch und m. E. auch bei Spengler und Jonas ist die Weltangst als Extrapola­tion der eigentlichen Grundstimmung, der Selbstangst – der Todesangst – zu verstehen.127

Die ‚Weltenangst‘ überträgt nicht nur die eigene Endlichkeit, sondern auch die Spannungshaftigkeit und Geheimnishaftigkeit des eigenen Lebens auf die Welt128, der Mensch flüchtet damit gleichsam vor sich selbst und seiner existenziellen Angst, indem er der Welt – die ihm als die Grenze seiner Selbstentfaltung entgegenkommt – die Verantwortung für die „Unheimlichkeit des Daseins“129, für das Gefühl der Unbeständigkeit, Grundlosigkeit, Zufälligkeit, Zwielichtigkeit, Fremdheit, Feindlichkeit und zuletzt Sinnlosigkeit des Daseins zuschreibt.130 Mit ihr geht das Gefühl der ‚Ungeborgenheit‘131 in der Welt ein126 

Schulz, W.: Das Problem der Angst in der neueren Philosophie (einschließlich Diskussion), in: Ditfurth, H. v. (Hg.): Aspekte der Angst, Stuttgart 1965, 1–23, hier: 8. 127  Der Differenzierung zwischen Weltangst und Selbstangst als zwei gleichwertig nebeneinander stehenden Grundformen von Angst, wie Ulrich Körtner sie im Anschluss an die benannten Konzeptionen vornimmt (Körtner, U. H. J.: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 119), steht die Feststellung Trau­gott Kochs entgegen, dass Angst bei K ierkegaard „immer Angst um sich selbst“ ist (Koch, T.: Die Angst und das Selbst- und Gottesverhältnis, in: Rohls, J./Wenz, G. (Hgg.): Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre, Göttingen 1988, 176–195, hier: 177). Körtners Befürchtung, die „Angst vor mir selbst“ als Phänomen nicht erklären zu können, wenn die Weltangst als Form der Selbstangst verstanden wird, sieht sich durch die Hirsch’sche Fassung der Selbstangst widerlegt. 128  Zw, 80; Herv. A.‑M. K.: „Und alles, was sonst als Angst in uns sich regt oder von uns hineingeträumt wird in die Welt um uns, wäre also nichts als die Ausstrahlung dieser letzten, dieser tiefsten Angst?“ 129  Zw, 83. 130  Ebd.; Herv. A.‑M. K.: „Indes, hab ich da eben nicht vergessen, daß eben das Wogen der Angst im Seelengrunde des dem Herzen und Gewissen so unheimlich schwer macht, sich dem Glauben an Gottes Liebe zu lassen? Daß eben die Angst uns den heiligen Gott [und ersatzweise die Welt, A.‑M. K.] als den Fremden, Feindlichen, Tötenden vormalt und eben damit den Glauben und auch das Selbst anficht und lähmt? Allerdings, dies ist das Werk der Herzensangst, und zwar um so mehr, je weiter sie sich in die Weltenangst hinein zu flüchten trachtet.“ Vgl. Körtner: Weltangst, 88: „Nicht eine drohende Katastrophe globalen Ausmaßes als vielmehr das Dasein in der Welt überhaupt ist es, was in der Weltangst angst macht. Es ist nicht irgendeine Gefahr, in der sich die Welt befände, sondern die Welt selbst, welche ängstigt. In der Weltangst erscheinen Welt und Dasein gleichermaßen zwielichtig, fragwürdig, fremd und unheimlich.“ 131  Dieses Gefühl benennt Hirsch nicht direkt, er setzt dem Gefühl der „Geborgenheit“

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her. Eine Reaktion auf diese Form der Angst besteht in der Relativierung des Todes als eines Übergangs in das dem diesseitigen Leben schlechthin entgegengesetzte jenseitige Leben. Der moderne Versuch, der Angst zu entfliehen, zeigt sich, so Hirsch, in „eine[r] achselzuckende[n], spöttische[n] Resignation“132 , die die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen verneint und damit das Leben nicht als Prozess der Selbstwerdung begreift. Sie verzichtet auf die Perspektive der Sehnsucht, sie ersetzt die Geheimnishaftigkeit des Lebens durch die allein immanente Zweckhaftigkeit und vermittelt damit eine der Angst vor den Unsicherheiten des Daseins und des Lebens entgegenstehende Sicherheit des Weltumgangs. Dass die auf immanente Faktoren und auf den Menschen selbst gegründete Sicherheit nicht tragfähig ist, erweist sich für Hirsch an der modernen Form der ‚Weltenangst‘, der „Furcht des Menschen vor sich selber“133, der Furcht davor, dass der Mensch selbst zur Vernichtung seiner Gattung beiträgt und seiner Lebensgrundlage die sichere Zukunft entzieht. Der Mensch selbst wird damit zur fremden, gleichsam dämonischen Macht, die sich aus der „Kraft des Hasses“ und der „Lust des Zerstörens“ um des Zerstörens willen speist.134 Hirsch macht deutlich: Die Flucht vor der gewissenhaften Angst, die sich an der Spannung zwischen zeitlichem und ewigem Sein des Menschen entzündet, und die Lösung des Widerspruchs in einem allein immanenten Verständnis menschlichen Lebens sieht, kann nur eine scheinbare Sicherheit vermitteln. Sie vermag es nicht, die kreatürliche Furcht vor dem absoluten Ende auszuräumen. Gerade die moderne Form der Angst erweist sich als innere, gegenwärtige „Hölle“135, weil ihr das Moment der Sehnsucht abhanden gekommen ist. Die Möglichkeit eines Lebens mit der Angst liegt in der Transzendierung der Angst im Medium der sie begleitenden positiven Seite, der Sehnsucht nach Vollendung. Die Angst selbst also führt den Menschen auf ein bestimmungsgemäßes Selbstverständnis. Sie ist in ihrer Doppelbewegung spannungsreich und das „Zwielicht des Gespensterhaften“ entgegen (Zw, 83). R iemann, Condrau und Fuchs weisen aus psychologischer Perspektive auf die zentrale Funktion des Gefühls der „Entborgenheit“ als „Nährboden“ der Angst vor der Selbstwerdung hin, die die Individuation gleichsam verhindert (Condrau, G.: Todesfurcht und Todessehnsucht, in: Paus: Grenzerfahrung, 201– 240, hier: 217. Vgl. R iemann: Grundformen, 27; Fuchs, T.: Leiden an der Sterblichkeit. Formen neurotischer Todesverleugnung, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 51 (2003), 41–50, hier: 4). Dass die vermeintliche Geborgenheit des zweckhaft organisierten und vernünftig beherrschten Weltzusammenhangs in Ungeborgenheit umschlagen kann, wird an der Furcht des Menschen vor sich selbst deutlich. 132  Zw, 81. 133  Zw 82. Diese Form der Angst benennt auch Fritz R iemann als „neue Angst“ des „heutigen Leben[s]“ (R iemann: Grundformen, 18). 134  WrCh, 208. 135  Zw, 81.

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dynamisch: Einerseits muss sie das menschliche Leben begleiten, um den Menschen auf seine Endlichkeit zu verweisen und ihm „die Möglichkeit der öden und leeren Eigenherrlichkeit“136 zu zerbrechen, andererseits muss sich der Mensch über sie erheben können, um überhaupt freiheitlicher und nicht „knechtischer Mensch“137 sein zu können. Einerseits lähmt sie den Menschen, andererseits setzt sie Kräfte seiner Selbstwerdung frei. Einerseits speist sie sich aus der kreatürlichen Todesfurcht und verleitet den Menschen dazu, seine Kreatürlichkeit zu behaupten, andererseits verweist sie den Menschen im Medium seiner Sehnsucht erst auf sein eigentliches Sein. Hätte er keine sich sehnende Angst, wäre er „ein toter Mensch, nicht bloß ohne Glauben, sondern ohne Herz, ohne Liebe, ohne Vollmacht, ohne Schaffenskraft“138. Die Angst gehört wesentlich zum Menschsein, in ihrer Dynamik legt sie das wahre Wesen der menschlichen Freiheit offen, die kreativ-selbsttätig nur im Horizont der liebenden Hingabe an den Anderen sein kann. Aufgrund des in der Sehnsucht begriffenen Kontrasterlebnisses zwischen zeitlicher Bedingtheit und Ewigkeitsbezogenheit ist auch der Mensch, der die Angst annehmen kann, weil er Ziel und Erfüllung seiner Sehnsucht vor Augen hat, stets der Gefahr ausgesetzt, dass die kreatürlich-selbstbehauptende oder die den Menschen auf seine Passivität verweisende Seite der Angst sein Leben dominiert.139 Er ist ständig dem Drang nach einem seinem endlichen Wesen unangemessenen absoluten Freiheitsbewusstsein oder nach einem seinem ewigen Wesen unangemessenen übersteigerten Endlichkeitsbewusstsein ausgesetzt. Auch auf dieser Ebene wird deutlich, dass mit Hirsch der Angstbestimmtheit des Lebens allein durch eine die unbestimmte Sehnsucht bewährende Gewissheit über das wahre Wesen des Menschen – durch Ewigkeitsgewissheit – entgegengetreten werden kann. Die Angst kann ihre positive, die Dynamik des Lebens begründende Kraft nur entfalten, wenn der Mensch sich seiner Freiheit, die die mit der Angst gesetzten Grenzen sprengt, gewiss ist. Diese Gewissheit entspringt aus dem „Trauen darauf, daß Gott Liebe ist“140.

136 Ebd. 137 

Zw, 82.

138 Ebd. 139 

Zw, 79: „Wer aber ihre Begleitung durchs Leben annimmt, geht der nicht einen gefahrvollen Klippenweg, auf dem ihn jeden Augenblick der Absturz ins Böse oder doch in die Wirrsal droht? Sintemal es einem Herzen schwert, vielleicht gar unmöglich ist, die Angst zu beherrschen?“ Parallel dazu geht K ierkegaards These, dass „das Sehnen nicht genug ist um ihn [den Menschen] frei zu machen“ (K ierkegaard: BA, 57 [IV 328]). 140  Zw, 82.

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Exkurs: Hirschs Todesdeutung im Rahmen der existenzphilosophischen Thanatologien Heideggers und Jaspers’ Hirschs existenzanalytischer und phänomenologischer Zugang zum Todesthema weist bis ins Vokabular hinein eine Nähe zu den existenzphilosophischen Thanatologien Heideggers und Jaspers’ auf. Seine Todesdeutung in diesen Rahmen zu stellen, drängt sich gewissermaßen auf. Eine Untersuchung darüber, inwiefern Hirsch existenzphilosophische Ansätze seiner Zeit in seine theologische Gedankenbildung aufgenommen hat, steht noch aus. Die gemeinsame Abhängigkeit der Protagonisten von K ierkegaard141 kann die Verbindungen, die sich ziehen lassen, m. E. nicht hinreichend erklären. Hirsch selbst ordnet sich gedanklich den Existenzphilosophen zu, die, so Hirsch, ihre Einsichten aus der Verbindung von Lebensphilosophie und Phänomenologie mit dem K ierkegaard’schen Ansatz gewinnen.142 Er bezeichnet die Existenzphilosophie in seiner frühen Schaffensphase als „die Gemeinsamkeit einer neuen Haltung“143, die eine dem menschlichen Leben angemessene Alternative zum Empirismus – der eine ganzheitliche Erkenntnis über die Summierung verschiedener Erkenntnisse zu gewinnen versucht – und zum Idealismus – der die konkrete geschichtliche, ambivalente Situation des Menschen vernachlässigt – bietet: Sie nimmt „den ganzen Menschen in seinem wirklichen geschichtlichen Dasein und ist dabei des Glaubens, daß uns das Sein in unserer eignen wirklichen Existenz mit ihrer Unvollendbarkeit und Schicksalsbedingtheit und nirgends anders sein Geheimnis aufschließe“144. Gegenüber dem Anliegen, diese Einsicht in ein philosophisches System oder gar eine Weltanschauung münden zu lassen, äußert er sich allerdings später insofern kritisch, als hier der Versuch unternommen wird, die unverfügbare Subjektivität letztlich doch verstandesmäßig zu objektivieren.145 Im Rahmen der hier gegebenen Darstellung der Todesdeutung Hirschs – die das Ziel verfolgt, Hirsch aus seinem eigenen Denken heraus zu verstehen – kann es nicht die Aufgabe sein, eine genaue Analyse der existenzphilosophischen Positionen und ihre differenzierte Gegenüberstellung zu Hirschs Ansatz zu liefern. Es muss sich darauf beschränkt werden, einige grobe Verbindungslinien zu ziehen, die der Konturierung des Hirsch’schen Ansatzes dienen.146 Heideggers in Sein und Zeit entwickelte Auffassung vom Dasein als „Sein zum Tode“147 findet seine Entsprechung in der Hirsch’schen Definition des menschlichen Lebens als ein auf 141 

Vgl. zu Hirschs K ierkegaard-Rezeption Wilke, M.: Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit, Tübingen 2005. 142  Seinen Aufsatz GG bezeichnet Hirsch als seinen „erste[n] Versuch in existentiellem Denken“ (CF, 186), der – wie hier aufgezeigt – in einem existenzanalytischen Ansatz mündet, der der Dogmatik insgesamt zugrunde gelegt wird. 143  GGL, 45. 144  GGL, 46. 145  EE, 112 f. Dagegen betont Hirsch den dichterischen, sich einer engen Systematisierung entziehenden Stil K ierkegaards. 146  Vgl. zum Zusammenhang und zu den Differenzen der verschiedenen philosophischen Thanatologien seit Heidegger Ebeling, H.: Einleitung: Philosophische Thanatologie seit Heidegger, in: Ders: Der Tod, 11–31; Schumacher: Der Tod. 147  H eidegger: Sein, §§46–53.

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den Tod zulaufendes und vom Tod her bestimmtes, als ein Weg „[z]um Tode“148. Beide gehen von einer Auszeichnung bzw. einem Bedeutungsüberschuss des menschlichen Todes gegenüber dem „Verenden“149 (Heidegger) bzw. dem „Vergehen“ (Hirsch) des Tieres aus, die durch das bewusste Verhältnis des Menschen zu seinem Tod zustande kommen. Heidegger nuanciert hier feiner als Hirsch, indem er die Zwischenstufe des „Ableben[s]“ einbaut, das den organischen Tod des Menschen bezeichnet, der die Möglichkeit des angemessenen „eigentlich[en]“ Verhältnisses zu seinem Tod nicht unbedingt ausgeschöpft haben muss, aber dennoch im Unterschied zum Tier ein Bewusstsein seiner selbst und anderer hat.150 Darüber hinaus bezeichnet das „Sterben“151 die Art und Weise, todesbewusst dem Ableben als dem Ende des Daseins entgegenzugehen, es ist der „Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tod ist“152. Die Präsenz der Ganzheit des Lebens im Tod und die Rückspiegelung dieser Ganzheit in ein Leben, das sich selbst vor dem Horizont des Todes versteht, ist bei beiden Denkern die Grundlage für die menschliche Existenzweise, die der Bestimmung des Menschen zur Freiheit entspricht. Das menschliche Todesbewusstsein ist in diesem Sinne die Basis für ein qualifiziertes Verständnis endlicher Freiheit: Die Möglichkeiten, die dem Menschen gegeben sind, sind nicht unendlich und nicht beliebig, sondern sie sind in einen bestimmten Rahmen gespannt. Der Mensch findet sich angesichts der Begrenztheit seiner Möglichkeiten, die ihm an seinem Tod einsichtig wird, in der Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung153, er ist in der „Geworfenheit des Daseins“154 auf seine „faktischen Möglichkeiten“155 verwiesen. Die geschichtliche Gebundenheit des Menschen verweist ihn nicht nur auf die Begrenzung seiner Möglichkeiten, sondern ist zugleich der Grund seiner Individuation. Die Heidegger’sche „Vereinzelung“156 und die Hirsch’sche „Einsamkeit“157 des Menschen im Leben werden durch den Tod vor Augen geführt: Genauso wie der eigene Tod nicht von einem anderen übernommen werden kann, ist das Leben von jedem selbst zu übernehmen. Der bei Hirsch und Heidegger jeweils verschieden bestimmte Grundcharakter des Todes verweist auf die unterschiedliche Bestimmung des Lebenshorizonts, aus dem das Bewusstsein endlicher Freiheit erwächst: Während bei Hirsch das Leben angesichts des Todes im Horizont der Ewigkeit geführt wird – es ist wesentlich auf die Transzendenz bezogen –, verbleibt das Leben bei Heidegger in der immanenten Ausschöpfung der menschlichen Mög-

148 

Zw, 303, Herv. A.‑M. K. S. o., 5.A, 180 ff. Heidegger: Sein, §49, 247. 150  Ebd. Diese Nuancierung wäre für die Hirsch’sche Reflexion über das Lebensende des gottlosen Menschen vielleicht hilfreich gewesen, um ihn nicht vollkommen mit dem Tier zu parallelisieren. S. u., 6.C.a, 243 ff. 151  H eidegger: Sein, §49, 247. 152 Ebd. 153  S. o., 1.B.a, 44 ff. 154  H eidegger: Sein, §50, 251. 155  A. a. O., §53, 264. 156  H eidegger: Sein, §53, 263: „Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche. Das Vorlaufen läßt das Dasein verstehen, daß es das Seinkönnen, darin es schlechthin um sein eigenstes Sein geht, einzig von ihm selbst her zu übernehmen hat. Der Tod ‚gehört‘ nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes. Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst.“ 157  Zw, 303. S. o., 5.A, 180 ff. 149 

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lichkeiten vor dem Horizont der „Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens“158. Hirsch charakterisiert den Tod als Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit, deren jederzeitige Präsenz im Leben dem Menschen seine Bestimmung zum Personsein vor Augen führt, die vom damit vermittelten Selbstverständnis her, eine durch die Ewigkeitsdimension des menschlichen Geistes ausgezeichnete freiheitliche Person zu sein, realisiert werden kann. Ein angemessenes Freiheitsbewusstsein kann für Hirsch im Unterschied zu Heidegger nur aus der Spannungseinheit zwischen Todes- und Ewigkeitsbewusstsein gewonnen werden. Heidegger folgert aus der Präsenz der Ganzheit des Daseins im Tod in Form der „faktischen Möglichkeiten“159, die vor dem Horizont der „unüberholbare[n] Möglichkeit“160 des Todes realisiert wurden, dass das ganze Dasein in der todesbezogenen Existenzweise vorweggenommen werden kann: Seines eigenen Todes gewiss zu existieren, heißt damit „die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren“161. Die „Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit“162, die mit dem Tod vor Augen geführt ist, stachelt den Menschen zur individuellen, vom sich-bestimmen-Lassen durch das Man gelösten Selbsttätigkeit an, die sein eigentliches Sein ist. Damit ist der Tod zugleich „Seinsmöglichkeit“163. Der Tod selbst schafft bei Heidegger das Bewusstsein der freiheitlichen Subjektivität164, bei Hirsch erwächst dieses aus der Ewigkeitsbezogenheit und letztlich aus dem Gottesbezug des Menschen, wobei ihm der Tod den endlichen und verantwortlichen Charakter der Freiheit offenlegt. Der Tod ist bei Heidegger nur Möglichkeit des Seins, insofern er das sich selbst als Sterben verstehende Leben dazu anstachelt, sein Dasein vor dem Horizont seines Seins zu verstehen. Aufgrund eines rein immanenten menschlichen Selbstverständnisses bleibt der Tod das endgültige Ende des Daseins, durch das dieses ständig bedroht ist. Heidegger bestimmt die eigentliche Existenzweise im Blick auf den Tod als Angst.165 Ihr Objekt ist nicht das Ende des Daseins selbst, sondern die damit verbundene Letztgültigkeit des Seins, die den Menschen auf seine selbsttätige Verantwortung für das eigene Leben verweist. Die Todesangst ist die Angst davor, mit dem Ableben die Möglichkeiten des Lebens nicht ausgeschöpft zu haben. Sie führt dazu, die immer neuen Möglichkeiten in Angriff zu nehmen, indem sie die „Möglichkeit der Selbstaufgabe“ vor Augen führt und so „jede Versteifung auf die je erreichte Existenz“ zerbricht.166 Die Todesangst ist damit grundsätzlich als entbindendes Phänomen bestimmt. Heidegger stellt ihr die uneigentliche Existenzweise der Todesfurcht gegenüber, die durch die Verdrängungsmechanismen des Man hervorgerufen wird: Der Tod wird aus dem Leben ans Ende des Lebens verbannt und kommt nur als Faktum des Todes aller ins 158 

Heidegger: Sein, §50, 250. Heidegger: Sein, §53, 264. 160 Ebd. 161 Ebd. 162  A. a. O., §50, 250. 163 Ebd. 164  Vgl. die Kritik Theodor A dornos, der Tod werde für H eidegger „zum Stellvertreter Gottes“. „Auch nur die Möglichkeit der Abschaffung des Todes zu denken, wäre ihm blasphemisch; das Sein zum Tode als Existential ist von der Möglichkeit seiner bloß – bloß! – ontischen Abschaffung ausdrücklich getrennt. Weil er, als existentialer Horizont des Daseins, absolut sei, wird er zum Absoluten als dem Venerabile. Regrediert wird auf den Todeskultus; deshalb hat der Jargon seit den Anfängen mit der Aufrüstung sich gut vertragen.“ (A dorno, T. W.: Jargon der Eigentlichkeit (Auszug), in: Ebeling: Der Tod, 116–131, hier: 119.) 165  H eidegger: Sein, §53, 265. 166  A. a. O., §53, 264. 159 

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Bewusstsein. Die produktive Angst wird umgewandelt in die „Furcht vor einem ankommenden Ereignis“167, die die Flucht vor der Todesgewissheit und damit vor der eigentlichen Existenzweise provoziert und der vom Man die Idealeinstellung der Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod vorgehalten wird. Diese Haltung resultiert darin, dass der Mensch die Übernahme des selbsttätigen Entwurfs des Daseins nach seinen individuellen, faktischen Möglichkeiten verweigert. Eine Parallele zur Todesfurcht des Man ist bei Hirsch im Phänomen der ‚Weltenangst‘ zu finden, in die – als entlastende, allgemeinere Form der Angst – sich das Selbst flüchtet und durch die es die ‚Herzensangst‘ ersetzt. Indem Hirsch diese allgemeine Form aber als ‚Angst‘ markiert – wobei er sich der K ierkegaard’schen Unterscheidung zwischen der Grundstimmung der Angst und der objektbezogenen Furcht sicher bewusst ist – spricht er ihr den Status eines existenziellen Grundgefühls aber nicht ab. Sein Weg wäre es wohl eher, die Ausdrucksformen der ‚Weltenangst‘ als berechtigte und ernstzunehmende Phänomene aufzugreifen und die ihnen zugrundeliegende „Herzensangst“ aufzudecken. Im Unterschied zu Heidegger kann Hirsch die reine Todesangst nicht als Lebensmöglichkeit verstehen und kommt damit der menschlichen Erfahrungswelt m. E. näher.168 Die Todesangst wirkt zwar produktiv, weil der Tod die in sich ruhende Selbstsicherheit des Menschen in Frage stellt, indem er die „Zerstörung menschlicher Möglichkeiten“169 bedeutet, und weil er den Menschen auf sich selbst zurückwirft und ihn auf die Endgültigkeit seiner Entscheidungen verweist. Als reine Angst birgt sie aber die Gefahr, dass der Mensch entweder die Lösung in einem verabsolutierten menschlichen Freiheitsbewusstsein sucht und auf die vermeintliche Sicherheit der Selbstbehauptung setzt oder dass sie den menschlichen Selbstvollzug lähmt, indem der Mensch resignativ sein Schicksal hinnimmt und eben gerade nicht selbsttätig ist. Der sich vor dem Tod ängstigende Mensch ist allein dadurch vor der absoluten Lähmung und Lebenszersetzung bewahrt, weil in der Todesangst die Sehnsucht nach einem vollendeten Leben verborgen liegt. Zur Lebensmöglichkeit wird die Antinomie zwischen Faktizität und Bestimmung erst, wenn diese Sehnsucht ihre Erfüllung in Form der Ewigkeitsgewissheit erhält. Diese wird als Grund des menschlichen Lebens im Tod, so er als Gottesbegegnung verstanden wird, selbst offenbart. Die Todesgewissheit muss Hirsch zufolge 167 

A. a. O., §51, 254. Hirsch kritisiert Heidegger explizit für seine Deutung des menschlichen Lebens allein unter dem Vorzeichen der Negativität seiner Grenze, die daraus resultiert, dass diese Grenze nicht als Ort der Gottesbegegnung verstanden wird: Die Existenzphilosophie „kann sich gottlos-heidnisch dahin mißverstehen, daß die Grenze, aus der sie mit und in der Existenz entspringt, Grenze gegen das Nichts sei, daß der Ursprung aus sich selber werdend im leeren Abgrund der unaufschließlichen Sinnlosigkeit hange. Sie kann so Gott mit dem μὴ ὄν, mit dem Chaos, gleichsetzen. Dann versteht sie das Geheimnis des Seins, welches in der schicksalsumringten Existenz ihr sich künden möchte, als Sorge und Selbstbehauptung. Anders: die Tiefe des Logos, das human giltige Wort, wäre ihr letztlich Verzweiflung, natürlich tapfere Verzweiflung, die das ihr gegebne Leben nach ihrem Nomos reich entfaltet.“ (GGL, 52). 169  Zw, 131. An dieser Stelle wird Hirschs Nähe zu Jean-Paul Sartres Aussage, der Tod sei die „jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten“ (Sartre: Das Sein, 923) deutlich, die aber nur relativ ist. Denn Hirsch stellt den Tod in die Spannung zwischen Nichtung und Entbindung, die Aussage, „wenn wir sterben müssen, hat unser Leben keinen Sinn“ (a. a. O., 928), ist bei Hirsch nur die eine Seite der Medaille. Mit Hirsch ist es möglich, den „absurde[n] Charakter“ (a. a. O., 917) des Todes zu betonen – womit dessen „Humanisierung“ (a. a. O., 916) vorgebeugt ist – und gleichzeitig das entbindende Moment des Todesbewusstseins freizulegen, das allerdings erst mit der Ewigkeitsgewissheit seine tragende Kraft entfalten kann. 168 

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mit der Ewigkeitsgewissheit gekoppelt sein, wenn sie ein wahrhaft selbsttätiges Leben, das nicht zersetzend wirkt, entbinden soll.170 Aus dem Todesbewusstsein selbst erwächst dem Menschen zunächst das Bewusstsein seiner schlechthinnigen Abhängigkeit, die seine freie Selbsttätigkeit zu unterbinden scheint. Erst die Ewigkeitsgewissheit vermag es, die endlichen Möglichkeiten des Menschen im Rahmen seiner Abhängigkeiten aufzuzeigen. Das Bewusstsein, trotz Endlichkeit frei zu sein, erwächst erst aus der Gründung der menschlichen Freiheit in der Ewigkeitsdimension des menschlichen Geistes. Der phänomenologisch herausgestellte ambivalente Charakter der Todesangst spiegelt sich in der Doppeldeutigkeit des Todes171 wider: Es bleibt zweifelhaft, ob der Tod letztlich das wahre Leben eröffnet – ob er dem Menschen ermöglicht, Person im vollen Sinne zu sein – oder ob er das Aus des Menschen bedeutet – ob er dem Menschen vor Augen hält, dass es für ihn aufgrund seiner Verfallenheit an das kreatürliche Dasein unmöglich ist, freiheitliche Person zu sein. Die Doppeldeutigkeit des Todes arbeitet auch Karl Jaspers aus,172 dem Hirsch gedanklich näher steht.173 Grundlegend für dessen Thanatologie ist das Verständnis des Todes als Grenzsituation. Im Unterschied zu wandelbaren, selbsttätig gestaltbaren Situationen, in denen der Mensch sich vorfindet, die er selbst schafft und weiterentwickelt, führt die Grenzsituation dem Menschen die schlechthinnige Gegebenheit seines Lebens, dessen Entwurf ihm entzogen ist, vor Augen. Grenzsituationen zeigen die Grenze menschlicher Handlungsmöglichkeiten in seiner geschichtlichen Bestimmtheit auf. Sie lassen sich nicht objektivierend verstehen und erklären: „Sie sind nicht überschaubar, in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können.“174 Grenzsituationen zeigen die Begrenztheit menschlicher Existenz auf und eröffnen zugleich die Dimension ihrer Transzendenz, indem sie das menschliche Bewusstsein darauf verweisen, dass es sich selbst nicht allein immanent – d. h. nach den Kategorien des endlichen Verstandes – begreifen kann. 170 

S. u., 6.B.b, 235 ff. S. u., 6.A.b., 220 ff. 172  Arnulf von Scheliha macht eine „erstaunliche Konvergenz“ der Hirsch’schen „allgemeinen Bestimmungen des Begriffs von Philosophie“ mit Jaspers’ Existenzphilosophie aus (Scheliha: Emanuel Hirsch, 93 f., Anm.  95). Auch Matthias Wilke verweist darauf, dass „gerade die geschichtsphilosophischen und kommunikationstheoretischen Überlegungen Hirschs auffällige Parallelen“ zu Jaspers zeigen (Wilke: Die Kierkegaard-Rezeption, 70), denen bei gleichzeitiger Betonung der Differenz der daraus abgeleiteten politischen Handlungsoptionen weiter nachzugehen wäre (a. a. O., 70 f., Anm.  43). Hirsch selbst sieht seine gedankliche Verbindung zu Jaspers, wobei er gleichzeitig auf den grundlegenden Unterschied verweist, dass sein Wirklichkeitsverständnis auf der wirklichkeitserschließenden Kraft der im Glauben sich ereignenden Offenbarung basiert (HchR, 78 f.). 173 Zum Vergleich zwischen den Todesdeutungen Heideggers und Jaspers’ vgl. Cottier, G.: Die Todesproblematik bei einigen Existenzialphilosophen, in: Luyten, N. A. (Hg.): Tod, Ende oder Vollendung?, Freiburg i. Br. 1980, 111–159; Gerlach, H.‑M.: Dasein als Sein zum Tode oder Tod als Grenzsituation. Identisches und Differentes in den Todesauffassungen von Heidegger und Jaspers, in: DZPh 39/11 (1991), 1239–1266. 174  Jaspers, K.: Philosophie II. Existenzerhellung, Berlin 1932, 203. 171 

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„Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Sie werden, dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe. […] Während dem Dasein die Frage nach dem Sein in den Grenzsituationen fremd ist, kann in ihnen Selbstsein des Seins inne werden durch einen Sprung: das von Grenzsituationen sonst nur wissende Bewußtsein wird auf einmalige, geschichtliche und unvertretbare Weise erfüllt. Die Grenze tritt in ihre eigentliche Funktion, noch immanent zu sein und schon auf Transzendenz zu weisen.“175 Jaspers unterscheidet wie Hirsch zwischen dem äußerlichen, objektiven Wissen und dem innerlichen, existenzhaften, „fühlbar[en]“, subjektiven, unvertretbaren Erschlossensein, über das der Mensch auf die transzendente Möglichkeit seines Seins, die in der endlich freiheitlichen Lebensgestaltung ihren Ausdruck findet176, verwiesen wird. Die Grenzsituation ist damit dem Hirsch’schen Offenbarungsereignis strukturell gleichartig. Hier wird die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, auf der sich die Existenz bewegt, vor Augen geführt, dort wird die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit offengelegt, die im Subjekt selbst verortet ist. Hier wie dort wird der scheinbar sich über die Welt erheben könnende Standpunkt des unberührten, allwissenden Beobachters erschüttert, indem die undurchsichtige Grenzsituation ihn auf die Grenzen seines Wissens und seine „notwendige[ ] Teilnahme an der Welt des Scheiterns“177 (Jaspers) bzw. sein Leben „unter dem Gesetz des Daseins“178 (Hirsch) verweist. Das deutende Nachvollziehen der Grenzsituationen als Möglichkeit der Existenz erweist sich dabei nur als Vorstufe des eigentlichen Umgangs mit Grenzsituationen: Sie werden „doch erst eigentlich Grenzsituationen durch einen einzigartigen umsetzenden Vollzug im eigenen Dasein, durch welchen Existenz sich ihrer gewiß und in ihrer Erscheinung geprägt wird“179. Erst wenn die Grenzsituation als die eigene angenommen wird, wenn sie im eigenen Lebensvollzug bejaht und umgesetzt wird, wird ihr so begegnet, dass sie Seins- und Ewigkeitsgewissheit erschließen kann. Die Grenzsituationen verweisen sowohl bei Hirsch als auch bei Jaspers auf die antinomische Struktur des menschlich-geschichtlichen Lebens,

175  A. a. O., 204. Vgl. Hirschs Begriff der Grenze: „Der Begriff der Grenze […] schwebt in dem ineinander geketteten Doppelsinn von einerseits der geschichtlichen Wirklichkeit, die nach ihrer schlechthin gegebenen Besonderheit und ihrer zu Dienst rufenden Macht die Vernunft und Freiheit grenzt und bindet, und andererseits der unendlichen göttlichen Hoheit und Gewalt, die als das verborgne Geheimnis jenseits des geschichtlichen Lebens das vergängliche geschichtliche Leben erschüttert und verzehrt mit der Macht des Ewigen, indem sie es grenzend bewahrt. Ich habe für dies Geheimnis des geschichtlichen Leben die Formel gebraucht, daß der geschichtliche Horos und der heilige Horos zugleich miteinander gespannt und das gleiche sind. […] Das Wort ‚Grenze‘ ist mir, wie jedem, dem es zum entscheidenden Zeichen der unergründlichen dialektischen Doppelbeziehung des Zeitlichen und des Ewigen und damit des Geheimnisses in der notvollen Tiefe geschichtlicher Existenz geläufig ist, zuteil geworden aus jahrelangem Umgang mit der kantisch-fichtischen Philosophie. “ (CF, 187.) 176  Jaspers: Philosophie II, 210–219. 177  A. a. O., 207. 178  Z. B. ChR II, 61. 179  ChR II, 206.

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das in sich nicht abschließbar ist und in dem nur punktuelle, „gestückte[ ]“180 Vollendung sichtbar wird.181 „So ist die letzte alle anderen in sich schließende unverstehbare Grenzsituation: daß Sein nur ist, wenn Dasein ist; daß aber das Dasein als solches nicht das Sein ist.“182 Als einzelne Grenzsituationen, die die antinomische Struktur des Daseins offenlegen, benennt Jaspers Tod, Leid, Kampf und Schuld. Tod und Leid bezeichnet er als Grenzsituationen, die der Mensch erleidet, Kampf und Schuld als solche, an denen er mitwirkt.183 Der Tod und der Kampf sind dabei als Grenzsituationen zu verstehen, die den anderen beiden zugrunde liegen. Neben der teilweise inhaltlichen Kongruenz der Beschreibung der einzelnen Grenzsituationen184 besteht damit eine bemerkenswerte Parallele zu Hirschs Formulierung vom „Gesetz des Kampfes und der Zucht des Todes“185. Mit Tod, Leid, Kampf und Schuld sind die wesentlichen Koordinaten von Hirschs Gesetzesbegriff benannt, wobei Tod und

180 

ChR II, 30. ChR II, 250. 182  ChR II, 253. 183  ChR II, 233. 184  Die Dimensionen des Kampfes betrachtet Jaspers (Jaspers: Philosophie II, 233–235) differenzierter als Hirsch (s. o., 51 f.). Während der kreatürliche Selbsterhaltungstrieb nur die unbewusste Form des Kampfes darstellt, wird dieser bewusst in institutionalisierten Machtverhältnissen. Er dient hier der Weitung des Daseinsraums und der Fixierung der Machtverhältnisse. Darüber hinaus eröffnet Jaspers, indem er den Kampf als in-Frage-Stellen der Existenz versteht, die Dimensionen des geistigen Kampfes (Agon), des Kampfes als lebendigen Prozesses der Liebe (einander in „unerbittlicher Durchleuchtung wahr werden“ [Jaspers: Philosophie II, 234; Herv. A.‑M. K.]) und des Kampfes mit sich im Prozess des Selbstwerdens. Hier können zwei Intentionen unterschieden werden: Entweder der Kampf ist auf bloße Gewalt aus, dann dient er den Prozessen nicht, oder er zielt im Medium der Liebe auf das Offenbarsein von Wahrheit, dann wird er positiv als das Durchgangsmoment zur Wahrheit verstanden. In dieser Vielgestaltigkeit und Ambiguität kann man m. E. die Dimensionen des Hirsch’schen Gesetzesbegriffs wiederentdecken: Die Gesetzhaftigkeit spiegelt sich in allen Dimensionen des menschlichen Selbstvollzugs wider, sie kann als endgültiges Urteil über den Menschen oder als notwendiges Durchgangsmoment zur Offenbarung der Gnade verstanden werden. Das Jaspers’sche Verständnis des Leidens zeigt Parallelen zu Hirschs Gedanken des „bejahten Gotterleidens“ (s. o., 106), auf: „In der Grenzsituation erst kann es das Leiden als unabwendbar geben. Jetzt ergreife ich mein Leiden als das mir gewordene Teil, klage, leide wahrhaftig, verstecke es nicht vor mir selber, lebe in der Spannung des Jasagenwollens und des nie endgültig Jasagenkönnens, kämpfe gegen das Leiden, es einzuschränken, es aufzuschieben, aber habe es als ein mir fremdes doch als zu mir gehörig, und gewinne weder die Ruhe der Harmonie im passiven Dulden noch verfalle ich der Wut im dunklen Nichtverstehen. Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn trifft. Niemand kann es ihm abnehmen.“ (Jaspers: Philosophie II, 231.) Der Jaspers’sche Gedanke einer nicht quantifizierbaren, umfassenden Schuld, die zum Selbstwerden im geschichtlichen Leben notwendig hinzugehört (a. a. O., 246–249), ist mit der transformierten Sündenlehre Hirschs zu vergleichen (s. o., 2.C.a, 106 ff.), wobei dort freilich im aneinander-schuldig-Werden die Dimension der Schuld an Gott aufbricht. 185  Z. B. ChR I, 233. 181 

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Kampf als allgemeine Struktur, Leid und Schuld als daraus entstehende Gesetzeserfahrung ewigkeitsbezogenen, menschlichen Lebens zu verstehen sind.186 Der Tod wird von Jaspers in doppelter Hinsicht als notwendig begriffen: Für die Existenz ist ihre Erscheinungsweise im Dasein unabdingbar, um im Medium begrenzter Dauer ihre Selbsttätigkeit entfalten, sie selbst werden zu können. Zugleich lebt sie in dem Bewusstsein, mehr zu sein als ihre Erscheinungsweise. Der Tod ist damit zum einen „für Existenz die Notwendigkeit ihres Daseins durch Verschwinden ihrer immer zugleich unwahren Erscheinung“187. Zum anderen wirft er als Grenzsituation den Menschen wieder auf sein Dasein zurück: Das Mehr der Existenz bleibt unbestimmt, „statt einer Antwort, vermöge der ich in Tod und Leben wüßte was ich bin, [geht] vielmehr der Anspruch an mich […], mein Leben angesichts des Todes zu führen und zu prüfen“188. Wie bei Hirsch wird durch das „Nichtwissen“189 über das Wesen des Todes und die in ihm eröffnete Dimension der Vollendung menschlichen Lebens der Mensch auf seinen Ort im Dasein verwiesen, an dem er den Prozess seiner Selbstwerdung zu vollziehen hat. Der Tod wird nicht durch das eindeutige Wissen über das transzendente Wesen des Menschen überwunden, sondern allein über die Existenzbzw. Ewigkeitsgewissheit, die im geschichtlichen freiheitlichen Selbstvollzug offenbar wird und die die Realität des Todes nicht übermalt, sondern ihrer „Herr“190 wird. Dementsprechend sind sowohl mit Jaspers als auch mit Hirsch alle „eindeutig gradlinig[en] Haltung[en]“ zum Tod als unangemessen herauszustellen. „Ataraxie“191 bzw. „Resignation“192, „Weltver-

186 Hirsch

selbst macht auf die Mutmaßung Tillichs hin, er habe den Gedanken der Grenzsituation von Tillich und Jaspers übernommen (Tillich, P.: IV, 7 Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Offener Brief an Emanuel Hirsch von Paul Tillich [New York, 1. Oktober 1934], in: Ders.: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Frankfurt a. M. 1983, 142–176, hier: 147), die Differenz zu einem bloß „abstrakt-dialektische[n] Verhältnis von Zeitlichem und Ewigem, von Erschüttert- und Begnadetwerden“ an seiner Verbindung des Grenzgedankens mit dem Gesetzesbegriff fest (CF, 189). Diesen koppelt er 1934 „an den Nomos in seiner bestimmten erdhaften Gestalt“, an das sich im Nationalstaat verwirklichende Volk, das „die verpflichtende Bindung [s]eines geschichtlichen Daseins“ darstellt (ebd.). Diese Verengung des Gesetzesbegriffs auf eine empirisch wahrnehmbare Gestalt entspricht nicht der weiten Fassung, die Hirsch in der ChR und in seinen Spätschriften entwickelt, wie sie hier zur Darstellung gekommen ist (s. o., 2.B.b, 96 ff.). Sie muss mit Tillich als dem christlichen Glauben unangemessene Sakralisierung des Profanen zurückgewiesen werden (Tillich: Theologie des Kairos, 152). Hirsch verleugnet an dieser Stelle in seiner „Gegenwartsdeutung tatsächlich die theologische Ebene zugunsten der propagandistischen“ (a. a. O., 153). 187  Jaspers: Philosophie II, 221. 188  A. a. O., 223. 189 Ebd. 190  A. a. O., 221. Vgl. bei Hirsch: Jesus ist Herr über den Tod, dieses Verhältnis eignet er den Glaubenden zu (s. u., 7.A.a, 269 ff.). 191  Jaspers: Philosophie II, 223. 192  ChR I, 238.

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neinung“193 bzw. „Lebensflucht“194 lassen sich auf die Phänomene der „Lebensgier“195 und der „Todesangst“196 zurückführen. Die Beschreibungen der angemessenen Haltung zum Tod bei Jaspers und Hirsch zeigen Konvergenzen und eine entscheidende Differenz auf. Beide gehen davon aus, dass die Doppeldeutigkeit des Todes und des Lebens aufrechterhalten werden muss.197 Das geschichtliche Leben ist nicht das eigentliche Leben und zugleich ist es der unvorgreifliche Ort der Selbstwerdung, an dem das wahre Wesen menschlichen Lebens aufscheint. Der Tod muss einerseits realistisch als Abbruch des geschichtlichen Lebens ernstgenommen werden, weil er nur so darauf verweisen kann, dass „das Dasein“ nicht „alles ist“198. Zugleich ist er die „notwendige[ ] Grenze [der] möglichen Vollendung“; „in ihm“ ist „Vollendung, aber unbegreiflicher Art“.199 Die Doppeldeutigkeit des Todes spiegelt sich in der Einstellung zum Tod auf diese Weise wider, dass die Seins- bzw. Ewigkeitsgewissheit im geschichtlichen Leben keine Stetigkeit gewinnen kann, dass sie im Blick auf den Tod „immer neu erworben“200 bzw. zugeeignet werden muss und in stetiger Spannung zur „Doppelheit der Todesangst und Lebenslust“201 steht. Die Angst kann dabei je nach Bewusstseinsstufe verschiedene Formen annehmen. Auch Jaspers kennt die Unterscheidung zwischen der von einem rein immanenten Selbstverständnis geleiteten Angst um das Dasein und die tiefere „Angst existenziellen Nichtseins“, die als „Angst darum, ob ich mich als eigenes Sein ergreife“202, umschrieben werden kann und die allein durch das Dasein transzendierende „Seinsgewißheit“ ausgeräumt werden kann.203 Die „Lebensgier“, das Lebenwollen „um jeden Preis“, wird von ihm als der falsche Weg beschrieben, der aus einem rein immanenten Selbstverständnis erwächst, für das „die Aussicht auf den biologischen Tod“ die „völlige[ ] Verzweiflung“ bedeutet.204 Jaspers und Hirsch machen deutlich: Die Schattenseiten des Daseins sind nicht zu umgehen, die Seins- bzw. Ewigkeitsgewissheit muss aufgrund der Ambiguität des Daseins, „in dem die eigentliche Wahrheit nicht als Bestand ist“, „aus dem Schmerze“205 bzw. aus der Anfechtung hervorgehen.

193  Jaspers: Philosophie 194  ChR II, 56. 195  Jaspers: 196 Ebd.

II, 223.

Philosophie II, 223.226; EE, 312.

197  Jaspers: Philosophie II, 223: „Dem in der Grenzsituation Existierenden ist der Tod nicht das Nahe und nicht das Fremde, nicht Feind und nicht Freund. Er ist beides in der Bewegung durch die sich widersprechenden Gestalten.“ Zu Hirsch s. u., 6.A.b, 220 ff. und 7.B.b, 302 ff. 198  Jaspers: Philosophie II, 225. 199  A. a. O., 228. Zu Hirsch s. u., 7.B.c, 305 ff. 200  Jaspers: Philosophie II, 227. 201  A. a. O., 226. 202  Schulz: Das Problem, 12. 203  Jaspers: Philosophie II, 226. 204 Ebd. 205  A. a. O., 227.

210

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Jaspers bezeichnet die Haltung, die diese Spannung integriert, als „Tapferkeit“206, „Gelassenheit“207, „Ruhe“208, „Gefaßtsein“209. Diese wird umso fester, je mehr im Leben die Möglichkeiten der Selbstwerdung verwirklicht wurden.210 Die Haltung der Tapferkeit gegenüber dem Tod kritisiert Hirsch, weil sie den Tod seiner Meinung nach auf seine Endgültigkeit festlegt – ihm also doch Eindeutigkeit beimisst – und ihn nicht als Gottesbegegnung im Medium von Gericht und Gnade begreift. Die angemessene Haltung dem Tod gegenüber ist Hirsch zufolge das ‚bejahte Gotterleiden‘, mit dem er die aktive Annahme des von Gott bestimmten Lebenswegs bezeichnet und die im Blick auf den Tod eine gewisse Gelassenheit 211 vermitteln kann.212 Diese bejahende Haltung ist in Jaspers’ Tiefenverständnis des Todes angelegt: „Tod kann Tiefe nur haben, wenn keine Flucht zu ihm strebt; er kann nicht äußerlich gewollt werden. Die Tiefe bedeutet, daß sein Fremdheitscharakter fällt, daß ich auf ihn zugehen kann als zu meinem Grunde, und daß in ihm Vollendung, aber unbegreiflicher Art, sei. Tod war weniger als Leben und forderte Tapferkeit. Tod ist mehr als Leben und gibt Geborgenheit.“213 Jaspers schreibt hier allerdings dem Tod selbst die Rolle zu, die in der Hirsch’schen Konzeption Gott einnimmt: Er ist der „Grund[ ]“ des Selbstseinkönnens und „gibt Geborgenheit“. Damit ist die wesentliche Differenz zwischen beiden Todesdeutungen eingeholt, die sich an der grundlegenden Entscheidung entzündet, ob die Transzendenz menschlich-geschichtlichen Lebens auf den Gottesgedanken führt oder nicht. Mit Hirsch kann der „Grund“ menschlichen Lebens in keinem anderen als Gott verortet werden. Wird der Grund des Menschseins außerhalb des Todes gefunden, dann kann m. E. zum einen an der Doppelgestalt des Todes als Vollendung und Abbruch überzeugender festgehalten werden – der Tod in seiner Negativität führt nicht nur auf das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, sondern er stört auch meine Selbstgründung außerhalb meiner selbst. Zum anderen ist allein damit jeglicher Tendenz zur Flucht in den Tod und zur Todesverherrlichung vorgebeugt.

5.E  Résumé: Die Spannungseinheit von Todes- und Ewigkeitsbewusstsein als Grund eines angemessenen Verständnisses menschlichen Lebens Hirsch deutet wie die Existenzphilosophie das Leben als ein auf den Tod zulaufendes, es ist von seinem Ende her zu verstehen. Dem menschlichen Sterben schreibt Hirsch einen Bedeutungsüberschuss gegenüber dem Vergehen des Tie206 

A. a. O., 225. A. a. O., 226. 208  A. a. O., 228. 209  A. a. O., 227; i. O. herv. 210  A. a. O., 228. 211  Zw, 210. 212  S. u., 7.A.b, 273 ff. 213  Zw, 229. 207 

5  Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung

211

res zu, der aber nur eingeholt werden kann, wenn das menschliche Leben nicht – wie bei Heidegger – auf die reine Immanenz reduziert wird und das menschliche Verhältnis zu seinem Tod nicht allein durch das Bewusstsein des ausstehenden Endes gekennzeichnet ist. Es ist durch die Doppelheit von Todes- und Ewigkeitsbewusstsein des Menschen charakterisiert. Diese Spannungseinheit weiß Hirsch mit dem Gefühl der Lähmung menschlicher Selbsttätigkeit angesichts des drohenden Endes existenzanalytisch einzuholen. Zudem macht die damit einhergehende Bestimmung des Todes als Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit seine jederzeitige Präsenz im Leben und die Präsenz der Ganzheit des Lebens im Augenblick des Todes, die die Möglichkeit der Vollendung des Lebens im Tod bedingt, plausibel. Diese wird von Hirsch im Unterschied zu Heidegger und gemeinsam mit Jaspers in ihrer Spannungshaftigkeit begriffen. Der Tod wirkt auf das Leben in Form von dynamisierenden und lähmenden Grenzerfahrungen. Das Nicht‑Wissen um den Tod und die Subjektivität der Todeserfahrung verweisen auf den einsamen Charakter menschlichen Lebens und Sterbens: Das Entscheidende kann dem Menschen niemand abnehmen. Diese Einsamkeit ist zugleich der Grund seiner individuellen Besonderheit gegenüber den anderen. Die Einsicht in die Subjektivität der Todeserfahrung führt notgedrungen zu einer Deutungspluralität im Blick auf den Tod. Die verschiedenen daraus hervorgehenden Einstellungen zum Tod sind in der Moderne durch die Rationalisierung der menschlichen Lebensbereiche geprägt. Diese wirkt sich im Allgemeinen negativ auf die Mitteilungsmöglichkeiten des Einzelnen angesichts des Todes aus und isoliert ihn damit in seinem Todesschicksal. Wird die Rationalität als der absolute Maßstab menschlichen Lebens genommen, dann wird nicht nur das menschliche Leben, sondern auch der menschliche Tod seiner Unbedingtheitsdimension entledigt – es gibt im Leben und Sterben keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Tier, dem Leben des Einzelnen kann kein eigentümlicher Wert beigemessen werden, er vergeht wie ein Tier. Besonders an der in der Moderne vorherrschenden Deutung des Todes als Nichts wird dieses Problem vor Augen geführt. Aber auch die Bewertung des Todes als dem Sinn menschlichen Lebens gegenüber relativ unbedeutendes Ereignis findet Anhalt an der Reduktion des menschlichen Lebens auf die reine Immanenz. Oder sie geht darauf zurück, dass das menschlich-zeitliche Leben dem ewigen Leben gegenüber als unbedeutend eingestuft wird. Den Wert des menschlich-zeitlichen Lebens und die Würde des Einzelnen kann nach Hirsch allein eine Todesdeutung aufrechterhalten, die am Ewigkeitsbezug und an der ambivalenten Gestalt menschlichen Lebens und Sterbens festhält, die also den Tod als jederzeit präsente Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit begreift. Explizit wird diese Perspektive, wenn das Leben und Sterben des Men-

212

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

schen im Medium seiner Gottesbeziehung gedeutet wird. Der Tod als Grenzerfahrung an der Schwelle zur Ewigkeit wird damit zur Gottesbegegnung. Er wird als der Moment gedeutet, in dem von Gottes Leben her die Wahrheit über das menschliche Leben offenbart und vollendet wird: Das menschliche Leben ist zeitlich und ewig, von Gott getrennt und auf Gottes Leben zu, unheilig und geheiligt zugleich; der Tod verweist den Menschen sowohl auf seine Endlichkeit als auch auf seine Bestimmung zum Personsein, auf seine Unfähigkeit, sich in sich selbst zu gründen, und die Möglichkeit der Gründung in Gott. Auch als Gottesbegegnung bleibt der Tod doppeldeutig. Als solcher hat er Einfluss auf das menschliche Leben in einer Mischung von Einsicht in die Passivität und Entbindung von Spontaneität, in einer Mischung von positiver, dynamisierender Kraft und als Zeichen der Sinnlosigkeit. Überwiegt das das Leben entbindende Moment des Todes, verliert er seine Macht über das Leben. Das menschliche Todesbewusstsein begründet die Angst vor dem Tod und den Trieb zur Selbsterhaltung und bildet im Idealfall zugleich die Basis für ein angemessenes Verständnis endlicher Freiheit, die sich nur in der Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung realisieren kann. Die Möglichkeit, diesen Lebenswiderspruch zu transzendieren und wirklich freiheitlich handeln zu können, setzt Ewigkeitsgewissheit voraus, die nicht durch den Tod an sich gewonnen werden kann, sondern allein durch die Erfahrung der Liebe Gottes – hier liegt der wesentliche Unterschied der Hirsch’schen Todesdeutung zu der von Jaspers. Die bleibende Ambivalenz menschlichen Lebens und Sterbens lässt die kreatürliche und die personhafte, die lähmende und die entbindende Seite des Todesbewusstseins nebeneinander bestehen. Sie verweist darauf, dass sich Leben wie Tod einer eindeutigen Definition entziehen. Der Tod ist durch eine ihm wesentliche Doppeldeutigkeit gekennzeichnet, eine eindeutige Haltung zum Tod kann sich nur als diesem Charakter unangemessen erweisen. Auch die den Menschen stets begleitende Todesangst, die Angst des Menschen um sich selbst, legt diese Dynamik offen. Die Selbstangst des Menschen wird von Hirsch parallel zu K ierkegaard, Heidegger und Jaspers als existenzielle Grundstimmung des Menschen entfaltet. Sie ist durch die Spannung zwischen Todes- und Ewigkeitsbewusstsein bedingt, als Angst vor dem Abbruch des Lebens und als Angst davor, am Ende darauf blicken zu müssen, die eigene Bestimmung verfehlt zu haben. Dominiert sie das Leben des Menschen, führt sie zu den problematischen Selbstdeutungskonzepten, die den unangemessenen Deutungen des Todes zugrunde liegen: Zu einem übersteigerten Endlichkeitsbewusstsein oder zu einem verabsolutierten Freiheitsbewusstsein. Als verschiedene Formen der Selbstangst wurden im Anschluss an Hirsch die Angst um das (kreatürliche) Dasein – Todesangst –, die Angst vor dem (bestimmungsgemäßen) Leben, die Angst um das (vollendete) Leben – Gerichtsangst –, und die

5  Die existenzanalytische und phänomenologische Grundlegung

213

Angst vor dem (unheimlichen, beengenden) Dasein – Weltangst –, herausgearbeitet, die sowohl auf der Ebene der allgemeinen Humanität als auch auf der Ebene der expliziten Gottesbeziehung verortet werden können. Als eine Extrapolation der Selbstangst ist mit Hirsch die Weltangst zu verstehen. Hirsch macht zwar deutlich, dass diese Form aus einer Flucht vor der eigentlichen, existenziellen Angst resultiert, wertet sie jedoch nicht – wie Heidegger die Furcht des Man – ab, sondern nimmt sie in ihrem Anliegen ernst. Er macht an ihr als moderne Form der Angst deutlich, dass der Mensch vor seiner Angst letztlich nicht fliehen kann und führt sie auf die Selbstangst zurück. Die Weltangst ist dadurch charakterisiert, dass sie die Spannungshaftigkeit und die Entzogenheitserfahrungen der Selbstangst auf die Welt überträgt. Der Mensch fühlt sich in seiner Endlichkeit entweder mit der Welt so verbunden, dass er auf seine Selbstunterscheidung von dem welthaft-kreatürlichen – und damit auf seine Menschwerdung – verzichtet und die Einordnung in den Gesamtzusammenhang als Entlastung erfährt: Er ängstigt sich nicht einsam, sondern mit der Welt. Oder er fühlt sich von der Welt so getrennt, dass er in ihr die Ursache für die Widersprüchlichkeit seines Lebens vermutet – sie erscheint als fremd, feindlich, unheimlich, schicksalhaft, sinnlos, er muss sich ihr gegenüber behaupten oder sich dem Lauf der Dinge resigniert hingeben. Eine besondere Angstform der Moderne ist die Furcht des Menschen vor sich selber, mit der ihm vor Augen gehalten wird, dass er vor der Angst letztlich nicht fliehen kann: Die Beherrschung und Rationalisierung der Welt, die ihm zuvor die ängstliche Unsicherheit ausräumende Sicherheit verschaffte, schlägt um in das Bild vom herrschsüchtigen, dämonischen, zerstörungswütigen Menschen, der auch vor sich und seiner Gattung nicht Halt macht. Dialektisch ist die Angst, weil in ihr die Sehnsucht nach einem vollendeten Leben verborgen liegt, die die Kräfte seiner Selbstwerdung freisetzt – hier liegt der wesentliche Unterschied der Hirsch’schen Konzeption zu der Heideggers, womit Hirsch die Lähmungserfahrung der Angst gleichzeitig zu ihrer entbindenden Funktion religionsphilosophisch und theologisch zur Geltung bringen kann und sie nicht als uneigentlich hinter sich lässt. Die Angst nimmt im Selbstwerdungsprozess die positive Rolle ein, den Menschen bei seiner Endlichkeit zu behaften und vor einem verabsolutierten Freiheitsbewusstsein zu schützen. Sie gehört damit notgedrungen zur Menschwerdung. Nicht erdrückend ist die Angst und ihre Dynamik kann sie allein entfalten, wenn dem Menschen eine Aussicht auf die Bewährung seiner Sehnsucht gegeben ist. Diese Gewissheit kann dem Menschen allein im Medium der Erfahrung der Liebe Gottes zuteil werden.

6  Die „Hülle der Nacht“: Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung Die phänomenologische und existenzanalytische Grundlegung Hirschs eröffnet verschiedene Anknüpfungspunkte für eine theologische Thanatologie. Zuerst ist klar geworden, dass Todes- und Lebensdeutung in einem Wechselverhältnis stehen. Auf deutungstheoretischer Ebene heißt das: Mit der jeweiligen Deutung des Todes geht ein bestimmtes Verständnis des menschlichen Lebens einher und umgekehrt. Für die Entwicklung eines theologischen Todesbegriffs muss dementsprechend zuerst der theologische Lebensbegriff geklärt werden. Hirsch definiert den Lebensbegriff von Gott her und macht einen Gegensatz zwischen menschlichem und göttlichem Leben auf, der in der Deutung des Todes als Gottgeschiedenheits- und Gerichtserfahrung resultiert. Die Einheit zwischen menschlichem und göttlichem Leben, die darauf führt, den Tod als Durchgang zum ewigen Leben – zur Gemeinschaft mit Gott – zu verstehen, kann nur eine als antinomische gedacht und erfahren werden, die also den Gegensatz zwischen beiden in sich schließt. Für das Gottesbild hat dies zur Folge, dass Gott als der erfahren wird, der sowohl tötet als auch lebendig macht (6.A). Auf der Ebene der Erfahrung führt das Wechselverhältnis von Todes- und Lebensdeutung zu der These: Der Tod wirkt auf den menschlichen Lebensvollzug so zurück, wie er gedeutet wird. Umgekehrt kann vom Leben her, von Erfahrungen her, die dem Tod ähnlich sind, auf das Wesen des Todes geschlossen werden. In methodischer Hinsicht kann dazu angemerkt werden: Über eine Analyse der dem Tod ähnlichen Erfahrungen, die der Mensch im Leben macht, ist es möglich, sich dem Wesen des Todes anzunähern. Die abgeleiteten Charakteristika sind aber als uneigentlich einzustufen.214 Die theologische Thanatologie Hirschs kann vor diesem Hintergrund parallel zu seiner Eschatologie als 214 Vgl.

Tugendhat, E.: Unsere Angst vor dem Tod, in: Graf/Bruell: Der Tod, 47–62, hier: 54 f., der Verlust- und Frustrationserfahrungen als todesähnliche Erfahrungen bestimmt. Ebenso werden in der neueren Soziologie Erfahrungen des „(tatsächlichen oder antizipierten) sozialen Verlust[s]“ (dazu gehören auch „Arbeitslosigkeit, […] Randständigkeit, Isolation, Rollenverlust“) als „quasi-death experiences“ (J. B. K amerman) verstanden, sie fungieren damit als Statthalter für die Primärerfahrung mit dem Tod (Feldmann: Tod, 133).

216

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Reflexion über das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Tod begriffen werden, von dem her auf den Begriff des Todes an sich geschlossen wird. Es geht ihr vorrangig um die Frage nach der Wirkung des Todes auf das menschliche Leben, um die Reflexion des menschlichen Endlichkeits- und Sterblichkeitsbewusstseins in seiner Spannung zum Ewigkeitsbewusstsein. Die ideale Deutung des Todes als Offenbarungsmacht, die Hirsch vorzeichnet, verweist auf das christliche Verständnis des Todes als Gottesbegegnung im Medium der Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung, die wie das Todesbewusstsein und die Todesangst dialektisch zu verstehen sind, die also auf die Evangeliumsoffenbarung und Vollendungsgewissheit hinführen. Mit Hirsch kann das Todesbewusstsein als Erschließungsgeschehen im Medium der Gesetzesoffenbarung gedeutet werden, die Todesangst als die damit verbundene innere Erfahrung, als das Gericht, in dem die Gnade in Form der Sehnsucht schon angelegt ist. Die problematischen Lebens- und Todesdeutungen, die ihnen korrespondierenden todesähnlichen Erfahrungen im Leben und die menschlichen Reaktionen der absoluten Selbsterhaltung oder der resignativen Selbstaufgabe sind als Abbruch oder Stillstand dieser dialektischen Bewegung zu verstehen und werden von Hirsch theologisch als sündige Verstrickung im gesetzhaften Lebensvollzug gedeutet (6.B). Diese Verbindung von Tod und Sünde im Leben, in dem die Macht des Todes den Menschen so übermannt, dass er nicht anders kann als sich in den sündigen Selbstvollzug zu verstricken, verweist auf die negative Seite des Todes, seine Deutung als Nichts oder Vernichtung. Hirsch fängt diese theologisch mit dem gerichtlichen Charakter des Todes ein, der auf die traditionelle, problematische Frage nach dem Ausgang des Gerichts verweist. Ob und inwiefern die Lebensführung des Menschen und sein Gottesverhältnis Relevanz für die Deutung des Todes besitzen, wird sich als Perspektivfrage, bei der zwischen Glauben und Unglauben unterschieden wird, herausstellen (6.C).

6.A  Das Leben und der Tod im Gottesverhältnis a)  Gott ist das Leben. Der Tod ist Gottgeschiedenheit Für den theologisch qualifizierten Lebensbegriff bei Hirsch gilt der Satz: Gott und Gott allein ist das Leben und Gottes Leben ist gut. Die Gottesbeziehung im Glauben ist dementsprechend Teilhabe am wahren Leben. Aber nicht nur der Glaube ist von der Einsicht, dass das wahre Leben Gott selbst ist, bestimmt, sondern diese ist schon im humanen Wahrheitsbewusstsein inbegriffen, indem Gott hier als Ursprung gedacht wird und als lebendiger Schöpfer und lebendige

6  Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung

217

Liebe geahnt wird. Die „Gleichung zwischen Gottheit und Leben“ wird dort und in jeder außerchristlichen Religion als „lebensnotwendige“ begriffen:215 Soll das menschliche Leben bestehen, muss Gott willens sein, es zu erhalten. Von Gottes Leben wird das endliche, kreatürliche Leben unterschieden – diese Differenz und die Uneigentlichkeit der Bezeichnung des Lebens außerhalb von Gottes Leben als Leben markiert Hirsch mit dem Begriff des ‚Daseins‘. Für das menschliche Leben bedeutet dies, dass es selbst nicht Leben, sondern sowohl im Sinn des zeitlichen Verlaufs als auch in der jederzeitigen Ausrichtung der Immanenz auf die Transzendenz „Leben auf [Gottes, A.‑M. K.] Leben zu“216 ist. Alles andere organische Leben wiederum partizipiert bei Hirsch nur vermittelt über diese Ausrichtung menschlichen Lebens, dessen Grundlage es zu sichern hat, am wahren Leben. Das menschliche Leben ist ohne seine Richtung auf Gottes Leben nur ‚Dasein‘. Das tierische Leben erhält seinen Wert vom gottbezogenen menschlichen Leben her.217 Ist das menschliche Leben zeitliches Leben, das auf das ewige Leben zugeht, dann ist der Tod, der die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit ist, als Durchgang von dem uneigentlichen in das eigentliche Leben zu verstehen. Er ist damit das notwendige Mittel für die vollständige Verwirklichung des wahren Lebens. Der theologische, an Gottes Ewigkeit gebundene Lebensbegriff tendiert damit dazu, das menschlich-zeitliche Leben und den Tod als dessen Ende zu relativieren. Verstärkt wird diese Tendenz durch den Gegensatz der Heiligkeit Gottes zu der Unheiligkeit des Menschen. Trifft das menschliche unheilige Leben auf Gottes heiliges Leben, kann es vor diesem eigentlich nicht bestehen. Der Relativierung des menschlichen Lebens und Todes widerstreitet, so Hirsch, der Mensch natürlicher- und berechtigterweise. Das menschliche Leben muss im Rahmen der menschlich-geschichtlichen Gemeinschaft als absoluter Wert gesetzt werden, um überhaupt irdisches Miteinander zu ermöglichen. Eine Verneinung der Würde des menschlich-endlichen Lebens wäre „dämonisch und weltverloren“218 und, wie Hirsch es auch pointiert ausdrückt, „Lebenszersetzung oder Lebensflucht“219. Im endlich-ethischen Sinn ist das Gute das „das menschliche[, endliche] Leben Bewahrende“220, das Böse das Lebenzerstörende. Der menschliche, endliche Lebenswille ist auf das Gute gerichtet, richtet sich also gegen alles Böse, zu dem nach menschlichem Maßstab auch der Tod gehört. Das Leben und der Tod des Menschen dürfen aus ethischer Perspektive 215 

ChR I, 64. ChR I, 233. 217  S. o., 51 f. 218  ChR II, 55. 219  ChR II, 56. 220  ChR II, 55. 216 

218

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

nicht relativiert werden. Aus der Perspektive des Menschen kollidiert die ethisch notwendige Absolutsetzung des irdisch-zeitlichen Lebens mit der absoluten Wahrheit des ewigen Lebens. Er kann sich ein Leben nicht vorstellen, das seinem Wesen nach nicht im Gegensatz zum Tod steht, sondern diesen zu seiner Bedingung hat. Er kann sich nicht vorstellen, dass der Tod nicht böse ist. Der Mensch sieht sich selbst dem Gegensatz von Gut und Böse und dem Gegensatz von Leben und Tod ausgesetzt, er koppelt das Gute an das Leben, das Böse an den Tod. Gleichzeitig bezieht er sein Leben auf Gott, der eigentlich nur gut und nur Leben ist.221 Er kann aus der Gestalt seines Lebens nicht auf das gute, den Tod nicht kennende Leben Gottes schließen. Er überträgt entweder den Gegensatz von Gut und Böse und seine Kopplung an den Gegensatz von Leben und Tod auf Gottes Leben selbst – Gott wird folglich als der mit dem Tod Vergeltende erfahren. Oder er versucht die Spannungen seines Lebens von Gott her zu verwischen – dem Wert menschlichen Lebens wird damit nicht Rechnung getragen. Er entspricht auf diese Weise entweder Gottes Leben oder dem menschlichen Leben nicht. Die Problematik verweist auf das erkenntnistheoretische Grundproblem: Gottes Güte ist zwar wie seine Liebe ein notwendiges Postulat der Vernunft, kann allerdings mittels einer pflichtenethischen Reflexion zwar deduziert, aber nicht als letztgültige Wahrheit erwiesen werden. Sie kann nur im pro me der individuellen Erfahrung zugeeignet, im individuellen Lebensvollzug angeeignet und aus der individuellen Betroffenheit abgeleitet werden. Sie ist ein „gnadenhafter Begriff“: „Daß Gott gut ist, kann nur heißen, daß in und aus ihm leben [Herv. A.‑M. K.] gut sein heißt. […] Ich erkenne Gott als den Guten heißt a) ich empfange es im Glauben, daß er mir gut [Herv. i. O.] ist, und b) im Empfangen der Güte Gottes bin ich andern gut, so wie er mir. […] Im unendlichen Sinne gut sein heißt Gotte dadurch unendlich geöffnet sein, daß man den andern in Liebe unendlich erschlossen ist; und die Ableitung dieser Bedeutung des Ausdrucks eben ist nicht bloß erkenntnismäßige Ableitung, sondern gibt den einzig möglichen Ursprung dieses unendlichen Gutseins an: Gottes mir gut Sein erfahren, aus der Liebe Gottes Leben haben [Herv. A.‑M. K.].“222

Die Gleichung von Gott und Leben kann der Mensch demzufolge nicht von sich aus sichern. Versuche solcher Art führen zu einer Verabsolutierung oder zu einer übersteigerten Relativierung des menschlichen Lebens und zu einer Dämonisierung oder Moralisierung des Gottesbildes – wie Hirsch religionsphänomenologisch mittels einer dreifachen Kategorisierung der außerchristlichen Religiosität hinsichtlich ihrer Art und Weise, mit der Gleichung von Gott und Leben umzugehen, herausstellt. Ihr Bemühen, diese von sich aus zu sichern, markiert 221 

222 

ChR II, 57. ChR II, 191 f.

6  Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung

219

Hirsch als gesetzhaft.223 Für die „vitale Religion“ ist Gott ein „unheimlich bezauberndes Geheimnis des Lebens“, eine über dem menschlichen „in Geburt und Tod sich erneuernde[n] Dasein“ stehende Wunder- und Schicksalsmacht. Gott schenkt zwar das Leben, ist aber als diese unheimliche Schicksalsmacht nicht sicher lebensfördernd. Er ist als diese Macht eine dem menschlichen Leben äußerliche, die z. B. durch Opfer besänftigt werden kann. Ebenso bleibt er in der „Volksreligion“ dem menschlichen Leben äußerlich und gefährdet dieses potenziell. Hier ist Gott die „strafend hütende Ordnung und Gesetz des Lebens“; das menschliche Leben äußert sich im „menschliche[n] Verbundensein“, in der Sozialität. Die rechte Erfüllung der Ordnung sichert hier die Gunst der Gottheit. Für die „grenzüberschreitende Religion“ – die spekulative Form von Religion – ist Gott die „rätselhaft sinnvolle Überhöhung des Lebens“; das irdische „scheinbare[ ] Leben“ wird vom „wahren“ Leben unterschieden. Indem sie die Grenzen der Erkenntnis überschreitet, versucht sie, auf Gottes Leben auszugreifen und das menschliche Leben durch Angleichung an dieses göttliche Leben zu überhöhen. Allen drei Kategorien ist in ihrer Füllung des Lebensbegriffs gemeinsam, dass sie ihn zu einer Seite hin verlagern. Entweder ist das irdische Leben das eigentliche Leben, dem der Tod entgegensteht, oder es ist in keinem Sinne Leben – und muss den Tod folgerichtig allein als Übergang relativieren. Ist sich das menschliche Leben der Liebe Gottes nicht gewiss, dann ist der Tod als Ort, wo menschliches und göttliches Leben aufeinandertreffen, durch den Gegensatz zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, zwischen Güte und Bosheit, zwischen Heiligkeit und Sündigkeit geprägt. Im Tod kulminiert der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Er ist zuerst Offenbarung der Geschiedenheit des Menschen von Gott: Gericht, das sich ohne das über Jesus vermittelte Bild des liebenden Gottes als Vernichtung des Menschen erweisen würde: „Sterben heißt Gott begegnen und von ihm ein Urteil über Leben und Tod empfangen. Der Verborgene und Ewige aber, der uns im Sterben ewig zu Leben oder Tod wird, er ist das Heilige, Gute, Wahre, Reine selber. Die Seele müßte in der Begegnung mit ihm in Scham und Schuld vergehen, zu Asche und Staub und Nichts verglühen, wenn nicht eben dieser Ewige und Verborgene als Christusliebe unserm Herzen aufginge und uns so durch das Sterben hindurch in das Geheimnis der Wahrheit, Freiheit und Heiligkeit hineintrüge.“224

Wenn Gottes Leben und das menschliche Leben einander entgegengesetzt sind und der Tod Gottesbegegnung ist, dann gibt es eine wesentliche, „unbedingte[ ]“, „unendliche[ ]“ und „ewige[ ]“ Bedeutung des Todes, so Hirsch: „daß wir am Zwiespalt mit Gott und dem Guten ins Nichts vergehen, daß wir sterben 223 

224 

Alle im Absatz folgenden Zitate: ChR I, 64. HchR, 299.

220

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

an der Begegnung mit dem, welcher des Guten und Heiligen Ursprung ist“.225 Ist der Mensch wesentlich durch Unheiligkeit charakterisiert, gibt es nichts, was ihn aus seiner Sündigkeit herausführt, muss er an Gott sterben, weil Gott als wesentlich Heiliger die „Verneinung alles Unheiligen und Bösen in sich“226 trägt. Der Deutung des Todes als endgültigen Abbruchs menschlichen Daseins schreibt Hirsch mit dieser These theologisch eine grundsätzliche Berechtigung zu, freilich mit der Einschränkung, dass jene durch ein ausschließlich gesetzhaftes Verständnis des menschlichen Lebens vor Gott bedingt ist und zu dem gnadenhaften, subjektiven Evidenzerlebnis, dass Gott das menschliche Leben will, in antinomischer Spannung steht. Unter den Bedingungen eines gesetzhaften Selbst- und Gottesverständnisses kann die Bedeutung des Todes als Gottesbegegnung nicht als eine die Lebensdynamik fördernde begriffen werden. Die Gottesbegegnung wird „Gefährdung durch das Dämonische […] bei der Lösung aus der inneren Abhängigkeit von Gott zu Tod und Verderben“227. Entweder wird die Konsequenz gezogen, Gottes Einfluss auf das menschliche Leben grundsätzlich zweifelhaft einzuschätzen, das Gottesbild zu dämonisieren, sich resignativ(-sündig) seinem Schicksal zu ergeben oder zu versuchen, sich Gottes Liebe zu sichern. Oder das Gottesverhältnis wird angesichts dessen, dass ein Leben aus Gott nicht möglich scheint, aufgegeben. Der Gründung aus Gott wird die (sündige) Selbstbehauptung entgegengesetzt, die auf den unbedingten Wert des diesseitigen Lebens setzt. Dieses Leben kann Hirsch zufolge nur defizitär sein, im Ernstfall ist es nicht Leben, sondern Tod und Verderben.

b) Gott tötet und macht lebendig Gott muss mit Hirsch als Leben und Liebe gedacht werden, weil sonst dem Personsein des Menschen der Grund entzogen würde. Die Faktizität des Todes macht es aber schwierig, am Gedanken des liebenden Gottes festzuhalten. An der Schicksalsmacht des Todes erfährt der Mensch den Lebenswiderspruch zwischen Gebundensein und Freiheit, Ausgeliefertsein und Bestimmtsein. Dieser verdunkelt den Glauben an Gott den Lebendigen: Er wird dem Menschen zum Tod oder es ist ihm gleichgültig, ob der Mensch stirbt oder nicht, er überlässt ihn sich selbst. Das Dasein erscheint damit sinnlos. Wie Gott dennoch als Lebendiger gedacht werden kann, schlüsselt Hirsch über das antinomische Bild von Gott, der tötet und Leben schafft, auf,228 das auf die Verbundenheit von 225  HchR,

111. HchR, 301. 227  WrCh, 213. 228  ChR I, §57. 226 

6  Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung

221

Gottes Leben und menschlichem Leben und die Doppeldeutigkeit des Todes verweist. Gegen ein Gottesbild, das Gottes Liebe und Gottes Gutsein anzweifelt, setzt Hirsch, dass christlich verstanden Gott in Leben und Tod allein das Leben ist, dass er in Liebe und Zorn (unerbittliche) Liebe ist, dass sein Leben sich in Gewissheit und Anfechtung, in Gnade und Gericht als das wahrhaft Gute erweisen wird. Gottes Leben steht zum menschlichen Leben nicht einseitig im Gegensatz, indem es die Macht hat, jenes mit dem Tod zu entziehen oder jenes, indem es selbst das eigentliche Leben ist, nur verneint. Indem es sowohl im Tod als auch im Leben sich selbst als wahres Leben schenkt, indem es also sowohl am zeitlichen Ende menschlichen Lebens steht als auch dieses gründet, steht es zugleich in engster Verbindung mit dem menschlichen Dasein. Das ewige Leben ist dementsprechend als die Tiefendimension des zeitlichen Lebens bestimmt, von der her letzterem ein unverbrüchlicher Wert zukommt. Gott ist als der zu verstehen, der zeitliches Leben gewährt. Indem das menschliche Leben in Gottes Leben gegründet ist, ist es nicht nur als unheiliges, sondern als ‚Geheiligtes‘ zu charakterisieren.229 α) Die Argumentation gegen das Bild vom vergeltenden Gott: Der natürliche Tod Theologisch kann die Spannung zwischen dem göttlichen Schöpferwillen und der Faktizität des Todes und des Bösen Hirsch zufolge nicht gelöst werden. Die göttlichen Eigenschaften der Liebe und der Allmacht müssen als Spannungseinheit bestehen bleiben. Er wehrt den theologischen Lösungsversuch ab, einen Gott der Vergeltung zu denken – dieses Bild würde der göttlichen Liebe widersprechen und das Gottesbild dämonisieren. Ebenso kritisiert er damit verbundene Theorien des sich gegenüber Gott verselbstständigenden Bösen in Form der Willensfreiheit des Menschen und in Personifikation des Satans – diese tendieren dazu, den Sinn menschlicher Erfahrungen eindeutig zu fixieren und können nicht in Deckung mit dem Gedanken der göttlichen Allmacht gebracht werden. Gegen den Gedanken der göttlichen Vergeltung verweist Hirsch auf die empirische Grundlage der Kausalität menschlicher Handlungen und Zustände: Der Mensch ist den „natürlichen Folgen“ seines Tuns ausgesetzt.230 Dementsprechend kann zwischen Tun und Ergehen nicht der Zusammenhang von menschlicher Handlung und göttlicher Strafe hergestellt werden. Theologisch argumen229 

Zur Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit s. o., 1.B.c, 59 ff. ChR I, 235 f.: „Wahr ist, daß nach dem Gesetz des Daseins der Mensch die natürlichen Folgen seiner Handlung zu tragen hat: wer frißt, bekommt einen dicken Bauch und zuletzt Herzverfettung. Wer sich mit den Menschen verfeindet, hat keine Freunde, usw.“ 230 

222

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

tiert Hirsch mit der Verneinung des Vergeltungsglaubens durch Jesus Christus, sowohl in dessen Leben und Botschaft als auch in seinem Kreuzestod.231 Die Folgen des Tuns des Menschen allerdings aus der menschlichen Willensfreiheit herleiten und damit die Wurzel des Bösen allein im Menschen verorten, will Hirsch nicht. Gegen den Gedanken der von Gott unabhängigen menschlichen Willensfreiheit argumentiert er folgendermaßen: Freiheit kann nur als endliche Freiheit, also schlechthin abhängig, von Gott bedingt, gedacht werden. Durch die menschliche Freiheit, die Sünde und Tod wirkt, wirkt also vermittelt Gott: „Wenn Gott Ursprung alles Lebens ist, so ist er auch der Ursprung eines die Willensfreiheit zur Sünde gebrauchenden menschlichen und eines sich zur Gottwidrigkeit verhärtenden teuflischen Lebens.“232 Das Böse kann sich also letztlich gegenüber Gott nicht verselbstständigen – damit ist auch der Teufelsvorstellung, die zudem als mythische zu qualifizieren ist, hinter sich zu lassen.233 Wie das Ursprungsverhältnis von göttlichem und menschlichen Handeln mit dem Argument der natürlichen Kausalität menschlichen Handelns näher zusammengedacht werden kann, macht Hirsch selbst an dieser Stelle nicht deutlich. Indem Gott das Böse vermittelt wirkt, drängt sich die Deutung des schlechten Ergehens als Strafe Gottes geradezu wieder auf. Hier ist es hilfreich, die Hirsch’sche Argumentation im Blick auf den Begriff endlicher Freiheit in ihren groben Linien noch einmal vor Augen zu führen: Den natürlichen Folgen seines Handelns ausgesetzt ist der Mensch durch das Gesetz des Daseins, unter dem er, weil er Kreatur ist, sein Leben vollzieht. Gleichzeitig versteht sich der Mensch als ein zur Freiheit bestimmtes Wesen. Damit geht ihm am Gesetz des Daseins die Einsicht auf: Es begrenzt ihn in seiner Freiheit. Von sich aus hat er keine Möglichkeit, die Spannung zwischen Abhängigkeit und Freiheit zu überbrücken. Entweder er verzichtet resignierend auf seinen freiheitlichen Selbstvollzug und lässt sich von seinen natürlichen Begrenztheiten determinieren. Er verzichtet auf seine wesentliche Eigenschaft, selbsttätig zu sein und seine Verantwortung gegenüber den Anderen zu reflektieren. Er bleibt sich selbst und Gott seinen personhaften Selbstvollzug schuldig, indem er sich auf seine Kreatürlichkeit festlegt. Er ist Sünder. Oder er missversteht seine Bestimmung, indem er der Illusion erliegt, er sei unbegrenzt frei. Die sogenannte Willensfreiheit erweist sich als Streben nach absoluter Selbstbehauptung, als Perversion der endlichen Freiheit, die am Anderen schuldig wird, als Sünde. Das Gefühl der Sündigkeit entsteht an der Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung, in 231 

S. u., 7.A.c, 280 ff. ChR I, 234. 233  ChR I, 236. 232 

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223

die der Mensch durch Gott gestellt ist. Gleichzeitig geht dem Menschen erst an dieser Spannung auf, dass er seine Freiheit nur als in Gott gegründete verstehen kann. Das ihn begrenzende Gesetz des Daseins deutet er ebenso wie seine Bestimmung als gottgegeben. Es hat den Sinn, ihm aufzuzeigen, dass er nicht Gott ist, also nicht absolut frei sein kann, und bietet damit zugleich den Rahmen zur endlich-freiheitlichen Selbstentfaltung, indem es ihn stetig vor dem Missverständnis seiner selbst bewahrt. Der Mensch kann auch auf dieser von der allein rational-kausalen Weltsicht unterschiedenen Ebene nicht behaupten, dass die durch das Gesetz des Daseins hervorgerufenen Folgen seines Tuns göttliche Strafe seien. Das wäre eine Verfehlung von dessen tieferliegenden Wahrheit: Von diesem selbst aus kann der Sinn des menschlichen Daseins nicht bestimmt werden, es darf nicht absolut gesetzt werden – wie im Falle der Resignation gegenüber der Determiniertheit des Daseins –, sondern kann nur aus der Perspektive der menschlichen Bestimmung zum freiheitlichen Selbstvollzug heraus verstanden werden. Die ständige Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung kann nicht auf eine Formel gebracht werden, sondern das Verhältnis beider muss im individuellen Lebensvollzug ständig neu ausgelotet werden. Die angemessene ethische Entscheidung ist von der jeweiligen Situation abhängig. Auf das Gottesbild gewendet bedeutet das im Hirsch’schen Duktus, dass Gottes Handeln geheimnisvoll bleibt und nicht in den auf Eindeutigkeit zielenden Kategorien Lohn und Strafe beurteilt werden kann. So könnte z. B. das zuerst als negativ empfundene Ergehen im Rückblick als gnadenhaftes Handeln Gottes verstanden werden.234 Im Blick auf die Spannung zwischen Leben und Tod ist dementsprechend auch die Rede vom Tod als göttliche Vergeltungstat, als Strafe für die Sünde abzuwehren. Hirsch argumentiert hier mit dem Paradigma des natürlichen Todes. Er begründet es zum einen mit der Faktizität des Sterbens aller Lebewesen – es wäre widersprüchlich, das Sterben der Tiere vor dem Hintergrund eines personalen Sündenbegriffs als der Sünde Sold zu denken. Zum anderen bedient er sich des für diesen Gedankengang klassischen evolutionsbiologischen Arguments: Vergehen und Tod sind notwendig für den Artenerhalt und die Artenvielfalt.235 Die Erkenntnis der „Vergänglichkeit“236 des organischen Lebens ist nicht unbedingt mit dem Gottesglauben verbunden, sondern jedem Menschen einsichtig. Theologisch argumentiert Hirsch von der Sündenlehre her, in der er den Gedanken von Urstand und Fall ablehnt. Die Gottebenbildlichkeit bezeichnet für ihn nicht den perfekten Urstand des Menschen, sondern sie ist dynamisch 234 

S. o., 103.144. ChR I, 237. 236  HchR, 395. 235 

224

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

gefasst, eine Bestimmung, auf die der Mensch hin angelegt ist.237 Ebenso ist das Gefühl der Sündigkeit zwar universal, wird aber erst im Prozess des „sich vertiefende[n] und entfaltende[n] Gottesbewußtsein[s]“238, im persönlichen Gottesverhältnis, zum Schuldbewusstsein vertieft. D. h. im Blick auf den Tod: Weder ist der Idealfall menschlicher Einstellung zum Tod am Anfang der Menschheitsgeschichte vorhanden gewesen, noch ist der Mensch an einem bestimmten Punkt der Geschichte völlig in ein sündiges Todesbewusstsein verfallen. Beide Einstellungen entzünden sich am Todesbewusstsein und stehen im Leben unter endlichen Bedingungen in andauernder Entwicklung und stetigem Wechsel.239 Zudem ist für Hirsch mit der dynamischen Fassung des Gottebenbildlichkeitsbegriffs die Sterblichkeit schöpfungstheologisch eine dem Geschöpf wesentliche Eigenschaft.240 Der Mensch kann sich nicht anders verstehen als unter irdischen Bedingungen stehend, er ist schon immer in die Spannung zwischen endlicher Faktizität und unendlicher Bestimmung gestellt. Dieses Kontrasterlebnis hat den tieferen religiösen Sinn, den Menschen auf ein seiner Endlichkeit angemessenes Selbstverständnis zu stoßen. Hirsch setzt dabei ‚endlich‘ mit ‚irdisch‘241, ‚vergänglich‘242 und ‚kreatürlich‘243 gleich. Endlichkeit steht bei ihm im Gegensatz sowohl zur Unendlichkeit als auch zur Ewigkeit.244 Damit ist deutlich, dass die Endlichkeit bei Hirsch an die Zeitlichkeit gebunden ist. Das Kreatürliche, Irdische, Vergängliche wird vom Menschen – der in seiner Kreatürlichkeit um seine Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit zu dem unendlichen Gott weiß – als Endliches kategorisiert. Endlichkeit kann vom Menschen nicht abgesehen von seiner zeitlich-irdischen Bedingtheit gedacht werden. Von einem sich vor Gott bewussten Leben werden Sterblichkeit und Endlichkeit gleichgesetzt.245 Die an seiner Sterblichkeit erkannte Endlichkeit des Menschen 237 

S. o., 58. HchR, 291. 239  Diese theologische Einsicht spricht gegen die sündentheologisch eingefärbte, zeitdiagnostische These der Todesverdrängung, s. u., 9.B, 335 ff. 240  ChR I, 235. 241  ChR II, 89 f.; WuG, 83; HchR, 90. 242  HchR, 392.395. 243  Zw, 100. 244  HchR, 129; WuG, 8. 245  Der Begriff Endlichkeit bringt damit die Bedingtheit und Begrenztheit des Menschen im Unterschied zum allbedingenden und unendlichen Gott zum Ausdruck. Inwiefern die Endlichkeit in diesem Sinne als wesentliche Eigenschaft des Menschen im Eschaton festgehalten werden kann – also abgesehen von der zeitlich-irdischen Verfasstheit des Menschen gedacht werden kann (wie Pannenberg: STh III, 603 vorschlägt) –, wägt Hirsch aufgrund der epistemischen Begrenzung des Menschen im Blick auf die Ewigkeit nicht ab. Dass in der Unendlichkeit Gottes menschliches Leben besteht, kann nur in uneigentlichen Bildern und in antinomischer Form ausgesagt werden (s. o., 161). 238 

6  Der Tod als Gesetzesoffenbarung und Gerichtserfahrung

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kehrt den Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf heraus und macht so eine durch Schuldgefühl und Vertrauen geprägte, echte Gottesbeziehung erst möglich: „Zur Tiefe des Gotterlebens gehört, daß ein sterblicher Mensch Gott erlebt; nimmt man das weg, so nimmt man dem Gotterleben seinen Gehalt; es folgt also nur, daß wir in Gott sterben.“246 Die Sterblichkeit des Menschen sichert von zwei Seiten her sein Bestehen vor dem ewigen Gott. Wäre der Mensch von sich aus unsterblich, würde er sich nicht im Gegensatz zu Gott vernehmen; er würde denken, er sei nicht auf Gottes Gnade angewiesen, und sich allein aus sich heraus verstehen. Er würde als Sünder an Gottes Heiligkeit zugrunde gehen. Selbst wenn man annehmen würde, Unsterblichkeit setze den Menschen gerade nicht in den Gegensatz zu Gott, sondern gebe ihm einen unverlierbaren Anteil an Gottes ewigem Wesen, so käme der Gottesbeziehung die lebendige Dynamik abhanden, in der sich der Mensch von Gott unterschieden und ihm gegenüber eigenständig weiß. Der Mensch würde sich in der Hingabe an Gott selbst vergessen. Dann würde der Tod das Eingehen in Gottes Wesen bedeuten und die Selbstständigkeit der Person gegenüber Gott würde nicht bestehen können.247 Hirsch bezeichnet den Tod in diesem Zuge explizit als „das natürliche Ende eines unter dem Gesetz des Kampfes stehenden endlichen irdischen Lebens“248, „das natürliche Ende eines durch Geburt entstehenden, sich entfaltenden, dann versickernden oder erstarrenden und schließlich vergehenden organischen Lebens“249. Die Bedeutung, welche der Glaube dem Tod zuschreibt, ist eine „tiefere“, aber „ein zum Tode nachträglich Hinzutretendes“.250 Allgemein-menschlich, unter den Bedingungen des vom naturwissenschaftlichen Weltbild geprägten Selbst- und Weltbewusstseins und damit auch für jeden Christenmenschen, der dementsprechend sozialisiert ist, kann der Tod also zuerst nichts anderes bedeuten als das Ende des Daseins. ‚Natürlich‘ ist hier nicht ideologisch konnotiert mit der Vorstellung einer bestimmten Art zu sterben, sondern meint ‚allein unter den endlichen Bedingungen der Vernunft gedacht‘, das gesetzmäßig eintretende Ende allen organischen Daseins.251 Präziser wäre hier der Begriff des 246  ChR

II, 111. So erläutert es Hirsch des öfteren in seiner kritischen Abgrenzung an der Mystik, z. B. Zw, 99. 248  ChR I, 235; Herv. A.‑M. K. 249  HchR, 291; Herv. A.‑M. K. 250 Ebd. 251  Die bestimmte Art zu Sterben, die mit dem Bild des natürlichen Todes zuweilen verbunden wird, ist durch den Alterstod und das „friedliche Verlöschen“ (Fuchs: Todesbilder, 24), als Sterben ohne Einwirkung von außen in Form von Gewalt oder technischen Hilfsmitteln, charakterisiert. Es wurde in neuerer Zeit v. a. von Werner Fuchs als der „modernste Todesbegriff“ (ebd.) im Gegensatz zu „magisch-archaischen Todesbildern“ (a. a. O., 22) vergangener Zeiten bezeichnet und fungiert bei ihm als normative Größe für die Kritik an einer 247 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

naturgesetzlichen oder der des kreatürlichen Todes.252 Der Glaubende nimmt diese Bedeutung an, setzt ihr aber mit der Deutung des Todes als Gottesbegegnung eine weitere hinzu. β)  Der Glaube als Lebensmöglichkeit in der Spannung von Leben und Tod Die Aufgabe, den erfahrenen Widerspruch zwischen dem Gesetz des Daseins und dem Gott der Liebe, zwischen dem Tod und dem Leben, zu durchdringen, von kriegerischen Auseinandersetzungen und Technisierung geprägten Gesellschaft. In der Sterbehilfedebatte wird dementsprechend das „Recht auf einen selbstbestimmten Tod“ zuweilen mit dem „Recht auf einen natürlichen Tod“ gleichgesetzt. Diese Terminologie wird teilweise abgelöst durch die Rede von einem „Sterben in Würde“, das Selbstbestimmung, aber nicht unbedingt den natürlichen Tod im Sinne des friedlichen Verlöschens einschließt (vgl. Feldmann: Tod, 83). 252 Wilfried H ärle schlägt diesen Begriff vor und entgeht damit der semantischen Ungenauigkeit des Attributs „natürlich“ (H ärle, W.: Dogmatik, Berlin/New York 22000, 488). Der Begriff des natürlichen Todes wird im thanatologischen Diskurs insgesamt im Sinne eines von künstlicher medizinischer Lebensverlängerung unabhängigen Todes, der ‚zur rechten Zeit‘ eintritt, verstanden – hier besteht der Gegensatz zwischen natürlich und künstlich auf der einen, zwischen natürlich und zu früh auf der anderen Seite. Zudem lässt sich eine Verbindung zu der Differenz zwischen selbstbestimmtem und fremdbestimmtem Tod, zwischen einem Tod, der als ein gutes Ende und einem, der als Abbruch des Lebens erfahren wird, zwischen einem unruhigen und einem friedlichen Sterben, ziehen. Der theologische Begriff des natürlichen Todes zielt hingegen auf die Naturgesetzlichkeit des Sterbens aller Lebewesen im Gegensatz zu dem Tod, den der Sünder auf sich zieht, ab. Darüber hinaus suggeriert der theologische Begriff des natürlichen Todes, dass es einen deutungsfreien, gleichsam neutralen Tod gebe. Dieser erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als ebenso perspektivisch wie andere Deutungen, nämlich aus naturwissenschaftlichen, evolutionsbiologischen Annahmen hergeleitet. Sachgemäßer wäre es vom kreatürlichen Tod im Gegensatz zu dem bewussten Tod zu sprechen, also im Heidegger’schen Sinne zwischen dem faktischen Verenden aller Lebewesen und dem qualitativ darüber hinausgehenden, den Tod immer in einen bestimmten Deutungsrahmen stellenden Ableben bzw. Sterben des Menschen zu sprechen. Den theologischen und den idealisierten, soziologischen Begriff des natürlichen Todes hat Eberhard Jüngel miteinander verbunden: „Der Tod könnte die Vollendung des Lebensverhältnisses sein. Das wäre der natürliche Tod, den der Mensch nicht nur sterben muß, sondern sterben kann.“ (Jüngel: Tod, 100). Die damit verbundene Aufgabe für den christlichen Glauben sieht Jüngel in der „Fürsorge für einen natürlichen Tod“ (Jüngel: Tod, 167). Ulrich Körtner kritisiert zurecht, dass ein solches Idealbild den Ambivalenzen des Lebens und des Todes nicht gerecht wird. „Dem Tod eignet keineswegs nur das Moment der Erfüllung, sondern auch des Abbruchs und der Zerstörung. Und zwar gilt dies keineswegs nur für den gewaltsamen Tod zur Unzeit, sondern für jede Gestalt des Todes. […] Selbst dann, wenn ein Mensch nach einem langen und erfüllten Leben stirbt, sind Möglichkeiten ungenutzt, ist Schuld ungesühnt geblieben, endet ein Leben, das nicht nur möglicherweise reich an Erfahrungen des Gelingens, sondern auch des Scheiterns und des Verlustes war.“ (Körtner: Der unbewältigte Tod, 23 f.)

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muss also ohne „Hilfsmittel“253 gelöst werden. Leben wie Tod müssen im Rahmen von Gottes gütigem Handeln am Menschen verstanden werden. Das Rätsel, vor dem der Mensch an dieser Stelle steht, kann nur ‚durchlebt‘ werden, indem er Gott als den erfährt, der Leben durch Tod hindurch verwirklicht.254 Die Ewigkeitsgewissheit, die dem Glauben gewährt wird, ist damit die Voraussetzung dafür, in der Spannung zwischen Leben und Tod leben zu können. Im Glauben erlebt der Mensch: Gott tötet und macht lebendig. Der Tod kommt wie das Leben von Gott, und das ist letztlich gut so. Die Lösung des Rätsels kann mit Hirsch keine denkerische sein, sie wird gnadenhaft und unverfügbar zuteil im Glauben als Lebensmöglichkeit in der Antinomie. Gedanklich bleibt der Mensch an der Grenze der Antinomie stehen und muss einsehen, dass menschliche Erfahrungen nicht auf einen ein für allemal gültigen Sinn festgelegt werden können: „Schicksal kann Glück und kann Unglück bedeuten. […] Das Göttliche, von dem unser freies menschliches Weltbewußtsein umfangen wird, hat ebensosehr eine Nachtseite wie eine Ta­ ges­seite. Die natürlichste Formel hierfür ist wohl, daß Gott ebenso gut Herr des Todes wie Spender des Lebens ist.“255

Für die analytische Beschreibung der Glaubenserfahrung, die über die allgemeinmenschliche Gottesbeziehung hinausgehend beide Seiten Gottes zusammenbringen kann, bedient sich Hirsch des Luther’schen Gedankens der Verbindung von opus alienum Dei – die Erfahrung des Zornes Gottes durch Gesetz, Tod und Sünde, der Verborgenheit der Liebe Gottes unter ihrem Gegenteil – und opus proprium Dei – die Erfahrung, dass Gott den Menschen durch seine Liebe zur Person macht.256 Er füllt den in der Spannung von Allmacht und Liebe stehenden Gottesgedanken in diesem Sinne mit folgenden Bestimmungen: der „Unbegreifliche[ ] und Wunderbare[ ]“, „der Gnädige[ ] und Allweise[ ]“257. Wie alles Leben auf wahres Leben zielt, so ist auch jedes Gottesverhältnis im Glauben, der Erfahrung des opus proprium Dei, an sein Ziel gekommen. Gottes Leben wird nicht so wahrgenommen, dass es zum menschlichen Leben im Gegensatz steht. Die beiden Lebensbegriffe – Dasein unter der Faktizität des Todes und ewiges Leben aus Gott – sind nach Hirsch einander nicht nur entgegengesetzt, sondern im Glauben miteinander verbunden: Das wahre Leben erweist sich hier als die Tiefendimension des irdischen Lebens, die in ihm aufscheint.

253 

ChR I, 236. ChR I, 234. 255  WuG, 37. 256  S. o., 2.B.c, 101 ff. 257  ChR I, 240. 254 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Ein Leben in dieser Antinomie ist unter der Bedingung der vom menschlichen Lebenswillen aufgestellten Gleichung zwischen Tod und Bösem nicht möglich, Gott wird als der mit dem Tod Vergeltende erfahren. Im unendlichen Sinn von Leben, der im Glauben erschlossen wird, wird die Gleichung von Tod gleich böse, irdisches Leben gleich gut durchbrochen. Hier gehören Töten und Lebendigmachen unweigerlich zusammen und sind in den Gottesgedanken eingeschlossen. Der Todes- wie der Lebensbegriff sind zu einem anderen geworden. Wahres Leben bedeutet Hirsch zufolge ewiges Leben. Der Wille des Menschen, das irdische Leben zu erhalten, zielt also nicht auf das Leben im eigentlichen Sinne. Der Tod gehört als von Gott empfangener notwendiger Durchgang von der Zeit zur Ewigkeit zum wahren Leben hinzu. Obwohl es damit den im endlichen Sinne ‚bösen‘ Tod zur Bedingung seiner vollendeten Verwirklichung macht, ist jenes ewige Leben „schlechthin gut, ja, die Vollendung im Guten“258. Die ethische Problemlage, dass der endliche Lebenswille um der Möglichkeit menschlich-geschichtlicher Gemeinschaft willen erhalten werden muss, löst Hirsch über eine Vereinigung beider Bedeutungen von Leben. Darin bleibt das Gute, auf das der Dienst am Leben gerichtet ist, also die Zielsetzung des endlichen Lebenswillens als Gutes bestehen. Das Gute besteht allerdings nicht im Lebenserhalt um jeden Preis, sondern in der Ermöglichung des menschlichgemein­schaftlichen Lebens. Vom endlichen Lebenswillen in Gestalt der unbedingten Selbsterhaltung endlichen Lebens ist der Mensch damit befreit. Denn er versteht das aus dem ewigen Leben heraus gelebte endliche Leben als „Gottes Weg mit ihm durch Tod zum Leben“259 bzw. das dem „Menschen bereitete Sterben als Gottes Lebensweg“260 mit ihm. Und er ist durch die das Leben bewahrende göttliche Liebe auch ohne das „Gesetz des Daseins“, über das der endliche Lebenswille sich definiert, dazu in der Lage, „in den Grenzen des Lebenbewahrenden zu bleiben“261. Indem die Zielrichtung der Berufung zum Guten immer noch das irdische Leben ist, bleibt der Glaubende in gewisser Weise an den menschlichen Lebenswillen gebunden. Dass der Mensch sich in der irdischen Realität wiederfindet, steht, so Hirsch, in Spannung zu einer Neubestimmung der Person von Grund auf. Er „ist nicht dem Tode innerlich verfallen“262 , ist also eigentlich frei von dem sich gegenüber dem Tod behauptenden Lebenswillen. Er ist – indem seine Liebe zu den Anderen Leben ermöglichen soll – dem menschlichen Lebenswillen ethisch dennoch verpflichtet, der ethische Bezug zum irdischen Le258 

ChR II, 55.

259 Ebd. 260 

ChR II, 102. ChR II, 60. 262  ChR II, 58. 261 

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229

ben ist für den Glaubenden, der sich als Sein vor Gott und mit den Anderen versteht, konstitutiv. Die irdische Eingebundenheit des Glaubens wirkt sich gleichzeitig Hirsch zufolge auf das Gottesverhältnis so aus, dass der Glaubende in ständiger Gefahr ist, aus der Ewigkeitsgewissheit herauszufallen. In Gott gibt es nur Leben, keinen Gegensatz zwischen Leben und Tod, dennoch findet sich der Mensch in der ethisch unaufgebbaren Realität des Gegensatzes zwischen Leben und Tod wieder.263 Er ist durch seine ethische Verpflichtung dazu verleitet, diesen Gegensatz absolut zu setzen. Das neue Verständnis von Leben und Tod muss der simul-Struktur des Glaubens entsprechend in täglicher Neuschöpfung errungen werden, täglich wird der Mensch von Gott getötet und lebendig gemacht. γ)  Die Doppeldeutigkeit des Todes: Vernichtung und Vollendung Mit der engen Verbindung von diesem und jenem Leben auf der einen und Leben und Sterben auf der anderen Seite grenzt sich Hirsch gegen eine Form von Frömmigkeit ab, „die das Gottesverhältnis zur Steigerung oder Verklärung des Lebenswillens benutzt“264 und eine „unendliche Fortdauer des [ihr] bekannten Lebenswillens erwartet“, der seiner Angabe nach „die meisten, die sich für gläubig halten“265, aufsitzen. Diese kann im Gegensatz zum echten Glauben die Realität des Todes nicht aushalten und begegnet ihr entweder mit euphemisierender Ignoranz oder Resignation. Dagegen schärft der Glaubende gerade an der Realität des Todes sein auf das Leben gerichtetes, todesüberwindendes Vertrauen, echten Glauben. Den Tod als das zu nehmen, was er ist, nämlich lebenverneinend, dient bei Hirsch also dazu, erst die Glaubenshaltung einzuüben, die auf ewiges Leben gerichtet ist und die den Tod als das offenbar macht, was er auch ist: Weg zum Leben. Die Doppeldeutigkeit des Todes bleibt für den Glaubenden aufgrund der simul-Struktur des Glaubens erhalten: An Gott wird der Mensch „entweder ewig sterben oder ewig das Leben finden“266. Das menschliche Schuldbewusstsein gegenüber Gott wirft auch den Glaubenden immer wieder in den Zweifel daran zurück, dass die Gottesbegegnung im Tod dem Menschen wirklich zugute kommt. Der Gegensatz zwischen der Heiligkeit Gottes und der Sündigkeit des Menschen, die im Tod als Gottesbegegnung aufeinanderprallen, droht den Menschen zu vernichten, weil er vor Gottes Heiligkeit nicht bestehen kann. Allein die Gewissheit der Liebe Gottes, die den sündigen, gesetzhaften Blick des 263 Ebd. 264 

ChR II, 102. ChR II, 103. 266  HchR, 392. 265 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Menschen auf den Tod von sich aus gnadenhaft überwindet und das Gesetz entmächtigt, kann aus dieser Situation retten. Dominiert der Zweifel an Gottes Liebe, ist der Mensch dazu verleitet, den Tod auf seine lebenverneinende Bedeutung festzulegen und damit gleichzeitig das endliche Leben als das eigentliche Leben absolut zu setzen. Die Zielrichtung der lebenverneinenden Bedeutung des Todes ist aber gerade umgekehrt, das Wesen des endlichen Lebens aufzudecken: Es ist nicht das eigentliche Leben und wird doch als in Gott gegründetes Leben geheiligt. In der Doppeldeutigkeit des Todes ist damit die doppelte Funktion des Gerichts verankert. Der Tod offenbart einerseits die Geschiedenheit des Menschen von Gott, indem er die Grenze der menschlichen Existenz aufzeigt und ein auf absoluter Selbstbehauptung gründendes Selbstverständnis des Menschen verneint. Andererseits ist das Entbindungsmoment des Todesbewusstseins der Anknüpfungspunkt für die gnadenhaft erschlossene Bedeutung des Todes. Die Doppeldeutigkeit des Todes ist Hirsch zufolge dem christlichen, zeitlich gebundenen Glauben wesentlich. Durch die simul-Struktur des Glaubens bleibt die Ewigkeitsgewissheit des Glaubenden fragil, weil dieser stets in den Kampf zwischen Glaube und Unglaube verstrickt ist. Der Glaubende bleibt der Alternative von ewigem Leben und ewigem Tod ausgesetzt. Der durch den traditionellen Gerichtsgedanken und der damit verbundenen Vorstellung vom doppelten Ausgang vermittelte „furchtbare Ernst der christlichen Erwartung des Tags der Rechenschaft, des Tags des sich durchsichtig Werdens vor Gott“267 bleibt damit auch in seiner Transformation erhalten. So wie das Gericht im Begriff von Gottes Liebe verankert ist, so liegt für Hirsch im Bild vom unerbittlich liebenden Gott selbst die Möglichkeit, dass der Tod Vernichtung bedeutet, begründet: „Gottes ewige wehrlose grundlose Liebe, die hier auf Erden nichts als ein Rufen, ein Fragen, ein Anrühren des letzten Lebensgrundes ist, empfängt ihre Hoheit und Macht, uns ins Unbedingte zu erheben und zu Persönlichkeiten, welche dem Ewigen zugeordnet sind, zu erschaffen, doch eben durch ihre Entscheidungshaftigkeit, ihre Unerbittlichkeit. Was nicht seinem Wesen zufolge bei Widerspannung zu Tode versehren kann, das hat auch keine Macht, durch den Tod hindurch zum Leben zu erschaffen.“268

Darin, Gott als Liebe zu denken, liegt die Forderung einer entsprechenden Haltung der Hingegebenheit. Die Gottesbegegnung drängt auf eine sich im Leben abbildende Entscheidung für oder wider Gott, in die Gottes Liebe den Menschen unerbittlich stellt.269 Besteht die Haltung zu Gott im Widerstand gegen 267 

HchR, 301. WrCh, 184. 269  S. o., 2.B, 91 ff. 268 

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ihn, so liegt es in dem Gedanken von der Allmacht Gottes – ohne den die göttliche Liebe unterbestimmt wäre – begründet, dass er beides können muss: endgültig Töten und mittels des Todes lebendig machen. Die Entfaltung des Gottesbildes, das in der Antinomie von Töten und Lebendigmachen steht, evoziert verschiedene Todesdefinitionen. Der Tod kommt als Wort Gottes von Gott selbst. Er wird in doppeltem Sinne wahrgenommen. Einerseits ist er im endlichen Sinn eng im Zusammenhang mit dem Bösen als lebenzerstörend und lebenverneinend zu sehen. – Hier knüpft der theologische Todesbegriff an die aus einem immanenten Selbstverständnis abgeleitete Deutung des Todes als Nichts an, allerdings mit der Pointe, dass diese Deutung erstens nicht das letzte Wort über den Tod ist, weil das menschliche Leben über die reine Immanenz hinausgeht, und dass sie zweitens nicht bei der Erfahrung der Sinnlosigkeit menschlichen Lebens stehenbleibt, sondern in dem Sinne heilsam ist, als sie die Grenzen menschlicher Möglichkeiten aufzeigt. Andererseits ist der Tod im unendlichen Sinn der von Gott empfangene notwendige Durchgang von diesem Leben zum wahren Leben. – Hier unterscheidet sich die theologische Todesdeutung von der das geschichtliche oder individuelle Leben relativierenden Deutung des Todes als Übergang,270 indem sie erstens das persönliche Leben durch seine Gottesbeziehung so geheiligt weiß, dass es sich zum Dienst in der Welt gerufen weiß – womit sie dem allgemeinen geschichtlichen Leben einen unverbrüchlichen Wert zuschreibt –, und deswegen zweitens an der erfahrungsgemäßen Negativität des Todes festhält. Kommt der Tod von Gott, so behält er seine lebenverneinende Funktion in dem Sinne, dass er den menschlichen Drang zur Verabsolutierung endlichen Lebens verneint. Insofern wirkt er als Mittel der Erziehung und des Gerichts am Menschen hin zum vollendeten Glauben, dem der Glaubende ebenso ausgesetzt ist, wie der Ungläubige. Als Gottesbegegnung stellt der Tod vor folgende Alternative: Er führt entweder zum ewigen Leben, wenn der Mensch sich in der Gewissheit von Gottes Liebe gründen lässt, oder in den ewigen Tod, wenn der Mensch Gott bis ins Letzte widerstreitet.271 Beide Bedeutungen sind in dem Begriff vom Gott der Liebe begründet. Letztere, die hier als ‚endgültiger Tod‘ bezeichnet wird, hat Hirsch zufolge nichts mit der Vorstellung eines vergeltenden Gottes zu tun. Tod bedeutet damit entweder Durchgang zum ewigen Leben oder Nichts.

270  Zu

der grammatikalischen Unterscheidung zwischen Übergang und Durchgang s. u., 7.B.d, 309 ff. 271  Zu dieser Möglichkeit, s. u., 6.C.a, 243 ff.

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

6.B  Die Macht des Todes im Leben: Der Stachel der Sünde Die analytische Beschreibung der Bedingungen des Glaubens an einen gütigen, Leben schaffenden Gott trotz der Faktizität des Todes macht deutlich, dass die allgemeinmenschliche Sehnsucht nach einem vollendeten Leben und die darin sich aussprechende Ahnung der Liebe Gottes auf ihre Erfüllung in Form der gnadenhaft zuteil werdenden Ewigkeitsgewissheit drängt. Solange diese nicht gegeben ist, dominiert die Überzeugung, dass der Tod Nichts oder Vernichtung bedeutet. Diese wird unter anderem aus Erfahrungen der Negativität des Lebens abgeleitet. Hirsch beschreibt solche, indem er sie metaphorisch in die Nähe des Todes rückt, als todesähnliche Erfahrungen, von denen her sich dem negativen Wesen des Todes angenähert werden kann (a). Die erfahrene Negativität des Lebens und des Todes zieht bestimmte Reaktionen im menschlichen Lebensvollzug nach sich, die Hirsch als übersteigerte Aktivität oder resignative Passivität gegenüber dem Tod kategorisiert und die sich als Vereinseitigungen des eigentlichen, dialektischen Verhältnisses zum Tod – der Doppelheit von Angst und Sehnsucht – erweisen (b). Sowohl die todesähnlichen Erfahrungen als auch die unangemessenen Haltungen dem Tod gegenüber deutet Hirsch theologisch als aus der menschlichen Sündigkeit resultierende, womit er den traditionellen Zusammenhang von Tod und Sünde aufgreift, der allerdings – wie hier deutlich gemacht wird – nur bedingt als Folgeverhältnis zu verstehen ist.

a)  Todesähnliche Erfahrungen im Leben: Unglaube und Einsamkeit Der Tod als jederzeitige Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit wirkt sich, sofern er aus einem gesetzhaften Selbstvollzug heraus als Abbruch und Vernichtung gedeutet wird, auf das Leben so aus, dass dieses selbst durch seine ständige göttlich-willkürliche Bedrohung oder durch seinen Verzicht auf die Ewigkeitsdimension todesähnlich ist. Das ‚Gesetz des Daseins‘ entfaltet Hirsch zufolge seine volle Wirklichkeit durch die „Zucht des Todes“272. Diese Näherbestimmung kann ganz einfach mit dem Endlichkeitsbewusstsein des Menschen gleichgesetzt werden, hat aber bei Hirsch m. E. eine darüber hinausgehende Bedeutung. Diese liegt im gerichthaften Charakter des Todes, dessen Erlebnisgehalt weit mehr als bloßes Endlichkeitsbewusstsein sein kann. Das Todeswissen nämlich wirkt sich ohne die befreiende Kraft der Gnade auf das Leben des Menschen negativ aus.273 272 

ChR I, 275. Zerrath hingegen vernachlässigt mit seiner Bestimmung der Zucht des Todes als „Endlichkeit“ das Gerichtsmoment des Todes. Außerdem reduziert er die Bedeutung des Todes auf die zeitliche Grenze endlichen Lebens (vgl. Zerrath: Vollendung, 223.248 f.). Dies 273 Martin

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233

Analog zur gegenwärtigen, existenzbestimmenden Erfahrung des Gerichts führt die in das Todesbewusstsein eingeschlossene Erkenntnis der Geschiedenheit des Menschen von Gott zu todesähnlichen Erfahrungen im täglichen Leben. Diese befördern nach Hirsch das Gefühl des Menschen, nicht mit einer Ewigkeitsdimension ausgezeichnet, sondern in jeder Hinsicht an das Gesetz des Daseins ausgeliefert zu sein, also auf seine Kreatürlichkeit festgelegt zu werden. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wird im Medium der persönlichen Gottesbeziehung als durch die Gesetzesoffenbarung vollzogene Gerichtserfahrung gedeutet. Die „Wahrheit“ der mit der Gesetzesoffenbarung erschlossenen Selbsterkenntnis benennt Hirsch damit, dass der Mensch sich „von Gott geschieden, Leben nicht habend erleb[t]“274. Von Gott, der das Leben ist, geschieden zu sein, bedeutet, zu diesem schöpferischen Leben, an dem der Mensch von seiner Bestimmung her eigentlich Anteil hat, keinen Zugang zu haben. In späteren Schriften hält sich Hirsch mit der direkten Gleichsetzung dieser Erfahrung mit dem Tod zurück. Radikal bestimmt Hirsch hingegen in GG den Todesbegriff in diesem Sinne als eine das ganze Leben betreffende Gottgeschiedenheit: „Im Tode sein heißt, von Gottes heiligem Leben ausgeschlossen sein. Indem das Gericht uns dieses lehrt, lehrt es uns erstens, daß unser ganzes Leben nichts ist denn Tod, eben darum, weil es unheilig ist, weil es Sünde ist. Und zweitens lehrt es uns, daß wir in diesem Tode bleiben, daß im ganzen Bereich unsers Lebens die Möglichkeit, die Scheide zu Gott hin zu durchbrechen, nicht gegeben ist.“275

Das in diesem Sinne verstandene und erfahrene Leben ist nicht nur Sterben, sondern der Tod selbst, der durch die Getrenntheit von Gott verursacht ist und aus dem der Mensch von sich aus nicht herauskommen kann. Später nimmt Hirsch diese Gleichsetzung eher in einem metaphorischen Sprachduktus vor und setzt nicht das ganze menschliche Leben, sondern bestimmte Arten des Lebensvollzugs mit dem Tod gleich, womit er dem menschlichen Leben insgesamt einen höheren Wert beimisst. Unglaube bestimmt er als „das Totsein des Herzens gegen Gott und die Kälte des Herzens gegen die Menschen“276. Die Selbstverknechtung unter das Gesetz bezeichnet er als „Totenstarre“277 im Gottesverhältnis. Der weltanschauliche Verzicht auf die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen bedeutet für ihn, „einem lebendigen Gottesverhältnis [zu] ersterben […,] für Gott tot sein sich [zu] mühen […,] für Gott tot sein mag für den Tod der anderen Kreatur, des anderen organischen Lebens, richtig sein. Für den Tod des Menschen muss zusätzlich eine darüber hinausgehende Bedeutung – der Tod ist Gottesbegegnung – angenommen werden, die sich auch im Gesetzesbegriff widerspiegelt. 274  ChR II, 20. 275  GG, 108. 276  Zw, 183. 277  ChR II, 33.

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Wollen“278. Entsprechend erleiden die beiden Typen des Unglaubens, die Hirsch ausmacht – der gesetzesverhaftete und der diesseitsverhaftete –, gleichermaßen den „inwendige[n] Tod“279. Der Mensch ohne Ideale wird von Hirsch so beschrieben: „Gott und die Ewigkeit sind ihm tot. Ja, er selber ist tot, hat ein totes Herz in der Brust.“280 Fehlt im Verhältnis zwischen Menschen die aus der Gottesbeziehung strömende „unendliche[ ] Liebe“, sind sie einander „wie erstorben“281. Ein Mensch, der das „Sehnen und Leben der Angst“ nicht kennt, ist „ein toter Mensch, nicht bloß ohne Glauben, sondern ohne Herz, ohne Liebe, ohne Vollmacht und Schaffenskraft“282. Totsein oder Erstorbensein bedeutet, aus diesen Zitaten heraus zusammengefasst, Verneinung der liebenden Seite Gottes, Verweigerung oder Nicht-Vorhandensein der Gottes- und Ewigkeitsbeziehung, Verzicht auf den gewissenhaften Selbstvollzug, die sich auf den Menschen selbst im Verlust seines freiheitlich-kreativen Wesens, auf das zwischenmenschliche Verhältnis in Form von gegenseitiger Verschlossenheit oder Gleichgültigkeit niederschlagen. Es ist von Hirsch mit dem Begriff des Unglaubens und mit dem Phänomen der sozialen Einsamkeit eingeholt. Den meisten der benannten todesähnlichen Erfahrungen wird das ihnen zugrundeliegende defizitäre Menschsein von außen zugeschrieben; ob diejenigen, die sie machen, selbst bewusst einen Mangel an Leben wahrnehmen und sich damit auch ‚wie tot‘ fühlen, ist von außen nicht eindeutig feststellbar. Lediglich in den Negativerfahrungen in der Sphäre der Sozialität ist der Keim dieser Gerichtserfahrung wohl spürbar. Erst aus der Perspektive des Glaubens bzw. des mit ihm in der Doppelbewegung von Glaube und Buße verbundenen Schuldbewusstseins werden diese Erfahrungen in der Dimension der Sündigkeit des Menschen gegenüber Gottes Heiligkeit gedeutet. Die todesähnlichen Erfahrungen werden von Hirsch theologisch als gesetzhafter Lebensvollzug verstanden. Spürbar werden sie auf der persönlichen Ebene am Verlust der Möglichkeiten zur freiheitlichen Selbstentfaltung und am Fehlen einer Zielrichtung, einer Perspektive der Hoffnung des menschlichen Lebens. Auf der zwischenmenschlichen Ebene schlagen sie sich in den Erfahrungen nieder, dass Menschen sich nicht in ihrer jeweiligen Besonderheit aner278 

WuG, 95. 104 f.: „Für Jesus ist ein Gottesverhältnis solcher [gesetzhaften, A.‑M. K.] Art der inwendige Tod. Es mag sein, daß es gottfeindliche ‚Tote‘ gibt, die nichts als Rebellion gegen Gottes Gebote sind, und neben ihnen knechtisch diensteifrige ‚Tote‘, die bereit sind, um ihres Herren willen alles, selbst das schlechthin Sinnwidrige, zu tun. Doch dies ist ein Unterschied zweiter Ordnung.“ 280  Zw, 227 f. 281  ChR II, 37. 282  Zw, 82. 279  WGJ,

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kennen und dass der Andere einem entzogen ist. Der Tod wird auf diese Weise mit Verlusterfahrungen des menschlichen Lebens parallelisiert: Er wird gedeutet als Ende menschlicher Möglichkeiten – als Selbstverlust –, als Zeichen der Sinnlosigkeit – als Sinnverlust –, als ewiger Gleichmacher – als Verlust der eigentümlichen Würde –, als Abbruch sozialer Beziehungen – als Verlust des Anderen. Auf der Ebene der Gottesbeziehung sind todesähnliche Erfahrungen durch das Gefühl der Entzogenheit der Liebe Gottes und den Gedanken der Vernichtung menschlicher Möglichkeiten durch Gott selbst geprägt – der Tod wird von hier aus als Zeichen für den Verlust oder das Nichtvorhandensein der Liebe Gottes und als Zeichen für die menschliche Ohnmacht angesichts der göttlichen Übermacht gedeutet. Hirsch markiert diese Deutungen als gesetzhaft bzw. leitet sie aus einem sündigen Selbstverständnis des Menschen ab. Von der Tradition der theologischen Deutung des Todes her stellt sich an diesem Punkt die Frage nach dem TodSünde-Zusammenhang. Ist der Tod Folge der Sünde? Besteht der Zusammenhang wenn nicht in Tat und Folge, dann auf andere Weise? Dass todesähnliche Erfahrungen im Leben bei Hirsch mit der Sünde zusammenhängen, ist nach den hier aufgeführten Zitaten nicht von der Hand zu weisen. Tod und Sünde in diesem Sinne an Hirsch anschließend in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, ist allerdings schwierig. Den Tod als Lebensende will er als kreatürlichen, von der Sünde unabhängigen verstanden wissen und wehrt in diesem Zuge die (mythische) Rede vom Tod als Sündenfolge ab.283 Für die Sünde und den Tod in den Lebenserfahrungen ist m. E. nach Hirsch nicht ein Folgeverhältnis, sondern ein eingeschränktes Gleichsetzungsverhältnis in Erwägung zu ziehen. Wie auf die Schuld nicht das Gericht folgt, sondern das Schuldbewusstsein selbst das Gericht ist, so ist auch die Sünde selbst der Tod – insofern dieser bedeutet, das Leben im eigentlichen Sinne nicht zu haben. In der Sünde Sein heißt von Gott getrennt Sein, von Gott getrennt Sein heißt das Leben nicht Haben, das Leben nicht Haben heißt Tod. Die Gleichsetzung zwischen Tod und Sünde ist allerdings nur partiell möglich, sie zeigt lediglich eine Facette des Todesbegriffs auf. Denn die Bedeutung des Todes lässt sich mit Hirsch nicht auf ‚das Leben nicht Haben‘ reduzieren.

b) Sündige Einstellungen zum Tod: Lebensgier und Lebensangst Ersichtlich wird der Zusammenhang von Tod und Sünde nach Hirsch in der Einstellung des Menschen zum Tod. Auf den Selbstwiderspruch des Menschen – die Spannung zwischen der Faktizität der Kreatürlichkeit und der ewigen Be283 

S. o., 6.A.b.α, 221 ff.

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stimmung – und auf den Widerspruch im Gottesbild – Gott wird als Liebe geahnt, aber als zornige Macht erfahren – reagiert der sündige Mensch durch die „absolut[e] Resignation“ und den „absolute[n] Entschluss“ dem Schicksal gegenüber.284 Diese Formen der Sündigkeit lassen sich auch auf das menschliche Verhalten gegenüber dem Tod anwenden. Dieses müsste Hirsch zufolge in einer Mischung aus Aktivität und Passivität des Menschen liegen, die sowohl die Realität des Todes als auch die Ahnung des ewigen Lebens ernst nimmt, die die dialektische Bewegung zwischen Angst und Sehnsucht nachvollzieht. Die angemessene Aktivität dem Tod gegenüber reagiert auf die Einsicht, dass der Mensch eine über die reine Kreatürlichkeit hinausgehende Person ist. Sie resultiert aus dem Gefühl der Ehre und dem Bewusstsein der Berufung zur Pflicht und äußert sich im Tun des Guten. In ethischer Hinsicht macht Hirsch deutlich: Der endlichen Freiheit ist eigentlich nicht die Möglichkeit gegeben, mit eigenen Mitteln Leben und Tod zu bekämpfen oder zu erwirken. Die „Lebensmächte“285 Geburt und Tod werden gemeinhin als kontingente, schicksalhafte Größen erfahren. Religiös wird diese Erfahrung so gedeutet, dass die Macht über Leben und Tod allein Gott zugesprochen werden kann. In den Lebensmächten spricht sich die Heiligkeit Gottes aus, sie sind unverfügbar. Dennoch sind dem Menschen – besonders im Zeitalter des technischen Fortschritts – begrenzte Handlungsmöglichkeiten im Blick auf Geburt und Tod gegeben, die verantwortungsvoll ergriffen werden können, indem sie am Maßstab der Heiligkeit des Lebens ausgerichtet werden. Mit diesem Kriterium sind drei konkrete Einschränkungen gegeben.286 (1) Es ist dem Menschen nicht möglich, Leben zu schaffen, sondern lediglich es zu „hüten, [zu] bewahren, [zu] steigern“287. (2) Die Einsicht in die Unverfügbarkeit des persönlichen Lebens muss sich in der Handlung widerspiegeln: Auf die individuell-persönliche Ausgestaltung der mitgelieferten Anlagen hat der Mensch keinen Einfluss. Er kann bestenfalls den geeigneten Rahmen für die Entfaltung der Persönlichkeit schaffen. (3) Die Vertrauensbasis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft muss erhalten bleiben. Das Leben des Einzelnen darf nicht der Willkür der Gemeinschaft ausgesetzt sein. Dem Tod muss mit Hirsch also in ethischer Hinsicht einerseits widersprochen werden: „Das menschliche Leben ist sich Behaupten dem Todesschicksal gegenüber: das ist durchs Gesetz des Daseins uns auferlegt. Alles Gute ist Dienst am Leben, steht gegen den Tod; und alle Todesmacht ist böse. Eine falsche Geistlichkeit der Lebensbetrachtung mag das leugnen 284 

S. o., 2.C.a, 106 ff. ChR II, 240. 286  ChR II, 245 f. 287  ChR II, 245; i. O. herv. 285 

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wollen, aber sie ist dann nur hohle Phrase. Wer den Tod erwirken sich zum Ziele macht, ist dämonisch.“288

Lebenserhaltende Maßnahmen für kranke Menschen sind aber für Hirsch nur insoweit ethisch zulässig, „solange sie darin noch als Persönlichkeiten lebendig zu sein vermögen“289, solange sie also in ihrer kreativ-hingebenden Selbsttätigkeit nicht wesentlich eingeschränkt sind. Andererseits sieht Hirsch das gezielte Erwirken des Todes als ethisch vertretbar an, soweit es im größeren Rahmen der Lebensbewahrung dient. Er benennt hierfür drei konkrete Fälle – wobei zumindest die ersten beiden deutlich zeitgeschichtlich geprägt sind, die dahinterstehende Argumentationsstruktur aber auf das ethische Prinzip der Heiligkeit des Lebens abzielt:290 (1) Die Todesstrafe an demjenigen, der die „Heiligkeit des Lebens“291 grob verletzt hat, sieht Hirsch in erster Linie damit begründet, dass die Heiligkeit des Lebens auf jenen zurückschlägt und „sie ihn selber dem Tode preisgibt“292 und in zweiter Linie bewertet er sie als notwendig für den Schutz menschlicher Gemeinschaft. Dabei ist es je nach kulturellem und religiösem Kontext verschieden, was als Verletzung der Heiligkeit des Lebens betrachtet wird. Der Grundsatz der Heiligkeit des Lebens ist eine allgemeine, ethisch notwendige Prämisse; seine konkrete inhaltliche Füllung ist aber situationsabhängig bzw. wird durch einen sozialethischen Konsens entschieden. (2) Eine andere Form von einer der Gemeinschaft dienenden Selbstergreifung des Todes ist für Hirsch der Heldentod, wobei der Einzelne das Wohl der Gemeinschaft über sein eigenes stellt.293 (3) Die Selbsttötung betrachtet Hirsch differenziert. Er grenzt sich mit dem bewusst gewählten, neutralen Begriff gegen die herkömmlichen, wertenden Begrifflichkeiten Selbstmord 288 

ChR II, 57. ChR II, 241. 290  ChR II, 242 f. 291  ChR II, 241. Hirsch zählt dazu Mord, Volksverrat und Vergewaltigung (a. a. O., 242). 292  ChR II, 247. 293  ChR I, 88; ChR II, 57.242. Spätestens mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg ist der Heldentod mindestens für die deutsche Selbstreflexion ein höchst zweifelhaftes Ideal. Die Problematik des im Nationalsozialismus glorifizierten Heldentodes – der immer weniger funktional auf seinen Nutzen für die Gemeinschaft ausgerichtet war und immer mehr zum mythisch-religiösen Selbstzweck wurde – und des damit verbundenen Totenkultes erläutern Brunotte, U.: Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger. Männlichkeit und Soteriologie im Krieg, in: K linger, C. (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien u. a. 2009, 55–74 und Behrenbeck, S.: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996. Vgl. zum Opfermythos des Nationalsozialismus, zur damit verbundenen Instrumentalisierung des Selbstopfers für den Krieg und der Rolle, die der Holocaust innerhalb dieses Mythos spielt: Gutmann, H.‑M.: Die tödlichen Spiele der Erwachsenen. Moderne Opfermythen in Religion, Politik und Kultur, Freiburg u. a. 1995, 195–207. 289 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

(„scheltend“) und Freitod („verherrlichend“294) ab und verwehrt sich damit gegen eine eindeutige ethische Beurteilung des gezielten Erwirkens des eigenen Todes. Exkurs: Hirschs Interpretation und Anwendung des ethischen Arguments der Heiligkeit des Lebens Das Argument der Heiligkeit des Lebens, das allgemein gegen die Selbsttötung vorgebracht wird,295 erweitert und begrenzt Hirsch zugleich. Die Heiligkeit des Lebens ist insofern kein dem menschlichen Leben uneingeschränkt eigener Wert, als sie sich von Gottes Heiligkeit herleitet.296 Sie kann nur von dem in Anspruch genommen werden, der sich selbst vor Gott versteht und sich von Gottes Heiligkeit begrenzen lässt. Sie ist insofern ein unendlicher Wert, als der Mensch nicht über sie verfügen kann. Sie wird nicht vom Menschen, sondern von Gott prädiziert, indem dieser dem Menschen seine Bestimmung zur Personhaftigkeit aufzeigt, die sich im endlichen Rahmen durch die dem Individuum eigene Ehre und die an der Gemeinschaft zu verwirklichende Pflicht auswirkt. Indem der Mensch sich immer in der Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung vorfindet, ist die Heiligkeit des Lebens als über dem

294 

ChR II, 242. Das Argument der Heiligkeit des Lebens unterlag in der ethischen Debatte des 20. Jh. besonders aus utilitaristischer Perspektive, aber auch ethisch-theologisch begründet (vgl. z. B. Anselm, R.: „Geschöpflichkeit“ und „Heiligkeit des Lebens“. Sozialethische Erwägungen aus protestantischer Sicht, in: Kodalle, K.‑M. (Hg.): Das Recht auf ein Sterben in Würde. Eine aktuelle Herausforderung in historischer und systematischer Perspektive, Würzburg 2003, 121–126), einer mehr oder weniger heftigen Kritik. Eine ausführliche Kritik des absolut gesetzten Prinzips der Heiligkeit des Lebens liefert Helga Kuhse; sie entfaltet die moralphilosophisch begründete und nicht religiös legitmierte „Qualitiy-of-Life-Approach“ (Kuhse, H.: The Sanctity-of-Life-Doctrine in Medicine. A critique, Oxford/New York 1987, 197–206). Eine umfassende Analyse des Prinzips der Heiligkeit des Lebens gibt Markus Zimmermann‑Acklin, abei bemüht er sich um eine Differenzierung der Begriffe von „Heiligkeit“ und „Leben“ und setzt sich mit verschiedenen gängigen ethischen Interpretationen des Prinzips auseinander (Zimmermann‑Acklin: Euthanasie, 157–222). 296 Markus Zimmermann‑Acklin unterscheidet im Anschluss an William K. Frankena zwischen einer „extrinsische[n] und einer intrinsische[n]“ Begründung des Heiligkeitsprinzips (a. a. O., 172). Bei Hirsch fallen wohl beide Begründungen ineinander. Menschliches Leben zeichnet sich durch seine Personalität und seinen damit implizierten Gottesbezug aus. Dadurch besitzt es einen intrinsischen Wert: Es ist unverletzlich, weil es menschliches Leben ist. Die dem menschlichen Leben eigene Würde liegt zugleich – indem der Mensch wahrer Mensch nur vor Gott ist – extrinsisch in der Heiligkeit Gottes begründet. Damit ist – um eine weitere Unterscheidung Zimmermann‑Acklins an Hirsch anzulegen – die Heiligkeit für Hirsch kein „Basisprinzip“, sondern ein „abgeleitetes Prinzip“ (ebd.). Die Heiligkeit des Lebens begründet sich nicht aus der Faktizität des Lebens oder mit Hirsch besser: des Daseins, sondern aus anderen Bedingungen: Nur insofern der Mensch sein Leben als Leben vor Gott lebt (leben kann), ist sein Leben geheiligt und ihm kann ein absoluter Wert zugesprochen werden. 295 

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endlichen Leben stehendes Soll ein dynamischer bzw. ein anzustrebender Wert. Hirsch bindet das Prädikat der Heiligkeit damit an ein bestimmtes Verständnis von Leben; als Leben ist hier menschliches, ewigkeitsbezogenes und personales bzw. auf das Personsein angelegtes Leben zu verstehen. Die Heiligkeit des gemeinschaftlichen Lebens leitet sich dabei von der Heiligkeit des einzelnen Lebens her. Geheiligt ist eine Gemeinschaft nur, insofern sie sich als Gemeinschaft der Gewissen versteht. Damit ist verbunden, dass sie den Einzelnen als Person achtet. An den beiden schon genannten Beispielen wurde deutlich: Die Heiligkeit wird dem menschlichen Leben sowohl insgesamt prädiziert – die menschliche Gemeinschaft als Ort, an dem das Verhältnis zu Gott dem Heiligen aufbricht, als Gemeinschaft der Gewissen, ist geheiligt – als auch dem Einzelnen zugesprochen – der Einzelne ist geheiligt, sofern er Gewissen ist, sofern er sein Leben vor Gott und Mensch führt und beurteilt.297 Der Grundsatz der Heiligkeit des Lebens leitet sich zwar vom Einzelnen her, ist aber nicht auf das Einzelleben reduzierbar. So kann es wie beim Heldentod der Fall sein, dass das Leben der menschlichen Gemeinschaft aufgrund seiner Heiligkeit zu bewahren ist und die Heiligkeit des einzelnen Lebens zwar bestehen bleibt, aber der ersten untergeordnet wird. Diese Entscheidung ist als Ausdruck der Heiligkeit des einzelnen Lebens zu bewerten, indem der Einzelne seine Pflicht der Lebensbewahrung gegenüber der Gemeinschaft wahrnimmt. Das Leben ist außerdem nur insofern geheiligt, als es sich als solches erweist; d. h. der Einzelne muss sowohl die Möglichkeit als auch den Willen haben, seine Bestimmung in Form von Ehre und Pflicht zu leben, und dem Anspruch der Gemeinschaft ist nur Folge zu leisten, wenn sie die Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen vor Gott und Mensch bietet.298 So kann es wie bei den Vergehen, die mit der Todesstrafe sanktioniert werden, der Fall sein, dass der Einzelne seiner Bestimmung in seinem Leben keinen Ausdruck verleiht, indem er im Gegenteil der Heiligkeit des gemeinschaftlichen Lebens zuwider handelt. Die Prämisse für die Unantasbarkeit menschlichen Lebens ist seine im endlichen Sinne ethische Unschuld. Die Selbsterhaltung kann damit nicht zum unbedingten ethischen Grundsatz erhoben werden und das Tötungsverbot gilt nicht kategorisch, sondern nur eingeschränkt. Darüber steht das Gebot, seine ethische Bestimmung, für andere Person zu sein, zu erfüllen.299 Auf die Selbsttötung bezogen führt das zu folgenden ethischen Grundsatzentscheidungen: Soweit es auf der einen Seite überhaupt nicht gegeben ist, dass der Mensch sein Personsein gegenüber der Gemeinschaft bewahren kann, soweit „die geschichtliche Gemeinschaft einem Menschen die Ehre unwiderruflich und unwiederbringlich nimmt“300, hat der Einzelne das ethische Recht zur Selbsttötung. Soweit es auf der anderen Seite der Fall ist, dass einem Menschen von der Gemeinschaft eine besondere Ehre zugesprochen wurde und er diese „durch schwere Schuld geschändet hat“301 und er dennoch am Leben gelassen wird, hält Hirsch die Selbsttötung aufgrund seines Ehrempfindens für angebracht.

297 

Zur von Dietz Lange übernommenen Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚geheiligt‘ (Lange: Der Begriff, 189 f.) s. o., 62. 298  Damit macht Hirsch die „Qualität menschlichen Lebens“ (a. a. O., 169) zur Bedingung dafür, dass ihm Heiligkeit zugesprochen werden kann. Nur insofern Heiligkeit gelebt wird (werden kann), ist menschliches Leben unverletzlich. 299  ChR II, 247. 300  ChR II, 242. 301  Ebd.; Herv. A.‑M. K.

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Hirsch hält gleichwohl daran fest, dass ein Mensch, der sich selbst tötet, in religiöser Hinsicht „am Leben schuldig wird“302, womit das Heiligkeitsprinzip zwar ethisch limitiert, religiös aber absolut gesetzt ist303: Der heilige Gott allein ist der Herr über Leben und Tod. Der Mensch ist im sich an der Unverfügbarkeit des Lebens versündigenden Akt der Selbsttötung darin wohlgemerkt Sünder wie alle anderen, die sich im Leben täglich am Leben versündigen und er kann Gottes Gnade ebenso gewiss sein wie diese. Religiös zu begründen ist der Vorbehalt gegen die Selbsttötung nicht mit dem Vorwurf des mangelnden Gottvertrauens, das den Akt der Selbsttötung angeblich begleitet, sondern mit der „Scheu, die […] Heiligkeit Gottes zu verletzen“304. Der endlich-ethisch differenzierte Maßstab der Heiligkeit des Lebens kann herangezogen werden, um die Selbsttötung hinsichtlich ihrer Lebensförderlichkeit zu bewerten, das individuelle Gottesverhältnis entzieht sich der allgemeinen Beurteilung. In religiöser Hinsicht ist dem sich Selbsttötenden gegenüber dieselbe Offenheit geboten, wie allen anderen auch.305

Falsche Aktivität dem Tod gegenüber resultiert nach Hirsch aus der „Lebensgier“306, die den Menschen beherrscht und das eigene Leben absolut setzt – Selbsterhalt um jeden Preis, der an Gottes Bestimmung für den Menschen vorbeigeht. Die Lebensgier kann sich gleichermaßen erstens in der Überhöhung des transzendenten Charakters menschlichen Lebens – wie z. B. in der von Hirsch als Gesetzesreligion kategorisierten „grenzüberschreitenden“ Religion –, zweitens in dem Glauben, mit der Selbstverknechtung unter die sittliche Ordnung durch eigenes Tun auf das ewige Leben zu zielen, und drittens in der Festlegung des menschlichen Lebens auf die reine Immanenz äußern. Die erste Form verzichtet auf den kreatürlichen Charakter personalen Lebens, indem sie hofft, das menschliche Leben unabhängig von seinen endlichen Bedingungen steigern zu können. Die zweite Form verzichtet auf den freiheitlichen Charakter personalen Lebens, indem sie sich von der absoluten Selbstbindung an die Bedingungen des Daseins Belohnung erhofft. Die dritte Form verneint die transzendente Dimension menschlichen Lebens und legt sich damit auf die reine Kreatürlichkeit fest – den freiheitlichen Charakter menschlichen Lebens kann sie nicht begründen, sie wird also letztlich auf ein Nicht-Leben zurückgeworfen. Die Passivität dem Tod gegenüber wurde oben als Zeichen dafür benannt, dass der Mensch von Gott abhängig ist. Sie äußert sich angemessen in einem Ertragen des Todes, das allerdings erstens den Kampf gegen den Tod nicht ausschließt, d. h. dem irdischen Leben gegenüber nicht nihilistisch ist, zweitens 302 Ebd. 303 Vgl.

Zimmermann‑Acklin: Euthanasie, 173. ChR II, 247 f. 305  Das bedeutet für Hirsch auf der Ebene der Praxis, dass im Zuge der kirchlichen Beerdigung kein „ethisches oder religiöses Urteil“ über den Verstorbenen gefällt werden sollte. Es kann damit kein „sinnvoller Akt von Kirchenzucht sein“, „sie zu versagen“ (ChR II, 248). 306  Zw, 282. Vgl. ChR II, 33.45.72. 304 

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nicht bloß Hinnahme, sondern aktive Annahme des Todes ist.307 Falsch verstanden äußert sich die Passivität in einer Haltung der Resignation, der „Lebensangst“308: „Der Tod, der der Geschöpflichkeit zukommt, kann von der dem personhaften Sein bestimmten Geschöpflichkeit nur in Resignation hingenommen werden als ihr Schicksal. Diese Resignation bedeutet einerseits, daß man dem Widerspruch im eigenen Dasein […] das letzte Wort lassen muß: man ist in ihm gefangen und stirbt gleichsam in ihn hinein. Sie bedeutet anderseits, daß das Gefühl der Sündigkeit uns lähmt, dem Todesschicksal gegenüber als einem unserer personhaften Bestimmung Widersprechenden zu trotzen: es ist gleichsam in Ordnung, daß es so geschieht.“309

Problematisch ist nicht die Angst vor dem Tod an sich – sie gehört zum menschlichen Leben vor dem Horizont des Todes hinzu und legt wesentliche Facetten eines angemessenen Selbstverständnisses offen.310 Problematisch ist diese Angst, wenn sie den Menschen an das irdische Leben und das Gesetz des Daseins bindet, wenn sie das menschliche Leben so dominiert, dass sie in die ohnmächtige Resignation und den Verzicht auf die Selbstwerdung treibt. In der resignativen Reaktion gegenüber dem Todesschicksal liegt, so Hirsch, der „Keim“311 der Gerichtserfahrung des Gewissens, sie ist noch nicht selbst Gericht, weil sie erst aus der Perspektive des Glaubens als solches gedeutet werden kann. Die dynamisierende Kraft der Angst, mit der ihre Dominanz überwunden wird, so dass sie in den eigenen Lebensentwurf integriert werden kann, entspringt aus dem „Trauen darauf, daß Gott Liebe ist“312 , aus der Deutung der Angst als „Bote[ ] und Werkzeug[ ]“ der „Gottesliebe“313. Die Angst selbst ist wie der Tod „Gottesbegegnung“314, indem sie die Spannung zwischen Heiligkeit und Unheiligkeit und die damit verbundene Notwendigkeit der Verwandlung des Menschen für ein Leben ohne Angst aufdeckt. Die Todesangst ist damit als potenzierte Form des Erlebnisgehalts des Gerichts, der Angst, zu verstehen.315 Sie begleitet als solche das Leben jedes – auch des glaubenden – Menschen. Problematisch ist die Angst, wenn ihre dialektische Bewegung zur Sehnsucht hin abgebrochen wird. Problematisch wird die Sehnsucht, wenn sie sich von der Angst löst und in den Willen zur reinen Selbsterhaltung – zum Versuch das Ziel menschlicher Sehnsüchte von sich aus zu realisieren – umschlägt. Mit Hirschs 307 

Näheres dazu s. u., 7.B, 299 ff. Zw, 282. Vgl. ChR II, 33.45.72. 309  ChR I, 238. 310  Zur Phänomenologie der Angst s. o., 5.D, 192 ff. 311  ChR I, 238. 312  Zw, 82. 313  Zw, 81. 314  Zw, 83. 315  Zum Gerichtsgedanken, s. o., 3.B, 136 ff. 308 

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Worten: Bedenklich wird es, wenn der Mensch Gott zum „Diener [s]einer Lebensgier und Lebensangst“316 macht. Gott in den Dienst der Angst oder der Gier zu nehmen, bedeutet mit Hirsch, auch im Blick auf das Gottesbild auf die Spannungshaftigkeit zu verzichten, die Antinomie des Gottesverhältnisses und die Dialektik der Angst auf eine ihrer Seiten zu verlagern. In Anlehnung an Hirsch können verschiedene Varianten dieser Indienstnahme bestimmt werden. Die Reduktion Gottes auf das Bild des vergeltenden Gottes ist eine Variante dieser Vereinseitigung.317 Eine zweite Möglichkeit ist die Vorstellung von Gott als einer der Welt gleichgültig gegenüberstehenden Schicksalsmacht.318 Bleibt der Mensch bei der ‚Unwahrheit‘ des in der Gesetzesoffenbarung liegenden Gottesbildes stehen, wird die Unsicherheit des Ausgangs des Menschen ausgeräumt durch die Festlegung, der Mensch ende im Nichts, weil Gott gar nicht anders könne, als ihn zu vernichten. Dem kann er sich nur resigniert hingeben. In der Selbstwahrnehmung des modernen Bewusstseins deutet das auf folgende jenseits einer Gottesbeziehung liegende Einstellung hin: Mit dem Tod ist alles aus. Gott zum „Diener“ seiner Angst zu machen, kann drittens bedeuten, sich Gott so vorzustellen, dass er mit seiner Omnipräsenz und Omnipotenz dem Menschen letztlich keine Möglichkeit zur Selbstständigkeit lässt, ihm also das Personsein entzieht. Auch hier wäre das Gottesbild unwahr – Gottes Allmacht kann allein im Medium seiner Liebe verstanden werden, er ist so Grund des Lebens, dass er den Menschen Person sein lässt.319 Gott zum „Diener“ seiner Sehnsucht zu machen, kann erstens bedeuten, ihn in den Dienst eigener Interessen zu nehmen, indem man sich z. B. das ewige Leben als bloße Verlängerung des diesseitigen vorstellt320 oder den Menschen vergöttlicht321. Zweitens kann es ebenso bedeuten, auf das Gottesverhältnis zu verzichten und zu versuchen, sich von sich selbst aus zu vollenden.

6.C  Der Tod am Ende des Lebens: Der Sünde Sold? Hinter den beschriebenen Auswirkungen des Todes im Leben liegt die Bestimmung des Todes als Nichts, das aus der allgemein-menschlichen Perspektive als naturgesetzliches Ende des Lebens, im Medium des Gottesverhältnisses als 316 

Zw, 282. Vgl. HchR, 268.303. 318  Vgl. ChR I, 233. 319  Vgl. ChR II, 64. 320  Vgl. ChR II, 102 f. 321  Vgl. ChR I, 64. 317 

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durch die Gottgeschiedenheit des menschlichen Lebens bedingte Vernichtung gedeutet wird. Ob und inwiefern der auf diese Weise gedeutete Tod aus der Perspektive des Glaubens als Folge der Sünde verstanden werden kann und ob die Möglichkeit des endgültigen Todes gegen das Bild vom Gott der Liebe steht, wird von Hirsch verschieden bewertet. Grob umrissen gestaltet sich die von ihm an unterschiedlichen Orten aufgemachte Alternative so: Entweder man stirbt den Tod, den man für wahr hält, also der Ungläubige stirbt den kreatürlichen Tod, der Gläubige den in der Gottesbegegnung mit der Option auf das ewige Leben. – Das wäre eine Anknüpfung an die klassische Lehre vom doppelten Ausgang des Gerichts, wobei allerdings das Bild des vergeltenden Gottes nicht zum Tragen kommt und der Tod, der ins Nichts führt, nicht als Strafe Gottes gedeutet wird: Er ist ein ‚einfaches Vergehen‘. Oder alle sterben den gleichen Tod der Gottesbegegnung, der für die Ungläubigen die annihilatio durch Gott selbst bedeuten würde, wogegen der Christenmensch hofft, dass er für alle zum ewigen Leben führt. – Das wäre die Anknüpfung an die Lehre von der ἀποκατάστασις πάντων. Die dahinterstehende Frage ist die nach der Wirklichkeit von Verdammnis, welche Hirsch zwar als Terminus des traditionellen eschatologischen Aufrisses abwehrt, die aber ihrem wesentlichen Gehalt nach bei ihm als die von Gott trennende Seite des Gerichts in der existenziellen Erfahrung bestehen bleibt. Für Hirsch ist sie notwendig ein Moment des Sterblichkeitsbewusstseins des Menschen und wird für ihn von einem mit dem Gerichtsgedanken verbundenen Glauben an die ἀποκατάστασις πάντων nicht aufgeweicht. Mit der Erwägung der beiden Alternativen des Ausgangs des Menschen geht Hirsch über seine für die Reflexion über den Gerichtsgedanken selbst gesetzte Grenze, das innerliche, nicht aufzulösende Zugleich von Gericht und Gnade, hinaus.322 Eine gedankliche Verbindung zwischen den beiden Alternativen der annihilatio der Gottlosen und der ἀποκατάστασις πάντων herzustellen, ist zudem kaum möglich. Zunächst werden die beiden Gedankengänge dargestellt und anschließend diskutierend zueinander und zu Hirschs Gesamt­argumen­ta­ tion hinsichtlich des Gerichtsgedankens ins Verhältnis gesetzt.

a) Das Vergehen der Gottlosen im Tod Das ‚einfache Vergehen‘ allen organischen Lebens ist – so Hirsch in HchR und WGJ – das, was den Menschen ohne Gottesbeziehung gedanklich folgerichtig bestimmt sein muss. 322  Hirsch greift mit den beiden Alternativen zwei der Ersatzbildungen auf, die er in Zw eigentlich für theologisch nicht erwägenswert bezeichnet.

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„Niemand kann es der Liebe Gottes zuwider finden, wenn rein tierhafte Geschöpfe mit reflektierter Intelligenz wie andre bloß organische Wesen vergehen. Wer nie in seinem Leben Gehör für die ihm zum Menschsein aus Gott rufende ewige Liebe hatte, wer allem in der Hinsicht in ihm sich regen Wollenden ein hartes Nein, ein Endlichseinwollen entgegensetzte, muß logischerweise auch erfahren, daß er eben vergängliches Erdenwesen mit bloß intelligenter Reflexion hat sein wollen.“323

Hier rekurriert Hirsch auf seine Verortung des wesentlich Menschlichen in der Gottesbeziehung, ohne die der Mensch kein Mensch, sondern bloß ein vernunftbegabtes Tier ist.324 Sterben würde für den, der sich im Leben der Gottesbegegnung und des Ewigkeitsbezugs verwehrt hat, die Bedeutung des kreatürlichen Todes behalten. Hirsch räumt sowohl die gängige Kritik an dieser These als auch den Versuch, sie mit dem Gedanken vom Tod als Sündenfolge im Sinne einer Strafe Gottes zu verbinden, aus. Ein Kritikpunkt325 gegen die Vorstellung von dem Vergehen der Gottlosen ergibt sich aus der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach dem Ausgleich für irdische Ungerechtigkeit: Einfach zu vergehen kann keine Strafe für die Bösen sein.326 Der fehlende mahnende Charakter des Gerichts würde die Sicherung der allgemeinen Sittlichkeit unterwandern. Hirsch wendet dagegen ein, dass das Böse im Zaum zu halten, Sache der menschlichen Ordnung ist, die wohl in Gott begründet ist, aber selbst nicht mit Gott verglichen werden kann. Die weltliche Ethik darf nicht aus dem Gerichtsgedanken und der Angst vor einem vergeltenden Gott heraus begründet werden. Außerdem muss der Gedanke von Gott als Ursprung differenziert werden: Gott ist zwar Grund der weltlichen Ordnung, aber nur vermittelt als „Ursprung alles natürlichen Geschehens“327. Als Lebensgrund des Menschen kann er nicht mit der nach menschlichen Maßstäben für die Gerechtigkeit agierenden Macht des Gesetzes gleichgesetzt werden, sondern ruft den Menschen als „schaffende heilige Liebe“ zu „Geist, Freiheit und Wahrheit“328. Dem unzureichenden Gottesbild von Gott als Hüter des Gesetzes wird das des ‚unerbittlich‘ liebenden Gottes entgegengestellt, der den Menschen zur Person macht. Hirsch unterscheidet das Wesen des göttlichen Gesetzes und Gerichtes wesentlich vom politischen Gesetz in Form der menschlichen Ordnung. Letzteres verheißt mit seinem Urteil Lohn und Strafe, es setzt den Maßstab von Gut und Böse an. Das göttliche Gericht ist 323 

HchR, 302. S. o., 1.B.b, 51 ff. 325  Für das Folgende: HchR, 302–304. 326  So z. B. in neuester Zeit angemahnt bei Wenz , G.: Von den letzten Dingen. Eschatologische Perspektiven (Abschiedsvorlesung in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München am 21. Januar 2015), 13. 327  HchR, 303. 328 Ebd. 324 

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hingegen nicht in einem Kausalzusammenhang zu verstehen, sondern es deckt schon bestehende Strukturen auf und hat den Sinn ein in Gottes Gnade gegründetes Leben zu entbinden.329 Der Tod tritt nicht als äußere Folge des bösen Handelns des Menschen ein, sondern er deckt das Wesen der Kreatur als von Gott getrennt auf und entbindet – bejaht der Mensch sein Wesen als in Gott Gegründeter – ein angemessenes Selbstverständnis des Menschen. Der Tod hat damit keinen Straf-, sondern einen Offenbarungscharakter. Ein anderer Kritikpunkt330 ergibt sich aus der Frage nach Gottes Gnade und nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Gedanken der Verwerfung der Gottlosen. Die allumfassende und bedingungslose Wirklichkeit von Gottes Gnade müsste doch dazu führen, dass jeder Mensch ins ewige Leben eingeht.331 Hirsch wendet ein: „Dies wäre richtig gedacht, wenn man den Vergeltungsgedanken einschaltete, also den Tod des im Tode Vergehenden als eine Strafe nähme. Eben dies aber ist hier nicht geschehen und darf auch auf keinen Fall geschehen. Unzählige tierische Geschöpfe ruft Gott in ein vergängliches Dasein, läßt sie dessen Leid und Lust erfahren und gibt sie dann dem Tode preis. Er macht lebendig und er tötet.“332

Er fügt hier wiederholt das Argument der Faktizität des Sterbens aller Lebewesen und das damit verbundene Paradigma des natürlichen Todes an, vor dessen Hintergrund es absurd wäre, das Vergehen als Verwerfung zu deuten. Das Vergehen der Menschen ohne Gottesbeziehung muss strikt analog zum Tod der Tiere gedeutet werden. Weiterhin meint er, schon die Freuden des irdischen Lebens sind ein schöpferisches Gnadengeschenk und nichts würde dem fehlen, der sowieso nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt.333 Als ‚ewige Verdammnis‘ dürfte nach diesem Argumentationsgang das ‚einfache Vergehen‘ derer ohne Gottesbeziehung nicht bezeichnet werden. Zwar lehnt sich dieses Konzept an den Gedanken des doppelten Ausgangs des Gerichts an, ewige Verdammnis würde aber ein Parallelzustand zum ewigen Reich 329 

S. o., 2.B.b, 96 ff. Für das Folgende: HchR, 304–305. 331  So z. B. in neuester Zeit Hartmut Rosenaus Kritik am annihilatio-Gedanken (s. u., 247, Anm.  338). 332  HchR, 304. 333  Vgl. WGJ, 177: „Was ihnen versagt bleibt, ist von ihrem Herzen nie begehrt worden […]“. Ähnlich argumentiert Carl Stange: „Infolgedessen leben sie nur im Zusammenhang dieser irdisch-vergänglichen Welt und vergehen mit ihr. Wenn der Tod kommt, ist in ihnen nichts, was den Tod überdauern könnte. Man kann nicht eigentlich von einer Vernichtung reden, da nichts da ist, was vernichtet werden kann […].“ (Stange, C.: Das Ende aller Dinge. Die christliche Hoffnung, ihr Grund und ihr Ziel, Gütersloh 1930, 158 f.) Allerdings setzt er im Unterschied zu Hirsch einen starken Dualismus zwischen Gläubigen und Ungläubigen an und hält daran fest, dass letzteren selbst dann, wenn „sich ihr Gewissen regt“ und sie merken, dass sie mit dem Tod im Gericht stehen, das „Verderben“ bestimmt ist (a. a. O., 159). 330 

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Gottes sein, also Weiterexistenz in irgendeiner Form. Die Bezeichnung als Verdammnis legt sich von daher auch nicht nahe, weil das Vergehen der Ungläubigen mit Hirsch nicht als Strafe zu verstehen ist: Sie haben sich willentlich gegen die Option eines ewigen Lebens entschieden.334 Dahinter steht an dieser Stelle ein starker Begriff endlicher Freiheit, der einschließt, dass niemand „gegen seinen Willen zum Heil“335 gezwungen wird. Entsprechend sagt Hirsch an anderer Stelle im Blick auf die Verkündigung Jesu: Diesem reicht zwar „auch nur ein anfangendes gläubiges Sichstrecken nach der ewigen Liebe“336 aus, er unternimmt aber bei einem klaren Nein gegen seine Botschaft keinen weiteren Versuch. Die Einsicht Jesu in die Sinnlosigkeit eines solchen Versuchs resultiert aus seiner Ergebenheit in den Willen des Vaters.337 Obwohl Hirsch an der Begrenztheit menschlicher und auch glaubensmäßiger Erkenntnis festhält, kann er dennoch von einer klaren Entscheidung der Ungläubigen gegen das ewige Leben reden. Das Problem des Ungläubigen ist es bei Hirsch m. E. nicht, dass er den ihm klar vor Augen gestellten ‚Inhalt des Heils‘ verneint oder mit dem falschen verwechselt, sondern liegt schon in dem ihm fehlenden Streben nach Vollendung begründet.338 Der Ewigkeitsbezug des Menschen, der vorerst ganz ohne Inhalt ist, müsste nämlich Hirsch zufolge – wie gezeigt – jedem unmittelbar einleuchten. D. h. jeder müsste von sich aus einsehen können, dass das Wesen des Menschen im Endlichen nicht aufgeht und dass diese Einsicht für ein gelingendes menschliches Miteinander grundlegend ist.339 Ebenso müsste jeder Mensch, der sich vor der Realität des Gesetzes findet, 334 

HchR, 302. Rosenau: Allversöhnung, 451. 336  WGJ, 177. 337  WGJ, 177 f. 338  Die folgende Argumentation richtet sich gegen die Kritik Hartmut Rosenaus, die m. E. Hirschs Gedankenfigur nicht greift. Dass das Vergehen der Gottlosen nicht als Ungerechtigkeit Gottes gebrandmarkt werden kann, setzt für Rosenau deren Wissen über das voraus, gegen das sie sich entschieden haben. Auf dieser Grundlage kritisiert Rosenau Hirschs Gedankenfigur mit dem Argument, dass mit der „Begrenztheit des Geschöpfs auch die Begrenztheit der Erkenntnis eschatologischen Heils“ (Rosenau: Allversöhnung, 449) einhergeht. Er unterscheidet das allen Menschen eigene Streben nach Vollendung von dem Wissen über das, „was denn das Heil inhaltlich ausmacht“ (ebd.). Ersteres ist jedem Menschen zugänglich, zweiteres liegt jenseits sicherer Erkenntnis. Der Mensch ist nicht in der Lage – so Rosenau – das Ziel der Vollendung mit Gottes Heilsangebot gleichzusetzen. Selbst für den Glaubenden, in dem wegen der Verborgenheit Gottes Glaube und Unglaube stets einander widerstreiten, wird die „Begrenztheit eines absoluten Entscheidungsaktes zwischen eschatologischem Heil oder Unheil“ (a. a. O., 450) angenommen. Weil der Gottlose also nicht weiß, wogegen er sich eigentlich entschieden hat, muss sein Vergehen im Tod als Ungerechtigkeit Gottes ihm gegenüber gedeutet werden. 339  S. o., 1.B, 44 ff. 335 

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zumindest ahnen, dass Gott nicht Vergeltungsmacht, sondern Liebe und Leben ist.340 Was Hirsch zum einen als das „harte Nein“ der Ungläubigen identifiziert, ist ihr „Endlichseinwollen“341, d. h. sie verwehren sich bereits dem Streben nach der Ewigkeit, der bloßen Ewigkeitsbezogenheit oder anders ausgedrückt ihrer religiösen Anlage. Was er zum anderen als den bewussten Widerspruch zu Gott brandmarkt, ist der auf Maximen des Verstandes und der Vernunft bauende Gesetzesdienst zur Sicherung des eigenen Glücks und Erfolgs, der mit einem falschen Gottesbild verbunden ist.342 Es geht Hirsch nicht um die Verneinung eines irgendwie inhaltlich gestalteten jenseitigen Lebens, sondern darum, dass bei denen, die er als Gottlosen bezeichnet, „eine Gottesahnung, die sie bejahten und umfingen, nicht erwachte“343; dass einem solchen Menschen „trotz seiner Intelligenz [mit der er von selbst auf den Gottesgedanken stoßen müsste, A.‑M. K.] Gott nichts ist und ihm die Umwandlung in ein Geistwesen [das ihm als sein eigentliches Wesen aufgehen könnte, A.‑M. K.] wider den Trieb der Natur nur Grauen weckt“344; dass ein solcher Mensch dem „verzehrenden inneren Drang, aus der Wahrheit zu sein und in tief empfundene eigene Armut hinein aus Gott eine Gerechtigkeit zu empfangen, nach der man hungert und dürstet“345, nicht nachgibt. Zu dem mit dieser Argumentation entwickelten starken Begriff endlicher Freiheit stehen Hirschs letztlich immer auf Gott zurückzuführender Begriff endlicher Freiheit und das Gottesbild des unerbittlich Liebenden in Spannung – Gott ist der Ursprung allen Lebens, der das Leben will. Auf diese Ungereimtheit verweist auch folgende Aussage im selben Argumentationszusammenhang: „Nur der, welchem Gott sich so zwingend gegenwärtig macht, daß er ein entschlossenes Nein wider ihn, ein entschlossenes Ja zur rein erdgebundenen Tierheit nicht mehr erschwingen

340 

S. o., 2.B.a, 91 ff. HchR, 302. 342  WGJ, 104: „Dies kann so geschehen, daß unser inwendiger Mensch den geheimnisvollen Gott ebenso wie alle andern Dinge und Wesen dieser unter dem Gesetz stehenden Daseinswirklichkeit als ein Gegenüber nimmt, zu dem er durch ein zweckmäßiges, den gegenseitigen Machtverhältnissen angepaßtes Verhalten, eine geregelte Beziehung gewinnt. Die edelste Möglichkeit innerhalb dieses Grundverhaltens ist, daß man Gott als den allgewaltigen, je allmächtigen Herrn nimmt, dem gegenüber man sich durch Beachtung seiner Gesetze und Befehle ein erträgliches Dienstverhältnis aufbaut. Man gewinnt dann, falls er nicht unergründlich launisch sein sollte, als Knecht oder Diener dieses Weltwesens und Gesetzeswesens unter Umständen Ehre und Glück und darf jedenfalls auf ein gewisses Wohlwollen rechnen.“ 343  HchR, 305; Herv. A.‑M. K. 344 Ebd. 345  WGJ, 105. 341 

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kann, nur der also, welcher insgeheim Gott gehören muß, er wolle es oder wolle es nicht, ist mit der Marke der Ewigkeit geadelt.“346

Hier ist es wohl die Art und Weise wie Gott sich offenbart („zwingend“), die den Ausschlag dafür gibt, ob ein Mensch seiner Ewigkeitsbezogenheit entspricht oder nicht, und mit der sich Gott über den Willen des Menschen hinwegsetzt. Hirsch vermag es nicht, die Spannung zwischen endlicher Freiheit und der allmächtigen göttlichen Durchsetzungskraft aufzuheben, verzichtet aber auch darauf, diese zu problematisieren. Auch die Frage nach dem Handeln Gottes im Tod verweist auf eine bestehen bleibende Spannung der Hirsch’schen Konzep­ tion: Gott ist der, der tötet und lebendig macht, er muss also als Ursache des Todes gedacht werden. Gleichzeitig leitet Hirsch die Faktizität des Todes aus der Kausalität des Naturzusammenhangs ab, womit er gleichsam vermeidet, dass das Vergehen der Gottlosen auf Gott zurückgeführt wird. Daran, dass die Gottesbeziehung, die den Menschen zum ewigen Leben führt, bei Hirsch nicht notwendig an einen expliziten Glauben an den Gott des Evangeliums gebunden ist, wird allerdings deutlich, dass er den menschlichen Verzicht auf die Ewigkeitsbeziehung als Extremfall begreift: „Niemand ist bloß noch Erdenkind, das heißt ohne Lyrik gesprochen, mit Reflexionsvollmacht begabtes Tier, wenn Gott je ihn angerührt hat. Ist aber solches irgendwie geschehen, so geht der Weg ihm durch den Tod – ganz gleich auf welchen mühsamen Umwegen – zu Gott, in Gottes Leben.“347 346 

HchR, 301; Herv. A.-M. K. Herv. A.‑M. K. Dietz Langes Kritik dieser Aussage, sie setze ein „ein starres Gottesbild“ voraus und könne den Gedanken des Heilsverlusts nicht plausibel machen, beruht auf einer m. E. dem Hirsch’schen Duktus nicht gerecht werdenden Interpretation der vorgelegten Textstelle. Lange schreibt: „Hier gelte: Wen Gott einmal innerlich berührt hat, der lebt ein für alle Mal in Gott. Denn in Gott gebe es keinen Wechsel.“ (Lange, D.: Die Notwendigkeit der Eschatologie, in: ZThK 112 (2015), 83–99, hier: 97.) Für die Aussage, „denn in Gott gebe es keinen Wechsel“, ist bei Hirsch kein entsprechender Beleg zu finden. Zudem spricht Hirschs Bild des lebendigen auf der einen und des zugleich liebenden und zornigen Gottes auf der anderen Seite, gegen ein statisches Gottesbild. Vom Originaltext her ist dann darauf hinzuweisen, dass der Mensch nicht „ein für alle Mal in Gott lebt“, sondern dass mit dem Moment der Gottesbeziehung sein Leben als ein Leben auf Gottes Leben zu gekennzeichnet ist. Er ist darauf ausgerichtet, ein für alle Mal in Gott zu leben. Den Weg dorthin illustriert Hirsch nicht als klare Zielgerade, sondern als Weg mit Umwegen und die Heilsgewissheit des Menschen steht in diesem Prozess in ständiger Spannung zu seinem Schuldbewusstsein. Das schließt Anfechtungserfahrungen mit ein (vgl. auch ChR II, 144: „Unsere Gemeinschaft mit Gott, im Glauben empfangen, ist unabhängig von den Schwankungen unserer Subjektivität in erlebter Hinwendung zu Gott, in der ganzen Durchdringung unseres Lebens mit dem Glauben an Gottes Liebe. Wir sind frei im Glauben zum Werden und Wachsen, zu Kampf, Anfechtung und Not.“). Die Möglichkeit des Heilsverlusts – in der Hinsicht ist Lange recht zu geben – ist mit Hirsch aber auszuschließen. Das liegt m. E. an der von Hirsch dargelegten entscheidungshaften Haltung des Menschen zu Zeit und Ewigkeit: Das Ja 347  Ebd.;

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„Jesus als der Offenbarer des Gottes der Wahrheit, Freiheit und Liebe ist die Gottesmacht, welche im Sterben den, der ihm sich gibt, heimlich und vielleicht sogar unerkannt umhüllt und hält.“348

Für die Gedankenfigur des ‚einfachen Vergehens‘ oder des endgültigen Todes bei Hirsch kann also festgehalten werden: Sie liegt in dem Extremfall des Wechselverhältnisses zwischen Gott und Mensch begründet, der nicht besagt, dieser Mensch glaubt nicht an das Heil in Jesus Christus; sondern der besagt, dieser Mensch verwehrt sich von Grund auf seiner Ewigkeitsbezogenheit, seiner Anlage zur Gottesbeziehung. Das Bild vom gerechten und liebenden Gott ist durch das Ergehen des Ungläubigen nicht angezweifelt, beinhaltet doch die unerbittliche Liebe den Ruf nach Entscheidung für oder gegen Gott. Der Gedanke der Allmacht Gottes gerät allerdings an diesem Modell an seine Grenzen.

b)  Tod als Verdammnis? Wie das ‚einfache Vergehen‘ des Gottlosen von seiner Bedeutung her aber bei Hirsch doch in die Nähe eines Schreckensereignisses rückt, lässt sich von Hirschs Umgang mit dem Gedanken der ewigen Verdammnis her erwägen. Auch wenn er den Gedanken der Verdammnis in der ChR in den Kanon der für des Menschen zur Ewigkeit ist ein unbedingtes, es kann durch verschiedene Wenn und Abers der Vernunft zwar relativiert werden, aber nicht mehr gänzlich ausgeräumt werden. Auf das Gottesbild gewendet bedeutet das: Der liebende Gott hält an dem fest, dem er sich offenbart hat. (Der Textbefund würde überstrapaziert, wenn man schon hierin einen Verweis auf die Plausibilität des Apokatastasisgedankens sehen würde.) 348  HchR, 299; Herv. A.‑M. K. Vgl. WGJ, 105: „Ein solches Gottesverhältnis erstreckt sich seiner Art nach über dies Dasein hinaus in das Verborgene. Es ist ein freiwilliges Ja auch zu dem Geheimnis des Todes, durch den wir in Gottes Ewigkeit hinein vollendet werden. Alles aber wächst hervor aus der anfangenden Bereitschaft, den unergründlich Geheimnisvollen stille zu erleiden und das Selbst in seine Hände zu legen. Sie ordnet ganz unabhängig von der Frage, wieweit ein neues Leben sich gebildet hat, uns diesem unbegreiflichen Gottesverhältnis in Glaube und Liebe innerlich zu. Menschen, die auch nur mit einem anfangenden Hauch in diesem Gottesverhältnis stehen, sind lebendig, wahrhaft lebendig. Das Reich Gottes, das allein wahres Leben ist und gibt, ist in ihnen inwendig da, und sei es auch nur als Keim, der unter allerlei Wust und Wahn verdeckt im Herzen sich regt und erst noch sich selber offenbar werden muß.“ Unterstützend könnte man zudem Hirschs Argumentation für einen auf die Ewigkeit ausgerichteten Kinderglauben heranziehen: „Das Gerührtwerden des Herzens vom Ewigen kann in tiefer Heimlichkeit geschehen, und es hat vielleicht keinen Zeugen. So hat es zum Beispiel nie einen Zeugen, wenn es in sehr kleinen Kindern geschieht, welche einer intellektuell auffaßbaren Äußerung nicht fähig sind. Dennoch sind auch sie zum Menschsein geboren, mit dunklem Erahnen Gottes geboren, und ein tief verstecktes Ja zum Erleiden des früh den Tod bereitenden Geheimnisses Gottes kann auch in solch einem Seelchen sein.“ (HchR, 305; Herv. A.‑M. K.)

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das theologische Denken unangemessenen Bilder einordnet349, und sie im WrCh als eine der „Verendlichungen des Sterbens an Gott“350 bezeichnet, so lassen sich dennoch Spuren der Transformation dieser Vorstellung finden. Im WrCh setzt sich Hirsch auseinander mit der menschlichen Frage nach dem Maßstab des Gerichts und wie Sicherheit darüber zu erlangen ist, dass Gott Liebe ist. Er weist eine menschliche Festlegung dieses Maßstabs und die Erwägung über einen vergeltenden Gott wie auch in HchR ab. Dabei trifft er die Grenzaussage, „daß Gott einem jeden von uns das Entweder-Oder zum Schicksal macht, daß dem Begriffspaar Leben aus Gott und Glaube unentrinnlich das andre Unglaube und Sterben an Gott zur Seite geht“351, dass das Reich Gottes „uns entweder in sich hineinnimmt oder von sich stößt in das Nichts“352 , dass damit die Alternative „zwischen Eingang ins Leben und ewiger Verlorenheit“353 gesetzt ist, die aus der Alternative „von vertrauender Übergabe oder abwehrender Selbstbehauptung“354 des Menschen resultiert. Das Begriffspaar „Unglaube und Sterben an Gott“ ist als die Ersatzbildung für den Gedanken der ewigen Verdammnis einzuordnen, die darauf verzichtet, sich den verewigten Zustand des negativen Ausgangs des Gerichts auszumalen. ‚An Gott Sterben‘ kann zwar auch durch das mit dem Gericht verbundene Offenbarungs- und Neuschöpfungsgeschehen Erneuerung heißen, darauf wird an späterer Stelle eingegangen. Streng mit dem Unglauben verbunden bedeutet es zuerst nichts anderes als Vernichtung. Der als ‚einfaches Vergehen‘ der Gottlosen entfaltete Tod wird mit den zitierten Aussagen Hirschs als göttliche annihilatio charakterisiert. Unglaube ist bei Hirsch die einzige Alternative zum Glauben, eine Haltung der Indifferenz gegenüber Gottes ‚unerbittlicher‘ Liebe gibt es für ihn nicht: Unglaube bedeutet das sich im Lebensvollzug ausdrückende faktische Nein des Menschen zur Gottesbeziehung im Gegensatz zum Ja des Glaubens. Unglaube bedeutet die absolute Selbstbehauptung im Gegensatz zum bejahten Gotterleiden. Unglaube wurde oben gleichgesetzt mit ‚für Gott tot sein‘.355 Als ungläubig werden also diejenigen bezeichnet, die ihr Leben aus faktischer Entscheidung heraus ohne den Ewigkeitsbezug leben, der eben beschriebene Extremfall des Wechselverhältnisses zwischen Gott und Mensch. In dem Fall müsste man auch annehmen, so Hirsch, dass sie im Tod „zu Asche und

349 

ChR II, 42.106. WrCh, 184. 351  WrCh, 185; Herv. A.‑M. K. 352  WrCh, 172; Herv. A.‑M. K. 353  WrCh, 163; Herv. A.‑M. K. 354  WrCh, 179; Herv. A.‑M. K. 355  S. o., 233 f. 350 

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Staub und Nichts verglühen“356. Diese Perspektive ist – mit Hirsch gedacht – Perspektive des Glaubens, deutet den Tod also als Gottesbegegnung und nimmt die Möglichkeit des endgültigen Todes für den Ungläubigen an. Aus der Sicht des vom Glaubenden als Ungläubigen Bezeichneten würde sich das Bild dennoch so darstellen, dass er mit dem Tod einfach vergeht.357 Für den Glaubenden ist das Vergehen in zweifacher Hinsicht Schreckensbild: Er weiß einerseits, dass er selbst immer in der Spannung zwischen Glaube und Unglaube steht und in Gefahr ist, seine Existenz im Ganzen nicht aus dem Glauben, sondern aus dem Unglauben heraus zu verstehen. Andererseits ist der Glaube, indem er Liebe ist, Sein mit den Anderen und für die Anderen. Das Problem des Gedankens der Verdammnis liegt also nicht in der Perspektive des Ungläubigen – er vergeht einfach nur –, sondern in der für den Glaubenden auch bei Hirsch nicht unerheblichen Frage nach dem Geschick des Anderen.358

c) Allerlösung So wie sich der Glaubende um sich selbst ängstigt, weil für sein Ergehen nach dem Tod aufgrund seiner stetig begrenzten Erkenntnis die Alternative zwischen Nichts und ewigem Leben bestehen bleibt, so ängstigt er sich auch um das Ergehen des Anderen. Jedenfalls ist das m. E. mit Hirschs Begriff der ‚Weltenangst‘ ausgesagt: „Er [der Mensch, A.‑M. K.] erkennt das Leid aller lebendigen Geschöpfe, von dem diese selbst nichts wissen. Er erlebt in seiner eigenen Herzensangst alle Weltenangst, als wäre sie sein“359. Bezieht man diese Figur auf die Doppelstruktur von Angst und Sehnsucht360, so könnte man sagen: Der Mensch sehnt sich für den Mitmenschen nach der Bestimmung, die er für sich erkannt hat.361 Er möchte jeden Mitmenschen durch die Verkündigung des Evangeliums in den Glauben an die Vaterliebe Gottes mit einbeziehen.362 Seine Gewissheit ist nur vollkommen, wenn sie sich auch für andere als wahr erweist. 356 

HchR, 299. 177. 358 Martin Zerrath konstatiert zurecht: „Der (von Hirsch herausgearbeiteten) sozialen Konstitutionsweise des Ewigkeitsglaubens entsprechend, [sic] hat Eschatologie nicht nur von der Gewissheit des Individuums im Lichte des Ewigkeitsglaubens zu sprechen, sondern auch von seiner Hoffnung, die immer auch Hoffnung für andere ist.“ (Zerrath: Vollendung, 268.) 359  Zw, 78 f. 360  S. o., 6.B.b, 235 ff. 361  Die Tierwelt muss dabei, wenn man mit Hirschs Schöpfungslehre geht, dennoch ausgeschlossen bleiben, weil sie eben nicht die Bestimmung eines Lebens aus Gott hat. Der Genitiv πάντων müsste also wenn dann strikt personal übersetzt werden. Die Rede von einer ‚Wiederbringung aller Dinge‘ ist bei Hirsch theologisch ausgeschlossen. 362  WGJ, 177 f. 357  WGJ,

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Die Beziehung zwischen Glaube und Hoffnung ist mit Hirsch nicht nur in der Richtung zu sehen, dass die Glaubensgewissheit die „Erfüllung“363 der allgemein-menschlichen Sehnsucht nach und der Hoffnung auf Gottes Liebe ist. Darüber hinaus eröffnet die Glaubensgewissheit von Gottes Liebe neue Gestalten der Hoffnung, die auf die Ganzheit der Person und die Vollendung der zwischenmenschlichen Liebe im Eschaton zielen.364 Diese sind allerdings der ständigen Kritik durch die Glaubensgewissheit ausgesetzt, die die Gestaltlosigkeit der Ewigkeit gegen deren inhaltliche Bestimmtheit hält. Glaubensgewissheit ist ein „Hoffen wider alles Hoffen“365, sie ist bestimmte Hoffnung, deren Zielvorstellung sie sogleich wieder als unangemessen auflöst. Aufgrund der Gestaltlosigkeit der Ewigkeit, die keine Sicherheit über die inhaltlichen Konsequenzen aus der Liebesgewissheit gibt, kann auch die sich aus dem Glauben ableitende Hoffnung enttäuscht werden und ihre letztendliche Erfüllungsgestalt ihren Zielvorstellungen widersprechen.366 Vor dem Hintergrund dieser Struktur von Glaubensgewissheit und Hoffnung begegnet Hirsch der inhaltlichen Bestimmung der Ewigkeitsgewissheit durch die hoffenden Zielvorstellungen mit Vorsicht. Die hoffende Zielvorstellung des Glaubenden auf die Vollendung des Anderen ist in der ἀποκατάστασις πάντων im Sinne einer Allerlösung eingeschlossen, die Hirsch für eine mögliche, glaubensmäßige Beantwortung der Frage nach dem Ausgang des Menschen im Tode hält.367 Er konstruiert den Gedanken aber nicht wie Schleiermacher aus einer psychologischen Begründung heraus368 – auch wenn diese, wie hier angedeutet, im Begriff der Weltenangst enthalten sein kann –, sondern vom Gottesgedanken her, womit sich die oben gestellte Frage nach dem Wesen der Gnade Gottes beantwortet. Lässt sie sich 363 

ChR II, 105. Das Bestehen der Person in der Ewigkeit ist ein „Ziel, ein Hoffen“ im Glauben (HchR, 129). Der Glaubende hat eine „hoffende[ ] Seele“ (ChR II, 110). Die „Gewißheit der göttlichen Liebe“ verbindet sich mit der „Ewigkeitshoffnung“ (Ag, 102). Die „Hoffnung des kommenden Gottesreichs“ ist bei Jesus „etwas anderes […] als eine widerlegte Illusion“, sie ist „Ewigkeitsglaube“ (ChR II, 104). 365  WrCh, 172. 366  In diesem Sinne würde sich Martin Zerraths Anliegen, die Hoffnungsthematik an den Ewigkeitsglauben anzubinden (Zerrath: Vollendung, 267–269), bei Hirsch wiederfinden. 367  ChR II, 107. Hirsch übersetzt die ἀποκατάστασις πάντων neben „Wiedereinbringung aller“ (ebd.) mit Allerlösung, „Erlösung aller“ (GG, 125). Damit ist für ihn in dem Gedanken der endgültige Rettungsaspekt mit ausgesagt, der dessen Verbindung mit einer ewigen Wiederkehr ausschließt (vgl. Janowski, C.: Apokatastasis panton – Allerlösung. Indirekte Annäherungen an eine „Häresie“, in: Koslowski: Endangst, 233–267, hier: 196). 368  Schleiermacher , F.: Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Berlin/New York 2008, §  163, 491 f. [4387 f.]. 364 

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durch menschliche „Widerspannung“369 aushebeln, dann ist sie wohl doch nicht so unwiderstehlich und unbedingt wie vom christlichen Glauben eigentlich angenommen. Geht man von ihrer bedingungslosen, sich durchsetzenden Universalität aus, stehen das ‚einfache Vergehen‘ und noch mehr die annihilatio der Gottlosen im Widerspruch dazu. Hirsch nennt die ἀποκατάστασις in GG den aus dem Zuendedenken des Begriffes vom barmherzigen Gott resultierenden „letzte[n] und höchste[n] Gedanke[n] des Glaubens, aber eben als solcher niemals eine einfache Wahrheit, die das Gericht über meine Person aufzuheben vermag. Sie ist der letzte Zielbegriff, der nie in einem geistig durchdringenden Verstehen vollziehbar ist“370.

Ihren Möglichkeitscharakter verdeutlicht er damit, dass demgegenüber das Bild von der Hölle, wie er es als innerliche Verzweiflung des Gewissens bzw. als das von Gott scheidende Moment des Gerichts umdeutet, bestehen bleiben muss.371 Der Mensch soll sich also nicht der Gewissheit hingeben: Es werden ja sowieso alle erlöst, warum sollte ich mir also Sorgen machen? Das würde Hirsch zufolge weder der phänomenalen Sachlage in der Gefühls- und Glaubenswelt des Menschen, noch dem damit verbundenen antinomisch verfassten Gottesverhältnis entsprechen: „Das [die Spannung zwischen Gericht und Gnade, A.‑M. K.] drückt auf seine Weise trefflich aus der Gedanke Kierkegaards, daß der Christ die Seligkeit der andern im Gottesgedanken verbürgt hat, seine eigne aber nicht. Die Gewißheit der eigenen Seligkeit muß stets von neuem im Angesicht des heiligen Gottes, der da auch mir der Richter ist, neu erkämpft werden. (Anders ausgedrückt: Heilsgewißheit ist kein Besitz, auf den man sich schlafen legen könnte, sondern Frucht des Glaubens, der des am Schuldbewußtsein sich stets neu entzündenden Unglaubens stets aufs neue Herr werden muß.)“372

Gegen den Gedanken einer ἀποκατάστασις πάντων steht außerdem eine weitere Lebenserfahrung des Glaubenden: Das Faktum, dass einige dem Gott des Evangeliums willentlich widerstehen, scheint darauf hinzudeuten, dass Gottes Wille die Macht hat, den Glauben sowohl zu entzünden als auch zu verwehren.373 Die Frage nach dem Warum dessen bleibt allerdings an der Rätselhaftigkeit Gottes 369 

WrCh, 184. GG, 125. 371  ChR II, 107. 372  GG, 125, Anm.  18. 373  WGJ, 176: „Das Evangelium verkündet den Gott, welcher den Sünder zum Kinde begehrt und allen ohne Unterschied das ewige Reich auftut. Das Evangelium hinwiederum ist das Zeichen, dem sowohl von einem strengen gesetzhaften Bilde des Gottesverhältnisses her wie von der Stumpfheit erdgefangenen menschlichen Strebens und Genießens her widersprochen wird. Es wird ihm Unglaube, Unempfänglichkeit, ja auch Haß und Widerwille entgegengebracht. Es will für alle da sein. Aber nicht alle […] wollen vom Evangelium etwas wissen. […] Der Spruch [‚Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.‘, A.‑M. K.] sagt nur aus, was ist.“ 370 

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für den Menschen stehen und kann Hirsch zufolge nicht denkerisch, z. B. in Form der Prädestinationslehre, geklärt werden.374 Indem das Handeln Gottes am Menschen nicht eindeutig eingeordnet werden kann, bleibt auch kontrafaktisch zur Erfahrungswelt die Möglichkeit bestehen, dass Gott alle Menschen erlösen wird. Das stetige Zugleich von Glaube und Unglaube, die am Schuldbewusstsein aufbrechende Gerichtserfahrung und die Möglichkeit des Sterbens an Gott aus Unglauben bleiben trotz der Hoffnung auf eine ἀποκατάστασις πάντων bestehen. Diese würde allerdings ausschließen, sich damit zufriedenzugeben, dass Mitmenschen im Tod einfach vergehen oder gar vernichtet werden, während andere in die Ewigkeit eingehen. Gerade das ständige Zugleich von Glaube und Unglaube bei jedem Glaubenden sollte für Hirsch auf die Frage hinauslaufen: Wenn ich mir bewusst mache, dass auch mein Glaube der Gnade bedarf, „wie dürfte ich dann den redlichen Zweifler von Gottes Erbarmen ausschließen, welcher im Sterben bei dem seinem gefangenen Gewissen allein gegebnen Nein verharrt“375?

d)  Einordnung der verschiedenen Argumentationsfiguren Wie ist nun das Nebeneinander dieser unterschiedlichen Möglichkeiten vor dem Hintergrund der Frage zu bewerten, welche Bedeutung dem Wechselverhältnis zwischen Gott und Mensch für das Ergehen des Menschen nach dem Tod beizumessen ist? Es gibt m. E. dafür zwei Varianten, die erste besteht in einem werkgenetischen Zugang, die zweite geht von einem bewussten Nebeneinander beider Deutungen des Ausgangs des Menschen aus und damit sozusagen kanonisch vor. Werkgenetisch könnte die Verschiedenheit der Deutungen so eingeordnet werden, dass der Gedanke der ἀποκατάστασις πάντων in Hirschs Denken am Anfang stand, der Gedanke vom Vergehen der Gottlosen im Tode eine spätere Tendenz ist. Die argumentative Ausführung des Apokatastasisglaubens ist im Gesamtwerk Hirschs relativ früh, in GG (1922/23, unverändert wieder veröffentlicht 1931) zu verorten. In den Paragraphen des Lf taucht der Begriff gar nicht auf, hier könnte folgende Aussage in die Richtung verweisen, die dann in den Erläuterungen von 1938–1940 – aber lediglich in einer kurzen Anmerkung – auf den Begriff der ἀποκατάστασις πάντων gebracht wird 376: 374 

WGJ, 179. 179. 376  ChR II, 107: „Seit dem Pietismus (vor allem dem Ehepaar Petersen) ist die von Origenes gefundene Lehre von der Wiedereinbringung aller in der evangelischen Kirche weitgehend heimisch geworden. Man kann sie heut in der evangelischen Kirche vertreten, wenn man a) vorsichtig und tastend redet, b) nicht gegen die Höllenvorstellung eifert.“ 375  Zw,

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„Christlich bekommt die sonst immer wieder in der Negativität sich verfangende Ahnung oder Hoffnung alles menschlichen Seins, daß Gottes Liebe des Todes mächtig sein möge, in dem mit dem Glauben empfangnen Gottesverhältnis ihre Bewährung und Erfüllung.“377

Die hier bereits zu spürende Zurückhaltung speist sich m. E. aus den Bedenken, die Hirsch bereits in GG geäußert hat: Der Gedanke der ἀποκατάστασις πάντων scheint das Zugleich von Gericht und Gnade aufzuweichen, indem er die Erfahrung des Gerichts zu überspringen droht. Während er dieses Problem in GG zu lösen meint, indem er einen Unterschied ausmacht zwischen dem, was der Glaubende für sich (Gericht und Gnade) und was er für die Allgemeinheit (ἀποκατάστασις πάντων) annimmt, scheint er bereits 1960 in Zw davon Abstand zu nehmen. Für den modernen Menschen, der unter anderem die Vorstellung von der ἀποκατάστασις πάντων dem Gedanken der ewigen Verdammnis vorzieht, konstatiert er: „Der Mensch ist zu sich selbst und seinem eigenen Ernst entlassen. Rechnet er überhaupt noch mit einem Jenseits, so hofft oder meint er, ganz arg werde es schon für ihn nicht werden, und über einige vorübergehende Peinlichkeiten lasse sich doch wohl schlimmstenfalls auch hinwegkommen.“378

Hier bleibt er bei der Grenzaussage des Zusammenspiels von Gericht und Gnade für den Glaubenden stehen. Im WrCh (1963) formuliert Hirsch die Alternative „Leben aus Gott und Glaube“ und „Unglaube und Sterben an Gott“379 als Grenzaussage für den Gerichtsgedanken. Die Ernsthaftigkeit des Gerichtsgedankens wird aufgrund der auch für den Glaubenden bestehen bleibenden Alternative herausgekehrt. Hier geht die Tendenz – wie erörtert – eher in Richtung eines ‚doppelten Ausgangs‘ und einer annihilatio der Gottlosen durch Gott selbst.380 In den HchR, die im glei377 

ChR II, 105. Zw, 86. 379  WrCh, 185. 380  Darauf verweist zurecht Christine Janowski (Janowski: Allerlösung, 208–213), stellt aber die Hirsch’schen Aussagen nicht in den weiteren Rahmen seiner Theologie und beharrt deswegen auf einer dualistischen Interpretation des Hirsch’schen Gottesbildes, das sie als marcionitisch (a. a. O., 211) und die ihm korrespondierende menschliche Entscheidungshaltung als kryptokatholisch (a. a. O., 213) brandmarkt. An dieser Interpretation wird die ­Bri­sanz dessen deutlich, dass Hirsch seinen eigenen Voraussetzungen nicht immer treu bleibt. Gleichzeitig zeigt der hier gegebene Ansatz die Wichtigkeit auf, diese Äußerungen im Gesamtkontext seines Werkes zu verstehen. Janowski selbst verweist zwar ebenfalls auf den Apokata­ stasis-Gedanken bei Hirsch, macht diesen aber nicht – wie hier zu plausibilisieren versucht – an der Intention von GG fest, sondern daran, dass Hirsch dort „die Gegensätze stärker zusammendenkt“ (a. a. O., 207, Anm.  236). Diese These steht im Gegensatz zu der hier gegebenen Interpretation, dass Gericht und Gnade im benannten Aufsatz stärker auseinandergehalten werden als später (s. o., 142, Anm.  559). 378 

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chen Jahr erschienen sind (1963), und in WGJ (1969), entwickelt Hirsch parallel dazu die These vom Vergehen der Ungläubigen im Tod – womit er die „schlechthinnige[ ] Annihilation“ durch einen „schlechthinnigen Mortalismus“381 ersetzt. Diese widerspricht zwar in seinem Argumentationsgang der Liebe Gottes nicht – sie entspricht ihr sogar –, kann also nicht als Strafe gelesen, ist aber dennoch mit dem Gedanken der ἀποκατάστασις πάντων nicht vereinbar. Seine These bezeichnet Hirsch selbst als Transformation des traditionellen Gerichtsgedankens382 , dessen Entscheidungscharakter er offensichtlich deutlich herauskehren will. Die These, die aus einer werkgenetischen Einordnung abgeleitet ist, würde also lauten: Den Gedanken der ἀποκατάστασις πάντων, den Hirschs anfangs aus dem Gedanken vom Gott der Liebe ableitet, drängt er mit der Zeit zurück, um die Ernsthaftigkeit des Gerichtsgedankens zu betonen, die sich ebenfalls aus Gottes Liebe, die unerbittlich ist und in die Entscheidung stellt, ergibt. Die Liebe Gottes dient für beide Argumentationsfiguren als Kernpunkt, bei der einen wird aber eher deren Unbedingtheit betont, bei der anderen deren antinomische Verfasstheit in ihrem Zusammenspiel mit der Heiligkeit und Unerbittlichkeit Gottes. Daraus müsste eine zunehmende Bedeutung der Kategorie der Antinomie in Hirschs Denken gefolgert werden, die einhergeht mit der zunehmenden Begrenzung futurisch-eschatologischer Aussagen. Zudem müsste angenommen werden, dass Hirsch mit fortschreitender Zeitgeschichte den Menschen immer weniger ethische Ernsthaftigkeit zutraut, weil sie zugunsten eines Beharrens auf der Endlichkeit die Ewigkeitsbezogenheit aufgeben. Wie könnte man eine Entscheidung für die Option begründen, die von einem bewussten Nebeneinander beider Varianten ausgeht? Es müsste einerseits darüber nachgedacht werden, mit welcher Intention und vor welchem Publikum Hirsch seine Aussagen trifft. Es müsste andererseits geklärt werden, ob es für Hirschs Theologie denkbar ist, dass beide Konzepte, auch wenn sie miteinander unvereinbar sind, nebeneinanderstehen können. Der Aufsatz GG wurde zuerst veröffentlicht in der ZSTh, als Reaktion auf ein Kapitel aus Die letzten Dinge von Paul Althaus, wie Hirsch in der Vorbemerkung angibt. Hier ist also mit der Zielgruppe eines theologischen Fachpublikums zu rechnen, vor dem Hirsch theologische Grundannahmen bis ins Letzte durchdenken kann, ohne dass dabei die Gefahr der Ausmalung von unangemessenen Jenseitsbildern besteht. Zudem folgt er mit seinem Gedankengang dem von Althaus, indem er die von jenem 381  A. a. O., 524, Anm.  74. An der zeitgleichen Erscheinung der Schriften ist ersichtlich, dass zumindest für das Nebeneinanderstehen des annihilatio-Gedankens und der These vom ‚einfachen Vergehen‘ eine werkgeschichtliche Erklärung, wie Janowski sie vorzuschlagen scheint, nicht greift. 382  HchR, 302.

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aufgemachte Alternative zwischen doppeltem Ausgang und ἀποκατάστασις aufnimmt, die auch für jenen in bleibender Spannung und jenseits von Theoriebildung steht. Der Gedanke der ἀποκατάστασις tritt hier also nicht unmittelbar aus dem eigenen theologischen Gedankengang Hirschs heraus auf, sondern wird in Anlehnung und Reaktion auf einen anderen aufgenommen.383 Eine zweite Erwähnung des Apokatastasisgedankens ist in den Ergänzungen zum Lf ausgemacht worden. Der Lf beinhaltet Leitparagraphen für Vorlesungen, in denen sicher auch über die stichpunktartigen Erläuterungen hinaus Gedanken ausgebaut wurden. Das Publikum war ein studentisches, vielleicht kam in der Vorlesung die Frage nach der Vertretbarkeit des Apokatastasisgedankens auf, deren Beantwortung dann in den Erläuterungen aufgenommen wurde. Abstand nimmt Hirsch von dem Apokatastasisgedanken, wie erläutert, in Zw. Diese erbauliche Schrift richtet sich an den Kreis von Laien, die mit der christlichen Tradition aufgewachsen sind und die zum rechten Gebrauch theologischer Konzeptionen, die bei ihnen Unsicherheit aufkommen lassen, angeleitet und auf den Kern des Glaubens verwiesen werden sollen. Dafür fährt Hirsch mithilfe von Luther, Paulus und liturgisch-hymnischem Traditionsgut die Theologie auf die Grundaussagen zurück, die dann im selbstverantworteten Glauben gefüllt werden können. Dass zu solchen Grundaussagen weder der Gedanke vom Vergehen der Gottlosen noch die Vorstellung von der ἀποκατάστασις πάντων gehören, macht Hirsch deutlich, indem er auf seine Aufzählung der verschiedenen Ersatzbildungen für den traditionellen Gerichtsgedanken nicht mit der Entscheidung für eine Option reagiert, sondern sich eben auf die Grundaussage des Gerichtsgedankens zurückbesinnt. Das WrCh, in dem Hirsch die Ernsthaftigkeit des Gerichtsgedankens herauskehrt und zum Gedanken eines doppelten Ausgangs tendiert, richtet sich an die Vertreter eines humanistischen Bildungsprotestantismus und Verfechter der Einheitsökumene. In der Vorlesung Tod und Ewigkeit ist Hirschs vorrangiges Anliegen die Abgrenzung gegen die römisch-katholische Fegefeuerlehre, die 383  Inwiefern Hirsch hier anders pointiert als A lthaus, müsste im Einzelnen herausgearbeitet werden. Deutlich wird auf den ersten Blick, dass Hirsch sich gegen die A lthaus’sche Differenzierung des Gerichts nach Gesinnung, Werken und Resultat des Lebens wendet (A lthaus, P.: Die letzten Dinge. Entwurf einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 1926, 102–107) und dagegen das Gericht nach der Person setzt. Während A lthaus die Alternative zwischen ἀποκατάστασις und doppeltem Ausgang sowohl im eigenen Gewissen als auch in der Sorge um den anderen verankert sieht (a. a. O., 118 f.), ordnet Hirsch die beiden Konzepte jeweils einer der Perspektiven zu. Hier könnte das Anliegen vermutet werden, dass der Glaubende nicht versucht sein soll, an den anderen einen Maßstab anzulegen – stattdessen nimmt er für diesen die ἀποκατάστασις πάντων an –, dass er andererseits nicht versucht sein soll, sich selbst zurückzulehnen – deswegen bleibt für ihn der doppelte Ausgang ohne die Option der ἀποκατάστασις πάντων bestehen.

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mit der Betonung des entscheidungshaften Charakters des Gerichts und der Begrenztheit futurisch-eschatologischer Aussagen einhergeht. Dem setzt er seine Transformation des Gedankens der Verdammnis entgegen, die entsprechend des christlichen Publikums aus der Glaubenswirklichkeit heraus argumentiert und deswegen zur These von der annihilatio der Gottlosen kommt. In den HchR entwickelt Hirsch pointiert die davon vor allem durch die Frage nach dem Handeln Gottes unterschiedene These vom ‚einfachen Vergehen‘ der Gottlosen im Tod, die vor allem vor dem Hintergrund seines ‚allgemein-menschlichen‘ Publikums zu verstehen ist, das eben nicht davon ausgeht, dass der Tod Gottesbegegnung ist. Er richtet sich mit den religionsphilosophischen Briefen an die Gebildeten unter den Verächtern des Christentums und macht das Christentum über die unmittelbare Relevanz des Ewigkeitsbezugs des Menschen plausibel, der im christlichen Glauben auf angemessene Weise zur Ewigkeitsgewissheit verwandelt wird. Die letzten Konsequenzen eines Verzichts auf den Ewigkeitsgedanken werden dafür an unterschiedlichen Stellen vor Augen gemalt, so auch die letzte Konsequenz des Gerichtsgedankens. Die Vorstellung der ἀποκατάστασις πάντων würde hier diese Form von Radikalität unterwandern, indem sie Gefahr läuft, eine indifferente Haltung des Menschen zu fördern: Wenn alle in Gottes Ewigkeit eingehen, dann ist ihre Haltung im Leben zu Gott und Ewigkeit bedeutungslos. In WGJ, in der Hirsch dieselbe These vertritt, gibt er seine Motivation in doppelter Hinsicht an: Zum einen will er plausibel machen, auf welches Wort Jesu der Gedanke der doppelten Prädestination zurückzuführen ist, den er allerdings zumindest lehrmäßig ausräumt und stattdessen den Leser vor die Rätselhaftigkeit Gottes stellt. Zum anderen kritisiert er Tendenzen von Theologie und Kirche, die seiner Meinung nach die gesellschaftliche Utopie eines universalen Reiches Gottes auf Erden unter der Königsherrschaft Christi, des universalen Erlösers, fördern. Darüber vergessen sie einerseits das Kreuz Jesu und das Scheitern seiner Botschaft an den Gott Widerstreitenden.384 Andererseits ist, so Hirsch, eine Form der Herrschaft Christi, die über die Innerlichkeit hinausgeht und ihn als „Herrn der Kirche und Herrn der Welt“ versteht, der „Logik der Gesetzesreligion“ verfallen.385 Ziel ist es hier also, im Gegenüber vom unangemessen gefassten Gedanken einer universalen Erlösung die Möglichkeit des doppelten Ausgangs vor Augen zu stellen, wobei jeder Spekulation über die Rolle Gottes vorgebeugt werden soll, und Lehren, die über die Innerlichkeit des Glaubens hinausgehen, einen Riegel vorzuschieben. Dieser Durchgang zeigt, dass es durchaus möglich ist, Hirschs Entscheidung für das eine oder das andere Konzept oder für gar keines von beiden an der 384  WGJ, 385 

174–182. ChR II, 44. Vgl. ChR I, 63.

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Aussageintention hinsichtlich des Adressatenkreises festzumachen. Der Gedanke der ἀποκατάστασις πάντων wie die These vom Vergehen bzw. der annihilatio der Gottlosen zeigen sich hier als letzte Konsequenzen theologischen Denkens in die eine oder die andere Richtung. Wo Hirsch sich genötigt sieht, so weit zu gehen, entscheidet er sich für eine Option. Die Gedankenfigur vom Vergehen der Gottlosen bezeichnet er selbst ausdrücklich als „Versuch, den alten Glauben an ein göttliches Gericht und eine jenseitige Strafe in seiner Gegenständlichkeit aufzulösen und allein eine Rune des Todes hinzustellen, welche je nach des Einzelnen Art und Sinn im Glauben oder Unglauben gelesen wird“386. Für die ἀποκατάστασις πάντων gibt er an, dass sie „nie in einem geistig durchdringenden Verstehen vollziehbar ist“387; den argumentativen Kontext dieses von ihm formulierten Gedankens, den gesamten Aufsatz GG, bezeichnet er als „Versuch theologischer Spekulation“388. Die Grundaussage, die sich durch alle hier betrachteten Schriften Hirschs zieht, ist die der Begrenztheit eschatologischer Sprache und menschlicher Einsicht in die Gestalt der Vollendung. Alles, was über die von Hirsch formulierten Grenzaussagen des Zugleichs von Gericht und Gnade hinausgeht, muss dementsprechend als ein Denkversuch gewertet werden, über dessen Uneigentlichkeit sich der Theologe bewusst sein muss. Dementsprechend kann es auch nicht möglich sein, sich für eine Option zu entscheiden. So wie der Glaubende sich in Antinomien wiederfindet, so bleibt auch das Zugleich der Möglichkeiten des menschlichen Ausgangs bestehen. Von daher, dass menschlicher Glaube sich bei Hirsch unter zeitlichen Bedingungen immer in der Einheit von Glaube und Unglaube vollzieht, dass der Glaube bereits im Unglauben angelegt ist und dass der Glaube selbst erst im Tod vollendet werden wird, könnte die starke Differenz, die er zugunsten seines Argumentationsziels in HchR und WGJ zwischen Glaube und Unglaube aufmacht, etwas zurückgenommen werden. Wo die alles entscheidende Bejahung von Gottes Liebe ihren Ort hat, wie ausdrücklich sie ist, inwiefern sie an den Gott des Evangeliums gebunden ist, das bleibt dem Menschen Hirsch zufolge verborgen. Auch wenn der Zielbegriff der ἀποκατάστασις πάντων in transzendentaltheologischer Reflexion aus dem Gedanken der Liebe Gottes resultiert, so bleiben die Ahnung des Unglaubens und die Gewissheit des Glaubens unter die Antinomie gebunden. Die Angst, dass die Heiligkeit Gottes, die der Unheiligkeit des Menschen entgegensteht, doch die Vernichtung des Menschen bedeutet, bleibt. So ist mit dem Gedanken der ἀποκατάστασις πάντων immer der Gedanke des doppelten Ausgangs mitgesetzt. 386 

HchR, 302; Herv. A.‑M. K. GG, 125. 388  GG, 103; Herv. A.‑M. K. 387 

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e)  Résumé: Der bedingte Zusammenhang von Tod und Sünde Die evolutionsbiologische Deutung des Todes als naturgesetzliches Ereignis ist für Hirsch unabweisbar die erste festzustellende und allgemein einsehbare. Durch die theologische Interpretation des Todesereignisses als Gottesbegegnung bekommt dieses einen Bedeutungszuschuss, der zutage tritt, wenn man nach der Relevanz der Gottesbeziehung für den Tod fragt. Traditionell und auch bei Hirsch antwortet der Gerichtsgedanke auf diese Frage. Den traditionellen Glauben an eine mit der Vorstellung des doppelten Ausgangs des Gerichts verbundene ewige Verdammnis transformiert Hirsch in zwei Grenzaussagen: das Zugleich von Gericht und Gnade und die auch für den Glaubenden bestehen bleibende Alternative zwischen Sterben an Gott und Leben aus Gott. Darüber hinausgehend ist bei Hirsch die Argumentation sowohl für das ‚einfache Vergehen‘ bzw. die annihilatio der Gottlosen als auch für die ἀποκατάστασις πάντων zu finden. Was der Tod des Gottlosen bedeutet, ist als Perspektivfrage bestimmt worden: Für den Gottlosen ist er gemäß dem Naturgesetz eintretender Tod, keine Strafe Gottes, für den, der den Tod als Gottesbegegnung deutet, ist er auch keine Strafe, aber Schreckensbild des Sterbens an Gott, der Vernichtung durch Gott. Letztere Deutung des Todes ist m. E. aufgrund der Relevanz des Geschicks des Anderen für den Glaubenden mit dem Apokatastasisgedanken unvereinbar. Diesen kann Hirsch allerdings nur in Verbindung mit der Vorstellung vom doppelten Ausgang verstehen, weswegen Vollendungsgewissheit und Angst vor dem Schreckensbild auch für den Glaubenden nebeneinander stehen. In anthropologischer Hinsicht wird mit dem Gedanken der ἀποκατάστασις πάντων mehr die Passivität des Menschen gegenüber dem göttlichen Heilszuspruch betont389, mit der annihilatio mehr die endliche Freiheit des Menschen. Annihilatio wie ἀποκατάστασις πάντων wurden als Extremfälle theologischer Argumentation bestimmt. Das hat auch Einfluss auf die Frage, wie das Nebeneinander beider Konzepte aus Hirschs Denken zu begründen ist. Ein werkgenetischer Zugang zeigte u. a. die Möglichkeit einer zunehmenden Zurückhaltung Hirschs gegenüber dem Apokatastasisgedanken zugunsten des Gerichtsernstes auf. Das bewusste Nebeneinander beider Konzepte kann mit Hirschs methodischer Selbstbegrenzung und aus der antinomischen Verfasstheit der Verwirklichungsgestalt des Glaubens begründet werden. Da dieser Zugang innerhalb der theologischen Konzeption Hirschs plausibel ist und er sich nicht explizit gegen seine früheren Aussagen abgrenzt, ist m. E. für ihn zu optieren. 389  So besonders Rosenau: Allversöhnung mit seinem Programmbegriff der ‚soteriologischen Ohnmacht‘.

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An dem spannungsreichen Nebeneinander verschiedener Schlussfolgerungen aus der Deutung des Todes als Gottesbegegnung wird ersichtlich, dass das Weiterdenken des Theologen über die Antinomie hinaus nur schwerlich auf klare Antworten kommen kann. Die Doppeldeutigkeit auch der Gottesbegegnung im Tod führt die letztliche Unbegreiflichkeit des Todes vor Augen, dem man sich denkerisch nur annähern kann. In der Perspektive des christlichen Glaubens selbst liegt die bleibende Deutungspluralität im Blick auf den Tod begründet, die neben den mittels analytischer Kategorisierung herausgestellten Möglichkeiten eine Bandbreite individueller Konzeptionen bereithält. Die christliche Deutung des Todes erweist sich damit als den Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten des Lebens angemessen. Von der Mehrdeutigkeit des Todes her soll nun nochmals die Frage beantwortet werden, ob der Tod bei Hirsch der Sünde Sold ist. Diese Frage kann nur an jedem Todesverständnis, das sich hier aufgetan hat, einzeln beantwortet werden. Insgesamt muss gesagt werden: Da man mit Hirsch offensichtlich nicht von dem Tod sprechen kann, ist der Satz, dass der Tod der Sünde Sold sei, falsch. Geht man die einzelnen Deutungen durch, so gilt: Der kreatürliche Tod, den alle Lebewesen sterben, ist nicht der Sünde Sold. Der Tod der Gottesbegegnung ist nicht der Sünde Sold im Sinne der Strafe für die Sünde. Er ist aber insofern mit der Sünde verbunden, als an ihm der Gegensatz zwischen Gottes Heiligkeit und des Menschen Unheiligkeit offenbar wird. Dieser Ernst, den der Tod hat, führt dann dazu, dass der Mensch Gefahr läuft, den Tod in seiner Sünde verhaftet als das wahrzunehmen, was er nicht ist: von Gott als Strafe verhängt. Außerdem wurden die Extremreaktionen der Flucht vor dem Tod und der resignativen Flucht in den Tod in die Kategorie sündigen Verhaltens eingeordnet, erstere verbunden mit sündiger Selbstbehauptung, zweitere gelähmt durch die sündige Angst. Eine vom Glauben her aufgemachte Bedeutung des Todes ist also die, dass die Sünde das negative Todesverständnis täglich ‚füttert‘.390 Weiterhin kann der Tod in seiner Bedeutung als aus der Gottesbegegnung resultierende Vernichtung der Gottlosen aus der Perspektive des Glaubens sehr wohl als der Sünde Sold bezeichnet werden. Ist es doch die Gottlosigkeit, die reine Sünde, die diesen Tod nach sich zieht. Wie festgestellt, ist dieser Tod jedoch Extremfall 390 

Eine exegetische Anmerkung: Das ὀψώνιον (Röm 623) kann sowohl im Sinne von ‚Entgelt‘, gemeint sein, als auch im Sinne von einer ständigen Zahlung übersetzt werden. Hält man an dieser Übersetzung und Interpretation fest, so bezeichnet θάνατος in diesem Vers nicht nur den Tod als das zeitliche Ende des Lebens, sondern ebenso das Phänomen, dass ein falsches Todesverständnis das sündige Leben selbst beeinflusst, also der Sündentod sich schon im Leben abbildet. Die Sünde zahlt ständig mit dem von Gott trennenden Tod, Gott hingegen schenkt das Leben als Gnadengabe (vgl. Heidland, H.‑W.: Art. ὀψώνιον, in: ThWNT 5, Stuttgart 1954, 591 f.).

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theologischer Argumentation wie auch menschlichen Verhaltens gegenüber Gott und Ewigkeit und lediglich eine Option des Ergehens des Menschen nach dem Tod neben der der ἀποκατάστασις πάντων. Beide Gedanken bringen den Erlebnisgehalt des Glaubens gleichermaßen zum Ausdruck: Die Möglichkeit des Vergehens im Tod stellt den Ernst der Gottesbeziehung und die damit verbundenen Anfechtungserfahrungen in Form der Angst des Menschen vor seinem Ausgang vor Augen – der Gedanke wird entwickelt aus der Selbstperspektive des Menschen auf sein Leben, jede Vergegenständlichung in Form der selbstgerechten Spekulation über das Schicksal der Anderen ist mit Hirsch abzuweisen. Durch seine Integration wird die theologische Reflexion der Ambivalenz der Lebens- und Glaubenserfahrung gerecht. Die Hoffnung auf die ἀποκατάστασις πάντων bringt die Sehnsucht nach der Verwirklichung der all­ um­fassenden Liebe Gottes, die den Nächsten mit einschließt, zum Ausdruck. Jede Vergegenständlichung in Form der Sicherheit über den eigenen positiven Ausgang ist mit Hirsch abzuweisen.

6.D  Résumé: Die menschliche Sehnsucht nach dem Leben Eine Grundvoraussetzung des theologischen Nachdenkens über den Tod ist bei Hirsch der Satz, dass Gott im Leben und im Tod das Leben ist, das nur das Gute kennt – der wohlweislich als Postulat der endlichen Vernunft angenommen werden kann, aber erst in der Glaubenserkenntnis zugeeignet wird. Daraus resultiert ein mehrfacher Gegensatz zwischen dem menschlichen Begriff vom Leben bzw. Dasein und dem Leben Gottes. Erstens liegt dieser in ihrem jeweiligen Verhältnis zum Tod: Das eine steht im Gegensatz zum Tod, das andere nimmt den Tod in sich auf. Zweitens liegt er im Verhältnis zum Bösen: Das eine ist durch den Widerstreit von Gut und Böse geprägt, das andere ist nur gut. Drittens stehen menschliches Dasein und göttliches Leben im Gegensatz von Unheiligkeit und Heiligkeit. Aus der Perspektive des Menschen ist der Tod als böse Macht dem (menschlichen) Leben entgegengesetzt. Folglich kann es selbst nur im Gegensatz zum göttlichen Leben stehen, das den menschlichen Tod zu seiner Bedingung hat und dem uneigentlichen menschlichen Leben als das wahre Leben gegenübersteht. – Es ist zweifelhaft, ob es das nach menschlichem Maßstab Gute, nämlich menschliches Leben erhalten, will oder Tod und Vernichtung, ob es nicht mit dem Anspruch, allein als Leben bezeichnet werden zu können, dem menschlichen Leben seinen Wert entzieht. Aus diesem Gegensatz ist die Gerichtsdimension der Gottesbegegnung im Tod begründet: Der Tod offenbart Getrenntheit von Gott.

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Dass dieser Satz nicht das letzte Wort über den Tod ist, wird von einer erweiterten Bestimmung des Lebensbegriffs her ersichtlich. Gottes und des Menschen Leben stehen nicht nur im Gegensatz zueinander, sondern sind so miteinander verbunden, dass das menschliche Leben in Gottes Leben gegründet ist, dass das göttliche Leben die Tiefendimension des diesseitigen Lebens ist. Letzteres empfängt seinen unverbrüchlichen Wert aus seiner Gottesbeziehung. Indem es auf diese Weise einen bleibenden Sinn außerhalb seiner selbst hat, wird der Tod nicht mehr als Gefährdung des Lebens begriffen. Im Gegenteil, er erweist sich als Durchgang zum wahren Leben. Gott wird als der erfahren, der in seinem Schöpfersein tötet und lebendig macht, der durch den Tod hindurch Leben schafft – Tod und Leben werden im Gottesbegriff selbst zu einer Spannungseinheit gebracht. Gleichzeitig bleibt die Negativität des Todes in doppelter Hinsicht bestehen. Sie ergibt sich aus den verschiedenen Perspektiven der naturwissenschaftlichen bzw. allgemein-menschlichen und der glaubensmäßigen Betrachtung; die eine versteht den Tod als Ende des menschlichen Lebens, die andere erfährt ihn als Gottesbegegnung. Als Ende des endlichen Lebens muss der Tod in ethischer Hinsicht als dessen Widerpart verstanden werden, den es um der menschlichgeschichtlichen Gemeinschaft willen zu bekämpfen gilt. Als menschliche Ohnmachtserfahrung verweist er auf die herausfordernde Seite der Gottesbeziehung: Der Mensch muss erst auf seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gott verwiesen werden, um sein in Gott gegründetes freiheitliches Wesen entfalten zu können. Die Gefahr, bei der ersten Seite dieser Erfahrung stehen zu bleiben, hat ihren Grund in der stetigen Anfechtung, die angesichts der Faktizität des Todes und des Bösen im Zweifel daran besteht, ob Gott wirklich ein Gott der Liebe ist, der das Leben des Menschen will. Der Tod ist auch aus christlicher Perspektive immer in die Doppeldeutigkeit zwischen Nichts bzw. Vernichtung und Durchgang zum Leben gespannt. Diese Doppeldeutigkeit birgt – solange sie nicht von der Ewigkeitsgewissheit des Menschen getragen ist – die Gefahr, auf eine ihrer Seiten reduziert zu werden: Der Tod droht entweder mit Nichtigkeit oder verlockt durch eine mit ihm ausstehende jenseitige Überhöhung des menschlichen Lebens. Ohne die Bewährung menschlicher Sehnsucht nach Vollendung durch die Ewigkeitsgewissheit bleibt das Verhältnis des Menschen zu seinem Tod aus theologischer Per­ spektive in einer gesetzhaften Verstrickung in den sündigen Lebensvollzug gefangen, der durch todesähnliche Erfahrungen angestachelt wird. Das Leben in Unheiligkeit und Sündigkeit, das sich sowohl in der direkten Gottesbeziehung als auch vermittelt in der Sphäre des menschlichen Miteinanders niederschlägt, ist nach Hirsch der Tod selbst bzw. wie der Tod. Erfahrungen des Selbstverlusts, der Sinnlosigkeit, der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens, des Verlusts ge-

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liebter Menschen verweisen auf den Charakter des Todes als Drohung des Nichts. Tod und Sünde hängen für Hirsch vor diesem Hintergrund in zweifacher Weise zusammen: Zum einen stehen sie in einem partiellen Gleichsetzungsverhältnis – die Sünde ist Erfahrung der Nichtigkeit und damit wie der mit Vernichtung drohende Tod –, zum anderen führt der sündige Selbstbehauptungsdrang des Menschen zu einem falschen Umgang mit Tod und Leben. Dieser äußert sich entweder in übermäßiger Aktivität im Kampf gegen den Tod – Hirsch verwendet hierfür den Begriff der Lebensgier, die auf die Sicherung menschlichen Daseins unter Zuhilfenahme verschiedener Mittel ausgerichtet ist. Oder der falsche Umgang äußert sich in übermäßiger Passivität dem Todesschicksal gegenüber, Resignation – Hirsch verwendet hierfür den Begriff der Lebensangst, die das Leben des Menschen dominiert. In beiden Fällen wird die dialektische Einheit von Angst und Sehnsucht auf eine ihrer Seiten verlagert. Entweder die Erfüllung der Sehnsucht nach Leben wird von sich selbst aus zu realisieren versucht bzw. die Sehnsüchte selbst sind höchst egoistisch und haben sich gegenüber dem Gottesverhältnis verselbstständigt – sie zielen nicht auf ein Leben mit Gott, das die Abhängigkeit des Menschen von Gott einschließt. Oder die Angst hat die Perspektive der Sehnsucht verloren und treibt in den Verzicht auf die Selbstwerdung des Menschen. Die Drohung des Todes mit Nichtigkeit wird aus christlicher Perspektive mit dem Gedanken des doppelten Ausgangs auf die Deutung des Todes am Lebensende übertragen, der neben der Möglichkeit eines ewigen Lebens immer – auch und gerade für den Glaubenden – die Möglichkeit der Vernichtung einschließt. Inwiefern diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird, muss offen bleiben. Daher kann die Frage, was mit denen passiert, die sich ihrer religiösen Anlage, der Ewigkeitsdimension ihres Lebens, völlig verweigern, nicht abschließend geklärt werden. Derartige Versuche führen entweder in eine Unterbestimmung des Verhältnisses von Liebe und Allmacht Gottes und eine Überbewertung der endlichen Freiheit – wie im Falle des ‚einfachen Vergehens‘ bzw. der annihilatio der Gottlosen. Oder sie führen dazu, die Bedeutung des Gottesverhältnisses für das menschliche Leben zu unterwandern – so die Tendenz des Gedankens der ἀποκατάστασις πάντων. Dennoch bleibt aus der Perspektive des christlichen Glaubens für alle Menschen die Hoffnung bestehen, dass sich die gnadenhafte Seite des Todesgeschicks, die das Gericht nicht als Festlegung auf die Nichtigkeit des Lebens, sondern als Verwandlung zu vollendetem Leben erweist, durchsetzen wird. Diese Hoffnung wird durch die Negativerfahrungen des Lebens immer wieder angefochten. Die gesetzhafte und gerichtliche Seite des Todes, durch die der Tod Macht über das menschliche Leben gewinnt, kann allein durch die Offenbarung

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des Evangeliums und die Erfahrung der Gnade Gottes überwunden werden. Die menschliche Sehnsucht nach Vollendung drängt auf ihre Erfüllung – darauf, zur Ewigkeitsgewissheit zu werden.

7  Die „Nacht, welche alles Lichtes Fülle ist“: Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein Ihren Grund hat die menschliche Ewigkeitsgewissheit aus der Perspektive des christlichen Glaubens in der Person Jesu. Die Gleichzeitigkeit des Glaubenden mit Leben und Tod Jesu legt das Gericht des Todes als Weg zu Gott offen: „Sterben heißt Gott begegnen und von ihm ein Urteil über Leben und Tod empfangen. Der Verborgene und Ewige aber, der uns im Sterben ewig zu Leben oder Tod wird, er ist das Heilige, Gute, Wahre, Reine selber. Die Seele müßte in der Begegnung mit ihm in Scham und Schuld vergehen, zu Asche und Staub und Nichts verglühen, wenn nicht eben dieser Ewige und Verborgene als Christusliebe unserm Herzen aufginge und uns so durch das Sterben hindurch in das Geheimnis der Wahrheit, Freiheit und Heiligkeit hineintrüge. Jesus als der Offenbarer des Gottes der Wahrheit, Freiheit und Liebe ist die Gottesmacht, welche im Sterben den, der ihm sich gibt, heimlich und vielleicht sogar unerkannt umhüllt und hält. Dergestalt werden wir von Gottes Liebe, die in ihrem uns faßlichen Bilde uns nahe ist, durch das Feuer des Gerichts und Todes hindurchgetragen hinein in die unser harrende Gemeinschaft mit dem Leben Gottes. Es gehört nichts dazu, als daß er im Bilde dieser Liebe uns den Mut schenkt, den einsamen Weg durch Tod und Gericht hindurchzugehen.“391

Verschiedene Aspekte eines christlichen Todesverständnisses werden an diesem Zitat, das auf die anschließenden Erläuterungen hinführen soll, deutlich: Die Jesusbegegnung eröffnet bei Hirsch eine Sicht auf den Tod, mit der dessen Bedeutung als Gottgeschiedenheit und Nichts überwunden wird. In Jesu eigenem Verhältnis zum Tod wird offengelegt: Der Tod ist Durchgang zur Gemeinschaft mit Gott, zu einem Leben in „Wahrheit, Freiheit und Heiligkeit“, die als Aspekte des Lebens Gottes selbst bezeichnet werden können. Die neue Bedeutung des Todes hat die alte überwunden. Sie bleibt dennoch im Status des Geheimnisses, es ist allein als (uneigentliches) Bild „uns faßlich[ ]“. Die Liebe Gottes ist nur zu erfahren als verborgene. Ihre Verborgenheit kann so sehr gesteigert sein, dass sie „vielleicht sogar unerkannt“ bleibt. Das ist m. E. so zu verstehen, dass selbst wenn ein Mensch nicht mit der Glaubenserkenntnis in Form von Ewigkeits- und Liebesgewissheit beseelt ist, der Christenmensch sich im Sinne des Apokatastasisgedankens dennoch dessen gewiss ist, dass die Gottesliebe auch hier die durch den Tod tragende Macht ist. Die Minimalbedin391 

HchR, 299; Herv. A.‑M. K.

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gung, dass dieser Mensch „sich [Jesus] gibt“, muss dann im Sinne einer unbewussten Hingabe an Jesus verstanden werden: Der Mensch hat eingesehen, dass er sich nicht in sich selbst gründen kann, kann jedoch nicht auf die Erfahrung zurückgreifen, über Jesus in Gott gegründet zu sein. Er ist über sich selbst und über Gott im Ungewissen. Auch für den Glaubenden ist der Tod nicht verharmlost, sondern bleibt gezeichnet durch die Einsamkeit des Menschen in der Gerichtserfahrung, in der die zerstörende Kraft des Todes eine Option gegenüber dem Hindurchgetragenwerden kraft der Liebe Gottes bleibt. Die christliche Einstellung gegenüber dem Tod ist der Mut zum Sterben auch angesichts der für den Glaubenden bleibenden Doppeldeutigkeit des Todes. Sie wird von Jesu Verhältnis zu seinem Tod her entfaltet, das im Versöhnungsgeschehen dem Glaubenden selbst zuteil wird (7.A). Die von Hirsch entwickelte ideale Einstellung zum Tod erweist sich als das Verhältnis des Glaubenden zum Tod und zum Leben, der von der Gewissheit getragen ist, im Tod vollendet zu werden (7.B).

7.A  Der Tod Jesu: Hingabe an Gott und Mensch Jesus ist bei Hirsch wesentlich als „der Gekreuzigte“ charakterisiert.392 Die christologischen Hoheitstitel, die Hirsch neu auslegt, sind strikt von der Titulierung Jesu als des Gekreuzigten her verstanden. Dementsprechend stehen Kreuz und Tod Jesu im Mittelpunkt seiner christologischen Betrachtungen. Durch die Verbindung des Kreuzes mit der christologischen Schlüsselkategorie des Herrennamens wird Jesus von Hirsch als „Herr über Leben und Tod“ bezeichnet. Die Herleitung der Voraussetzungen dieser Bezeichnung soll zuerst grob analysiert werden (a). Anschließend wird näher erläutert, wie Jesu eigenes Verhältnis zum Tod aufzeigt, dass er Herr über Leben und Tod ist (b). Davon ausgehend wird dann die Art und Weise herausgearbeitet, wie Jesus Hirsch zufolge dieses Verhältnis im Versöhnungsgeschehen den an ihn Glaubenden vermittelt (c). Abschließend soll ein Blick darauf geworfen werden, was es für die Auferstehung bedeutet, wenn das Kreuz derart in den Mittelpunkt der theologischen Aussagen gerückt wird (d).

392  Das wird besonders deutlich an den Überschriften zu den jeweils mittleren Paragraphen in den soteriologischen Kapiteln der ChR, die lauten: §74 Offenbarung als Gesetz und Evangelium (Jesus der Gekreuzigte: der Sohn Gottes), §77 Gericht und Gnade (Jesus der Gekreuzigte: der Menschensohn), §80 Tod und Leben (Jesus der Gekreuzigte: der Herr).

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

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a)  Jesus als Herr über Leben und Tod Das Eigentümliche am Tod Jesu lässt sich erhellen von dem Unterschied seiner glaubenden Einstellung zum Tod zu der des Sünders her. Die Alternativen zu den oben benannten sündigen Einstellungen zum Tod in Form von Lebensgier und Lebensangst werden Hirsch zufolge gemeinhin in der „innere[n] Herrschaft über den Tod“ und in der „Freiheit von der Todesfurcht“ gesehen.393 Diese gründen allerdings, so Hirsch, nicht in der christlichen Ewigkeitsgewissheit, sondern können schlicht aus fehlender innerer Selbstachtung in Form von Resignation gegenüber dem Todesschicksal oder aber aus Liebe und Ehrbewusstsein in Form von Tapferkeit erwachsen. Züge dieser allgemein menschlichen Einstellung finden sich auch bei Jesus, kennzeichnen ihn in seinem Verhältnis zum Tod also zuerst als besonderen, aber noch nicht exemplarischen Menschen. Von dorther wird außerdem nicht deutlich, inwiefern Jesus mit seiner Einstellung zum Tod zum Urbild des Glaubens werden kann, was die ihm eigentümliche Vollmacht begründet. Dass Jesus des Todes Herr werden kann, wird an seiner besonderen Einstellung zum Tod deutlich, es ist aber noch nicht ausgesagt, auf welche Weise Jesus Herr des Lebens sein kann.394 Das Proprium des Todes Jesu ist, so Hirsch, nicht die fehlende Todesfurcht, die sich bei vielen in einer den Tod letztlich nicht ernst nehmenden Gelassenheit gegenüber dem Tod ausdrückt. Er geht eben nicht „selbstverständlich, ohne Zucken“395 in den Tod, sondern sein Verhältnis zum Tod ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Er erlebt seine letzten Stunden als „religiösen Kampf“, in dem er Sterben und Tod, die das menschliche Sein grundsätzlich in Frage stellen, einen neuen Sinn abringt.396 Jesus wird zum Herrn des Lebens, indem er erstens der herkömmlichen Bedeutung des Todes als Vernichtung und Ende eine neue entgegensetzt, in der der Tod zum Leben wird397 – darin ist er exemplarisch –, und indem er zweitens den entsprechenden Glauben im Menschen entzündet – darin erweist sich seine besondere Vollmacht.398 Die Gleichzeitigkeit mit Jesus im Glauben schafft bei Hirsch die Bedingungen der Realisierung des neuen Verständnisses von Tod und Leben. Jesu Leben und Sterben liefert zwei Voraussetzungen für die Aneignung der darin gesche393 

Zw, 282. Zw, 283. 395  ChR II, 44 396  Ebd.: „Er ringt dem Widerspruch und dem Grauen der Widerlegung seines Sohnesbewußtseins die Möglichkeit ab, als des Vaters Sohn, in Vollendung seiner Sendung, in den Tod zu gehn. […] Bei Jesus […] ist der letzte Sinn des menschlichen Seins vor Gott durch den Tod berührt und muß dem Tode gegenüber, im Sterben neu gewonnen werden.“ 397  Zw, 284. 398  Zw, 286. 394 

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henden Neuschöpfung. Einmal ist es notwendig, dass die Berufung, die die Koppelung des Gegensatzes von Gut und Böse mit dem von Leben und Tod überwindet, menschlich überhaupt möglich ist. Jesus ist für Hirsch die menschliche Gestalt, die es geschafft hat, im beschriebenen Sinne ganz aus und in Gott zu leben – also den Tod nicht in den Gegensatz zum Leben zu stellen – und dennoch das geschichtliche Dasein wertzuschätzen – also den Tod nicht zu verherrlichen.399 Diese Möglichkeit ist bei Jesus eröffnet durch die Bejahung von „Anfechtung und Tod“400 als integralen Bestandteilen menschlichen Lebens, das von Gott kommt, in Gott gegründet ist und sich nur von dort als freiheitliches verstehen kann. Das „neue Menschsein“, das sich in Jesus realisiert, umreißt Hirsch dementsprechend folgendermaßen: „durch nichts Irdisches gebunden sein, frei sein in Gott, den Todesweg als Weg der Vollendung gehen, den Tod als Gottes Werk empfangen“401 – Gott als Liebe in Leben und Tod verstehen. Die andere Bedingung für die Aneignung von Jesu Todesverhältnis ist, dass eine Form gefunden wird, in der der Mensch jeglicher Selbstmächtigkeit – welche zu „Lebenszersetzung und Lebensflucht“ führen würde – enthoben ist.402 Dafür muss gesichert sein, dass trotz der Notwendigkeit menschlicher Vermittlung Gott der ursprünglich Handelnde bleibt. Die ewige Form der Neuschöpfung realisiert sich Hirsch zufolge allein durch die Begegnung mit dem Menschsein Jesu. Gleichzeitig wird aber allein Gott als der erfahren, der zu diesem Menschsein bestimmt und beruft. Durch die Verbindung dieser beiden Dimensionen von Neuschöpfung wird Jesus von Gott „zu unserm Herrn“ gemacht, „der mit seiner Lebenswirklichkeit als das vollmächtig in der Innerlichkeit uns bestimmende Urbild des Menschseins unser Leben bei Gott und mit den andern formt und hält“.403 Bemerkenswert ist die phänomenologische Parallele, die Hirsch zu dieser Vollmacht des toten Jesus zieht und die zugleich die hermeneutische Voraussetzung dafür ist, dass es allgemein einleuchtet, dass Jesus über den Menschen eine solche Vollmacht gewinnen kann: „Denn … ist diese Vollmacht der Toten, als die Lebendigen zum Herzen zu sprechen, nicht eine Vorform für die Öffnung des Herzens gegen den Heiligen Gottes? Die Macht Jesu an meinem Herzen hat freilich etwas Besonderes, Unvergleichbares, das ihr allein eigen ist … es gehen Schauer der Ehrfurcht bei der Erinnerung an ihn durch die Seele, und dafür gibt es im Verhältnis zu den andern Toten und doch Lebendigen nur schwache Entsprechungen. 399  Zur

Koppelung von Gut und Böse mit Leben und Tod s. o., 3.C.a, 146 ff. und 6.A.b, 220 ff. 400  ChR II, 56. 401  ChR II, 59; i. O. herv. 402  ChR II, 56. 403 Ebd.

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Dennoch: wer der Stimme der Toten als der Träger der bindenden und rufenden Ideale sich ganz verschlösse, könnte der wohl Sinn haben für die Erfahrungen, welche der Glaubende im Umgang mit dem Evangelium macht?“404

Hirsch bezieht sich hier auf das Phänomen, dass bestimmte geschichtlich bedeutsame Menschen auch über ihren Tod hinaus das Leben von Generationen prägen. Indem ihre Ideale, obwohl sie tot sind, immer noch Wirkung und Verbindlichkeit aufweisen, üben sie an den Lebenden eine Art von Vollmacht aus, die persönlichkeitsprägende Kraft besitzt. Aus geschichtshermeneutischer Perspektive liegt diese Kraft in der Struktur von Erinnerung begründet, die auf das Vergangene vergegenwärtigend zurückgreift und so den Erinnerten nicht in der Vergangenheit belässt, sondern – indem der Erinnernde mit ihm gleichzeitig wird – das eigene Leben durch ihn bestimmt weiß.405 Im Vergleich zum zwischenmenschlichen Verhältnis zu den Lebenden ist das Fremdverstehen der Toten in gewisser Weise freier. Eine Besonderheit der Toten im Gegensatz zu den Lebenden ist nämlich die Abgeschlossenheit von deren Leben. Diese ist sowohl begrenzend als auch entbindend. Das Leben der Toten ist zwar auf der einen Seite immer noch insofern entzogen, als eine Einsicht in seine Ganzheit und Vollendung vom endlichen Menschen her nicht möglich ist. Dennoch ist es so abgeschlossen, dass es sich in einem „Gesamtbild“ vergegenwärtigt – es lenkt den Blick weg von den endlichen Einzelheiten und ermöglicht so den für die Liebe typischen umfassenden Blick auf den Anderen.406 Auf der anderen Seite sind die Toten selbst nicht mehr durch ihren Selbstbehauptungsdrang gebunden, weil „sie nichts mehr wollen“407. Dadurch sind die Lebenden gegenüber den Toten in bestimmtem Sinne frei: Sie können wählen, ob sie sich durch die Ideale der Toten verpflichten lassen oder nicht. Im Verhältnis zu den Toten bildet sich damit eine Vorform des Zusammenspiels zwischen Theonomie und Autonomie408 ab, das für das über Jesu Herr- und Brudersein vermittelte Gottesverhältnis wesentlich ist. Das allgemeine Phänomen des menschlichen Verhältnisses zu den Toten lässt sich auf die Person Jesu beziehen, die allerdings durch ihre Exemplarität ausgezeichnet ist und eine ganz besondere Form von Vollmacht ausübt, die in der

404 

Zw, 233. Zu Hirschs Gleichzeitigkeitslehre s. o., 72 f. 406  Hier vernachlässigt Hirsch erneut den Anteil der Imagination und Konstruktion an der Vergegenwärtigung historischer Gestalten. In der Erinnerung kann m. E. durchaus ein Bild vom Toten entworfen werden, das ihn in den Dienst der Selbstsucht stellen kann. S. o., 117, Anm.  455. 407  Zw, 232. 408  S. o., 3.C.b, 149 ff. 405 

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Bezeichnung Jesu als „Herrn unserer Innerlichkeit“ ihren Ausdruck findet.409 Diese Vollmacht ist ausgeweitet auf die gesamte Existenz des Menschen. Sie ist legitimiert durch die exemplarische Art des Menschseins Jesu und hat ihre Möglichkeitsbedingung in der Erschlossenheit Jesu für den Anderen. Jesus wollte auch als Lebender den Anderen nicht für seine eigenen Zwecke dienstbar machen, Vollmacht ist für ihn nicht mit Selbstermächtigung verbunden, er empfängt sie gnadenhaft von Gott und versteht sie ganz als Dienst am Anderen. Indem er im Offenbarungsereignis als die sich für den Anderen öffnende Liebe dem Glaubenden gnadenhaft gleichzeitig wird, tritt sein Leben nicht nur als abgeschlossenes, sondern in seiner Ganzheit und Vollkommenheit vor Augen. Er ist dem Anderen vollkommen erschlossen. Er konnte durch den Verzicht auf die Selbstbehauptung und durch seine Erschlossenheit für den Anderen schon zu Lebzeiten die ihm eigentümliche Vollmacht über seine Jünger ausüben. Indem er aber als vollendeter Mensch dem Glaubenden im Medium der vergegenwärtigenden Erinnerung offenbar wird, bleibt diese besondere Vollmacht auch nach seinem Tod bestehen und für Generationen bestimmend.410 Was bedeutet es also, dass Jesus am Menschen mächtig ist? Mit und in dem Vertrauen Jesu auf den Gott, der im Tod das Leben gibt, bildet sich die Gewissheit ab, dass die Person auch über den Tod hinaus besteht. Indem der Christenmensch an dieser Gewissheit Anteil gewinnt, ist er als ewige Person in Jesus gegründet. Die Berufung in Jesus Christus besitzt „todesüberwindende Ewigkeitsmacht“.411 Jesus wird zugleich als „Herr unsrer Innerlichkeit“ und „Herr über Leben und Tod“ erfahren.412 Letztere Zuschreibung ist dabei strikt an die erste gebunden – Jesu Sieg über den Tod ist nur im subjektiven Glauben erfahr-

409 Michael Roth wirft Hirsch vor, Jesus zum bloßen Subjekt des Glaubens, zum bloßen exemplarischen Menschen zu machen, indem er dem soteriologischen Geschehen keine Endgültigkeit zuschreibt (Roth: Gott, 279–282). Dagegen muss eingewendet werden: Jesus ist mit seiner Doppelbestimmtheit als Herr und Bruder des Glaubenden für Hirsch nicht nur „Subjekt des Glaubens“ (a. a. O., 279), sondern er ist zugleich Objekt des Glaubens, indem der Glaubende sich vertrauend an Jesus wendet und seinen Glauben auf die Vollmacht Jesu an ihm zurückführt. Die Möglichkeit dafür, dass er zum Objekt des Glaubens wird, leitet sich aus seiner exemplarischen Subjektivität und aus der Gleichartigkeit dieser mit der Struktur der Subjektivität des Glaubenden her. Beide Bestimmungen – Subjekt- wie Objekthaftigkeit Jesu – sind deswegen nicht voneinander zu trennen. Das Vertrauen zu Jesus entzündet sich an seiner bedingungslosen Zuwendung zu den anderen, die ihn für die anderen vollkommen erschlossen sein lässt. Insofern hat Jesus sehr wohl „etwas für ihn [den Glaubenden] vollbracht“ (ebd.). 410  Zw, 233; ChR II, 55–60. 411  ChR II, 57. 412  ChR II, 56.

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bar.413 In Jesu Verhältnis zum Tod, den er als „Gottes Lebensweg“414 mit ihm annimmt, wird die ihm eigentümliche Glaubenserfahrung vermittelt.415 Der Schlüssel zur Aneignung der Neuschöpfung und auch zu dem, was das Bild der Auferstehung bedeuten kann, liegt in dem in Jesu Leben abgebildeten Verhältnis Jesu zum Tod.

b)  Jesu Verhältnis zu seinem Tod Das Sterben heißt Hirsch zufolge für Jesus „Gottes Lebensweg“416 mit ihm anzunehmen, sein Leben „als Gottes Weg mit ihm durch Tod zum Leben“417 zu begreifen. Diese Wendung erläutert Hirsch, indem er zwei Seiten an Jesu Sterben aufzeigt, eine der allgemein-menschlichen Erfahrung analoge und eine, die von der allgemein-menschlichen Erfahrung unterschieden ist.418 Genauso wie 413 Der

doppelt ausgedeutete Herrenname leistet die Verbindung zum Urchristentum: Hirsch hält auch für dessen sich an Oster- und Pfingsterfahrung entzündenden Glauben die beiden Aspekte des Herren über Leben und Tod (mythologisch verbunden mit der Vorstellung eines mit dem Gottesreich anbrechenden neuen Äon) und des Herren über die Innerlichkeit (hier über die pfingstliche Geisterfahrung vermittelt, die die Erfahrung von der Gewissenserfahrung abzukoppeln scheint) fest. Das Problem ist hier neben den mit den beiden Konnotationen des Herrennamens verbundenen mythologischen Figuren, dass dieser in das Denken einander konkurrierender Religionen/Götter eingeordnet wird. Als für das Christentum wesentlich sieht Hirsch den Begriff des Herren der Innerlichkeit, von dem aus und in dessen Begriff der des Herren über Leben und Tod entwickelt werden kann. So ist auch letzterer ein aus der Subjektivität zu verstehender. Hier wird erneut die Ablehnung sämtlicher kosmologischer und geschichtstheologischer Gedankenspiele deutlich. Diese Fassung des Begriffs sieht Hirsch schon bei Paulus und Luther angelegt, indem sie ihn in die Relation Wort–Glaube einordnen, allerdings wird, so Hirsch, auch hier nicht Abstand von dem dieser Form äußerlichen Mythos der Auferstehung genommen (ChR II, 58). 414  ChR II, 104. 415 Ebd. 416  ChR II, 102. 417  ChR II, 55. 418  ChR II, 104. Die Möglichkeit des Zugangs zu Jesu Todesbewusstsein liegt für Hirsch hermeneutisch in der Gleichzeitigkeitserfahrung begründet. Martin Zerrath weist zurecht darauf hin, dass „im Kontext der Todesthematik“ besonders deutlich wird, „dass diese Gleichzeitigkeitskonzeption mit einem positiven Begriff religiöser Imagination verknüpft werden muss“. Die Einsicht, dass wir „nicht die stillen Empfänger unseres jeweiligen Jesusbildes, sondern seine Konstrukteure“ sind und es „im Lichte unserer letzten Fragen“ entwerfen (Zerrath: Vollendung, 253 f.), ist bei Hirsch zwar nicht gedanklich ausgearbeitet, aber angedeutet: „Was ist in deiner Seele gewesen, Herr, als du den Gebetsruf tatst: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ – wir wissen es nicht. […] Auch in deines Herzens Zwiesprache mit dem Ewigen, Herr, ist ein Unaussprechliches, ein Geheimnis, welches allein du weißt und dein Vater. Die Worte der Sprache, welche wir miteinander reden, können nur wie mit schwachem Widerhall durchzittert sein von diesem Geheimnis. Wir sinnen dar-

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der Mensch stirbt Jesus, weil er die Realität des Todes voll zu schmecken bekommt. Dabei hat er wie jeder Mensch einen dem Tod entgegenstehenden Lebenswillen, leidet unter dem Tod und wird in dem Sinnen auf das, was gut ist, „angefochten“419. Ist das, was er mit seinem Leben und Wirken verfolgt hat, wirklich gut oder zeigt sein Scheitern das Gegenteil auf? Ist Gott gut, will er sein Leben oder seinen Tod? Genauso wie für jeden Menschen sind Tod und Gott für Jesus ein Geheimnis, dem er sich „ergeben“420 muss, das er mit seiner menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht erschließen kann. Jesus steht wie jeder Mensch gerade im Blick auf den Tod in der Spannung zwischen Glaube und Buße, zwischen Vertrauen und Anfechtung, zwischen Evangelium und Gesetz, zwischen dem Wunderbaren und dem Selbstverständlichen, zwischen Bestimmung und Faktizität, zwischen neuem und altem Lebens- und Todesverständnis: „In dem geheimnisvollen Zugleich anfechtender Leidensgewißheit und dennoch der Sendung durch den Vater trauender Wiederkunftsgewißeit hat Jesu Sohnesbewußtsein selber die Tiefe eines echt menschlichen Gottesverhältnisses, wie es seinem zugleich auf Buße und auf Glaube gerichteten Worte gemäß ist. [… Er] hat den Widerstreit des in ihm aus Gottes Geheimnis durchbrechenden Neuen, Ursprünglichen mit dem dem Gewissen selbstverständlich und natürlich erscheinenden alten durchleben müssen bis in den Tod.“421

Sterben heißt für ihn, wie für jeden Menschen, sich im Tod unwissend in Gottes Hände zu geben, „ohne mit Sinnen und Verstand verstehen zu können, was er einem mit diesem Griff in die letzte Wurzel der Vitalität tut, und erst recht denn ohne zu wissen oder auch nur zu fühlen, welche Wege er durch den Tod hindurch nun mit dem Geist, der Seele gehen wird“422.

Hirsch macht den Unterschied zwischen Jesus und den an ihn Glaubenden im Blick auf die Negativität des Todes darin aus, dass Jesus in seinem Sterben zum einen noch größerer Rätselhaftigkeit als jene ausgesetzt war. Im Unterschied zu dem allgemein-menschlichen (gesetzverhafteten) Gottesverhältnis lässt Jesus zum anderen sein Gottesverhältnis und seine Existenz jedoch nicht bis ins Letzte von dieser Rätselhaftigkeit bestimmen, sondern hält die Widerspruchseinheit von Anfechtung und Vertrauen in seinem Gottesverhältnis zusammen. Die Rätüber nicht, weil wir wähnen, unser Sinn könne es erreichen. Wir sinnen darüber allein, auf daß du in allem unserm Sinnen der tiefe Sinn werdest.“ (WGJ, 235; Herv. A.‑M. K.) Hirschs Bild vom Tod Jesu ist von der Voraussetzung her entworfen, dass hinter der aporetischen Verfasstheit des menschlichen Gottes- und Selbstverständnisses ein tieferer Sinn steckt, der durch Jesus allein subjektiv offengelegt wird. 419  ChR II, 104. 420 Ebd. 421  ChR I, 60. 422  WrCh, 188.

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selhaftigkeit, der Jesus ausgesetzt war, lässt sich verdeutlichen mit der Referenz Hirschs auf zwei Kreuzesworte Jesu: (1) „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ (Lk 2346) und (2) „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 1534). Ad (1): „Da spricht er nun in das Beben erlebte Hinschwinden aller Gedanken und Träume hinein das Wort, daß er seinen Geist in Gottes Hände befehle. Nichts ist in ihm als das Trauen eines jedes Gedankens Beraubten, allein das Sterben des fühlenden Glaubens.“423

Hirsch interpretiert das den Tod Jesu deutende lukanische Kreuzeswort in dem Sinne, dass Vernunft und Verstand an dem Rätsel des Todes zerbrechen, dass der Mensch ihrer nicht mehr mächtig ist, dass am Ende allein das Vertrauen des Glaubens bleibt. Jesus gibt mit dem Geist sein Leben in der Weise in Gottes Hände, dass er auf die Selbstmächtigkeit des Verstandes verzichtet und sozusagen alles auf die Karte des Glaubens setzt. Der Geistbegriff ist an dieser Stelle nicht theologisch aufgeladen, im Sinne des Gott und Jesu verbindenden Elements. Geist ist hier im Sinne von endlicher Vernunft und endlichem Verstand gemeint, die nicht zugunsten des Glaubens aufgegeben werden, aber in der Abhängigkeit von Gott und im Glauben gegründet und damit ihrer Selbstmächtigkeit entledigt werden. Ad (2): In der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz – die die Negativität des Todes vor Augen hält – besteht für Hirsch die Möglichkeit der Aneignung des Kreuzestodes Jesu durch den Glaubenden, weil Jesus durch sie „echter wahrhaftiger Mensch bis ins Letzte […,] unser Bruder“424 ist.425 Hirsch benennt beispielhaft verschiedene Phänomene menschlicher Gottverlassenheit: Sowohl eine „kleine Widrigkeit“ als auch eine „tiefe Herzensnot“ können das Gefühl der Gottverlassenheit hervorrufen.426 Was als Gottverlassenheit gedeutet wird, hängt von der vorgängigen Gotteserfahrung ab. Wird Gott als der Grund „irdische[r] Freude“ erfahren, so besteht die Gottverlassenheit im äußeren Leiden. Wird Gott als der Grund des innerlichen Friedens erfahren, so besteht die Gottverlassenheit in der „innere[n] Friedlosigkeit, [der] innere[n] Unseligkeit“.427 Hirsch führt die hinsichtlich ihres Erlebnisgehalts und ihrer Intensität unterschiedenen Phänomene

423 Ebd. 424 

WGJ, 237. Hirsch ordnet das Kreuzeswort Mk 1534 dem ältesten Passionsbericht zu, der die Vorlage für Mk gebildet hat und damit wohl am nächsten an die Eigenart von Jesu Sterben herankommt. In ihm kommt die „nackte furchtbare Wirklichkeit“ (ChR I, 61) zum Ausdruck. 426  WGJ, 235. 427  WGJ, 236. 425 

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menschlichen Gefühls, von Gott verlassen zu sein, auf ihren strukturellen Grund, das „Leiden unter der Verborgenheit des Vaters“428 zurück. Gottes Liebe ist im Leben und im Moment des Todes in der Weise verborgen, dass der Mensch sich ihrer nicht in den Kategorien endlicher Vernunft sicher sein kann. Er kann sich nicht sicher sein, ob der Tod Leben oder Vernichtung bedeutet. Eine äußerlich eindeutige Erkenntnis über das Wesen des Todes als Weg zu Gott gibt es nicht. Allein die Gewissheit des Glaubens kann ihn durch den Tod tragen. Indem der Glaubende als Mensch in der Spannung zwischen Herz- und Vernunftseite des Gewissens429 steht, droht die endlich sein wollende und sich selbst behauptende Vernunft den Glaubenden immer wieder zu übermannen. Es werden dann nicht die Verborgenheit und das Offenbarsein Gottes in der Spannung von äußerem und innerem Menschen zusammengehalten, sondern indem das äußerlich Sichtbare zum entscheidenden Kriterium wird, wird Gott auf seine Verborgenheit und die Bedeutung des Todes auf die Vernichtung des Menschen festgenagelt. Auch Jesus, der im Unterschied zum Sünder nicht auf der Selbstmächtigkeit seiner Vernunft beharrt, ist von Gott verlassen, weil der Sinn von Gottes Handeln ihm verborgen ist. Indem Jesus für sich die Wahrheit über den Menschen, dass er zutiefst abhängig von Gott ist, den er zugleich als seinen Ursprung nicht bis ins Letzte zu erkennen vermag, eingesteht, nimmt er die Gottverlassenheit des Menschen als die mit der Endlichkeit des Menschen gesetzte Bedingung der Menschwerdung an. Er lässt sein Ich los, um er selbst zu werden. Jesus stellt mit seinem Ruf nicht seine Abhängigkeit von Gott in Frage, sondern er stellt die Sinnfrage: Warum ist genau dieser Weg dafür nötig, dass deine Liebe mir offenbar wird? Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?430 Er bringt die 428 Ebd. 429 

S. o., 55 f. Der Alttestamentler Diethelm Michel weist auf die semantische Unterscheidung zwischen lama und maddua‘ in den Psalmen hin (Michel, D.: „Warum“ und „Wozu“? Eine bisher übersehene Eigentümlichkeit des Hebräischen und ihre Konsequenz für das alttestamentliche Geschichtsverständnis, in: Ders.: Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte, hg. von A. Wagner, Gütersloh 1997, 13–34), die wohl auch für Hirschs Deutung des Todes Jesu in Betracht gezogen werden kann. Während das Wort maddua‘ die „rückwärtsgewandt[e]“ Frage nach dem ‚Warum‘ bezeichnet, stellt der Psalmist mit lama „vorwärtsgewandt“ die Frage „nach einem göttlichen Ziel […] und sei es nach einem verborgenen, im Augenblick nicht einsehbaren“, er fragt: ‚Wozu geschieht das?‘ Israel konnte, so Michel, im Exil nur am Gottesglauben festhalten, weil es gegen die faktische Wirklichkeit „unbeirrbar an der Annahme eines göttlichen Ziels festhielt und nach diesem fragte“. Mit dem Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs am Geschick des Volkes konnte Michel zufolge ein Gottesbild, das an „militärischen, politischen oder wirtschaftlichen Erfolg“ geknüpft ist, „das Verschwinden, den Zusammenbruch dieses Erfolgs nicht überstehen“. Gott musste „mehr […] als ein Erklärungsprinzip für Bestehendes“ sein. Das Gottesbild, das hin430 

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Verborgenheit Gottes und das Vertrauen darauf, dass Gott sein liebendes Wesen offenbar macht, zur Spannungseinheit zusammen und lässt damit die Gottverlassenheit nicht zum entscheidenden Kriterium für die Deutung seines Todes werden. Das, was sich für die Außenstehenden als vermeintlich letztgültiges Bild von Gott im Sterben Jesu offenbart – der dunkle Gott –, wird für Jesus selbst zur „Vollendung“: „Einig sind er und seine Gegner und seine irre gewordenen Freunde bloß in dem einen, daß er die letzte, die dunkelste Nacht durchgeht. Aber sie, die Erdgebundenen, die Blinden, halten den Nachtmantel Gottes für das Letzte, das Giltige, weil dieser das uns an unsers Lebens Grenze sich Zukehrende ist. Jesus hingegen, er weiß, daß eine ewige Liebe ist. Ihm ist der Nachtmantel Gottes nur die bergende Hülle, in welcher des Vaters Liebe das bebende Herz hält und trägt auf dem unbegreiflichen Wege hinein in sein Licht. So wird ihm Tod zu Leben, Verlorenheit zu Heimkehr.“431

Damit ist das ausgesagt, was Jesus von anderen Menschen unterscheidet. Anders als der ‚normale‘ Mensch – aber eigentlich wahrhaft menschlich – hat Jesus ein intaktes Gottesverhältnis, durch das er alles, was ihm im Leben und Sterben zukommt, als Gottesbegegnung deutet.432 Er ergibt sich dem Tod nicht, indem er ihn in Resignation433 oder Tapferkeit als unausweichliches Geschick hinnimmt. Jesu Verhalten dem Tod gegenüber besteht gerade nicht im „tapfere[n] Gotterleiden“434, sondern er ergibt sich Gott, indem er dessen Willen, der ihm in seiter der ‚Wozu‘-Frage steht, zeichnet sich dadurch aus, dass Gott „auch im Mißerfolg und Leiden, ja sogar in einem Tode am Kreuz, noch einen Sinn seines Handelns zeigen kann“ (a. a. O., 33). 431 WGJ, 241. Zur Metapher der „Nacht der Bildlosigkeit“, die hier indirekt mit dem „Nachtmantel Gottes“ als „bergende Hülle“ aufgenommen wird, s. o., 1.A.c, 38 ff. Auch bei Martin Luther ist die Metapher der „dunkelsten Nacht“ in Verbindung mit dem Gerichtscharakter des Todes zu finden: „So wie der Tag seinen Lauf hat aus dem guten Willen Gottes heraus, so sterben wir auch und verwandeln uns in die schwarze/dunkelste Nacht, die aus dem Zorn Gottes kommt.“ (WA XL 3 535, 20 f.; z.n. Stange, C.: Luthers Gedanken über die Todesfurcht, Berlin 1932, 57, Anm.  1.) 432  EE, 320. 433  Es verwundert, dass Hirsch die Resignation, die er sonst durchgängig als sündige, sich in die eigene Ohnmacht flüchtende Haltung beschreibt (s. o., 2.C.a, 106 ff. und 6.B.b, 235 ff.), an einer Stelle doch Jesus selbst zuschreibt (WrCh, 188). Hier will er sich allerdings gegen solche Interpretationen des Todes Jesu abgrenzen, die die Grausamkeit des Todes durch den Blick auf die Ewigkeit relativieren wollen, indem sie Jesus als leidensfrei zeichnen. 434 Gegen Roth: Gott, 281. Roth schreibt weiter: „Jesus von Nazareth ist für Hirsch bloß das Exemplum eines sich der Not des existentiellen Daseins ergebenden Lebens, er ist nicht das Sakramentum Gottes, das den Erfahrungen der existentiellen Not widerstreitet.“ (A. a. O., 281 f.) Die Alternative von Exemplum und Sakramentum trifft m. E. nicht das Proprium von Hirschs Jesusbild. Auch wenn mit Hirsch Jesus nicht mit der Kategorie der Sakramentalität zu belegen ist, so ist er doch nicht bloßes Exemplum wie andere geschichtliche Personen auch sein könnten. Er gewinnt durch Gottes Gnadenhandeln eine besondere Vollmacht über den

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nem Todesgeschick begegnet, bejahend erleidet.435 Tapferkeit ist für Hirsch durch eine trotzige und verachtende Haltung dem Tod gegenüber gekennzeichnet. Der Tod wird hier meist nicht als Durchgang zum ewigen Leben verstanden, sondern auf seine Endgültigkeit und Nichtigkeit festgelegt.436 Tapfer ist es dann, dieser Endgültigkeit ins Gesicht zu schauen und dabei die Fassung zu behalten. Ist die Tapferkeit mit der Annahme eines ewigen Lebens gepaart, so ist sie nur uneigentlich Tapferkeit, denn der Tod wird als „Geringes und Gleichgiltiges“437 dem ewigen Leben gegenüber betrachtet, seiner gewissermaßen ­entledigt. Die ewigkeitsbezogene Tapferkeit steht dem Tod „schweigend“438, ausdruckslos, gegenüber und nimmt ihn als notwendige zeitliche Begrenzung endlichen Lebens hin. Sie ist als Einsicht in die Endlichkeit und die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen zwar als Vorstufe des ewigkeitsgewissen bejahten Gotterleidens zu begreifen439, verbleibt aber dabei, den Tod als formale und nicht als inhaltlich bestimmte Grenze zu verstehen. Sie misst dem Tod nicht die Bedeutung bei, Gottesbegegnung in Form der Gerichtserfahrung und des darin angelegten Gnadenzuspruchs zu sein. Der Tod ist für den Glaubenden nicht gering, sondern – indem er Gottesbegegnung ist – von enormem Gewicht. Wird der Tod als Gottesbegegnung gedeutet, so ist das bejahte Gotterleiden das adäquate, sich in einer Mischung von Rezeptivität und Spontaneität gestaltende menschliche Verhältnis zum Tod. Der Tod wird nicht nur als notwendiges Geschick hingenommen, sondern der in der Todeserfahrung sich aussprechende Gerichts- und Gnadenwille Gottes wird bejaht. Der Tod wird damit nicht ausschließlich erlitten, sondern die „Hinnahme des Todes“ ist selbst „Lebensakt“440; der Mensch erweist sich gerade im Sterben als lebendige Persönlichkeit, wenn er den von Gott gegebenen Tod aktiv annimmt und gleichzeitig auf seine endliche Selbstmächtigkeit verzichtet, indem er hingegeben ist und zugleich sein Ergehen bejaht.441 Glaubenden. Er kann die Erfahrungen existenzieller Not damit zwar nicht beseitigen, weil sie zum Menschsein und -werden dazugehören. Er muss sie mit seiner Hingabe bejahen. Aber, indem er sich ihnen hingibt, widerstreitet er ihnen zugleich in dem Sinne, als dass er durch die Hingabe die existenzielle Not in ihrer Macht über den Menschen beschränkt. Indem er mit seiner Hingabe die Abhängigkeit des Menschen bejaht, legt er die in Gott gegründete Ewigkeit als letztgültige Bestimmung des Menschen offen. 435  Zw, 283 f. 436  Zw, 283. 437  Zw., 73. S. o., 187. 438  ChR II, 103. 439 Ebd. 440  Zw, 283. 441  An dieser Stelle findet sich eine bemerkenswerte Parallele zur R ahner’schen Todesdeutung. Besonders die Rede von der „Verhülltheit des Todes“ (R ahner: Zur Theologie, 36),

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Diese Haltung gegenüber dem Tod nimmt bei Jesus vollendete Form an. Im Unterschied zu den anderen, die sich „gleichsam an den Haaren in die Anfechtung hineinziehn“ lassen, geht Jesus „freiwillig […] in die Anfechtung dieses Todes“.442 Das tut er, weil er daran glaubt und dessen im Glauben gewiss ist, dass Gott sich durch die Anfechtung hindurch als Liebe erweist, die ihn über den Tod hinausträgt.443 „Jesus hatte eine so tief ihn bestimmende Gewißheit von Gottes ewiger uns in sich bergender Liebe, daß er den Glaubensmut empfing, den Weg durch das Rätsel des Todes zum Sein bei Gott zu gehen, obwohl Anfechtung und Grauen ihm diesen Weg in das Dunkel der Gottverlassenheit tauchten.“444

Diese Gewissheit ist nur in der Erfahrung der Verborgenheit der Liebe Gottes unter ihrem faktischen Gegenteil gegeben, die den Menschen darauf verweist, dass er von Gott zutiefst abhängig ist und dass Ewigkeitsgewissheit nicht mittels endlicher Erkenntnis erzielt werden kann, sondern allein gnadenhaft dem zuteil wird, der sich voll und ganz in die Abhängigkeit von Gott stellt. Auf diese Weise integriert Jesus mit der Art seines Sterbens die Gottverlassenheitserfahrung in ihrer Härte als von Gott unbegreiflicherweise so gefügtes Moment seines Weges zu Gott und zu sich selbst. Jesu Ewigkeitsgewissheit erweist sich „als ein in der Abarbeitung am Widerspruch der Lebenserfahrung kontrafaktisch festdie in seiner spannungshaften Doppeldeutigkeit zum Ausdruck kommt und die darauf verweist, dass der Mensch unfähig ist, von sich selbst aus „eine höhere Synthese zwischen radikaler Ohnmacht und höchster Tat der Freiheit im Tode zu vollbringen“, (R ahner: Zu einer Theologie, 194) und dass er die endgültige Deutung des Todes „nur von Gott her entgegennehmen“ (R ahner: Zur Theologie, 40) kann, ähnelt der Hirsch’schen Rede von der Geheimnishaftigkeit des Todes. Auch R ahner bezeichnet die angemessene Einstellung zum Tod als ‚bejahtes Sich-Ergeben‘ (a. a. O., 41). Die Tat des Todes besteht dann in der Hingabe des ganzen Lebens an Gott: Sie ist die Tat, „in der der Mensch sich und seine Wirklichkeit in bedingungsloser Offenheit in die Verfügung des unbegreiflichen Gottes übergibt, weil und wenn der Mensch im verhüllten Tod nicht eindeutig über sich zu verfügen vermag“ (ebd.). 442  WGJ, 240. 443  Es ist herausfordernd, in diesem „Ja zur Höllenpein“ (WrCh, 167) nicht das Lob einer „resignatio ad infernum“ (so die Kritik bei Janowski: Allerlösung, 209) zu vermuten, durch die das Leiden an Gott verherrlicht wird und die den Menschen gleichsam in die Schockstarre versetzt. Ausgeräumt werden kann das Gefühl, es hier mit einer für den Menschen grausamen Form von Frömmigkeit zu tun zu haben, nicht gänzlich. Dennoch ist demgegenüber zum einen auf die dargestellte Vielschichtigkeit der Anfechtungserfahrung zu verweisen. Die „Höllenpein“ ist vor dem Hintergrund als ‚Qual der Unwissenheit‘, welches Geschick der Tod verheißt, zu verstehen, die durch die Gewissheit von Gottes Liebe aufgefangen werden kann. Zum anderen ist klar die Zielrichtung dieses ‚Ja‘ herauszustellen: Es ist nur sinnvoll, wenn sich die Höllenpein „wie von Selbst in Seligkeit wandel[t]“ (WrCh, 167), wenn ihr also über ihre Funktion hinaus, den Menschen auf seine Abhängigkeit von Gott zu verweisen, kein weiterer Wert zugeschrieben wird. 444  WuG, 150.

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gehaltenes Vertrauen darauf, dass die Macht, die den Tod verhängt, das Leben will und auch im unverständlichen Handeln auf das Leben zielt“445. Der Tod wird ihm durch die Ewigkeitsgewissheit Konstitutionsgrund von Freiheit und Leben, Leben, das von Gott kommt. So schlägt letztlich für ihn die Bedeutung des Todes um in ‚Leben‘: „Der Tod wird ihm, obwohl ihm Gedanke und Gefühl vergehen im Rätsel, die wunderliche Art, auf die ihm der Vater das Leben und das Reich gewährt. Ja noch mehr: der Tod wird ihm – auch wenn er nicht versteht oder höchstens ahnt, warum und wieso – ein unentrinnliches, notwendiges Glied in dem vom Vater verheißenen Kommen des Gottesreichs zu den Menschen. Damit ist der letzte Sinn der Begriffe und Worte umgekehrt. Tod wird Leben. Gott ist kein Gott des Todes und der Toten, sondern des wahren Lebens und der wahrhaft Lebendigen.“446

c)  Das Kreuz Jesu – Jesus, der Versöhner Auch wenn Hirsch die Innerlichkeit des Glaubens betont und somit eine objektive Seite am Erlösungswerk Jesu in seinem Tod nicht im Sinne einer Tatsache der Geschichte festgehalten werden kann, so sieht er doch im Tod Jesu ein universales Moment: Jesus ist „für uns“ gestorben. Dieses Moment liegt in der Andersartigkeit Jesu begründet, welche sich in seinem geschichtlichen Leben durch die vollendete Hingegebenheit an Gott und Mensch im Tod und durch seinen vollkommenen Glauben ausdrückt. Sie ist zugleich der Ermöglichungsgrund dafür, dass Jesus zu dem vollmächtig bestimmenden Urbild wird, mit dem der Glaubende gleichzeitig wird. Sie ist damit, dass Jesus zum „Herrn unserer Innerlichkeit“ und zum „Herrn über Leben und Tod“ wird, bei Hirsch auf den Begriff gebracht. Für den Glaubenden bedeutet das, dass ihm mit Jesu Tod erstens die existenzielle Verwirklichung des schon geahnten Bildes vom Gott der Liebe ermöglicht wird, indem ihm Ewigkeitsgewissheit zuteil wird – Gott ist Liebe und Leben, weil er sich an mir als Liebe und Leben erweist – und dass ihm zweitens eine neue Bedeutung des Todes – Tod ist Leben – vor Augen gestellt ist und zugeeignet wird. Die Realität der Anfechtung und der durch die Gesetzesoffenbarung vollzogenen Gerichtserfahrung bleibt durch die Härte und menschliche Art des Erlebens des Kreuzestodes zugleich bestehen.

445 

Slenczka: Die Christologie, 226. Slenczka entfaltet hier zwar seinen eigenen christologischen Ansatz, trifft mit dieser Aussage aber Hirschs Intention sehr genau. 446  Zw, 284.

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α)  Die äußere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Der Gegensatz Das Versöhnungswerk Christi ist neben seiner Universalität traditionell durch seine Endgültigkeit gekennzeichnet. Eine Form von Endgültigkeit schreibt auch Hirsch dem Kreuzesgeschehen zu, indem in ihm der Gegensatz von Gesetz und Evangelium sowohl geschichtlich – Jesus als der durch die Evangeliumsverkündigung an dem Gesetz schuldig Gewordene – als auch in Jesus selbst – Anfechtung und Gewissheit – kulminiert.447 Für die Bewertung des Kreuzesgeschehens kommt es darauf an, ob der Betrachter die Außenperspektive geschichtlicher Wirklichkeit oder die Innenperspektive des Glaubens einnimmt. Äußerlich, als ‚Tatsachen‘, werden am Kreuz für Hirsch lediglich drei Elemente offenbar: (1) Der Hass der Juden, (2) die Tiefe der Anfechtung Jesu (Gethsemane), die aus dieser Perspektive Hirsch zufolge so zu erklären ist, dass Jesus von seinen eigenen Phantasmen bezüglich seiner Vollmacht gereinigt wird, (3) die Flucht der Jünger, ihr „irre“448 Werden.449 Äußerlich behält das Gesetz in jeder Dimension recht: die durch die Juden verkörperte Gesetzesreligion, die Richtigkeit des Urteils über Jesus, die Anfechtung, in der Jesus selbst steckt, die Bestätigung der Macht des Gesetzes an den verzweifelnden Jüngern. Der Gegensatz zwischen dem Gesetz und dem von Jesus verkündigten Evangelium vom Reich Gottes wird am Kreuz so groß, dass es für Hirsch zwei Möglichkeiten gibt: Entweder das Evangelium erweist sich als ‚falsch‘. Oder das Gesetz muss – wenn am Glauben an das Evangelium trotz des äußerlich unabweislich konträr dazu stehenden Geschehens festgehalten wird – überwunden werden, seine Logik „in seinem Tiefsten zerspringen“450. Nicht das Kreuz an sich, sondern der darin verborgene Glaube an das Evangelium bringt den Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium zum Kulminieren. Dieser Glaube verbleibt in der inneren Begegnung mit Jesus. D. h. jede Objektivation, die er aus sich heraussetzt, ist uneigentlich. Das Faktum des Versöhnungstodes am Kreuz hat es im strengen Sinne so nicht gegeben. Wesentlich für die gesetzesüberwindende Macht des Kreuzestodes ist nach Hirsch, dass man an der Geheimnishaftigkeit der Evangeliumsoffenbarung festhält, die die sich absolut setzende Macht des Gesetzes innerlich überwindet. Zudem ist das Zersprengen der Gesetzeslogik nicht nur auf gewesene Tatsachen, sondern auf die den Menschen je neu umgebende Wirklichkeit zu beziehen: Das Gesetz muss immer wieder in den Evangeliumsglauben hinein aufge447 

ChR I, 60 f. Für Hirsch ist dies eine typische Wendung um die Reaktion der Jünger auf den Kreuzestod zu beschreiben. Z. B. WGJ, 241. 449  ChR I, 62. 450 Ebd. 448 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

hoben werden; der Gegensatz hat sich durch den Kreuzestod nicht aufgelöst, sondern er selbst und die Gefahr, dass das Gesetz sich verabsolutiert, bleiben faktisch bestehen. Dadurch wird die von Hirsch dem Kreuzesgeschehen zugeschriebene Endgültigkeit in gewisser Weise aufgelöst: Die Überwindung des Gesetzes durch das Evangelium ist nicht im geschichtlichen Sinne ‚ein für allemal‘ zu verstehen, sondern als endgültig wird hier wohl eher der unausweichliche radikale Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium bezeichnet, der sich am Kreuzesgeschehen manifestiert und sich immer wieder als wirklich erweist. Hieran wird deutlich, dass Hirsch den Gegensatz Jesu zum Judentum nicht einseitig polemisierend herausstellen will, sondern an der Charakterisierung des Judentums als Gesetzesreligion aufweist: Das, was sich geschichtlich als Gegensatz des Evangeliums zum Judentum erwiesen hat, ist Gegensatz gegen alle „außerchristliche Religion als Gesetzesreligion“451, gegen eine in die Gesetzhaftigkeit abdriftende christliche Frömmigkeit und gegen gesetzhafte Formen menschlichen Selbst- und Weltverständnisses.452 Somit sind Judentum, andere außerchristliche Religionen und dem Wesen des christlichen Glaubens nicht entsprechende Frömmigkeit gleichermaßen unter die Kategorie der Gesetzhaftigkeit gestellt. Diese Bewertung liegt im Wesen des Christentums verankert. Für die Genese christlichen Glaubens – und damit für die Genese und die Entwicklung des Christentums überhaupt – ist Hirsch zufolge der Gegensatz des Evangeliums zum Gesetz, der sich im Kontrasterlebnis des Glaubens widerspiegelt, wesentlich.453 Das Evangelium kann seine geschichtliche Macht immer nur in seinem Gegensatz zum Gesetz profilieren, das den „von ihm selbst wesentlich verschiedenen Verstehens- und Aneignungshintergrund“454 bildet. Alles rein Endliche, dem das Evangelium in kritischer Funktion gegenübersteht, 451 

ChR I, 63. Dementsprechend stellt Hirsch in einer Predigtmeditation über Mt 612 fest: Der Prediger „muß verstehen, daß dies alles keine ausgesucht bösen Menschen, keine Schufte gewesen sind, sondern – wenigstens zum Teil – Idealisten, welche das Beste wollten.“ (Pf, 397.) Ja, selbst Anliegen des Christentums selbst können unter einen solchen Idealismus subsumiert werden: „Kirchliche Fürsorge, frommer Eifer, Sinn für Friede und Ordnung, Wahrnehmung der Interessen der Eltern und Freunde, Disziplin gegen ausgegebene religiöse Parolen… welche Dämonien wohnen in der menschlichen Gesellschaft […] Und wenn wir nun zu dieser Gesellschaft mitgehören […]?“ (Pf, 398). Die Erzählung der Verurteilung Jesu durch Hohen Rat und Pontius Pilatus sei damit „die schreckliche Offenbarung der Abgründe des Menschlichen“ (Pf, 400). 453 Vgl. Ohst: Antithetische Vertiefung, 214 f. Damit ist auch die Predigt des AT „unerläßliche Voraussetzung der Evangeliumspredigt“ (Müller: Predigt, 235), indem am AT paradigmatisch der „Bann des Gesetzesdienstes […] der über ihnen [den Hörern, A.‑M. K.] liegt“ (a. a. O., 236) und aus dem die mit dem Evangelium vermittelte Gewissheit befreit, aufgezeigt wird. 454  Ohst: Antithetische Vertiefung, 215. 452 

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ist gesetzhaft und dient als Negativfolie der inhaltlichen Aussagen über das Wesen des Evangeliums. Das Evangelium steht dem Gesetz allerdings nicht nur gegenüber, sondern ist in ihm selbst schon angelegt. Die gnadenhafte Funktion des Gesetzes ist die, dass es, indem es die Unwahrheit des Gottesverhältnisses aufdeckt, zum Evangelium hinüberführt. Diese Dimension des Gesetzes verhilft dem Theologen, andere Religionen nicht nur unter dem Vorzeichen des ausschließenden Gegensatzes zu sehen, sondern überall ein zwar unter dem Gesetz gefangenes aber doch „echtes Gottesverhältnis“455 zu entdecken.456 In der Moderne sieht sich das abendländische Christentum Hirsch zufolge in den meisten Fällen nicht mehr gesetzhaften Typen positiver Religion, sondern einer areligiösen Form der gesetzesbestimmten Existenz gegenüber: der auf die Ewigkeitsbezogenheit verzichtende Mensch, der sich damit im Gegensatz zum Evangelium vorfindet bzw. stellt.457 Prägnant fasst Hirsch diese allgemeine, 455 

ChR I, 65. Nutzung der dialektischen Beziehung von Gesetz und Evangelium als religionshermeneutischen Schlüssels verhindert einseitige Dualismen in der religiösen Selbstpositionierung des Christentums und setzt zugleich eine selbstkritische Haltung aus sich heraus. Die polemische, anti-gesetzliche Haltung richtet sich nicht nur gegen andere Religionen, sondern gegen die eigene, immer der Gefahr der Gesetzhaftigkeit ausgesetzte, Frömmigkeitsgestalt und zielt auf die Freilegung des Wahrheitsgehalts sowohl anderer Frömmigkeitstypen als auch des eigenen. Hirsch geht mit dieser Bestimmung so weit, dass er sie auch auf die Frömmigkeitsgestalt des historischen Jesus anwendet und den hermeneutischen Schlüssel von Gesetz und Evangelium auf Jesu Lehre selbst anwendet. Dabei setzt Hirsch alle Frömmigkeitstypen in ein solches Verhältnis zum wesentlich christlichen Glauben, dass dieser die vollendete Form der Wahrheitsbezogenheit darstellt. Von der wahrheitstheoretischen Grundlegung der Analyse des menschlichen Gottesverhältnisses her ist das nur konsequent. In der Glaubenspraxis hindert die der christlichen Frömmigkeit eigene Fragilität dieselbe an Überbietungsansprüchen, wobei sie gleichzeitig um ihre – je subjektive – Bezogenheit auf die eine Wahrheit weiß. M. E. ist Hirsch auf Grundlage dieser Argumentation insofern zuzustimmen, als das Judentum als Frömmigkeitstypus in religiöser Hinsicht keine Sonderstellung gegenüber anderen Religionen einnimmt – auch wenn in ihm das Evangelium verborgen liegt, so ist es hier nicht sichtbarer als in anderen Frömmigkeitstypen und es ist gleichermaßen gesetzhaft bestimmt wie andere nicht wesentlich christliche Frömmigkeitstypen. Dennoch muss an dieser Stelle mit Nachdruck festgehalten werden, dass religionsgeschichtlich eine besondere Verbindung zwischen Christentum und Judentum besteht (die auch Hirsch herauskehrt) und historisch dem Christentum eine besondere Verantwortung gegenüber dem Judentum erwächst. Das klar abzulehnende Hirsch’sche Vorgehen, das pharisäische Judentum als in das Extrem gesteigerte Gesetzesreligion zu brandmarken und den historischen Jesus in einen radikalen Gegensatz zu seinem jüdischen Umfeld zu stellen, ist nicht nur historisch unangemessen, sondern ideologisch motiviert, wie besonders an Hirschs Versuch, die arische Abstammung Jesu nachzuweisen, zu sehen ist (WCh, Anhang zur dritten Vorlesung, 181–188). 457 Kirsten Huxel sieht die Motivation Hirschs umgekehrt: Anhand der Typisierung der Gesetzesreligion möchte er allein seine Polemik gegen das Judentum untermauern. Die von 456  Die

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nicht an eine explizite Religion gebundene Form der gesetzverhafteten Existenz mit dem Begriff des menschlichen Daseins, das sich unter dem „Gesetz[ ] des Kampfes und der Zucht des Todes“ vollzieht und sich von diesem bis ins Letzte bestimmen lässt. Der Lebenskampf des Menschen tritt zutage in seinem kreatürlich-natürlichen Trieb zur Lebenserhaltung,458 der in seiner allein gesetzhaften Form auf die absolute Selbstbehauptung der endlichen Vernunft angesichts der schicksalhaften Kontingenz menschlichen Lebens hinausläuft459. Das Endlichkeitsbewusstsein des Menschen ist durch sein Todesbewusstsein bedingt. Ist dieses nicht in den Rahmen der Ewigkeitsgewissheit gestellt, wird das menschliche Leben in Form der absoluten Selbstbehauptung oder der absoluten Resignation bis ins Letzte durch das Gesetz bestimmt. β) Die innere Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens: Die Aufhebung des Gesetzes Inwiefern Jesus die Gesetzesreligion bzw. die existenzbestimmende Macht des Gesetzes auflöst, macht Hirsch mit einer dreifachen Schematisierung des Glaubens in seinem Gegensatz zu jener deutlich.460 (1) „Der Glaube an den Sohn“461. Hier entsteht erstens der Gegensatz zwischen der Gesetzesuntreue Jesu und seiner Gottessohnschaft. Indem das Gesetz seiner Funktion als Maßstab für das vollkommene Gottesverhältnis entledigt wird, wird mit diesem Gegensatz die Beurteilung nach Werken aufgehoben. Zweitens tut sich hier der Gegensatz auf zwischen einem scheinbar vergeltenden Gott, der Jesus in den Tod gibt, und Gottes Liebe zu seinem Sohn. Indem das Bild vom vergeltenden Gott verneint wird, wird die Bewertung von Gottes Gnade nach dem Tun-Ergehenden Religionstypen unabhängigen modernen Weltanschauungen, die ebenso unter dem Aspekt ihrer Gesetzhaftigkeit zu kritisieren sind, sieht Huxel bei Hirsch aufgrund seines Wissenschaftspositivismus, aus dessen Perspektive er die ihn umgebende Weltanschauung bestimmt, nicht gegeben (Huxel: Die Kirchentheorie, 75). Dagegen würde m. E. stehen, dass Hirsch im hohen Maße kursierende Weltanschauungen kritisiert, denen er eine Idealform, nämlich das sich dem christlichen als wahlverwandt erweisende humane Wahrheitsbewusstsein – das, wie gesagt, zuerst nur formaler Begriff ist (s. o., 29, Anm.  4) – gegenüberstellt. In der Form kritisieren und befruchten sich beide gegenseitig, das christliche Wahrheitsbewusstsein ist dem Anspruch und Maßstab einer ihm irgendwie gegenüberstehenden Weltanschauung nicht einseitig verpflichtet. 458  Zum Begriff des Kampfes, s. o. 51, bes. Anm.  120. 459  Zur Typisierung des Gesetzes als Gesetz des Schicksals, der Vernunft und des Herzens s. o., 97 f. 460  Hirsch nimmt hier Bezug auf seine Charakterisierung der Gesetzesreligion in den drei Typen der vitalen Religion, der Volksreligion und der grenzüberschreitenden Religion. S. o., 219. 461  ChR I, 67.

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Zusammenhang, „alle[ ] Bindung von Gottes Gnade an Erfolg und Glück“462 , unterwandert. Drittens stehen der Versuch, Liebe und Leben durch Opfer zu erwerben und die Selbsthingabe Jesu, durch die „alles Opfer“463 aufgehoben wird, im Gegensatz zueinander. Der Gesetzesdienst ist hier charakterisiert durch die Werkgerechtigkeit und die Beurteilung von Gottes Gunst nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang, durch das Bild eines vergeltenden Gottes und den religiösen Opferdienst. Dagegen steht das Evangelium von der Gottessohnschaft Jesu, die trotz seines Scheiterns an den äußerlichen Maßstäben des Erfolgs bzw. gerade darin bestehen bleibt und das Gottesbild des unerbittlich liebenden Vaters vermittelt. Auf die von Hirsch angedachte moderne Form der gesetzverhafteten Existenz bezogen464 bedeutet diese Überwindung der Macht des Gesetzes, dass die Erfahrung der schicksalhaften Kontingenz des Lebens nicht das letzte Wort über das Leben hat. Das menschliche Leben hat einen tieferen Sinn, der nicht nach dem Maßstab der endlichen Vernunft zu beurteilen ist. Es geht nicht in der Endlichkeit auf und empfängt seinen Sinn letztlich vom gnädig liebenden, den Menschen in seinem Selbstsein bewahrenden Gott her. Das letzte Urteil über den Menschen übersteigt damit die Grenzen der endlichen Vernunft, deren Regeln und Maßstäbe in ihre endlichen Schranken verwiesen werden. Der Mensch ist mehr, als er selbst von sich aus begreifen kann. Durch die Selbstbehauptung gegenüber anderen, durch einen verkrampft sich vom Urteil anderer lösenden Selbstentwurf – mit dem er dem Anderen doch in Form eines allgemeinen Maßstabs unterworfen bleibt – oder dadurch, dass er sich mit seiner eigenen Unvollkommenheit abfindet, entspricht der Mensch seinem Wesen nicht. Seine Offenheit für ein sein Selbstsein bestimmendes Bild sucht seinen Grund außerhalb seiner selbst. Seine Hingabe an den Anderen bedient sich keiner Mittel, um sich die Liebe des Anderen zu sichern, sondern hofft auf dessen bedingungslose Liebe und dessen Bereitschaft, sich ihm zu öffnen. (2) „Der Glaube an das Reich“465. Dieser wird mit Jesu Botschaft zu einem innerlichen, in der Unmittelbarkeit des Einzelnen vor Gott verorteten Glauben und nimmt somit der sozialen Sphäre die Entscheidungsmacht über das Gottesverhältnis des Einzelnen. Durch die Bedingungslosigkeit und die befreiende Kraft der Gnade, die außerdem durch den innerlichen Charakter des Reiches Gottes nach menschlichen Maßstäben unbegreiflich bleibt, werden Sünde wie Gerechtigkeit zu „Totalbestimmungen unter der Lösung von der einzelnen 462 Ebd.

463 Ebd. 464 

465 

S. o., 97 f.111. ChR I, 67.

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Tat“466. Der Tat-Folge-Zusammenhang wird nicht nur im Blick auf die Beurteilung der Gnade, sondern auch auf die Beurteilung der Sünde zurückgenommen. Die Sünde wird nicht moralisch, sondern universal verstanden. Das gesetzhafte Verständnis des Menschen hingegen urteilt nach Maßstäben der sozialen Sphäre, die an ebenjenen Zusammenhang gebunden sind. Das gesetzhafte Verständnis von Gott als Hüter der sozialen Sphäre wird damit überwunden. Zugleich bleibt es in gewisser Weise bestehen, indem Gottes Heiligkeit als Tiefendimension, auf die die ethische Selbstbesinnung stößt, verstanden wird. Auf die moderne Form der gesetzverhafteten Existenz bezogen bedeutet das, dass dem Gefühl, am Anderen schuldig zu werden, die Macht genommen wird, das Verhältnis zum Anderen bis ins Letzte zu bestimmen. Stattdessen wird dieses Verhältnis unter dem Vorzeichen der gnadenhaften gegenseitigen Erschlossenheit gelebt. Ebenso hat die Gemeinschaft nicht das Recht, den endlichen Ethos zum unbedingten Maßstab zu erheben, und darf sich nicht anmaßen, ihr aus Einzelheiten zusammengesetztes Urteil über den Menschen, das jenen niemals ganz erfassen kann, als letztgültiges auszusprechen. Ihr Zugriff auf den Einzelnen findet seine Grenze daran, dass dessen Wesen in der endlichen Dimension nicht aufgeht, sondern eine ewige, unverfügbare Komponente hat. (3) „Der Glaube an den Vater“467. Dem gesetzhaften Bild von einem fremden, dämonischen, unberechenbaren Gott wird das des liebenden Vaters entgegengesetzt, der freilich in seiner Liebe der Verborgene, „der ewige Grund, der letzte, des Lebens“468 bleibt. Auf die moderne Form der gesetzverhafteten Existenz bezogen bedeutet das, dass diejenigen, die das Bild vom vergeltenden Gott als neurotische Wahnvorstellung brandmarken469, in gewisser Weise Recht haben. Es ist jedoch nicht angemessen, daraus die Konsequenz zu ziehen, auf den Ewigkeitsbezug zu verzichten – damit wäre das Wesen des Menschen nicht getroffen und das gesetzhafte Urteil über das menschliche Leben das letztgültige. Sondern der Mensch muss an seiner Ahnung davon, dass Gott nur Gott sein kann, wenn er Liebe ist, festhalten und sich damit für den gnadenhaften Erweis der Liebe Gottes in der subjektiven Erfahrung offen halten, durch den Gott selbst für den Glaubenden das Bild vom vergeltenden Gott überwindet. Nach innen stellt sich der am Evangelium festhaltende Glaube Jesu als Überwindung des Gesetzes dar. Auf der Seite des Gesetzes stehen die Beurteilung menschlicher Handlungen und göttlicher Gnade nach dem Schema von Tat und Folge und das Bild eines fremden, unberechenbaren Gottes. Auf der Seite des 466 Ebd. 467 Ebd.

468 Ebd. 469 

S. o., 104.107.

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Glaubens steht die Gotteskindschaft, die allein in der unverfügbaren Gnade des gewiss liebenden Gottes gegründet ist. Indem der Christenmensch aus diesem Glauben lebt, überwindet sein eigener Glaube täglich und immer wieder neu an sich die Macht des Gesetzes. An dieser Verortung im Glauben ist zu sehen: Die Überwindung der Macht des Gesetzes ist – sowohl bei Jesus als auch bei den an ihn Glaubenden – streng innerlich gefasst. Das Gesetz an sich bleibt äußerlich bestehen, es ist „aber seiner Macht über die Gewissen“470 entsetzt, indem Jesus dem Glauben zum Herrn wird. Im Eschaton sind das Gesetz und das damit verbundene gesetzhafte Verständnis des Todes endgültig überwunden. Hier setzt Hirsch die paulinische Rede von der Überwindung des letzten Feindes an (1Kor 1526). Er parallelisiert diese mit seiner Verbindung von Jesu Herrsein und Jesu Brudersein dem Glaubenden gegenüber. Dass Jesus in der irdischen Gegenwart dem Glaubenden zum Herrn wird, ist nach Hirsch eine notwendige Bedingung für den Glauben an den Gott des Evangeliums. Nur so kann der Christenmensch Ewigkeitsgewissheit erlangen und für sich den Tod überwinden. Nur so kann er in die Gotteskindschaft mit einbezogen werden: Jesus wird ihm zum Bruder. Durch diese vermittelte Gleichstellung von Jesus und Christenmensch bleibt trotz des Herrseins Jesu die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott gewahrt. Das Herrsein Jesu ist aber im Eschaton nicht mehr notwendig, da der Glaube dann vollendet ist und Jesus „nichts sein wird, als der erstgeborene Bruder“.471 Mit dem paulinischen Bild gesprochen: Der Sohn gibt die Herrschaft an seinen Vater zurück (1Kor 1528). Die Unterscheidung zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit des Kreuzesgeschehens bildet die Doppeldeutigkeit des Todes als Nichtigkeit und Leben ab. Während äußerlich die geschichtswissenschaftlich einsehbare Tatsache des Scheiterns Jesu und der Nichtigkeit des Todes zum Stehen kommt – die freilich aus der Glaubensperspektive heraus mit der Kategorie des Gesetzes belegt wird – werden innerlich Gesetz und Evangelium, Nichtigkeit und Vollendung einander entgegengesetzt, und die Macht des Gesetzes überwunden. Die „Überwindung[en] von Gesetz, Sünde und Tod“472 hängen so zusammen, dass der Gesetzesbegriff der Beschreibung einer allgemeinen Struktur dient, der Sünde und Tod eingeordnet werden. Im Sündenbegriff selbst ist das Überwindungsgeschehen abgebildet, indem das unzutreffende moralistische in ein ganzheitliches Sündenverständnis umgewandelt wird. Im persönlichen Gottesverhältnis schlägt sich die Gesetzesoffenbarung in Form des Schuldbewusstseins nieder. Gewinnt das Gesetz Macht über das Gewissen, erfährt der Mensch 470 

ChR I, 60. Zw, 264 f. 472  ChR I, 81. 471 

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dieses Schuldbewusstsein als letztbestimmend. Daran, dass Hirsch Jesus selbst Schuldbewusstsein zuschreibt, obwohl er sündlos war,473 wird deutlich, dass es nicht um die Ausschaltung des Schuldbewusstseins an sich geht, sondern darum, dessen gesetzhafte Endgültigkeit zu überwinden, die den Menschen in die Sünde treibt. Von der Tatsache, dass jeder Mensch trotz Jesu Kreuzestod dem Tod selbst ins Auge blicken muss, erhalten die Aussagen, dass Jesus der „Todesüberwinder“474 ist, dass Gottes Leben „todesüberwindende Ewigkeitsmacht“475 ist, dass der Glaube „todesüberwindende Ewigkeitsgewißheit“476 ist, gewissermaßen eine Einschränkung. Nicht das Sterben an sich, sondern die den Menschen in die Selbstbehauptung oder Resignation treibende Macht des Todes und die gesetzhaft eindeutige Festlegung seiner Bedeutung darauf, dass mit ihm alles aus sei, werden durch Gott in Jesus und im Glauben überwunden. Jesus selbst ist damit dem Gesetz an sich nicht enthoben, sondern lediglich seiner verabsolutierenden Tendenz. In ihm selbst besteht der Gegensatz von Gesetz und Evangelium in Form der Widerspruchseinheit. Das sich verabsolutierende Gesetz muss für ihn selbst nicht überwunden werden, es ist bei ihm von Anfang an auf seine erzieherische Funktion beschränkt. Der Gegensatz stellt sich dar in der Einheit von Gottessohn und Menschensohn. Während der Got­ tes­sohn­titel für Jesus „Ausdruck seines gehorsamen Einsseins mit dem ihm innerlich kundseienden Willen des Vaters“ ist, findet sich im Menschensohntitel „die menschliche Unscheinbarkeit, Wehrlosigkeit und Angefochtenheit der leidenden Liebe ausgedrückt […], in der seine Vollmacht nach dem Willen des Vaters verborgen ist“477. Vollmacht und Angefochtenheit sind auch in umgekehrter Richtung miteinander verbunden: Gerade das, was seine angefochtene Menschlichkeit bestätigt – der Kreuzestod –, wird Jesus zur Vollendung seiner Sohnschaft, weil hier in vollkommener Weise die Möglichkeit besteht, den Willen des Vaters wehrlos hinzunehmen.478 γ)  Das Versöhnungsgeschehen In der Verbindung von Gottes- und Menschensohnschaft, an der in ihm bestehenden Widerspruchseinheit von Gesetz und Evangelium, macht Jesus „das Evangelium licht […] mit seiner eigenen Geschichte“479. Er hält an seinem Ver473 

S. o., 121. Ag, 103. Vgl. a. a. O., 100; WuG, 154. 475  ChR II, 57. 476  Ag, 103. 477  ChR I, 56. 478  Zw, 283; ChR I, 81. 479  ChR II, 17. 474 

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trauen auf Gottes Evangelium auch angesichts von Anfechtung und Tod fest. An seinem Dasein für die Anderen wird, so Hirsch, deutlich, dass „Jesu Menschsein“ ein von der „Ewigkeitsgewißheit“ getragenes480, ein „im Frieden des Versöhnungsglaubens wurzelndes Menschsein“481 ist. Die Vollendung des Willens des Vaters besteht nicht nur darin, gehorsam in den Tod zu gehen, sondern die darin erfahrene Versöhnung „den vielen aufzuschließen, die unter der Ferne und Entzweiung gegen ihn gefangen liegen“482. An diesen Zitaten wird Hirschs Transformation des traditionellen Sühnegedankens schon ansatzweise deutlich: Im Tod trotz seiner Negativität und Gottverlassenheit an dem Glauben an die Gnade Gottes festzuhalten und dadurch in Gemeinschaft und Frieden mit Gott zu stehen und im Leben durch die Befreiung vom menschlichen Selbstbehauptungsdrang vollkommene Gemeinschaft mit den Anderen haben zu können bedeutet, im Glauben versöhnt zu sein. Die Versöhnung ist kein spezielles Werk Jesu, sondern sie liegt in seinem eigentümlichen Verhältnis zu Tod und Leben begründet. Indem er dieses Verhältnis „den vielen“483 aufschließt, bezieht er sie in den Versöhnungsglauben mit ein, in dem der Christenmensch Jesu Menschsein als „das mit lebendiger Vollmacht vor uns stehende Bild jenes wahrhaftigen und vollendeten Menschseins in Gott [erkennt], dazu [er] selber bestimmt [ist]“484. Den Menschensohntitel, der dieses Idealbild des menschlichen Gottesverhältnisses zum Ausdruck bringt, gebraucht Hirsch als Ersatzbegriff für den traditionellen des Sühnopfers.485 Die Begründung dafür, dass die traditionellen Begrifflichkeiten der Genugtuung, des Verdienstes Christi, der Überwindung des göttlichen Zorns durch das Opfer Christi an dieser Stelle hinter sich zu lassen sind, liegt für Hirsch in deren Situationsgebundenheit. Diese bringen nämlich in ihrer Zeit den klaren Gegensatz zur Gesetzesreligion in Form des pharisäischen Judentums zum Ausdruck, indem sie dessen Begriffe aufnehmen und ihnen eine gegenteilige Bedeutung zuschreiben.486 Ohne diesen Gegensatz, allein von sich aus, können diese Formeln, so Hirsch, die Bedeutung der Versöhnung des Menschen mit Gott nicht evozieren. In der Moderne, in der das Gesetz nicht in 480 

ChR II, 104; i. O. herv. ChR II, 36. 482 Ebd. 483  Man beachte die sprachliche Parallele zum Kelchwort und zum Lösegeldwort (Mk 1045.1424; Mt 2028.2628). 484  ChR II, 37. 485 Ebd. 486  ChR II, 41: „Also: a) Nicht unser Verdienst, sondern das Verdienst Christi gilt bei Gott; b) nicht unsere Genugtuung, sondern die Genugtuung Christi macht uns gerecht bei Gott; c) nicht unser Opfer, sondern das Opfer Christi überwindet den göttlichen Zorn; d) nicht unsere Gesetzeserfüllung, sondern die Gesetzeserfüllung Christi wird von Gott angenommen.“ 481 

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Form einer den Menschen verknechtenden Religion und eines falschen Gottesbildes auftritt, sondern das Gottesverhältnis des Menschen in seiner Wurzel angezweifelt wird, sind die Ausdrücke nicht mehr unmittelbar relevant. Sogar der Begriff der Versöhnung selbst ist Hirsch zufolge wegen der abhandengekommenen Relevanz des Gerichtsgedankens in gegenwärtiger Zeit schwierig zu vermitteln.487 Hirsch behält ihn aber als Bild bei, das er als Erfahrung von „Friede[n] im Gewissen“ ausdeutet, die die innere Unruhe, Rastlosigkeit und Verzweiflung überwindet.488 Anders verfährt Hirsch mit den Formulierungen „Christus hat sich für uns geopfert“ und „Christus ist für uns gestorben“, denen zwar ein ursprünglicher, mit der Sühnopferlehre verbundener Sinn zugrundeliegt, die aber im gegenwärtigen Sprachgebrauch an Bedeutung gewonnen haben. Diese liegt in der „das Sterben mit einschließende[n] Liebeshingabe“489 Jesu. So wie das Leben Jesu ganz unter dem Vorzeichen der Hingabe an Gott und die Anderen steht, so auch sein Tod. Die heilsame Bedeutung Jesu wird nicht auf seinen Tod reduziert oder der Tod als notwendiger Erweis seiner Hingegebenheit definiert. Der Begriff der liebenden Lebenshingabe490 entspricht damit Hirschs soteriologischer Konzeption insgesamt und ist außerdem seinen Grundsätzen für die theologische Transformation traditioneller Begriffe angemessen – er ist evangeliumsgemäß bzw. auf Jesu Verkündigung des Evangeliums zurückzuführen und er ist gegenwartsrelevant. 487 

ChR II, 32. ChR II, §76. 489  ChR II, 38; i. O. herv. 490 Bernd Janowski hat in neuerer Zeit aufgezeigt, dass mit dem Hingabebegriff – der besonders von der feministischen Kritik an der traditionellen Sühnetheologie in die Diskussion gebracht wurde – eine Integration verschiedener versöhnungstheologischer Anliegen geleistet ist (Janowski, B.: „Hingabe“ oder „Opfer“?, in: Blum, E. (Hg.): Mincha. Festgabe für Rolf Rendtorff zum 75. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2000, 93–119). Einerseits wird er dem biblischen Zeugnis gerecht. Andererseits kann mit seiner Hilfe der durch die Aufklärung und die feministische Theologie kritisierte Stellvertretungsbegriff positiv gefüllt werden, indem Stellvertretung als „Geschehen“ verstanden wird, „das – nicht die Würde der Person zerstört, indem es den einzelnen für ersetzbar hält, sondern – dem schuldig gewordenen Menschen dort geschenkt wird, wo seine eigenen Möglichkeiten zu Ende sind“ (a. a. O., 108). Darüber hinaus sind mit dem Begriff die Anliegen der psychologischen und feministischen Kritik aufgenommen. Indem die Hingabe an Jes 53 orientiert als „Zusammenhang von aktiver Lebenshingabe und passiver Leidensübernahme“ (a. a. O., 114) verstanden wird (vgl. Hirsch!), wird sie zum einen auf das ganze Leben bezogen – das den Tod wohlmerklich „impliziert“ (ebd.). Damit ist der Tod Jesu eine „Konsequenz – und nicht der Finalsinn! – seines Lebens und d. h.: die äußerste Form seiner ‚Hingabe‘“ (a. a. O., 109). Zum anderen wird, indem der Hingabebegriff an den Liebesbegriff gekoppelt wird, das hinter der juridischen Satisfaktionstheorie stehende Gottesbild verneint. 488 

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Der Begriff der Lebenshingabe ist erstens in Jesu eigener Todesdeutung verankert: Dafür zieht Hirsch seine Interpretation des Letzten Mahls heran. Dieses ist mit Hirsch als eine den Tod Jesu abbildende Handlung zu verstehen. Das Brotwort übersetzt Hirsch – seiner Überzeugung nach „richtig“491 – mit „Das bin ich selbst“492. Indem Jesus sich selbst mit dem Brot gleichsetzt, eröffnet die Bildhandlung eine zweifache Bedeutung. Zum einen kündigt Jesus mit dem Brechen des Brotes seinen eigenen Tod an; daran wird deutlich, dass er ganz im Todesbewusstsein steht und dass er dieses seinen Jüngern offen legt. – Er ist ihnen auch im Sterben vollkommen erschlossen. Zum anderen ist die Austeilung des Brotes das Zeichen der Hingabe Jesu an die Jünger in Form seiner Liebe zu ihnen. Diese Liebe bleibt auch bzw. gerade im Tod bestehen. Jesus bleibt den Jüngern „im Sterben mit seiner Liebe nahe“, er wird ihnen im Moment des Todes durch die Menschlichkeit seiner Anfechtung „erst recht nahe“.493 Indem er unter der Verborgenheit Gottes leidet, indem er das Scheitern des Verstandes durchsichtig macht und besonders, indem seine Anfechtung als Zeichen dafür verstanden werden kann, dass er am endlichen Lebenswillen festhält und damit das endliche Leben in seinen unbedingten Wert setzt, ist er dem menschlichen Leben hingegeben. Weil das Brechen des Brotes als Zeichen des Todes zugleich ein Bild für die bestehen bleibende Liebe Jesu ist, macht es deutlich: Im Tod selbst wird die Getrenntheit zwischen Jesus und seinen Jüngern – die durch deren „Irrewerden“ und „Unverstehen“ verursacht ist494 – überwunden. Jesu Liebe, die an seiner Hingabe an die anderen deutlich wird, bleibt seiner Jünger auch im Sterben mächtig. Der Begriff des Opfers im Sinn von Lebenshingabe hat zweitens eine gegenwärtige Relevanz. Im Sinne von „sich opfern, aufopfern“495 sieht Hirsch kein Problem für den liturgisch-poetischen Gebrauch des Opferbegriffs. Im zwischenmenschlichen Bereich spricht er dem Gedanken des Selbstopfers hohe Relevanz zu, ist sie doch der höchste Ausdruck der Lebenshingabe für die anderen und damit ein Ausdruck echter Menschlichkeit.496 Ohne Heroismus ist Hirsch 491 

WrCh, 94.

492 Ebd. 493 Ebd. 494 

Zw, 238. ChR II, 38. 496  Zw, 110 f.; WrCh, 208: Hirsch macht das den Menschen gegenüber dem Tier Auszeichnende in seinem „Mut zur Grenzsituation“ und in seiner Bereitschaft, sich für andere selbst (angstfrei) in den Tod zu geben, der „Ehre des Opfers“ aus. Diese beiden Eigenschaften machen deutlich: Der Mensch ist auf die Ewigkeit bezogen. Dem stehen die dämonischen, kreatürlichen Züge der „Kraft des Hasses“, die dem anderen nicht die ihm zustehende Ehre lassen oder geben will, und der „Lust des Zerstörens“ um des Zerstörens willen entgegen. 495 

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zufolge eine Gemeinschaft nicht zu denken.497 So ist auch die „Aussage, daß Jesus für uns gestorben ist, […] als Vertiefung und Vollendung des von jedem personhaften Verhältnis Geltenden verstanden, daß wir miteinander vor Gott sind, indem wir füreinander da sind“498. Der Begriff des Stellvertreters ist zwar von modernem Bewusstsein her ebenfalls im Sinne des „für einander Eintreten[s]“ zu füllen. Zum Wesen menschlicher Gemeinschaft gehört es für Hirsch zudem, das Schuldbewusstsein anderer und der Gemeinschaft insgesamt als sein eigenes zu übernehmen:499 Ich fühle mich nicht nur verantwortlich für meine eigene Schuld, sondern als Mensch auch für die Schuld meiner Gattung. Der Begriff der Stellvertretung ist aber in der traditionellen Lehre durch seinen exklusiven Sinn stark vorbelastet und wurde in dieser Hinsicht vor allem vom aufklärerischen Standpunkt her kritisiert. Die Autonomie der Glaubenden will auch Hirsch im Sinne der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott und seiner Verantwortung vor Gott gewahrt wissen. Insofern nimmt Jesus die Sünde der Glaubenden nicht so auf sich, dass er sie „für [ihn] trägt und vernichtet“500. Sondern Jesus lebt vor, wie Gesetz, Sünde und Tod überwunden werden können. Die Glaubenden können sich dieses Geschehen nicht durch bloße Nachahmung aneignen, sondern sind auf die gnadenhafte Gleichzeitigkeit mit Jesus angewiesen. Dessen Bild wird den Glaubenden gnadenhaft eingeprägt, so dass sie selbst dazu befähigt werden, die Sünde zu überwinden. Sie werden durch die vollmächtige Gegenwart Jesu in seine Art, Mensch vor Gott zu sein, mit einbezogen. Als Ersatzbegriff für die Stellvertretung liefert Hirsch „den des uns zur Seite tretenden erstgeborenen Bruders“501, mit dem er den von ihm herausgearbeiteten inklusiven Sinn der Stellvertretung betont. Darüber hinaus macht der Begriff des erstgeborenen Bruders deutlich, dass sich mit dem Tod Jesu nichts an der Tatsache geändert hat, dass jeder Mensch sterben muss. Jesus hat ihm das Sterben nicht abgenommen, sondern urbildhaft vorgelebt, wie dem Tod in der Spannung zwischen Anfechtung und Vertrauen begegnet werden kann. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit des glaubenden Subjekts von Gott dadurch gesichert, dass Jesus als der vollmächtige Herr erfahren wird. In dieser Vollmacht Jesu

497 

ChR I, 88. Zur vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie problematischen Seite dieses Gedankens s. o., 237, Anm.  293. 498  ChR II, 38. 499  ChR II, 77. 500  Luther , M.: Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben 1519 (WA 2, [680]685–697), 689. Insofern verabschiedet sich Hirsch von der klassischen Vorstellung eines Sterbens Jesu „für uns“. 501  ChR II, 42. Vgl. Röm 8 . 29

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liegt das exklusive Moment des Lebens und Sterbens Jesu: Er ermöglicht mit seiner Gegenwart erst, das ewigkeitsgewisse Verhältnis zum Tod anzueignen. Sowohl an der Abendmahlsdeutung als auch an dem sozialen Gedanken des Selbstopfers wird die besondere Note deutlich, die Hirsch dem Opferbegriff mit seiner Transformation verleiht. Der Opfergedanke ist weder exklusiv auf den Tod Jesu noch auf die Person Jesu bezogen. Er besitzt erstens Äquivalente im menschlichen Zusammenleben, zweitens bezeichnet er die Lebenshaltung, uneingeschränkt für den Anderen da zu sein. Im Tod Jesu bekommt er keine zusätzliche Bedeutung, sondern seine ursprüngliche wird zweifach vertieft. Zum einen ist die Lebenshingabe Jesu in dem Sinne besonders, als dass er es im Unterschied zu den anderen vermag, wirklich uneingeschränkt für die Anderen da zu sein. Zum anderen wird die Selbsthingabe im Tod an ihr äußerstes gebracht, indem buchstäblich das eigene Leben zum Wohl für die Anderen aufgegeben wird. Deutlich wird an Hirschs umgeformter Versöhnungslehre, dass er durchgängig das pro me von Jesu Kreuzestod stark macht. So sagt er selber: „Nur wenn es gelingt, das, was für die Reformation die versöhnende, Glauben gebende Macht ihres Christusbildes ist, von unserem Christusbild mit Beziehung auf unsre Art der Menschlichkeit zu erzeugen, ist die Aufgabe gelöst.“502

Dieses Anliegen führt dazu, dass Versöhnung ein innerliches Geschehen ist und nur von dorther ihre Wirklichkeit erhält.503 Sie ist damit ein gegenwärtiges Geschehen, „erfahrene Wirklichkeit des Glaubens“504. Dementsprechend gibt es für Hirsch keine „einst geschehne Versöhnung an sich“505. Das Kreuzesgeschehen ist historisch betrachtet lediglich mit der Entstehung des Christentums zu verbinden. Versöhnung geschieht nur in der göttlichen, gnadenhaften Verinnerlichung dieses Geschehens. Die Versöhnung bleibt damit an die Geschichte Jesu gebunden, aber nur insofern der Glaubende mit ihr gleichzeitig wird. Mit der Bindung des Versöhnungsgeschehens an die Person Jesu geht einher, dass Hirsch das Ersatzkonzept für eine objektive Versöhnungstheorie nicht in der subjektiven Versöhnungstheorie sieht. Letztere definiert Hirsch zufolge Versöhnung als „bloße Mitteilung eines Gedankens über Gott“506. Das Problem 502 

ChR I, 134. Real ist für Hirsch nicht das historisch Wahrnehmbare, sondern das, was für die sich selbst als geschichtlich vernehmende Existenz so geschieht, dass sie in dieser Wirklichkeit ihr Leben zu gründen vermag. Michael Roths Kritik, dass Hirsch „Versöhnung überhaupt nicht als reale Überwindung des Schuldspruchs Gottes begreift“ (Roth: Gott, 281), argumentiert mit einem Begriff von Realität, der durch das allgemein (historisch) Einsehbare konstituiert wird. 504  WrCh, 40. 505  ChR II, 31. 506  ChR II, 38. 503 

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hieran ist, dass mit dem allgemeinen Gedanken ‚Gott ist Liebe‘ das pro me der Versöhnung nicht eingeholt werden kann und dass eine solche Theorie zudem nicht die Überwindung des unwahren Gottesbildes bzw. eine Befreiung des wahren Gottesbildes aus seiner unwahren Gestalt begreiflich machen kann. Der Gedanke, dass Gott Liebe ist, ist bereits ein Postulat des allgemeinmenschlichen Gottesverhältnisses, für das diese Liebe unter dem Gesetz gefangen liegt und keine existenzbestimmende Wirklichkeit ist. Versöhnung als die Existenz im Ganzen betreffendes Überwindungsgeschehen kommt für Hirsch nur zustande durch das Gleichzeitigwerden mit der Person Jesu. Hirsch legt sich dennoch nicht soweit fest, dass er für den Tod Jesu eine Notwendigkeit postuliert. Ein solcher Gedanke greift ihm offensichtlich zu stark in das freie Handeln Gottes ein, das vom Menschen nicht vollkommen erschließbar ist. Hirsch lehnt im Blick auf das Handeln Gottes jede dieses verfestigende und nach endlich-kausalen Maßstäben argumentierende Theoriebildung ab.507 Dagegen will er bei der Feststellung dessen, dass es so und nicht anders geschehen ist und geschieht, stehen bleiben: „Es sollte uns genug sein, daß der Mensch ohne echte Versöhnung mit Gott Friede nicht hat, und daß es Gott gefallen hat, die Begegnung mit Jesus als den Weg des ganzen Friedens mit ihm uns zu eröffnen.“508 In der Abwehr der Spekulation über das Handeln Gottes liegt ebenfalls begründet, dass Hirsch nur mit äußerster Zurückhaltung der Frage begegnet, welche Bedeutung Leiden und Tod für Gott selbst haben. Gott im Sinne der Religionskritik aufgeklärten Denkens als „Puppenspieler“509 zu bezeichnen, scheint im Blick auf den nicht zu erfassenden Sinn von Anfechtungserfahrungen gar nicht abwegig. Der Glaubende aber zeichnet das Bild des väterlichen, gnadenhaft liebenden Gottes. Für ihn legt sich im Rahmen seines Gottesbildes die Vermutung nahe, „daß er mit uns leidet, mit uns danach verlangt, unser Leben möge ihm offen stehen, möge von uns gelebt werden auf ihn zu und für ihn“510. – Weil Gott Gemeinschaft mit seinem Geschöpf haben will, deswegen leidet er in der Anfechtungserfahrung gewissermaßen mit. Er leidet, weil die Anfechtungserfahrung im Extremfall zur Aufkündigung des Gottesverhältnisses vonseiten des Menschen führen kann, der es ablehnt, sein Leben als ein auf die vollendete Gemeinschaft mit Gott zulaufendes zu verstehen und zu leben. Nach 507  Mit polemischem Unterton bemerkt Hirsch dazu: „Durch das Bedürfnis, die Notwendigkeit der Versöhnung im Tode Christi nachzuweisen, sind die Theologen dazu verleitet worden, Versöhnungstheorien zu bauen, die Gottes Handeln an uns mit ähnlicher Sicherheit analysieren wie die Naturforscher die Zuckungen eines elektrisierten Frosches.“ (Ebd.) 508 Ebd. 509  Zw, 244. 510 Ebd.

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

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Hirsch ist Gott für den Glaubenden zwar nicht in dem Sinn im Tod anwesend, dass er selbst den Tod erleidet, aber, indem er sich durch das menschliche Todesgeschick und das damit zur Disposition gestellte Gottesverhältnis des Menschen betreffen lässt, hält er sich keinesfalls gänzlich „rein von ihm“511.

d)  Kreuz und Auferstehung Wenn nun im Kreuz selbst schon die Vermittlung der Liebe Gottes, nämlich durch den Glauben Jesu, liegt512 , welchen soteriologischen und eschatologischen Wert hat dann Jesu Auferstehung? Wie schon ausgeführt, erteilt Hirsch dem traditionellen Glauben an eine Auferstehung aller in Form einer theologischen Lehre die Absage. Was das Bild der Auferstehung für ihn transportiert, ist eine Aussage über Gott: Gott ist mächtig, den Menschen über den Tod hinaus lebendig zu machen. Gleichzeitig würdigt sie den Menschen als ganzen Menschen.513 511 Gegen

Hentschel: Gewissenstheorie, 300. Vgl. die Feststellung Paul A lthaus’ in seiner gegen Hirschs Konzeption des Osterglaubens gewandten Kritik, mit der er ihm „spiritualisieren[de]“ (A lthaus: Die Wahrheit, 40) Tendenzen und die „Psychologisierung der Ostererfahrung“ vorwirft (a. a. O., 41): „Das heißt: für den Glauben wird Jesus, dessen menschliches Leben für unser Auge im Tode untergeht, der bei Gott und aus Gott Lebendige; sein Sterben wird uns kund als sein Gehen zum Vater, als Todesüberwindung. Damit erschließt sich Gott für uns als die Liebe, die auch im Tode, ja gerade durch den Tod uns das Leben gibt. Indem Jesus uns diese Gewißheit aufschließt, wird er dem Glauben der Todesüberwinder […]. Alles in allem: Der Grund unseres Osterglaubens ist Jesu eigener Osterglaube.“ (A. a. O., 35). A lthaus setzt der Voraussetzung Hirschs, dass Glaubensgewissheit sich allein aus der subjektiven Erfahrung der Liebe Gottes und des Lebendigseins Jesu herleiten kann, entgegen: „Daß Jesus als der Versöhner auferstanden und den Seinen begegnet ist, das wird nicht erfahren, sondern bezeugt und geglaubt. Ostern in diesem Vollsinn wird uns nicht gewiß durch die Erfahrung der Lebensmacht des Auferstandenen in unserem Leben […]. Solche Erfahrungen sind schwankend, bruchstückhaft, für sich genommen kein eindeutiges Zeugnis von der göttlichen Lebendigkeit Jesu, nicht sicher gegen innerweltliche Wirkungen auf unser Leben abzugrenzen.“ (A. a. O., 79.) Der Situation der Angefochtenheit bzw. der Problematik, ob der Glaube Projektion eigener „innerweltliche[r]“ Wünsche ist, soll hier mit dem durch Jesus selbst autorisierten Verkündigungsauftrag der Kirche äußerlich entgegengewirkt werden. A lthaus übersieht in seiner Kritik, dass auch Hirsch menschlich-geschichtliche „transsubjektiv[e]“ (a. a. O., 40) Vermittlung als wesentlichen Schritt in der Genese von Glaubensgewissheit begreift. Im Unterschied zu A lthaus’ auch qualitativer Vorordnung der objektiven Vermittlungsleistung lässt der Glaubende im Sinne Hirschs diesen Schritt aber gleichsam hinter sich zurück, macht sich von ihm frei und leitet seine Gewissheit aus der zwar menschlich-geschichtlich vermittelten aber in ihrem Ergebnis unmittelbaren Begegnung mit dem Menschen Jesus ab. Insofern ist diese Begegnung durchaus „neu[ ]“ (a. a. O., 41) und nicht „allein […] Erinnerung an Jesu geschichtliches Sein“ (a. a. O., 52), sondern verwandelnde, existenzbestimmende Gegenwart der Person Jesu. 513  S. o., 134 f. 512 

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Genauso ist m. E. der Gedanke der Auferstehung Jesu als eine Aussage über Gottes Macht bzw. eine Aussage über Jesu Gottesverhältnis einzuordnen. Als historische Ereignisse greifbar sind für Hirsch allein das Leben Jesu und sein Kreuzestod. Beide Momente bilden die geschichtliche Wirklichkeit, der der Glaube begegnet, darüber hinaus bleibt die Ewigkeitsgewissheit vor das Rätsel der gestaltlosen Ewigkeit gestellt.514 Die Vorstellung von der Auferstehung Jesu bewertet Hirsch historischkritisch in Form der subjektiven Visionshypothese, die den Boden für die Verortung des Auferstehungsgeschehens im Glauben bildet.515 Wichtig ist ihm die Prävalenz der Petrusvision, an der deutlich wird, „daß das Erlebnis der souveränen Gnade, die sich schenkt, gemacht wird von solchen, die es nicht verdient haben“516, an der also das Kontrasterlebnis des Glaubens, der Gegensatz von Gesetz und Evangelium und die Überwindung der Macht des Gesetzes im Glauben, besonders hervortritt.517 Das eigentliche Visionserlebnis ist Hirsch zufolge religiös unwesentlich, wesentlich ist der Übergang vom Schuldbewusstsein zum Vergebungsbewusstsein bzw. von der Verzweiflung zum Glauben an Gottes Liebe, der von dem Erlebnis ausgeht. Aus dieser These leitet sich dann das Mehr des Bildes von der Auferstehung ab. Zu Jesu Glaubenskraft im Kreuzestod tritt folgendes Moment hinzu: Die die Macht des Gesetzes überwindende Gewissheit Jesu erweist sich an seinen Jüngern als mächtig.518 Das kontrafaktische Glaubenserlebnis der Jünger konnte, weil es aufs engste mit Jesu Glauben verbunden ist, nur mit der Annahme plausibel gemacht werden, dass Jesus trotz seines Todes lebendig ist. Für die Jünger kommt der Glaube an das Evangelium durch die Vollmacht Jesu zustande, dieses durch Jesu Vollmacht bestimmte Verhältnis zu Jesus hatten sie schon zu seinen Lebzeiten. Hirsch begründet das mit dem Inhalt des Glaubens, dass Gott 514  Ag, 100: „Daß er dem Glauben der Lebendige ist, der ihm Gottes Liebe gegenwärtig macht, es hat keinen Rückhalt an irgendeiner gestalteten Anschauung von seiner Todesüberwindung. Das können wir uns nicht klar machen, ohne daß uns zum Bewußtsein kommt: der Tod ist die Grenze alles Wissens, und die Ewigkeit ist uns das schlechthin in Gestaltlosigkeit Verborgne. Kein menschlicher Begriff, kein menschliches Bild kann es fassen, wie Leben durch den Tod hindurch sich in Gott hinein vollenden soll. Wir sterben in ein Geheimnis hinein.“ 515  ChR I, 62: „[K]ein Nichtgläubiger (nicht gläubig Werdender) sieht Jesus: es handelt sich um ein Schauen in Ergriffenheit des Glaubens.“ 516 Ebd. 517  Zur ausführlichen exegetischen Argumentation: Ag. Vgl. die Darstellung, Kritik und forschungsgeschichtliche Würdigung bei Barth: Die Christologie, 138–147 und den knappen Überblick über die exegetischen Arbeiten Hirschs zu den Erzähltraditionen der Ostergeschichte bei Zerrath: Vollendung, 159 f. 518  ChR I, 61.

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„in der Wirklichkeit des Menschen Jesus als das freimachende Wort des Evangeliums zu uns kommt“519, dass also das Evangelium bereits in der geschichtlichen Gestalt Jesu vollkommen offenbar ist. Nach Jesu Tod führen die Jünger den durch die Ewigkeitsgewissheit Jesu entzündeten Glauben auf die Präsenz Jesu unter ihnen zurück. Hirsch liegt daran, einen Unterschied zwischen dem erniedrigten und dem erhöhten Jesus, der traditionell durch das Auferstehungsereignis markiert wird, auszuräumen.520 Das Verhältnis der Jünger zum auferstandenen Jesus ist das gleiche wie zu seinen Lebzeiten. Dass Jesus der Herr über Leben und Tod ist, kann für Hirsch nicht aus seiner Erhöhung abgeleitet werden, sondern ist aus seiner Geschichte, aus seiner eigenen Lebendigkeit heraus zu erweisen. „Von Ostern ist nur das wahr und wesentlich, was in der Gleichzeitigkeit des Glaubenden mit Jesus davon lebendig wird. Nicht ‚Jesus ist auferstanden‘, sondern ‚Jesus erweist sich an mir als der Lebendige‘ kann für uns Osteraussage sein.“521

Jesu Lebendigkeit kann und muss in der Moderne mithilfe der geschichtshermeneutischen Reflexion anders gedacht werden als in Form der leiblichen Anwesenheit Jesu. Die Lebendigkeit der Toten ist aus geschichtshermeneutischer Perspektive ein allgemeines Phänomen, von dem sich Jesu Lebendigkeit als besondere abhebt.522 An der Struktur von geschichtlicher Erinnerung verdeutlicht Hirsch, wie ein Toter gegenwärtig werden kann: Indem diese Erinnerung entbindende Kraft für die Gegenwart – in Form der aktiven Aneignung der Ideale der Toten – besitzt, werden die Toten „in mir lebendig“523. Lebendigkeit war als Verbindung von Liebe (zu den Toten) und (durch die Toten entbundene) Kreati519 Ebd.

520  Auferstehung kann deswegen Hirsch zufolge auch nicht bedeuten: Jesus wird von Gott ins Recht gesetzt. Vgl. a. a. O., 63: „Dieser entartete Osterglaube hat daran sein Kennzeichen, daß a) Ostern für ihn wesentlich äußere Tatsache der Geschichte ist: bekommt Christus nicht hier auf Erden recht, dann ist es überhaupt nichts mit ihm; b) das Verhältnis zum Erhöhten an die Stelle des zum Erniedrigten tritt: man hat nun mit dem siegreichen himmlischen König zu tun. Das regnum Christi ist aus der Tiefe der Kreuzesanfechtung, aus der Tiefe des ein irdisches Zeichen entbehrenden Glaubens herausgenommen.“ 521  ChR II, 59. Vgl. die – kritisch gemeinte – Aussage Paul A lthaus’: „Man kann bei E. Hirsch nicht mehr von einer Ostertatsache reden. Ostern bezeichnet nicht mehr ein einmaliges Ereignis, sondern eine Erkenntnis, die jedem an Jesu Wort und Geschichte aufgehen kann, die Erkenntnis, daß Jesus lebt. An die Stelle, des um Glauben werbenden kirchlichen Zeugnisses davon, daß Jesus auferstanden ist und nach seinem Todes sich als auferstanden erwiesen hat, tritt die Erfahrung der ‚Vollmacht Jesu, sich an uns sterbend als der Lebendige zu erweisen‘. Der Gestorbene hat sich nicht einmal durch die Erscheinungen als auferstanden erwiesen, sondern er erweist sich fortgehend durch das Bild seines Sterbens als lebendig.“ (A. a. O., 34.) 522  S. o., 270 f. 523  Zw, 232.

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vität bestimmt worden. Die Lebendigkeit Jesu ist insofern gesteigert, als durch das Gegenwärtigwerden der Liebe Jesu zu den Menschen die wahre menschliche Liebe erst ermöglicht und eine Kreativität entbunden wird, die aus der im Medium der schlechthinnigen Abhängigkeit vollendeten Freiheit lebt. In Jesu vollmächtigem Leben selbst und in der Art seines Sterbens, die den Tod als Gottesbegegnung begreift, liegt damit die Möglichkeitsbedingung dafür, dass er seine Lebendigkeit am Glaubenden erweist. In Jesu Tod liegt seine Lebendigkeit. Eröffnet sich mit Jesu Tod die Bedeutung des Todes als Gottesbegegnung und wird Jesu Sterben als ewigkeitsgewisses Sterben erkannt, dann entzündet sich an Jesu Tod selbst der ewigkeitsgewisse Glaube, der sich selbst auf die Begegnung mit dem in ihm lebendigen Jesus zurückführt. In der Verkündigung der Auferstehung setzt der Glaubende das Glaubenserlebnis der Gegenwart Jesu „in der Deutung seines eigenen Lebens“ und Sterbens als „Objektivation“ aus sich heraus.524 Da für Hirsch das Auferstehungsereignis dem Kreuzesgeschehen nicht äußerlich, sondern in diesem selbst Wirklichkeit ist525, kommt er zu folgender Hauptthese: „Der neue Boden ist keine harte Tatsache der Geschichte, sondern das Licht der Ewigkeit in der Begegnung mit Jesus. Kreuz und Auferstehung sind gleichsinnig: Ostern hebt Karfreitag nicht auf, sondern brennt ihn ein. Der Unterschied ist allein der, daß Ostern Glaube an den Gekreuzigten ist, Karfreitag den wirklichkeitsschweren Ernst und Gehalt dieses Glaubens zeigt in dem Kontrast der Anfechtung.“526

Hirsch macht die Alternative zwischen den Erkenntnisebenen der historischen Tatsache und des über die Jesusbegegnung vermittelten Offenbarungserlebnisses auf. Der Glaube leitet sich nicht aus ersterer, sondern aus letzterem her. Die Offenbarung der Liebe Gottes ereignet sich innerlich im Tod Jesu. Sie wird in der innerlichen Ewigkeitsgewissheit Jesu für den ihr innerlich gleichzeitig werden­den Christenmenschen anschaulich. Karfreitag und Ostern, Kreuz und Auferstehung erweisen sich damit als zwei Seiten ein und derselben Sache. Während der Kreuzestod Jesu die Anfechtungsseite des geschichtlich eingebundenen Glaubens vor Augen führt, wird mit dem Ostereignis dessen Gewissheitsseite verbildlicht. Die Doppelheit von Karfreitag und Ostern verdeutlicht die Doppelbewegung des Glaubens, der in einer ständigen Bewegung zwischen Glaube und Buße527 begriffen ist. Karfreitag verweist den Glaubenden darauf, 524 

Slenczka: Die Christologie, 227. Hier trifft Slenczka mit seinen eigenen Thesen erneut Hirschs Intention. 525  Dementsprechend stellt Paul A lthaus treffend fest: „Bei Hirsch ist das Auferstandensein nur Prädikat des Gekreuzigten.“ (A lthaus: Die Wahrheit, 55.) 526  ChR I, 62; i. O. ab „Kreuz und Auferstehung“ insgesamt herv., Herv. hier A.‑M. K. 527  S. o., 110.

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dass er nicht zeitenthoben ist und von den Tatsachen der Geschichte nicht absehen kann, sondern dass er geschichtlich eingebunden und seine Gewissheit ständig durch das sich verabsolutierende Endliche gefährdet ist.528 Karfreitag führt den Ernst des Glaubens vor Augen, dass der Mensch in der Geschichte der Verborgenheit Gottes und der Anfechtungserfahrung ausgesetzt ist. Er verweist den Menschen auf den Gehalt des Glaubens, der darin besteht, dass der Mensch sich wesentlich von Gott unterscheidet. Dieses Bewusstsein brennt Ostern ein, Ostern hebt den Menschen nicht aus seiner Endlichkeit und Kreatürlichkeit heraus, sondern bestätigt das Wesen des Menschen als von Gottes Gnade zutiefst abhängiges Geschöpf Gottes. Gleichzeitig stellt es mit dem Glauben an die Liebe Gottes der Abhängigkeitserfahrung ihre positive Seite bei: Auch im Tod – in welchem dem Menschen der gnädige, ihn bejahende Gott begegnet – kann der Glaubende der Liebe Gottes gewiss sein. Er vernimmt sich als einer, der „für Gott unendlich wichtig“529 ist. Der Ersatzbegriff für den Auferstehungsglauben ist bei Hirsch der Osterglaube. Die Innerlichkeit des Osterglaubens ist nicht erst ein neuzeitlicher Reflex, sondern ist für Hirsch schon in der Urgemeinde Merkmal des Glaubens und liegt auf einer Linie mit dem Selbstverständnis Jesu als Menschensohn, dessen Herrschaft eine verborgene ist und der sich der Anfechtung ausgesetzt weiß. Der Begriff des Osterglaubens hat Hirsch zufolge gegenüber dem Auferstehungsglauben den Vorteil, dass er eine ganze Bandbreite an historischen Bewertungen des Auferstehungsereignisses ermöglicht und so verschiedene Phänomene christlicher Frömmigkeit einzuschließen vermag.530

7.B  Die Vollendung des Glaubens im Tod Während mancher dazu verleitet ist, durch die starke Rücknahme von Tatsachen, an denen sich der Glaube entzünden und vergewissern kann, zu sagen: mit dem Glauben allein ist doch nichts gewonnen, muss man mit Hirsch sagen: mit dem Glauben allein ist alles gewonnen.531 Der Glaube Jesu ist es, der dem Glau528  Einen Glaubenden, der „vor Gottes Gesetz fliehen darf“ (Roth: Gott, 282) und sich damit von den zeitlichen Gegebenheiten unabhängig versteht, gibt es für Hirsch in der Tat nicht. Für den Glaubenden ist unter irdischen Bedingungen die Widerspruchseinheit von Gesetz und Evangelium bestimmend. 529  Pf, 357. 530  ChR I, 61. Zurecht hält Martin Zerrath fest, „dass Hirsch nicht an einem religionspsychologischen oder -geschichtlichen Reduktionismus oder gar an einer Dekonstruktion des Osterglaubens gelegen ist, sondern an dessen mehrdimensionaler Interpretation“ (Zerrath: Vollendung, 161). 531  Dazu Hirsch: „Wer etwa gegen das hier Gesagte Lust zu dem Einwande verspürte,

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ben des Christenmenschen jenseits der Möglichkeiten der Vernunft ein neues Verhältnis zum Tod vermittelt, an dem er festhält und der ihn so durch die Anfechtungserfahrung des Todes trägt. Dem Glauben wird genau diese Haltung durch die Gleichzeitigkeit mit Jesus im Versöhnungsgeschehen vermittelt. Deren Entfaltung besteht folglich darstellungstechnisch in einer Zusammenfassung der Elemente des Glaubens Jesu. Dazu werden außerdem die Aspekte, die in den anderen Abschnitten des Hauptteils herausgearbeitet wurden, mit aufgenommen. Auf diese Weise wird im Folgenden die Todesdeutung Hirschs insgesamt résumiert. Die Gleichzeitigkeit mit Jesu Sterben bedeutet für den Glaubenden, dass ihm die Ewigkeitsgewissheit im Sterben und in den todesähnlichen Grenzerfahrungen des Lebens gnadenhaft und kontrafaktisch zugeeignet wird (a). Damit verändert sich sein Blick auf den Tod. Durch dessen bleibende Geheimnishaftigkeit und durch die Spannung zwischen Gesetz und Evangelium, in der sich der Glaubende wiederfindet, bleibt die anfechtende Seite des Todes bestehen, allerdings in der Spannung zur Gewissheit der Liebe Gottes (b). Diese eröffnet die Deutung des Todes als Möglichkeit der Vollendung des menschlichen Lebens. Die negative Seite des Todes – das Gefühl der Abhängigkeit und die Erfahrung der Verborgenheit Gottes – wird in diesem Licht zur Bedingung, unter der die gnadenhaft erschlossene vollendete Erkenntnis des Wesens Gottes und des Menschen angeeignet werden kann (c). Die Beschreibung des Wesens des Glaubens als transitus bringt die Spannung zwischen dem ‚schon jetzt‘ und dem ‚noch nicht‘ seiner Vollendung auf den Punkt und nimmt zugleich wesentliche Elemente der existenzanalytischen Todesdeutung auf (d).

a)  Wirklich mit Jesus sterben Die Gleichzeitigkeit des Glaubenden mit Jesus im Blick auf seinen Tod ist nicht allegorisch im Sinne des Absterbens des alten Menschen, sondern in strenger Parallelität gedacht. Hirsch greift das Luther’sche Bild vom Sterben und Auferstehen mit Jesus532 auf und transformiert es seinem Ansatz entsprechend. Das reformatorische Bild denkt das Sterben und Auferstehen mit Jesus im Rahmen von Buße, Wiedergeburt und Heiligung. Ein solches Verständnis der Parallelität zwischen dem Glaubenden und Jesus hat, so Hirsch, das Problem, dass es ein „echtes Anteilhaben an Jesu Geist und Leben“ nicht vermitteln kann, sondern diese Weise, vom lebendigen Herrn und vom ewigen Leben zu sprechen, sei ihm zu dünn, davon könne sein Glaube nicht leben, weiß somit im voraus, was ich antworten müßte. Ich müßte ihn bitten, zu prüfen, ob der Glaube, der in dieser Erkenntnis nicht weiter leben kann, christlich geurteilt nicht wert sei, zugrunde zu gehen.“ (Ag, 104.) 532  De captivitate Babylonica 1520, WA VI 534 f., in: HD, 186 f.224 f. Vgl. Röm 6.

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im Status einer „unklare[n] Allegorie“ verbleibt.533 Hirsch hält einen allegorischen Gebrauch von „Sterben und Auferstehen“ im Bezug auf das Christwerden besonders im Blick auf das tägliche Sich-Ereignen dieser Sache zwar für zulässig. Problematisch wird dieses Bild Hirsch zufolge dann, wenn es gleichartig zu Jesu Sterben und Auferstehen verstanden wird. Das Bild würde auf menschlicher Seite das Absterben des alten Menschen durch die Buße und eine Erneuerung des Menschen in Wiedergeburt und Heiligung bedeuten – eine Analogie dazu im Leben Jesu und in seinem Sterben und Auferstehen gibt es nicht, weil er schon immer der neue Mensch ist. Jesu Sterben ist nicht in dem Sinne eines Sterbens des Sünders zu denken – Jesus war nicht gottlos.534 Das Sterben und Auferstehen mit Jesus so zu verstehen, dass es allein auf die Erneuerung des Menschen mit dem Glauben bezogen ist, geht am Wesen des Sterbens Jesu vorbei. Eine echte Parallelität zwischen Jesu und des Christenmenschen Leben bzw. ein Gleichwerden zwischen beiden kann, so Hirsch, nur ausgesagt werden, wenn bei beiden dasselbe gemeint ist; wenn also aus der Art von Jesu Sterben nicht eine die Taufhandlung oder das Christwerden ausdeutende Allegorie abgeleitet wird, sondern wenn sie auf das „das wirkliche Sterben“535 des Glaubenden bezogen wird. Dieses muss beim Christenmenschen wie bei Jesus als ein „wirkliches zum Vater Gehen“536 begriffen werden. Sterben mit Jesus bedeutet zuerst, den Tod am Lebensende als Gottesbegegnung, als Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit und als Durchgang in die Ewigkeit zu verstehen. Von dort aus werden die Grenzerfahrungen, die der Mensch im Leben macht, als tägliche Gottesbegegnungen begriffen, die dem Tod insofern ähnlich sind, als in ihnen der Mensch auf seine Endlichkeit und Kreatürlichkeit verwiesen und das diesseitige Leben als uneigentliches Leben herausgestellt wird. Kontrafaktisch – „mitten in Grauen und Widersinn des Daseins […,] allen Rätseln […] zum Trotz“537 – wird in diesen Erfahrungen gnadenhaft das den Menschen im Leben gründende und zum Leben befreiende Bild des liebenden Gottes vermittelt. Damit sind sie dem Sterben, das von der Gewissheit begleitet wird, vollendet zu werden, ähnlich. Der Christenmensch bekommt Anteil daran, wie Jesus sein Gottesverhältnis im Blick auf das Sterbenmüssen lebt, wie Jesus sein Leben und sein Sterben in den Horizont von Gottes Zielrichtung – Gottes ewiges Leben – stellt. Nicht das Sterben Jesu selbst, sondern der Vorgang der Zu- und Aneignung seines Sterbens muss damit als das Erneuerungsgeschehen – das traditionell als 533 

ChR II, 103. A. a. O., 104. 535  A. a. O., 103. 536 Ebd. 537  Pf, 357. 534 

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Absterben des alten und Auferstehen des neuen Menschen gedeutet wird – verstanden werden: Jesus selbst hat schon immer das Bewusstsein, dass der Tod in der Antinomie von Gericht und Gnade schwebende Gottesbegegnung ist, er steht von Anfang an in der Gewissheit der Liebe Gottes. Dass diese durch die Anfechtungserfahrung des Todes auch bei Jesus herausgefordert wird – wobei sie allerdings nicht zunichte gemacht werden kann – zeigt zum einen, dass sie nicht selbstverständlich und ihrer selbst nicht sicher ist; zum anderen wird damit plausibel gemacht, dass sich selbst in der Erfahrung von Negativität Gewissheit einstellen kann. Jesu Sterben ändert an der Art und Weise seines Gottesverhältnisses nichts, es kann deswegen nicht als die Erneuerung, sondern als die Bestätigung seines schon bestehenden Gottesverhältnisses verstanden werden. Der Mensch hingegen bedarf der Zueignung der Ewigkeitsgewissheit, die ihm das Verständnis seiner selbst, die Bedeutung von Tod und Leben und sein Gottesbild wandelt. Der Blick auf den Tod und das menschliche Selbstverständnis angesichts des Todes verändern sich durch Gemeinschaft mit Jesus. Dem Glaubenden erstirbt täglich ein durch eine gesetzhafte Todesdeutung bestimmtes Gottes- und Selbstverhältnis, indem dieses durch Jesu ewigkeitsgewisses Verhältnis zum Tod überwunden wird. Der Glaube überwindet die Lähmung der Todesangst und die auf die Endlichkeit beharrende Lebensgier und geht, indem er den Tod als Gottesbegegnung erfährt, gleichermaßen über die bloße Einstellung der Tapferkeit hinaus, die den Tod zugunsten des größeren Guts des ewigen Lebens aushält.538 Der Tod und todesähnliche Erfahrungen im Leben sind nicht nur Gericht, sondern Gott begegnet dem Menschen hier zugleich in Form des Gnadenzuspruchs. Der Tod ist nicht nur ein irgendwie zu ertragendes Geschick, sondern in ihm kommt Gott selbst mit seinem ewigen Leben zum Menschen. Das ewige Leben ist dem Tod nicht äußerlich. Die Tapferkeit und die Sehnsucht verwandeln sich für den Glaubenden in die „Ewigkeitsgewißheit“539 im Sterben. Damit ist die glaubende Einstellung zum Tod mit der Einstellung Jesu zur Deckung gebracht.

b)  Der Tod in der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium – was bleibt Das Ziel einer im Glauben vermittelten neuen Einstellung zum Tod ist letztlich die innere Überwindung der Macht des Todes, indem dem Tod seine Endgültigkeit genommen und ihm die Bedeutung von Leben abgerungen wird. Diese neue Bedeutung verbleibt aber in der Spannung der Doppeldeutigkeit des Todes, die 538 

539 

S. o., 277. ChR II, 104; i. O. herv.

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durch die irdische Eingebundenheit des Glaubens bzw. den Gegensatz von Gesetz und Evangelium zutage tritt. Dieser Gegensatz kulminiert im Tod, in dem zugleich Vergänglichkeit und Ewigkeit, Unheiligkeit und Heiligkeit, Geschöpf und Schöpfer, Angst und Sehnsucht, Passivität und Aktivität des Menschen aufeinandertreffen. Dadurch bleibt für den Glaubenden einerseits die doppelte Bedeutung von Nichtigkeit und Vollendung, von Lebenszerstörung und Durchgang zum Leben am Tod erhalten. Andererseits wird durch den gnadenhaften Charakter der im Tod liegenden Gerichtserfahrung deutlich, dass der Tod Mittel der Erziehung hin zur Gottergebenheit des Menschen ist. Warum die Sterblichkeit ein wesentliches Kennzeichen von Geschöpflichkeit ist, wird hieran sichtbar: Erst am Gegensatz kann sich der Glaube in seiner Doppelbewegung von Schuldgefühl und Vertrauen entzünden. Ihm muss seine Abhängigkeit von Gott zutiefst klar werden, wenn er in vollkommener Hingegebenheit an Gott aufgehen soll. Der bleibenden Doppeldeutigkeit des Todes entsprechend kann zuerst danach gefragt werden, was vom allgemein-menschlichen Verhältnis zum Tod für den Glaubenden bleibt. Bei Jesus sind es die Momente der Anfechtung und der Gottverlassenheit, die aus seiner Unwissenheit in Bezug auf den Tod resultieren. Die Frage danach, was der Tod denn sei, kann auch vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens nicht eindeutig wissensmäßig beantwortet werden. Es bleibt dabei: „Der Tod ist uns ein Geheimnis und was er bedeutet, wissen wir nicht.“540 „Dem Glauben an das Evangelium […] wird das Geheimnis nicht hinweggenommen: er steht mit seinem Erkennen und Wahrnehmen vor dem Tode als vor einer verschlossenen Tür genau ebenso da wie Unglaube und Zweifel.“541 „Der Tod ist die Grenze alles Wissens, und die Ewigkeit ist uns das schlechthin in Gestaltlosigkeit Verborgne. Kein menschlicher Begriff, kein menschliches Bild kann es fassen, wie Leben durch den Tod hindurch sich in Gott hinein vollenden soll. Wir sterben in ein Geheimnis hinein“542.

Die Bedeutung des Todes als Nichts, die Erfahrung von Sinnlosigkeit, die Angst vor dem Selbstverlust und vor der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens, der Schmerz der Trennung von geliebten Menschen bleiben so in gewisser Weise erhalten. Die Negativität des Todes bleibt als Realität der Gesetzesoffenbarung, die an jedem neu überwunden werden muss, bestehen. Das darin liegende unwahre Gottesbild muss in ein wahres überführt werden bzw. das darin verborgene Gottesbild vom Gott der Liebe muss freigelegt werden.

540 

ChR II, 109. ChR II, 105. 542  Ag, 100. 541 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Jeder muss dem Tod durch die Vermittlungsleistung des Glaubens und des Gleichzeitigwerdens mit Jesus von Neuem die Bedeutung abringen bzw. sich zuteilwerden lassen, dass er Weg zum Leben ist. „Wir brauchen ein eigenes Ostern, eine eigene Gewißheit des Glaubens. Was andre erfahren haben, sagt uns letztlich nichts.“543 Damit wird die für Jesus „entschiedene Frage des Todes“ zwar immer wieder „neu zur Entscheidung“ gestellt.544 Jesu Tod auf diese Weise die Endgültigkeit zu nehmen dient aber für Hirsch allein dazu, die Aneignungsleistung des Glaubenden, der sich faktisch der Ambivalenz und Fragilität des Lebens, d. h. einem gesetzhaften Verständnis des Todes und seiner selbst angesichts des Todes ausgesetzt sieht, zu plausibilisieren. Auch wenn die neue Todesdeutung am Tod Jesu allgemein und endgültig einsehbar wäre, so müsste der Überschritt dazu, dass sie existenzbestimmend wird, noch geleistet werden. Die existenzbestimmende Kraft der göttlichen Offenbarung kommt nur zustande durch die persönliche, kontrafaktische Erfahrung des Gotteserweises. Der unendliche „Sinn des eigenen Todes“ wird damit gerade nicht „in eigener Entscheidung“ und im Modus der Selbstbehauptung ergriffen, sondern er wird dem Menschen gnadenhaft zuteil.545 Eine allein endliche Todesdeutung krankt an der menschlichen Selbstermächtigung. Die unendliche Todesdeutung kann der Mensch von sich aus nicht entwickeln. Er kann sich aber im Extremfall, auch wenn die unendliche Todesdeutung in seiner Religiosität angelegt ist, gegen diese verschließen und so die Entscheidung gegen sie treffen. Die Unverfügbarkeit des unendlichen Sinnes des Todes verdeutlicht Hirsch vor allem mit der im Tod liegenden Gerichtserfahrung, die dazu dient, den Menschen – auch im Blick auf seine Todesdeutung – jeglicher Selbstmächtigkeit zu entheben, ihn also ganz auf seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gott zu verweisen.546 Phänomenologisch kann das mit dem Gefühl der Passivität und 543 

Pf, 378. Hentschel: Gewissenstheorie, 298. 545  Gegen a. a. O., 299. 546  Vgl. Zw, 77: „Wäre dem nicht so, daß Rätsel und Grauen, das ich nicht auflösen kann, an dem Tun des grimmen Knechts haftete, so wäre ich angesichts der segnenden, vertiefenden, befreienden, erlösenden Macht des Todes wohl in Versuchung, mich als des Todes Meister zu fühlen. Und damit wäre denn alles, was Gott durch den Tod mir sagt und an mir tut, mit einem Schlage wieder verspielt. Ich muß mich dem Unenthüllten, Grimmen, Dunklen, welches der Tod an sich hat, beugen lernen mit nacktem Nichtverstehen, wenn er mir wirklich Bote Gottes sein soll.“ Zw, 153: „Das Geheimnis, daß wir werden, indem wir sterben, muß immerdar geglaubt werden. Ein Sterben, das uns als Steigen unsrer Vollmacht, als Lebendigwerden durchsichtig wäre, könnte uns reine Anbetung nicht gebären.“ Zw, 284: „Sinne und Verstand mögen und müssen vielleicht meinen, das Widerspiel zu erfahren. Der Glaube aber erahnt, daß nichtverstehende, nichtwissende Übergabe an den uns das Sterben kosten lassenden Gott in sich selber der Brunnquell des Lebens ist.“ 544 

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

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Ohnmacht dem Tod gegenüber eingeholt werden. Darin, dass der Christenmensch trotz einer ihm zuteilwerdenden neuen Todesdeutung die Geheimnishaftigkeit und Unverfügbarkeit des Todes akzeptiert, liegt der christliche Realismus begründet, den Tod zuerst als nichts anderes als ein im Hirsch’schen Sinne naturgesetzliches Ereignis wahrzunehmen.547 Der Tod bleibt für Hirsch entgegen der problematischen Tendenz christlicher Frömmigkeit, die aus einer lebensabgewandten „übernatürlichen Geistigkeit“ heraus den Tod seiner Rätselhaftigkeit entledigen will, „negative[ ] Macht“548. Als solcher ist er im Rahmen der christlichen Deutung notwendig, um jegliche Versuche der eigenmächtigen (Selbst-)Vollendung zu unterbinden und um die Unmöglichkeit eines eindeutigen Wissens über den Tod vor Augen zu halten.

c)  Der Tod als Möglichkeit der Vollendung der Gotteskindschaft – was neu wird An Jesu Verhältnis zum Tod ist neu, dass er seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gott eingesteht, indem er Gottes Willen bejahend erleidet. In dieser Haltung stärkt ihn sein Bild von Gottes unter dem nach außen hin sichtbaren Negativen verborgener Liebe, das das Gesetz überwindet. Er erfüllt damit eine Voraussetzung für die Zersprengung des Gegensatzes von Tod und Leben: Er ist seiner Selbstmächtigkeit vollkommen enthoben. Er ist dessen gewiss, dass er im Tod Gottes Leben begegnet und nimmt den Moment des Todes als die Vollendung seiner Sohnschaft, die sich ganz in den Willen des Vaters einstellt, an. In diese Gottessohnschaft werden durch das Gleichzeitigwerden mit Jesus die Glaubenden mit hineingenommen und gewinnen die Gewissheit von Gottes Liebe und ihrer mit dem Tode ausstehenden Vollendung. Trotz der bleibenden Beschränkung der endlichen Erkenntnis im Blick auf den Tod ist mit dem in Jesus angeeigneten Verhältnis zum Tod etwas gewonnen. Im Glauben an die sich in Jesus erschließende Liebe Gottes wird „das Geheimnis des Todes licht“549. „Licht“ ist bei Hirsch die Metapher, mit der er das Phänomen der Glaubenserkenntnis trotz Nichtwissen bzw. bei gleichzeitigem Nichtwissen umschreibt. Es ist das überbegriffliche Innewerden, ein „Nichterkennen, das

547  Diesen Realismus nennt Hirsch, „die große christliche Nüchternheit […], welche den Mut hat, der Vergänglichkeit alles Irdischen unbefangen ins Auge zu blicken“ (HchR, 399). 548  ChR II, 104. Hirsch richtet sich damit gegen die Kritik Goethes am Christentum, dass hier erstens dem Tod seine Rätselhaftigkeit genommen sei, die er faktisch aber immer behalte. Zweitens würde die christliche Deutung über das diesseitige Leben und alle Empfindungen, die damit einhergehen, hinwegsehen, es vernachlässigen. 549  ChR II, 109.

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

tiefer als alles Erkennen ist“550, das im Glauben das neue Verhältnis zum Tod begründet. Der Glaube begründet seine Gewissheit über die neue Bedeutung des Todes darin, dass er überwissensmäßiges Erkennen der Wahrheit ist.551 Hirsch spricht zudem von einer „Vollmacht“552 des christlichen Glaubens, der, indem er den Bezug auf die gestaltlose Ewigkeit aufrecht erhält, die „Menschlichkeit des Daseins“553 bewahrt. Der christliche Glaube ist für Hirsch in seiner Idealgestalt der Gewährsmann der Humanität. Der vollendete Glaube nämlich ist die der Liebe Gottes des Vaters gewisse Gotteskindschaft. Sie drückt sich aus in einer Haltung der Hingabe an Gott und Menschen und stellt einen seines Selbstbehauptungsdrangs gegenüber Gott und anderen enthobenen Menschen vor Augen. Die Gotteskindschaft ist die Realisation des vollendeten Verhältnisses zum Tod, das diesen als Durchgang zum Leben begreift und dem Endlich-Vergänglichen damit die Macht des Endgültigen nimmt. Aus diesem Bewusstsein erwächst die Freiheit gegenüber den irdischen Dingen. Das Leben aus seiner Berufung drängt den Christenmenschen gleichzeitig in die Verantwortlichkeit den anderen gegenüber. Der Friede mit Gott im Gewissen, der durch die Versöhnung an ihn vermittelt worden ist, geht einher mit der Selbsthingabe nicht nur an Gott, sondern auch an die anderen.554 Auch in der Gestalt des nach außen drängenden Versöhnungsgeschehens hat der Glaubende Anteil an Jesu Sterben. Er hat die Aufgabe, „auch so stark zu sein und anderer Schuld in sich mit dem Glauben an Gottes Liebe zu überwinden“555. Weil er an die Ver550  Ag, 103. Vgl. HchR, 392: „Was den einzelnen Menschen anlangt, so haben wir schon in den früheren Briefen davon gesprochen, daß der Tod für uns ein Vorhang geworden ist, durch den hindurch kein gestaltetes Bild, kein gestalteter Gedanke geht. Wir wissen nichts. Dem grenzüberschreitenden Wagnis des Glaubens an Gott, und dem dadurch bestimmten Blick auf das Todesgeheimnis ist es auf überwissensmäßige und schlechthin bildlose Weise gewiß, daß wir durch den Tod dem Geheimnis Gottes entgegengehen und an diesem entweder ewig sterben oder ewig das Leben finden werden.“ 551  S. o., 86. 552  ChR II, 105. 553 Ebd. 554  Vgl. ChR II, 72: „Als solche Gotteskindschaft empfängt der Glaube alle im Menschen etwa entbundne Vollmacht, das Gute zu tun, als ein Geschenk Gottes, der seinen Kindern auch in ihrem Tun und Leiden an seiner Vollmacht Anteil gewährt, und erleidet er alles Preisgegebensein an die dem Menschen seinen Dienst am Guten verderbende Angst und Gier des Lebenswillens in der Anbetung des Wunders, das Gottes ihn haltende und tragende Gnade dem von seiner Schuld wissenden Menschen ist. […] Nicht einmal sich selbst, der diese Gotteskindschaft ist, sieht der Glaube als einen Gotte sich darbringenden und dadurch Gott besitzenden Willen an. Er vernimmt sich lediglich als das im Ja zu Gott lebendige Erleiden der schaffenden Liebe Gottes, und diese Liebe Gottes ist ihm allein gegründet in dem ewigen göttlichen Wesen, das den Menschen vor allem seinem eignen Sichfinden und -vernehmen mit ihrem Leben umfängt und trägt.“ 555  ChR II, 77.

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

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gebung glaubt, vergibt er und schließt damit anderen das Wesen der Gottesliebe auf.556 Nicht nur an der negativen Seite des Todes, sondern im Glauben selbst liegt es begründet, dass der Tod trotz der ihm zugeschriebenen neuen Bedeutung Geheimnis bleibt. Der Glaube, der wesentlich Glaube an das Reich Gottes ist, ist in der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott verortet und deswegen von außen nicht einsehbar. Die mit dem Reich-Gottes-Gedanken ausgesagte Unvorgreiflichkeit der Gnade und die Verborgenheit der Vaterliebe Gottes bedingen es, dass der Mensch sowohl im Blick auf seinen Glauben als auch im Blick auf seine Sünde mit menschlichen Maßstäben – die auf einzelne Taten gerichtet sind – nicht beurteilt werden kann. Auf seinen Ausgang im Tod kann deswegen nur spekuliert oder aus der Vollendungsgewissheit heraus gehofft werden, mit Sicherheit kann darüber aber nichts ausgesagt werden. Indem der Glaubende den Glauben als nichterkennendes Erkennen ernstnimmt, verzichtet er auf die selbstmächtige Festlegung des unendlichen Ausgangs des Menschen. Die Maßgabe der Gestaltlosigkeit des Ewigkeitsglaubens bewahrt den Glaubenden vor endlichen Spekulationen über die Ewigkeit. Das Sterben, das den Menschen jeglicher Vollmacht – auch der, sichere Aussagen über die Ewigkeit zu machen – enthebt, schafft ihm erst die Möglichkeit „reine[r] Anbetung“557 und ist so selbst die Bedingung für die Vollendung des Glaubens, wie es bei Jesus an der Vollendung seiner Sohnschaft im Tod deutlich wird. Hirsch macht die Gottesbegegnung in der Anfechtungserfahrung des Todes geradezu zu einer Voraussetzung für den vollendeten Glauben: „Wenn man je zum wahren Menschsein geboren werden soll, so muß es in der Todeskrise sein.“558 Die krisenhafte Intensität der Anfechtungserfahrung ist, wie dargestellt,559 für Hirsch für die Entstehung des Glaubens nicht notwendig, wohl aber für dessen Vollendung. Denn in der Todeserfahrung kulminiert das Gefühl, seiner Selbstmächtigkeit vollständig enthoben zu sein, das die Voraussetzung für die absolute Gründung in Gott ist. Hirsch beschreibt die den Glauben intensivierende Kraft der krisenhaften Erfahrung zudem von ihrer phänomenalen Realität her: „Ich kenne wohl dunkle Stunden, da mich Gott aus dem verbleichenden Unservater hinüberführte in die nackte, bloße, arme, innerlich etwas dem Tode Gleiches durchkostende Ergebung. Aber nie, wahrlich nie, bin ich seiner Nähe, seines Sehens auf mich gewisser gewesen

556 

Vgl. auch Pf, 402. Zw, 153. 558  Zw, 116 f. 559  S. o., 145.275. 557 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

denn eben in solchen Stunden. Wer es fassen kann, der fasse es. Ich selbst fasse es eigentlich nicht. Es war nur so.“560

Gerade weil in der Todeserfahrung und darüber vermittelt in allen anderen Erfahrungen des Ausgeliefertseins das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott in sein Extrem gesteigert ist, kann sie für Hirsch als die entscheidende Erfahrung gelten, in der der Glaube wie nirgendwann anders aktuell wird.561 Die Realität des Todes wird durch diese Sichtweise davor geschützt, „durch Vergessen oder Übermalen“562 zugedeckt zu werden. Von „der Wirklichkeit des Todes her oder an ihr“ wird der Glaube „zu dem unendlichen Vertrauen auf den Gott des Evangeliums“563. So wird die Todeserfahrung zur „Probe der Gotteskindschaft“564, zur Probe unbedingten Vertrauens, mit dem der Mensch selbst im Sterben angesichts aller Negativität noch wie Jesus ‚Vater‘ und ‚Mein Gott‘ sagen kann565. Und noch einmal mit anderen Worten: „Darum: das Herz soll es lernen, ahnen lernen am Kreuz des Herrn, daß der Weg zu Gott immer ein Weg durchs Sterben ist, schon hier auf unserm Erdenwege. Wo wir ausgezogen werden, wo wir nackt und bloß daliegen in der Hand des Allgewaltigen, ebenso unverstehend wie das neugeborene Kind in der Hand der Mutter oder Amme, da erst fangen wir an, der ganzen Gottheit Gottes, der ganzen Heiligkeit und Wahrheit des Ewigen inne zu werden.“566

Mit der Aneignung des Todes Jesu lernt der Glaubende sterben. Dieser Lernprozess findet auf zwei Ebenen statt. Die Gewissheit, dass das Leben durch den Tod auf die Ewigkeit zugeht, vermittelt eine neue Todesdeutung, die das Gefühl der Kreatürlichkeit und das Endlichkeitsbewusstsein des Menschen bestätigt und ihn damit zugleich in seiner ewigen Dimension gründet. Sterben Lernen bedeutet für den Glaubenden auf der einen Seite, sich seiner endlichen Be560  Zw, 210 f. Vgl. die Notiz in ChR II, 57: „Das Schauen der Herrlichkeit Gottes ist im Leiden am stärksten: das ist eine alte christliche Erfahrung.“ 561  Vgl. Zw, 210: „Aus dem stillen Beten, wie es dem Kinde ziemt, wird mir mein gegenwärtiges Leben zum Ort der Gemeinschaft mit ihm. Kommt die Stunde, da er Dunkelheit über mich verhängt, mich sterben läßt oder mich angstvoll meine Schwäche erkennen läßt, so wird er sich mir schon auch dann vernehmlich machen und in mir das Gebet sich gebären lassen, welches Jesus in Gethsemane gesprochen: ‚Nicht wie ich will, sondern wie du willst.‘ […] Empfangenes Beten, das zutiefst ein Lauschen ist, vermag es, das Herz gelassen in der Hand dessen zu bergen, der mit ihm handeln kann, jetzt wie künftig, nach seinem verborgenen Rat. […] Spätestens wird mir das beschieden in der Stunde meines Todes. Da spüre ich vielleicht nichts, als daß mir mein Vater den Lebenshauch entzieht, mich ganz sterben läßt in ihn hinein, und wenn ich vernehme, daß er dies tut, hat er gewiß auch schon das Gebet der letzten, unbedingten Ergebung in mir geweckt.“ 562  ChR II, 102. 563 Ebd. 564  ChR II, 77. 565  WGJ, 109. 566  WGJ, 239.

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

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grenztheit bewusst zu werden und diese in den Rahmen seiner ewigen Bestimmung zu stellen. Sterben Lernen bedeutet damit, sich die jesuanische Einstellung zum Leben zueigen zu machen, mit der der Glaubende auf die Verabsolutierung alles Endlichen – sich selbst inbegriffen – verzichtet, indem er es in der Ewigkeit gegründet weiß. Sterben Lernen bedeutet damit auch, von dem Willen zur letztgültigen Durchdringung des Lebenssinnes ablassen zu können.567 „Damit wird das Leben zu einem Reifwerden für die im Tode sich vollendende, einen ganz vor Gott durchsichtig machende Offenbarung Gottes“568. Sterben Lernen bedeutet für den Glaubenden auf der anderen Seite, sich die jesuanische Einstellung zum Tod zueigen zu machen und dem Tod trotz seiner faktischen Nichtigkeit so begegnen zu können, dass er auf Gottes Liebe vertraut. Sterben Lernen bedeutet, den Tod mittels der Ewigkeitsgewissheit konstruktiv in den Prozess der menschlichen Selbstwerdung einschließen zu können, wodurch er seiner den Menschen scheinbar in seiner Selbstwerdung beschränkenden Eigenschaft enthoben wird.569 Sterben Lernen bedeutet, krisenhafte Erfahrungen als integrale Bestandteile des menschlichen Lebens anzunehmen, auch wenn sich ihr Sinn nicht unbedingt erschließt, und ihnen mit dem Vertrauen darauf zu begegnen, dass sich durch sie hindurch die Liebe Gottes an mir erweist.570

d)  Das Wesen des Glaubens als transitus – täglich sterben Der Glaube ist seinem Wesen nach transitus. Diese Zuschreibung bedeutet einerseits, dass sich der Glaubende im Blick auf den Tod in der Spannung zwischen bzw. im ständigen Übergang vom Gesetz zum Evangelium befindet, dass er zugleich das Dunkel der Anfechtung und das Licht von Gottes Liebe erfährt. „Wird Jesus der uns in der Innerlichkeit unsers Umgangs mit Gott gegenwärtig regierende Herr, so stehen wir mit ihm zusammen an jener Grenze von Zeit und Ewigkeit, welche die 567 Martin

Zerrath ordnet diese Form von Sterben-Lernen als „Metapher einer bestimmten Daseinshaltung“ (Zerrath: Vollendung, 248) ein, von der er das Sterben-Lernen im eigent­lichen Sinn unterscheidet. 568  EE, 321. 569 Vgl. Lasogga: Menschwerdung, 362. 570 Martin Zerrath vernachlässigt in seiner Interpretation des Hirsch’schen Gedankens vom Sterben-Lernen die von der Anfechtungserfahrung im Tod abgeleitete Daseinshaltung (Zerrath: Vollendung, 248 f.). Hier wird erneut deutlich, dass Zerrath den Gerichtscharakter des Todes in seiner Hirsch-Interpretation nicht genügend beleuchtet und die Funktion des Todes darauf reduziert, Endlichkeitsbewusstsein zu erzeugen (s. o., 232, Anm.  273). „Sterben zu können“ im Sinne einer bestimmten Daseinshaltung bedeutet nicht nur, im Rahmen des Endlichkeitsbewusstseins „von unerfüllt gebliebenen Intentionen loslassen zu können“ (a. a. O., 248), sondern krisenhafte Erfahrungen mit dem Bild vom liebenden Gott zusammenbringen zu können.

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

Spannung zwischen dem Heute des Glaubens und Geistes und dem Morgen der ersehnten Vollendung erzeugt. Das Leben im Glauben ans Evangelium verleiht unserm gesamten Dasein das Gepräge des Transitus, des Übergangs aus Dunkel in Licht.“571

Andererseits drückt die Zuschreibung aus, dass im Glauben schon seine Vollendung enthalten ist, obwohl der Glaubende sich im Prozess des Werdens zu ihr befindet. Das über sich hinausgreifende Wesen des Glaubens wird, so Hirsch, daran deutlich, dass Glaube Gewissheit und Verheißungsglaube ist: „Alles, was der Glaube empfängt, ist ein Anfang, der die Gewißheit der Vollendung in sich trägt, oder mit andern Worten: Glaube ist Glaube an eine Verheißung.“572 Diese Struktur sieht Hirsch in zwei Momenten des Glaubens gegeben. Erstens ist der Inhalt der Verheißung die Sündenvergebung. Die Sündenvergebung ist nicht nur da im Modus der Hoffnung, sondern der Verheißung, als Gewissheit. Sie tritt dem Glauben nicht äußerlich hinzu, sondern ist in ihm schon real. Der Inhalt der mit der Sündenvergebung gewährten Verheißung ist die „ganze[ ], vollkommene[ ] Gerechtigkeit“573. Hirsch spricht lieber von der „Gewißheit von der Vollendung des ganzen Menschen in der Einheit mit Gott“574, womit er sowohl die Ganzheitlichkeit des Menschen gegenüber einem vergeistigten oder forensischen Verständnis von Gerechtigkeit betont, als auch die Gründung der menschlichen Gerechtigkeit in Gott verdeutlicht, die der Mensch nicht von sich aus erreichen kann, sondern die ihm gnadenhaft zugesprochen wird. Hirsch will zudem – indem er in der Sündenvergebung die Glaubensgewissheit verankert – dem sündentheologischen „Druck auf den Menschen“575 vorbeugen, menschliche Bußwerke oder eine in ihrer Intensität gesteigerte Anfechtungserfahrung zur Bedingung für den Glauben und die Gemeinschaft mit Gott zu machen. Die Gemeinschaft mit Gott kann keinesfalls durch ein menschliches Bußwerk erreicht werden; Buße ist in der je individuellen Anfechtungserfahrung erlittene Buße.576 Das zweite Moment des Glaubens, das auf die schon in ihm enthaltene Vollendung verweist, ist die mit ihm gegebene Erkenntnis. Das Über-Sich-Hinausgehen des Glaubens ist nicht nur in der Verheißung, sondern schon im Wesen der Gotteserkenntnis selbst verankert. In der Wahrheitsbezogenheit von Erkenntnis liegt es, dass sie immer auf die ganze Wahrheit, auf die vollkommene Erkenntnis gerichtet ist. Diese vollendete Erkenntnis benennt Hirsch folgender-

571 

WrCh, 102; Herv. A.‑M. K. ChR II, 109; i. O. herv. 573 Ebd. 574 Ebd. 575  ChR II, 110. 576  S. o., 110 f. 572 

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

311

maßen: „Gott so kennen, wie er uns kennt“577 – die vollendete menschliche Erkenntnis ist eine die Einseitigkeit der Erkenntnis von Gott her durchbrechende Erkenntnis. Für sie ist Gott vollkommen offenbar; sie ermöglicht damit ein echt personhaftes Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Die vollendete Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch liegt begründet in der vollkommenen Erschlossenheit Gottes für den Menschen und der damit verbundenen vollendeten Erkenntnis Gottes durch den Menschen. Sie wird ermöglicht durch die Sündenvergebung, die die Gewissheit davon vermittelt, dass der ganze Mensch zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist. Im Blick auf den Tod bedeutet die transitus-Struktur des Glaubens zweierlei: Zum einen verbindet sich dieser Gedanke mit der religionsphilosophisch herausgearbeiteten jederzeitigen Präsenz des Todes im Leben in Form der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit.578 Im und am Tod wird die Ganzheit des Lebens offenbar, die jederzeit im Leben präsent ist. Die Ganzheit des Lebens erweist sich aus der Perspektive des Glaubens nicht nur als das zeitliche mit dem Tod abgeschlossene und dem Menschen vor Augen stehende Leben, sondern das zeitliche Leben wird im Horizont der Ewigkeit betrachtet und erhält von dorther seine Ganzheit. Theologisch gedeutet werden im und am Tod die Liebe Gottes und sein ewiges Leben offenbar, wodurch das menschliche Leben in Form des Glaubens vollendet wird. Durch die jederzeitige Präsenz des Todes im Leben ist die Vollendung des Glaubens im Tod gleichermaßen jederzeit im Glauben präsent. Zum anderen ist die transitus-Struktur des Glaubens auf Todes- und Neuschöpfungserfahrungen im Leben zu beziehen. Die Dynamik des Glaubens wird durch die stets neu zuteil werdende Neuschöpfung bedingt. Täglich stirbt der Mensch und wird neu erschaffen. Das Leben ist ein tägliches Sterben. Dieses ständige Sterben als „Gottes Lebensweg mit uns“, das Leben als ein Leben „zum Tode“579 anzunehmen ist die Vollendung des Glaubens, die sich in der eben beschriebenen Einstellung zu Leben und Tod äußert. Das letzte Ziel, im vollendeten Glauben zum Geschwisterkind Jesu zu werden, bleibt aber jenseits der Todesgrenze verborgen. Dort liegt auch die endgültige Überwindung der Doppeldeutigkeit des Todes und seine eindeutige Bestimmung als Leben gewährende Gottesbegegnung. Dort kann dann auch der Glaubende vollständig das wahre Wesen des Todes als eines Durchgangs zum Leben begreifen – der mit Nichtigkeit drohende Tod hat seine Aufgabe am Menschen erfüllt, er hat keine Macht mehr über ihn.

577 

ChR II; 110. S. o., 5.A, 180 ff. 579  Zw, 303. 578 

312

Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

„Hier sprengt das Leben, das der Glaube kennt, die irdischen Grenzen und Bedingungen: es ist wesentlich den Tod nicht kennendes Leben. […] Leben in und aus Gott ist zugleich unter dem irdisch-geschichtlichen Dasein gegenwärtig und in Gottes Ewigkeit sich erfüllend und offenbarend.“580

Das „den Tod nicht kennende[ ] Leben“ ist wesentlich Gottes eigenes Leben.581 D. h. der vollendete Glaube wird – freilich unter Berücksichtigung der Antinomie des ewigen Lebens582 – mit Gottes Leben gleichgestaltig. Im Glauben unter irdischen Bedingungen ist dieses Leben zwar noch nicht vollendet offenbart, gleichwohl aber „gegenwärtig“.583 Das Wesen des Glaubens als transitus macht Hirsch deutlich mit dem Satz „Der Glaube als Anfang eines Lebens, das durch den Tod hindurch sich vollendet“584. Allein dieser Satz ist Hirsch zufolge zentral, in ihm ist in nuce „fast schon alles“585 gesagt. Mit der Interpretation dieses Satzes im Rahmen von Hirschs Theologie wird das soeben Ausgeführte ergänzt und résumiert. Die Bewegung geht vom Glauben aus. Glaube ist beginnendes Leben bzw. trägt es „in sich“586. Im Glauben ist schon die Lebensfülle des über den Tod hinausgehenden Lebens. Auf welche Weise sich der Glaube im Tod vollendet, wird erhellt, indem die Präpositionen „durch den Tod hindurch“ grammatikalisch näher bestimmt werden. Die Präposition ‚hindurch‘ verstärkt die lokale Funktion der Präposition ‚durch‘. Das menschliche Leben verändert seinen Ort, es geht aus dem zeitlichen Leben heraus in das ewige Leben hinein. Die Bewegung geht vom Glauben unter irdischen Bedingungen auf seine Vollendung in Gestalt von Gottes Leben hin. ‚Hindurch‘ hat außerdem einen temporalen Sinn, mit dem die zeitliche Erstreckung einer Sache oder Handlung bezeichnet wird. Der Tod ist kein einmaliger Punkt, an dem sich alles entscheidet, sondern er ereignet sich – metaphorisch gesprochen – immer wieder im Leben. Das Leben ist ein ständiges Sterben, seine zeitliche Erstreckung bedingt die Dynamik des Glaubens auf seine Vollendung hin. Für ‚durch‘ ist über seine lokale Funktion hinaus ein in­stru­mentaler Sinn zu verzeichnen. Das bedeutet, dass der Tod nicht lediglich ein zu vernachlässigender Übergang587, sondern in seiner Offen580 

WCh, 43. S. o., 6.A.a, 216 ff. 582  S. o., 161. 583  Vgl. WrCh, 186 „Diese Deutung [Glaube als Gotteskindschaft, A.‑M. K.] schließt die lebendigste uns hier auf Erden gewährte Gotteserfahrung mit dem Geheimnis, welches durch den Tod dem Glaubenden sich auftut, zur inneren Einheit zusammen.“ 584  ChR II, 109. 585 Ebd. 586 Ebd. 587 Damit wäre die oben benannte zweite menschliche Einstellung zum Tod für den christlichen Glauben ausgeräumt. S. o., 5.B, 183 ff. 581 

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

313

barungs- und Gerichtsfunktion notwendig zur Vollendung des Glaubens ist – er ist Durchgang. Dem Tod kommt für Hirsch „scheidende und entscheidende Bedeutung zu“588. Der Tod ist seines gerichtlichen Charakters entsprechend auf eine solche Art und Weise Durchgang, dass er eine „Metamorphose in ein unfaßliches Geheimnis hinein“589 ist. Es ist also von sich aus noch nicht alles für den Glaubenden gegeben, das sich ohne großes Hindernis über den Tod hinaus fortentwickeln könnte, sondern im Tod liegt das Moment der Verwandlung des Menschen hin zu vollkommenem Glauben, zur vollkommenen Gestalt des Menschseins. Auch der Glaubende wird gerichtet. Seine Verwandlung besteht darin, dass alles Vergängliche in der Art hinter sich gelassen wird, dass es keine Macht mehr über den Menschen hat. Diese Verwandlung findet nicht erst in dem Moment des Todes als zeitlichem Ende des irdischen Lebens statt, sondern ist ein tägliches sich Verwandeln durch die tägliche Begegnung mit dem Tod als Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit. Dementsprechend ist ein Kultus der Sterbestunde, der den menschlichen Glauben zum Zeitpunkt seines Todes überbetont, für Hirsch „menschlicher, nicht göttlicher Art“590. Indem vom Tod her die Grenzerfahrungen des Lebens als Gottesbegegnung verstanden werden, kann zu jedem Zeitpunkt des Lebens die Entscheidung über das Gottesverhältnis des Menschen fallen.591 Zudem wird die Art und Weise, auf die sich der Glaube vollendet, durch die Verwendung von „vollenden“ in dem angeführten Zitat erhellt. Auffälligerweise ist das genus verbi aktiv und die Verwendung reflexiv. Das Leben vollendet sich selbst und wird nicht von jemandem vollendet. D. h. im Glauben hat es schon die Kraft gewonnen, die es zur Vollendung benötigt. Die Vollendung ist nicht etwas zum Glauben Hinzutretendes, sondern der Glaube ist dieses vollendete Leben selbst. Den Übergriff in die Ewigkeit hat er durch sein sich selbst transzendierendes Wesen, mit dem er „sich über dieses Leben hinausstreckt“592. Dass die Vollendung auf diese Weise nicht vom Menschen selbst kommt, der ja im Moment des Todes seiner Selbstmächtigkeit enthoben ist, sollte klar sein. Vermittelt über den Glauben kommt sie von Gott, weil Gott ebendieses Leben ist, das sich da vollendet.

588  WrCh,

178. Ebd.; Herv. A.‑M. K. Vgl. a. a. O., 172; Eg, 219. 590  ChR II, 107. 591  Damit ist auch die Selbsttötung, mit dem der Mensch am Leben schuldig wird, für Hirsch kein Grund, von ewiger Verdammnis für diesen Menschen zu sprechen. Jeder Mensch ist irgendwann schuldig geworden und für die Entscheidung über den Ausgang kommt es allein auf Gottes Gnade an (ChR II, 242). 592  ChR II, 109. 589 

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Hauptteil: Der Tod zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens

So wie sich die Gemeinschaft mit Gott und die Gotteserkenntnis als Hauptmomente des Glaubens vollenden müssen, so müssen es auch alle andern bei Hirsch entfalteten Momente des Glaubens. Von hier aus ergibt sich dann die oben analysierte „Fülle von Aussagen“593, die man mittels umformender Aufnahme der traditionellen eschatologischen Bilder und jenseits ihrer treffen kann. Der Maßstab für ein angemessenes Reden über das Verhältnis des Menschen zum Tod ist mit Hirsch, „daß der Tod wahrhaftig Eingang in das Leben ist, weil christlicher Glaube in jedem Punkte [auch im Tod, A.‑M. K.] Vollendungsgewißheit ist“594. Auch wenn die christliche Todesdeutung den Realismus im Blick auf die Nichtigkeit des Todes beibehält und den Gerichtscharakter des Todes stark macht, so kann sie die im Glauben erfahrene Gnade und die darin gegründete Ewigkeitsgewissheit in Anspruch nehmen und reflektieren – freilich unter dem Vorbehalt, dass deren Vermittlung durch die geschichtliche Eingebundenheit des Glaubens und den Primat der subjektiven Erfahrung begrenzt ist. D. h. im Blick auf das Selbstverständnis christlicher Rede vom Tod, dass sie sich der Spannung, in die der Glaubende gestellt ist, selbst ausgesetzt weiß – sie gründet selbst nicht auf einem vollendeten Glauben, hat deswegen keinen besonderen Zugriff auf die Gestalt des ewigen Lebens und kann keine eindeutige Todesdeutung vermitteln; sie muss gleichzeitig an dem damit verbundenen grundsätzlichen Selbstzweifel nicht verzweifeln, sondern kann ihre Glaubensgewissheit für ihr Reden in Anspruch nehmen. Für das Verständnis des Adressaten christlicher Rede vom Tod bedeutet diese Struktur, dass bei jenem – wie bei sich selbst – die Anlage zur Vollendung gesehen werden muss. Die Rede muss von der Einsicht getragen sein, dass in nahezu jedem, an den sie sich wendet, die Anlage einer angemessenen Todesdeutung vorhanden ist. Keinem kann so begegnet werden, dass ihm die christliche Todesdeutung angesichts seiner Sündenverfallenheit in der Form einer Gerichtspredigt von Grund auf eingebläut werden müsste.595 Die christliche Rede hat nicht die Gestalt einer „Bußpredigt“ angesichts fehlender Glaubensgewissheit, sondern sie versteht sich selbst als „Klage vergeblichen Sichsehnens nach dem Ewigen“596. Das Verfahren ist dann so zu denken, dass es im Menschen vorhandene Anlagen und Erfahrungen aufdeckt, ausdeutet und in den Rahmen der 593 

ChR II, 110. S. o., 160. ChR II, 110. 595  Hirsch nimmt die dahingehende geschichtlichen Entwicklung, dass die christliche Todesdeutung mit „ihren seltsamen Härten und Unbegreiflichkeiten“ (EE, 316) an Relevanz verloren hat, als „Mahnung […], nicht aus dem Gott der Gnade, dem allein jeder Einzelne gehört, einen Gott des Gerichts zu machen, welcher an den Tubatönen der entrüsteten Gemeinde und ihrer Posaunenchöre Wohlgefallen hat“ (EE, 317). 596  Pf, 298. 594 

7  Im Tod der Liebe Gottes gewiss sein

315

Verheißung stellt. Dabei arbeitet es sich – wie bei sich selbst – kritisch an Verendlichungen des Lebens- und Todesverständnisses ab. Den Gerichtscharakter des Todes muss die christliche Rede vom Tod nicht erst erzeugen, sondern er stellt sich in Form der Anfechtungserfahrung – des Erleidens der Verborgenheit Gottes, des Leidens unter der Nichtigkeit des Todes – von selbst ein. Die Aufgabe christlicher Rede vom Tod ist es zum einen, das Leben des Menschen vor dem Horizont des Todes so zu thematisieren, dass der Einzelne seine spezifischen Anfechtungserfahrungen in den Rahmen der Lebensdeutungskategorie des Gerichts stellen kann. Zum anderen stellt sie diese Erfahrungen in den Rahmen der christlichen Verheißung, die an punktuelle Erlebnisse der Ganzheit und des Friedens mit sich und den Anderen (und Gott) anknüpft.

Ausblick

Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

8  Methodische Zwischenreflexion: Die Ausrichtung der systematisch-theologischen Arbeit auf die Predigt Mit der Reflexion über die Aufgabe christlicher Rede vom Tod wird die Brücke von der wissenschaftlich-theologischen Reflexion zur Predigt geschlagen. Das theologische Reden vom Tod findet in der Predigt am Ende des Kirchenjahres, zu Karfreitag und Ostern und mit dem Kasus der Bestattung seine konzentrierte Form1: Sie kann als Verdichtung sowohl des theologischen als auch des gesellschaftlichen Diskurses über den Tod verstanden werden.2 In ihr wird die lebensgeschichtliche Plausibilität der theologischen Reflexion auf den Prüfstand gestellt. Die Ausrichtung der systematisch-theologischen, wissenschaftlichen Denkarbeit auf die Predigt ist eine Perspektive, die sich aus Hirschs theologischem Ansatz selbst ergibt: Sie liegt bei ihm in der funktionalen Seite der Wissenschaftlichkeit der Theologie begründet.3 So wie die Predigt eine theologische Stellvertretungsfunktion für die Hörenden übernimmt, so betrachtet sich die akademische Theologie neben ihrer selbstzwecklichen Wissenschaftlichkeit als auf die Ausübung des Predigtberufs Bezogene. Die Predigt4 bewegt sich für Hirsch auf der Grenze zwischen analytischer, allgemein nachvollziehbarer Reflexion – ‚Rechenschaft‘ – und persönlicher, die 1  Das gilt auch der abnehmenden Zahl von Gottesdienstbesuchern zum Trotz. Es geht mit dieser Feststellung nicht darum, die Reichweite der Predigt zu überschätzen, sondern sie als „exemplarische[n] Fall“ (Gräb, W.: Leben deuten, in: Charbonnier, L./Merzyn, K./Meyer, P. (Hgg.): Homiletik – Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 215–230, hier: 215) der christlichen Deutung des Todes herauszustellen. Dem Kasualgottesdienst kommt dabei besondere Bedeutung zu: Er stellt nach wie vor eine populäre Form kirchlicher Arbeit dar, die an den Schnittstellen des Lebens einsetzt und in denen die Predigenden sich durch einen heterogenen Kreis an Adressaten herausgefordert sehen, von denen wohl ein Großteil mit der biblisch-kirchlichen Tradition nicht vertraut ist. 2 Vgl. Roth, U.: Tod und Leben verstehen. Zum Verhältnis von Grabrede und gesellschaftlichem Diskurs über Sterben und Tod, in: PrTh 37 (2002), 200–206, hier: 205 f. 3  ChR I, 19. S. o., 1.C.a, 64 ff. 4  Vgl. zu Hirschs Predigtverständnis Gräb: Predigt; Müller: Predigt; Ohst: Predigt.

320

Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

dialektische, lebendige Einheit des Glaubens abbildender Meditation – ‚Zwiesprache‘.5 Sie geht damit über die Reflexivität der wissenschaftlichen Theologie hinaus, indem sie das durch jene analytisch Getrennte – deren „künstliche[ ] Isolierungen“6 – stets gleichzeitig zur Sprache bringt.7 Hirsch versteht die Predigt wie die wissenschaftliche Theologie als „freie geistige Rechenschaft“8: Sie stellt einen auf Allgemeinverständlichkeit angelegten, argumentativen Sinnzusammenhang her. Gleichzeitig trägt sie, indem sie „in der Gegenwart andrer eine verhüllte Zwiesprache mit Gott hörbar macht, welche im letzten Grund und Wesen höchst eigene persönliche Zwiesprache des Predigenden ist“9, den Stempel des persönlichen Glaubens, der freilich im argumentativen Zusammenhang nahezu „unkenntlich“10 geworden ist und nur denen als Grund und Horizont der Predigt klar wird, die vermittels der Predigt in ihrem eigenen Glauben betroffen werden11. Dieser Charakter der Predigt entspricht dem Wesen des das Gottesverhältnis frei aneignenden, unmittelbaren, von jeder Lehre letztlich unabhängigen Glaubens und ist die unmittelbare Voraussetzung für die lebensgeschichtliche Plausibilität der Predigt. „Persönliche Predigt“12 ist Hirsch zufolge, der zugleich rezeptiven und spontanen Struktur des Glaubens entsprechend, als Zeugnis der Gottesbegegnung immer zugleich Zeugnis von der Ewigkeit und von sich selbst in Bezug auf die Ewigkeit.13 Sie präsentiert keine Erfolgsgeschichte des Glaubens, sondern stellt In der Pf nimmt Hirsch die Predigt in der Spannung zwischen Rechenschaft und Zwiesprache wahr, wohingegen er in seinem – wahrscheinlich vor der Pf verfassten (1959), posthum veröffentlichten – Text VZ die wissenschaftliche Rechenschaft noch von der predigenden Zwiesprache unterscheidet. Hier geht es ihm darum, diese beiden Mitteilungsformen dem „Lehrvortrag“ und dem „Kerygma“ der dialektischen Theologie kritisch gegenüberzustellen. In der Pf betont er darüber hinaus, dass das persönliche, sich in der Form der Zwiesprache des Glaubens mit Gott ausdrückende Element in der Darstellungsform der allgemeinen Nachvollziehbarkeit untergeordnet werden muss, damit die Predigt zum einen nicht zur reinen Selbstdarstellung wird (Pf, 44) und zum anderen nicht der Gefahr erliegt, die persönliche Glaubenserfahrung als Gottesbeweis vorführen zu wollen (Pf, 45). Dementsprechend ist die Feststellung Hans Martin Müllers, dass die Predigt im Unterschied zur wissenschaftlichen Theologie Zwiesprache sei (Müller: Predigt, 245), nur begrenzt zutreffend. 6  Pf, 56. 7  Pf, 53–58. 8  Pf, 48. 9  Pf, 44. 10  Pf, 50. 11  Pf, 49 f. 12  Pf, 39. Für das Folgende: Pf, 39–58. 13  Hieran macht Hans Martin Müller die Übereinstimmung Hirschs mit der dialektischen Theologie fest: Beide argumentieren gegen das liberale Persönlichkeitsideal des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. – das sich u. a. in Friedrich Niebergalls Predigttheorie niedergeschlagen habe – und betonen demgegenüber „den Unterschied zwischen dem Ewi5 

8  Die Ausrichtung der systematisch-theologischen Arbeit auf die Predigt

321

sich gemäß der simul-Struktur des Glaubens gemeinsam mit den Hörern in die zweifelnde und suchende dialektische Bewegung ein.14 Die persönliche Predigt liefert keinen mit der Glaubenserfahrung eines Einzelnen belegten Gottesbeweis15, sondern sie führt die Hörer frei zur eigenständigen Aneignung des Evangeliums im persönlichen Glauben hin. Die Predigt zielt damit letztlich wie die Theologie im Allgemeinen auf die Freiheit ihrer Adressaten ihr gegenüber und deren Ausbildung eines unmittelbaren Gottesverhältnisses, auf die sie selbst letztlich keinen Einfluss hat.16 Sie hat damit nicht den Anspruch, „selber schon die Herstellung von Gewißheit zu sein“17, sondern diese muss dem Hörer in seinem eigenen Glaubensvollzug evident werden. Sein Selbstverständnis leitet der Prediger dementsprechend aus dem systematisch-theologisch reflektierten Menschenbild ab, das durch die Spannung zwigen und dem Zeitlichen“ (Müller: Predigt, 229). Allerdings muss Müller sein Urteil insofern entkräften, als Hirsch daraus nicht die Konsequenz zieht, auf die homiletische und theologische Bedeutung der Persönlichkeit in der Predigt gänzlich zu verzichten, sondern ein Konzept persönlicher Predigt entwickelt, das die Realität des Gesetzes und des menschlichen Schuldbewusstseins mit einschließt. „Die Begegnung des Evangeliums mit der Innerlichkeit des Gewissens führt nicht zu einer friedsamen Synthese und auch nicht zu einer Verschmelzung des Göttlichen mit dem Menschlichen, sondern ist als ein geschichtliches Phänomen nur als eine krisenhafte Erschütterung wahrzunehmen.“ (A. a. O., 230.) 14  Pf 48.83 f. Vgl. Gräb: Predigt, 155 f.: „Diese Prozessualität hält die ‚persönliche Predigt‘ in ihrem Erfahrungsbezug fest und läßt sie den gemeinsamen Boden mit den Hörern, wer diese immer seien, gewinnen. Denn aufgrund dieser Prozessualität findet sich ja der Prediger, da sie die Dialektik von Gesetz und Evangelium an ihm selbst zum Austrag bringt, selber immer erst im Übergang von einer vielschichtigen, weil in der Verfassung des Gesetzes gegründeten, letzten Endes jedoch den Widerspruch gegen Gott offenbarenden Wirklichkeitserfahrung, hin zur befreienden Erfahrung in der Begegnung mit dem Evangelium.“ 15  Pf, 45. 16  Pf, 49. Vgl. die von Hans Martin Müller bei Hirsch herausgearbeitete dreifache Aufgabe der Predigt: „1. Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium in der Predigt sichtbar zu machen. 2. Die Bedeutung des sog. Historischen Jesus für die Begegnung mit dem Wort, das der Predigt zugrundeliegt, zu erkennen. 3. Hergebrachte Vorstellungsformen und Deutungsmuster für die Predigt der Gegenwart ‚umzuformen‘.“ (Müller: Predigt, 234.) Vgl. Wilhelm Gräbs Charakterisierung des Predigers als Zeugen: „Als Zeuge ist der Prediger derjenige, der vermöge seines eigenen Selbstverhältnisses zum Evangelium dem Hörer möglicherweise zur Veranlassung der Ausbildung eines ihm ebenfalls eigenen Selbstverhältnisses zum Evangelium werden kann. Er ist diese Veranlassung aber auch nur auf der Basis des ihm eigenen Selbstverhältnisses zum Inhalt seines Zeugnisses. Auf eine davon unabhängige Geltung seiner Wahrheit kann er sich angesichts der Emanzipation des humanen Bewußtseins von den Auslegungsprämissen des christlichen Glaubens ja gerade nicht mehr abstützen. Der als Zeuge qualifizierte, auf das eigene Selbstverhältnis zum Evangelium gestellte Prediger muß vielmehr ganz und gar darauf sehen, daß sein Zeugnis seine Überzeugungskraft aus der Plausibilität gewinnt, die es im Horizont der eigenen Lebensführung wie der seiner Hörer annimmt.“ (Gräb: Predigt, 149.) 17  A. a. O., 164.

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

schen Gesetz und Evangelium charakterisiert ist. Die Persönlichkeit der Predigt ist insofern eingeschränkt, als es nicht um die „Selbstdarstellung auf der Kanzel“18 geht, sondern darum, dass die allgemeine Struktur des Glaubens auf dem Boden eines persönlichen Gottesverhältnisses vor einem pluralen Publikum19 plausibel gemacht wird. Um den dafür nötigen „Abstand von sich selber“20 zu gewinnen, muss der Predigende seinen Glauben ständig sowohl in lebensgeschichtlicher Hinsicht als auch theologisch durchdenken. Theologische Reflektiertheit und das eigene, religiöse Durchleben der Frage nach Wesen und Wahrheit des christlichen Glaubens sind damit Hirsch zufolge wesentliche Voraussetzungen für die Relevanz einer Predigt.21 Hirsch formuliert daran anschließend drei Aufgaben für die systematische Theologie: Erstens soll sie die Motivation zu ständiger Reflexion und theologischer Schärfe aufrecht erhalten, indem sie den Prediger „mit dem Stachel der nie mit Fragen und Grübeln aufhörenden Unruhe des denkenden Menschen verwundet, also gleichsam ein immer wieder tief durch seine Seele schneidender Pflug ist“22. Damit „nimmt ihm die Dogmatik nichts ab“23 – sie eröffnet nur Möglichkeiten der Horizonterweiterung, Aneignung und Vertiefung christlichen Wahrheitsbewusstseins. Die zweite Aufgabe hat die Natur der unmittelbaren Vorarbeit: die stellvertretende inhaltliche Arbeit am dogmatischen Stoff.24 Der Einzelne „bedarf der Hilfe im Verstehen und Prüfen, um gemeinten Sinn 18 

Müller: Predigt, 231. Hirsch thematisiert diesen pluralen Kontext in Bezug auf die Art und Weise des Gottesverhältnisses, auf den Grad an Reflektiertheit und auf die Art und Weise der Lebensführung: „Denn es gehört zur Unruhe unsers heutigen Lebens, daß im Gottesdienst Menschen der allerverschiedensten Art sitzen, Scheingläubige mit halb heidnischer Religion und Skeptiker mit scharf kritisierendem Verstand. Träumer und Tatmenschen, dumpf Dahinlebende und geistig Wache.“ (Pf, 88.) Die Annahme eines weltanschaulichen Pluralismus ist bei ihm jedoch nur begrenzt bis gar nicht zu entdecken. Martin Ohst weist zurecht darauf hin, dass Hirsch dazu tendiert die „‚moderne‘ Weltanschauung […] allzu sehr als eindeutig identifizierbare, geradezu monolithische[ ] Größe“ darzustellen (Ohst: Predigt, 149) – was m. E. in Spannung zu seinem durchaus pluralismusfähigen Ansatz steht (vgl. Lasogga: Menschwerdung, 13 f.315). Ohsts Vorschlag, „hier eher von Diskursen zu sprechen, in denen auf mehr oder minder bewußt wahrgenommenen gemeinsamen Fundamenten an Konsensen gearbeitet wird“ (Ohst: Predigt, 149), entspricht der hier ausgeführten Gegenwartsdiagnose, die darauf abhebt, dass die Predigt sich selbst in vielschichtigen gesellschaftlichen Diskursen wiederfindet, zu denen sie selbst einen Beitrag leistet. 20  Pf, 50. 21  ChR I, 7. 22  ChR II, 171. 23  ChR II, 173. 24  Als exemplarisch dürften hierfür Hirschs eigene systematisch-theologische Arbeiten, insbesondere das WrCh und Zw gelten – wobei Zw in ihrem meditativen Stil schon auf das Genus der Predigt abhebt. 19 

8  Die Ausrichtung der systematisch-theologischen Arbeit auf die Predigt

323

und geprägte Lehre zu sondern und das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Treffen des Christlichen von seinem Verfehlen zu unterscheiden“25. Die Systematische Theologie gibt ihm eine „Übersicht“ über die Fülle der Überlieferung, hilft aber auch zum „rechte[n] (geistige[n] wie christliche[n]) Verständnis“26. Das bedeutet „Abbau der allzu reichlichen Begrifflichkeit“27 und Vereinfachung28, traditionskritische Reduktion und Konzentration des dogmatischen Stoffes. Der Prediger kann ihn sich nutzbar machen, indem er ihn als Verstehenshilfe für den persönlichen Glauben nutzt, indem er ihn für sich und seine Hörer interpretiert. Dabei kann es sich nicht um eine einseitige oder oberflächliche Rezeption von Traditionsgut oder eines angenommenen zeitgenössischen theologischen Konsensus handeln, sondern auch dem Prediger wird abverlangt, sich auf das für ihn und die Situation, in die er sich gestellt sieht, Wesentliche zu konzentrieren und einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Er eignet sich selbst den Stoff an und integriert ihn im Idealfall so in seinen Glauben, dass er sich letztlich von der Vermittlungsgestalt des Glaubens frei macht. Die relative Freiheit des Predigers gegenüber der christlichen Tradition ist in dem Sinne als vorbildhaft zu verstehen, als allein eine solche Haltung die selbstständige, freie Aneignung aufseiten der Hörer ermöglicht.29 Die Predigt muss das Selbstverständnis offenlegen, stellvertretende Rechenschaft in „wehrloser Subjektivität“30 zu sein, die ihre Wirkung auf ihr Gegenüber nur bedingt in der Hand hat. Weil der Prediger sich selbst in der Ganzheit gesellschaftlichen Lebens wiederfindet, vor deren Hintergrund er den christlichen Glauben durchdringt, ist die predigttheologische Reflexion der Lebenswirklichkeit des Menschen ebenfalls funktional begründet: Der Systematischen Theologie kommt die dritte Aufgabe zu, „die vom Prediger selbst nicht gestaltbare Gesamtlage seines Berufs“ – das gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Umfeld zu reflektieren.31 Die systematisch-theologische Reflexion spielt im Prozess der Predigtvorbereitung für die Frage nach der Vermittlung zwischen der theologischen Überlieferung – die von dem zugrundegelegten Bibeltext aus expliziert wird – und der 25 

ChR I, 24.

26 Ebd. 27 

Ebd.; ChR I, 138. ChR I, 24. 29  Pf, 24–28. Vgl. ChR I, 27. 30  Ag, 99. Vgl. Pf, 49. 31  ChR I, 20. Daran, dass die Anpassung der Predigt an die gesellschaftliche Gesamtlage nicht für sich ein Indikator für ihre Relevanz ist, sondern nur insofern sie für die Reflexion des christlichen Glaubens notwendig ist, wird erneut deutlich, dass es Hirsch theologisch nicht darum geht, dem ‚humanen Wahrheitsbewusstsein‘ nach dem Munde zu reden, sondern die Botschaft des Evangeliums vor dem Hintergrund ihrer Vermittlungsbedingungen zu reflektieren. 28 

324

Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

gegenwärtigen Lebenswirklichkeit eine wichtige Rolle. Sie leistet neben der „theologische[n] Vertiefung des Textes als eines Erfahrungsdokumentes des Glaubens“ die differenzierte Auseinandersetzung mit der christlichen Tradi­ tion, die die mit „Elementarisierungsleistungen“32 verbundene Reflexion des eigenen Glaubens und die theologische Selbstverortung einschließt.33 Den speziellen Blickwinkel der Praktischen Theologie, der auf die Bedingungen der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit gerichtet ist, schließt sie mit Hirsch bereits in ihr Selbstverständnis mit ein. Durch eine reflektierte Haltung zur christlichen Überlieferung entgeht eine Predigt der „Grundgefahr […], in allen verschiedenen Textgattungen theologisch lehrhafte (dogmatische) Aussagen oder ethische Konsequenzen zu suchen und diese predigen zu wollen“34. Durch die – in der Theologie Hirschs angelegte und gegenwärtig in religionshermeneutischen Predigttheorien stark gemachte35 – ernsthafte Wahrnehmung der menschlichen Lebenswirklichkeit und deren religiöser Potenziale versteht sich die Predigt nicht als „angewandte Dogmatik“36, sondern ist von der Einsicht getragen, dass die „Lebenspraxis […] allen Sortierungen der Wissenschaft und also auch den Ka32  H eimbrock, H.‑G.: Spuren Gottes wahrnehmen, in: Charbonnier /M erzyn/M eyer: Homiletik, 199–214, hier: 205. 33  Engemann, W.: Einführung in die Homiletik. Theoretische Grundlagen, methodische Ansätze, analytische Zugänge, Stuttgart 22011, 505. 34  M artin, G. M.: Offene Kunstwerke schaffen, in: Charbonnier /M erzyn/M eyer: Homiletik, 102–118, hier: 109. Die Angst vor den „großen Verallgemeinerungen“ (ebd.), die die Dogmatik mit sich bringt (vgl. Nicol, M./Deeg, A.: Einander ins Bild setzen, in: Charbonnier /M erzyn/M eyer: Homiletik, 68–84, hier: 69), ist nicht mit dem Verzicht auf traditionelle Deutungsmuster an sich zu begegnen, wohl aber mit der kritischen Reflexion von deren Lebenssinn erschließendem Potenzial. 35  Den religionshermeneutischen Entwürfen Hans-Günter H eimbrocks, Wilhelm Gräbs und Birgit Weyels, die eine Predigt „vom Heute her gestaltet“ (Überschrift zu den entsprechenden Selbstdarstellungen in: Charbonnier /Merzyn/Meyer: Homiletik, 199–246) wissen wollen, wird sich in der folgenden Entfaltung angeschlossen. Sie machen zum einen mit den – von Hirsch anhand der Dialektik von Gesetz und Evangelium ausgearbeiteten – religiösen Potenzialen allgemein-menschlicher Erfahrung ernst, die der Botschaft des Evangeliums nicht als Negativfolie gegenübersteht. Sie nehmen zum anderen die systematischtheologische Reflexionsleistung der Predigtvorbereitung ernst, die in manchen Entwürfen jüngster Zeit nur eine sekundäre Rolle einnimmt. So beschränkt z. B. Michael Herbst die systematisch-theologische Fragestellung auf die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Predigt (Herbst, M. u. a.: … wir predigen nicht uns selbst. Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn 22002, 112–125). Alexander Deeg und Martin Nicol bringen diese ins Spiel, um in kritischer Weise das Gegenüber von „Gotteswirklichkeit“ und Lebenswirklichkeit zu profilieren, um die „Weite der Gotteswirklichkeit [nicht] vorschnell in ein alltagstaugliches Format zu konvertieren“ (Nicol/Deeg: Einander, 76). 36  H eimbrock: Spuren, 204.

8  Die Ausrichtung der systematisch-theologischen Arbeit auf die Predigt

325

tegorien dogmatisch-theologischer Beschreibung der Wirklichkeit“37, welche sich von dort „stets neu kritisch auf ihre Angemessenheit und Veränderungsbedürftigkeit befragen lassen muss“38, vorausliegt. Die religiöse Interpretation der Hörersituation unterliegt zwar der theologischen Perspektive der Predigenden und ist dementsprechend konstruiert, es kann ihnen dabei aber nicht um die reibungslose „Applikation des biblischen Textes“ bzw. der theologischen Tradition gehen, sondern darum, „der gegenwärtig relevanten existentiell-religiösen Sinnfragen ansichtig zu werden“39. Auf diese hin entfaltet sie „die christliche Botschaft als kritisch-ermöglichende Quelle humaner Lebenspraxis“40 bzw. ihr „gegenwärtig religiös relevante[s] Lebensdeutungsangebot“41. Die theologisch reflektierte und zeitgemäße Ausgestaltung des Predigtberufs stellt angesichts der evangelischen Vielfältigkeit theologischer Positionen, der teils übermäßigen „Reflexivität und Diskursverhaftung“42 des Protestantismus und der gegenwärtigen Pluralität von Lebensdeutungsangeboten manchen vor eine Herausforderung. Für die Predigt über den Tod ist die Schwierigkeit der Pluralität gesteigert: Sie ist einerseits Teil eines in seiner Vielschichtigkeit nicht einfach zu erfassenden und klar zu bewertenden gesellschaftlichen Diskurses über den Tod, der durch ihren besonders bei Bestattungen heterogenen Adressatenkreis in seiner Fülle unmittelbar präsent ist. Als Beitrag zu diesem Diskurs tritt sie in eine argumentative Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich tradierten Todesbildern, innerhalb derer sie die lebensgeschichtliche Plausibilität 37 

A. a. O., 200. A. a. O., 201. 39  Gräb: Leben deuten, 221. 40  H eimbrock: Spuren, 212. 41  Gräb: Leben deuten, 216. 42  R euter , I.: Totenrede oder Predigt? Zur Plausibilität christlicher Verkündigung angesichts des Todes auf dem Markt der Abschiedsangebote, in: K lie, T. (Hg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008, 159–175, hier: 162. Vgl. Isolde K arles implizite Kritik: „Für die Predigt ist es ein Problem, wenn die Dogmatik diese Vermittlungs- und Transferleistung nicht in wünschenswerter Klarheit und Differenziertheit erbringt. Die Predigerinnen und Prediger und die Praktische Theologie sind deshalb herausgefordert, sich selbst an der Fortschreibung einer sowohl praxistauglichen wie schriftgemäßen und damit realistischen Dogmatik zu beteiligen“ (K arle, I.: Das Evangelium kommunizieren, in: Charbonnier /Merzyn/Meyer: Homiletik, 19–33, hier: 23). Vgl. Hermann Fischers Einschätzung zur Lage der akademischen Theologie: „Angesichts des Reichtums an Themen und der Nötigung zu immer differenzierteren Aussagen ist eine Tendenz erkennbar, sich an selbstgestellten Problemen hochzuranken und die elementaren und vitalen Interessen des Glaubens aus dem Auge zu verlieren. Damit trägt die Theologie zu ihrer eigenen Marginalisierung bei. Sie wird in gelehrten Zirkeln betrieben, versinkt aber in Bedeutungslosigkeit, sobald diese Zirkel verlassen sind. […] Offensichtlich trägt die gegenwärtige Theologie in ihrer komplexen Fülle mehr zur Desorientierung als zur Klärung bei.“ (Fischer, H.: Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 323.) 38 

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

der theologischen Deutung des Todes ausweist.43 Das setzt voraus, dass sie den gesellschaftlichen Diskurs in seiner Vielfalt auf eine solche Weise wahrnimmt und reflektiert, dass er sich den mit den unterschiedlichen Todesbildern verbundenen weltanschaulichen, ethischen und religiösen Implikationen bewusst ist. Sie bewegt sich andererseits mit der Deutung des Lebens unter eschatologischer Perspektive auf theologischem Terrain, dessen Relevanzverlust seit der Neuzeit beklagt und dem sich auf vielfältige Weise theologisch angenähert wird. Die spezifisch christliche eschatologische Perspektive muss sich allerdings als für das Leben des Einzelnen relevant erweisen, will die Predigt ihre Funktion nicht verfehlen: Sie soll dazu dienen, inmitten von Verlusterfahrungen und angesichts der Unabgeschlossenheit des Lebens beim Einzelnen einen Prozess der Vergewisserung von Sinn und Identität in Gang zu setzen, die Verarbeitung des Todes tröstend zu begleiten und einen Anstoß zur eigenen Deutung des Lebens vor dem Horizont des Todes zu geben.44 Die Aufgabe der Systematischen Theologie lässt sich im Blick auf die Todesthematik folgendermaßen präzisieren: Sie reflektiert gemeinsam mit der Praktischen Theologie und als Horizont ihrer eigenen Arbeit die gesellschaftlichen und lebensweltlichen Dimensionen der Bedeutung des Todes, auf die hin sie die theologische Überlieferung gegenwartsrelevant ausdeutet. Sie ordnet dabei den teils unübersichtlichen, teils von theologischen Grabenkämpfen bestimmten Diskurs über die theologische Bedeutung des Todes und erschließt ihn nach seinem wesentlichen Gehalt. Als Beitrag zu dieser Aufgabenstellung versteht sich der folgende Ausblick, der wesentliche Aspekte der Hirsch’schen Todesdeutung vor dem Hintergrund gegenwärtiger Herausforderungen reflektiert.

43 Vgl.

Roth: Die Beerdigungsansprache, 110. Wagner-R au, U.: „Er ist nicht hier“. Biographie und Theologie in der Bestattungspredigt, in: H ärle, W. u. a. (Hgg.): Systematisch praktisch. FS für Reiner Preul zum 65. Geburtstag, Marburg 2005, 473–483, hier: 482 f.; Drehsen, V.: Tod – Trauer – Trost. Zur christlich-religiösen Kultur des memento mori zwischen Verdrängung und Vergewisserung, in: Ders.: Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994, 199–219, hier: 213–218. 44 Vgl.

9  Die gegenwärtigen Herausforderungen für das theologische Reden vom Tod Um die gesellschaftliche Dimension der theologischen Rede über den Tod nachzuzeichnen, werden in einem ersten, grundlegenden Schritt unter Heranziehung einschlägiger soziologischer Literatur kulturgeschichtliche (9.A) und zeitdiagnostische Überlegungen zum gegenwärtigen Umgang mit dem Tod an­ gestellt. Diese münden hier in der Argumentation für einen theologischen Perspektivwechsel von der von einigen vertretenen sog. Todesverdrängungsthese hin zu einer Wahrnehmung der impliziten und expliziten Rolle, die der Tod im menschlichen Leben unserer Gegenwart spielt (9.B). Daraufhin wird mithilfe praktisch-theologischer Literatur reflektiert, wie dieser Perspektivwechsel sich im Selbstverständnis der Predigt über den Tod niederschlägt und wie sie angesichts der ihr gestellten Herausforderungen Relevanz beanspruchen kann (9.C). Das – bei Hirsch ausgearbeitete – Selbstverständnis des Predigers als ein in der dialektischen Bewegung zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Anfechtung und Glaube, zwischen Zweifel und Gewissheit Stehender und das Verständnis der Predigt als eine dieser Spannung nicht entnommene, sondern diesen Prozess bezeugende Rechenschaft wird sich dabei als tragfähige theologische Grundlage erweisen.

9.A  Kulturgeschichtliche Faktoren: Der veränderte Umgang mit dem Tod Ausschlaggebend für die zweite Hälfte des 20. Jh. und das beginnende 21. Jh.45 ist der medizinische und technische Fortschritt, der zu einer massiven Abnahme der Kindersterblichkeit und zu einer hohen Lebenserwartung (in Deutschland zwischen 75 und 85 Jahren) führte, womit der Alterstod zum ‚normalen‘ Tod 45 

Vgl. zur Veränderung der Rolle des Todes im 20. Jh. z. B. Fischer, N.: I.1. Geschichtswissenschaft, in: Wittwer /Schäfer /Frewer: Sterben, 1–15, ausführlicher Fischer, N.: Geschichte des Todes in der Neuzeit, Erfurt 2001.

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

deklariert wurde.46 Die durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die Demokratisierung kulturell und materiell stabilisierte Gesellschaft lässt den Tod nicht als unmittelbare Bedrohung erscheinen. – Ganz im Gegenteil, man scheint dem Traum von der unendlichen Fortdauer des Menschen, der immanenten Unsterblichkeit ein ganzes Stück näher gekommen zu sein.47 Dementsprechend konzentriert sich auch die Politik auf die Lebensoptimierung: „Die Moderne ist eine Epoche, […] die das Leben […] zum eigentlichen Gegenstand des Politischen gemacht hat. Bevölkerungspolitik, Sozialversicherung und Sicherstellung der Volksgesundheit von der Krankenversicherung bis zur Seuchenprävention sind die ebenso vielfältigen wie segensreichen Elemente dieser genuin modernen Sorge des Staates um das biologische Leben und Überleben der Bevölkerung.“48

Neben dem Fortschrittsoptimismus und dem Glauben an die Möglichkeiten des Lebenserhalts schaffen auf der anderen Seite die bleibende atomare Bedrohung (ansichtig z. B. an der Katastrophe von Fukushima 2011), die ökologische Krise (ansichtig an zahlreichen Naturkatastrophen), wirtschaftliche Krisen (z. B. die Finanzkrise ab 2007), die Möglichkeit eines „clash of civilizations“49 (ansichtig z. B. an islamistischem Terror, mit 09/11 und zuletzt mit den Attentaten in Paris 2015 auch für den Europäer in bedrohliche Nähe gerückt), trotz des medizinischen Fortschritts ausbrechende Seuchen (z. B. die Ebola-Epidemie 2014) Verunsicherung und halten dem westlichen Menschen die Möglichkeit eines ‚vorzeitigen‘ Todes des Menschen bzw. des katastrophischen Untergangs der Menschheit vor Augen.50 Die direkte Konfrontation des westlichen Menschen mit dem Tod eines anderen, noch weniger mit dem Tod eines nahestehenden Menschen, hat aufgrund der hohen Lebenserwartung, der geringen Kindersterblichkeit, der Reduktion der Familie auf die Kleinfamilie bzw. der Erosion familiärer Bindungen und der 46 

Feldmann: Tod, 61. Hetzel, A.: Todesverdrängung? Stationen einer Deutungsgeschichte, in: Gehring/ Rölli /Saborowski: Ambivalenzen, 158–170, hier: 158 f.; Lafontaine, C.: Die postmortale Gesellschaft, Wiesbaden 2010. 48  Horn, E.: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie, in: Sorg, R./Würffel, S. B. (Hgg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne, Paderborn u. a. 2010, 101–118, hier: 107 f. (im Anschluss an Michel Foucault). Vgl. Nassehi, A.: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“. Über die Geschwätzigkeit des Todes in unserer Zeit, in: Liessmann, K. P. (Hg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit, Wien 2004, 118–145, hier: 134–143. Auch die Abschaffung der Todesstrafe leitet sich aus diesem Selbstverständnis des modernen Staates her. 49  Huntington, S. P.: The clash of civilizations and the remaking of world order, New York u. a. 2011. 50 Vgl. Körtner: Weltangst, 9–37.240–277; M ischke, M.: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Geschichte, Berlin 1996, 5; Horn: Enden, 11 f. 47 Vgl.

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Dominanz „generationshomogene[r] Beziehungen“51 abgenommen. Der „Verlust der Primärerfahrung“52 wird allerdings „durch Sekundärerfahrung“53 über die mediale Vermittlung kompensiert: Der Tod ist in Form von Kriegs- und Katastrophenberichten, in Form von dokumentarischer Aufbereitung54, in Form von filmischer Inszenierung55, in Form von literarischer Verarbeitung56 ein Dauerthema der Medien. Der Tod des Menschen ist medialisiert.57 Ein weiterer mit dem Alterstod einhergehender Faktor der gegenwärtigen Rolle des Todes ist mit dem Ideal des selbstbestimmten Lebensentwurfes, des Lebenslaufs, verbunden. Die Phase des dritten Lebensalters, die nach der Erwerbstätigkeit eintritt, ist durch die Langlebigkeit des westlichen Menschen sehr gestreckt. Betrachtet man diese Zeit im Gegensatz zur „(produktiven) so­ zia­len Phase“ als Vorbereitung auf den Tod, als allmählichen Rückzug aus dem 51  Gräb, W.: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, 151. 52  Feldmann: Tod; 61, i. O. herv. 53  A. a. O., 70; i. O. herv. 54  Einschlägig sind hier v. a. die verschiedenen Beiträge zur ARD-Themenwoche 2012 (ARD: Leben mit dem Tod. Themenwoche 2012 (17. bis 23. November), http://web.ard.de/ themenwoche_2012/index.html, zuletzt geprüft am: 25.01.2016). 55  Neben den unzähligen Endzeitfilmen sind hier aus jüngerer Zeit z. B. zu nennen: Halt auf freier Strecke (Andreas Dresen), Deutschland 2011; Liebe/Amour (Michael Haneke), Frankreich/Deutschland/Österreich 2012; Das Beste kommt zum Schluss/The Bucket List (Rob Reiner), USA 2007; 21 Grams (Alejandro González Iñárritu), USA 2003; Das Meer in mir/Mar Adentru (Alejandro Amenábar), Spanien/Frankreich/Italien 2004; Six Feet Under – Gestorben wird immer (TV-Serie) (Allan Ball), USA 2001–2005. 56  Z. B. das Kinderbuch Erlbruch, W.: Ente, Tod und Tulpe, München 2007, das ein sechsjähriges Mädchen für mich mit den Worten zusammenfasste: „Es geht darum, dass der Tod immer da ist und dass man nie weiß, wann man stirbt.“; das Jugendbuch-Bestseller Green, J.: Das Schicksal ist ein mieser Verräter (The Fault in Our Stars), München 2012, das von dem Krebstod eines Jugendlichen handelt; die Bearbeitungen des eigenen bevorstehenden Todes von Christoph Schlingensief (Schlingensief, C.: So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln 2009) und Wolfgang Herrndorf (Herrndorf, W.: Arbeit und Struktur, Berlin 2013); aber auch die populäre und erfolgreiche Harry-Potter-Septologie von J. K. Rowling, die eine eigene, an mythische, biblische, und moderne Motive angelehnte, durchaus komplexe Thanatologie aufweist (vgl. Herzog, M.: Tod in Hogwarts? Thanatologische Bemerkungen zum Harry-Potter-Universum, in: Cox, H. L./H averkamp, D.‑M. (Hgg.): Sterben und Tod, Bonn 2001/2002, 213–245; Kumlehn, M.: „Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod“ – Narrative ars moriendi und ars vivendi in der Harry-Potter-Septologie, in: Dinter, A./Söderblom, K. (Hgg.): Vom Logos zum Mythos. „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts, Münster 2010, 15–40). 57  Vgl. ausführlich Feldmann: Tod, 100–112. Mit der Medialisierung des Todes ist wohl der deutlichste Unterschied zu der Zeit der frühen 60er Jahre, aus der heraus Hirsch in den dieser Arbeit hauptsächlich zugrundeliegenden Quellen argumentiert, zu verzeichnen.

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sozialen Leben, dann setzt das „soziale Sterben“ bereits lange vor dem biologischen Tod ein.58 Die fehlende direkte Konfrontation mit Sterben und Tod ist außerdem durch die Hospitalisierung des Todes bedingt: Ungefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung stirbt im Krankenhaus, ein großer Teil im Pflegeheim.59 Daran zeigt sich eine Gegebenheit des Umgangs mit dem Tod, die mit dem Begriff der Professionalisierung gefasst wird: Für sämtliche ‚Etappen‘ und Facetten von Sterben und Tod – von der Vorbereitung auf den Tod bis hin zum Umgang mit dem toten Körper und der Zeit nach dem Tod – gibt es Experten, im Groben sind das die Mediziner, die Polizei, die Anwälte, die Bestatter, die Psychologen und die Pfarrer60, wobei letztere sowohl in der seelsorglichen Begleitung im Sterben als auch in der rituellen Verarbeitung des Todes als auch in der Trauerarbeit mit den Hinterbliebenen mitunter eine Rolle spielen. Mit der Hospitalisierung des Todes verbinden sich die erweiterten technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung: Das Sterben des Menschen ist medikalisiert. Damit geht eine dem System Krankenhaus geschuldete Depersonalisierung einher: Der Sterbende wird auf seine Rolle als Patient festgelegt, in der er systemimmanent ‚funktionieren‘ muss. „Affekte, Gefühle, Trauer, Schmerz, Erschütterung würden die Effizienz der sachlich geforderten Dienste nur einschränken und sind überdies auch gar nicht möglich bei der großen Zahl der gleichzeitig zu betreuenden Sterbenden und der kurzen Zeit, die das Krankenhauspersonal den einzelnen kennt. Aus der umfassenden Geborgenheit der Familie ist der Sterbende nun in eine Institution verlegt, die an ihm als Person kein Interesse mehr hat, sondern nur noch an ihm als Träger der Patientenrolle.“61

Der Tod des Patienten gilt innerhalb des Systems Medizin als Infragestellung der medizinischen Kompetenz. Er soll um jeden Preis vermieden werden.62

58  A. a. O., 56. Ausführlich wird der Begriff „soziales Sterben“ entfaltet a. a. O., 126–139. Er kann definiert werden als Verlust „von Rollen, Positionen, Territorien, Besitz, Informationsquellen und sonstigen sozialen Partizipationschancen“ (a. a. O., 126). Während sich diese Verlusterfahrungen nach dem Ausscheiden aus dem Beruf verdichten, werden sie bereits partiell vorher gemacht, z. B. im Falle von Arbeitslosigkeit oder Gefängnisstrafe. 59  A. a. O., 140. 60  Vgl. die Aufstellung bei Saake, I./Nassehi, A./Weber , G.: Todesbilder – Strukturen der Endlichkeitserfahrung in der modernen Gesellschaft, in: Cox /H averkamp: Sterben, 247–264, hier: 253. 61  Hahn, A./Hoffmann, M.: Der Tod und das Sterben als soziales Ereignis, in: K linger: Perspektiven, 121–144, hier: 127. 62 Vgl. M acho, T. H.: Religion, Unsterblichkeit und der Glaube an die Wissenschaft, in: Liessmann: Ruhm, 261–277, hier: 271 f.

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„Fast könnte man sagen, dass es den Tod als Tod nicht mehr gibt. Heutzutage stirbt man nicht einfach, sondern man stirbt ‚an etwas‘. Und dieses Jeweilige, an dem man stirbt, ist für die Medizin immer ein vorläufig noch zu überwindendes Hindernis.“63

Kann es nicht ausgeräumt werden, dann wird unter Umständen die Schuldfrage gestellt, die als begleitende problematische Dimension der Medikalisierung des Sterbens offengelegt werden kann: „Haben wir selber genug unternommen, um dieses Ende abzuwehren?“64. Der sozialen Exklusion der Sterbenden wirkt seit den späten 1960er Jahren die Hospizbewegung65 entgegen, die sich für die Erhaltung der personalen Dimension des Sterbenden, d. h. seine Würde, seine Selbstbestimmung und seine soziale Eingebundenheit einsetzt. Die Frage nach der personalen Würde des Sterbenden ist gegenwärtig in den Diskussionen um die Patientenverfügung, die Palliativmedizin und die Sterbehilfe im öffentlichen Diskurs äußerst präsent. Inwiefern die den verschiedenen Positionen zugrundeliegenden Todesbilder dabei mitreflektiert werden, ist sicherlich unterschiedlich. Zu beobachten ist allerdings – vor dem Hintergrund der medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung und der Angst vor dem Status eines ‚Human Vegetables‘, das an Maschinen hängend sein Dasein fristet – einerseits eine Dominanz des Bildes vom ‚natürlichen Tod‘ im Sinne eines ‚friedlichen Verlöschens‘ am Ende eines erfüllten Lebens, das mit dem Wunsch nach einem würdigen Sterben einhergeht.66 Andererseits ist angesichts der teils entwürdigenden Grausamkeit eines langsamen Sterbens vermehrt der Wunsch nach einem ‚plötzlichen‘ und ‚unerwarteten‘ Tod zu verzeichnen.67 Darüber hinaus ist an der anhaltenden Diskus63 

64 

49.

H ahn/Hoffmann: Der Tod, 127. Gutmann, H.-M.: Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, Gütersloh 2002,

65  Einen Überblick über die Entstehung der Hospizbewegung und ihre Entwicklung in Europa geben Student, J.‑C./Mühlum, A./Student, U.: Soziale Arbeit in Hospiz und Pallia­ tive Care, München u. a. 2004. 66  Den Begriff hat vor allem der Soziologe Werner Fuchs geprägt. Alternativ zur These von der Todesverdrängung diagnostiziert Fuchs eine „mangelnde Durchsetzung rationaler Orientierungen“ als Grundproblem des modernen Umgangs mit dem Tod. Mit dem rationalen Todesbild des natürlichen Todes „als friedliche[n] Verlöschen[s]“ meint Fuchs, das die Wissensstruktur der Gegenwart treffende wie auch der Gesellschaft normativ gegenüberstehende moderne Todesbild gefunden zu haben, das aber selbst dem Ideologievorwurf, den er gegen die Todesverdrängungsthese erhebt, nicht standhält (Fuchs: Todesbilder, 24). Vgl. zur Diskussion um den Begriff des natürlichen Todes im 20. Jh. Feldmann: Tod, 79–81 und R eutlinger, C.: Natürlicher Tod und Ethik. Erkundungen im Anschluss an Jankélévitch, Kierkegaard und Scheler, Göttingen 2014. Zur theologischen Kritik an diesem Konzept s. o., 226, Anm.  252. 67  H ahn/Hoffmann: Der Tod, 142 f. Während zu Hirschs Zeit – nimmt man seine Kritik beim Wort – der Technikoptimismus und das Ideal des Lebenserhalts um jeden Preis noch

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sion um den assistierten Suizid das Streben nach einem selbstbestimmt gesetzten Lebensende abzulesen. Spannungsreich gestaltet sich die Bestattungs-, Erinnerungs- und Trauerkultur. Zum einen werden – u. a. durch das Konzept des Friedwalds begünstigt – vermehrt anonyme und Feuerbestattungen ohne Trauerfeier in Anspruch genommen.68 Bestattungen im engsten Freundes- oder Familienkreis sind ansonsten der Normalfall.69 Die Inanspruchnahme des klassischen Rituals der kirchlichen Bestattung geht zurück.70 Zum anderen ist gleichzeitig ein Trend zu individuell aufwändig gestalteten – von der Beschaffenheit der Särge bis hin zu einer mit ‚Lieblingssongs‘71 des Verstorbenen durchsetzten Trauerfeier – und medial inszenierten Bestattungen zu verzeichnen – ein Beispiel ist die Trauerfeier für Robert Enke (2009).72 Ebenso werden der Verzicht auf einen Grabstein als Erinnerungsmal und die schwindende Bedeutung klassischer Friedhöfe als Erinnerungsorte durch eine ausschweifende Erinnerungskultur in virtuellen Gedenkräumen73 begleitet. Eine neuartige Verbindung beider Erinnerungs­ vorherrschend zu sein schienen (vgl. EE, 310; s. o., 186 f.), zeichnet sich in dem Wunsch nach einem natürlichen (im Gegensatz zum technisch-künstlichen) oder plötzlichen Tod eine grundsätzliche Technikskepsis ab. 68  Feldmann: Tod, 51. Christoph Schneider‑H arpprecht nennt auf der Grundlage einer Tagungsdokumentation des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW von 1996 die Zahlen von 80 bis 90% für größere Städte in den Neuen Bundesländern, zwischen 70 und 80% für größere Städte in den Alten Bundesländern, zwischen 40 und 60 % in den deutschen Großstädten, die durch die bleibende nicht-anonymisierte Bestattungspraxis auf dem Land relativiert werden (Schneider‑H arpprecht, C.: Die kirchliche Bestattung angesichts einer neuen Kultur im Umgang mit Tod und Trauer, in: JLH 40 (2001), 27–44, hier: 28) 69  K retschmar , G.: Bestattungskultur im Wandel, in: PrTh 48/3 (2013), 175–185, hier: 183. 70 Vgl. H ermelink , J.: Die weltliche Bestattung als religiöse Praxis. Was die Kirche von den Bestattern lernen kann, in: BthZ 29/2 (2012), 208–228, hier: 208. 71 Vgl. Blume, C.: The final Countdown. Populäre Musik bei evangelischen Bestattungen, in: K lie, T. u. a. (Hgg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/München/Boston (Mass.) 2015, 395–455. 72  Vgl. die dreifache Kategorisierung gegenwärtiger Bestattungskultur bei K lie, T.: Einleitung – die Imposanz des Todes und die Suche nach neuen Formen, in: K lie: Performanzen, 7–13 in „ein[en] naturreligiös-ökologische[n] Code, ein[en] ästhetisch-performative[n] Code und ein[en] anonymisierend-altruistische[n] Code“ (a. a. O., 7 f.), die sich alle drei aus dem Phänomen der Individualisierung ableiten lassen. Ersterer trägt der räumlichen Bindungslosigkeit des Individuums bei seiner gleichzeitigen Verbundenheit mit der Natur Rechnung, zweiter versteht die Bestattung als inszenierende Vergegenwärtigung des Gestorbenen, dritter kann die Anonymität der Bestattung mit der Gewissheit auffangen, in der Erinnerung seiner Bezugspersonen weiterzuleben. 73  Pars pro toto ist hier das wohl größte deutsche Trauerportal „Straße der Besten“ (Soulium UG: www.strassederbesten.de, https://www.strassederbesten.de, zuletzt geprüft am:

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orte74 leistet ein – gestalterisch z. B. in Form eines Kreuzes eingepasster – QRCode auf Grabsteinen, über den man per mobilem Internet zur entsprechenden Trauerseite gelangen kann.75 Ziehen sich die Trauernden auf der einen Seite in den intimen Raum zurück und wird die Trauerphase möglichst verkürzt, sowie auf Trauerkleidung als öffentliches Zeichen verzichtet, können auf der anderen Seite aufgrund der starken emotionalen Bindung zwischen Einzelpersonen und seltenen Verlusterfahrungen eine „Trauerintensivierung“76 und eine öffentliche Inszenierung von Trauerorten (Unfallkreuze, Blumen, Abschiedsbriefe, Kerzen am Ort des Geschehens oder vor Häusern von Verstorbenen etc.) beobachtet werden.77 Die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod bleibt trotz des zu verzeichnenden Plausibilitätsverlusts der traditionellen christlichen Eschatologie für immerhin zwei Drittel der Deutschen eine Option, zwischen 40 % und 50 % bejahen die Frage „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“ ausdrücklich.78 9.11.2015) zu nennen, das mit folgenden Worten wirbt: „Auf strassederbesten.de können Sie kostenlos Gedenkseiten für die Menschen erstellen, die in Ihrer Erinnerung für immer weiterleben sollen. […] strassederbesten.de bietet Ihnen die Möglichkeit den geliebten Menschen in Liebe und mit Würde zu gedenken. […] Lasst uns unsere Lieben nicht in Vergessenheit geraten. Lasst uns ihnen ein Denkmal setzen, denn auch wenn sie nicht mehr unter uns sind, so werden sie doch für immer in unseren Herzen bleiben.“ Dem Trend folgte 2015 – in m. E. durchaus anspruchsvoller und gelungener Weise – die EKiR (mit Unterstützung weiterer Landeskirchen), die eine Seite einrichtete (Evangelische K irche im R heinland: trauernetz. de. Ein Angebot der evangelischen Kirche, http://trauernetz.de/index.php, zuletzt geprüft am: 27.11.2015), auf der Ressourcen zur Verarbeitung von Trauer angeboten werden, von ganz praktischen Fragen der Gestaltung der Bestattung, bis hin zu Gebeten, die zur jeweiligen Gefühlslage passend formuliert sind. Auf der Seite werden außerdem die zentralen Symbole, die im christlichen Trauerritual verwendet werden, erklärt. Zudem besteht die Möglichkeit, seine Trauer in einem Seelsorge-Chat zu verbalisieren. Zum Ewigkeitssonntag 2015 wurde darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, persönliche Gedenkseiten zu erstellen – die Seite hat offensichtlich das Ziel dem Gedenken zwar einen virtuellen Raum zu geben, es aber nicht im Sinne einer Verewigung überzubewerten (Evangelische K irche im R heinland: gedenkseiten.trauernetz.de. Ein Angebot der evangelischen Kirche, http://gedenkseiten.trauernetz.de/, zuletzt geprüft am: 27.11.2015). Zur praktisch-theologischen Reflexion über die virtuellen Gedenkstätten vgl. Nord, I./Luthe, S.: Räume, die Selbstvergewisserung ermöglichen. Virtuelle Bestattungs- und Gedenkräume und ihre Bedeutung für die Diskussion und den Wandel der Friedhofskultur, in: K lie u. a.: PT der Bestattung, 307–328. 74  Vgl. a. a. O., 317–319. Nord und Luthe interpretieren die QR-Codes als Reaktion auf das Bedürfnis der Imaginierung der Anwesenheit der Verstorbenen und der Individualisierung des Gedenkens an sie. 75  Http://grabstein.info/, zuletzt geprüft am: 9.11.2015. 76  Feldmann: Tod, 63. Ähnlich auch Drehsen: Tod, 206. 77 Vgl. Sunderbrink, B.: III.6 Trauer, in: Wittwer /Schäfer /Frewer: Sterben, 192–197, hier: 194–196. 78  Die meisten der benannten Umfrageergebnisse sind der Seite Statista GmbH: statista,

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

Dabei fällt auf, dass der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele eine größere Zustimmung (52%) findet als die christliche Auferstehungsvorstellung, die nur etwa ein Drittel der Deutschen für plausibel hält79 und die sogar ein nicht geringer Teil der Predigenden als Vorstellung explizit ablehnen.80 Auch die Vorstellung eines „ewigen Lebens“ – wie im Glaubensbekenntnis formuliert – stößt, ebenso wie der Glaube an den Himmel, nur bei einem Drittel auf Zustimmung.81 Die Vorstellung einer Hölle halten noch weniger für plausibel.82 Die Unsterblichkeitsvorstellung paart sich zuweilen mit dem Reinkarnationsgedanken83 – als Belege gelten Nahtod-Erfahrungen und Déjà-Vu-Erlebnisse –, alternative Konzepte sind die des Weiterlebens kultureller Form – „in den Werken oder in den Gedanken der Mitmenschen“ – oder biologischer Natur – „in Form von Atom und Molekülen, aus denen nach dem Zerfall etwas Neues entsteht“.84 Die erste Vorstellung findet ihren Ausdruck wohl in dem häufig verwendeten Traueranzeigen-Spruch ‚Du lebst in unseren Herzen weiter‘. Die zweite in dem „naturreligiös-ökologische[n] Code“ alternativer Bestattungsformen wie Seebestattung oder Beisetzung im Friedwald, mit dem „Auferstehung als biologischer Stoffwechselzyklus“ verstanden wird.85 Auch die ethisch-religiöse Deutung der Organ- oder Körperspende als Möglichkeit, ‚über den Tod hinaus noch etwas http://de.statista.com/, zuletzt geprüft am: 11.11.2015 entnommen, hier: GESIS (2012), auf: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/5416/umfrage/glauben-an-ein-leben-nach-demtod/; Bertelsmann (2009), auf: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/5416/umfrage/ glauben-an-ein-leben-nach-dem-tod/. 79  TNS-Studie für den SPIEGEL (2007), in: Schreiber , M.: Die Reise ins Licht, in: Spiegel 61/15 (2007), 120–134, hier: 125; vgl. Chrismon-Umfrage Nov 2015 (Chrismon: Umfrageergebnis chrismon November 2015 (durchgeführt von TNS EMNID), https://chrismon.evan gelisch.de/umfragen/umfrageergebnis-chrismon-november-2015–31664, zuletzt geprüft am: 11.11.2015); Barz, H.: Postmoderne Religion. Am Beispiel der jungen Generation in den alten Bundesländern, Opladen 1992, 125–127; IfD Allensbach (2001), auf: http://de.statista.com/ statistik/daten/studie/34/umfrage/meinung---christliche-glaubensinhalte/, zuletzt geprüft am: 11.11.2015. 80  Zur Ablehnung der Auferstehungsvorstellung durch immerhin 40% der befragten Predigenden der ELKWUE vgl. Weyel, B.: Lebensdeutung, 127–129. 81  Chrismon: Umfrage Nov 2015; GESIS (2012), auf: http://de.statista.com/statistik/daten/ studie/277091/umfrage/glauben-an-den-himmel/, zuletzt geprüft am: 11.11.2015. 82 GESIS (2012), auf: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/277098/umfrage/glau ben-an-die-hoelle/, zuletzt geprüft am: 11.11.2015. 83  Ungefähr 20% der Deutschen glauben an die Wiedergeburt, vgl. IfD Allensbach (2001), auf: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/34/umfrage/meinung---christliche-glaubens inhalte/; GESIS (2012) http://de.statista.com/statistik/daten/studie/277100/umfrage/glaubenan-reinkarnation-wiedergeburt/, zuletzt geprüft am: 11.11.2015. 84  Barz: Postmoderne Religion, 125. Vgl. M eyer , J.‑E.: Todesangst und das Todesbewußtsein der Gegenwart, Berlin/Heidelberg/New York 21982, 107. 85  K lie: Einleitung, 8.

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Gutes tun zu können‘ – indem man anderen zum Weiterleben verhilft oder den Zwecken des wissenschaftlichen Fortschritts dient –, kann als eine alternative Form der Verewigung gelten.86 U. U. wird hier der Verlust der Integrität des Körpers als nebensächlich betrachtet, weil die ‚Erinnerung der Lieben‘ das Weiterleben gewährt.87

9.B  Gegenwartsdiagnostische Überlegungen: Zwischen Todesverdrängung und Sichtbarkeit des Todes Erstaunlicherweise wird diesem vielschichtigen Bild vom Umgang mit dem Tod am Anfang des 21. Jh. zuweilen nach wie vor mit der seit den 1960er Jahren äußerst populären sog. Todesverdrängungsthese begegnet.88 Der Grundtenor dieser These ist: Der Tod wird verdrängt durch eine verstärkt diesseitsorientierte Gesellschaft, die sich naturwissenschaftliche Allmacht anmaßt und einem durch Fortschrittsoptimismus gestärkten immanenten Unsterblichkeitsglauben aufsitzt. Ihre Vertreter kritisieren die durch die Ausdifferenzierung und den technischen Fortschritt bedingten Faktoren des Umgangs mit dem Tod, die Professionalisierung, Hospitalisierung und Medikalisierung des Todes, die eine 86 

Schneider, W.: „So tot wie nötig – so lebendig wie möglich!“ Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Eine Diskursanalyse der öffentlichen Diskussion um den Hirntod in Deutschland, Münster u. a. 1999, 280. 87 Vgl. K lie: Einleitung, 8 und die Äußerungen von Menschen über ihre Motivation zur Körperspende: Institut für Plastination e. K.: Körperspende zur Plastination (Beweggründe zur Körperspende), http://www.koerperspende.de/de/koerperspende/beweggruende.html, zuletzt geprüft am: 25.01.2016. 88  Z. B. Böhnke, M./Schärtl, T.: Was uns der Tod zu denken gibt. Philosophischtheologische Essays, Münster u. a. 2005, Vorwort; Beintker: Einführung, 13; Rüegger: Altern, 191; Bedford ‑Strohm, H.: Was kommt nach dem Tod? , in: MD EZW 73/11 (2010), 403–411, hier: 403 f.; Thiede, W.: Fegefeuer – Endgericht – Allversöhnung. Der Gerichtsgedanke im Licht des protestantischen Rechtfertigungsglaubens, in: ThLZ 136/11 (2011), 1129– 1144, hier: 1129; Wagner‑R au, U. (Hg.): Zeit mit Toten. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2015, 32 f. Der Ursprung der vielerorts rezipierten und proklamierten Todesverdrängungsthese (vgl. Hetzel: Todesverdrängung; Nassehi /Weber: Tod) ist nicht ganz klar (vgl. M acho, T. H./M arek, K.: Die neue Sichtbarkeit des Todes, in: Dies. (Hgg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München u. a. 2007, 9–21, hier: 12). Sie wurde pointiert von Max Scheler formuliert, der die zum Leben notwendige Todesverdrängung von der kritisch zu bewertenden Todesverdrängung des modernen, „geschäftigen“, zweckrationalen, fortschrittsoptimistischen Menschen unterscheidet (Scheler: Tod, 28–36). Die Todesverdrängungsthese ist durch die breite Rezeption des mentalitätsgeschichtlichen Klassikers Philippe A riès’ auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses populär geworden (A riès: Geschichte; 2009 erschien die 12. Auflage!).

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Exklusion der Sterbenden aus der Gesellschaft und – schlimmer noch – eine „Entsorgungsmentalität“89 im Umgang mit den Toten provoziert. Die Medialisierung des Todes wird in diesem Kontext als unterhaltungs- und sensationssüchtiges, geschwätziges, leeres „Palaver“90 und Verletzung eines letzten Tabus gewertet,91 seine öffentliche Inszenierung als eine die Realität des Sterbens beschönigende Ästhetisierung92 problematisiert und die neuen Formen von Bestattungs-, Erinnerungs- und Trauerkultur entweder nicht wahrgenommen oder als banalisierende Einstellung zum Tod gewertet93. Die Professionalisierung wird als billige Entlastung des Individuums kritisiert, das die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema umgeht, indem es sie den Experten überlässt.94 Oder umgekehrt: Der Gesellschaft wird vorgeworfen, dass sie aufgrund eines übersteigerten Individualisierungsdenkens den Einzelnen mit seinem Tod allein lässt und ihm darüber hinaus „auch noch abverlangt […], [er] möge bitte das gute Sterben […] hinkriegen“95. Theologisch wird die Todesverdrängung gern mit der Gerichts- und Gottvergessenheit der Gegenwart parallelisiert96, die in eine durch Vermeidungsstrategien produzierte „Sinnlosigkeit“97 des erlebnis- und konsumorientierten Lebens überhaupt gesteigert wird. Sie kann in diesem Sinne als Zeichen der Selbstbe89  Uden, R.: Spätmoderne Bestattungskultur, in: K lie u. a.: PT der Bestattung, 15–28, hier: 24. Vgl. Gronemeyer, R.: Von der Lebensplanung zur Sterbeplanung. Eine Perspektive der kritischen Sozialforschung, in: Gehring/Rölli /Saborowski: Ambivalenzen, 51–59, hier: 52. 90  M ischke: Der Umgang, 4. Vgl. Henning Luthers These von der „Verdrängung durch Gerede“ (Luther, H.: Tod und Praxis. Die Toten als Herausforderung kirchlichen Handelns. Eine Rede, in: ZThK 88 (1991), 407–426, hier: 409). 91 Vgl. Gronemeyer: Lebensplanung, 52. 92  Vgl. z. B. Thiede, W.: Tabuisierung des Todes im 21. Jahrhundert? Überlegungen zu einem spätmodernen Kulturphänomen, in: BThZ 21/2 (2004), 206–225, hier: 223. Die öffentliche Inszenierung toter Körper lassen, so Thiede, nicht auf einen Rückgang der Todesverdrängung, sondern auf die „Manipulation“ des Todes und den „Voyeurismus“ schließen, die in „Schamlosigkeit“ den Tod ästhetisieren (a. a. O., 207) und damit die „Vergänglichkeit des Leibes, die Realität des verwesenden Leichnams“ (a. a. O., 208) verdrängen. 93  So kritisiert z. B. Thiede die „Massenbewegung hinein in die virtuelle Cyberwelt der Computer“ (a. a. O., 216), die den Mensch gleichermaßen vergöttlichen und damit „seine Sterblichkeit (und seine Sündhaftigkeit) verdrängen“ (a. a. O., 216). 94  Gronemeyer: Lebensplanung, 52. 95  A. a. O., 54. 96  Vgl. z. B. Dirschauer , K.: Der totgeschwiegene Tod. Theologische Aspekte der kirch­ lichen Bestattung, Bremen 1973; in neuster Zeit auch Thiede: Fegefeuer, 1129 und Beintker, M.: Gottes Urteil über unser Leben. Das Jüngste Gericht als die Stunde der Wahrheit, in: ZThK 110 (2013), 219–233, hier: 219–221. 97  Thiede: Tabuisierung, 223. Vgl. auch Volker Drehsens kritische Analyse des Arguments des „sinnentleerte[n] Tod[es]“ (Drehsen: Tod, 201 f., Überschrift des Absatzes).

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hauptung des Sünders gedeutet werden, der seine eigene Endlichkeit und Begrenztheit nicht wahrhaben will und sich sogar der letzten Frage, die ihm eigentlich immer offen bleibt, zu ermächtigen versucht.98 Die Todesverdrängungsthese wurde seit den 1960er Jahren verschiedentlich kritisiert und stattdessen der Weg einer modernisierungstheoretischen Erklärung des Umgangs mit dem Tod beschritten. Die Kritik trifft sich in dem Punkt, dass die These keine deskriptive Funktion hat, sondern als Instrument der Kulturkritik an einer technisch dominierten Gesellschaft entlarvt wird. Die Mahnung zum Memento Mori dient, so der Soziologe Werner Fuchs – der die Kritik als erster umfassend formuliert hat – unter anderem der Kirche als Mittel, den vielfach beklagten Transzendenzverlust zu bekämpfen, wobei der Tod gleichsam als „Waffe“99 geführt oder als „letzte[ ] Trumpfkarte“100 zur Erinnerung an die Kontingenz und Endlichkeit menschlichen Lebens ausgespielt wird. Die Todesverdrängungsthese hat aus dieser Perspektive für die Theologie apologetischen Nutzen, indem sie die sündentheologische Folie entwirft, auf der von Gnade gepredigt werden kann. Sie dient gewissermaßen der „Selbstentlastung“101 der Theologie: Der Grund für den Relevanzverlust der eschatologischen Rede wird nicht in der theologischen Vermittlungsleistung selbst gesucht, sondern in der sündhaften Einstellung der Hörer. „Die Verdrängungsthese hat hier offenbar die Funktion, unberechtigte, uneinlösbare, übersteigerte Kompetenzzumutungen abzuweisen.“102 Sie zeigt damit ein Grundproblem an: Die Todesspezialisten sind natürlicherweise mit einem Thema überfordert, das sie professionell zur Sprache bringen müssen, an dem die Sprache aber versagt. In dem Sinne kann die Verdrängungsthese „im Extremfall dann selbst als Bestandteil einer Verdrängungsstrategie gewertet werden“103: Sie verdrängt das Problem, das aufseiten der Theologie selbst besteht. Über das Argument der kulturkritischen, ihre Vertreter entlastenden Funktion der Verdrängungsthese hinaus können drei weitere Kritikpunkte angebracht werden: Zum einen ist die Todesverdrängung kein spezifisch Phänomen des 20. Jh., das wird vor allem daran ersichtlich, dass sie in verschiedenen Epochen von Intellektuellen moniert wurde.104 Lediglich die Art und Weise der Verdrängung hat sich geändert: Der Verdrängungsmechanismus der technischen Kon98 

Vgl. z. B. Pannenberg, W.: Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik, in: Ders.: Grundfragen systematischer Theologie II, Göttingen 1980. 99  Fuchs: Todesbilder, 19. 100  A. a. O., 9. 101  Drehsen: Tod, 210. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Vgl. Graf: Todesgegenwart, 13.

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trolle über den Tod löst in der modernen westlichen Gesellschaft das archaisch-magische Ritual der Todesbewältigung ab.105 Zum anderen verweist der Gebrauch der Verdrängungsthese auf ein jeweils dahinterliegendes normatives Bild des Todes, was sie begrifflich ungenau106 und perspektivisch, wenn nicht willkürlich, erscheinen lässt – die Verdrängung des Todes ist als die Zurückweisung einer bestimmten (vom Kritiker als angemessenen behaupteten) Einstellung zum Tod zu begreifen, nicht als die fehlende Auseinandersetzung mit dem Tod an sich.107 Darüber hinaus kann der Todesverdrängung ein positiver Wert beigemessen werden; sie ist in gewisser Weise notwendig für den Selbsterhalt des Menschen und eine funktionierende Gesellschaft: Der absolute Lebenswert, der den Kampf gegen den Tod einschließt und seine Verdrängung begünstigt, ist ethisch unabdingbar, wie auch von Hirsch im Rahmen seiner theologischen Todesdeutung herausgestellt wird.108 Der Sinn des menschlichen Lebens wird durch den Tod grundsätzlich in Frage gestellt, dem werden natürlicherweise Bewältigungsstrategien entgegengesetzt, durch die der Tod zu einer „kommunizierbaren und praktizierbaren Größe“109 umgeformt wird. Nicht nur der naturwissenschaftlich-technische Drang nach Lebenserhaltung, sondern auch die Kultur kann als eine solche Todesbewältigung verstanden werden, indem sie versucht, durch Sinnproduktion die Herrschaft über den Tod zu erlangen.110 Damit kön105 Vgl.

184).

Fuchs: Todesbilder. Ähnlich argumentiert, wie herausgestellt, auch Hirsch (s. o.,

106  Besonders die Parallelisierung von Verdrängung und ‚Tabuisierung‘ des Todes (z. B. Thiede: Tabuisierung) weist eine nicht unbeträchtliche semantische Ungenauigkeit auf. Mit einem ‚Tabu‘ werden gemeinhin heilige Dinge belegt, es anzutasten käme einer „schwerwiegenden Normverletzung“ (Feldmann: Tod, 76) gleich. Der mit der Verdrängungsthese verbundene Vorwurf ist doch aber gerade entgegengesetzt, nämlich dass dem Tod durch seine technische Verallgemeinerung seine als normativ gesetzte Bedeutung genommen wird. 107 Vgl. Roth: Die Beerdigungsansprache, 219. 108  S. o., 217. 109  Roth: Die Beerdigungsansprache, 222. 110  Den Entwurf einer Kulturtheorie, die die Angst vor dem Tod als entscheidenden Motor für die Entwicklung der Kultur begreift und die wesentliche Funktion der Gesellschaft darin sieht, dass sie Verteidigungsstrategien gegen die Todesangst für den Einzelnen bereithält, hat Ernest Becker geliefert (Becker: Dynamik). Sie wurde von den amerikanischen Sozialpsychologen Jeff Greenberg, Sheldon Solomon und Tom Pyszcynski zur sog. Terror Management Theory (vgl. Bierbrauer, G.: Triebe, Instinkte, Kultur und Todesangst. Überlegungen zu konkurrierenden Erklärungen für die Ursachen von Aggressionen, Konflikten und Gewalt, in: Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück /Präsident der Universität Osnabrück (Hgg.): An den Grenzen des Lebens, Göttingen 2003, 137–146, hier: 145) ausgebaut, die alle möglichen menschlichen Verhaltensweisen als Bewältigungsstrategien für die Todesangst begreift, womit die Kultur zugleich „Sinnstifterin und Angstpuffer“ (a. a. O., 143) ist. Kultur schafft Ordnung, Übersichtlichkeit, Sicherheit, Sinn. Auf der Seite des Individuums korres-

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nen letztlich alle möglichen Formen der Todesbewältigung und „der Integration des Todes in das gesellschaftlich legitimierte Sinnsystem […] mittels Verleugnung, Verdrängung, Rationalisierung oder Projektion“111, als Abwehrstrategien begriffen werden; sei es, dass sie diesseitsorientiert die Sterblichkeit des Menschen nicht wahrhaben wollen; sei es, dass sie ein ‚sinnvolles‘ Bild vom Tod entwerfen, sei es, dass sie auf absoluten Selbsterhalt bauen; sei es, dass sie den Tod, indem sie ihn in einen religiösen Deutungsrahmen stellen, als notwendiges Durchgangsmoment für die Realisierung des wahren Lebens begreifen. Statt der These einer Verdrängung des Todes können vor dem gedanklichen Hintergrund der Systemtheorie und der Fraglichkeit der klassischen Säkularisierungsthese112 die gegenwärtigen Formen des Umgangs mit dem Tod so eingeordnet werden, dass sie als das Resultat einer „strukturelle[n] Verlagerung“113 bzw. einer „Pluralisierung“114 oder „Differenzierung“115 des Themas begriffen werden. Als hilfreich für eine nicht vorwurfsvolle Sicht auf die Individualisierung der Todesdeutungen erweist sich Hirschs Einsicht, dass diese im höchst individuellen Verhältnis zum Tod ohnehin schon angelegt ist, dass also eher eine vereinnahmend eindeutige Bestimmung des Todes im Blick auf das Wesen des menschlichen Verhältnisses zum Tod als problematisch zu kennzeichnen ist.116 Angesichts der „Renaissance des Themas“117, der „neuen Sichtbarkeit des Todes“118, der „neuen Todesgegenwart“119 die sich aus seiner medialen Inszenierung, aus unzähligen öffentlichen, akademischen, politischen, ethischen Dispondiert der sinnstiftenden Weltsicht der Selbstwert: Es begreift sich im sicheren Rahmen seiner kulturellen Werte als bedeutungsvoll, als „symbolisch unsterblich[ ]“ (a. a. O., 145). Auch der Huntington’sche „Clash of Civilizations“ kann damit auf die Angst vor dem Tod, die Angst vor dem Sinnverlust mit dem Abhandenkommen der eigenen Kultur, zurückgeführt werden (a. a. O., 143 f.). 111  Roth: Die Beerdigungsansprache, 222. 112 Vgl. Drehsen: Tod, 200: „Zwischen der Verdrängungsthese und der Säkularisierungsthese bestehen offensichtlich intrikate Wechselbeziehungen, die umso erklärungsbedürftiger sind, als man im Hinblick auf die religiöse Gegenwartskultur immer häufiger von einer Renaissance des Religiösen zu sprechen beginnt. Deutet sich im Abschied von der vermeintlich religionslosen, säkularisierten Gesellschaft zugleich ein Abschied von der todesvergessenen Lebensweise an?“ 113  A. a. O., 210. 114  A. a. O., 206. 115  H ahn/Hoffmann: Der Tod, 132. 116  S. o., 184. 117  Nassehi, A./Saake, I.: Beratung zum Tode. Eine neue ars moriendi?, in: Berliner Journal für Soziologie 12/1 (2002), 63–85, hier: 64. 118  M acho/M arek: Die neue Sichtbarkeit. 119  Graf: Todesgegenwart, 10.

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kursen, aus ausufernder Ratgeberliteratur120, aus neuen Formen des Totengedenkens, aus seiner Thematisierung in der digitalen Welt ableiten lässt, ist es allerdings schwierig, die Verlagerung auf die Privatisierung oder Verinnerlichung des Umgangs mit dem Tod zu reduzieren121 – auch wenn die letzte Deutungsinstanz das Individuum selbst ist. „Auch Todesbilder werden aufgesplittert in je unterschiedliche Perspektiven sowohl verschiedener Funktionssysteme als auch verschiedener Akteure innerhalb dieser Funktionssysteme.“122 D. h. in den im Vergleich zu den gesellschaftlichen Todesbildern noch einmal stärker variierenden individuellen Todesbildern spiegeln sich verschiedene Facetten systemisch generierter Todesbilder wider. Den gesellschaftlichen Systemen kommt dabei die Funktion zu, das Todesthema „mit kommunikativer Sicherheit aus[zu]statten“123, die sie v. a. mittels einer „organisationsgestütze[n] Expertenkommunikation“124 generieren. „Insofern sind die Funktionssysteme gerade keine Instanzen, die die Thematisierung des Todes verhindern und verdrängen, sondern im Gegenteil: sie sind die gesellschaftlich bedeutsame Praxis des Umgangs mit Tod und Sterben.“125 Die von den Vertretern der Verdrängungsthese kritisierte gesellschaftliche Versachlichung – im Sinne einer Technisierung bzw. Bürokratisierung – des Todesthemas wird im Kontext der These von der systemischen Differenzierung auf die spezifische Funktionsweise einzelner Systeme und seine Aufteilung in verschiedene Aspekte zurückgeführt: „Innerhalb der einzelnen Subsysteme der Kommunikation erscheint das Schreckliche insofern zwar nicht als überwunden, wohl aber als spezifiziert: Es wird verwandelt. Die Bedrohung präsentiert sich nicht mehr als Gegenstand unbeschreiblicher Angst, sondern als Objekt höchst präzise benennbarer [und dem Anschein nach händelbarer, A.‑M. K.] Befürchtungen.“126

Von dorther sind z. B. der durch Biopolitik geprägte Umgang des Staates mit dem Tod, dessen Ziel in dem Erhalt einer funktionierenden Gemeinschaft und deren Optimierung besteht, oder der durch den Wert des absoluten Lebenser120 Vgl.

die Auswertung der Analyse der einschlägigen Ratgeberliteratur von NasBeratung. 121  So wird z. B. die Verlagerungsthese bei K linger , C.: Die Bedeutung des Todes in der heutigen Gesellschaft. Zur Einführung, in: K linger: Perspektiven, 7–10, hier: 9, begriffen, ähnlich auch Gehring, P./Rölli, M./Saborowski, M.: Ambivalenzen des Todes? Zur Einleitung, in: Dies.: Ambivalenzen, 7–11, hier: 8. 122  Nassehi: Worüber man nicht sprechen kann, 129. Ähnlich H ahn/Hoffmann: Der Tod, 132. 123  Nassehi: Worüber man nicht sprechen kann, 131. 124  A. a. O., 132 125  A. a. O., 133. 126  H ahn/Hoffmann: Der Tod, 132. sehi /Saake:

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halts geprägte medizinische Umgang mit dem Tod als notwendige, systemimmanente Funktionsweisen zu erklären, die dann problematisch werden, wenn sie sich nicht im Kontext der Interferenz verschiedener Systeme und der Relativität der eigenen Deutungsperspektive verstehen, wenn sie ihre partikulare Sichtweise also verabsolutieren. Problematisch wird es auch, wenn diesen Systemen die Deutungshoheit gleichsam überlassen wird, indem der Sterbende seines sonstigen Bezugsrahmens der Identitätsvergewisserung verlustig geht. Hier erweist sich auch Hirschs Kritik an der sozialen Einsamkeit der Sterbenden, die durch die Rationalisierung aller Lebensbereiche bedingt ist, als aktuell.127 Insofern kann im Bezug auf die Hospitalisierung von einer kritikwürdigen Übereignung der Sterbenden an das System Krankenhaus, die den Deutungsspielraum im Blick auf den Tod auf die medizinische Ratio verengt und dem Einzelnen damit seine Ausdrucksmöglichkeiten nimmt, – von einer tendenziellen Verdrängung der Sterbenden – gesprochen werden.128 Die von den Vertretern der Verdrängungsthese kritisierte ‚Geschwätzigkeit‘ und die Ästhetisierung des Todes werden im Zusammenhang der alternativen These seiner Pluralisierung als gleichsam notwendige Attribute einer Thematisierung des Todes begriffen. Die Unsichtbarkeit und Unbegreiflichkeit des Todes nötigt zu kommunikativer und visualisierender Imagination, die sich allerdings nur in der Spannung zum Verstummen angesichts des Todes begreifen kann. „Die Nichterfahrbarkeit des Todes hat eben nicht Sprachlosigkeit zur Folge, sondern das Gegenteil: Seine Nichterfahrbarkeit entfesselt Kommunikation, zwingt uns dazu, sprachliche Sinnuniversen zu errichten […]. Wir kommen nicht anders an den Tod heran als mit Kommunikation und noch mehr Kommunikation. Insofern ist der Tod vor allem dies: geschwätzig und paradox. Er ist geschwätzig, weil wir ihn nicht unmittelbar besichtigen können […]. Deshalb müssen wir ihm Kommunikation widmen, ihn deuten und verstehen. […] Paradox ist der Tod […], weil wir damit eine Erfahrung simulieren, mit der sich eben keine Erfahrung machen läßt.“129

127 

S. o., 185 f. M acho: Religion, 271. 129  Nassehi: Worüber man nicht sprechen kann, 120 f. Vgl. M acho, T. H.: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a. M. 1987, 22: „Wir sind beauftragt, die Passage zu finden, die sich den Zwängen der Alternative zwischen Totenpalaver und Schweigewut nicht unterwirft; eine Fahrtrinne, die uns Reden über den Tod erlaubt: im Angesicht der unberührbaren Differenz, im traurig-festen Blick auf den heillosen Graben, der durch keine Redelust und durch keinen Schweigekrampf überbrückt werden kann. Ein Diskurs vom Tod also, dem die Unversöhnlichkeit der Differenz zwischen unseren Reden und dem dauerhaften Schweigen der Toten eingebrannt bliebe; ein Diskurs, der die Erfahrung solcher Differenz nicht immanent verleugnen müßte […].“ 128 

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Problematisch werden Kommunikation und Visualisierung des Todes, wenn sie ihren paradoxen Charakter vernachlässigen und damit die Mehrdeutigkeit des Todes zu umgehen suchen. So können auch in diesem Kontext das Geschwätz über den Tod und seine Ästhetisierung kritisiert werden, nämlich dann, wenn sie sich ihrer Uneigentlichkeit und ihrer Perspektivität nicht bewusst sind, wenn sie also die Spannung zwischen Sagbarkeit und Nichtsagbarkeit, zwischen dem Verlangen nach Sinnproduktion angesichts des Todes und der bleibenden, grausamen Realität des Todes nicht thematisieren.130 Damit wird das Interpretament der Todesverdrängung von einem Instrument radikaler Kulturkritik zu einem Maßstab des Redens über den Tod. Dieser redet dann nicht einer generellen Verurteilung der Rationalisierung, Privatisierung und Medialisierung des Todes das Wort, sondern macht auf die in diesen Prozessen liegenden Gefahren zur Nivellierung seiner bleibenden Kontingenz aufmerksam. Die fehlende Konfrontation des Einzelnen mit dem Tod in seinem Alltag und der damit verbundene Verlust einer Memento-Mori-Kultur wird vor dem Hintergrund der These von der strukturellen Verlagerung und Differenzierung und im Kontext der Theorie von der Institutionalisierung des Lebenslaufes darauf zurückgeführt, dass der Tod lediglich in die institutionell organisierte Phase des Alters verlegt wird. „Wenn (fast) alle damit rechnen können, im höheren Alter zu sterben, und wenn die soziale Ordnung des Lebenslaufs daraufhin gebaut ist, dann verblasst die Vorstellung, permanent in Konfrontation mit der Sterblichkeit leben zu müssen.“131

Der teilweise beklagte Verlust der trauernden Auseinandersetzung mit dem Tod – wie er z. B. an anonymen Bestattungen, an dem Verzicht auf Beileidsbekundungen, an der fehlenden Trauerkleidung sichtbar wird – kann durch das Phänomen der Intimisierung von Trauer erklärt werden. Nur weil sie nicht öffentlich sichtbar gemacht wird, heißt das nicht, dass sie im Leben der Angehörigen keine Rolle spielt. Im Gegenteil, „die emotionale Betroffenheit von Hinterbliebenen im Familien- und Freundeskreis [ist] ungleich schmerzvoller, intensiver, verlustreicher geworden“132. Die romantisierte Liebe, die Kleinfamilie oder der enge Freundeskreis als wesentlicher Bezugsrahmen, über den Identität vergewissert wird, führen zum Bedürfnis, das intensive Gefühl der Trauer im Rahmen der Intimität zu belassen. Die Anonymisierung des Todes kann dement130 Vgl. Luther: Tod. Vgl. zur kritischen Betrachtung der Sichtbarkeit des Todes als Versuch, den Tod zu „normalisieren, [zu] bewältigen, in den Griff [zu] bekommen“ Assheuer, T.: Die neue Sichtbarkeit des Todes (DIE ZEIT 48/2009), http://www.zeit.de/2009/48/Sichtbar keit-des-Todes. 131  Fuchs‑H einritz , W.: Soziologisierung des Todes? Der halbherzige Diskurs über das Lebensende, in: Gehring/Rölli /Saborowski: Ambivalenzen, 15–30, hier: 23. 132  Drehsen: Tod, 205.

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sprechend als „ein extremer Ausdruck einer gesteigerten Diskretionsbedürftigkeit der Betroffenen“133 verstanden werden. Die gegenläufige Bewegung einer neuen Öffentlichkeit von Trauer auf Internetplattformen, auf denen meistens gerade nicht – wie vielleicht vorschnell angenommen wird – anonym agiert wird134, kann als eine neue Form der Ritualisierung der Trauer begriffen werden. Die „permanent begehbare[n] [digitalen] Kommunikationsräume“ dienen – wie vormals der institutionelle Rahmen und gleichzeitig der real-soziale Bezugs­rahmen – „der Selbstvergewisserung“135. Mit ihrer „Tendenz zur Community-Bildung“ im Sinne einer freiwilligen Interessengruppe außerhalb von Beziehung, Familie und Freundeskreis, die über das gemeinsame Schicksal miteinander verbunden ist, gehen die Internetforen über den oft in der individuellen Begegnung gehaltenen Ort des Friedhofs und die individuelle kirchliche Trauerarbeit sogar hinaus.136 Ein gegenwärtiger soziologischer, empirisch basierter, Kategorisierungsversuch der Einstellungen zum Tod – dem die Hirsch’sche dreifache Definition von Einstellungen zum Tod auf erstaunliche Weise entspricht137 – ist die Unterscheidung zwischen den „Unsterblichen“, den „Todesexperten“ und den „Todesforschern“.138 Als „Unsterbliche“ gelten solche, „die sich nicht von dem Thema Tod betroffen zeigen“139, weil sie ihren Fokus auf die Sorge um die alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen legen, und für die die Beschäftigung 133 

K lie, T.: Beschleunigte Kolonisierung. Neuinszenierungen im Reich des Todes, in: Fix /Roth: Lebensvergewisserungen, 61–90, hier: 63. K lie schreibt (a. a. O., 63 f.) weiter: „Dass eine anonyme Bestattung […] sehr viel kostengünstiger ist, mag in dem diffusen Motivbündel, das eine solche Bestattungsform generiert, sicher auch Berücksichtigung finden, den anhaltenden Trend zur anonymen Bestattung direkt mit dem Kostenargument kurzzuschließen, ist jedoch mehr eine Unterstellung denn eine Erklärung.“ 134  Nord/Luthe: Räume, 321. Vgl. K lie: Beschleunigte Kolonisierung, 76: „Paradoxerweise trifft damit die größtmögliche Anonymität auf die größtmögliche Öffentlichkeit. Der Totenort ist der irdischen Identifizierbarkeit entzogen und zugleich werden alle möglichen persönlichkeitsrelevanten Daten von weltweit jedem häuslichen PC aus einsehbar.“ 135  Nord/Luthe: Räume, 327. 136 Ebd. 137  Die auf die reine Immanenz bezogene Deutung des Todes als Nichts kann auf die Gruppe der „Unsterblichen“ bezogen werden, die Deutung des Todes als „bedeutungsloser Zwischenfall“ mit der Gruppe derer, die den Tod als Übergang relativieren. Der dritten Gruppe der „Todesforscher“ ist wohl Hirschs Entwurf einer idealen und dabei uneindeutigen Todesdeutung selbst zuzuordnen (s. o., 5.B, 183 ff. und 5.C, 188 ff.). 138  Saake/Nassehi /Weber: Todesbilder; Nassehi, A./Saake, I.: Kontexturen des Todes. Eine Neubestimmung soziologischer Thanatologie, in: K noblauch, H./Zingerle, A. (Hgg.): Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin 2005, 31– 54. Die Kategorien basieren auf der Analyse von 74 biographischen und 64 Experteninterviews zur Thematisierung des Todes. 139  Nassehi /Saake: Kontexturen, 42.

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mit dem Tod eine „Zumutung“140 wäre, weil er deren Ende bedeuten würde. Die „Todesexperten“141 sind darum bemüht, Sicherheit und Eindeutigkeit hinsichtlich des Todes zu erzeugen. Die „Todesforscher[ ]“ wollen „mit Hilfe des Themas Tod etwas über sich erfahren“142 – sie belassen ihn deswegen in seiner scheinbare Sicherheiten ausräumenden Vieldeutigkeit. Diesen Einstellungen entsprechend lassen sich folgende systemisch generierte Todesbilder ausmachen: Der Tod kann „verstanden werden erstens als Abschied vom Leben“143: Hier geht es darum, „angesichts des drohenden Endes von Handlungsoptionen neue Handlungsoptionen offenzuhalten. […] Das Problem der (drohenden oder antizipierbaren) Diskontinuität wird mit der Lösung herzustellender Kontinuität gekontert.“144 Von den Todesexperten wird zweitens die Deutung des Todes „als bedeutungsloser Zwischenfall“ innerhalb einer eindeutig strukturierten Wirklichkeit vertreten, „um Zweifel und Ungewissheit aus[zu]schalten“.145 Drittens kann das Bild vom Tod „als gleiches Schicksal für alle“146 ausgemacht werden, dem die unverwechselbare Individualität von Lebensgeschichten entgegengesetzt wird, an denen die jeweils subjektive Bedeutung des Todes aufgezeigt werden kann. Aus den hier im Anschluss an soziologische Forschungen getätigten Überlegungen lässt sich der Schluss ziehen, dass alternativ zu einer Verdrängung des Todes „von einer Verwissenschaftlichung, Politisierung, Ökonomisierung, Medikalisierung, Juridifizierung des Todes in der modernen Gesellschaft – neben und mit seiner Individualisierung, Privatisierung und Verinnerlichung“ – zu sprechen ist, „die heute eine Bandbreite an Todesbildern produziert, die kaum überschaubar ist“.147

140 

A. a. O., 48. A. a. O., 49. 142  A. a. O., 42. 143  Nassehi /Saake: Beratung, 63. 144  A. a. O., 73. 145  A. a. O., 77. 146  A. a. O., 63. 147  A. a. O., 130 f. Nassehis hier zitierte Aussagen beruhen auf den Studien- und Umfrageergebnissen seines Forschungsprojekts „Todesbilder – Strukturen der Endlichkeitserfahrung in der modernen Gesellschaft“ (http://sofis.gesis.org/sofiswiki/Todesbilder_-_Strukturen_ der_Endlichkeitserfahrung_in_der_modernen_Gesellschaft, zuletzt geprüft am: 3.11.2015). 141 

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9.C  Die Relevanz einer Predigt über den Tod: Spannungen aushalten Der auch von einigen praktischen Theologen geforderte „Perspektivwechsel“148 von dem Todesverdrängungsvorwurf hin zu einer differenzierten Wahrnehmung der mehr oder weniger offensichtlichen Rolle, die der Tod im Leben des Einzelnen spielt, erweist sich nicht nur von der soziologischen Argumentation, sondern auch von der Hirsch’schen Todesdeutung her als angemessen. Hirschs existenzialdialektischer Ansatz, mit dem er verschiedene implizite und explizite Formen der Gegenwart des Todes im Leben herausarbeitet, ist m. E. als ein solcher jenseits des Verdrängungsvorwurfs argumentierender Zugang zum Thema zu begreifen. Seine theologische Pointe besteht zum einen darin, dass er den menschlichen Umgang mit dem Tod in der dialektischen Bewegung von Gesetz und Evangelium begreift. Das schließt ein, dass die als gesetzhaft gedeuteten Einstellungen zum Tod freilich zu überwinden sind, aber aus sich selbst heraus schon auf ihre angemessene Form angelegt sind.149 Das impliziert auch, dass der Glaubende der Gefahr einer dem Gottesverhältnis unangemessenen Einstellung zum Tod nicht enthoben ist, dass sich also der Predigende auf die Seite der Angefochtenen stellt und ihnen nicht mahnend gegenübersteht. Zum anderen begreift Hirsch die aus der Perspektive des Glaubens unangemessenen Verhaltensweisen mithilfe der Deutungskategorie des Gerichts so, dass er sie aus erlittenen Erfahrungen und aus übersteigerten – aber gleichwohl dem Wesen des Menschen gemäßen – Ängsten und Sehnsüchten herleitet.150 Das impliziert m. E. eine zwar kritische, aber eher eine parakletische als eine paränetische theologische Haltung zum menschlichen Umgang mit dem Tod.151 Für Theologie und Predigt wird aus dem vorgeschlagenen Perspektivwechsel von der Praktischen Theologie her die Aufgabe abgeleitet, sich das Bewusstsein der Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung des Umgangs mit dem Tod zueigen zu machen. Das hat für ihr Selbstverständnis zur Folge, dass 148 

Drehsen: Tod, 210. Vgl. Roth: Die Beerdigungsansprache, 219–222. S. o., 6.B.b, 235 ff. 150  S. o., 5.D, 192 ff.; 6.B.a, 232 ff. 151 Diese Wendung entspricht der gegen die kerygmatische Predigttheorie gerichtete „Neubestimmung“ der Bestattungspredigt seit den 1970er Jahren unter dem Motto „Trauerbegleitung statt Lehrverkündigung“ (Roth, U.: Anlässlich des Todes predigen. Entwicklungslinien der praktisch-theologischen Reflexion über die Bestattungsansprache, in: Fix /Roth: Lebensvergewisserungen, 27–60, hier: 30). Ursula Roth stellt heraus, dass auch diese Form nicht auf den Aspekt der Verkündigung verzichtet und sich ausschließlich an den Erwartungen der Angehörigen orientiert. Sondern sie bringt Biographie und christliche Tradition behutsam miteinander ins Gespräch und hat ihre Pointe darin, dass die Lebensgeschichte des Einzelnen über das äußerlich Sichtbare hinausgeht. 149 

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sie sich nicht als dafür zuständig betrachten, einen vereinnahmenden und „umfassenden Sinnhorizont für Leben und Sterben moderner Gesellschaften“152 zu liefern. Letztlich findet die Konstruktion von Sinn ihren Ort im Individuum, deren „‚Gelingen‘ nicht delegierbar ist, sondern in den Zuständigkeitsbereich individueller Unvertretbarkeit fällt“153. Die Individualisierung der Deutung des Todes kann positiv als Entlastung des Predigers und als Relativierung übersteigerter Kompetenzansprüche154 an die Theologie gewertet werden. Sie liegt mit Hirsch theologisch begründet in der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott und in dem Selbstverständnis der Theologie und der Predigt als christliche Rechenschaft vom subjektiven Glauben.155 Die kirchlich-theologische Aufgabe besteht dann weiterhin nicht darin, die Bedeutung des Todes letztgültig zu klären, sondern den Einzelnen dazu anzuleiten, seinen „je eigenen Ausdruck […] selbst zu finden“156, seine Sicht auf Tod und Leben, seine Ängste angesichts des drohenden Todes zu verbalisieren. Diese Vorgehensweise ist nicht als Rückzugstaktik zu verstehen, mit der auf ­theologische Reflexion verzichtet wird bzw. mit der die Bedürfnisse der Adressaten die theologische Botschaft überlagern. Sondern es geht darum, statt einer ­apologetisch-polemischen Haltung eine Sicht zu entwickeln, die die Ressourcen der Situation freilegt, in die sich die gegenwärtige Predigt über den Tod gestellt sieht.

152  A ltmeyer , S.: Von Gott sprechen angesichts des Todes, in: Pock /Feeser‑Lichterfeld: Trauerrede, 73–94, hier: 90. 153  Drehsen: Tod, 210 f. Vgl. auch Graf: Todesgegenwart, 45 f.: „Sinn ‚gibt‘ es nicht. […] Der Begriff des ‚Sinns‘ verweist auf die bewußten Selbstdeutungen, in denen ein Mensch seinem Leben gerade mit Blick auf dessen fragmentarischen, offenen, widersprüchlichen Charakter, trotz allen Wissens um ‚bricolage‘ und patchwork-Bastelei, subjektiv Kohärenz abzugewinnen, zuzuerkennen versucht. […] Versuche, endlichem Leben trotz vielfältig erfahrbarer Sinnlosigkeit Sinn abzugewinnen, lassen sich nicht in generalisierenden Perspektiven sinnvoll kommunizieren und beurteilen. Wer in religiösen Symbolsprachen lebensbestimmenden Sinn zu erschließen versucht, kann immer nur für sich entscheiden, ob erschlossener Sinn auch die Erfahrungen von Negativität und zerstörerischer Sinnlosigkeit übersteigt, also auf unbedingten Sinn verweist.“ 154  Die gefühlte übersteigerte Kompetenzzumutung an die Professionellen thematisiert Drehsen: Tod, 210. Auch A ltmeyer verweist (im Anschluss an die dreifache Kategorisierung des gegenwärtigen Selbstverständnisses im Umgang mit dem Tod bei Nassehi /Saake: Kontexturen, s. o., 343 f.) darauf, dass die meisten Prediger seiner Untersuchungsreihe sich selbst als Todesexperten verstehen, die sich um die Erzeugung von Sicherheiten bemühen, indem sie den Tod zu erklären versuchen (A ltmeyer: Von Gott sprechen). 155  S. o., 1.C.a., 64 ff. und Kap.  8, 319 ff. 156  H ermelink: Die weltliche Bestattung, 222; vgl. Schneider‑H arpprecht: Die kirchliche Bestattung, 39.

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Als Chance kann dabei die Tatsache genommen werden, dass der Tod für viele ein bleibend religiöses Thema zu sein scheint.157 Und wenn dies nicht der Fall ist, so verweist zumindest die „lebensgeschichtliche[ ] Bedeutung des Todes“158 auf die Notwendigkeit seiner Bearbeitung. Kirchliche Rede kann einen „Beitrag zur Ausarbeitung, Stabilisierung und zur Rekonstruktion biographischer Identität“159 vor dem Horizont des Todes liefern. Darüber hinaus signalisieren die mehr oder weniger als reale Möglichkeiten empfundenen – oben skizzierten – Katastrophenszenarien u. U. das Gefühl einer „kollektiven und individuellen Bedrohung und Verunsicherung und ein[ ] damit einhergehende[s] Bedürfnis[ ] nach Vergewisserung“160, das theologisch aufgenommen werden und bearbeitet werden kann. Der Relevanzverlust traditioneller eschatologischer Gehalte muss vor dem Hintergrund der strukturellen Verlagerung und Differenzierung des Umgangs mit dem Tod nicht auf eine rein immanente, areligiöse oder zumindest eine gerichts­vergessene und an der Perspektive eschatologischer Lebensdeutung desinteressierte Haltung, sondern kann mit Hirsch161 und aus gegenwärtiger praktisch-theologischer Perspektive auf Orientierungslosigkeit162 angesichts der Pluralität von Sinndeutungsangeboten, auf „Hilflosigkeit und Überforderung“163 im Blick auf die eigene religiöse Sprachfindung zurückgeführt werden. Die Herausforderung an die Theologie besteht damit – wie Hirsch es mit seiner Methode der Umformung vorführt164 – in der lebensnahen, offenen und 157 

S. o., 4, Anm.  12. Drehsen: Tod, 211. 159  A. a. O., 212. 160  Sommer , R.: Jüngstes Gericht (Mt 25, 31–46) in der Predigt. Analysen und Perspektiven einer homiletischen Herausforderung, in: PTh 99 (2010), 400–417, hier: 403. 161  Diese Perspektive nimmt Hirsch ein, wenn von der religiösen „Kargheit und Wort­ armut“ (ChR I, 138) seiner Zeit spricht, die er sowohl auf die Rationalisierung der verschiedenen Lebensbereiche als auch auf die fehlende Vermittlung zwischen christlichem Tradi­ tions­bestand und der Lebenswirklichkeit des Menschen zurückführt (s. o., 1.A.c, 38 ff.). Dementsprechend konstatiert Mareile Lasogga zurecht: „Hirsch zufolge ist die religiöse Selbstvergewisserung der Subjektivität in der Moderne weniger aufgrund vermeintlicher Autonomieansprüche gefährdet, vielmehr sind die menschlichen Lebensverhältnisse vermöge ihrer unaufhaltsamen Pluralisierung einer Vieldeutigkeit und Diffusität ausgesetzt, die die Orientierung des Individuums zunehmend erschwert. In seinem Versuch der Selbstkonstitution läuft der Mensch Gefahr, sich selbst zu verlieren.“ (Lasogga: Menschwerdung, 190.) 162 Ursula Roth kategorisiert die von ihr analysierten Predigten danach, ob sie in den Bereich der Apologetik/Polemik einzuordnen sind oder ob sie die Orientierungslosigkeit aussprechen, die im Blick auf die Deutung des Todes vorherrscht. Letztere setzen die aufbrechende Frage nach dem Sinn voraus und entfalten die Predigt als Versuch der Reintegration und Sinnkonstruktion (Roth: Die Beerdigungsansprache, 123–282). 163  Drehsen: Tod, 213. 164  S. o., 1.C, 64 ff. 158 

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doch evangeliumsgemäßen Reformulierung traditioneller Gehalte165, die zum einen in ihrer reflexiv differenzierten Form nicht als Bestandteil des allgemeinen Wissens gelten können und die zum anderen als solche offensichtlich nicht ohne Weiteres in die eigene Sinnkonstruktion integriert werden können bzw. deren lebensgeschichtliche Bedeutung sich nicht von vornherein erschließt.166 Dabei weiß sie sich vom Bewusstsein der Spannungen zwischen Sprachlosigkeit und Sinnstiftungsverlangen, zwischen Sinnlosigkeit des Todes und lebensnotwendiger Todesbewältigung, zwischen subjektiver Deutung und verallgemeinernder Professionalität bestimmt. Das Bewusstsein der Subjektivität der Todesdeutung und der Anspruch, die Hörenden zu einem eigenen Verständnis des Todes anzuleiten, setzt voraus, dass auf floskelhafte Sprache verzichtet wird. Die praktisch-theologische Kritik am „frommen Gerede[ ]“167 bezweifelt, dass traditionsgesättigte Worte wie ‚Auferstehung’ ohne eine auf die Lebenswirklichkeit abhebende Kontextualisierung Relevanz für die Trauernden besitzen.168 Das Problem, auf das diese 165  Vgl. die von Ursula Roth formulierte systematisch-theologische Aufgabe, „neben den zentralen Themen Auferstehung und Rechtfertigung […] auch Themen wie Gnade, Sünde, ewiges Leben auf ihre beerdigungshomiletische Relevanz hin zu analysieren“ (Roth: Anlässlich des Todes predigen, 58). Diese Anwendung eines erweiterten Spektrums dogmatischer Topoi lässt sich anhand von Hirsch Konzeption – die den Tod vor allem in der Dialektik von Gericht und Gnade thematisiert – durchführen. 166 Vgl. Sommer: Jüngstes Gericht, die in ihrer Reflexion über die Möglichkeiten einer gegenwartsnahen Gerichtspredigt feststellt, dass beim durchschnittlichen Christen nicht das mangelnde Interesse an eschatologischer Lebensdeutung das Problem ist, sondern erhebliche „Sprachdefizite und Wissenslücken bezüglich des Inhalts und der Bedeutung der christlichen Rede vom Endgericht“ (a. a. O., 403). Es ist m. E. bezeichnend, dass zwar die Hälfte der Deutschen angibt, daran zu glauben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, aber nur ein Drittel mit der Vorstellung vom ‚ewigen Leben‘ etwas anfangen kann, die offensichtlich in die Nähe zu Glaubenssätzen von Auferstehung, Himmel und Hölle gerückt wird – darauf lässt zumindest die gleiche Summe der Befürworter schließen (s. o., 285, Anm.  81). Von Hirschs Argumentation her würde sich doch nahelegen, dass der Gedanke des ‚ewigen Lebens‘ aufgrund seiner bildlosen Zurückhaltung anschlussfähiger als die zuletzt genannten ist. Lässt sich hier auf ein fehlendes Wissen sogar davon schließen, was mit ‚ewig‘ eigentlich gemeint ist? Vielleicht dominiert hier der von Hirsch benannte alltagssprachliche Gebrauch des Ewigkeitsgedankens, der eine unendliche Fortdauer des zeitlichen Lebens (ohne Tod) und die ewige Gleichheit (Eintönigkeit) implizieren würde (s. o., 1.B.c, 59 ff.), die dem Einzelnen nicht unbedingt erstrebenswert scheinen und die angesichts der Realität des Todes vom rationalen Menschen für unmöglich gehalten werden. – Es wäre interessant und vielleicht auch lohnenswert, dieser Spekulation empirisch nachzugehen. 167  Luther: Tod, 413. 168  Vgl. ebd. Dieselbe Diskrepanz zwischen Tradition und Lebenswirklichkeit zeigt auch Frank Thomas Brinkmann an dem Problem der Vermittlung zwischen „Lehrmeinungen“, wie sie sich in Agenden und Kirchenordnungen niederschlagen, und gesellschaftlich vermittelten Wünschen und Vorstellungen, die durch die Angehörigen an Predigende herangetragen

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Kritik verweist, besteht nicht im Gebrauch traditioneller Überlieferung an sich, sondern in der fehlenden Reflexion der Spannung zwischen Traditionsbestand und subjektiver Aneignung, in der fehlenden sprachlichen Vermittlung der christlichen Verheißung mit der Erfahrungswelt der Trauernden, in dem Verzicht darauf, sich zur Auferstehungsvorstellung alternativer biblischchristlicher Hoffnungsbilder zu bedienen.169 Hinter der mangelnden theologischen Differenziertheit, die durch eine floskelhafte Sprache signalisiert wird, und dem damit ebenfalls verbundenen mangelnden Bewusstsein der Bildhaftigkeit theologischer Sprache, kann Unsicherheit im Blick auf die reflexive Durchdringung der eigenen theologischen Haltung aufgrund und gegenüber der christlichen Überlieferung vermutet werden, die durch die Fassade hergebrachter Formulierungen verdeckt werden soll. Demgegenüber stellt sich für Predigende – verstehen sie ihre Arbeit im Hirsch’schen Sinne als stellvertretende christliche Rechenschaft – die Aufgabe, die Bedeutung des Todes sowohl in theologischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht mithilfe der im Idealfall zur Verfügung gestellten Ressourcen systematisch-theologischer Denkarbeit170 reflexiv zu durchdringen und über diesen Weg eine eigene, begründete Deutung des Todes (immer wieder neu) zu gewinnen. Die theologische Professionalität auf diesem Gebiet ist demzufolge nicht so zu verstehen, dass die Theologen sich selbst als Experten der Todesdeutung betrachten, die über ein gesichertes Sonderwissen verfügen. Professionell zu sein bedeutet in dem Fall, dem menschlichen Drang nach einer eindeutigen Definition des Todes nicht nachzugeben, sondern die Spannungen auszuhalten, die sich mit der Rätselhaftigkeit des Todes auftun. Zweifel, Schwäche und Anfechwerden, auf (vgl. Brinkmann, F. T.: Seelsorge im Trauerfall. Lehrmeinungen, populäre Kultur und religiöse Lebensdeutung, in: PTh 88 (1999), 42–58). 169  Die Bildarmut von Bestattungspredigten hebt v. a. Stefan A ltmeyer heraus: „Ihr theologisches Begriffsinventar konzentriert sich im wesentlichen auf Auferstehung und Kreuz“ (A ltmeyer: Von Gott sprechen, 86; i. O. herv.). 170  Dass die Bereitstellung entsprechender Ressourcen eine brennende Aufgabe für die Systematische Theologie ist, zeigen z. B. die Handreichung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers zur Bestattung und die Grundlinien und Rahmenbedingungen der Agende der UEK. Die Reflexion auf die theologischen Grundlagen der Bestattung fällt bei beiden zum einen vergleichsweise äußerst knapp aus, zum anderen besteht sie hauptsächlich in einer durch formelhafte Sprache geprägten Aneinanderreihung von Bibel- und Gesangbuchversen und zeigt kein Bewusstsein theologischer Überlieferungsgeschichte auf. Darüber hinaus ist sie durch die auch praktisch-theologisch kritisierte Reduktion des Gottesbildes auf den Barmherzigen gekennzeichnet, in dem die Unbegreiflichkeit des Todes nur schwer zu stehen kommt. (Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche H annovers (Hg.): „… so sterben wir dem Herrn“. Eine Handreichung zur Bestattung für Pfarrämter und Kirchenvorstände, Hannover 2006, 11 f.; K irchenkanzlei der UEK (Hg.): Bestattung. Agende für die Union Evangelischer Kirchen in der EKD Band 5, Bielefeld 2004, 15 f.)

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tung des Glaubens mit in das Reden vom Tod einzubeziehen gelingt, wie Hirsch gezeigt hat, indem der geschichtliche Glaube selbst die Doppeldeutigkeit des Todes zwischen Abbruch und Vollendung nicht auflöst, sondern sich selbst als „erfüllte Lebensmöglichkeit in der Antinomie“171, als ständige Bewegung zwischen gewissem Glauben und angefochtener, am Lebenssinn zweifelnder Buße, erfährt und erkennt.172 Predigende verstehen sich vor diesem Hintergrund selbst als angefochtene Zweifler, die ihren todesähnlichen Erfahrungen und ihrem ausstehenden Tod einen Sinn für ihr Leben abringen. Sie sind – mit einer Kategorie der gegenwärtigen soziologischen Forschung173 gesprochen – beispielhafte ‚Todesforscher‘174. Zur Thematisierung von Spannungen gehört auch die Wahrnehmung von Ungereimtheiten im Leben des Verstorbenen und von problematischen Aspekten der Beziehung zu seinen Angehörigen, worauf die aus praktisch-theologischer Perspektive vorgebrachte Kritik an der Harmonisierung der Biographie der Toten in der Bestattungspredigt verweist. Unter diesem Vorzeichen sei die Predigt nicht in der Lage, „die grundsätzliche Unabgeschlossenheit und Fragmentarität der Biographie“, die „Ungereimtheiten und Widersprüche, die Unterbrechungen und Bruchstücke gelebten Lebens“175 zu thematisieren.176 Neben der problematischen Tendenz, dass eine solche theologische Rede vom Tod den Ambivalenzen des Lebens nicht gerecht werde und den Trauernden entweder in ihrem Drang zur Wahrung des Gesichts „nach dem Mund“177 rede oder es ihnen gleichermaßen verbiete problematische Aspekte des Lebens des Gestorbenen zu 171 

ChR II, 97. S. o., 2.C.b, 92 ff.; 6.A.b.γ, 230 ff.; 7.B, 299 ff. 173  Nassehi /Saake: Kontexturen, 42. S. o., 344. 174 So A ltmeyer: Von Gott sprechen, 90 f. 175  Boschki, R.: Trauerrede als Beziehungsrede. Kernelemente einer christlichen Trauerpredigt, in: Pock /Feeser‑Lichterfeld: Trauerrede, 37–52, hier: 48. Vgl. Lütze, F. M.: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen. Überlegungen zur didaktischen Dimension der Bestattungsrede, in: K lie u. a.: PT der Bestattung, 473–481, hier: 476–478; Cornehl, P.: Stärker als der Tod. Über die Verschränkung von Eschatologie und Alltag, in: PTh 81 (1992), 80–97, hier: 92 f. 176  Vgl. auch die Untersuchung zur Entwicklung der Agenden von der EKU-Agende 1964 über die VELKD-Agende von 1996 bis hin zur UEK-Agende von 2004 bei Binder, C.: Dass er über Lebende und Tote Herr sei. Gottes Handeln an den Lebenden und an den Toten in den liturgischen Texten der Bestattungsagenden, in: K lie u. a.: PT der Bestattung, 87–104. Binder stellt die These auf, dass Gottes Handeln an den Toten in dieser Entwicklung zunehmend aus dem Blick gerät, womit die Vorstellung, dass Gott mit dem Tod etwas zu tun hat, dass er ihn herbeiführt, ausgeschlossen wird – „Gott will das Leben, nicht den Tod“ (a. a. O., 97). Wegen dieser Positivperspektive werden auch Sünde und Schuld des Verstorbenen nicht mehr thematisiert. 177  R euter: Totenrede, 164. 172 

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thematisieren, fördere sie die Vorstellung „einer selbstmächtigen Lebensplanverwirklichung“178, die dem christlichen Bild vom Menschen, der sein Leben allein Gott verdankt, nicht entspricht. Die Widersprüchlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlichen Lebens thematisiert Hirsch theologisch, indem er es als gesetzhaftes charakterisiert. Diese Perspektive ist nicht ausschließlich negativ wertend, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Potenziale der Vollendung freilegt, die in diesem gesetzhaften Leben selbst liegen. Die Dialektik von Unglaube und Glaube, von Schuldgefühl und Vertrauen, von Angst und Sehnsucht bildet den Boden für einen zwar unverstellten, aber dennoch würdigenden Blick auf das Unvollendete. Zweifel und Anfechtung, das Gefühl mit „Lebenssituationen dieser Art nicht fertig [zu] werden“179, können – wie an Hirsch gezeigt180 – theologisch aufgenommen werden, indem der Charakter des Todes als Abbruch, der zuerst jedes Sinnes entbehrt, verdeutlicht wird. Auf dieses Weise vermag die Verlusterfahrung, die die Hinterbliebenen durchleben, ernst genommen und zur Sprache gebracht zu werden. Dementsprechend werden aus praktisch-theologischer Perspektive Predigten kritisiert, die die Absurdität des Todes durch die ‚vorschnelle‘ Ausmalung der eschatologischen Wirklichkeit, durch ein vorrangig „exklusiv tröstende[s] und erbarmende[s] Gottesbild“181, durch „falsche[n] Trost“182 verdecken. Durch ein Übergewicht der „großen Worte“183 der Verheißung gerate die Rede in die Gefahr bloß vertrösten zu wollen, ohne dabei der „Bitterkeit des Todes“184 und der Problematik erinnerter Lebensgeschichten, die durch schuldhafte Beziehungen gekennzeichnet sind, standhalten zu können.185 Die 178 

Drehsen: Tod, 219. Schaede, S.: Der Unfasslichkeit des Todes die richtige Fassung geben? Einige Überlegungen zum Tod und der Schwierigkeit, ihm liturgisch zu begegnen, in: K lie: Performanzen, 101–120, hier: 114. 180  S. o., bes. 6.B, 232 ff.; 7.B.b, 302 ff. 181  A ltmeyer: Von Gott sprechen, 89; i. O. herv. A ltmeyer arbeitet mittels einer Analyse von Predigten diese Tendenz gegenwärtiger Trauerpredigten heraus. Vgl. die Feststellung, dass die Häufigkeit von Gerichts- und Apokalypsetexten in der Perikopenordnung abgenommen hat, um das evangelische Bild vom liebenden Gott nicht durch Unbegreiflichkeiten zu beeinträchtigen, bei Dahlgrün, C.: Ethik statt Eschaton? Überlegungen zur Reduktion der Worte von Apokalypse und Jüngstem Gericht in den Perikopenrevisionen, in: PTh 86 (1997), 429–437. 182  Schaede: Der Unfasslichkeit des Todes die richtige Fassung geben, 114. 183  Gräb, W.: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 247. 184  Luther: Tod, 413. 185  Vgl. auch Graf: Todesgegenwart, 37 f. Gegen die theologische Rede vom Tod selbst kann in diesem Fall der Vorwurf der Verdrängung im Sinne einer Ästhetisierung oder Marginalisierung des Todes erhoben werden. 179 

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Deutung des Todes als Abbruch ermöglicht über das Ernstnehmen von Verlusterfahrungen und des Gefühls der Sinnlosigkeit hinaus die „Trauer als psychische[n] Prozess“: Das Abschiednehmen, die „Freisetzung der Trauernden aus der Bindung an den Verstorbenen“, ist die Bedingung für das „seelsorgerlich-spirituelle und psycho-soziale Ziel“ des Trauerprozesses, nämlich „eine erneuerte Beziehung zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott“ zu entwickeln.186 Das Stehen in der Glaubensgewissheit kann so verstanden werden, dass der Glaubende kontrafaktischen „Einspruch“187 gegen die letztgültige Deutung des Todes als Abbruchs und absoluten Endes erhebt. Er tritt damit im Hirsch’schen Sinne gegen die Rationalisierung des Lebens und des Sterbens für ein „Menschentum [mit] Geheimnis“188 ein. Er protestiert gegen die „zerstörerische Macht“189 des Todes und klagt über dessen Sinnlosigkeit.190 Er hält gegenüber nihilistischen, zweckrationalistischen oder weltflüchtigen Tendenzen an dem eigentümlichen „Wert[ ] gelebten und gelingenden Lebens“191 – mit Hirsch: an dem Geheiligtsein menschlichen Lebens192 – fest. Das Bewusstsein der Geheimnishaftigkeit des menschlichen Lebens und Sterbens schließt allerdings ein, dass auch der Glaubende auf absolute Sinnzuschreibungen oder Definitionen verzichtet, dass er also den Tod in seiner Doppeldeutigkeit zwischen Abbruch und Vollendung belässt. Die Verheißung des Glaubens kommt in einer von diesem Bewusstsein getragenen Predigt nur „auf gebrochene Weise, im verhaltenen Ton“193, im Modus „tastender Gewissheit“194 zur Sprache.

186  Schneider‑H arpprecht: Die kirchliche Bestattung, 38  f.; vgl. Lütze: Lehre uns bedenken, 479; Plieth, M.: Seelsorge im Kontext von Sterben, Tod und Trauer, in: Engemann, W. (Hg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007, 446–463, hier: 459–462. Vgl. insgesamt zur kirchlichen Trauerbegleitung Lammer: Den Tod begreifen. 187  Gräb: Lebensgeschichten, 243. 188  ChR I, 67. Hirsch übt hier Kritik an einem rationalisierten „Menschentum ohne Geheimnis“. S. o., 34. 189  G räb: Lebensgeschichten, 243. Vgl. Gutmann: Mit den Toten, 216 f. 190  S. o., 6.A.a, 216 ff.; 7.A.b, 273 ff. 191 Vgl. Luther: Tod, 426. 192  S. o., 1.B, 51 ff., 6.B.b, 235 ff. 193  Gräb: Lebensgeschichten, 247. 194  Friedrichs, L.: Die Bestattungspredigt zwischen Einstimmung und Einspruch. Eine rhetorisch-theologische Verortung, in: PTh 101/3 (2012), 408–424, hier: 423.

10  Möglichkeiten des Redens vom Tod: Drei Skizzen Der oben herausgearbeiteten Aufgabe für die Systematische Theologie im Blick auf die Predigt über den Tod, die traditionellen Gehalte gegenwartsrelevant auszudeuten, soll im Folgenden an drei exemplarischen Themen andeutungsweise nachgegangen werden. Dabei wird das dargestellte praktisch-theologische Problemfeld inhaltlich reflektiert, und es kristallisieren sich v. a. der von Hirsch im Rahmen der Todesdeutung reflektierte Gerichtsgedanke und die damit verbundene Todesangst als tragfähige theologische Deutungskategorien für das Verhältnis des Menschen zu seinem Tod heraus. Diese Überlegungen sind von dem Selbstverständnis getragen, dass sie keine abschließende Funktion, sondern den Charakter eines Ausblicks haben, der von Hirschs Todesdeutung ausgehend Impulse zur praktisch-theologischen Reflexion und zur weiteren systematischtheologischen Arbeit geben will. Sie diskutieren dementsprechend die Hirsch’sche Argumentation nicht in ihrer Breite, sondern nur insofern sie für die Klärung der benannten Probleme ausschlaggebend ist, und sie nehmen auf die gegenwärtige theologische Debattenlage Bezug, ohne sie in ihrer Gänze erfassen zu können. Neben ihrer argumentativen Darstellung werden die Dimensionen des gegenwärtigen Umgangs mit dem Tod schlaglichtartig einzufangen versucht, indem den Skizzen verschiedene Mottozitate aus Literatur, Musik, Film und Fernsehen vorangestellt werden.195 Die im Anschluss an Hirsch entfaltete Pointe besteht darin, dass die Rehabilitierung des Gerichtsgedankens nicht vorrangig von der für einige theologische Zeitgenossen v. a. ethisch relevanten Frage nach dem zukünftigen Gericht ausgeht, sondern von der Frage nach der Möglichkeit, Sinnlosigkeitserfahrungen und Nichtigkeitsängste, die im Tod kulminieren, in das Leben zu integrieren. Die Beantwortung der Frage ‚Wie bekommt der Mensch ein angemessenes Verhältnis zu seinem Tod?‘ ist dementsprechend eng mit der Frage ‚Wie gelingt dem Menschen eine lebensförderliche Gestaltung seines Lebens?‘ verbunden. 195  Dieses stilistische Mittel nutzt auch Hirsch in seinem auf die glaubenspraktische Anwendung der systematisch-theologischen Einsichten bedachten Buch Zw. Die dort den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate sind eine Mischung aus Bibelstellen, Gesangbuchversen und – z.T. von Hirsch selbst verfassten – Gedichten.

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Sie ergibt sich mit Hirsch aus der Reflexion über Jesu Einstellung zu Tod und Leben, die dem Glaubenden in der Begegnung mit ihm zugeeignet wird. Das Sterben Lernen ist in dieser Hinsicht auf verschiedenen Ebenen menschlichen Lebens angesiedelt, die auf den ersten Blick mit dem Tod gar nichts zu tun zu haben scheinen. Es zielt darauf, die sinnlose, unbegreifliche Seite des Todes ernstnehmen und mit dem Bild vom liebenden Gott zusammenbringen zu können. Zudem wird in diesem Prozess die Fähigkeit ausgebildet, Ohnmachtsund Sinnlosigkeitserfahrungen in die Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens integrieren zu können. Das Sterben Lernen steht in der Dialektik zwischen Gericht und Gnade und ist damit ein Prozess, der nur begrenzt gesteuert werden kann und im spannungsreichen menschlichen Leben letztlich unabschließbar ist – der ‚Lernerfolg‘ ist auf die gnadenhafte Zuwendung Gottes zu den Menschen angewiesen, die dem subjektiven Glauben evident wird (10.A). Die zweite Skizze setzt sich unter der Überschrift Erinnerung und Vergegenwärtigung der Toten mit der Frage auseinander, inwiefern der theologisch zuweilen kritisierten populären Vorstellung des Weiterlebens der Toten in den Herzen ihrer Lieben ein begrenztes Recht zugesprochen werden kann. Auch für diese Argumentation können wesentliche Einsichten Hirschs zum vergegenwärtigenden Charakter der Erinnerung und seine Deutung der Auferstehung Jesu herangezogen werden. Der Gerichtsgedanke wird dafür nutzbar gemacht, angesichts des Drangs zur Harmonisierung Brüche und Unvollkommenheiten des gelebten Lebens thematisieren zu können (10.B). Die dritte Skizze, Todesangst und Weltende, setzt sich mit der innerhalb der Gegenwartskultur häufig artikulierten Vorstellung, dass die Menschheit durch einen katastrophischen Untergang bedroht wird, auseinander und führt anhand der Argumente Hirschs aus, inwiefern diese Angst vor dem Weltende theologisch aufgenommen werden kann. Diese wird danach befragt, welche – aus theologischer Perspektive zum Teil zu problematisierenden – Funktionen ihre entsprechenden Bewältigungsstrategien einnehmen. Die leitende Annahme, dass die Weltangst als Extrapolation der Selbstund Todesangst des Menschen zu begreifen ist, unterstützt die Hirsch’sche These, dass der individuelle Tod und das Weltende gleichzusetzen sind, in phänomenologischer Hinsicht (10.C).

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10.A  Sterben Lernen Was mich verwirrt […], ist der Umstand, dass die Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt gefundenen Trostformeln sich überhaupt nicht mit Sagt die Welt, dass er zu früh geht. meiner Angst vor dem Tod beschäftigen, sondern Wenn ein Mensch lange Zeit lebt mit der Angst, nicht geliebt zu werden; weshalb ich Sagt die Welt, es ist Zeit, dass er geht. mir in einfältigen, starren Gedankenketten immer (Die Puhdys: Wenn ein Mensch lebt)198 wieder die Zuneigung meiner Freunde logisch herleiten muss. […] Der Tod ist schließlich nichts anderes, als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden, die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein. (Wolfgang Herrndorf)196 Wir sind noch nie so eng zusammen gewesen und ich hab noch nie in meinem Leben so viel Liebe erfahren oder Liebe geben können, wie in dieser Zeit. Also, es ist doch ein Geschenk. (Eine Frau darüber, was ihre tödliche Krankheit für sie bedeutet)197

Und ich werd’ singen, ich werd’ lachen, ich werd’ ‚das gibt’s net‘ schrei’n, weil ich werd’ auf einmal kapier’n, worum alles sich dreht. (Ludwig Hirsch: Komm, großer schwarzer Vogel)199

Der Predigt über den Tod wird traditionell eine didaktische Funktion zugeschrieben, indem sie die Rolle einnimmt, den Hörern das Memento Mori als angemessene Lebenseinstellung zu Bewusstsein zu bringen. Sie hebt die allgemeine Einsicht, die der Tod vermittelt – das Endlichkeitsbewusstsein – auf die Ebene des Glaubens und thematisiert es als Erkenntnis des Gegensatzes zwischen göttlicher Heiligkeit und Gerechtigkeit und menschlicher Sündigkeit. Vor dem Horizont der traditionellen Vorstellung eines Jüngsten Gerichts dient die 196  H errndorf, W.: Arbeit und Struktur, Berlin 2013, 131. Die Beiträge aus dem Blog Wolfgang Herrndorfs, die unter dem Namen Arbeit und Struktur posthum veröffentlicht wurden und die Auseinandersetzung des Autors mit seiner terminalen Krankheit abbilden, changieren zwischen einem nüchternen Nihilismus, der weder an die Existenz der Welt noch der eigenen Person glaubt (vgl. z. B. a. a. O., 232.242 f.312.434 f.) und der Sehnsucht danach, als Person anerkannt und geliebt zu werden bzw. dem besonders durch Naturerlebnisse – aber auch durch die „Freundlichkeit der Welt [und] kleine Kinder“ (a. a. O., 94) – hervorgerufenen „verwirrende[n] Gefühl, noch da zu sein“ (a. a. O., 435). 197  7 Tage … Leben und Sterben (Domenica Beyer/Stefanie Gromes), ausgestrahlt auf NDR am 10.01.2016, http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/7_tage/7-Tage-Leben-undSterben,siebentage2308.html, zuletzt geprüft am: 10.02.2016. In diesem Dokumentarfilm begleitet die Regisseurin für sieben Tage zwei Menschen, deren Tod aufgrund einer terminalen Krankheit kurz bevor steht und unterhält sich mit ihnen über ihre mit dem Tod verbundenen Gedanken und Vorstellungen. 198  Zuerst erschienen auf: Die Puhdys: Die Puhdys, Amiga 1974. 199  Zuerst erschienen auf: Ludwig Hirsch: Komm, großer schwarzer Vogel, Polydor 1979.

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Erinnerung an den Tod dazu, das eigene Leben in dem Bewusstsein zu führen, mit dem Tod vor Gott Rechenschaft ablegen zu müssen.200 Mit der Hirsch’schen Transformation der traditionellen Eschatologie verschiebt sich der Fokus von einem noch ausstehenden Gericht auf dessen gegenwärtige Dimension.201 Das Gericht ist für ihn eine Deutungskategorie der subjektiven Erfahrung des Lebenswiderspruchs zwischen Faktizität und Bestimmung des Menschen, die durch die Unbegreiflichkeit des Todes potenziert wird. Das existenzielle Gericht vollzieht sich nicht nach einem äußeren Maßstab bzw. es tritt nicht als äußeres zur Erfahrung hinzu, sondern es ist selbst die Erfahrung.202 Ebenso ist das Gericht nicht ein Ereignis nach dem Tod, sondern der Tod selbst ist das Gericht.203 Dementsprechend können Grenzerfahrungen, die als Gericht gedeutet werden, mit Hirsch als todesähnliche204 qualifiziert werden. Der Mensch lernt dann nicht sterben, indem er sich seinen bevorstehenden Tod zu Bewusstsein bringt, sondern indem er solche todesähnlichen Lebenserfahrungen zu identifizieren, zu deuten und mit ihnen umzugehen lernt. Die präsentische, existenzialdialektische Fassung des Gerichtsgedankens nimmt damit die zwar nicht immer 200  Der auch gegenwärtig z.T. auf ähnliche Weise theologisch ins Spiel gebrachte Gerichtsgedanke (so z. B. Beintker: Gottes Urteil; Union Evangelischer K irchen (Hg.): Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, Neukirchen-Vluyn 22008, 78; Thiede: Fegefeuer, 1129.1135 f.; Wenz: Von den letzten Dingen, 13) weist das Problem auf, die Vermittlungsbedingungen seines traditionellen Gehalts in die Erfahrungswelt nur unzureichend zu reflektieren. Er setzt zum einen die unmittelbare Plausibilität christlicher Jenseitsvorstellungen voraus, die dagegen – folgt man Hirsch – über den existenzialdialektischen Weg erst erwiesen wird. Zum anderen tendiert er dazu, die Ambivalenzen menschlichen Lebens allein aus einer moralischen Perspektive zu reflektieren. Dem Drang zur Harmonisierung des Gottesbildes wird auf diese Weise durch ein äußerlich gesetztes Bild vom zornigen bzw. gerechten Gott entgegengewirkt. 201  Über eine präsentische Fassung des Gerichtsgedankens als Deutungskategorie für das Phänomen erlebter Selbstverfehlung reflektieren in neuester Zeit v. a. Christian Danz und Notger Slenczka (Danz, C.: „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Mt 25,46). Überlegungen zur Funktion und Bedeutung des Letzten Gerichts in der protestantischen Theologie, in: NZSTh 53/1 (2011), 71–89; Slenczka, N.: Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter 12/1 (2007), 97–112; Slenczka, N.: ‚Sich schämen‘. Zum Sinn und theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer emotionaler Selbstverhältnisse, in: R ichter, C./Dressler, B./Lauster, J. (Hgg.): Dogmatik im Diskurs. Mit Dietrich Korsch im Gespräch, Leipzig 2014, 241–261; Slenczka, N.: Problemgeschichte der Christologie, in: Gräb‑Schmidt, E./Preul, R. (Hgg.): Marburger Jahrbuch Theologie XXIII. Christologie, Leipzig 2011, 59–111, hier: 86–98). 202  Zur Transformation des Gerichtsgedankens, s. o., 3.B, 136 ff. 203  Zur Deutung des Todes als Gericht, s. o., Kap.  6, 215 ff. 204  Zu den todesähnlichen Erfahrungen, s. o., 6.B.a., 232 ff.

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explizite, aber in den todesähnlichen Erfahrungen bestehende Konfrontation des Menschen mit seinem Tod und die damit verbundenen bedrückenden Ängste205 vor der drohenden tödlichen Nichtigkeit des Lebens ernst. Wird die Predigt im Hirsch’schen Sinne als Stellvertretung begriffen, dann kann sie zwar nicht belehrend sein, leistet aber ihrem Selbstverständnis nach durchaus einen Beitrag zum Prozess der religiösen Selbstreflexion und des Lebensvollzugs vor dem Horizont des Glaubens, für den sie Anstöße und Deutungsmuster liefert.206 In diesem Sinne kann der Predigt über den Tod nach wie vor eine didaktische Funktion zugeschrieben werden, die weniger paränetisch belehrend als parakletisch unterstützend ist: Sie liefert einen „Beitrag zur Ausarbeitung, Stabilisierung und Rekonstruktion biographischer Identität“207 zuerst angesichts der Erfahrung des Todes eines Anderen – der vor die Aufgabe stellt, Abschied zu nehmen und „das eigene Leben ohne die Toten zu gestalten“208 –, dann vor dem Horizont des eigenen Todes – der das eigene Leben mit Nichtigkeit bedroht. Einen Beitrag zum angemessenen Umgang des Menschen mit seinem Tod kann die theologische Rede über den Tod dementsprechend leisten, indem sie gemeinsam mit ihm entdeckt und wahrnimmt, dass er es in seinem ganzen Leben in Form von realen oder gefürchteten todesähnlichen Erfahrungen mit seinem Tod zu tun hat (a). Gemeinsam mit ihm kann sie versuchen, diese Situationen und die damit verbundenen Ängste und Bewältigungsstrate­ gien zu verstehen und mithilfe der theologischen Kategorie des Gerichts zu deuten (b). Deren dialektischer Charakter eröffnet zugleich die Möglichkeit, Potenziale für die lebensdienliche Gestaltung des eigenen Lebens vor dem Horizont des Todes freizulegen (c).209 205 

S. o., 5.D, 192 ff. Die Unterstellung, die „Angst hat sich offensichtlich gelegt“ (BeintGottes Urteil, 220), kann m. E. nur daher rühren, dass der theologische Blick auf die explizite Angst vor einem endzeitlichen, jüngsten, göttlichen Gericht verengt wird. 206  Auf die didaktische Dimension der Bestattungspredigt verweist Lütze: Lehre uns bedenken, 473 f.: „Dass die Bestattungsrede vieles darf, nur nicht belehren, ist ein stillschweigender Konsens gegenwärtiger Überlegungen zur Predigt am Grab. In der Tat lässt der Kasus weit eher an seelsorgliche Anforderungen denken als an eine pädagogische Aufgabe. Die lehrende Vermittlung von Wissen oder Einsichten scheint der Situation der Trauernden unangemessen […]. Gleichwohl gibt der Tod zu lernen. […] Die Traueransprache kann den rechten Umgang mit dem Tod nicht lehren […]. Das schließt aber keineswegs aus, dass die Ansprache Impulse gibt, aus deren Rezeption und Verarbeitung etwas für den Umgang mit dem konkreten Tod gelernt werden kann. [… Sie] bietet Deutungen für den Tod und Perspektiven für das Weiterleben der Angehörigen nach dem Abschied an.“ 207  Drehsen: Tod, 212. 208  Lütze: Lehre uns bedenken, 473. 209  Die folgenden Ausführungen sind an dem religionsdidaktischen Dreischritt von Wahrnehmen und Entdecken – Verstehen und Deuten – Handeln und Gestalten orientiert (vgl. Biehl, P.: Religion entdecken, verstehen, gestalten – Anmerkungen zur konzeptionellen ker:

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a)  Scham, Schuld, Scheitern und Tod: Die Angst vor der Nichtigkeit des Lebens wahrnehmen Der mit dem Tod potenzierte Lebenswiderspruch zwischen Faktizität und Bestimmung, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit des eigenen Seins und des Miteinanders, wird auf biographischer und sozialer Ebene in den Phänomenen des Scham- und des Schuldgefühls explizit. Beide spielen in der zwischenmenschlichen Erfahrung der Getrenntheit vom Anderen, der das Idealbild der vollkommenen menschlichen Gemeinschaft entgegensteht, und in der biographischen Erfahrung der Selbstverfehlung eine Rolle. Diese Erfahrungen, an denen sich die Angst vor der Nichtigkeit des Lebens entzündet, sind als existenzielle Steigerung des Endlichkeitsbewusstseins zu begreifen. Das Schamgefühl – als negatives Selbstverhältnis verstanden – entspringt aus dem Erlebnis des Widerspruchs zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit des Seins, zwischen dem vorgestellten bzw. gewollten Selbstbild und dem ihm widersprechenden faktischen Sein, das durch den ‚fremden Blick‘210 offengelegt wird. Es wird erzeugt, wenn die ursprüngliche Selbstbejahung, die durch das Gefühl des Anerkanntseins (der Billigung) bedingt ist, durch ein missbilligendes Urteil, das in das Selbsturteil übernommen wird, grundlegend verunsichert wird. Der Mensch muss sich mit dem ins Selbsturteil übernommenen Fremdurteil identifizieren, d. h. sich selbst verneinen, andererseits kann er es gerade nicht, weil er, um er selbst zu bleiben, an sich selbst festhalten muss.211 Die Scham besitzt in dem Bewusstsein der Selbstverneinung eine Totalitätsdimension: Der äußere Anlass der Beschämung verflüchtigt sich mit der Übernahme des Fremdurteils gleichsam, der Mensch schämt sich nicht einer bestimmten Eigenschaft, sondern er „schämt sich seiner selbst“212. Die Scham bringt zudem Grundlegung des Lehrbuchs, in: Koretzki, R./Tammeus, R. (Hgg.): Werkbuch Religion entdecken – verstehen – gestalten. Materialien für Lehrerinnen und Lehrer, Göttingen 2005, 10–21). „Das Entdecken und Wahrnehmen wird gefördert, damit religiöse Lernprozesse wieder den ursprünglichen Prozess des Er-Fahrens darstellen und nicht nur die Ergebnisse von Erfahrungen (anderer) vermitteln.“ (A. a. O., 10.) „Religiöse Erfahrungen zu machen, erfordert die Kompetenz, Wahrnehmungen, Entdeckungen, Erlebnisse und Widerfahrnisse mithilfe von Symbolen, Metaphern und Storys zu deuten und zu verarbeiten. Diese Deutung vollzieht sich in einem prinzipiell unabschließbaren Verstehensprozess“, der das „Ziel eines kritischen Bildungsprozesses“ sein sollte (a. a. O., 11 f.). „In der Erfahrung sind wir selbst unmittelbar betroffen, und zwar in einer zugleich passiven und aktiven Begegnung mit der Wirklichkeit, im Erleiden und schmerzhaften Ausgeliefertsein an das Widerfahrende und in der produktiven Verarbeitung der Widerfahrnisse, Entdeckungen und Erlebnisse“ – der Lebensgestaltung (a. a. O., 13 f.). 210 Vgl. Sartre: Das Sein, 457–538. 211 Vgl. Slenczka: Sich schämen, 250–254. 212  A. a. O., 254.

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zu Bewusstsein, „dass wir unsere Wirklichkeit nicht nur tätig erzeugen, sondern ihr immer auch ausgesetzt sind, sie gleichsam ‚erleiden‘“213. Sie ist mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden. Eine Erweiterung des Sündenbegriffs, den Hirsch auf das Schuldgefühl konzentriert, durch den Aspekt der Scham wäre ein Schritt in die von Hirsch selbst eingeforderte Richtung, „das Gericht und die Gnade Gottes ganz auf eine diesem unserm Erlebnisbereich gemäße Weise zu sagen“, die er als nicht einfach zu meisternde Aufgabe „mehrerer Generationen“ von Theologen betrachtet214 und die in neuester Zeit von einigen Theologen in Angriff genommen wird.215 Der Schambegriff hat gegenüber dem Schuldbegriff den Vorteil, dass er den Selbstbezug, die Totalität und die Ohnmachtserfahrung des Gefühls der Sündhaftigkeit stärker markiert – Schuld wird allzu schnell auf die Problematik einer konkreten Handlung moralisch enggeführt.216 Zudem kann von der gegenwärtigen Relevanz des Themas Scham im akademischen und öffentlichen Diskurs und in der Erlebniswelt des Individuums gemutmaßt werden, dass es eine Verbindung zwischen der traditionellen Gerichtsvorstellung bzw. Sündenlehre und dem Erfahrungshorizont der Gegenwart herstellt.217 Hirsch selbst arbeitet nicht explizit aus, dass die Scham der Kern der modernen Form der Gerichtserfahrung ist. Die weitere Reflexion in diese Richtung könnte aber zum einen an den für Hirschs Anthropologie zentralen Begriff der Ehre respektive Anerkennung anknüpfen. Zum anderen legt sie sich sowohl aus seiner transformierten Bußlehre218 als auch aus einigen wenigen Anmerkungen heraus nahe, in denen die Scham mit der Schuld gegenüber Gottes Heiligkeit parallelisiert wird.219 213 

Fechtner, K.: Diskretes Christentum. Religion und Scham, Gütersloh 2015, 43. ChR II, 37. 215  So im Bereich der praktischen Theologie v. a. Fechtner: Diskretes Christentum und in Ansätzen Wagner-R au, U.: Den Blick nicht abwenden. Über einen vom Segen inspirierten Umgang mit der Scham, in: Herms, E. (Hg.): Leben, Verständnis, Wissenschaft, Technik, Gütersloh 2005, 527–534; Wagner-R au, U.: Scham. Blickwechsel zwischen Theologie und Psychoanalyse, in: PTh 100/4 (2011), 184–197, im Bereich der systematischen Theologie unter hamartiologischer Perspektive v. a. Bammel, C.‑M.: Aufgetane Augen – aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch, Gütersloh 2005 und in Ansätzen Slenczka: Sich schämen. Auf diese Studien wird hier im Wesentlichen Bezug genommen, in dem Bewusstsein, dass damit das psychologische, philosophische und phänomenologische Feld der Literatur zum Thema Scham aufgrund des skizzenhaften Charakters dieses Ausblicks vernachlässigt wird. 216 Vgl. Bammel: Aufgetane Augen, 68 f.187. 217 Vgl. Slenczka: Der endgültige Schrecken, 111 f.; Slenczka: Sich schämen, 248 f. 218  Hier fällt besonders das von Hirsch artikulierte „Demütigungs- und Unwertsbewußtsein“ (ChR I, 261) als Erlebnisgehalt des Schuldgefühls ins Auge, das ebenso als Schamgefühl gedeutet werden kann. 219  „Wahr und echt ist der Quell des Lebens in Gottes Huld und Vergebung mir nur dann erschlossen, wo mein Gemüt, mein Gewissen ohne Kunst und Werkerei und schlaue Absicht einfach gepackt wird von der unergründlichen, mir Scham über mich selbst bereitenden göttlichen Heiligkeit und es mir dann – weiß nicht woher – geschenkt wird, diesem heiligen, verzehrenden Gott zu trauen als der mich zu ihm ziehenden Liebe.“ (Zw, 183.) „Der Verborgene und Ewige aber, der uns im Sterben ewig zu Leben oder Tod wird, er ist das Heilige, Gute, Wahre, Reine selber. Die Seele müßte in der Begegnung mit ihm in Scham 214 

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Hirsch stellt die Schamhaftigkeit als Signatur der Moderne heraus: Sie speist sich aus der Angst davor, in einer technisierten und rationalisierten, sich selbst als allwissend gebenden und alles gleichmachen wollenden Welt220 sein Inneres nach außen zu kehren. Das natürliche Bewusstsein der in der Innerlichkeit gegründeten unverbrüchlichen Personalität des Einzelnen wird potenziert in den Drang, sich selbst vor den anderen zu verstecken.221 Die Scham, die als „affektives Indiz des Anspruchs jedes Menschen auf die Unverletzlichkeit seiner selbst“222 ursprünglich eine Schutzfunktion für den Einzelnen einnimmt und ihn gleichzeitig darauf reflektieren lässt, auch den Anderen in dieser Unverletzlichkeit zu belassen und ihn nicht bloßzustellen, wird aus Angst, in seiner Unvollkommenheit bloßgestellt zu werden oder im Allgemeinen aufzugehen, verkehrt in die Unmöglichkeit, „vor Anderen offenbar“223 zu werden. Hirsch bringt diese Dimension eines gesetzhaften sozialen Verhältnisses auf den Begriff der „Verschlossenheit“224 dem Anderen gegenüber. Die Bedeutung der Scham kann im Vergleich dazu in unserer Gegenwart so verstanden werden, dass das menschliche Selbstverhältnis durch eine Spannung und Schuld vergehen, zu Asche und Staub und Nichts verglühen, wenn nicht eben dieser Ewige und Verborgene als Christusliebe unserm Herzen aufginge und uns so durch das Sterben hindurch in das Geheimnis der Wahrheit, Freiheit und Heiligkeit hineintrüge.“ (HchR, 299.) 220  Vgl. das Schlagwort der „Kultur des kalten Überblicks“ bei Bammel: Aufgetane Augen, 470. 221  „In unserer heutigen Zeit ist das Herz so schamhaft verschlossen wie in früheren Zeiten nicht.“ (ChR II, 292.) „Es ist die Eigenheit der Moderne, daß alle Äußerungen und Betätigungen der inneren Subjektivität bei ihr schwierig sind: wir sind darin schamhaft, ja skeptisch, vor uns selbst und gegen andere.“ (ChR II, 144.) „Der Mensch ist mit seinen Erlebnissen schamhaft, nicht nur stumm vor andern, sondern auch stumm vor sich selbst...“ (ChR II, 90). Auch das der öffentlichen Bußbereitschaft gegenläufige, von Hirsch beschriebene, menschliche Bestreben, „nicht nur vor andern, sondern auch bei sich selbst das Gesicht zu wahren“ (ChR II, 88) kann in diese Richtung verstanden werden. 222  Bammel, C.‑M.: Der Schambegriff als Kommentar zur Wirklichkeit des Menschen. Anthropologische Anmerkungen zu einem Phänomen des Fühlens in hamartiologischer Perspektive, in: BThZ 21/2 (2004), 192–205, hier: 193. Auf diese grundsätzlich positive Funk­ tion der Scham verweist auch Kristian Fechtner: „Durch die Scham und in ihr wird eine private Sphäre abgesteckt, gleichsam ein Sichtschutz des Persönlichen. […] In der Scham beansprucht ein Subjekt die Integrität seines Selbst, in ihr hütet ein Ich sein Geheimnis. […] In dieser Hinsicht verbirgt sich in der Scham […] ein unveräußerliches Wertgefühl.“ (Fechtner: Diskretes Christentum, 47.) Dementsprechend plädiert er für die Anerkennung dieser Facette des „Diskreten Christentums“ der Gegenwart, das an religiösen Fragen nicht desinteressiert ist, wohl aber sich dessen bewusst ist, „dass Religion etwas vom Innersten einer Person offenbaren kann“ (a. a. O., 25) und darauf bedacht ist sein „Recht auf Geheimnis“ zu hüten (a. a. O., 175). 223  A. a. O., 192. 224  ChR I, 261; ChR II, 37 u.ö.

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zwischen Schamlosigkeit – die sich in einem das Geheimnis des Einzelnen nicht wahrenden Voyeurismus und einer ökonomischen Sicht auf den Menschen zeigt – und Schamangst – der mit gespielter Selbststärke entgegengewirkt wird225 – gekennzeichnet ist:226 Auf der einen Seite macht die „Dominanz der Bilderwelt das Ansehen zum Dauerthema“ und nichts scheint es wert zu sein, vor der Öffentlichkeit verborgen zu werden. Auf der anderen Seite produziert die „Dominanz des Sehens und Gesehenwerdens“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Selbstinszenierung und Selbstoptimierung und damit gleichzeitig eine gesteigerte „Angst vor der Entblößung“, die die eigenen Unvollkommenheiten vor den Anderen offenlegt.227 „Wenn man […] das, was von einem erwartet wird, nicht richtig tut und so zum Gespött der anderen wird, dann fühlt man sich nicht schuldig, sondern man schämt sich; dafür, nicht besser zu sein, nicht schöner zu sein (oder sich nicht schöner machen zu können), nicht erfolgreicher zu sein. Man tut nicht etwas falsches oder Unrechtes, sondern man tut das Erforderliche nicht ausreichend. Man hat keine Angst mehr vor der Schuld, sondern Angst vor der Beschämung, erkannt zu werden als einer, der es finanziell nicht schafft, oder bloßgestellt zu werden als schwach und körperlich defizitär.“228

Die mangelnde Fähigkeit, seine inneren Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen, resultiert Hirsch zufolge in der Schamhaftigkeit auch im Blick auf den eigenen Tod, die er als Grund der Einsamkeit des Sterbens herausstellt.229 Die schamhafte Zurückhaltung davor, sich die Bedrohung des Selbst durch Nichtigkeit 225 Vgl. Fechtner: Diskretes Christentum, 22: „So kann sich paradoxerweise hinter aggressiv zur Schau gestellter Schamlosigkeit ein Moment von Schamangst verbergen. Die Angst, beschämt zu werden, wird gleichsam offensiv gewendet. Ich zeige selbstbewusst meinen Makel oder ich zeige, dass ich anders bin als andere, als Ausweise dafür, dass ich besonders bin.“ Das gegenwärtige, mit der „Peinlichkeitskultur“ (a. a. O., 21) verbundenen Phänomen des ‚Fremdschämens‘ „wäre dann nicht unbedingt ein Substitut für den Verlust der Scham bei anderen, sondern ein Gespür für die Scham hinter den Maskierungen“ (a. a. O., 22). Dementsprechend plädiert Fechtner dafür „eher von verborgener und verschobener Scham“ (‚Fremdschämen‘) sowie von veränderten Schamgrenzen (‚Körperscham‘)“ als von „Schamlosigkeit“ zu sprechen (a. a. O., 24). 226 Vgl. Bammel: Aufgetane Augen, 226.468 f.; Bammel: Der Schambegriff, 193. Vgl. die gegenwartshermeneutischen und literarischen Studien bei Greiner, U.: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, Reinbek bei Hamburg 22014. 227  Wagner‑R au: Scham, 195. So bilden z. B. die Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers im Gegenüber zu den medial perfekt inszenierten Körper und die Armut im Gegenüber zum Ideal der sozialen und beruflichen Selbstverwirklichung ein Konfliktpotenzial, an dem sich die Scham entzündet, weil man ja anders könnte, also selbst verantwortlich für die Misere ist (vgl. R euter, I.: Everybody lies. Ein theologischer und religionspädagogischer Blick auf Scham als Thema der Fernsehserien Dr. House und Breaking Bad, in: PrTh 50/2 (2015), 108–224, hier: 109). 228  A. a. O., 110. 229  Hirsch bezeichnet das Sterben seiner Zeit als „schamhaft, versteckt“ (EE, 310).

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einzugestehen und zu verbalisieren, führt im Extremfall in die totale Isolation, in das Gefühl „unterbrochener Zugehörigkeit“230, das an dem die Beziehungen abbrechenden und vereinsamenden Tod seine Bestätigung zu erfahren scheint. In dieser Hinsicht kann der Tod – über Hirsch hinausgehend – als endgültige, als ‚letzte Beschämung‘ bezeichnet werden, er treibt das mit dem Schamgefühl verbundene Gefühl der „Unterlegenheit und Ohnmacht“231 auf die Spitze, der durch eine kunstvoll aufgerichtete Selbstmächtigkeit entgegengewirkt wird: „Der Tod als die radikale Begrenzung des Lebens ist ja die tiefstmögliche Kränkung der gesamten menschlichen Existenz und menschlicher Sehnsüchte nach Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit. […] Nichts ist peinlicher als die eigene (und nicht zuletzt auch die fremde) Endlichkeit. Denn die Häme des Todes ist eine ultimativ vernichtende Schmälerung unseres eigenen Seins. Am Verweslichen, am vergehenden Leib des Menschen wird das eigentlich Tief-Peinliche, das Zerfallen der eigenen Geschichte zu Staub deutlich.“232

Ähnlich wie die Todesangst antizipiert die Schamangst „die Konfrontation mit der eigenen Nichtigkeit“233. Der absolute Selbstverlust, durch den sich die Todesangst bedroht fühlt, spiegelt sich hier in der Angst vor dem „Verlust der Achtung und Anerkennung durch Andere“234 wider. Die Angst vor dem Ausgeliefertsein, vor der eigenen Ohnmacht – die in der Sehnsucht nach freier Selbstentfaltung ihr Pendant hat – und die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit – die in der Sehnsucht nach Anerkennung ihr Pendant hat – können damit als Facetten der Todesangst verstanden werden. Dominiert sie das Leben des Menschen in Form der „Lebensangst“235, so lässt er sich – seinem bestimmungsgemäßen Wesen zuwiderlaufend – auf seine eigene Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit festlegen. Wird die ihr korrelierende Sehnsucht in Form der „Lebensgier“236 absolut gesetzt, so versucht er durch Selbstbehauptung seine ihm wesentliche Verletzlichkeit zu verstecken.237 Die Selbstbehauptung identifiziert Hirsch als am-anderen-schuldig-Werden, indem der Mensch den Anderen nicht sein lässt. Mit seinem lebensgierigen, verkrampft auf sich selbst bedachten Lebensentwurf verliert er den Anderen aus dem Blick, macht ihn u. U. sogar zum Mittel seiner Selbstverwirklichung. Das daraus erwachsende Gefühl, schuldig geworden zu sein, verweist ebenso wie das Schamgefühl auf die Angst vor der Nichtigkeit. Schuld stört und zerstört 230 

Bammel: Der Schambegriff, 198. A. a. O., 195. 232  Bammel: Aufgetane Augen, 223 f. 233  A. a. O., 226. 234 Ebd. 235  Zw, 282. Vgl. ChR II, 33.45.72. 236 Ebd. 237  S. o., 6.B.b, 235 ff. 231 

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Beziehungen, treibt den Schuldigen in die „Verhältnislosigkeit“238. Das Schuldgefühl verbindet sich mit der Angst vor dem Abbruch von Beziehungen – deren Pendant die Sehnsucht danach ist, anders zu können als immer wieder schuldig zu werden und Gemeinschaft mit dem Anderen haben zu können – und mit der Angst davor, auf sein Schuldiggewordensein festgelegt zu werden und im schlimmsten Sinne beziehungsunfähig, ein Nichts239, zu sein – in der die Sehnsucht nach Vergebung liegt. Die Angst richtet sich auf die Endgültigkeit der Negation des eigenen Lebens: Du bist schuldig, es gibt keine Vergebung. Du bist nichts wert, es gibt keine Anerkennung. Meine Schuld bestimmt das Verhältnis zum Anderen unwiderruflich. Das Bild des Anderen von mir und damit auch mein Selbstbild werden festgelegt: Ich habe versagt, ich bin ein ‚Loser‘. Mit solcher Endgültigkeit gekennzeichnete Lebenserfahrungen können als Scheitern 240 verstanden werden, wobei diese Bewertung je nach subjektiven Lebenszielen und gesellschaftlichen Normierungen variiert241: „Es handelt sich nicht nur um partiellen Misserfolg, Fehler, Schwäche, Krankheit, Versagen etc. Denn all diese Zustände und Eigenschaften sind revidierbar oder sind sogar Stufen auf dem Weg zum Erfolg, bzw. können so gedeutet werden. Scheitern dagegen bedeutet etwas Endgültiges, einen absoluten Misserfolg, ein absolutes Versagen.“242

In dem Fall, dass jemand sich nicht für seine Situation selbst verantwortlich versteht, kann das Scheitern mit dem Gefühl verbunden sein, den äußeren Umständen oder auch bestimmten Personen zum Opfer gefallen zu sein.243 Die schuldhafte Selbstbehauptung – die der Ohnmacht entgegenwirkt – kann in diesem Sinne als Strategie verstanden werden, das Scheitern zu vermeiden 244, der 238 

Damit ist der zentrale Aspekt der Todesdeutung Eberhard Jüngels aufgenommen (JünTod, 145). 239 Vgl. Slenczka, N.: Wer sich selbst recht versteht, muss nach Sühne fragen, in: Luther 84 (2013), 168–178, hier: 177: „Schuld ist ein Verhältnis der Selbstzerstörung. […] Schuld, die wir nicht bewältigen, bleibt quälend präsent. Sie treibt uns um. Sie zerstört uns. […] Schuld tötet. Wo sie wirklich erfahren und gespürt wird, zerreibt sie den Schuldigen, so dass er es mit sich selbst nicht mehr aushält.“ 240  Vgl. zur soziologischen Theorie des Scheiterns: Junge, M./Lechner , G. (Hgg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004. 241  Feldmann, K.: Sterben – Scheitern oder Sieg?, in: Junge/Lechner: Scheitern, 49–61, hier: 50: „Scheitern ist eine soziale Konstruktion, kultur-, ideologie-, kontext- und theorieabhängig. Sie erhält ihre Schärfe auf der Grundlage von Dichotomisierungen bzw. Polarisierungen: gut-böse, schön-hässlich, Erfolg-Versagen, Gewinn-Verlust, ArbeitsplatzbesitzerArbeitslose, gesund-krank, Leben-Tod.“ 242  Feldmann: Sterben, 50 f. 243 Vgl. Braun, H.: Scheitern als persönliche Erfahrung und öffentliches Ereignis, in: NOrd 65/1 (2011), 29–39, hier: 30 f. 244  Junge, M.: Scheitern: Ein unausgearbeitetes Konzept soziologischer Theoriebildung gel:

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schamhafte Rückzug als Strategie, die eigene Lage vor den Anderen zu verbergen.245 Das Projekt des sinnhaften Entwurfs des eigenen Lebens, der Selbstverwirklichung, kann scheitern, Beziehungen können scheitern, auch Sterben und Tod können als Scheitern verstanden werden 246. Der vorzeitige, ‚zu frühe‘ physische Tod lässt das Selbstprojekt, dies und jenes im Leben erreichen zu müssen, scheitern. Er nimmt endgültig die Möglichkeiten, mit Menschen ins Reine zu kommen, an denen man schuldig geworden oder denen man etwas schuldig geblieben ist. Als von anderen verursachter oder mitbedingter Tod ist er der Extremfall des Gefühls, den anderen ausgeliefert zu sein, zum Opfer zu werden. Tritt der physische Tod zu spät ein – geht ihm also ein langwieriges u. U. den Menschen in seiner Nichtigkeit entblößendes Sterben voraus – durch das der soziale und in manchen Fällen auch der psychische Tod vor dem eigentlichen Tod eintritt, wird das Sterben als Scheitern verstanden, der daraus befreiende Tod als Lösung des Problems.247 Relativiert werden kann dieses Scheitern, indem entweder alles dafür getan wird, dass der Tod nicht frühzeitig eintritt, indem das Sterben ‚menschenwürdig‘ gestaltet wird oder indem der physische Tod selbst in die Hand genommen wird, bevor der Mensch sich seiner Würde entledigt fühlt.248 Der Wunsch nach unbedingtem Lebenserhalt – koste es, was es wolle und ein Vorschlag zu seiner Konzeptualisierung, in: Junge/Lechner: Scheitern, 15–32, hier: 16. 245  Braun: Scheitern, 34. 246 Vgl. Feldmann: Sterben. 247  Entsprechend der sozialen Konstruktion dessen, was als Scheitern verstanden wird, wird innerhalb des Jenseitsglaubens die Hölle als absolutes Scheitern verstanden. In einer Gesellschaft, die den ‚friedlich verlöschenden‘ Alterstod als Idealbild hat, werden der zu frühe Tod aber ebenso auch das den Menschen seiner Selbstbestimmung beraubende medizinisch kontrollierte, langwierige Sterben als Scheitern betrachtet (Feldmann: Sterben, 50–57). Vgl. zur Unterscheidung von sozialem, psychischem und physischem Tod Feldmann, K.: Physisches und soziales Sterben, in: Becker /Feldmann/Johannsen: Sterben, 94–107. Charakteristisch für die gegenwärtige Gesellschaft sind Feldmann zufolge der in großem zeitlichen Abstand zum körperlichen Tod früh eintretende soziale Tod und der unter den Bedingungen der medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung oft vor dem eigentlichen Tod eintretende psychische Tod (im Sinne eines Verlustes der Möglichkeiten zur Selbstmitteilung), die teilweise größere Ängste provozieren als ersterer. 248 Vgl. die Aussagen von Wolfgang H errndorf zu seinem Vorhaben eines selbstbestimmten Todes: „Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene.“ (Herrndorf: Arbeit, 50.) „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick. Schon seit Tagen keine Beunruhigung mehr. Sobald ein Gedanke kommt, höre ich das geschmeidig klickende und einrastende Geräusch der Abzugsgruppe, und Ruhe ist.“ (A. a. O.,

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– und der Wunsch nach einem selbstbestimmten oder selbstreflektierten Sterben bzw. Tod können gleichermaßen als Kampf gegen das Scheitern verstanden werden. Indem das menschliche Leben mit Nichtigkeit bedrohende Situationen, die durch das Spektrum von Frustration 249, Verlust, Trennung, Ohnmacht, sozialer Isolation, Scheitern gekennzeichnet sind, als Vorboten dessen genommen werden, als das der Tod bzw. das Sterben sich im schlechtesten Fall erweisen wird – das Widerfahrnis, das mit der Vernichtung menschlicher Mitteilungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und dem Abbruch sozialer Beziehungen einhergeht; das meinem Leben die Bedeutung nimmt; das vor Augen führt, wie es ist, wenn keine Möglichkeit mehr besteht, Schuld zu bearbeiten und ‚wieder gut zu machen‘, wenn keine Möglichkeit mehr besteht, das Bild der Anderen von mir selbst zu korrigieren –, werden sie als todesähnliche, den Einzelnen der Grundlage seines Selbstseins beraubende Erfahrungen qualifiziert. Die Angst vor dem Tod im menschlichen Leben zeigt sich dann nicht als Angst vor Verdammnis und Gottesferne, sondern vor der Nichtigkeit des Lebens und davor, dass der Tod das absolute Aus bedeuten könnte. Sie spiegelt sich in der Angst vor dem Selbstverlust, vor der Ohnmacht – die als Verlust der Selbstbestimmung und Verlust der Möglichkeiten der Selbstmitteilung erfahren wird –, vor dem Abbruch zwischenmenschlicher Beziehungen, vor der Selbstverfehlung und vor der eigenen Bedeutungslosigkeit wider. Das ohnmächtige Zerbrechen an dieser Bedrohung durch Nichtigkeit verweist auf die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens. Der Mensch erfährt die Situation des endgültigen Scheiterns so, dass er in ihr gefangen ist und es keine Handlungsoptionen mehr gibt. Er kann aus dem Widerspruch zwischen erlebter Selbstverneinung und notwendiger Selbstbejahung – zwischen lebensnotwendiger Sorge für das Leben und der Verneinung gerade dieses Lebens durch den Tod – nur herausgehoben werden, indem in der scheinbar endgültigen Ohnmacht kontrafaktisch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden: Der Fixierung auf das vom Anderen scheinbar unabänderlich trennende Schuldigsein wird mit der gegenseitigen Vergebung die Möglichkeit erneuerter Beziehungen entgegengesetzt. Die scheinbar unüberholbare Selbstverneinung wird durch ein erneuertes Anerkanntsein von außen durchbrochen. Führt die Sinnlosigkeitserfahrung entgegen allen Anscheins in eine neue Bewährung von Lebenssinn, so 86.) „Ich weiß, wie, ich weiß wo, nur das Wann ist unklar. Aber dass ich zwei Kategorien kontrolliere und die Natur nur eine – ein letzter Triumph des Geistes über das Gemüse.“ (A. a. O., 198.) 249  Frustration bestimmt Ernst Tugendhat als Gefühl, „das für alles steht, was geschieht, das den eigenen Wünschen entgegensteht“ (Tugendhat: Unsere Angst, 57).

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wird sie nachträglich aus dieser neuen Perspektive gedeutet und selbst in einen Sinnzusammenhang integriert.

b)  Die Dialektik von Gericht und Gnade: Die Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens deuten Indem der Lebenswiderspruch des Menschen zwischen Faktizität und Bestimmung in die Unbedingtheitsdimension erhoben und damit als religiöse Erfahrung gedeutet wird, wird sein Grund in Gott selbst verortet und kommt als Widerspruch zwischen der Heiligkeit Gottes und der Sündigkeit des Menschen zu Bewusstsein.250 Das Scham- und das Schuldgefühl entstehen dann angesichts Gottes verneinenden Urteils über die menschliche Selbstbehauptung und der „Beschämung des Menschen durch Gott“251, durch die er er auf den Widerspruch zwischen dem verwiesen wird, der er ist und der er sein soll bzw. will252. Sie sind im Gefühl der Gottverlassenheit potenziert: Diese kann auch so verstanden werden, dass mir der anerkennende Blick und die vergebende Liebe Gottes – die mir die Möglichkeit erschließen, ich selbst zu sein – verborgen sind. Auf den Tod bezogen bedeutet dieser Widerspruch: Die Aufdeckung der Lebensgeschichte an ihrem Ende kommt einer Aufdeckung der Innerlichkeit gleich, die den Menschen an seinem Schuldgefühl zerbrechen und ihn vor Scham im Erdboden versinken lassen müsste. Weil der Mensch kein bestimmungsgemäßes Leben geführt hat, weil er schuldig geworden ist, ist er von der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen. Gott scheint ausschließlich der zornige, mit dem Tod vergeltende Gott zu sein oder es ist zumindest unbegreiflich – und damit dem menschlichen Sinnverlangen zuwiderlaufend –, wie seine Liebe mit dem Todesschicksal zusammengebracht werden kann. Der Tod, der zum Leben des Menschen im Gegensatz zu stehen scheint, scheint ihn von Gottes Leben zu trennen: Er wird als Gottes Nein zum Sein des Menschen, als Vernichtung, erfahren.253 Die kontrafaktische Durchbrechung der Nichtigkeitserfahrung kann mit Hirsch als die Erfahrung des gnadenhaften Handelns Gottes im Gericht verstanden werden. Dieses eröffnet – indem es die Gewissheit vermittelt, dass Gott die Liebe ist – eine Gemeinschaft mit Gott, in der sich der Mensch trotz seiner Sündigkeit gegründet weiß. Indem der gnädige Blick Gottes auf den Menschen fällt, wird die Angst vor der Nichtigkeit gemindert254 und das Schamgefühl in 250 

ChR I, 304. Bammel: Aufgetane Augen, 468. 252  A. a. O., 471 f. 253  S. o., 6.A.a, 216 ff. 254 Vgl. Wagner-R au: Scham, 196. 251 

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seine ursprüngliche Funktion verwiesen, die eigene Unverletzlichkeit zu schützen 255. Indem sich die vergebende Liebe Gottes dem Schuldigen zuwendet, werden diesem neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Damit ist die Bejahung des eigenen Lebens, die Selbstannahme – die die Bedingung dafür ist, den anderen erschlossen sein zu können und sich ihm gegenüber nicht selbst behaupten zu müssen –, überhaupt möglich. Die Erfahrung der Liebe Gottes lässt den, der sie im Glauben macht, erkennen, dass der Tod – obwohl er aus der Perspektive des menschlich-zeitlichen Lebens bekämpft werden muss – Vollendung zum ewigen Leben ist.256 Aus ihr heraus wird die Erfahrung der Selbstverfehlung, der gegenseitigen Entfremdung und der Ohnmacht zu einer Krise umgedeutet, die eine angemessene Sicht auf das Leben und die produktive Selbstentfaltung entbindet. Die Erfahrung der Liebe Gottes eröffnet den Kreislauf des aneinander-schuldig-Werdens und die Angst vor der Entblößung durchbrechende Möglichkeiten menschlichen – von Selbstbehauptung und Ängsten freien, verantwortungsvollen, gegenseitig erschlossenen, liebenden – Miteinanders, das die zerstörerische, nichtige Seite des Todes überwindet. Sie bringt das Verhältnis zu Gott, zu den Anderen und zu sich selbst zurecht. Der Erfahrung der Nichtigkeit ist nach christlichem Verständnis Jesus selbst am Kreuz ausgesetzt gewesen. Von dorther gewinnt deren Deutung als Gottverlassenheit bzw. als Verborgenheit Gottes ihren Maßstab. Von dorther prägt Jesus selbst die menschliche Erfahrung der Gottverlassenheit, indem er – mit Hirsch gesprochen – im Glauben Vollmacht über den Menschen gewinnt: Die Sehnsucht des Menschen nach einem Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation – nach Anerkennung, nach Vergebung, nach Selbstseinkönnen, nach Sinn – wird durch den Glauben an Jesus, den Gekreuzigten, zur Hoffnung auf den Gott, der im Tod und aus dem Tod Leben schafft. Aus der Situation des Kreuzes entspringt nach der biblischen Erzählung der Klageruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 222; Mk 1534). An Hirsch anschließend kann die Bedeutung dieser Frage für Jesu Gottesverhältnis und für die Bewertung seines Leidens und Todes folgendermaßen beschrieben werden 257: Jesus hält in der Bedrohung seines Lebens durch Nichtigkeit an Gott fest, er fragt weiterhin nach dem Sinn dessen, was ihm geschieht. Jesus wird von Gott selbst in seinem Leiden so anerkannt, dass die 255 

Bammel: Aufgetane Augen, 469. Vgl. Fechtner: Diskretes Christentum, 82: „Im barmherzigen Blick Gottes würde demnach das überwunden, was Menschen als für sie beschämend empfinden, weil sie verspüren, dass sie geachtet werden – und zugleich wird ihre Scham gewahrt und sie werden in ihrer Scham geachtet.“ 256  S. o., 7.B, 299 ff. 257  S. o., 7.A, 268 ff.

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Nichtigkeit nicht das letzte Wort über sein Leben ist, sondern im Gegenteil: Er wird von Gott lebendig gemacht und so zum über sein Leben hinausgehenden versöhnenden Handeln am Menschen befähigt. Das Vertrauen darauf trägt ihn durch den Tod. Er bleibt im Leiden vollendeter Mensch, weil er sich auch in dieser Situa­tion ganz Gott hingibt, auf seinen Selbstbehauptungsdrang und seine endliche Lebensgier verzichtet, sich nicht restlos von seiner Todesangst bestimmen lässt. Indem er den Menschen, obwohl er einer nach gesellschaftlichen Wertmaßstäben „absolute[n] Entehrung“258 und der Gefahr der beschämenden Entblößung259 ausgesetzt ist, völlig erschlossen ist; indem er ihnen gegenüber zugibt, von Gott verlassen zu sein und sein Lebensziel – die Menschen miteinander und mit Gott zu versöhnen – nicht erreicht zu haben, konfrontiert er den Menschen mit dem wahren Bild seiner selbst: Sein Leben ist verletzlich, vom Scheitern gezeichnet, von dem Gefühl der Gottverlassenheit geprägt. Auf diese Weise wird die Verletzlichkeit und Angefochtenheit des menschlichen Lebens nicht so verstanden, dass sie der menschlichen Würde widerspricht, sondern dass sie zum Wesen des Menschen gehört. Sie verweist ihn auf seine Abhängigkeit von Gott.260 Die Fragilität menschlichen Lebens wird am Kreuz dem Menschen als Charakteristikum seines Wesens offenbar. 258 

Fechtner: Diskretes Christentum, 76. Fechtner verweist darauf, dass „in der römischen Welt die Kreuzigung nicht nur die schwerste, sondern auch die schändlichste Todesstrafe“ ist. „Der Tod am Kreuz ist Schimpf und Schmach […]. Mit dem Kreuz sind also nicht nur das Leiden und ein höchst qualvolles Sterben verbunden, sondern auch ein Zu-Tode-beschämt-Werden.“ 259 Notger Slenczka deutet Kreuz und Auferstehung als Schamsituation, die durch Gottes gnädige Anerkennung durchbrochen wird: „Die Beschreibung des Kreuzes bei Markus ist eine Beschreibung einer solchen Schamsituation: des Zerbrechens eines hochgespannten Anspruchs und der Freundschaft mit sich selbst in diesem Anspruch – in den Spottreden der Betrachter des Kreuzes, des Volkes, der Soldaten und der Schriftgelehrten kommt dies zur Darstellung. Diesen Spottreden hat der Gekreuzigte nicht nur nichts entgegenzusetzen, die fremde Missbilligung schlägt sich in einem Selbsturteil nieder, und dieses Selbsturteil spricht sich in der [sic] seinem Schrei als Bewusstsein letzten Missbilligtseins aus: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘: Das Bewusstsein einer letzten und unüberholbaren Missbilligungserfahrung ist die Gotteserfahrung.“ (Slenczka: Sich schämen, 260.) Die scheinbare Unüberholbarkeit wird durch das Urteil des Evangeliums relativiert. „In dem Moment, in dem dies geschieht: dass sich das so zugesprochene Christusgeschehen niederschlägt im Bewusstsein des Gebilligtseins durch das Bewusstsein der Missbilligung hindurch, in diesem Moment und darin erweist sich der Gekreuzigte als lebendig, das Auferstehungszeugnis der Jünger als wahr und der Gekreuzigte als Gott, denn: woher der Selbstwiderspruch des Menschen zugunsten des Ja gelöst wird – das ist eigentlich des Menschen Gott.“ (Slenczka: Sich schämen, 261.) 260  Deswegen kann mit Hirsch der Tod für den Menschen – gerade wenn er „zu Jesus

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Gleichzeitig verortet Hirsch im Tod Jesu selbst die Offenbarung des vollendeten menschlichen Lebens. Indem Jesus seine tiefe Abhängigkeit von Gott bejaht und darauf vertraut, dass Gott seine Liebe an ihm erweist, gibt er sich Gott hin. Indem er noch im Sterben für die Menschen um Vergebung bittet (Lk 2334), obwohl sie ihn zum Sündenbock machen und ihn auf seine (angebliche) Schuld fixieren, obwohl sie an ihm schuldig werden, gibt er sich den Menschen hin. Er bleibt auch im Sterben – in der Erfahrung des Ausgeliefertseins an Gott und an die Anderen – wahrer, personhafter Mensch: Er reagiert nicht – allzu menschlich – auf die Bedrängung durch einen Akt der Selbstbehauptung. Sondern er verwandelt die Erfahrung des Ausgeliefertseins in einen Akt der Selbsthingabe an Gott und Mensch: Indem er dem Tod nicht resignierend entgegensieht oder ihn tapfer erträgt, sondern „freiwillig […] in die Anfechtung dieses Todes“261 geht; indem er sein Geschick bejahend erleidet262 , vertraut er auf Gottes Liebe, darauf, in Gott gegründet zu sein und von Gott vollendet zu werden. Darin ist er von der endlichen Selbstbehauptung, der Lebensgier, frei. Er lässt sich durch „nichts Irdisches“263 – durch kein menschliches Urteil über sein Wesen, durch keine rational-kausale, äußerliche Erklärung seiner Situation, durch keine menschlichen Emotionen des Hasses und der Vergeltung, durch keinen Drang zur Verabsolutierung des Endlichen – binden und ist darin frei, den Anderen erschlossen zu sein und sie vergebend zu lieben. Da, wo er in die Ohnmacht gedrängt worden ist, handelt er. Da, wo die Möglichkeiten menschlichen Mit­ einanders zu Ende zu sein scheinen, eröffnet er durch seine vergebende Haltung erneuerte, versöhnte Beziehungen. Auch der mit dem Tod Jesu in Verbindung gebrachte Begriff des Opfers kann in die Spannung zwischen aktiver Selbsthingabe und passivem Ausgeliefertsein begriffen werden, indem er durch den Unterschied zwischen victima und sacrificium konturiert wird.264 Hirschs Vorschlag zur Aktualisierung des Opferbegriffs im Sinne der Lebenshingabe, des „sich Christus gehört“ – keine „unvermeidliche Äußerlichkeit“ sein, die „das Wesen des menschlichen Lebens nicht erreicht“ (gegen Union Evangelischer K irchen: Unsere Hoffnung, 125). 261  WGJ, 240. 262  Zw, 283 f. 263  ChR II, 59. 264  Sühne- wie Opfertodtheologie unterlagen in jüngster Zeit v. a. im kirchlich-theologischen Diskurs einer harschen Kritik. Die zuerst im akademischen Bereich durch exegetische, psychologische und feministische Kritik entfachte Debatte (vgl. die Erörterung der einzelnen Argumente bei Janowski: Hingabe, 94–118) wurde in der kirchlichen Öffentlichkeit v. a. durch das populärtheologische Buch von Klaus-Peter Jörns (Jörns, K.‑P.: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004) angestoßen und lässt sich in den christlichen Zeitschriften verfolgen (vgl. z. B. Zeitzeichen 7 (2006), 8 (2007), 11 (2010); DtPfrBl 115 (2005); Publikforum 39 (2010)). Dieser Debatte kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden, es sollen von Hirsch ausgehend und über ihn hinausgehend lediglich Ansätze für eine gegenwärtige Relevanz des Opferbegriffs aufgezeigt werden.

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(Auf-)Opferns“ für Andere265, ist an die zweite Bedeutung angelehnt. Die Beziehung des Opferbegriffs auf das ganze Leben löst ihn allerdings aus der traditionellen Verbindung des Opfers mit dem Tod und betont dessen gemeinschaftsstiftenden, lebensförderlichen Sinn.266 Das Selbstopfer ist der Ernstfall des Bewusstseins, „daß wir miteinander vor Gott sind, indem wir füreinander da sind“267, und kann im Extremfall bis in den Tod führen.268 Das Gefühl, ‚sich aufzuopfern‘, kann in unserer Gegenwart sowohl negativ – als die eigene Freiheit einschränkende Belastung269 – als auch positiv – als bereitwillig auf sich genommene Verantwortung – konnotiert sein. Dem Selbstopfer als „Ausdruck besonders starker und selbstloser Liebe“270 gegenüber nahestehenden Personen wird in unserer Gegenwart v. a. eine ­filmisch und literarisch produzierte positive Bedeutung271 zugeschrieben. Die Opferbereitschaft für allgemeine Werte scheint in einer als „postheroisch“272 charakterisierten Gesell265 

ChR II, 38. S. o., 7.A.c.γ, 288 ff. Darauf verweisen auch Janowski, Hingabe, 114 und R itter, W. H.: Abschied vom Opfermythos?, in: Ders.: (Hg.): Erlösung ohne Opfer?, Göttingen 2003, 193–246, hier: 240–246. 267  ChR II, 38. 268  Hirsch argumentiert an dieser Stelle mit dem Gedanken des Heldentodes, der vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie problematisiert werden muss (s. o., 237, Anm.  293). 269 Vgl. Schlag, T.: Kann man heute noch über Opfer sprechen? – Überlegungen zur religiösen Kommunikation mit Jugendlichen über ein unzeitgemäßes Thema, in: Acklin Zimmermann, B. (Hg.): Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank, Zürich 2009, 179–195, hier: 179: „In einer weiteren Hinsicht können Jugendliche mit Opferbegriff all das verbinden, was sie als nervige, belastende oder sie in ihrer Freiheit einschränkende Verpflichtung gegen ihren Willen empfinden. Kleinste Zugeständnisse oder Pflichten können bereits das Gefühl auslösen, Abstriche an der eigenen Freiheit machen und erhebliche Opfer bringen zu müssen. […] Sich für etwas aufzuopfern, wird deutlich davon unterschieden, sich für etwas einsetzen zu wollen. Einsatz ja, Einsatz um jeden Preis hingegen ist offenbar nur für den allerengsten Kreis der eigenen Bezugsgruppe denkbar. “ 270  R itter , W. H.: Zur Bedeutung der Opfersymbolik in der Kultur der Gegenwart, in: IJPT 10 (2006), 15–33, hier: 20. 271 Vgl. H ammer , A.: „Dein Leben ist mir das meine wert“. Erlösungsmythen in der Fantasy, in: R itter: Erlösung, 157–192; Drexler, C./Wandinger, N.: Die implizite Theologie ‚Harry Potters‘. Eine dogmatisch-religionsdidaktische Perspektive auf J. K. Rowlings Romane, in: Dies. (Hgg.): Leben, Tod und Zauberstab. Auf theologischer Spurensuche in Harry Potter, Münster 2004, 25–78, hier: 49–64; R itter: Zur Bedeutung, 19–22; Schlag: Kann man heute noch über Opfer sprechen, 180. 272 Vgl. Schwarz , C./Rotte, R.: Aeneas statt Achill. Anmerkungen zum Postheroismus westlicher Gesellschaften, in: Merkur 62 (2008), 86–90, hier: 86: „Derartig charakterisierte Gemeinwesen, so die These, hätten als Resultat eines sozialen und kulturellen Wandlungsprozesses zur Kriegsbereitschaft notwendige Eigenschaften wie Opferwille, militärisch geprägte Ehrenkodizes oder ein nationales Selbstbewusstsein in zunehmendem Maße verloren. […] Als zentrales Merkmal postheroischer Gesellschaften wird die sinkende gesellschaftliche Toleranz gegenüber militärischen und zivilen Verlusten gesehen.“ Dieses kann u. a. aus der durch den demographischen Wandel bedingten hohen Bedeutung familiärer bzw. persönlicher Bindungen hergeleitet werden: „Als Folge verschieben sich die Prioritäten der Kriegführung: an erster Stelle rangiert nicht mehr, dass die politischen Ziele, die den Gewaltein266 

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schaft abgenommen zu haben und der Heroismus stattdessen mit einer selbstbewussten, Hindernisse und Rückschläge bewältigenden Selbstverwirklichung273 gleichgesetzt zu werden. Dem läuft die Stilisierung von Nothelfern in Katastrophenlagen als Helden 274 und von Opfern von Terroranschlägen als Märtyrer 275 entgegen. Auch die Entscheidung zur Organspende und die damit verbundene Indienstnahme des eigenen Todes für das Leben eines Anderen kann als „Entscheidung für das Leben“276, als „sozialisierte[r] Opfertod“277, verstanden werden. Die andere Bedeutung des Opferbegriffs, zum Opfer gemacht zu werden, victima zu sein, wird von Hirsch vernachlässigt, besitzt aber eine hohe gegenwärtige Relevanz. Vom biblischen Befund her legt sie sich zwar rein begrifflich nicht nahe, kann aber von der intertextuellen Grundlage der Passion Jesu, dem vierten Gottesknechtslied (Jes 5213–5312) her, entfaltet werden.278 Die v. a. befreiungstheologisch stark gemachte Solidarisierung Jesu mit den Leisatz rechtfertigen, erreicht werden, stattdessen hat Priorität, dass eigene Verluste gänzlich verhindert oder zumindest minimiert werden.“ Vgl. die einschlägigen Artikel Münkler, H.: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61 (2007), 742–752; Ders: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Spreen, D./Trotha, T. v. (Hgg.): Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin 2012, 175–187 und die polititikwissenschaftliche kriegstheoretische Kritik der These bei Schwarz/Rotte: Aeneas statt Achill. 273  Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Coaching-Slogan: „Jeder kann ein Held sein!“ und die Gegenüberstellung von wahrem Heldentum und Pop-Heroismus – der Künstler, Sportler und andere Idole zu Helden stilisiert – bei Probst, M.: Helden. Du kannst das auch!, in: DIE ZEIT 68/30 (2013), 13–15: „Nein, wir sind nicht von Helden umstellt, sondern von einem Narrativ, von einer Erzählform umzingelt. Um diese Erzählform zu kennzeichnen, könnte man den Begriff des ‚Pop-Heroismus‘ heranziehen – ein Heroismus, der ohne Heldentum auskommt, ein Heroismus, der als eine Figur der Selbstverwirklichung konzipiert ist. Der Pop-Heroismus leitet dazu an, etwas zu erobern, sich zu nehmen, was man kriegen kann – statt das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Held immer der ist, der gibt.“ Das Mantra dieser Selbstverwirklichungsstrategie sei: „Handle ich selbst – oder bin ich fremdbestimmt? Entscheide ich – oder akzeptiere ich bloß, was von außen kommt?“ 274  Vgl. z. B. den Titel zur Spiegel-TV-Reportage über die Feuerwehrleute, die nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center den Brand bekämpften und versuchten, Personen zu retten: New Yorks Feuerwehrleute und der 11. September: Die Helden von „Ground Zero“ (Spiegel TV), ausgestrahlt auf Sat 1 am Montag, 7. Januar 2002, 23.15–23.50, http://www. spiegel.de/sptv/reportage/a-174969.html. 275  Vgl. die Aussage des französischen Imams Hassen Chalghoumi zum Terroranschlag auf Charlie Hebdo: „Die Journalisten sind Märtyrer der Freiheit.“ (Sueddeutsche.de: Reak­ tionen zu Angriff auf „Charlie Hebdo“. „Die Journalisten sind die Märtyrer der Freiheit“ (7. Januar 2015, 17:50), http://www.sueddeutsche.de/politik/reaktionen-zu-angriff-auf-charliehebdo-eine-unertraegliche-tat-eine-barbarei-1.2293869, zuletzt geprüft am: 08.03.2016) und François Hollandes Bezeichnung der Opfer des Anschlags vom 13. November 2015 in Paris als „Märtyrer des 13. November“ (vgl. Schmidt, M.: Die Unfähigkeit zu trauern. Bei den Pariser Anschlägen ist der Lebensstil der bourgeoisen Boheme angegriffen worden. Zurückziehen will sie sich nicht. Aber was dann?, in: DIE ZEIT 50/2015 (10.12.2015)). 276  Schneider: So tot wie nötig, 280. 277  A. a. O., 281. 278  Vgl. z. B. Taschner , J.: „Du Opfer!“. Das sogenannte ‚Gottesknechtslied‘ Jes 52,13– 53,12 im Spiegel der neueren „Mobbing“-Diskussion, in: EvTh 72/1 (2012), 5–21, hier: 13 ff.

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denden, mit den Opfern, kann vor diesem Hintergrund verdeutlicht werden und es wird eine durch die sündentheologisch fokussierte Deutung des Todes Jesu bedingte ‚Täterfixierung‘279 des Versöhnungsgeschehens vermieden. Das Bewusstsein für den großen Teil der Menschheit, der zum Opfer geworden ist, rufen v. a. die gegenwärtigen Debatten um die globalgesellschaftlich verantwortete soziale Gerechtigkeit wach. Zudem kann – neben den vielfältigen alltagssprachlichen Verwendungsweisen der victima-Dimension des Opferbegriffs280 – das Phänomen, sich im familiären, freundschaftlichen, schulischen oder beruflichen Umfeld selbst als Opfer zu empfinden, hermeneutisch als Verstehenshintergrund erschlossen werden. Dieses resultiert, wenn nicht aus real erfahrener Gewalt, aus dem Gefühl, täglich missachtet zu werden, nicht anerkannt zu werden, so­zial isoliert zu sein.281 Potenziert ist dieses Gefühl mit dem Phänomen des Mobbings.282 Das damit verbundene Schimpfwort ‚(M)Opfer‘283, das das „eindeutige[ ] Ziel der Abwertung, Androhung und gar Vernichtung“ hat, verweist auf die lebensbedrohliche Dimension alltäglicher Viktimisierung: „‚Opfer‘ sind hier die, mit denen ‚man es machen kann‘. Aufgrund bestimmter Verhaltensweisen oder Eigenschaften, die man ihnen zuschreibt, gelten sie als die geborenen Opfer. Dies sind die, die keinen Wert mehr darstellen, keine Aufmerksamkeit mehr verdienen, auf der sozialen Leiter ganz unten stehen und auf die man somit ganz und gar verzichten kann.“284 Jesu Leben, Sterben und Tod zeigt beide Seiten des Opferbegriffs, das passive zum Opfer Werden – victima – und die Selbsthingabe – sacrificium –, auf. Das Aufrechterhalten dieser Spannung kann m. E. zu einer angemessenen Rede vom Opfer beitragen und entsprechende lebensgeschichtliche Phänomene können von dorther kritisch-konstruktiv gedeutet werden. Sie zu einer Seite hin aufzulösen, würde entweder bedeuten, dass Jesu Tod als nur selbstbestimmter heroisiert und sein Leiden verherrlicht bzw. funktionalisiert würde oder dass sein Tod nur als passives Ausgeliefertsein an die Macht des Hasses und der Gewalt verstanden würde. Die Heroisierung seines Todes würde dessen absurde, gottverlassene Seite verneinen. Die Funktionalisierung seines Leidens wäre für die Lebensdeutung Leidender eine Zumutung. Wird Jesus auf seine Ohnmacht festgelegt, würde für den Menschen in Jesu Sterben 279  Stuhlmann, R.: Wenn die Opfer vergessen werden. Kritische Anmerkungen zur gegenwärtigen kirchlichen Diskussion über die Deutung des Todes Jesu, in: EvTh 72/1 (2012), 64–75; Stuhlmann, R.: Die Diskussion über das Sühnopfer Christi entspringt einer Salonund Kanzleitheologie, in: Zeitzeichen 12/4 (2011), 35–37. Stuhlmann betont, dass Jesus nicht ‚für unsere Sünden‘, sondern ‚für uns‘ gestorben sei (a. a. O., 36). 280 Vgl. R itter: Zur Bedeutung, 19: „Wir sprechen vom Unfallopfer, vom Verkehrsopfer, vom Fortschrittsopfer, vom Bauernopfer in der Politik, vom Kriegsopfer […].“ 281  Schlag: Kann man heute noch über Opfer sprechen, 181. 282 Vgl. Taschner: Du Opfer, der in überzeugender exegetischer Arbeit die Ressourcen des vierten Gottesknechtslieds vor dem hermeneutischen Verstehenshintergrund des Mobbings freilegt und dabei – v. a. in der Übersetzung – den Text aus seiner dogmatischen Wirkungsgeschichte herauslöst. 283  In der gegenwärtigen Jugendsprache findet sich nicht nur das Schimpfwort ‚Du Opfer‘, sondern auch die Wortneuschöpfung des ‚Mopfers‘ – eine Kurzform von Mobbing-Opfer (Langenscheidt GmbH (Hg.): Jugendwort. Art. Mopfer, http://www.jugendwort.de/?s=bei trag:8268, zuletzt geprüft am: 16.12.2015), die einen neuen Verstehenshintergrund für den traditionellen Opferbegriff aufmacht. 284  Schlag: Kann man heute noch über Opfer sprechen, 179.

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selbst keine Vollendungsperspektive aufgezeigt werden können. Ihm selbst könnten in seinem Gefühl des Ausgeliefertseins keine Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Spannung zwischen aktiver Hingabe und passiver Ohnmacht erhält Jesus selbst aufrecht, indem er sich zwar mit den Opfern solidarisiert, aber zugleich den Tätern vergibt. So führt es das neutestamentliche – besonders das lukanische – Bild Jesu vor Augen: In seinem Leben, in seinem Sterben und durch seine lebendige Gegenwart über sein Leben hinaus wendet Jesus sich speziell den gesellschaftlichen Outlaws, den Losern, den Opfern und auch den Schuldiggewordenen (z. B. Zachäus [Lk 191–10], dem Schächer [Lk 2342 f.], seinen Verurteilern [Lk 2333 f.]) zu: Er heilt die Opfer und ermöglicht den Tätern, ihre Schuld einzusehen und vergibt ihnen. Er richtet sie wieder auf, stiftet neue Beziehungen, gibt neue Handlungsoptionen.

Die Deutung menschlicher Erfahrungen der Nichtigkeit gewinnt aus der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu ihren Maßstab – an Hirsch anschließend 285 – derart, dass unangebrachtes Kausalitätsdenken durchbrochen wird, indem demgegenüber der Widerfahrnischarakter todesähnlicher Erfahrungen und des Todes selbst betont wird. Die ‚Warum‘-Frage kann philologisch und theologisch so gewendet werden, dass sie nicht auf die Ableitung der Gegenwart aus der Vergangenheit abzielt: ‚Was habe ich getan, dass mir so etwas geschieht?‘, sondern auf die Zukunft gerichtet ist: ‚Wozu geschieht mir das?‘.286 Die an einem nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen orientierte Frage wird auf diese Weise gewendet in eine Frage nach dem Sinn des Geschehens im Blick auf die weitere Geschichte Jesu mit Gott. Beide Fragerichtungen tragen die Gefahr in sich, dass das menschliche Ergehen in einen scheinbar rational nachvollziehbaren Kausalzusammenhang gebracht wird: Der Mensch hat dies und jenes getan, deswegen geht es ihm so schlecht. Oder: Der Mensch muss genau dieses Geschick erleiden, damit er zu Gott findet. Im Blick auf die Frage nach dem aus dem Tun des Menschen abgeleiteten Grund des Leidens ist dabei zu berücksichtigen, dass diese in ethischer Hinsicht durchaus angebracht sein kann und geklärt werden muss – z. B. dass eigenes Handeln bestimmte rechtliche und gesellschaftliche Sanktionen zur Folge hat, die den Betroffenen in diese Lage gebracht haben, oder dass Scheitern in Form 285 

Zur Argumentation Hirschs gegen das Bild eines vergeltenden Gottes s. o., 6.A.b.α, 221 ff. Zur Argumentation Hirschs gegen die Rationalisierung des Leidens und für die allein subjektive Erschließung des Sinns von Anfechtungserfahrungen s. o., 7.A.b, 273 ff. 286  S. o., 276, Anm.  430. Ähnlich ist die Pointe der Rede Jesu über die ‚Werke der Barmherzigkeit‘ (Mt 2531–46), auf die Gregor Etzelmüller verweist: Es wird nicht nach dem Grund des Hungers, des Durstes, der Fremdheit, der Nacktheit, der Gefängnisstrafe gefragt, sondern es geht darum, sich ihnen in dieser Situation zuzuwenden und ihnen dadurch neues Leben zu ermöglichen (Etzelmüller, G.: Die Bedeutung der Weltgerichtsrede Jesu (Mt 25,31–46) für eine realistische Rede vom Jüngsten Gericht, in: Bedford ‑Strohm, H. (Hg.): „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht, Neukirchen-Vluyn 2007, 90–102, hier: 96).

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sozialer Benachteiligung oft die Folge struktureller Exklusion oder durch einen bestimmten ‚Täterkreis‘ verursacht ist. In religiöser Hinsicht, also im Blick auf das Gottesverhältnis, ist die Frage nach dem Grund insofern irreführend, als sie Gottes Handeln und menschliches Handeln in einen Kausalzusammenhang bringt. Das Leiden kann dann nicht anders gedacht werden denn als die Strafe Gottes für die eigene Sünde. Hier liegt m. E. das auch mit argumentativer Kunstfertigkeit nicht auszuräumende Problem der Rede vom Tod als Folge der Sünde: Sie vermag nicht vollständig aus ihrer semantischen Verbindung mit der Rede vom Tod als Strafe für die Sünde gelöst zu werden. Der kausale Zusammenhang von Tod und Sünde kann zwar so gewendet werden, dass der Tod nicht als äußere Strafe verstanden wird, sondern die Sünde ihn gleichsam naturgesetzlich nach sich zieht.287 Dagegen ist aber einzuwenden, dass diese Sichtweise zum einen dazu tendiert, aus sündentheologischen Gründen universalisiert zu werden und die Perspektivität und Subjektivität der Todesdeutung zu vernachlässigen – der Tod als Sündenfolge ist insgesamt gesehen, aber auch theologisch nur eine mögliche Deutung. Zum anderen ist das theologisch eingenommene Reflexionsniveau nicht bei jedem Glaubenden vorauszusetzen: Dieser bleibt beim Hören der Rede vom Tod als Sündenfolge u. U. an dem Bild des vergeltenden Gottes hängen, das seine Lebenserfahrung und die theologische Deutung des Todes ihm zu vermitteln scheinen, das aber im Rahmen des christlichen Gottesbildes unangemessen ist. Hilfreich ist für das Verständnis des Tod-Sünde-Zusammenhangs die differenzierte Darstellung Hirschs, die auf dessen Mehrdimensionalität aufmerksam macht288: Das Sündenbewusstsein und das Bewusstsein des mit Vernichtung drohenden Todes ähneln sich, weil sie beide mit der Erfahrung der Nichtigkeit des menschlichen Lebens zusammenhängen. Die Sünde ist in diesem Sinne wie der Tod. Die übersteigerte Angst vor der Nichtigkeit des Todes und die damit verbundenen Strategien, den Tod abzuwehren oder ihm gegenüber gelähmt zu resignieren, rühren zudem aus der mehr oder weniger zu Bewusstsein kommenden Sündigkeit des Menschen: Der sündige Mensch kann sich nicht vorstellen, dass das Ende seines absolut gesetzten irdischen Lebens etwas anderes verheißen kann als das Ende seines Selbst. Im Medium seines Gottesverhältnisses kommt er nicht umhin, anzunehmen, dass Gott gar nicht anders kann, als ihn zu vernichten. Die Wahrnehmung des Todes als Strafe für die Sünde ist in dieser Hinsicht problematisch.289 Der Tod würde durch eine solche Deutung gewissermaßen rational verfügbar gemacht. Aus der Perspektive des christlichen Glau287 

So z. B. Pannenberg, W.: Systematische Theologie II, Göttingen 1991, 303–314. S. o., 6.C.e, 260 ff. 289  Zu einer alternativen Deutung des paulinischen Wortes vom Tod als „der Sünde Sold“ (Röm 623) s. o., 261, Anm.  390. 288 

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bens, der den Geheimnischarakter des Lebens betont, ist dem entgegenzusetzen: Warum der Mensch sterben muss – im Sinne der Frage nach einem Grund, der in der Vergangenheit, in der Lebensführung des Menschen liegt –, kann in religiöser Hinsicht nicht erklärt werden. Es ist schlicht so. Damit muss der Mensch auch im Blick auf sein Gottesverhältnis umzugehen lernen. So wie versucht wird, die todesähnlichen Erfahrungen der Nichtigkeit des Lebens rückblickend auf rational ermittelbare Gründe zurückzuführen, ist es aber auch möglich, mit der in die Zukunft gerichteten Frage nach dem letzten Sinn einem Kausalitätsdenken zu verfallen und theologisch eine ‚Leidensökonomie‘ zu bewerben, die dem weltlichen Machbarkeitsideal nicht unähnlich ist: ‚Es gibt für alles eine Lösung; dein Leiden hat den Sinn, dich im Leben weiter bzw. Gott näher zu bringen.‘290 Diese Gefahr ist im dialektischen Charakter des Gerichtsgedankens angelegt: Die Kategorie des Gerichts dient der theologischen Deutung der lebensgeschichtlichen Phänomene „des Sinnverlusts und der Selbstverfehlung“291, der Endlichkeit, der Gebrochenheit, der Widersprüchlichkeit, mit dem Ziel, diese so mit dem Gottesgedanken zu verbinden, dass sie das entbindende Moment der Gerichtserfahrung freilegt, dass sie die Perspektive 290 

Darauf verweist nachdrücklich Rebekka K lein: „Denn – so die Suggestion – alles, was uns widerfährt, lasse sich in irgendeiner Weise bearbeiten, verarbeiten und schlussendlich überwinden. Man müsse eben nur seine innere Einstellung entsprechend anpassen: das Vergangene und Missglückte loslassen, die eigenen Lebensziele und Erwartungen flexibel an die Gegebenheiten anpassen, begreifen, dass alles einen tieferen Sinn hat, was uns widerfährt, auch das Widerwärtige. Schmerz, Leid und üble Widerfahrnisse seien daher niemals ein Grund, zu verzweifeln oder unglücklich zu sein. Man müsse nur begreifen, dass sie lediglich ‚Geburtswehen‘/Transformationsprozesse für inneres Wachstum und Reife seien und dementsprechend geradezu (heils-)ökonomisch als ‚Kreuzweg‘ ins Glück, zum inneren Frieden und zur Aussöhnung mit anderen führen.“ (K lein, R. A.: Schmerzfrei Leben? Religionsphilosophische Perspektiven auf den Diskurs über die Affirmation und Integration von Verletzlichkeit, in: NZSTh 57/3 (2015), 301–317, hier: 304). Demgegenüber plädiert sie dafür, theologisch auch unter der Perspektive der Vollendung die „Verletzlichkeit“ des Lebens ernst zu nehmen und stellt die Frage, ob das der Fall ist, wenn sie so gedacht wird, dass sie eschatologisch aufgehoben ist (a. a. O., 313–316). Stattdessen würde sie die Erfahrungen von Verletzlichkeit nicht als Durchgangsmoment zur Vollendung des menschlichen Lebens, sondern als „Vergegenwärtigung und Figurierung von dessen pathischer Dimension“ verstehen. „Reli­ gion wäre dann nicht als Überschuss oder Entzug aus der Immanenz des Lebens, sondern als deren Intensivierung, Kultivierung und Bestätigung zu denken.“ (A. a. O., 317.) Theologisch müsste im Anschluss daran konstatiert werden, dass die Verletzlichkeit des Lebens eine zum menschlichen Leben wesentlich dazugehörige Dimension ist, die durch die Gotteserfahrung zudem gesteigert ist. Eschatologisch wäre sie nicht aufgehoben, wohl aber kultiviert. Vgl. auch die Problematisierung der „Suche nach Sinn“ im Leiden bei Johannsen, F.: Auf der Suche nach dem Sinn von Sterben und Tod. Der Wandel von Deutungsmustern aus theologischer Perspektive, in: Becker /Feldmann/Johannsen: Sterben, 11–19. 291  Danz: Und sie werden hingehen, 87.

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auf die Gnade Gottes und die Vollendung menschlichen Lebens eröffnet. Theologisches Sinnstiftungspathos gerät leicht in die Gefahr, sich selbst zu überschätzen und die unverfügbar dem Einzelnen von Gott selbst eröffnete neue Perspektive auf das eigene Leben eigenmächtig vorzuzeichnen. Angesichts der von Hirsch angedachten Einschränkungen, dass die positive Wendung des Gerichts erst im Rückblick erkannt werden kann, dass sie sich bei jedem Einzelnen anders gestaltet und dass streng genommen auch die Gerichtserfahrung selbst erst aus dem Bewusstsein der Gnade als solche gedeutet werden kann, ist es wohl eher und zuallererst die praktische Aufgabe, in der Situation des Leidens das ‚Warum?‘ stehen zu lassen. Zudem kann eine Hilfestellung zur theologisch angemessenen Formulierung dieser Klage gegeben werden, indem man sich dabei zuerst darum bemüht, das auf Gott bezogene, sein Handeln rationalisierende Kausalitätsdenken in jeder Hinsicht zu durchbrechen. Darüber hinaus kann die Unterstützung darin bestehen, zu signalisieren, dass diese Frage dennoch innerhalb des Gottesverhältnisses als Frage nach dem Sinn angebracht ist. Sie unterstreicht die Berechtigung des Menschen zur Klage über das Erlittene. Der darin mitschwingende Protest – ‚Was soll das!?‘ – richtet sich aus theologischer Perspektive nicht gegen die Verletzlichkeit und die Sterblichkeit des Menschen an sich, sondern gegen die Drohung der Nichtigkeit, der gegenüber der in Sinnlosigkeit noch nach einem Sinn und der in Gottverlassenheit noch nach Gott fragende Mensch der Sehnsucht und Hoffnung Ausdruck verleiht, dass diese Nichtigkeit nicht das letzte Wort über das Leben hat und nicht Gottes Wille ist.292 Auch im Blick auf die kirchliche Sterbebegleitung ist die Möglichkeit zu erwägen, mit dem Sterbenden u. U. bei der Klage über die Sinnlosigkeit des Sterbens und des Todes stehen bleiben zu müssen. Das in der Sterbebegleitung mitunter vermittelte Idealbild des „authentisch[en], individuell[en] und selbstbestimmt[en]“293 und darin ‚würdigen‘ Sterbens unterliegt einer gewissen Problematik: Es kann als kulturell und gesellschaftlich normierte Größe u. U. „repressiv wirken“294. Im Zuge eines „sinnvollen“295 und darin friedlichen Ster292  In

diesem Sinne ist die Fassung des Gerichtsgedankens als „Protest gegen den Tod“ (Fuchs, O.: Hoffnung über den Tod hinaus. Warum die Rede vom Jüngsten Gericht unverzichtbar ist, in: BiKi 63 (2008), 200–203, hier: 200), „gegen Banalisierung“ (a. a. O., 201) von Leid und Zerstörung, „gegen unrechte Angst“ (a. a. O., 202) zu befürworten. Zugleich vertröstet ein solcher Protest gegen den Tod nicht auf das Jenseits, das hinter dem Tod verheißungsvoll wartet, sondern betont den Wert gelebten und stückhaft gelingenden Lebens in Form des diesseitigen Glücks (Luther: Tod, 425 f.). 293  K ersting, D.: Gibt es einen guten Tod? Normativ-kritische Überlegungen zu heutigen Leitbildern des Todes, in: Esser /K ersting/Schäfer: Welchen Tod stirbt der Mensch, 199–220, hier: 205 294  A. a. O., 204. Daniel K ersting erläutert diese Feststellung, wie folgt: „Wenn man den

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bens soll am Ende die Frage des Lebenssinns zufriedenstellend beantwortet werden können und die Annahme des Schicksals durch dessen abschließende Integration in einen Sinnzusammenhang gelingen. Es geht dabei „auch darum, das Sterben ohne Protest ertragen zu lernen“296, womit die mit Sterben und Tod verbundene und u. U. unüberbrückbare „Sinnlosigkeitserfahrung […] unterdrückt“297 wird. Dagegen ist mit der von Hirsch festgehaltenen Doppeldeutigkeit des Todes der Umgang mit Sterben und Tod für den Einzelnen theologisch gewissermaßen für die Möglichkeit offenzuhalten, dass die „schmerzhafte Erfahrung von Sinnlosigkeit“298 nicht integriert werden kann. soziologischen Bobachtungen folgt, ist es für einen gelungenen palliativen Sterbeverlauf etwa keineswegs gleichgültig, wann sich die Patient/innen auf welche Weise zu ihrem bevorstehenden Tod verhalten. In einem zu frühen Stadium nicht mehr leben zu wollen oder am Ende den eigenen Tod nicht zu akzeptieren, wird tendenziell als eine dem Hospiz unangemessene Haltung wahrgenommen, die vom Personal nicht nur als Scheitern der eigenen Arbeit gewertet wird, sondern auf die – soweit das möglich ist – auch regulierend einzuwirken versucht wird […]. Und wenn ein sterbender Patient im Krankenhaus ‚queruliert‘, das heißt den Ansprüchen von Diskretion und Tapferkeit nicht entspricht oder sich der Aufklärung über seine tödliche Krankheit verweigert, wird sein Tod ebenfalls tendenziell als ein ‚ungutes Ende‘ gedeutet und die verstorbene Person für ihren missglückten Tod bedauert. […] Mit jedem Konzept des guten Sterbens, das kann man als Einsicht dieser Untersuchungen festhalten, wird also auch die Möglichkeit eröffnet, dass das Individuum in seinem Sterben scheitert.“ (A. a. O., 204 f.) 295 Manfred Josuttis zeichnet die Entwicklung des Idealbildes der kirchlichen Sterbebegleitung vom „seligen“ zum „sinnvollen“ Sterben nach. Das selige Sterben ist dadurch gekennzeichnet, dass es nicht plötzlich eintritt und man ihm dementsprechend vorbereitet und gefasst begegnet (Josuttis, M.: Das selige und das sinnvolle Sterben. Über Leitbilder kirchlicher Sterbebegleitung, in: WPKG 65 (1976), 360–372, hier: 361). Es ist ein „der Gnade Gottes gewisses Sterben“ (a. a. O., 362), das eine geklärte Gottesbeziehung, eine geklärte Beziehung zu den Mitmenschen (Reinheit von Schuld) und die Einsicht umfasst, dass Gott selbst im Tod handelt. „Seliges Sterben heißt durch und durch geordnetes Sterben.“ (a. a. O., 363). Im sinnvollen Sterben hingegen wird nach dem Lebenssinn gefragt und das Ideal eines natürlichen und vollendeten Lebensende angestrebt. Beide Leitbilder haben Josuttis zufolge gemeinsam, dass sie dem Sterben und Leiden einen unbedingten Sinn zuschreiben wollen und damit die Sinnlosigkeitserfahrung, die darin u. U. liegt, umgehen wollen (a. a. O., 367–369). 296  A. a. O., 367. Vgl. Stefan Dresskes Feststellung, das Hospiz leite „in den Verfahren der Sterbeorganisation den Patienten zu einer heroischen Haltung an“ (Dresske, S.: Interaktionen zum Tode. Wie Sterben im Hospiz orchestriert wird, in: Gehring/Rölli /Saborowski: Ambivalenzen, 77–101, hier: 98) und strebe mit seinen palliativen Maßnahmen das „Ideal des natürlichen Sterbens“ (a. a. O., 100), „das irritationslose, vorbereitete Entschlafen an einem sicheren Ort in sicherer Umgebung“ (a. a. O., 101), das „langsame[ ], sukzessive[ ] Abklingen körperlicher und mentaler Funktionen“ (ebd.), an. 297  Josuttis: Das selige und das sinnvolle Sterben, 369. 298  A. a. O., 371. Josuttis formuliert drastischer: „Menschliches Sterben soll nun gewiß nicht ohne Hoffnung erfolgen, aber die bewährt sich gerade darin als Hoffnung , daß sie die schmerzhafte Erfahrung von Sinnlosigkeit nicht in Sinn umlügen muß.“

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Der theologischen Reflexion wird in dieser Situation zugemutet, nicht vorschnell den barmherzigen Gott auf die Bildfläche zu rufen, sondern bei der Härte der Erfahrung der Sinnlosigkeit, der Gottverlassenheit mit dem, der sie erlebt, stehen zu bleiben. Mit Hirsch kann das Gottesbild in einer solchen Situation nur so artikuliert werden, dass Gott der Verborgene ist. Die Unbegreiflichkeit des Erlittenen mit Gott selbst in Verbindung zu bringen bedeutet, diese Erfahrung in Gottes Verfügungsbereich anzusiedeln, ohne sie als Vergeltungstat Gottes zu denken. Die Spannung des antinomischen Gottesbildes des zugleich zornigen und gnädigen, des unerbittlich liebenden Gottes299, aufrechtzuerhalten und dem Drang nach Rationalisierung oder nach Harmonisierung des Gottesbildes nicht nachzugeben, ist die religiöse und intellektuelle Herausforderung, vor die die Hirsch’sche Argumentation den Christenmenschen und die Theologin stellt. Auf Tod und Leben gewendet mündet diese in der hart anmutenden Aussage: Als Schöpfer tötet Gott und macht lebendig, Gott führt ins Leben und ruft aus dem Leben.300 In den Debatten um die Ethik am Lebensanfang und Lebensende wird diese christliche Sichtweise immer wieder betont.301 Für die Deutung des Todes in praktisch-theologischer Perspektive ist m. E. ebenso dieses spannungsreiche Gottesbild heranzuziehen, weil mit einer einseitigen Rede vom Gott des Lebens die Erfahrung der Härte des Lebens übersprungen würde.302 299 

S. o., 2.B, 91 ff. S. o., 6.A.b, 220 ff. 301  So v. a. in den Debatten um die sog. ‚aktive Sterbehilfe‘ und die Patientenverfügung, z. B. Huber, W.: „Aktive Sterbehilfe muss Tabu bleiben“. Gastkommentar in der Allgemeinen Zeitung Mainz, 10. Juli 2004 (Pressemitteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland), in: K irchenamt der EKD (Hg.): Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Sammlung kirchlicher Texte, Hannover 22011, 19 f., hier: 19: „Weil wir das Leben wie das Sterben aus Gottes Hand empfangen, dürfen wir uns nicht zum Richter über das Leben machen.“; K irchenamt der EKD (Hg.): Sterben hat seine Zeit. Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus christlicher Sicht. Ein Beitrag der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2005, 12: „Denn Christen sehen sich selbst als Geschöpfe Gottes. Geburt und Tod liegen somit in Gottes Hand, der Tod wird (ebenso wie die Geburt) als ein Geschick verstanden.“ Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit dem gegen den (assistierten) Suizid vorgebrachten Argument „Gott allein ist Herr über Leben und Tod“ bei Friess, M.: Sterbehilfe. Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe, Stuttgart 2010, 118–136, der dafür plädiert die Spannung zwischen endlicher Freiheit und göttlicher Allmacht aufrechtzuerhalten. 302 Vgl. die Ergebnisse der Untersuchung der theologischen Entwicklung von der EKU-Bestattungsagende 1964 bis zur UEK-Bestattungsagende 2004 bei Binder: Dass er über Lebende und Tote Herr sei. Binder konstatiert, dass das Gottesbild der Agenden sich von einem Gott, der tötet und lebendig macht, hin zu einem Gott entwickelt hat, der ausschließlich für das Leben zuständig ist. Die theologische Devise der UEK-Agende von 2004 beschreibt er folgendermaßen: „Gott will das Leben, nicht den Tod“ (a. a. O., 97). Gott kommt deswegen mit dem Tod gleichsam nicht in Berührung, höchstens indirekt in der Form des 300 

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Zugleich bietet das antinomische Gottesbild des Tötenden und Lebendigmachenden die Möglichkeit, die – wenn auch verborgene – Anwesenheit Gottes im Moment des Leidens zu denken, einen Adressaten der Klage und des Protestes zu haben, jemanden ansprechen zu können, der zudem in der Lage ist, der Misere ein Ende zu bereiten. Ist Gott im Moment der Erfahrung der Nichtigkeit und des Todes abwesend, dann kann auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch m. E. im Tod als bestehen bleibendes gedacht werden.303 Ob das Bild vom zornigen Gott für die Deutung der Erfahrung von Nichtigkeit hilfreich ist, ist zu hinterfragen, ruft es doch Assoziationen hervor, die dem kausalen Vergeltungsdenken verfallen sind, und ist es darüber hinaus für die gegenwärtige Erlebniswelt – in der eher die Angst vor dem Nichtsein als die Angst vor der Verdammnis und der Gottesferne eine Rolle spielt – nicht unbedingt ein phänomengerechtes Gottesbild. Dennoch ist das Moment der Härte der Gotteserfahrung, das im biblischen Bild vom zornigen Gott zum Ausdruck kommt, m. E. theologisch festzuhalten. Denn als eine harte Zumutung erfährt der – von der Moderne als Idealbild gezeichnete – sich selbstständig entwerfen wollende Mensch die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens, die in Ohnmachtserfahrungen zu Bewusstsein kommt und die theologisch mit Gottes allmächtigem Töten und Lebendigmachen ausgesagt ist. Diese treibt ihn u. U. in die gelähmte Ohnmacht oder in die die eigene Handlungsunfähigkeit um jeden Preis verhindern wollende Selbstdurchsetzung. Zudem ist die Begegnung des Menschen mit Gott nicht nur durch Anerkennung und Vergebung, sondern durch eine mit dieser notwendig verbundenen Offenbarung des Widerspruchs zwischen dem faktischen und dem wahren Sein des Menschen gekennzeichnet, die den Menschen seine Selbstverfehlung und seine schuldhafte Trennung vom Anderen erst in vollem Maße erkennen und eingestehen lässt. Indem Gott selbst als der gezeichnet wird, der die Bedingungen des menschlichen Sündenbewusstseins überhaupt erst schafft, kann sein Zorn – vereinfacht – als ein Bild für

passivum divinums. „Gott ist allenfalls noch Grund des Trostes“ (ebd.). Gottes Handeln an den Verstorbenen gerät damit aus dem Blick bzw. kann nicht erklärt werden, die Trauernden sind sein Objekt (a. a. O., 99). Wegen dieser Positivperspektive können auch Sünde und Schuld des Verstorbenen nicht thematisiert werden. 303 Vgl. Schaede, S.: Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004, 634, Anm.  30: Bedeutet der Tod die absolute Trennung von Gott, dann hätte das die logische Folge, dass die Einheit Jesu mit Gott, das Sohnesverhältnis, im Tod für einen Moment ausgeschaltet wird. Jesus hört „dann ausgerechnet im soteriologisch entscheidenden Moment auf, Mittler der Gegenwart Gottes zu sein, was ihn doch wesentlich auszeichnen soll“, und es stellt sich die Frage, „worin sich denn die Einheit mit Gott im Tod bewährt, wenn Gott im Tod nicht präsent ist“.

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„Gottes Kritik an uns“304 gedeutet werden. Er kann als ein Bild für die göttliche Haltung dazu verstanden werden, dass der Mensch dem Ziel, das Gott mit ihm hat – nämlich eine versöhnte Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Mensch und der Friede des Menschen mit sich selbst –, nicht entspricht. Stattdessen folgt er eigenen Zielvorstellungen – er liebt nicht, sondern setzt sich selbst durch – oder er gibt sich mit seinem faktischen Sein – nicht er selbst sein zu können, nicht lieben zu können – zufrieden und verharrt damit im Zustand der Getrenntheit von Gott, den Anderen und seinem wahren Selbst. Mit dem Bild vom zornigen Gott kann die Erfahrung dieses Widerspruchs gedeutet werden, den der Mensch von sich aus nicht auflösen kann, an dem er zu zerbrechen droht.305 Mit der Zukunftsperspektive der ‚Warum‘-Frage – das menschliche Sinnverlangen, die menschliche Sehnsucht, die menschliche Hoffnung auf den Gott des Lebens – können vorsichtig tastend Möglichkeiten eines Auswegs aus der scheinbar ausweglosen Situation artikuliert werden: In seiner Zuwendung zu den gesellschaftlichen Outlaws, den Losern, den Opfern und auch den Schuldiggewordenen und in seinem Festhalten an seinem Vertrauen auf Gott trotz seiner äußerlich ausweglosen Situation zeigt Jesus auf, dass die Nichtigkeit nicht das letzte Wort über den Menschen ist: Der Mensch kann sich seine Schuld vergeben lassen. Der Mensch muss seine Verletzlichkeit nicht schamhaft verstecken.306 Diese Erkenntnis wird mit Hirsch gnadenhaft im Glauben an den vergebenden Jesus vermittelt und gewinnt auf diese Weise Vollmacht über das

304  H ailer , M./Frisch, R.: „Ich ist ein Anderer“. Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie, in: NZSTh 41 (1999), 62–77, hier: 73. 305  Vgl. Notger Slenczkas Deutung des Zorns in Bezug auf das Schuldgefühl: „Die Rede der Bibel vom Gottes Zorn, von Gottes Gerechtigkeit, von Gottes Strafe bringt genau dies zur Sprache: dass wir behaftet werden bei unserer Schuld, dass wir andere bei ihrer Schuld behaften und dass wir gar nicht anders können, als dies zu tun. Schuld fragt nach einem Tod. Schuld kann nicht einfach vergessen werden. Die Rede vom Zorn Gottes bringt genau diese Unverfügbarkeit des Umganges mit der Schuld zur Sprache, gibt uns sozusagen Worte für ein Phänomen, das wir erfahren. Wohlgemerkt: Ich sage nicht: Gott zürnt, und darum können wir nicht vergessen, und darum quält uns die Schuld. Sondern ich sage: Dass wir nicht vergessen können, dass wir mit der Schuld nicht fertig werden – das bringt die Bibel und das bringt die christliche Tradition mit der Rede vom Zorn und von der Gerechtigkeit Gottes zur Sprache.“ (Slenczka: Wer sich selbst recht versteht, 177 f.) 306 Vgl. Fechtner: Diskretes Christentum, 81: „Für die Glaubenden wird im Kreuz ansichtig, was ihre existenzielle Scham überwindet, die immer wieder das Selbstwertgefühl angreift und dementiert: dass sie als bedürftige und missliebige, als makelhafte und scheiternde, d. h. als sich für ihre eigene Existenz schämende Personen gewollt, geachtet und mit unveräußerlicher Würde ausgestattet sind.“

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menschliche Selbstverständnis. Sie kann im Anschluss an Hirsch dem Menschen bereits „gestückt“307 im eigenen Lebensvollzug evident werden. Die christliche Deutung des menschlichen Lebens kann damit aus der Ewigkeitsgewissheit des Glaubens schöpfen. Sie kann mit Hirsch die Überwindung der Macht des Gesetzes durch das Evangelium – wie sie in Jesus geschehen ist und wie sie im Glauben gnadenhaft zugeeignet wird – artikulieren308: Die Erfahrung der schicksalhaften Kontingenz hat nicht das letzte Wort. Dem aneinander Schuldigwerden wird die Macht genommen, das Verhältnis zum Anderen bis ins Letzte zu bestimmen. Das letzte Urteil über das menschliche Leben übersteigt das menschliche Urteilsvermögen. Der Mensch ist nicht festgelegt auf das Bild, das er selbst und die Anderen sich aufgrund des äußeren Anscheins von ihm machen, er kann offen sein für das ihn anerkennende Bild, das Gott von ihm hat. Das durch das Evangelium bedingte Evidenzerlebnis kann vor diesem Hintergrund die Gewährung neuen Lebenssinns inmitten einer scheinbar sinnlosen Erfahrung sein – wenn z. B. die Diagnose einer terminalen Krankheit dazu führt, dass die Familie enger zusammenrückt und ihre Liebe zueinander neu entdeckt und die Krankheit in diesem Sinne als „Geschenk“309 verstanden werden kann. Es kann die durch die Situation des Leidens bedingte Erkenntnis dessen sein, was – u. U. entgegen gesellschaftlicher Normierungen und äußerer Wertmaßstäbe – ‚im Leben wichtig ist‘ oder „worum alles sich dreht“310. Es kann die Erfahrung sein, dass einem ein realer Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation gezeigt worden ist. Es kann das Erlebnis menschlicher Zuwendung sein, die aus der Isolation herausführt. Es kann das Erlebnis der Erneuerung einer abgebrochenen oder gar gescheiterten Beziehung sein. Es kann das unvermutet sich einstellende Gefühl sein, im Frieden mit sich selbst und mit den Anderen zu sein. Rückblickend kann es dem Menschen dann gelingen, seine Negativerfahrung so umzudeuten, dass sie nicht endgültiges Scheitern war, sondern im Fortgang des Lebens relativiert wurde, dass Gott sein ‚Warum?‘ gehört hat, seine Liebe an ihm erwiesen hat und seinem Leben einen neuen Sinn gegeben hat. In diesen neuen Sinn vermag der Mensch nun zu integrieren, dass die Abhängigkeit, auf die er in seinem ohnmächtigen Scheitern nachdrücklich verwiesen wurde, ihm wesentlich ist. Das Gefühl der Ohnmacht, der Verzweiflung, des Festgelegtseins bleibt dabei als Erinnertes und – weil Versöhnung im irdischen Leben bruchstückhaft ist – als jederzeitige Möglichkeit bestehen. 307 

ChR II, 30. S. o., 7.A.c, 280 ff. 309  S. o., Mottozitat 2 am Beginn des Abschnitts. 310  S. o., Mottozitat 4 am Beginn des Abschnitts. 308 

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Die Zukünftigkeit der Vollendung zeigt auf, dass der Prozess des Sterben Lernens in diesem Leben unabschließbar und der ‚Lernerfolg‘ dem Menschen letztlich unverfügbar ist. Diese Einsicht schließt ein, dass Negativerfahrungen sich schlichtweg der Integration in den Lebensvollzug entziehen können und der ausstehende Tod letztlich nicht integrierbar ist.311 In vollendetem Sinne sterben zu können hängt an der sich gnadenhaft einstellenden Gewissheit der Liebe Gottes, die im menschlich-endlichen Lebensvollzug immer angefochtene Gewissheit bleibt, welche auf die Vollendung des Glaubens durch den Tod hindurch hofft.

c)  Das Leben vor dem Horizont des Todes gestalten Sterben zu lernen bedeutet, sich den eigenen Umgang mit dem Tod ins Bewusstsein zu rufen, den Widerspruch zwischen Tod und Leben zu deuten und daraus eine bestimmte Lebenshaltung zu gewinnen. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens – wie er hier im Anschluss an Hirsch verstanden wird – werden die Ängste und Bewältigungsstrategien als zutiefst menschliche Gefühle und Verhaltensweisen, denen auch der Glaubende nicht enthoben ist, ernstgenommen. Als solche verweisen sie auf die dem menschlichen Leben wesentliche Verletzlichkeit und schlechthinnige Abhängigkeit. Sterben zu lernen bedeutet zuerst, den eigenen Ängsten vor der Nichtigkeit des Lebens ins Auge schauen und sie verbalisieren zu können. Zweitens bedeutet sterben zu lernen, die eigene Verletzlichkeit als zum Leben dazugehörig akzeptieren zu können. Drittens bedeutet sterben zu lernen demzufolge, zu erkennen, dass der Drang danach, seine Unzulänglichkeit schamhaft zu verstecken oder sie durch schuldhafte Selbstbehauptung zu übertönen, zwar allzu menschlich ist, aber das eigentliche Wesen des Menschen verdeckt. Dass der Mensch in der Lage ist, diesem Drang nicht nachzugeben, setzt voraus, dass seine Angst vor der drohenden Nichtigkeit ihn nicht bis ins Letzte bestimmt. Dafür muss er – viertens – verstehen, dass seine Verletzlichkeit seine 311  Diese Annahme betont auch Ulrich Körtner gegen das von Eberhard Jüngel im Anschluss an Werner Fuchs theologisch aufgenommene Idealbild des natürlichen Todes (s. o., 226, Anm.  252). „Jeder Versuch, sich mit dem Tod zu versöhnen, muß ebenso scheitern, wie derjenige, ihn aus dem Leben zu verbannen. Aus theologischer Sicht ist ein solcher Umgang mit dem Tod wahrhaft menschlich, welcher mit der Fragmentarizität gleichermaßen die Unausweichlichkeit wie die Nichtintegrierbarkeit des Todes anerkennt. Annahme und Anerkennung sind zweierlei. Das Leben als Fragment zu bejahen, bedeutet gerade, dem Tod, wo es möglich ist, zu widerstehen [ihn in seiner nichtenden Macht nicht anzuerkennen, A.‑M. K.] und andererseits noch im Sterben auf seine Überwindung zu hoffen.“ (Körtner: Der unbewältigte Tod, 34 f.)

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besondere Würde nicht ausschließt und dass seine schlechthinnige Abhängigkeit seine Freiheit nicht verneint. An dieser Stelle gerät die didaktische Leistung der theologischen Rede vom Tod an ihre Grenze: Die Hörenden können diesen Gedanken wohl verstehend nachvollziehen, dass er ihnen im eigenen Lebensvollzug evident wird, ist hingegen unverfügbar. Die theologische Rede vom Tod kann die den Tod als Nichts bzw. Vernichtung verabsolutierende Form der Angst als unangemessen kritisieren, sie kann ihr jedoch keinen eindeutig verfügbaren positiven Sinn entgegensetzen. Nicht evangeliumsgemäß, sondern gesetzhaft ist jede Haltung zum Tod, die den eigentlich unbegreiflichen, geheimnisvollen Tod auf eine eindeutige Definition festlegt. Sterben zu lernen bedeutet damit fünftens, auf den Drang zur letztgültigen, eindeutigen Definition zu verzichten – in dieser Hinsicht ist auch der Theologie die Aufgabe gestellt, sterben zu lernen. Die dennoch formulierte Frage nach dem Sinn kann als Artikulation der Sehnsucht nach Vollendung verstanden werden, die auch in der scheinbar sinnlosen Lebenserfahrung und im Tod darauf hofft, dass das äußerlich Sichtbare nicht das letzte Wort hat, womit sechstens das Hoffen wider die faktische Situation eine Form des Sterben Lernens ist. Der weitere Lernprozess des Sterbens kann – nach dem hier im Anschluss an Hirsch entfalteten Selbstverständnis der theologischen Rede vom Tod – wohl aus der subjektiven Gewissheit heraus reflektiert, beispielhaft illustriert und angestoßen, aber nicht gesteuert werden. Er ist auf das Evidenzerlebnis angewiesen, das der subjektiven Glaubensgewissheit zugrunde liegt. Aus dieser heraus wird dem Gericht die Gnade und der tödlichen Vernichtung die ewige Vollendung entgegengesetzt. Aus der Glaubensgewissheit heraus bedeutet sterben zu lernen siebtens, zu erkennen, dass der Mensch zwar zutiefst von Gott unterschieden, aber zugleich in Gottes ihn zum Personsein befähigenden – weil ihn anerkennenden und ihm vergebenden – Liebe gegründet ist, dass sich Gott auch in seiner Ohnmachtserfahrung als der Grund seines Lebens erweist, dass der Tod zum Leben wird. Auf den endlichen Lebensvollzug gewendet bedeutet sterben lernen schließlich, zu erkennen, dass die damit offengelegte schlechthinnige Abhängigkeit die Bedingung endlicher Freiheit ist. Diese gestaltet sich als Freiheit von der Deutung des Todes und des Lebens nach allein endlichen Maßstäben, von dem Drang zur Verabsolutierung des Endlichen inklusive der eigenen Person, und als Freiheit zu einem von gegenseitiger Erschlossenheit und selbstloser Hingabe geprägtem menschlichen Miteinander. Auf welche Weise und in welcher Form sich diese Erkenntnis im menschlichen Leben einstellt und wie sie sich in der Deutung und in Gestaltung des Lebens niederschlägt, variiert von Mensch zu Mensch. Die Gewissheit der Liebe Gottes kann die Möglichkeit eröffnen, Schuld einzugestehen, weil der Mensch

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von Gott nicht auf sie fixiert, sondern weil ihm vergeben wird. Sie kann dazu befähigen, dem Anderen in seiner menschlichen Verletzlichkeit erschlossen zu sein, weil sie vermittelt, dass seine Würde letztlich nicht von der menschlichen Anerkennung abhängig, sondern allein aus Gottes Zuwendung begründet ist. Sie kann umgekehrt dazu befähigen, den Anderen in seiner Unvollkommenheit anzuerkennen und ihn zu lieben, weil sie den Ewigkeitsgewissen seines Drangs zur Selbstbehauptung entledigt. Die Glaubensgewissheit kann einen Perspektivwechsel herbeiführen, durch den eine nach rationalem Maßstab unbegreifliche und damit scheinbar sinnlose Situation umgedeutet wird und aus der Situation selbst heraus neue Lebens- und Handlungsmöglichkeiten freigesetzt werden. Die mit dem im Tod vermittelten Gefühl der Kontingenz alles Endlichen kann zur Freiheit und zu einer kritischen Haltung gegenüber sich selbst als absolut setzenden gesellschaftlichen Institutionen anregen.312 Die Gewissheit der Liebe Gottes kann zu der Haltung führen, das Leben wichtig zu nehmen und dennoch derart gelassen auf das Leben zu blicken, dass es selbst nicht als der Ort der Erfüllung aller menschlichen Sehnsüchte erkannt wird.

312  Auf diese soziologisch bedeutsame Seite des Todesbewusstseins verweist nachdrücklich Christian von Ferber: „Offensichtlich trüge ein kommunizierbares memento mori in jedes Verhalten ein kritisches Moment und leistete damit einer ‚willenlosen Lenkbarkeit intelligenter Massen‘ (Gehlen) Widerstand.“ (Ferber, C. v.: Soziologische Aspekte des Todes. Ein Versuch über einige Beziehungen der Soziologie zur Philosophischen Anthropologie, in: ZEE 7/6 (1964), 338–360, hier: 343.) „Die sinnhafte Bedeutung des individuellen Lebens, wie sie die Todeserfahrung unterstreicht, wie der Tod selbst, der eine äußerste Relativierung aller Ansprüche an das Leben leistet, distanzieren das Individuum aus den gesellschaftlichen Bindungen; sie schaffen einen Abstand gegenüber kollektiven Anforderungen. Das individuelle Zeitbewußtsein, das im Ethos der Persönlichkeit zu kultureller Ausformung gelangt, und der Abstand zum Leben, der sich angesichts der Todesdrohung realisiert, vertiefen die kritische Distanz zwischen Individuum und gesellschaftlicher Gegenwart. Sie halten […] den hiatus zwischen sozialer Rolle und Rollenträger fest […]. Oder anders gewendet: Erst dann, wenn wir unsere Gegenwarts- und Ortsbestimmung über die Horizonte gesellschaftlicher Beziehungen hinaus um die Dimension des Todes erweitern, stellt sich die eigentümliche Gebrochenheit her, aus der der Mensch von Haus aus lebt. Die Anerkennung, daß der Zusammenhang des Hier und Jetzt mit dem Wegfall seiner biologischen Grundlagen nichtig wird, setzt zugleich die menschliche Freiheit gegenüber der normativen Kraft des Faktischen in ihre Rechte ein.“ (A. a. O., 359.)

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10.B  Erinnerung und Vergegenwärtigung der Toten In unseren Herzen lebst du weiter. (Populärer Text für Traueranzeigen) Habe dich sicher In meiner Seele Ich trag dich bei mir Bis der Vorhang fällt (Herbert Grönemeyer: Der Weg)313 You are safe in my heart And my heart will go on and on. (Céline Dion: My heart will go on)314

Von mir soll in Erinnerung bleiben, dass meine Kinder glücklich sind und vielleicht etwas weitergeben, was ich ihnen gegeben hab’. (Sky du Mont in der Aktion „Lebensblicke“) Von mir soll in Erinnerung bleiben, dass ich ein fröhlicher Mensch bin. (Wiederkehrende Aussage in der Aktion „Lebensblicke“315)

‚Er/Sie lebt in der Erinnerung weiter‘ – so lautet eine populäre Vorstellung des menschlichen Fortlebens,316 die zum einen den traditionellen Unsterblichkeitsgedanken ablöst und zum anderen von einer bleibenden Beziehung der Leben313  Zuerst

erschienen auf: Herbert Grönemeyer: Mensch, Grönland Records (Universal) 2002. Der Weg gehörte unter die „Top 10 der Trauerhits“ im Jahr 2015 (Platz 7), die auf einer Umfrage unter Bestattern und Hinterbliebenen nach den auf Beerdigungen gespielten Musikstücken basieren (GBV Gesellschaft für Bestattungen und Vorsorge mbH: Top 10 der Trauerhits 2015: Sarah Connor singt jetzt deutsch und trifft damit Trauernden ins Herz, https://www.bestattungen.de/ueber-uns/presse/pressemitteilungen/top-10-der-trauerhits2015-sarah-connor-singt-jetzt-deutsch-und-trifft-damit-trauernden-ins-herz.html, zuletzt geprüft am: 09.03.2016). 314  Zuerst erschienen auf: Céline Dion: Let’s talk about love, Epic Records 1997. My heart will go on gehörte im Jahr 2014 unter die „Top 10 der Trauerhits“ (GBV Gesellschaft für Bestattungen und Vorsorge mbH: Top 10 der Trauerhits 2014: Von Frank Sinatra bis John Legend – Der Tod spielt keine Rolle, https://www.bestattungen.de/ueber-uns/presse/presse mitteilungen/top-ten-der-trauerhits-2014-von-frank-sinatra-bis-john-legend-der-tod-spieltkeine-rolle.html, zuletzt geprüft am: 09.03.2016.) 315 Z. B. ARD-Lebensblicke Interview mit Hanni Hellbach, https://www.youtube.com/ watch?v=G3Znz-i6uYk, zuletzt geprüft am: 3.12.2015. Die Reihe „Lebensblicke“ wurde von der Themenwoche des ARD 2012 „Leben mit dem Tod“ als Youtube-Channel eingerichtet, auf den User ihre Videos mit Antworten auf standardisierte Fragen (z. B. Was soll von dir in Erinnerung bleiben? Wie stellst du dir deine eigene Beerdigung vor?) zum eigenen Tod hochladen konnten. Dem gingen vom ARD selbst gefilmte „Lebensblicke“ mit Prominenten voran (z. B. Dieter Nuhr, Margot Käßmann, Sky du Mont), ursprünglich abrufbar auf ARD: Aktion „Lebensblicke“ – ARD Themenwoche 2012, http://www.ardmediathek.de/tv/AktionLebensblicke-ARD-Themenwoche-/Sendung?documentId=12162054&bcastId=12162054, zuletzt geprüft im Mai 2013, aber mittlerweile aus dem Netz genommen. 316  Vgl. z. B. die Aussage bei Schulz , W.: Zum Problem des Todes, in: Ebeling: Der Tod, 166–183, hier: 177: „Im Gedenken als Gedenken ist der Tote noch präsent. Es ist wohl nicht zuviel gesagt: dieses Gedenken ist für den modernen Menschen die einzige Möglichkeit, in der er die Idee des Fortlebens realisiert.“

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den zu den Toten ausgeht.317 Inwiefern der Glaubende diese Perspektive einnehmen kann, ist aus praktisch-theologischer Sicht strittig. Die Jüngel’sche These von der „Verhältnislosigkeit“318 des Todes hat die praktisch-theologische Betonung des Abbruchs und des Seins der Verstorbenen (nur) bei Gott nachhaltig geprägt: Sie beharrt mit der gegen den Unsterblichkeitsgedanken und die katholische Fegefeuerlehre argumentierenden sog. Ganztodthese319 auf das Totsein der Toten für diese Welt. Aussagen, die auf eine bestehen bleibende Beziehung zwischen Lebenden und Toten schließen lassen könnten, werden dementsprechend aus dieser Sicht kategorisch abgelehnt und theologisch entwertet.320 Die spezifisch theologische Motivation einer solchen These liegt darin, die Radikalität des Todes und dem korrespondierend die Unverfügbarkeit der göttlichen Gnade, die allein aus dem Tod rettet, zu thematisieren. Zudem verdeutlicht sie, dass das Geschick der Toten durch die Lebenden – wie in der mittelalterlichen Form der Fegefeuerlehre – nicht beeinflussbar ist. Das ist ihr m. E. grundsätzlich zugute zu halten. Dennoch kann sie ebenso als apologetische Legitimationsstrategie kritisiert werden, die auf der inhaltlichen Ebene in Abgrenzung vom Gedanken der Unsterblichkeit der Seele die – vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen, die psychosomatische Einheit des Menschen betonenden Anthropologie unbezwingliche – Plausibilität der christlich-eschatologischen Hoffnung auf die ganzheitliche Auferstehung herausstellen will.321 Aus praktisch-theologischer Perspektive wird kritisch angemerkt, dass der Gedanke eines Ganztodes, mit dem sämtliche Beziehungen zum Menschen abgebrochen sind, die Exklusion der Toten und damit letztlich auch der sich in Todesnähe Befindlichen, der Sterbenden, aus der Gesellschaft fördert – sie haben uns ja schließlich nichts mehr zu sagen –, und das Ziel ist es, die Lücke, die 317 

Die nicht zu unterschätzende Bedeutung dieser Vorstellung vor dem Hintergrund der Intimisierung der Trauerkultur und der damit verbundenen fehlenden öffentlichen Ge­denk­ orte für die Toten stellt Thomas K lie heraus: „Die Logik der Anonymisierung als extreme Form der Intimisierung und Privatisierung des Todes delegiert das kulturelle Gedächtnis an das individuelle Gedächtnis zurück. […] Zugespitzt formuliert: die Angehörigen werden dem Verstorbenen zum Grabmal, sind sie doch die einzigen, die bei einer anonymen Bestattung über den Toten noch Auskunft geben können.“ (K lie: Beschleunigte Kolonisierung, 64.) 318  Jüngel: Tod, 99.171 u.ö. 319  S. o., 10, Anm.  40. 320  Vgl. z. B. Schaede: Der Unfasslichkeit des Todes die richtige Fassung geben, 114. 321  Vgl. die Darstellung bei H enning: Wirklich ganz tot, 237–242. Vgl. Eberhard Jüngels Aussage über die Ganztodthese: „Diese anthropologische Definition des Todes als Eintritt von totaler Verhältnislosigkeit kann sich sehen lassen im Haus der Wissenschaften.“ (Jüngel: Tod, 145.) Ebenso verweist Wolfhart Pannenberg darauf, dass die „Erwartung einer künftigen Auferweckung der Toten […] den Bedingungen moderner anthropologischer Einsicht und Betrachtungsweise viel eher“ entspricht „als die griechische Unsterblichkeitsmetaphysik“ (Pannenberg: Was ist der Mensch, 37, vgl. Ders.: STh II, 210 ff.; STh III, 616 f.).

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sie hinterlassen, möglichst schnell durch neue Beziehungen zu schließen.322 Zudem wird die These vom Totsein der Toten von der Tragfähigkeit für den Trauerprozess und von der Lebenswirklichkeit der Hinterbliebenen her hinterfragt.323 Auch wenn dem Ganztod die Vorstellung eines im Ganzen auferweckten Lebens bei Gott gegenübersteht, so besteht zum einen die Gefahr, dass die Imagination der Hinterbliebenen hauptsächlich an der Vorstellung des schrecklichen, ganzen Todes hängen bleibt.324 Die Verengung der Bedeutung des Todes als Abbruch im Blick auf weltliche Verhältnisse und als Durchgang zur exklusiven Gottesbeziehung vernachlässigt zum anderen den Aspekt, dass im Leben der Hinterbliebenen die Beziehung zu den Toten durchaus aufrecht erhalten werden kann und wird. „Trauernde begegnen ihren Toten; sie führen Gespräche mit den Verstorbenen am Grab; sie begehen bestimmte Zeiten und Räume, in denen sie die Präsenz der Toten vergewissern usw.“325

a)  Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten Mit Hirsch kann der Tod theologisch im Blick auf die Beziehung zwischen Lebenden und Toten sowohl als Zäsur begriffen werden, als auch die von einigen praktischen Theologen geforderte Möglichkeit des Weiterbestehens einer Beziehung „auf einem anderen, neuen Niveau“326, „in einer gegenüber den Alltags-

322 

Sauter, G.: Einführung in die Eschatologie, Darmstadt 1995, 191 f.; Josuttis, M.: Zwischen den Lebenden und den Toten. Pastoraltheologische Überlegungen zum Leben-Tod-Übergangsfeld, in: EvTh 41 (1981), 29–45, hier: 37 f.; Roth: Die Beerdigungsansprache, 218; Gutmann: Mit den Toten leben, 161 f.; Fechtner, K.: Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh 2003, 72–74. Diese Kritik sieht sich auch durch die Trauerforschung bestätigt. Kerstin Lammer schlägt alternativ zu dem durch die ältere Psychologie für den Trauerprozess in Betracht gezogenen „Ablösungsideal“ im Kontext neuerer Trauerforschung das Konzept der „Neuverortung“ der Verstorbenen vor (Lammer, K.: Fortschritte der Trauerforschung – Herausforderungen an die kirchliche Praxis der Trauerbegleitung, in: Grünwaldt/H ahn: Vom christlichen Umgang mit dem Tod, 23–53, hier: 34). Dieses „unterstreicht die, auch psychologisch gesehen, positive Funktion christlicher Todesdeutung und christlicher Erinnerungskultur“ (a. a. O., 34 f.). 323  So besonders Gutmann: Mit den Toten; vgl. Weyel: Lebensdeutung, 122; Wagner‑ R au: Zeit, 70 f.; Körtner: Bedenken, 92. 324  Huxel: Unsterblichkeit, 359. 325  Gutmann: Mit den Toten, 11. Daneben argumentiert Gutmann, dass die – v. a. auf protestantischer Seite – theologische Reserve gegenüber einem Austausch zwischen Lebenden und Toten sich nicht einer zwingenden theologischen Begründung, sondern einer kulturgeschichtlichen, aufklärerischen Genese verdankt. 326  Gutmann: Mit den Toten, 8.

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beziehungen vollständig anderen, neuen, unberechenbaren Weise“327 angenommen werden. Diese liegt theologisch zum einen in der von Hirsch ausgearbeiteten Doppeldeutigkeit des Todes begründet. Zum anderen zeichnet sich Hirschs Gedankenbildung dadurch aus, dass sie für die glaubenspraktischen Bilder der Auferstehung und der Unsterblichkeit der Seele gleichermaßen durchlässig ist.328 Mit dem Begriff des Herzens, den Hirsch äquivalent zum Seelengedanken verwendet, macht er außerdem auf die das Wesen des Menschen ganzheitlich erfassende Bedeutungsdimension beider Größen aufmerksam, die einer platonisierenden Anthropologie entgegensteht.329 Geschichtshermeneutisch kann die Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten mit Hirsch über die vergegenwärtigende Funktion von Erinnerung, über die sog. Gleichzeitigkeitslehre, plausibilisiert werden.330 Indem der Gedanke der ‚lebendigen‘ irdischen Kontinuität der Toten sowohl das Moment der Diskontinuität betont als auch – aus der Perspektive des christlichen Glaubens – die existenzbestimmende Kraft der Toten als gnadenhafte charakterisiert, unterscheidet er sich von dem Gedanken eines substantiellen, bruchlosen Weiterlebens der unsterblichen Seele und nimmt die Aussageintention der Auferstehungsvorstellung auf. Die Beziehung der Lebenden zu den Toten kann analog zur Jesusbeziehung des Glaubenden ins Bild gesetzt werden.331 Der menschlich-geschichtliche Erlebnisgehalt der Auferstehung Jesu wird von Hirsch im Modus der bleibenden Gegenwart in der Innerlichkeit der Lebenden gedacht, die über die geschichtlich vermittelte und zugleich gnadenhaft unmittelbare Gleichzeitigkeit des Glaubenden mit Jesus zustande kommt.332 Wie der Auferstandene, so werden die Toten durch die vergegenwärtigende und persönlichkeitsbestimmende Kraft der Erin327 

A. a. O., 9. S. o., 3.A.b, 131 ff. 329  S. o., Exkurs: Die Ablösung der Seelen- durch die Herzensmetapher, 56 ff. 330  S. o., 72 ff. 331  Vgl. insgesamt das Kapitel Die Toten und ihre Ideale in: Zw, 227–233. Zur hier gegebenen Interpretation s. o., 270 f. 332 Vgl. Lange: Glaubenslehre, 326–328, der ins einer Argumentation gegen die Jüngel’sche These darauf abhebt, dass das Leben der Toten im Medium der Tradition objektiviert und als Ganzes vergegenwärtigt wird. Vgl. auch den neueren Versuch Michael Welkers, die Rede von der Auferstehung mit dem Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ (Jan Assmann) zu plausibilisieren (Welker, M.: Natur- und Kulturwissenschaften, Exegese und Systematik im Gespräch über Themen einer realistischen Eschatologie, in: EvTh 60 (2000), 322–327). Welker hat allerdings eine andere, sich von der subjektivitätstheoretischen Argumentation Hirschs unterscheidende Stoßrichtung, die einerseits auf den objektiven Zusammenhang des von ihm sog. „kanonischen Gedächtnisses“ (a. a. O., 325) abzielt und die andererseits betont, dass Jesu Leben auch unabhängig von seiner Wirkung für den einzelnen Menschen eine „unzerstörbare Würde in sich selbst trägt“ (a. a. O., 326). 328 

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nerung „in mir lebendig“333. Sie sprechen gleichsam „zum Herzen“334. Die Grenze zwischen den Lebenden und Toten verflüssigt sich, das Sein der Toten besitzt – ähnlich wie in der populären Unsterblichkeitsvorstellung des Weiterlebens in den Herzen der Lieben – eine gewisse irdische Kontinuität. Dennoch steht sie in Diskontinuität zur vormaligen Beziehung. Ihre andere Qualität kommt zustande durch die Abgeschlossenheit des Lebens der Toten. Der trennende und unvertretbare Charakter des Todes verweist dabei auf ein problematisches Moment zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt: die gegenseitige Verschlossenheit, die durch die endgültige Entzogenheit der Toten gesteigert ist. Eine über die zeitlichen Verhältnisse hinausgehende positive Qualität erhält die Beziehung, indem die Abgeschlossenheit des Lebens den zwar nicht vollendeten, wohl aber von endlichen Einzelheiten abgelenkten umfassenden Blick auf das Leben des Anderen ermöglicht, der freilich subjektiv variiert.335 Die Gleichzeitigkeit der Lebenden mit den Toten kann analog zur Jesusbeziehung des Glaubenden gnadenhaft durch die Perspektive der Vollendung geprägt werden.336 Das Bild vom Toten kann zum einen auf eine solche Art und Weise erschlossen sein, dass es eine neue Perspektive auf das Leben des Gestorbenen eröffnet. Dieser neue Blick kann u. U. das Gefühl vermitteln, einen vollkommenen, ganzheitlichen, unverdeckten Eindruck der Person gewonnen zu haben. Dieses durch die Ewigkeitsdimension der Liebe337 geprägte „unergründliche[ ] Ganzheitsgefühl“338, das sich von dem analytischen, auf Einzelheiten gerichteten Blick des Verstandes unterscheidet und das die Lebenden dazu befähigt, den Toten lieben zu können339, verrinnt aber aufgrund seiner Unverfügbarkeit wieder und kann nicht fixiert werden – jeder Versuch der reflexiven Erfassung des Bildes ist den Regeln des analytischen Verstandes unterworfen. Das Bild vom Toten kann zum anderen auf eine solche Art und Weise wirken, dass es den 333 

Zw, 232. A. a. O., 233. 335  Auch hier muss das Moment der imaginativen Konstruktion stark gemacht werden, das bei Hirsch in den Hintergrund zu rücken droht. S. o., 117, Anm.  455. 336  Die folgenden Ausführungen verbinden Hirschs geschichtshermeneutische Argumentation zur kulturellen Prägekraft der Toten mit seinem Konzept religiöser Gleichzeitigkeit, in der der Mensch sein Verhältnis zum Anderen im Medium seiner Gottesbeziehung versteht und sich dadurch vom Anderen existenziell betroffen weiß. Ein derartiges Verhältnis ist bei Hirsch durch seine Gnadenhaftigkeit und durch die Perspektive der Vollendung gezeichnet. 337  S. o., 114. 338  HchR, 353. 339  Einander lieben zu können ist mit Hirsch eine Dimension der Vollendung, mit der die „Unendlichkeit des Gefordertseins zur Liebe gegeneinander“ erfüllt wird und „die Unwiderruflichkeit des einander nicht Genügens und einander zum schicksalhaften Gesetz Werdens“ ein Ende hat (ChR II, 88). 334 

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Lebenden für die mit dem Bild vermittelten Ideale in die Pflicht nimmt und – indem dieser die Ideale zu seinen eigenen macht, sie „ins eigene Leben“ übersetzt340 – den kreativen Selbstvollzug freisetzt. Auf diese Weise kann auch das Gottesverhältnis der Toten das Gottesbild der Lebenden prägen. Dieses ist freilich von der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott bestimmt – insofern ist nur eine solche Form der religiösen Prägekraft dem christlichen Glauben angemessen, die den Lebenden zur Ausbildung eines ursprünglichen, eigenen Gottesverhältnisses freisetzt.341 Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist die Liebe, die sowohl hingegeben ist als auch den Anderen frei sein lässt342 , das entscheidende Kriterium für die irdische ‚Lebendigkeit‘ der Toten. Der Einfluss der Toten auf die Lebenden kann, im Gegensatz zu einer gnadenhaften, entbindenden Erfahrung ihrer Gegenwart, nicht gewollt oder sogar lähmend sein. In dem Fall kann, an Hirsch anschließend, aus der Perspektive des christlichen Glaubens nicht von ihrer Lebendigkeit gesprochen werden, weil diese den Kriterien der gegenseitigen Liebe und der damit verbundenen Möglichkeit der produktiven Selbstentfaltung entsprechen muss. Hier bedeutet die Entzogenheit der Toten, dass die Lebenden ihnen gegenüber gewissermaßen das Recht besitzen, sich von ihren Ansprüchen frei zu machen, indem sie sie in der Vergangenheit belassen. Neben der theologischen Reflexion auf die möglicherweise problematischen Implikationen der Ganztodthese für den Umgang mit den Sterbenden gestaltet sich die kirchliche Aufgabe vor dem Hintergrund der praktisch-theologisch kritisierten Exklusion der Sterbenden erstens so, dass sie Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung und bewussten Gestaltung von Beziehungen am Lebensende eröffnet.343 Sie wirkt einer Depersonalisierung der Sterbenden – die den sozialen Tod vor dem eigentlichen Tod hervorrufen würde – entgegen, indem sie 340 

Zw, 229. ist ausgeschlossen, dass das Verhältnis der Lebenden zu den Toten die Form einer auf ein unmittelbares Gottesverhältnis verzichtenden Heiligenverehrung annimmt. 342  Kreativität und Hingabe, freiheitliches Schaffen und Liebe sind für Hirsch die Kriterien des Personbegriffs, s. o., 1.B.a, 44 ff. 343  Auf diese Aufgabe des christlichen Glaubens verweist auch nachdrücklich Eberhard Jüngel. Von der praktisch-theologischen Kritik an seiner Todesdeutung her stellt sich allerdings die Frage, ob die „Angst vor dem Tode“ als „Angst vor Beziehungslosigkeit“ allein durch die „Sorge für das Leben“ (Jüngel, E.: Der Tod in christlicher Perspektive, in: K linger: Perspektiven, 183–192, hier: 191) bewältigt werden kann oder ob nicht – wie bei Hirsch – eine Todesdeutung bemüht werden muss, die von der eindeutigen Definition des Todes als Verhältnislosigkeit Abstand nimmt. Jüngel selbst relativiert diese These, indem er argumentiert, dass im Tod zwar die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen und die Beziehung zu Gott ende, dass aber die Beziehung Gottes zum Menschen bestehen bleibe (a. a. O., 187). Es ist m. E. nicht nachvollziehbar, wie eine Beziehung – die per definitionem aus zwei Relaten besteht – nur von einem Relat her gedacht werden kann. 341  Damit

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Sterbenden einen Kommunikationsraum eröffnet, der sie aus der sozialen Isolation herausführt und sie nicht in der Rolle des Patienten aufgehen lässt, sondern sie Person sein lässt. Sie hilft dabei, ungeklärte Fragen und Härten zwischenmenschlicher Beziehungen vor dem Tod zu bearbeiten, und bereitet damit eine heilvolle Beziehung zu den Toten bestmöglich vor. Wird der theologischen Argumentation für eine bestehen bleibende Beziehung der Lebenden zu den Toten zugestimmt, können zweitens in der kirchlichen Trauerbegleitung Impulse zur angemessenen, nicht pathologischen Gestaltung dieser Beziehung gegeben werden. In jeder Hinsicht ist die Zäsur des Todes deutlich zu machen, die zum einen das Abschiednehmen, den Trauerprozess und letztlich das Weiterleben ermöglicht,344 die zum anderen darauf verweist, dass die Form des Weiterlebens der Toten – sowohl das Leben bei Gott als auch das davon unterschiedene ‚Lebendigsein‘ in der Erinnerung – nicht bruchlos, sondern durch den Tod gebrochen ist. Auf theologischer Ebene wird dieser Bruch mit dem Gedanken des göttlichen Gerichts eingeholt, dessen gnädige Zielrichtung, die Vollendung der Toten bei Gott, allerdings den Lebenden verborgen ist und das deswegen aus ihrer Perspektive zuerst als sinnloser Abbruch erfahren wird. Die aus diesem Abbruch hervorgehende Erneuerung des Lebens der Toten muss mit Hirsch nicht ausschließlich jenseitig und im Medium der Gottesbeziehung gedacht werden, sondern kann auch auf das Verhältnis der Lebenden zu den Toten bezogen werden. Die Doppelheit von Bruch und Erneuerung, die sich mit dem Gerichtsgedanken verbindet, spiegelt sich auf der Ebene menschlicher Erfahrung mit den Toten so wider, dass die Lebendigkeit der Toten eine andere ist als zu Lebzeiten. Sie sind nicht mehr raumzeitlich als in gewissem Maße verfügbares Gegenüber gegenwärtig. Sie können von den Lebenden nicht festgehalten werden. Sie stehen nicht als direkte Gesprächspartner zur Verfügung. Auf sie und ihr ewiges Leben – das sich von ihrer Gegenwart für die Lebenden unterscheidet und das den Lebenden entzogen, das allein bei Gott ist – kann kein Einfluss genommen werden – das ist aus reformatorischer Sicht zu betonen. Sie können zudem selbst nicht mehr handeln, wirken jedoch weiter, indem sie das Leben der Hinterbliebenen prägen. Sie sind aber mit Hirsch nur dann ‚lebendig‘, wenn sie in zugleich verpflichtender und entbindender Art und Weise an den Lebenden wirken. Das, was das Leben ausmacht, sind mit Hirsch die hingebende Liebe und die Möglichkeit produktiv-kreativer Selbstentfaltung. Liebe zu den Toten nimmt in die Pflicht und bestimmt gleichzeitig die Sicht auf das Leben der Toten, Produktivität zeichnet das selbstständige, gegenüber den Toten freie Sein der Lebenden 344 Vgl. Lütze: Lehre uns bedenken, 473; Schneider‑H arpprecht: Die kirchliche Bestattung, 38 f.

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aus – die Sicht der Lebenden auf die Toten ist frei und das eigene Leben kann zwar an den durch die Toten vermittelten Idealen ausgerichtet sein, diese regen aber zugleich die produktiv-kreative Selbstentfaltung an. Diese beiden Merkmale können als Kriterien einer angemessenen Beziehung der Lebenden zu den Toten gelten, um deren Erschließung es in diesbezüglichen kirchlichen Vollzügen gehen sollte.

b) Die Angst vor der gnadenlosen Erinnerung Die Liebe zu den Toten ist durch die relative Abhängigkeit ihrer ‚irdischen Lebendigkeit‘ von den Lebenden gefährdet – womit eine Grenze der Vorstellung des Weiterlebens in der Erinnerung markiert ist.345 Diese stellt nämlich ein Ungleichgewicht in der Beziehung her, das die Lebenden u. U. zur lieblosen Selbstbehauptung animiert: Die Toten sind auf das innere Zwiegespräch der Lebenden mit ihnen angewiesen, um immanent ‚lebendig‘346 zu werden, und deren Sicht auf ihr Leben gewissermaßen ausgeliefert. Dem wird versucht entgegenzuwirken durch die vom Toten zu Lebzeiten gesteuerte künstlerische Selbstverewigung, die aber durch ihre Angewiesenheit auf Rezeption ebenfalls variabel ist. Auch die analoge Vorgehensweise, sein Leben im mit der Signatur der Ewigkeit und Allmacht versehenen World Wide Web zu inszenieren oder gar seine eigene Gedenkseite ‚vorzubereiten‘, ist als Versuch zu werten, das Bild der Anderen von mir selbst noch aus dem Tod heraus zu steuern. Das eigene Leben soll von den Hinterbliebenen als gelungen wahrgenommen werden. Es soll der Eindruck hinterlassen werden, dass der Tote ein intelligenter und kluger Kopf347 war, dass er in seinem Leben produktiv war, dass er etwas Bedeutsames für die Nachwelt geschaffen hat oder schlicht dass er ein glücklicher bzw. „fröhlicher“348 Mensch war. 345 

Die andere Grenze liegt einerseits im Tod der Angehörigen, in deren Herzen der Gestorbene weiterlebt und deren Herzen nicht auf ewig weiterbestehen werden (their hearts won’t „go on and on“, vgl. Mottozitat zu Beginn dieses Abschnitts), und andererseits in der naturwissenschaftlichen These, dass das irdische Leben der Menschheit nicht unbegrenzt weitergeht, sondern dass ihr der Untergang bevorsteht. S. u., 10.C, 405 ff. 346  Für das ewige Leben der Gestorbenen bei Gott trägt die Einstellung der Lebenden zu den Toten aus der Sicht des reformatorisch-christlichen Glaubens nichts aus, weswegen hier die Betonung auf der immanenten Seinsweise liegt und die Lebendigkeit nur im uneigentlichen Sinne verstanden werden kann. 347  Vgl. z. B. die Aussage vom „Die Prinzen“-Sänger Sebastian Krumbiegel in der Aktion „Lebensblicke“ (s. o., 385, Anm.  315): „Von mir soll in Erinnerung bleiben…, dass ich ein hübsches und intelligentes Kerlchen war.“ 348  Vgl. das Motto-Zitat am Beginn dieses Abschnitts. Es ist auffällig, dass „Fröhlichkeit“ offensichtlich von einigen als Indikator für ein gelungenes Leben genannt wird. Es wäre in-

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Die Ohnmacht, die der Tod mit sich bringt, wird hier konturiert durch die Angst vor der Unmöglichkeit, das Bild der Anderen von mir selbst durch eine veränderte Selbstdarstellung korrigieren zu können, auf die Angst davor, die unliebsamen Aspekte des eigenen Lebens nun nicht mehr verstecken zu können, auf die Angst vor dem schamlosen Voyeurismus des Anderen, der nun angesichts der Ohnmacht der Toten die Möglichkeit hat, deren Leben in seiner Unvollkommenheit vor aller Welt öffentlich zu machen, auf die Angst davor, dass der Andere das eigene Leben nun endgültig als verfehltes bewerten kann, auf die Angst vor der Selbstgefälligkeit des Anderen, der die Toten nun mit seinem Bild von ihnen ganz für sich vereinnahmen kann. Nicht nur die zwischenmenschlich-gerichtliche Dimension der „Verschlossenheit“ wird mit dem Tod als Erfahrung der radikalen Entzogenheit des Anderen potenziert, auch die gegenseitige „Härte“349 wird an ihr Äußerstes gebracht: Das Gefühl des Ausgeliefertseins an den Anderen kann nun nicht mehr durch Versuche des Selbstschutzes bekämpft werden, weil der Tote dieser Möglichkeit beraubt ist.350 Gegenüber der Angst vor der gnadenlosen „Fixierung des Lebens“351 des Verstorbenen durch die Lebenden kann mit Hirsch die Geheimnishaftigkeit und Entzogenheit des eigenen Lebens betont werden: Der Blick der Anderen auf das teressant, dem tiefer nachzugehen, was damit ausgesagt ist. An dieser Stelle seien nur einige Andeutungen gemacht. Im Altersratgeber Heymann, D.: Fröhlich altern: Nützliche Tipps für ein erfülltes Leben, München 2014, wird ein fröhliches offensichtlich mit einem gesunden und vitalen – im Gegensatz zu einem kränklichen – (a. a. O., 195), mit einem schönen, guten und gelingenden (a. a. O., 201), mit einem glücklichen (a. a. O., 225) Leben gleichgesetzt. Das Glück wird hier allerdings nicht als objektive Größe, sondern als eine Lebensperspektive markiert: „Das Glück liegt in uns selbst. Es sind nicht die Umstände, die über unser Glücklichsein entscheiden“ (a. a. O., 26). Demnach würde der Wunsch als fröhlicher Mensch erinnert zu werden, die Hoffnung ausdrücken, in jeder Lebenslage eine fröhliche Perspektive auf das Leben einnehmen und so das Leben als ein zwar an einigen Punkten nach einem äußerlichen Maßstab brüchiges insgesamt aber gelungenes – weil vom fröhlichen Menschen als das eigene Leben angenommenes – wahrnehmen zu können. Theologisch ließe sich diese Charakterisierung gelungenen Lebens von einem breiten biblischen Befund her vertiefen: Hier reichen die Konnotationen des Fröhlichseins bzw. der Freude von profaner, kultischer und festlicher Freude über das Gefühl der Dankbarkeit für das Leben bis hin zu einer eschatologischen Freude des Glaubens, die im Hier und Jetzt ein Ausdruck der Hoffnung auf Voll­ endung ist (vgl. Conzelmann, H.: Art. χαίρω, χαρά, συγχαίρω, in: ThWNT IX, Stuttgart u. a. 1973, 350–362). 349  ChR II, 37. S. o., 3.B, 136 ff. 350 Vgl. die Aussage Jean-Paul Sartres: „Totsein heißt, den Lebenden ausgeliefert zu sein“ (Sartre: Das Sein, 934). Parallel wird die Verdinglichung durch den fremden Blick als „Tod meiner Möglichkeiten“ (a. a. O., 487) erlebt, als Schwelle hin zu einer entfremdeten Existenz, in deren Vollzug ich „mich durch mein Draußen lehren [lasse], was ich sein soll“ (vgl. a. a. O., 513 ff. Für das Zitat: 518). 351  Wagner-R au: Er ist nicht hier, 477.

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eigene Leben ist immer subjektiv, vielfältig und wandelbar, es kann durch die notwendig eingenommene Außenperspektive nie vollkommen erschlossen werden. Auch die erinnernde Vergegenwärtigung bleibt unvollkommen, bildhaft, eine höchst imaginative Rekonstruktion gelebten Lebens, die nicht in der Lage ist, abzubilden, ‚was war‘ und die durch Selektion und Anordnung der erinnerten Erlebnisse unter einer bestimmten Deutungsperspektive höchst subjektive und dennoch um einen Sinnzusammenhang bemühte Akzente setzt.352 Mit dem Bild des Gerichts kann außerdem ein gnadenhafter Blick auf das menschliche Leben eröffnet werden. Der christliche Glaube wird von der Hoffnung geleitet, dass das als brüchig, schuldhaft und an manchen Punkten unabgeschlossen wahrgenommene Leben des Gestorbenen noch nicht das ganze Bild zeigt und dass dieser mit seinem Tod in einer vollendeten, dem Menschen nicht vorstellbaren Art und Weise bei Gott ist. Diese Hoffnung hat ihren theologischen Ausdruck mit Hirsch im Gedanken der Bestimmung des Menschen zu seinem wahren Wesen, die sich nicht auf konservierte endliche Bilder fixieren lässt, sondern mit dem Bild der Gottebenbildlichkeit eine ewige, unverfügbare Perspektive eröffnet. Über Hirsch hinausgehend kann auf der Ebene der glaubenspraktischen Bildproduktion der unvollkommenen und manchmal gnadenlosen menschlichen Erinnerung die Vorstellung vom Gedenken Gottes353, der 352 Vgl. Zillessen, D.: Am Rande der Vergangenheit. Über die Inszenierung der Erinnerung, in: BThZ 23/1 (2006), 42–65, hier: bes. 45; Friedrichs, L.: Gott „freiphantasieren“. Ästhetische Impulse für biographische Bestattungspredigten, in: ZThK 101/3 (2004), 358–378, hier: 360. Friedrichs weist zudem auf die besondere beerdigungshomiletische Si­ tua­tion hin, in der die Perspektiven der deutenden und erzählenden Hinterbliebenen, der diese Erzählung unter einem bestimmten Gesichtspunkt hörende und sie neu erzählende Predigende und die diese Erzählung wiederum ganz unterschiedlich hörenden und deutenden Adressaten der Predigt miteinander verschränkt sind (a. a. O., 360 f.) und die dementsprechend durch eine jeglichem absoluten Deutungsanspruch zuwiderlaufende Multiperspektivität auf die Lebensgeschichte des Verstorbenen gekennzeichnet ist. Für die Beerdigungshomiletik nimmt Friedrichs Anregungen der im 20. Jh. dem Ideal der „Konsistenz und Konti­ nuität einer zielstrebig sich entfaltenden Lebensgeschichte“ gegenläufige Form der Autobiographik auf, die vom „Bewußtsein des Fragmentarischen“ geprägt ist und „für eine offene und sich schwierig gestaltende Sinndeutung“ plädiert, mit der sie dem Leser „Mut zur eigenen Stellungnahme und zur eigenen Selbstbestimmung macht“ (a. a. O., 365). 353  Das schlägt auch Kristian Fechtner vor (Fechtner: Kirche, 78–80). Das an die alttestamentliche Überlieferung anknüpfende Bild vom Gedenken Gottes (vgl. Schüle, A.: Gottes Handeln als Gedächtnis. Auferstehung in kulturtheoretischer und biblisch-theologischer Perspektive, in: Eckstein, H.‑J./Welker, M. (Hgg.): Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, 237–276), das von einigen Predigenden für die Thematisierung der eschatologischen Wirklichkeit genutzt wird (so zumindest von 20% der württembergischen PfarrerInnen nach Weyel: Lebensdeutung, 127–129), wurde theologisch v. a. von Barth, Elert, Pannenberg, Jüngel, Thielicke als „funktionales Äquivalent“ für den Seelenbegriff im Kontext der Ganztodvorstellung aufgenommen (Belege bei Henning: Wirklich ganz tot,

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durch das Gericht hindurch einen gnädigen, ganzheitlichen, verwandelnden, vervollkommnenden Blick auf das Leben des Menschen hat, gegenübergestellt werden.354 Die Hoffnung auf die vollkommen erschlossene und dennoch den Anderen selbst sein lassende Begegnung von ‚Angesicht zu Angesicht‘ (1Kor 1312), auf die Vollendung auch der zwischenmenschlichen Beziehungen ist in die Vollendungsgewissheit mit eingeschlossen.

c)  Die Unvollkommenheit gelebten Lebens und seiner Beziehungen Die Sehnsucht nach Vollendung kann nicht nur auf der Seite der Sterbenden vermutet werden, sondern auch die Hinterbliebenen haben u. U. den Wunsch danach, dass das Leben des Gestorbenen als gelungenes Leben erinnert werden kann. Der Drang zur Harmonisierung von Lebensgeschichten durch die Hinterbliebenen ist trotz seiner Tendenz zur Verwischung der problematischen Seiten des gelebten Lebens theologisch nicht vollständig zu disqualifizieren, sondern als der Wille zu interpretieren, daran festzuhalten, dass der Verstorbene ‚trotz allem ein guter Mensch’ war. Auch die theologische Perspektive auf das menschliche Leben hält trotz dessen schuldhafter Verstrickung, trotz allen Scheiterns an der Menschlichkeit des Menschen fest, indem sie auf seine Bestimmung zur Vollendung verweist. In diesem Sinne zielt die Hirsch’sche Dialektik zwischen Unglaube und Glaube, zwischen fragilem, widersprüchlichem und vollendetem Selbstsein darauf, in der unvollkommenen Form menschlichen Lebens Spuren seiner Bestimmung freizulegen. Sie setzt der Selbstvernichtung des Menschen 242–244). An dieser Stelle geht es allerdings nicht um die logische Lösung des Problems der Kontinuität der menschlichen Identität, sondern um die Kontrastierung der menschlichen, u. U. gnadenlosen Erinnerung und der digitalen Fixierung menschlicher Lebensgeschichte mit dem glaubenspraktischen Bild des göttlichen ‚Gedenkens‘. Ergänzend kann hier auch auf die Parallelität des World Wide Web zur Vorstellung vom ‚Buch des Lebens‘ hingewiesen werden (vgl. Graf: Todesgegenwart, 19 f.). Diese verbildlicht aber nicht nur die ewige Einzeichnung der menschlichen Geschichte (Lk 1020), sondern stellt auch die Möglichkeit vor Augen, aus dem Buch des Lebens gelöscht zu werden (Ps 6929; Apk 35) bzw. dass der Name mancher gar nicht erst verzeichnet ist (Apk 178; 2015). – Das ist die problematische Dimension des Bildes, die mit bedacht werden und im Blick auf die Frage nach dem Ausgang des Gerichts reflektiert werden muss. 354  Der Versuch, das Bild Gottes vom Menschen zu fixieren, muss aufgrund seiner Unverfügbarkeit scheitern. Die Vorstellung, dass Gott sich das wahre Bild vom Menschen macht, dient als Kritik aller menschlichen Bilder vom Menschen. Es geht darum „den Anderen […] mit anderen als den gewöhnlichen Augen“ zu sehen, „nämlich so […], wie Gott ihn gemeint und gewollt hat“, wie er „selbst in diesem ihm eigenen Lebensauftrag sein könnte“. Zugleich kann „dieses Sehen des Nächsten […] nichts mehr und anderes sein als eine beharrliche, aber offene, änderungswillige Vermutung, zugewandt dem Anderen in seinem Anderssein“ (Koch: Mit Gott leben, 198 f.).

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in seiner inneren Unruhe und Rastlosigkeit, in seinen Zweifeln, in seiner Angst und Verzweiflung, in seiner Schuld- und Schamhaftigkeit nicht noch eine zweite, theologisch mahnende Vernichtung hinzu. Sondern sie nimmt zwar die Fragilität des menschlich-zeitlichen Lebens ernst, indem sie diese als dessen Wahrheit thematisiert, deckt aber im Leben dieses Menschen selbst Potenziale auf, die auf seine Bestimmung zur Vollendung verweisen.355 Dabei kann auch die Zäsur des Todes – mit der die Entzogenheit der Toten für die Lebenden markiert wird – in positiver Hinsicht die Hinterbliebenen sowie die Predigenden entlasten, indem sie ihren Anspruch auf eine vollständige, vollkommene Erinnerung der Verstorbenen relativiert. Das Erzählen der Lebensgeschichte ist dementsprechend als „Suche nach dem letzten Sinn“356 charakterisiert, ohne dass sie aus theologischer Perspektive das Ziel haben kann „einen solchen zu finden oder zu setzen“357. Der Ausspruch „Du lebst in unseren Herzen weiter“ kann in diesem Sinne so gelesen werden, dass die Herzensmetapher gegenüber der Vorstellung eines Fortlebens in der „bewusste[n] Erinnerung“358 auf das erzählerisch nicht einzufangende ‚Mehr‘ einer menschlichen Lebensgeschichte verweist: Sie führt die über das rational Verfügbare hinausgehende „Gemeinschaft der Herzen“359, eine innere „Verbundenheit“360 des Lebenden mit dem Toten vor Augen, durch die „der Verstorbene zu ihm, zu seinem Leben in der Zeit“361 gehört. Die Perspektive der Vollendung bedeutet nicht, im Modus der Erinnerung auf die Thematisierung von Unvollkommenheit zu verzichten und allein dankbar und harmoniebedürftig auf das gelebte Leben zurückzublicken. Die Möglichkeit einer erinnernden Rekonstruktion von Lebensgeschichte mit dem Anspruch auf Vollkommenheit ist allein schon wegen der Multiperspektivität der Deutun355 Lutz

Friedrichs plädiert dementsprechend aus beerdigungshomiletischer Hinsicht dafür, „diesem grundlegenden Bedürfnis zunächst zu entsprechen und das Gute als das Bergende […] aufzusuchen“. Darin sieht er „eine Form segnenden, im Wortsinn gut-sprechenden Handelns der Kirche“ (Friedrichs: Gott freiphantasieren, 369). 356  A. a. O., 376; Herv. A.‑M. K. 357 Ebd. 358  Koch: Das ewige Leben, 119. 359  Zw, 294. 360 Ebd. 361  Koch: Das ewige Leben, 119. Koch schreibt weiter: „In der Kraft des Herzens ist er mit dem von ihm Geschiedenen verbunden: in der Kraft des Herzens, das die Verbundenheit hält, selbst wo nichts mehr zu hören und zu sehen, nichts mehr mit Händen zu fassen ist. […] – So gehören alle Dahingegangenen, ‚Tote‘ genannt, deren wir in Liebe gedenken, zu unserem Leben.“ Koch macht ähnlich wie Hirsch die Liebe zum Kriterium der Verbundenheit von Lebenden und Toten und zielt mit der Aussage auf die hier weiter unten thematisierte communio sanctorum: „Weil sie selbst leben, bei Gott leben, deshalb und so leben sie in unserem Herzen.“

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gen eines individuellen Lebens in der Vielzahl seiner Beziehungen nicht möglich. Der praktisch-theologisch kritisierte Drang zur Harmonisierung von Lebensgeschichten in der Bestattungspredigt ist zudem gerade nicht gnadenhaft, sondern setzt erstens unter Druck, das eigene Leben auf dieses scheinbar vollkommene Bild hin eigenmächtig zu entwerfen362 , und lässt zweitens die Hinterbliebenen mit Erinnerungen an problematische Erfahrungen mit den Toten allein. Praktisch-theologisch wird deswegen ein „Plädoyer für das Fragment“363 eingefordert und der Modus „eines gütigen Realismus‘“364 empfohlen, in dem die göttliche „Zusage“365 auch angesichts von Brüchen und schuldhaften Verstrickungen thematisiert und dieses widersprüchliche Leben in den Horizont seiner „Rechtfertigung“366 durch die Gnade Gottes gestellt wird367 – wobei „das bilanzierende Urteil Gott vorbehalten“368 bleibt. Durch die Offenheit der Sinndeutung werden die Hinterbliebenen zur eigenen Deutung angeregt. Mithilfe von Hirschs Bestimmungen zu der Spannung zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Verschlossenheit und Erschlossenheit, zwischen Selbstbehauptung und Hingabe, zwischen Schuldigwerden und Liebe, zwischen Gericht und Gnade und mit seinen Überlegungen zur Art und Weise der irdischen ‚Lebendigkeit‘ der Toten kann dieser Modus theologisch reflektiert werden. Sind die Hinterbliebenen an den Verstorbenen schuldig geworden, so kann das Schuldgefühl nicht mehr im Gespräch mit dem Anderen bearbeitet werden und die Möglichkeit einer Vergebung oder der ‚Wiedergutmachung‘ durch den Schuldigen scheint nicht mehr gegeben zu sein. Von Hirsch her ist mit der theologischen Einsicht in das Wahrheitsmoment des Gesetzes – der Mensch ist 362  Diese Stoßrichtung wird häufig weltlichen Bestattungsreden zugeschrieben, womit die entscheidende Differenz zur theologischen Thematisierung gelebten Lebens offengelegt werden soll (R euter, I.: Totenrede, 172–174; vgl. Drehsen: Tod, 218 f.). 363  Friedrichs: Gott freiphantasieren, 368. 364  Lütze: Lehre uns bedenken, 478. 365  R euter: Totenrede, 174. 366  Gräb: Lebensgeschichten, 197. Vgl. Gräb, W.: Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der Amtshandlungen, in: PTh 76 (1987), 21–38, hier: 33: Es geht darum, „diese Lebensgeschichte nicht in dem aufgehen zu lassen, was ihr empirisches Subjekt daraus zu machen versteht bzw. gemacht hat“ und „deshalb jedem Anspruch auf Selbstrechtfertigung“ zu widerstreiten. 367 Vgl. A lbrecht, C.: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006, 227 f. Vgl. Kristian Fechtners auf die Würdigung des menschlichen Schamgefühls abhebende Empfehlung: „Es gilt, eine Lebensgeschichte so zur Sprache zu bringen, dass sie als Geschichte eines individuell gelebten Lebens kenntlich und vor Gott gebracht wird, ohne sie preiszugeben und zu verraten. […] Auch die biographisch ausgelegte Predigt hat damit Anteil an der Dialektik von Zeigen und Verbergen.“ (Fechtner: Diskretes Christentum, 131.) 368  Friedrichs: Gott freiphantasieren, 376.

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schuldig, behauptet sich selbstsüchtig gegenüber dem Anderen, ist vom Anderen durch seine Verschlossenheit getrennt – dieses Schuldeingeständnis ernstzunehmen und zu unterstreichen. Mit der durch das Evangelium vermittelten Gewissheit des Glaubens, dass Gott dem Menschen gnadenhaft zugewendet ist, ist das aneinander-schuldig-Gewordensein allerdings nicht als letztes Wort über die menschlichen Lebensbeziehungen zu nehmen. Sondern zwischenmenschliche Beziehungen können gnadenhaft durch die Ewigkeitsdimension der Liebe geprägt sein, die auf ihre Vollendung angelegt ist. Aus der zeitlichen Perspektive des Glaubens der Hinterbliebenen sind die Toten bereits in vollendeter Weise bei Gott. Diese Gewissheit kann durch die Hoffnung begleitet sein, dass die Toten nun mit dem Blick Gottes auf ihre Hinterbliebenen sehen und mit Gott erkennen, dass diese ihnen in Liebe begegnen wollten, aber nicht immer konnten. Die Hoffnung auf den gnädigen Blick der Toten knüpft dabei an Erfahrungen der vergebenden Liebe im zeitlichen Leben an. Sind die Verstorbenen an den Hinterbliebenen schuldig geworden, so werden letztere u. U. von traumatischen Erinnerungen überfallen, „heimgesucht“369, sie würden gern die Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, vergessen, sie scheinen aber den Toten immer noch schutzlos ausgeliefert, so wie zu Lebzeiten. „Die Heimsuchung unterbricht die Möglichkeit zu vergeben, weil sie den Heimgesuchten entmächtigt.“370 Eine theologisch beworbene ‚Lebendigkeit‘ der Toten kann in dem Fall nur als bedrohliche Unterstützung der Täter erscheinen. Das Ziel seelsorglicher Arbeit, neue Handlungsoptionen zu eröffnen, indem der Klient von der traumatischen, ihn in der Erinnerung unkontrolliert überwältigenden und ihn fesselnden Erfahrung befreit wird, muss theologisch unterstützt werden. Hier ist darauf zu verweisen, dass die Toten aus der Sicht des christlichen Glaubens im Leben der Hinterbliebenen nur ‚lebendig‘ werden können, wenn die Erinnerung an sie kreativ-produktive Selbstständigkeit entbindet, die im Falle der postmortalen Fremdbestimmung der Lebenden gerade nicht gegeben ist. Deswegen ist in diesem Fall die entlastende Aussage vom Totsein der Toten stark zu machen: Der Tote kann die Lebenden aus der Perspektive des christlichen Glaubens nicht – in gesetzhafter Art und Weise – vollständig in seine Gewalt nehmen. Das Evangelium verheißt: Die Lebenden sind frei, neue, von ihm unabhängige Beziehungen zu gestalten. Gleichzeitig wird aus der Perspektive des christlichen Glaubens die Hoffnung formuliert, dass dem Menschen irgendwann – in diesem oder im ewigen Leben371 – „das fast Übermenschliche gelingt“372 , aus der Kraft des Evangeliums 369 

Zillessen: Am Rande, 45.

370 Ebd.

371 In der gegenwärtigen theologischen Diskussion um das Jüngste Gericht wird die eschatologische Hoffnung häufig als eine Hoffnung auf die Insrechtsetzung der Opfer thema-

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heraus vergeben und den Anderen anders sehen zu können, als er sich an ihnen erwiesen hat – „im Glauben daran, dass ihm im Tod von Gott vergeben ist“373. Der mit der Evangeliumsoffenbarung eröffnete gnadenhafte Blick auf das Leben kann zu einer im uneigentlichen Sinne neuen Erfahrung mit den Toten führen: Durch den dem Glaubenden über Jesus gnadenhaft und unverfügbar zuteil werdenden Blick Gottes kann eine neue, nicht gekannte, gnädige Perspektive auf das Leben der Toten eröffnet werden, indem dieses – das zu Lebzeiten immer durch Verschlossenheit geprägt war und das mit dem Tod endgültig entzogen zu sein scheint – in seiner Wahrheit offengelegt wird. Unabhängig von der Intensität der negativen Erfahrungen der Hinterbliebenen mit den Verstorbenen ist die christliche Botschaft von der Vergebung u. U. eine Zumutung, insbesondere in der frühen Phase der Bearbeitung der unabgeschlossenen Beziehungsgeschichte, in die die Beerdigung fällt.374 Mit Hirsch ist tisiert (Beintker: Gottes Urteil, 222–224; Wenz: Von den letzten Dingen, 13; Etzelmüller, G.: Realistische Rede vom Jüngsten Gericht. Erkenntnisse im Anschluss an Karl Barth, in: EvTh 65 (2005), 259–276; Thiede: Fegefeuer, 1035; Frettlöh: Ja den Namen, 163–165) und eine Versöhnung zwischen Tätern und Opfern, die in der Erfahrung der Vergebung Gottes gegründet ist, als Zumutung für die Opfer empfunden. Auf diese gerade vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen des 20. Jh. virulent werdende Problematik (vgl. die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Auschwitz-Argument bei Tück: In die Wahrheit kommen, 117–119) verweist z. B. Gregor Etzelmüller. Eine universale Versöhnung aller hält er für problematisch, weil so letztlich die Aufgabe bei den Opfern läge, ihren Tätern zu vergeben und „damit den Opfern erneut Gewalt“ angetan werde, sie zum zweiten Mal viktimisiert würden. „Parteinahme für die Opfer muss deshalb in der Theologie heißen, sich einer Gerichtskonzeption entgegenzusetzen, die den Opfern zumutet, letztlich vergeben zu müssen.“ (Etzelmüller: Die Bedeutung, 99.) Ein solcher Konditionalismus bzw. Konsequentialismus läge der theologischen Argumentation in der Tat fern, dennoch ist der Hoffnung auf Versöhnung (die eben gerade nicht den Anspruch hat, zu sagen, wie es einst sein wird) zugute zu halten, dass sie mit dem Glauben an die „eschatologische Überzeugungsmacht“ (Tück: In die Wahrheit kommen, 120) der Liebe Gottes, welche Täter und Opfer dazu befähigt miteinander zu leben, und mit der Vorstellung, dass Jesus das Bild des wahren Menschen vor Augen führt, dem die Vollendeten gleich sind, ernst macht. Ob letztlich nicht doch ein Täter unwillig ist, seine Schuld einzusehen und damit Vergebung unmöglich macht und ein Opfer aufgrund seiner unerträglichen, erlittenen Traumatisierungen nicht in der Lage ist, zu vergeben und das ‚Vergessen-Können‘, sich endlich von den es bis in den Traum verfolgenden Erinnerungen freimachen zu können, der einzig mögliche Weg der Heilung ist (so der Vorschlag bei Etzelmüller: Die Bedeutung, 97 f.; Frettlöh: Ja den Namen, 162; Janowski: Apokatastasis, 266), muss dabei freilich offen bleiben. 372  Koch: Das ewige Leben, 115. 373 Ebd. 374  Zum Zeitpunkt der Beerdigung gestaltet sich im Trauerprozess meist der Übergang von der kontrollierten Phase, in der sich die Hinterbliebenen als emotional distanziert erfahren (Spiegel, Y.: Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1973, 63–65), zu der Phase der Regression (a. a. O., 66–75), in der „eine stark erhöhte Emotionalität“ (a. a. O.,

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darauf zu verweisen, dass jegliche Illusion, dieses Ziel von sich aus vollständig erreichen zu können, und deswegen auch jeder Imperativ der Vergebung375 unangemessen ist. Die „grundlos vergebende[ ] Liebe“376 ist zuerst ein Attribut Gottes, das über das Menschsein Jesu den Menschen auch als deren (vollendete) Seinsmöglichkeit eröffnet wird. Für den Anderen auf diese Art und Weise da sein zu können scheitert menschlich an der Tendenz, den Anderen auf eine bestimmte Seite seines Seins zu fixieren, an dem Bedürfnis, sein eigenes Recht zu behaupten und an der Angst davor, vom Anderen vereinnahmt zu werden, wenn man ihm ein Zugeständnis solcher Art macht. „Die Aufgabe“, zwischenmenschliche Beziehungen in Jesu und Gottes Sinn zu gestalten, „ist unerschöpflich und vollbringt sich in ständigem Werden“377. Sie ist auf die gnadenhafte Ermöglichung durch Gott selbst angewiesen. Das auf die gemeinsame Lebensgeschichte 68) zu verzeichnen ist und in der sich die Hinterbliebenen mit dem Leben der Verstorbenen intensiv auseinandersetzen. „Die Frage der Schuld gewinnt in der regressiven Phase ein erhebliches Gewicht.“ (A. a. O., 71.) Auch wenn ein solches Phasenmodell vor dem Hintergrund der neueren Kritik obsolet erscheint (vgl. Lammer: Fortschritte, 35), so erstreckt sich der Trauerprozess der neueren Trauerforschung zufolge mindestens über drei bis fünf Jahre, manchmal dauert er das ganze Leben lang – die Beerdigung ist am Anfang dieses Prozesses zu verorten (a. a. O., 37). 375  Die Worte zum „Abschied“, die die Bestattungsagenden bereitstellen, sind durch einen solchen Imperativ der Vergebung geprägt: Die lutherische Agende gibt zwei alternative Formulierungsvorschläge (K irchenleitung der VELKD (Hg.): Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden Band III. Die Amtshandlungen Teil 5. Die Bestattung, Hannover 1996, 38 u.ö.): „Wer ihr/ihm etwas schuldig geblieben ist an solcher Liebe in Worten und Taten, bitte Gott um Vergebung. Und wem sie/er wehgetan haben sollte, verzeihe ihr/ihm.“ Oder: „Wir denken an das, was wir ihr/ihm schuldig geblieben sind und an das, was wir ihr/ ihm nun zu vergeben haben.“ In den für das „persönliche[ ] Gedenken“ vorgesehenen Worten der unierten Agende wird der Imperativ beibehalten, aber in Anlehnung an das Vaterunser an Gottes Vergebung zurückgebunden: „Und wer sich von ihr/ihm verletzt fühlt, vergebe ihr/ ihm, wie auch Gott uns vergibt, wenn wir ihn darum bitten“ (K irchenkanzlei der UEK: Bestattung, 83 u.ö.). In den Textvarianten für das Gebet nach der Predigt, das in seinem Grundvorschlag der lutherischen Agende durch die Perspektive des Danks für das gelebte Leben geprägt ist (K irchenleitung der VELKD: Die Bestattung, 78 f.), wird die göttliche an die Hinterbliebenen gerichtete Vergebung im Gebet bei einem frühen Tod, nach schwerem Leiden und nach einer Selbsttötung thematisiert (a. a. O., 167.172 f.179). Die menschliche Vergebung wird allein in der Variante für den Tod „Nach einem Unfall“ als Vergebung gegenüber den dafür Verantwortlichen thematisiert, hier aber in den Kontext göttlicher Vergebung und Befähigung des Menschen zur Vergebung gestellt: „Laß uns Vergebung üben, wie du vergibst“ (a. a. O., 177). Deutungsoffen und gelungen ist m. E. die Variante einer Fürbittenformulierung der unierten Agende: „Alles, was im Dunkeln ist und was wir nicht verstehen, alles, was ungesagt und ungelöst bleibt – nimm es auf in deine Vergebung“ (K irchenkanzlei der UEK: Bestattung, 289). 376  ChR II, 46. 377 Ebd.

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reflektierende Gebet schließt deswegen m. E. nicht nur die Bitte um die Vergebung Gottes, sondern auch die Bitte darum, vergeben zu können, ein. Reflektiert man die ‚Lebendigkeit’ der Toten ekklesiologisch, dann ist auf das Bekenntnis zur communio sanctorum zu verweisen.378 Hierbei geht es nicht darum, einen protestantischen Ahnenkult oder eine reformatorische Form der Heiligenverehrung zu propagieren, sondern schlicht um die Feststellung, dass die Gemeinschaft der (unsichtbaren) Kirche die Grenze zwischen diesem und jenem Leben überschreitet bzw. durchlässig macht.379 Die kindliche Gemeinschaft der Toten mit Gott, ihre geschwisterliche Gemeinschaft mit Jesus in der Ewigkeit schließt ein, dass auch jene wie Jesus in der gottesdienstlichen Zusammenkunft ‚mitten unter uns‘ (Mt 1820) gegenwärtig werden können.380 Beson378  Trotz

seiner ‚ekklesiologischen Zurückhaltung’ entwickelt auch Hirsch einen – mit seinem Konzept religiöser Gleichzeitigkeit zu plausibilisierenden – Begriff der unsichtbaren Kirche, die er als „Gemeinschaft im Glauben an das Evangelium oder auch Gemeinschaft aller Gläubigen in Jesus Christus als eine[r] verborgne[n], ewige[n] […], deren Geheimnis nur im Glauben selber vernommen werden kann“ (ChR II, 126) versteht, die freilich nicht an das gottesdienstliche Geschehen gebunden ist, aber in ihr durchaus zum Ausdruck kommen kann. 379  Zu dieser Annahme kommt auch Körtner: Bedenken, 94: „Die Toten sind tot. So unumstößlich dieser Satz ist, so ist er freilich nicht der letzte Satz des Glaubens. So wie der gänzlich tötende Tod nicht das letzte Wort ist, sondern die Auferstehung der Toten, so gilt trotz des Satzes von den toten Toten der andere, daß die Kirche eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten ist.“ Vgl. Bobert, S.: Bestattungskultur aus theologischer Sicht, in: Grünwaldt/H ahn: Vom christlichen Umgang mit dem Tod, 55–86, hier: 61. Diese ekklesiologische Pointe ist m. E. auch die Stärke des Ansatzes von Peter Zimmerling, der aufgrund der Aktualität der Frage nach den Heiligen, die sich besonders an der religionspädagogischen Frage nach Leitfiguren für die religiöse Bildung Jugendlicher zeigt, eine Theorie des protestantischen Heiligengedächtnisses entwirft, das er begrifflich von der Heiligenverehrung unterscheidet (Zimmerling, P.: Heilige und Zeugen des Glaubens im Wandel der Zeiten, http:// www.ack-bayern.de/fileadmin/downloads/Studientag_2013_Dokumentation.pdf, zuletzt geprüft am: 28.11.2015, 17 f.). Als „Ziel des biographischen Lernens“ benennt er die „konstruktiv-kritische[ ] Identifikation“ mit den Heiligen, „nicht die unkritische Imitation“ (a. a. O., 20) – damit rückt seine Konzeption in die Nähe des Hirsch’schen Gedankens von den idealbildenden Toten. Den von dem Konzept moralischer Vorbildhaftigkeit abweichenden und auf die Tiefe der Glaubenserfahrung zielenden Kriterien, die CA XXI für die Bezeichnung eines Menschen als Heiligen liefert – nämlich die Stärkung des Glaubens an die Rechtfertigung und Ermunterung zur Nachfolge Christi –, erweitert er durch die Kategorie des „Außerordentlichen“ (a. a. O., 16), mit der in Abgrenzung von einer protestantischen Gleichmacherei das Besondere einer entschieden christlichen Lebenshaltung betont werden soll. Demgegenüber kann mit Hirsch und in reformatorischer Tradition die Heiligkeit bzw. das Geheiligtsein aller Menschen herausgehoben werden, das insofern zum Vorschein tritt, als jemand sich am Anderen als heilig erweist. D. h. der Heilige ist keine objektiv feststellbare Person, er erweist sich am Einen als außerordentliche, weil bedeutsame und nachhaltig persönlichkeitsprägende Person, für den Anderen ist er durchschnittlich. 380  Mit Hirsch liegt an dieser Stelle die Betonung auf dem Konjunktiv. Der Gottesdienst

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ders das gemeinschaftliche Abendmahl kann in diesem Sinne nicht nur als Vergegenwärtigung Christi381, sondern auch als gegenwärtige Gemeinschaft mit denen, „die uns vorausgegangen sind im Glauben“382 , begriffen werden383 und zwar nicht nur im gemeinsamen Lobpreis und Dank 384, sondern auch in der gegenseitigen Vergebung. Die gottesdienstliche Gemeinschaft des Gebets kann ist zwar durch die „Erwartung des lebendigen Gottes, daß er sich in Gnaden mit seinem Worte in dem geschichtlichen Menschenwort gegenwärtig mache“, geprägt, steht aber selbst in der Antinomie „zwischen Gottes sich Versagen und Gottes sich Gewähren“, kann also von sich aus die Gegenwart Gottes nicht beanspruchen. Er ist nur insofern „Vergegenwärtigung Jesu“ und feiert nur insofern die „Gegenwart Gottes“, als das Wort Gottes im subjektiven Glauben Gegenwart gewinnt (ChR II, 133). 381  Das Abendmahl nimmt bei Hirsch im Blick auf die Vergegenwärtigung Jesu keine Sonderstellung gegenüber der Predigt ein. Die Doppelheit von Abendmahls- und Predigt­ gottesdienst verdeutlicht für ihn die zweifache Stoßrichtung christlicher Glaubenspraxis auf Denken und Leben des Menschen im Modus des die Innerlichkeit des Glaubens reflektierenden Redens und des die Innerlichkeit des Glaubens symbolisierenden Handelns (ChR II, §94). 382  Präfation zum Abendmahl bei der Bestattung (K irchenleitung der VELKD: Die Bestattung, 123) und an Sonntagen am Ende des Kirchenjahres (K irchenleitung der VELKD/ K irchenkanzlei der UEK (Hgg.): Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Berlin 1999, 626). Weitere Formulierungsmöglichkeiten die alternativ zur Grundformulierung „Darum preisen wir dich mit allen Engeln und mit den himmlischen Chören“ (a. a. O., 79) dezidiert auf das gemeinsame Lobpreis der Lebenden und der Toten verweisen: „[D]ich preist die sichtbare und unsichtbare Welt mit unaussprechlichem Jubel. / Mit allen Heiligen und Vollendeten / laß auch unsere Stimmen vereint zu deiner Ehre bekennen“ (K irchenleitung der VELKD: Die Bestattung, 210). „Mit allen Vollendeten stimmen auch wir unser Loblied an / und bekennen ohne Ende“ (a. a. O., 211). „Alle himmlischen Mächte und alle Erlösten / singen dir mit einhelligem Jubel. / Mit ihnen vereinen auch wir unsere Stimmen / und lobsingen dir voll Freude“ (zu Ostern, K irchenleitung der VELKD/K irchenkanzlei der UEK: Evangelisches Gottesdienstbuch, 623). 383  Vgl. den ähnlichen Gedankengang bei Bürkle, H.: Todeserfahrung und Todesbewältigung in anderen Religionen als Frage an die Christen, in: Bethlen, S./Henckel-Donners­ marck, A. H. (Hgg.): Vom menschlichen Sterben und vom Sinn des Todes, Freiburg i. Br. 1983, 69–81, hier: 74–77, der unter der Überschrift „Sterben in Gemeinschaft“ auf die Möglichkeit einer christlichen Rezeption bzw. Restitution des sich im Ahnenkult und in der neutestamentlich belegten stellvertretenden Taufe für die Verstorbenen widerspiegelnden Gedankens der Gemeinschaft von Lebenden und Toten verweist. Diese kann angemessen über den Gedanken des Leibes Christi reformuliert werden, wobei die Diskontinuität der Existenz der Toten betont wird. Freilich ist aus reformatorischer Perspektive davon Abstand zu nehmen, die Möglichkeit eines stellvertretenden Handelns der Lebenden für die Toten zu erwägen. 384  Die Agenden reduzieren die gemeinschaftsfördernde Aktivität auf gemeinsamen Lobpreis und Dank. Die Gemeinschaft kommt so ausschließlich zustande durch die vertikale Ausrichtung auf Gott, das verbindende Element ist die gemeinsame Handlung. Nimmt man aber die Hoffnung des Glaubens ernst, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen vollen-

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dann als Gemeinschaft begriffen werden, in der die Einsamkeit, die der Tod hinterlässt, überwunden wird. Sie leistet nicht nur einen Beitrag zu einem Aufbruch in neue Beziehungen, der durch die Bitte um die Möglichkeit eines Neuanfangs getragen ist. Vielmehr ist sie gleichermaßen eine Hilfe für eine – durch die Bitten um Befreiung, um Vergebung und darum, vergeben zu können, getragene – heilsame Pflege der alten Beziehungen.385

det werden, dann kann dies m. E. nur über die Annahme einer horizontalen Verbindung, die über die gegenseitige Vergebung zustande kommt, plausibilisiert werden. 385 Vgl. Fechtner: Kirche, 78–80, der die christliche Gemeinde als Erinnerungsgemeinschaft begreift.

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10.C  Todesangst und Weltende “Life goes on.” – [chuckles]… “Life goes on, okay? What’s so funny?” – “We’ll see.” “I don’t see what’s funny about ‘life goes on’.” (Deep Impact)386 “The earth is evil. We don’t need to grieve for it.” – “What?” “Nobody will miss it.” (Melancholia)387

„Bedeutung, es geht um Bedeutung, was es bedeutet.“ – „Was was bedeutet?“ „Das Leben, alles, was alles bedeutet. Ich möchte was schaffen, was Bedeutung hat und nicht nur so für den Moment. Ich möchte so gut sein, dass ich am Ende meines Lebens Spuren hinterlasse.“ – „Also, wenn ich gut bin, dann sind die Spuren hinterher alle immer weg.“ „Macht Ihnen das keine Angst?“ (Der Tatortreiniger, Staffel 1, Folge 2, Spuren)388

Im Anschluss an die gegenwartsdiagnostischen Überlegungen wird hier davon ausgegangen, dass die Realität des Todes für das Leben in der Gegenwart – wenn auch nicht immer offensichtlich – eine ausschlaggebende Rolle spielt, die 386  Der Katastrophenfilm Deep Impact (Mimi Leder), USA 1998, malt die Bedrohung der Welt durch einen Kometen vor Augen, die zur Folge hat, dass nur ein kleiner Teil der Menschheit – der über ein Rettungsprogramm in Höhlen evakuiert wird – überleben kann. Der zitierte Dialog findet zwischen einem zum zweiten Mal verheirateten Vater, der sich dafür rechtfertigt, dass sein Leben weitergeht, und seiner erwachsenen Tochter statt, die als eine der wenigen und im Unterschied zu ihrem Vater bereits von der drohenden Katastrophe weiß. Vor dem Horizont eines möglichen Untergangs eines Großteils der Menschheit gewinnt die sprichwörtliche Aussage „Das Leben geht weiter“ eine neue Dimension, das Leben geht eben irgendwann nicht mehr weiter, weder für den Einzelnen noch insgesamt. 387 Der Film Melancholia (Lars von Trier), Dänemark/Schweden/Frankreich/England 2011, thematisiert das Verhältnis der Schwestern Justine und Claire, das mit ihren unterschiedlichen Einstellungen zum Weltuntergang konturiert wird. Die im Verlauf des Films zuerst recht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Planet Melancholia und die Erde kollidieren werden, wird zum Ende hin grausame Realität. Während die depressive Justine sich sehnlich wünscht, dass die böse und sie ständig mit Ansprüchen bedrängende Welt untergeht, hat Claire rasende Angst und hofft vor allem für ihren kleinen Sohn, dass das Leben weitergeht. Während zuerst Claire diejenige ist, die sich um die nahezu lebensunfähige Justine kümmert und sie vor der sie bedrängenden Welt schützt, gewinnt Justine zunehmend an Kraft, je wahrscheinlicher der Weltuntergang wird. Am Ende nimmt sie der panischen und handlungsunfähigen Schwester die Aufgabe der Gestaltung des gemeinsamen Endes der Familie ab, mit der es ihr zumindest gelingt, dem kleinen Neffen die Angst zu nehmen. 388  Die TV-Serie Der Tatortreiniger – TV-Serie des NDR (Arne Feldhusen; Mizzi Meyer), Deutschland seit 2011, handelt von Heiko „Schotty“ Schotte, der im Auftrag seiner Reinigungsfirma (Selbst-)mord-Tatorte reinigt. Dabei kommt er sowohl mit Hinterbliebenen als auch mit den Toten selbst über Gott und die Welt, über Tod und Leben ins Gespräch. Der zitierte Dialog stammt aus einem Gespräch zwischen einem Schriftsteller und Schotty, in dem zwei Welten aufeinanderprallen.

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behutsam in ihrer Vielschichtigkeit freigelegt werden kann. Ein Indikator für die Gegenwart des Todes im menschlichen Leben auf der Ebene der Phänomenologie menschlicher Gefühle ist die Todesangst, die – wie Hirsch aufzeigt389 – in vielfältigen impliziten und expliziten Formen in Erscheinung treten kann. Deutlich tritt sie unter dem Eindruck verschiedener sie begünstigender real­ geschichtlicher Faktoren – die atomare Bedrohung, die ökologische Krise, wirtschaftliche Krisen, kulturell und religiös motivierte kriegerische Auseinandersetzungen, Seuchen390 – in der westlichen Welt spätestens seit den 1980er Jahren in einer zwar nicht jeden betreffenden, aber dennoch kollektiven Angst vor dem Weltende bzw. vor dem Ende der Menschheit zutage.391 Die Todesangst erweist sich im Anschluss an Hirsch als existenzielle Da­ seins­angst, als eine das Leben begleitende Angst des Menschen um sich selbst. Diese Selbstangst kann von der Weltangst des Menschen unterschieden werden, auf welche in unserer Gegenwart unter anderem mit säkularisierten apokalyptischen Vorstellungen reagiert wird. Die Faktoren und Funktionen der Apokalyptik im 20. und beginnenden 21. Jh., die hier im Anschluss an neuere soziologische und theologische Forschungen dargestellt werden, verweisen auf die dahinterliegenden Formen der Angst. Deren genauere Betrachtung legt sie als extrapolierte, in einen kosmischen Zusammenhang gestellte Spielarten der Existenzangst des Menschen offen: Die Weltangst kann als eine Form der Selbstangst verstanden werden.

a) Die Todesangst als Angst des Menschen um sich selbst Die Angst vor dem Tod erweist sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Todesdeutungen nicht als reine, objektbezogene Furcht vor dem Ende, sondern sie ist mit Hirsch als eine existenzielle Grundstimmung zu beschreiben, die in verschiedenen Facetten das menschliche Leben begleitet. Die menschliche Existenzangst ist die stimmungsmäßige Seite sowohl des menschlichen Sterblichkeitsbewusstseins als auch des menschlichen Freiheitsbewusstseins, die zueinander in Spannung stehen. Dieser Spannung, die den Sinn menschlichen Lebens grundsätzlich verunsichert, versucht der Mensch zu entfliehen, indem er sie durch andere Konzeptionen des Lebens und ein alternatives Selbstbild ersetzt, die entweder auf ein übersteigertes Endlichkeits- oder ein absolutes Freiheitsbewusstsein schließen lassen. Die Gegenreaktionen und Ausflüchte gestalten sich vielfältig. Dabei wird deutlich: Sowohl die Wahrnehmung des zeitli389 

S. o., 5.D, 192 ff. S. o., 9.A, 327 ff. 391 Vgl. Körtner: Weltangst, 9–37.240–277. 390 

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chen Lebens als des einzigen, das der Mensch hat – das rein immanente Selbstverständnis – als auch die Betrachtung des zeitlichen Lebens als Vorstufe zum anderen, ewigen Leben – das rein transzendente Selbstverständnis – schützen letztlich nicht vor der existenziellen Angst des Menschen. Um sich selbst ängstigt sich der Mensch, wenn er sein eigenes Leben angesichts des allen unterschiedslos bevorstehenden Todes als bedeutungslos wahrnimmt; wenn er das Gefühl hat, dass sein unentrinnliches Todesschicksal ihn auf seine Passivität festnagelt; wenn die Verunsicherung durch die zeitliche Unbestimmbarkeit und die sinnlose Seite des Todes überhand nimmt. Was zeichnet mich gegenüber der Masse aus? Bin ich dem allgemeinen Gang der Weltgeschichte und dem Schicksal der Vernichtung schutzlos und ohnmächtig ausgeliefert? Wie kann ich sicherstellen, dass ich ich bleibe? Ein Ausweg aus dieser Misere wird vor dem Hintergrund eines rein immanenten Selbstverständnisses über das Basteln an der eigenen, höchst individuellen Biographie und über die Selbstoptimierung genommen – Hirsch bezeichnet diese Lebenshaltung als eine unter dem „Gesetz des Herzens“ gefangene.392 Mit der Selbstverwirklichung als höchstem Gut wird der ungeheure Lebensdruck aufgebaut, aus den unzähligen, freiheitlich zu wählenden Möglichkeiten die optimale zu wählen. Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit kann die Form der Angst vor dem plötzlichen, unerwarteten Abbruch des Lebens annehmen – ich habe es nicht rechtzeitig geschafft, mein Leben zu einem sinnhaften Ganzen zu bringen. Oder sie schlägt um in die resignative Angst vor der Selbstwerdung – die letztlich Selbstverneinung ist –, in die Angst davor, dem Druck der sinnhaften Ausfüllung des Lebens nicht standhalten zu können. Einen zweiten Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit des Individuums angesichts des Todes vermittelt der von einem transzendenten Selbstverständnis geleitete Glaube an die endzeitliche Auszeichnung des Einzelnen, der ebenfalls dem Druck eines optimal geführten – moralisch integren – Lebens ausgesetzt ist, das als Bedingung für den Ausgang des Letzten Gerichts zum Guten gilt. Dieser Weg kann von einer neuen Angst, nämlich derjenigen, sich des ewigen Lebens nicht als würdig zu erweisen, begleitet sein. Ein dritter Ausweg aus der Angst des Menschen um sich selbst zeigt sich in dem unbedingten Festhalten an der Gegenwart, einer gesteigerten Form des immanenten Selbstverständnisses, das selbst die zeitliche Transzendenz der Zukunft ausschließt: Nur hier und jetzt bin ich ganz bei mir, ganz ich selbst. Dieser erweist sich unter den Bedingungen der Erfahrung des Zeitdrucks und der ‚ver-

392 

Zw, 196–198. S. o., 2.B.b, 96 ff.

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kürzten Gegenwart‘393 als höchst schwierig – erlebt werden de facto tägliche Untergänge des momentanen Ichs. Dieser impliziten Form der Angst vor der Vergänglichkeit des Augenblicks gesellt sich als Ausdruck der expliziten Angst vor der Vergänglichkeit des Lebens der unbedingte Aktivismus gegen den Tod, der Lebenserhalt um jeden Preis bei. Der Angst des Menschen um sich selbst wird viertens zuweilen im Rahmen eines immanenten Lebensverständnisses mit der Vorstellung entgegengetreten, der Einzelne lebe in der Erinnerung der Menschen weiter oder er sei in Form des kulturellen oder biologischen Erbes394 in der menschlichen Gattung aufgehoben: Ich sterbe zwar, aber mit der Menschheit geht es weiter. Auch hier kann keine Angstfreiheit versprochen werden: Entweder es entsteht der Druck der optimalen Gestaltung eines erinnerungswürdigen Lebens – und damit neue Ängste –, oder es wird der Preis der Bedeutungslosigkeit des einzelnen Lebens gezahlt, wobei freilich an der absoluten Bedeutung des menschlich-zeitlichen Lebens 393  Lübbe, H.: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/Heidelberg 2013. 394 Vgl. Waser , P. G.: Der Tod als Phänomen des Lebens, in: Jenny/Staehelin: Über Tod und Freizeit, Zürich 1972, 113–118, hier: 116 f.: „Der aufgeklärte moderne Mensch braucht diese bildhaften Versprechungen nicht. Er kann kraft seiner Kenntnisse und irdischen Logik mit Gewißheit sagen: Wir leben weiter in unseren Kindern, Enkeln, Urenkeln. Der wichtigste Teil unseres Somas, die genetische Struktur unserer Erbmasse, wird immer weiterleben. […] Damit wird der Tod überbrückt und die Erhaltung des Individuums gesichert, in einer neuen, verjüngten, wieder leistungsfähigen Form. […] Unsere Gedanken und Taten leben weiter, sofern sie genügend groß waren, um andere Menschen zu beeindrucken und zu begeistern. So wird auch die Seele in ihrer besten Form dauernd erhalten bleiben, solange es eine Menschheit gibt. Ist das für uns nicht ein guter und genügend tröstlicher Gedanke?“ Sigrid Weigel benennt dementsprechend drei Formen des Erbes, die den traditionellen Unsterblichkeitsgedanken ablösen, das biologische, das künstlerische und das ökonomische (Weigel, S.: Genea-Logik. Vom Phantasma des Fort- und Nachlebens im Erbe, in: Liessmann: Ruhm, 224–243). In biologischer Hinsicht geht es um das nackte Überleben, das in der Gegenwart auf der einen Seite durch die verringerte Geburtenrate in Gefahr ist und das auf der anderen Seite durch Gentechnik und pränatale Selektion perfektioniert wird. Die Vorstellung des künstlerischen Erbes lebt ursprünglich vom genialen Einzelnen, der mit seinem Werk umfassende Bedeutung erlangt – dieses Konzept gerät in der „Copy Culture“ (a. a. O., 225), in der sich im Prinzip jeder medial vermarkten kann, in Schwierigkeiten. Das ökonomische Erbe spielt in unserer Gegenwart ebenfalls eine große Rolle – das Weiterleben der Person in seinen Hinterlassenschaften wird über testamentarische Verfügungen zu steuern versucht. Weiterführend zu gegenwärtigen Vorstellungen immanenter postmortaler Existenz, besonders in Form medialer Inszenierung und über Organtransplantation, Kryonik, Plastinierung und Diamantierung, sind die Beiträge in: Gross, D./Tag, B./Schweikhardt, C. (Hgg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod, Frankfurt a. M. 2011.

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insgesamt festgehalten wird.395 Die Aussage ,Das Leben geht weiter‘ findet aber spätestens an dem Gedanken vom Ende der Menschheit ihre Grenze.396 Die Existenzangst, die mit dem menschlichen Endlichkeits- und Freiheitsbewusstsein einhergeht, ist durch die von Hirsch entfaltete ideale, christliche ­Deutung des Todes nicht aufgehoben.397 Die Doppelheit von Lähmung und Dynamisierung des Lebens angesichts des Todes geht mit der spannungshaften Erfahrung des Menschen von Freiheit und Situationsgebundenheit, von Selbstständigkeit und Ohnmacht einher. Die Pointe der Hirsch’schen Todesdeutung liegt nun darin, dass der christliche Glaube es dem Menschen ermöglicht, mit dieser Spannung zu leben, sie auszuhalten. Auch dieser führt nicht dazu, dass der Glaubende in diesem Leben von der Angst endgültig befreit wäre. Solange der Christ in der Welt lebt, ist er zwischen die Pole von Faktizität und Bestimmung eingespannt und in den Widerstreit von Glauben und Unglauben verstrickt.398 Der Tod kann für den Glaubenden sowohl Abbruch als auch Voll­ endung bedeuten. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist es allerdings möglich, die dialektische Struktur der Angst in ihrer Doppelbewegung mit der Sehnsucht freizulegen und das positive, entbindende Moment der Angst stark zu machen. Ist dem Menschen die Freiheit gegeben, er selbst sein zu können, dann kann die Angst ihre positive, dynamisierende Kraft entfalten und die Sehnsucht kann zur 395 

Auch die Argumentation des Philosophen Ernst Tugendhats geht in dieser Richtung, wenn er die Angst vor dem Tod als Angst vor dem „Aufhören des Bewußtseins und damit der eigenen Welt“ (Tugendhat: Unsere Angst, 50) damit einschränkt, dass „auch die objektive, unabhängig von mir bestehende Welt meine Welt“ ist und dass diese nicht aufhört, „wenn ich aufhöre“ (a. a. O., 61). Ihm geht es aber nicht darum, die Hoffnung auf das Weiterleben in der menschlichen Gattung stark zu machen, sondern im Gegenteil, über die Selbstrelativierung geht dem Einzelnen auf: „Relativ zur Welt bin ich unwichtig, und kann es selbst so sehen. Wenn es mir also gelingt, meinen Maßstab von Wichtigkeit von mir selbst auf anderes zu verlegen, tritt die Angst davor, daß ich aufhöre, zurück.“ (Ebd.) Es bleibt die Frage, ob auch diese Einstellung durch den Gedanken des Weltendes negativ beeinträchtigt werden könnte, weil dadurch nämlich die Welt – der der Mensch in der Tugendhat’schen Konzeption im Unterschied zu sich selbst Wichtigkeit zuschreibt – im Ganzen relativiert wird. Der Maßstab für das Verhältnis zwischen Wichtignehmen und Relativieren könnte in dem Fall aus der reinen Immanenz nicht gewonnen werden. 396 Vgl. Welker: Natur- und Kulturwissenschaften, 323: „‚Das Leben geht weiter‘ – das ist letztlich eine hochgradig gefährdete und im letzten illusionäre Aussage, wenn sie sich allein an das biologische Leben, an das Leben innerhalb der Grenzen des naturalistischen Denkens klammert.“ 397  S. o., 7.B.b, 302 ff. 398  Diese Spannung, in der sich auch der Glaubende befindet, verkennt Werner Thiede, wenn er diesem ein „angsbefreites Bewusstsein“ auf der Grundlage dessen zuschreibt, dass er „sich um Christi willen schon vom Endgericht erlöst wissen darf“ (Thiede: Fegefeuer, 1133).

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Gewissheit werden, dass der Mensch zur Vollendung bestimmt ist. Das angemessene Verständnis der menschlichen Freiheit ist an das Endlichkeitsbewusstsein des Menschen gebunden. Letzteres wirkt sich aus der Sicht des von Hirsch entfalteten christlichen Glaubens nur dann nicht erdrückend und das freiheitliche Wesen des Menschen verneinend aus, wenn der Mensch darauf vertrauen kann und sich dessen gewiss ist, dass „Gott Liebe ist“399; wenn sich der Mensch von einem Gott her versteht, der das menschliche Leben in seiner Endlichkeit und Unvollkommenheit bejaht, der seinen Geschöpfen Raum für ihre Selbstständigkeit gibt. Dieses Vertrauen gewinnt der christliche Glaube bei Hirsch in der gnadenhaften Gleichzeitigkeit mit Jesus: In Jesu Hingabe an Gott und die Menschen werden das unvorgreifliche, unbedingte Wesen der Liebe Gottes und die menschliche Möglichkeit, auf diese Liebe auch inmitten der Widrigkeiten des Lebens zu vertrauen, offenbar.400 Gleichzeitig bleiben die Unsicherheit ob der Bedeutung des Todes und damit die Angst vor dem Tod bestehen. Der Unterschied ist allerdings, dass nicht die Angst, sondern die Gewissheit, dass die sich in der Angst meldende Sehnsucht nach Vollendung erfüllt wird, die Signatur des christlichen Lebens ist.

b)  Das Leben vor dem Horizont des Weltendes Während die beschriebenen Formen der Todesangst als Angst des Menschen um sich selbst begriffen werden können, kann darüber hinausgehend in phänomenologischer Hinsicht mit Hirsch zwischen der Selbstangst und der Weltangst differenziert werden.401 Die zweite Form der Angst resultiert bei Hirsch aus der Erfahrung, dass die Welt eine Grenze der Selbstentfaltung des Menschen bildet. Der Welt wird die Verantwortung für die Spannungshaftigkeit menschlichen Daseins zugeschrieben. Die zu dem eigentlichen, freiheitlichen Wesen des Menschen im Widerspruch stehende Kreatürlichkeit wird auf die Welt als das Kreatürliche schlechthin übertragen: Die Welt wird zum Grund für das Gefühl der Unbeständigkeit, Grundlosigkeit, Zufälligkeit, Zwielichtigkeit, Fremdheit und Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins. Sie wird zum Feind des Menschen, indem sie ihm die Möglichkeit nimmt, er selbst zu sein. Der Mensch versucht, diese Angst zu bewältigen, indem er entweder dieser bösen, diesseitigen Welt eine gute, jenseitige entgegenstellt, in der er nach dem befreienden Tod leben wird. Oder er versucht, der unheimlichen und unübersichtlichen Welt durch ihre Rationalisierung Herr zu werden, sie sich zu eigen zu machen. Diese 399 

Zw, 82. S. o., 7.A, 268 ff. 401  S. o., Exkurs: Der Begriff der Weltangst, 196 ff. 400 

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durch den kulturell-technischen Fortschritt der Moderne begünstigte Strategie hat ihre Grenze Hirsch zufolge an der modernen Spielart der Weltangst, der „Furcht des Menschen vor sich selber“402 , die er als innere „Hölle“403 bezeichnet, weil das Vertrauen auf einen guten Ausgang – das sich vormals entweder aus dem Fortschrittsoptimismus oder aus einer Jenseitshoffnung speiste – keine Möglichkeit mehr zu sein scheint. Diese Dimension ist als eine wichtige Facette der Apokalypseangst der zweiten Hälfte des 20. Jh. und des beginnenden 21. Jh. zu begreifen:404 Der Fortschrittsoptimismus der Neuzeit verkehrt sich hier teilweise in ein Misstrauen in die Technik und in die Vorstellung, dass die technischen Errungenschaften des Menschen – v. a. in Form der Atom- und der Gentechnik – sich letztlich gegen ihn selbst wenden. Dieses Deutungsmuster wird auch auf andere geschichtliche, krisenhafte Ereignisse angewendet: Die ökologische Krise, die in der apokalyptischen Vorstellung auf einen naturkatastrophischen Weltuntergang aufgrund des Klimawandels hinausführt oder zumindest eine grundsätzliche Gefährdung eines Großteils der Menschheit durch Ressourcenknappheit vor Augen malt, wird primär durch das Handeln des Menschen bedingt. Die kapitalistische Ökonomie führt aus apokalyptischer Perspektive mit ihrer alle Lebensbereiche bestimmen wollenden rationalen Zweckhaftigkeit das Ende des sozialen Miteinanders herauf und entzieht dem einzelnen Menschen letztlich die Lebensgrundlage, indem sie ihn als Teil der großen Maschine Menschheit verrechenbar macht und indem die Menschheit an ihrer Selbstüberschätzung zugrunde geht. Der Drang zur Ideologisierung kann in der Logik dieses Deutungsmusters unter den Bedingungen der Globalisierung nur zu einem „clash of civilizations“405 führen, wie aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen unter dem Banner der Religion und die ständige Bedrohung durch Terror vor Augen halten. Alle diese Faktoren, die einen Anhalt an realen weltgeschichtlichen Ereignissen haben406, und ihre spezifische Deutung auf dem Boden der menschlichen Unsicherheit angesichts der „Kontingenz, Komplexität und Unübersichtlichkeit der sozialen Wirklichkeitserfahrung“407 bedingen apokalyptische Vorstellungen von einem 402  Zw, 82. Michael Rosenberger diagnostiziert dementsprechend eine „Schwerpunktverlagerung von der Theodizee zur Anthropodizee“ (Rosenberger, M.: Empathische Prophetie. Moraltheologische Impulse für eine „Homiletik der Krise“, in: Meyer‑Blanck, M. u. a. (Hgg.): Sündenpredigt, München 2012, 287–301, hier: 289). 403  Zw, 81. 404 Vgl. Utsch, M.: „Y2K“ – Millenniumsängste aus psychologischer Sicht. Zum Umgang mit einer unverfügbaren Zukunft, in: MD EZW 62/11 (1999), 323–334, hier: 333. 405  Huntington: The clash. 406  S. o., 9.A, 327 ff. 407  Ebertz , M. N.: Anfällig für apokalyptische Rufer? Soziologische Aspekte, in:

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katastrophischen Weltende, die dann als komplexitätsreduzierende Narrative fungieren.408 Das im Zuge der Rationalisierungsprozesse und des Fortschrittsbewusstseins der Moderne als Mythologie vergangener Zeiten hinter sich gelassen geglaubte apokalyptische Weltbild hat an neuer Relevanz gewonnen, das „Ende des utopischen Zeitalters“409 scheint eingeläutet zu sein. Auch wenn die Apokalypseangst aufgrund ihrer umfassenden medialen Inszenierung gut zu greifen ist,410 ist es schwierig, sie vorschnell und pauschalisierend zur Signatur unseres Zeitalters erklären.411 Gleichermaßen kann mit Reflexionen über die Zukunft der Menschheit angesichts des Verlusts alter Sicherheiten die „Lust aufs Neue“412 verbunden sein. Der Technikoptimismus muss zudem nicht zwingend in Skepsis umschlagen.413 Außerdem ist der Unterhaltungsfaktor der medialen Inszenierung von Katastrophenszenarien nicht zu unterschätzen.414 Dennoch ist die Apokalypseangst als Angst eines Teils der Menschheit theologisch ernst zu nehmen und die Möglichkeit eines Lebens mit der Angst vor dem Ende zu reflektieren.415 Ein theologischer Zugang zum Phänomen der Apokalypseangst kann über die Frage eröffnet werden, welche Funktion das Schreckensszenario des Weltuntergangs für die Angstbewältigung einnimmt. Dafür ist zuerst nach den Merkmalen der neuen im Unterschied zur traditionellen Apokalyptik zu fragen, anschließend ist die Funktion der apokalyptischen Weltdeutung im Blick auf die angstauslösenden Faktoren menschlicher Erfahrungswelt zu beleuchten.

Vögele, W./Schenk, R. (Hgg.): Apokalypse. Vortragsreihe zum Ende des Jahrtausends, Rehburg-Loccum 2000, 119–149, hier: 123. 408 Vgl. die differenzierten Darstellungen der ökologischen, geopolitischen, ökonomischen und technischen Faktoren, die Weltuntergangsvorstellungen befördern, bei a. a. O. und Horn: Enden, 111 f. 409  Fest, J. C.: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. 410  Vgl. die literarischen und filmischen Belege bei Horn: Enden, 105–107. 411 Vgl. Utsch: Y2K; Ebertz: Anfällig, 141 f. 412  Nüchtern, M.: Endzeitstimmung zur Jahrtausendwende?, in: MD EZW 61/1 (1998), 1–8, hier: 3. 413  Mit der Technik verbinden sich in unserer Gegenwart nicht nur Skepsis und Pessimismus, sondern nach wie vor Unsterblichkeitsphantasien, wie Gerhard Fröhlich an zwei Beispielen von Techno-Utopien erläutert (Fröhlich, G.: Techno-Utopien der Unsterblichkeit aus Informatik und Physik, in: Becker /Feldmann/Johannsen: Sterben, 187–213). 414  Schiesser , U.: Flirting with Disaster. Erklärungsansätze für Faszination und Angst in Bezug auf Weltuntergangsvorhersagen, in: MD EZW 76 (2013), 4–12, hier: 9 f.; Körtner: Apokalyptik, 194. 415  Darin stimme ich Ulrich Körtner trotz seiner zur Pauschalisierung tendierenden, zeitdiagnostischen These vom „Zeitalter der Angst“ zu (vgl. Körtner: Weltangst, 9–39).

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Apokalyptik kann definiert werden als Deutung des Daseins vor dem Horizont seines unmittelbar bevorstehenden Endes.416 Sie zeichnet sich durch eine negative Weltdeutung aus: Die Welt ist ein „Ort der Heillosigkeit und des Unheils“417. In traditionellen Denkmustern steht dieser Sichtweise die Hoffnung auf die Erlösung gegenüber, wozu wegen der grundsätzlichen Verderbtheit der Welt eine universale Katastrophe unabwendbar ist. Die typischen Strukturmerkmale418 traditionellen apokalyptischen Denkens zeichnen sich damit durch eine „Radikalisierung des Denkens in Differenzen“419, durch ein dualistisches Grundmuster aus: Die Apokalyptik reagiert „auf gesellschaftliche oder politische Umbrüche“420 und diagnostiziert die Krisenhaftigkeit der Gegenwart. Sie zielt im Gegensatz zur Prophetie nicht auf Umkehr, sondern stellt eine „unaufhaltsame[ ] Entwicklung hin zur Katastrophe“421, den Untergang und die Vernichtung der Welt vor Augen. Sie belässt es aber nicht dabei, sondern deutet das Weltende „zu einem Symbol der Hoffnung“422 um, wodurch die Katastrophe zur Krise umgewandelt wird, aus der eine Erneuerung bzw. Erlösung der Welt hervorgeht. Diese der Menschheit verhüllte Zielperspektive wird in der Jetztzeit dem Apokalyptiker offenbart, der damit auch über das wahre, böse Wesen der Welt aufgeklärt wird, das diese von sich aus nicht erkennen kann. Mit dieser Sonderstellung geht das Elitebewusstsein des Apokalyptikers und seiner Eingeweihten einher (ich werde errettet) – hierin besteht die Gefahr des Umschlagens der Angst in die „Lust am Untergang“423. Die Entgegensetzung von dieser und 416 Vgl. Körtner: Apokalyptik, 187. Diese enge Definition wird hier gewählt, um die Dimensionen der Angst vor einem apokalyptischen Weltuntergang zu konturieren. Dass der Begriff der Apokalyptik vielschichtig ist, zeigen die differenzierten Beiträge in dem Band Wieser, V. u. a. (Hgg.): Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit, Berlin 2013. Es handelt sich „sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene um plurale, heterogene, teils widersprüchliche Phänomene […], die nicht einfach in ihrem Aussagewert gefasst werden können, sondern vorwiegend aus einem jeweiligen Aussagefeld heraus zu begreifen sind. […] Es hat gewiss seine Berechtigung, mit der Apokalypse eine Offenbarung, eine Endzeit, einen endgültigen Untergang der Welt oder der Menschheit oder einfach eine Krise oder Katastrophe in Verbindung zu bringen – eine zufriedenstellende, wie der Begriff selbst impliziert: letztwahrheitliche Bedeutungsform wurde bislang vergeblich gesucht.“ (Zolles, C./Zolles, M./Wieser, V.: Einleitung. Auf den Spuren abendländischer Apokalyptik, in: Wieser u. a.: Abendländische Apokalyptik, 11–35, hier: 12.) 417  Körtner: Apokalyptik, 187. 418 Vgl. Vondung, K.: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, 34 f.; R auer , V.: Apokalyptische Verunsicherung. Zur Bedrohlichkeit des Ununterscheidbaren, in: Wieser u. a.: Abendländische Apokalyptik, 157–174, hier: 159–161. 419  A. a. O., 161. 420  Körtner: Apokalyptik, 188. 421  A. a. O., 190. 422 Ebd. 423  A. a. O., 192.

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jener Welt impliziert einen Gegensatz von weltlicher Fremde und himmlischer Heimat424 und einen normativen Dualismus zwischen Gut und Böse. Typisch ist außerdem aufgrund der Erfahrung der Jetzt-Zeit als entscheidender Krisenzeit die Naherwartung: Die Apokalyptik steigert die Weltangst und die Selbstangst, die dadurch ausgelöst und totalisiert werden, dass im Hier und Jetzt keine Handlungsoptionen mehr gegeben zu sein scheinen; sie reagiert also auf die Erfahrung eigener Ohnmacht und fremder Übermacht – der Welt, Gottes, des sich verselbstständigenden, strukturellen Bösen.425 Sie hofft darauf, dass angesichts der fehlenden menschlichen Handlungsoptionen eine höhere Macht eine neue Ordnung heraufführt.426 Die säkularisierten Formen der Apokalyptik zeichnen sich neben ihrer freien Verwertung mythischen Bildmaterials dadurch aus, dass sie sich von der Vorstellung einer göttlich gelenkten Heilsgeschichte gelöst haben. Die Geschichte ist menschengemacht. Ihr Untergang ist dementsprechend nicht als göttliche Strafe zu verstehen, weil er entweder dem Menschen selbst zuzuschreiben ist oder sich nach den Regeln der naturwissenschaftlichen Kausalität ohne irgendein Zutun ereignet.427 Die säkularisierte Apokalyptik des 20. Jh. und am Beginn des 21. Jh. gestaltet sich vielschichtig. Während die auf die Sozialkritik abhebenden apokalyptischen Visionen von einer Hoffnung auf die Besserung des Menschen und von der Utopie einer idealen Gesellschaft getragen sind – womit sie die Katastrophe letztlich als Katharsis verstehen –, sind die Szenarien, in denen der Weltuntergang durch Technik oder Natur bedingt ist, um das Moment der Erneuerung und Erlösung beschnitten.428 Im Bild der „kupierten Apokalypse“429 geht die Welt entweder unwiderruflich unter oder das Weiterleben ist zumindest nicht als das Leben in einer vollkommenen Welt vorgestellt. Dem Weltuntergang kann dementsprechend kein „Sinn und Ziel“430 mehr zugesprochen werden, er wird allein als Katastrophe verstanden, nicht zur Krise umgedeutet. Die Vorstellungen postkatastrophischen Überlebens gestalten sich unter diesen Bedingungen als zeitlich-immanente Existenz Auserwählter bzw. einzelner Gruppen. Aus der medialen Inszenierung von Weltuntergangsszenarien lassen sich v. a. zwei Typen von Überlebensvorstellungen herauskristallisieren, der 424 Vgl.

Nüchtern: Endzeitstimmung, 4 f. Körtner: Apokalyptik, 189. 426 Vgl. Schiesser: Flirting, 5 f. 427 Vgl. Horn: Enden, 102–107. Dieselbe Argumentation findet sich bei Hirsch in HchR, 81–83. 428 Valentin R auer historisiert diese beiden Perspektiven, indem er die sozialkritische Form der ersten Hälfte des 20. Jh. zuordnet und die ‚kupierte‘ Apokalypse in der zweiten Hälfte des 20. Jh. verortet (R auer: Apokalyptische Verunsicherung, 158). 429  Vondung: Die Apokalypse, 12. 430 Ebd. 425 Vgl.

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Gedanke vom „Krieg der Arten“ und das Bild vom „Rettungsboot Erde“.431 Ihnen ist gemeinsam, dass, um das Überleben der Einen zu sichern, Andere sterben müssen und dass es ihnen nicht um eine irgendwie geartete Vollendung des Lebens, sondern um das bloße, ‚nackte‘, biologische Überleben der Gattung Mensch geht – das freilich durch Vorstellungen einer Fortdauer des kulturellen Erbes ergänzt sein kann.432 Neben der damit verbundenen Hoffnung darauf, dass die Menschheit nicht untergeht, kann diesen Vorstellungen eine Legitimationsfunktion für biopolitische Entscheidungen der jeweiligen Gegenwart zugeschrieben werden. Die Vorstellung vom „Krieg der Arten“ bedient sich des apokalyptischen Gut-Böse-Dualismus und kann die Funktion einnehmen, die rassistische „Ideologie des Feindes“ zu legitimieren, „vor dessen Fremdartigkeit alle menschlichen Konflikte und Differenzen verschwinden“ und angesichts dessen sich „die [oder ein Teil der] Menschheit wieder [als] Gemeinschaft – Überlebensgemeinschaft“ verstehen kann.433 Im Vorstellungsrahmen des Rettungsbootes Erde sind die einzelnen Menschen zwar gleichwertig und gleichberechtigt, dennoch macht die „katastrophische[ ] Krise […] ‚tragische Entscheidungen‘“434 nötig. Hieran wird die Funktion des Bildes ersichtlich, eine „Biopolitik der Knappheit“435 und die Aussetzung von universalen Werten (z. B. der des Rechtes auf Leben) im „absoluten Ernstfall[ ]“436 zu rechtfertigen. Der Gedanke daran, dass allein die drohende Katastrophe den Menschen zur Umkehr bewegen kann, dass er also mit seinem eigenen Handeln das Ende der Welt zumindest verzögern kann, markiert die ‚kupierten Apokalypsen‘ als „eine Art prophetischen Weckruf. Es geht darum, ein Szenario zu beschreiben, das jedoch gerade abgewendet werden soll“437 und sich auf die wesentlichen Werte des menschlichen Lebens zu besinnen oder zumindest eine Handlungsmaxime für die Jetztzeit zu gewinnen. Damit erweist sich die Verbesserung der Jetztzeit als bleibende Zielvorstellung, die allerdings nicht auf die göttliche Erneuerung, sondern auf das menschliche Machbarkeitsideal gegründet ist. Dabei hilft die dem apokalyptischen Denkmuster wesentliche Reduktion von Komplexität, eine klare Handlungsanweisung zum Erreichen dieses Ziels zu formulieren.438 Diese säkularisierte Spielart der Apokalyptik, die durch Bedrohung Angst er431 

Ausführlich stellt diese beiden Typen dar: Horn: Enden. Vgl. a. a. O., 102. 433  A. a. O., 111. 434 Ebd. 435  A. a. O., 116. 436  A. a. O., 117. 437  Schipper , B. U.: Zwischen apokalyptischen Ängsten und chiliastischen Hoffnungen. Die religiöse Dimension moderner Utopien, in: Sorg/Würffel: Utopie, 47–61, hier: 59. 438  Vgl. a. a. O., 60. 432 

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zeugt, welche zur Umkehr motivieren soll, kann mit der mittelalterlichen Gerichtspredigt verglichen werden.439 Die Legitimation oder die Motivation moralischer oder politischer Entscheidungen in der Gegenwart und die damit verbundenen klaren Handlungsanweisungen lassen sich als Begründung einer bestimmten Weltanschauung interpretieren und reagieren auf die Angst erzeugenden Gefühle der Unübersichtlichkeit der Welt, der Komplexität und Tragweite menschlicher Entscheidungen und die damit verbundene Überforderung des Einzelnen oder des politischen Akteurs mit seiner Verantwortung. Die mitunter klaren Kategorien von Gut und Böse vermitteln dabei in einer Welt der Ungewissheit scheinbare Gewissheiten.440 Entlastend wirkt außerdem der Gedanke der kollektiven Verantwortlichkeit und – im Bild der kupierten Apokalypse – die damit verbundene Aussicht, dass alle sterben.441 Zudem verspricht die Apokalyptik einen klaren Zeitpunkt des Lebensendes, der die menschliche Unsicherheit angesichts der Kontingenz des Le-

439 Vgl.

Slenczka: Der endgültige Schrecken, 113, der die Bildgewalt des Terrors mit der der mittelalterlichen Gerichtsvorstellung vergleicht. Mit diesem Vergleich wir hier von Hirschs Aussage Abstand genommen, dass es in unserer Zeit nicht mehr möglich sei, „mit irgendeiner Verkündigung der Nähe des Weltendes nach der Art des neuen Testaments in uns irgend einen Gerichts- oder Bußernst zu erwecken. Das Ende unsrer Welt ist für uns nicht mehr ein Bevorstehendes, Nahes, den ganzen Kosmos Betreffendes, sondern das unbestimmte ‚Irgendwanneinmal‘ eines zwergenhaften kosmischen Teilereignisses.“ (HchR, 395). Die Frage ist natürlich, ob sich Theologie und Kirche in die Gruppe der Propheten eines endzeitlichen Gerichts, die das Ziel einer moralischen Umkehr verfolgen, einreihen oder nicht. Man könnte z. B. im Bezug auf den Klimawandel den moralistischen Gerichtspredigern folgende Alternative entgegensetzen: Man deckt zwar die mit dem Klimawandel verbundene soziale Ungerechtigkeit und die menschliche Schuld als bittere Wahrheit auf, stellt diese aber in einen weiteren schöpfungstheologischen Rahmen, indem man zugleich die Hoffnung vermittelt: Der Mensch kann Gottes Zielsetzung mit dieser Welt nicht kaputt machen. Er wird zum Zeichen der schöpferischen Liebe Gottes, wenn er nicht zerstört und den Tod wirkt, sondern in dem ihm gesetzten Rahmen und nach seinen Möglichkeiten lebensfördernd handelt. Die mit dem Thema verbundene Ohnmacht, die sich angesichts der kausalen Verkettung aller möglicher Handlungen und Lebensweisen zuweilen einstellt, kann in den Rahmen des Vertrauens darauf gestellt werden, dass Gott den Überblick behält und es zum Guten wenden wird. Vgl. dazu die m. E. zutreffende Feststellung bei Stümke, V.: Das Jüngste Gericht – Apokalyptischer Mythos oder unverzichtbarer Bestandteil der Dogmatik?, in: Vögele, W. (Hg.): Aktuelle Apokalyptik!, Rehburg-Loccum 2000, 119–138, hier: 131 f.: „Zum einen ist es Sünde, daß wir als Täter aktiv an der apokalyptischen Bedrohung der Schöpfung beteiligt sind. Und zum anderen ist die Selbstüberforderung des Menschen als Sünde aufzudecken, denn er will dem Allmächtigen gleich sein, kann es aber nicht.“ 440 Vgl. Schiesser: Flirting, 6–8. 441  Vgl. a. a. O., 5 f.8; Horn: Enden, 112.

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

bens ausräumt442 und die Erfahrung von Stress und Zeitdruck443 insofern relativiert, als die Zeit bis zum Ende klar strukturiert werden kann. Geht die apokalyptische Vorstellung über das reine Katastrophenszenario hinaus und entwickelt Bilder eines Weiterlebens, dann kann ihr entweder die Funktion zugeschrieben werden, dem Angst erzeugenden Gefühl der Bedeutungslosigkeit mittels eines Elitebewusstseins entgegenzuwirken oder dem Individuum die Hoffnung auf sein Überleben in der Allgemeinheit der Gattung zu vermitteln. Das Elitebewusstsein ist in den säkularisierten Vorstellungen dort zu greifen, wo sich eine bestimmte, festgelegte Gruppe von Menschen für das Weiterleben qualifiziert: Klar tritt dieser Gedanke im Bild vom Krieg der Arten hervor – die eine Art ist des (Über-)Lebens würdig, die andere nicht. Aber auch die Vorstellung vom Rettungsboot Erde zielt u. U. darauf, dass für die Sicherung des postkatastrophischen Überlebens der Menschheit eine bestimmte Gruppe von Menschen mit besonderen, gesellschaftlich bedeutenden Qualifikationen444 oder ein einzelner Genius (Weltenretter)445 nötig ist. Das Fremdheitsgefühl – das tradi­tio­ nell eine Grundstimmung einer bestimmten, weltflüchtigen, sich religiös abschottenden Gruppe charakterisiert – gewinnt in der Gegenwart an neuer Bedeutung: Die mit der Globalisierung und der gesellschaftlichen Pluralisierung einhergehende Unübersichtlichkeit der Welt, die Konfrontation mit verschiedenen Rollen statt mit klaren Werten, das Wegbrechen alter Selbstverständlichkeiten, die freie Wahl zwischen unzähligen Möglichkeiten statt einer klaren, institutionellen Steuerung des Lebens können beim Einzelnen zur Angst vor dem Identitätsverlust und zu einem Gefühl der Ungeborgenheit in dieser Welt führen.446 442 Vgl.

Nüchtern: Endzeitstimmung, 4; Schiesser: Flirting, 8. Vgl. ebd. 444 Vgl. Horn: Enden, 112 f. Eva Horn zitiert hier u. a. aus dem Film Deep Impact, in dem „Wissenschaftler, Mediziner, Ingenieure, Soldaten, Künstler“ und eine zufällig generierte Gruppe weiterer Personen (0,3% der Gesamtbevölkerung) überleben dürfen. 445 Vgl. Dormeyer , D./H auser , L.: Weltuntergang und Gottesherrschaft, Mainz 1990, 110 f. Vgl. die Filme Armageddon – Das Jüngste Gericht/Armageddon (Michael Bay), USA 1998 und Terminator 2 – Tag der Abrechnung/Terminator 2: Judgment Day (James Cameron), USA/Frankreich 1991. 446 Vgl. Ebertz: Anfällig, 133; Nüchtern: Endzeitstimmung, 5. Valentin R auer argumentiert auf Grundlage der geisteswissenschaftlichen Diskussion um 9/11, dass am Beginn des 21. Jh. die Bedrohungsszenarien durch „existentielle Ununterscheidbarkeiten“ charakterisiert sind – er bezeichnet diese Lage als „apokalyptoid“ (R auer: Apokalyptische Verunsicherung, 169). R auer schreibt zu 9/11: „Eine mediale Objektivation wurde zugleich als potenziell entgrenztes Ereignis wahrgenommen. Real- und Medialerfahrung fielen in eins. Die Unterscheidung in ein Damals-und-dort und ein Hier-und-jetzt entdifferenzierte sich in ein Überall-und-jetzt. Ferne und Nähe wurden mit einem Mal ununterscheidbar.“ (A. a. O., 171.) Er kommt zu dem zeitdiagnostischen Schluss: „Bedrohlich erscheint nicht mehr das Andere, das Differente oder das Böse, sondern der Verlust von Beurteilungskriterien. Ohne Kriterien 443 

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Das Gefühl der Beherrschbarkeit der Welt schlägt um in ein Gefühl der Fremdheit in der Welt.447

c)  Die Angst vor dem Weltende als Angst des Menschen um sich selbst Apokalyptische Vorstellungen können der hier gegebenen Analyse nach als Reaktion auf die verschiedenen Faktoren, die die menschliche Existenzangst auslösen und fördern – als Konfliktlösungsstrategien – begriffen werden, wobei die Angst des Einzelnen in eine kosmische Dimension gestellt wird. Setzt man sie in Beziehung zu den oben kategorisierten Spielarten menschlicher Existenzangst, können folgende Parallelen gezogen werden: Die angstauslösenden Gefühle der Bedeutungslosigkeit, der Passivität bzw. Ohnmacht, der Kontingenz, der Überforderung, der Unübersichtlichkeit spielen hier wie dort die entscheidende Rolle. Auf der Ebene der Apokalypseangst nimmt die Komplexität der Welt – die sich für den biographischen Selbstoptimierer in den Nöten der freien Wahl zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Rollen niederschlägt – eine besondere Stellung ein: Die apokalyptischen Vorstellungen zielen mit klaren Sicherheiten über den Zeitpunkt des Weltendes, über die Ordnung der Welt, über das Wesen des Menschen, darauf, Komplexität zu reduzieren. Vielleicht sind sie gerade deswegen im Gegenüber zum Phänomen der Pluralisierung so attraktiv.448 der Unterscheidung laufen politische Responsivität und Responsibilität ins Leere. Die Bedrohung durch ungewisses Nichtwissen verweist auf eine Bedrohung die nicht mehr durch ein fiktives Nicht-Ereignis oder ein Revolution hervorgebracht wird, im Sinne der Umwertung aller Werte, sondern durch Ununterscheidbarkeit.“ (A. a. O., 173.) Diese wird sicher dadurch gesteigert, dass das Böse – z. B. in Form junger Deutscher, die vom IS rekrutiert werden – in den eigenen Reihen lauert und nicht klar auf bestimmte Menschengruppen verteilt werden kann. Dennoch wird im „Krieg gegen den Terror“ m. E. der Versuch einer – dem apokalyptischen Duktus ähnlichen und die Ununterscheidbarkeit relativierenden – Dualisierung unternommen, die die ‚gnadenlose‘ Reaktion (François Hollande) auf terroristische Anschläge rechtfertigt. 447 Vgl. Körtner: Weltangst, 90. 448 Anja Bednarz weist auf Grundlage von ihr geführter und analysierter Interviews zum Thema Tod hin, dass „Ordnungsbestrebungen“ und „der Wunsch oder das Bedürfnis nach Kontrolle“ dem modernen menschlichen Selbstbild entsprechen, eine „unabhängige, selbstbestimmte und autonome“ Einheit zu sein, „die auf ihre Umwelt Einfluss und Kontrolle“ ausübt (Bednarz, A.: Den Tod überleben. Deuten und Handeln im Hinblick auf das Sterben eines Anderen, Wiesbaden 2003, 216). Die Vorstellung des eigenen Todes und eines Weltendes irritieren dieses Selbstbild, weil sie die Erfahrung der Ohnmacht, Fremdbestimmtheit und des Chaos bzw. der Kontingenz vermitteln. „In diesem Zusammenhang werden die Kategorien Berechenbarkeit, Gestaltbarkeit und Verfügbarkeit für das Leben und somit auch für den Tod wichtig.“ (A. a. O., 220.) „Der Tod bedeutet offenbar einen Verlust der Ordnung des Verhältnisses von Selbst und Welt, die mit dem Verlust der Kontrolle über die umgebenden

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Ausblick: Die Nacht des Todes vom Heute her deuten

Im Rahmen der rationalistisch-naturwissenschaftlichen Vorstellung eines absoluten, notwendig ausstehenden Weltendes kommen die menschlichen Reak­ tionen auf die Todesangst in Form der Resignation und des Freiheitsverzichts oder der absoluten Gegenwartsbezogenheit zum Tragen: Geht die Welt sowieso unter, dann erscheint ein Handeln für die Welt oder für den eigenen Lebenserhalt sinnlos. Mit dieser Einsicht kann gleichzeitig das Gefühl der Entlastung von der Verantwortung des Einzelnen für sein Geschick – alle sind gleichermaßen verantwortlich – oder der Befreiung von jeglichem Verantwortungsbewusstsein für das menschliche Leben einhergehen – die Angst vor dem bestimmungsgemäßen Leben scheint bewältigt. Die diesem Lebenskonzept gegenläufige Betonung der sozial-ethischen Verantwortlichkeit, die das eigentlich doch in ungreifbarer Ferne liegende Schreckensszenario als Motivation zur Umkehr nutzt, ist als Form des absoluten Lebenserhalts zu begreifen, die auf die Angst um das zeitliche Leben reagiert. Ebenso findet sich in apokalyptischen Vorstellungen die aus einem immanenten Selbstverständnis abgeleitete Hoffnung auf die Aufhebung des Einzelnen in die menschliche Gattung wieder: Das Ende der Menschheit würde für die Vorstellung des Weiterlebens des Einzelnen in der Erinnerung, im kulturellen oder im biologischen Erbe der Menschheit das Aus bedeuten. Alternativ gibt es Modelle des Überlebens einer bestimmten Gruppe von Menschen, die sich entweder durch ihre besonderen Eigenschaften oder Fähigkeiten auszeichnet 449 – das schließt an das Konzept der Selbstrettung durch Selbstoptimierung an. Oder diese Gruppe wird per Zufall bzw. aufgrund einer ‚tragischen Entscheidung‘ generiert – hier geht es um das bloße Überleben der Menschheit und ihrer wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften, mit der der Einzelne sich seiner Gattung nach identifiziert und in der er sich verewigt weiß. Die Parallelität zwischen der Apokalypseangst und der Angst vor dem eigenen Tod führt zu der Annahme, dass die Angst vor dem Weltende wie bei Hirsch Bedingungen einhergeht. Der Abbruch der Verfügbarkeit über Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten führt zu einem Bruch des Selbstbildes vom selbstbestimmten zum fremdbestimmten Ich. Gefühle des Unterworfenseins, der Diskontinuität und des Ausschlusses konstituieren das Subjekt dabei in gleicher Weise, wie Handlungsfähigkeit, Stabilität oder Teilhabe es ansonsten tun.“ (A. a. O., 221.) 449  Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die vom Gut-Böse-Dualismus geprägte und mit der Vorstellung eines Endkampfes verbundene Apokalyptik des IS, die ihn als Begleiterscheinung der Moderne ausweist und sicher auch einen Teil seiner Attraktivität ausmacht (vgl. Flade, F.: Warum der IS die Apokalypse herbeisehnt. Der militärische Kampf gegen die Terrormiliz IS soll ausgeweitet werden, auch Deutschland wird sich beteiligen. Die Terroristen aber sehnen sich nach dieser Konfrontation – denn sie wurde prophezeit, DIE WELT 30.11.2015, auf: http://www.welt.de/politik/deutschland/article149438108/Warum-der-ISdie-Apokalypse-herbeisehnt.html, zuletzt geprüft am: 01.03.2016).

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als eine Ausdrucksform der Angst des Menschen um sich selbst zu begreifen ist, auf die letztlich alle Formen der Angst zurückzuführen sind.450 Die menschliche Beschäftigung mit dem Weltende kann in dieser Argumentationslinie mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen, unweigerlich bevorstehenden Tod gleichgesetzt werden. Sie kann als Extrapolation, als „eine Projektion der ‚inneren Apokalypse‘ […,] als kulturelles Äquivalent“451 des individuellen Todesbewusstseins begriffen werden. Eine besondere Bedeutung haben in diesem Vorgang die Reduktion von Komplexität und der apokalyptische Universalismus: Die Vorstellung des eigenen Todes wird nun zum einen von verschiedenen Sicherheiten begleitet, die jegliche Verunsicherung ausräumen, zum anderen wirkt die Eingliederung des Einzelnen in das Gesamtgeschehen des Untergangs entlastend. Der pathologische Extremfall der Weltangst, dass der eigene „Standverlust“ Ausmaße einer kosmischen Katastrophe annimmt – der Mensch „stürzt gleichsam und wird von der Welt überwältigt und überflutet. Indem sie auf den Menschen einstürzt, stürzt die Welt ein“452 –, führt darüber hinaus die Abhängigkeit der Weltangst von der Selbstangst vor Augen.453 Die Beschäftigung mit dem Weltende kann damit als ein vielleicht einfacher zu bewältigender Ersatz für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod gedeutet werden.

d)  Theologische Konsequenzen – Die Uneigentlichkeit der Bildsprache Aus theologischer Perspektive hat die These, dass die Weltangst eine Ausdrucksform der Selbstangst ist, verschiedene Konsequenzen. Auf der Ebene der dogmatischen Lehrbildung bzw. der systematischen Durchdringung und Kritik der theologischen Tradition kann die zeitlogische Gleichsetzung von individuellem Tod und Weltende phänomenologisch hergeleitet und die systematischtheologische Reserve gegen eine theologische Kosmologie,454 insbesondere ge450 

Vgl. Zw, 80. Schiesser: Flirting, 8. 452  Körtner: Weltangst, 80. 453  Ebd. Zur Begründung dieser These kann das Phänomen psychotischer Störungen herangezogen werden, die Weltuntergangsphantasien als Lösungsstrategien für persönliche Konflikte, Krisen und Ängste entwickeln, vgl. Utsch: Y2K, 29; Körtner: Weltangst, 74–81; Kulenkampff, C.: Entbergung, Entgrenzung, Überwältigung als Weisen des Standverlustes. Zur Anthropologie der paranoiden Psychosen, in: Straus, E./Zutt, J. (Hgg.): Die Wahnwelten. Endogene Psychosen, Frankfurt a. M. 1963, 202–217; Kulenkampff, C.: Zum Problem der abnormen Krise in der Psychiatrie, in: Straus/Zutt: Die Wahnwelten, 258–287; Henseler, H.: Untergangsphantasien – Psychoanalytische Überlegungen, in: Cremerius, J. u. a. (Hgg.): Untergangsphantasien, Würzburg 1989. Vgl. Lars von Triers Film Melancholia (s. o., 404, Anm.  387). 454  Die Argumentation für einen „Abschied von der Kosmologie“, die von einer mit der 451 

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gen eine theologische Lehre vom Weltende,455 in einer weiteren Dimension plausibilisiert werden. Die Differenzierung zwischen beiden Formen der Angst muss dann ebenso wie die Unterscheidung zwischen der Bedeutung des individuellen Todes und der des Weltendes für das Subjekt als eine nachträgliche begriffen werden. Der Weg der Aussparung apokalyptischer Denkmuster aus der wissenschaftlichen Theologie muss nicht heißen, dass auf die Reflexion darüber, was der Gedanke vom Weltende für den Menschen und sein Gottesverhältnis bedeutet, verzichtet oder die apokalyptische Bildwelt von vornherein als diskussionsunwürdig abgetan wird. Die Aufgabe der Theologie gestaltet sich m. E. als konstruktive Kritik apokalyptischer Vorstellungen und als Herausarbeitung der der modernen Ausdifferenzierung gesetzten grundsätzlichen „Perspektivendifferenz“ zwischen naturwissenschaftlicher Erklärung und religiöser Deutung ausgeht, zeichnet Ulrich Barth nach (Barth, U.: Abschied von der Kosmologie. Welterklärung und religiöse Endlichkeitsreflexion, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 401–426). 455  S. o., 3.A.a, 126 ff. Neben dem Argument, dass die Aussparung einer theologischen Lehre vom Weltende dazu tendiere, die soziale Dimension der Vollendung menschlichen Lebens zu vernachlässigen (so die Kritik bei Zerrath: Vollendung, 268 f., an Hirsch, die hier zu relativieren versucht wurde [s. o., 3.D, 159 ff.]) liegt das Hauptargument für eine theologische Lehre vom Weltende – das hier nur benannt und nicht eingehend diskutiert werden kann – in der Gotteslehre: Der Schöpfergott muss dem Erlösergott entsprechen. Wenn Gott der Allmächtige ist, dann hat er die ganze Welt geschaffen und ihr die Zusage ihres Gutseins gegeben. Will er sich treu bleiben, kann er sich am Ende nicht nur auf die Erlösung des Menschen beschränken. So kommt z. B. Matthias R emenyi zu dem Schluss: „Wer folglich den außermenschlichen Kosmos aus der Vollendungshoffnung ausschließt, beschneidet damit den Gottesbegriff selbst. Umgekehrt gilt, dass nur eine wirklich unverkürzte Hoffnung auf universale Erlösung alles Geschaffenen den zentralen Gottesprädikationen – Vollkommenheit, Unendlichkeit, Einfachheit und Einzigkeit, Allmacht und Allgüte – gerecht zu werden vermag.“ (R emenyi, M.: Apokalyptischer Weltenbrand oder Hoffnung für den ganzen Kosmos? Theologische Überlegungen zum Ende der Welt, in: ThQ 188 (2008), 50–68, hier: 60.) Dem korrespondieren die Annahme einer theologischen Lehre von der Weltentstehung und – damit verbunden – dass nicht nur der Mensch, sondern die gesamte Schöpfung auf ihren Schöpfer ausgerichtet ist und von ihm her Selbstständigkeit zugeschrieben bekommt, die sie zum freien Lob des Schöpfers befähigt: „Jedes Geschöpf“ existiert „zuerst um seiner selbst willen […], nicht lediglich um eines anderen willen“ (Pannenberg, W.: Die Frage nach Gott als Schöpfer der Welt und die neuere Kosmologie, in: Müller, H. A. (Hg.): Kosmologie. Fragen nach Evolution und Eschatologie der Welt, Göttingen 2004, 197–208, hier: 204). Von dieser Argumentation her müssen dann auch die Theologumena von endlicher Freiheit und Sünde auf die gesamte Schöpfung übertragen werden: Als „funktionale[s] Äquivalent“ zur menschlichen Freiheit sieht Matthias R emenyi die tierische „Nicht-Determiniertheit“ (R emenyi: Weltenbrand, 62). Die Struktur der Sünde kann Wolfhart Pannenberg zufolge mit „der Verselbstständigung der Geschöpfe gegeneinander“ (STh II, 200), mit dem der schöpfungsgemäßen Selbstständigkeit widersprechenden Selbstbehauptungsdrang aller Lebewesen auf die außermenschliche Schöpfung bezogen werden.

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Weltangst zugrundeliegenden Selbstangst, die ernstgenommen und gegebenenfalls in einen zur Apokalyptik alternativen Deutungsrahmen gestellt wird.456 Mit Hirsch ist zuerst auf die Bildhaftigkeit der Vorstellungen zu verweisen, wobei in positivem Sinne von der Notwendigkeit glaubenspraktischer Bildsprache ausgegangen wird457: Der Mensch muss sich Bilder machen, um seine subjektiven Erfahrungen und Ängste ausdrücken zu können, die jenseits eines allgemein feststellbaren und jedem nachvollziehbaren faktischen Wissens liegen. In kritischer Hinsicht geht mit der Kategorie des Bildes dessen Uneigentlichkeit einher: Bilder geben keine sachlich richtigen oder falschen Aussagen. Sie können mit Hirsch zum einen kein Bestandteil wissenschaftlicher Argumentation sein. Zum anderen muss jede Tendenz zur – mit Hirsch gesprochen: gesetzhaften – Ideologisierung kritisch hinterfragt werden. Das Kriterium für die Angemessenheit der Bilder ist ihre Lebensförderlichkeit, theologisch gesprochen: ihre Evangeliumsgemäßheit. Jede Tendenz zur Lebensfeindlichkeit macht das Bild für eine christliche Lebensdeutung unangemessen. Die von diesen Voraussetzungen getragene theologische Kritik kann auf die zwei Grundspielarten der säkularisierten Apokalyptik angewendet werden. Die postkatastrophischen Überlebensvorstellungen können zuerst auf die ihnen zugrunde liegende Angst vor dem Selbstverlust und die Sehnsucht nach einem ewigen Leben durchleuchtet werden. Dann kann aus theologischer Perspektive darauf verwiesen werden, dass sie im Blick auf das Menschenbild defizitär und unbarmherzig sind. Die Vorstellung vom Rettungsboot Erde malt ein Bild des nackten Überlebens ohne besondere Qualität, ein Leben im ständigen Bewusstsein der Knappheit und des Mangels, das einem Schattendasein gleicht, vor Augen. Sie unterliegt zudem der Tendenz, den Einzelnen entweder zugunsten der Gattung zu vernachlässigen oder den besonderen Einzelnen als Genius, der sich durch selbst erworbene Fähigkeiten auszeichnet, zu überhöhen. Daran kann die Frage angeschlossen werden, ob diese Vorstellung dem Einzelnen in seiner Lebensbewältigung im Hier und Jetzt hilft oder eher neue Ängste und Zwänge produziert: z. B. Selbstoptimierung, um zur Gruppe der Auserwählten zu gehören, Angst davor, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, Angst davor, den menschlichen, für das Überleben Ausschlag gebenden, Wertmaßstäben nicht zu entsprechen. Das andere Überlebensbild, die Vorstellung vom Krieg der Arten, 456  Vgl. die Kriterien, die Michael Rosenberger für eine Krisenpredigt aufstellt, die v. a. vor vorschnellen und pauschalisierenden kirchlichen oder theologischen Urteilen schützen, eine differenzierte Wahrnehmung der Situation anregen, die Predigenden in die Gruppe der Betroffenen einreihen und sie nicht als dem enthobene, allwissende Subjekte gegenüberstellen und die auf die Gefahr eine (Schein-)Eindeutigkeit vermitteln zu wollen hinweisen (Rosenberger: Empathische Prophetie, 296–298). 457  Zur Bildtheorie Hirschs s. o., 1.C.d, 76 ff.

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die auf einen klaren Dualismus zwischen würdigen und unwürdigen Menschengruppen setzt, ist aus theologischer Perspektive eine dem christlichen Menschenbild unangemessene Ideologisierung, die der Selbstprofilierung einer bestimmten Gruppe dient. Die gesellschaftliche Funktion dergestaltiger menschlicher Überlebensträume, nämlich bestimmte politische Systeme zu legitimieren, klare Handlungsanweisungen für politische Entscheidungen zu geben und ‚tragische‘ Entscheidungen zu rechtfertigen, kann kritisch freigelegt werden. Die zweite Spielart säkularisierter Apokalyptik, die Vorstellung eines absoluten, katastrophischen Weltendes, die entweder zum aktivistischen Lebenserhalt anregt oder in die gelähmte Resignation treibt und die als moralischer Weckruf genutzt wird, hat den naturwissenschaftlichen Gedanken eines absoluten Endes der Welt oder der Menschheit zur Grundlage. Diesem kann aus theologischer Perspektive mit Hirsch – jenseits der moralistischen Stoßrichtung – die Funk­ tion zugeschrieben werden, den Menschen endgültig auf seine schlechthinnige Abhängigkeit zu verweisen. Weil der Mensch dem unausweichlichen Ende der Welt ohnmächtig gegenübersteht, ist es als letztes, eindeutiges Zeichen der menschlichen Kreatürlichkeit zu verstehen. An dem bevorstehenden Ende der menschlichen Gattung wird deutlich: Den Lebenssinn im menschlichen Fortschritt und im Erhalt der menschlichen Gattung zu suchen, ihn also in der reinen Immanenz zu verankern, ist wie die damit einhergehende Vorstellung, sich in der Gattung unsterblich zu machen, problematisch.458 Eines transzendenten Lebenssinns, der gleichzeitig das zeitliche Leben in all seinen Facetten ernstnimmt, ist sich nach Hirsch’schem Verständnis der christliche Glaube gewiss. Er liefert keine die Angst ausräumende Komplexitätsreduktion, keine klaren Sicherheiten und vermag es auch nicht, Kontingenzerfahrungen zu vermeiden. Der christliche Glaube ist mit Hirsch „Lebensmöglichkeit“459 in der Spannung zwischen Gewissheit und Anfechtung, „Hoffen wider alles Hoffen“460, „Mut zum fraglichen Sein“461. Im Blick auf die Versprechen der Apokalyptik kann theologisch dementsprechend die Spannung zwischen Gesetz und Evangelium thematisiert werden. Die theologische Perspektive führt die Unverfügbarkeit der Glaubensgewissheit vor Augen und kritisiert von dort aus jede Scheinsicherheit. Sie hinterfragt den menschlichen Drang zur Selbstoptimierung, indem sie ihn als Sehnsucht danach, anerkannt zu sein, würdigt und demgegenüber das Vertrauen auf die gnädige göttliche Bejahung des zerbrechlichen, heillosen Seins des Menschen nachzeichnet. Dem Lebenserhalt um jeden Preis steht aus der Perspektive des menschlichen Gottesverhältnisses 458 

S. o., 3.A.a, 126 ff. ChR II, 97. 460  WrCh, 172. 461  Körtner: Weltangst, 384; Herv. A.‑M. K. 459 

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die Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lebens entgegen – der vollendete christliche Glaube ist sich darüber hinaus dessen gewiss, dass der Einzelne in seinem über das Sichtbare hinausgehenden Wesen, das nur Gott kennt, bewahrt wird. Der Angst vor Überfremdung kann damit aus der Perspektive des Glaubens die – schon gegenwärtige – Geborgenheit des Einzelnen bei Gott entgegengesetzt werden, die im Unterschied zur weltflüchtigen Vorstellung von der ewigen Heimat den Wert des zeitlichen Lebens erkennt: Sie betont die menschliche Verantwortung dem Leben gegenüber, die der Glaubende nicht aus der negativen Motivation des drohenden Untergangs und eines strafenden Gottes, sondern aus der jederzeitigen Gegenwart Gottes in der Welt und der göttlichen Befähigung zum Handeln herleitet. Dem Gedanken des Weiterlebens in der Erinnerung, im biologischen oder kulturellen Erbe begegnet der Glaube mit der Gewissheit der Vollendung des Lebens, die über das Vorstellbare und Menschenmögliche hinausgeht. Der Glaubende wie auch die Theologie gestehen damit ein, dass der Mensch den letzten Sinn des Lebens nicht von sich aus begreifen kann, sondern dass dieser allein bei Gott liegt.

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Namensregister Acklin Zimmermann, B.  13, 370 Adorno, T. W.  203 Althaus, P.  6, 9 f., 135 f., 256 f., 295, 297 f. Altmeyer, S.  346, 349 ff. Anselm, R.  238 Ariès, P.  7, 184, 335 Assel, H.  97 Assheuer, T.  342 Ball, A.  329 Bammel, C.-M.  359 ff. Barth, K.  6, 10, 37, 394 Barth, U.  19, 72 f., 88, 94, 96, 98, 106, 115, 117, 119 f., 122, 141, 296, 420 Barz, H.  334 Bay, M.  416 Becker, E.  7, 197, 338 Becker, U.  132, 364, 375, 411 Bedford-Strohm, H.  12, 335 Bednarz, A.  417 Behrenbeck, S.  237 Beintker, M.  12, 38, 335 f., 356 f., 399 Beyer, D.  355 Biehl, P.  357 Bierbrauer, G.  338 Binder, C.  350, 378 Birkner, H.-J  21, 22 Birnbacher, D.  1 Bitter, W.  7 Blume, C.  332 Böbel, F.  32, 44, 69, 92, 100 f., 103, 122, 130 Bobert, S.  401 Böhnke, M.  335 Boros, L.  6, 9 Boschki, R.  350 Bovon, F.  150 Braun, H.  363 f.

Brinkmann, F. T.  348 f. Brunner, E.  10 Brunotte, U.  237 Bürkle, H.  402 Cameron, J.  416 Campenhausen, H. v.  7 Charbonnier, L.  319, 324 f. Christe, W.  134 Condrau, G.  199 Conzelmann, H.  393 Cornehl, P.  350 Cottier, G.  205 Dahlgrün, C.  351 Danz, C.  12, 118, 356, 375 Deeg, A.  324 Dilthey, W.  30 Dion, C.  385 Dirschauer, K.  336 Dormeyer, D.  416 Drehsen, V.  326, 333, 336 f., 339, 342, 345 ff., 351, 357, 397 Dresen, A.  329 Dresske, S.  377 Drexler, C.  370 Ebeling, H.  7 f., 201, 203, 385 Ebertz, M. N.  410 f., 416 Elert, W.  10, 394 Elias, N.  185 Engemann, W.  324, 352 Epikur 2 Erlbruch, W.  329 Esser, A. M.  1, 13, 376 Etzelmüller, G.  12, 140, 142, 373, 399

448

Namensregister

Fechtner, K.  3, 359 ff., 367 f., 380, 387, 394, 397, 403 Feeser-Lichterfeld, U.  14, 346, 350 Feifel, H.  7 Feldhusen, A.  404 Feldmann, K.  132, 184, 188, 215, 226, 328, 329, 331 ff., 338, 363 f., 375, 411 Ferber, C. v.  384 Fichte, J. G.  40, 67 Fischer, H.  35, 325 Fischer, N.  327 Fix, K.-H.  14, 343, 345 Flade, F.  418 Foucault, M.  328 Frettlöh, M. L.  12, 399 Frey, J.  13 Friedrichs, L.  352, 394, 396 f. Frisch, R.  380 Fröhlich, G.  411 Fuchs-Heinritz, W.  7, 132, 184, 225, 331, 337 f., 342, 382 Fuchs, O.  12, 376 Fuchs, T.  199 Gehring, P.  2, 7 f., 328, 336, 340, 342, 377 Gerdes, H.  15, 22 Gerlach, H.-M.  205 Gestrich, C.  12 Goertz, S.  13 Gräb-Schmidt, E.  12, 356 Gräb, W.  3, 66, 116, 319, 321, 325, 329, 351 f., 397 Graf, F.-W.  13, 215, 337, 339, 346, 351, 395 Green, J.  329 Greiner, U.  361 Greshake, G.  10 Gromes, S.  355 Grönemeyer, H.  385 Gronemeyer, R.  336 Groß, D.  407 Grünwaldt, K.  14, 387 Gutmann, H.-M.  237, 331, 352, 387 Hahn, A.  7, 330 f., 339, 340 Hahn, U.  14 Hailer, M.  380 Hammer, A.  370 Haneke, M.  329

Härle, W.  9, 226, 326 Hauser, L.  416 Hegel, G. W. F.  40, 51, 94, 187 Heidegger, M.  8, 179, 181, 197, 201 ff., 211 ff., 226 Heidland, H.-W.  261 Heimbrock, H.-G.  324 f. Hellbach, H.  385 Henning, C.  10 ff., 147, 386, 394 Hentschel, M.  15 f., 32, 70, 191, 295, 304 Herbst, M.  324 Hermelink, J.  332, 346 Herms, E.  15, 29, 71 f., 90, 100, 118 Herrndorf, W.  329, 355, 364 Herzog, M.  329 Hetzel, A.  328, 335 Heymann, D.  393 Hirsch, L.  355 Hobbes, T.  51 Hoffmann, M.  330 f., 339 f. Hollande, F.  371, 417 Horn, E.  328, 411, 413 ff. Huber, W.  378 Hume, D.  132 Huntington, S. P.  328, 339, 410 Husserl, E.  129 Huxel, K.  10, 12, 30, 283 f., 387 Iñárritu, A. G.  329 Jankélévitch, V.  7 Janke, W.  40 Janowski, B.  290, 369 Janowski, C.  142, 252, 255, 279, 399 Jaspers, K.  51, 179, 197 f., 201, 205 ff. Jenny, S.  7, 407 Johannsen, F.  132, 364, 375, 411 Jonas, H.  197 f. Jörns, K.-P.  369 Josuttis, M.  377, 387 Jüngel, E.  6, 9 f., 12 f., 42, 184 ff., 226, 363, 382, 386, 388, 390, 394 Junge, M.  363 f. Kant, I.  42, 132 Karle, I.  325 Kersting, D.  1, 13, 376 Kettler, D.  13

Namensregister Kierkegaard, S.  40, 108, 133, 179, 193 ff., 197 f., 200 f., 204, 212, 253 Klein, R. A.  375 Klie, T.  4, 13 f., 325, 332 ff., 343, 350 f., 386 Klinger, C.  6, 237, 330, 340, 390 Koch, T.  13, 198, 395 f., 399 Körber, K.  14 Körtner, U.  13, 196, 198, 226, 328, 382, 387, 401, 405, 411 ff., 417, 419, 422 Kretschmar, G.  332 Kübler-Ross, E.  7 Kuhse, H.  238 Kulenkampff, C.  419 Kumlehn, M.  13, 329 Kunz, R.  13 Lafontaine, C.  328 Lammer, K.  14, 352, 387, 400 Lange, D.  62, 71, 103, 239, 248, 388 Lasogga, M.  16 f., 32, 48, 51, 90, 96 f., 100, 144, 309, 322, 347 Lechner, G.  363 f. Leder, M.  404 Lobe, M.  15 f., 34 f., 41, 51, 61 ff., 97 Lübbe, H.  407 Luther, H.  336, 342, 348, 351 f., 376 Luther, M.  11, 47, 55, 78, 105, 109, 115, 127, 146, 153, 227, 257, 273, 277, 292, 300 Luthe, S.  333, 343 Lütze, F. M.  350, 352, 357, 391, 397 Macho, T.  330, 335, 339, 341 Mahlmann, T.  10, 12 Manser, J.  6 Marek, K.  335, 339 Martin, G. M.  324 Marx, K.  51 Merzyn, K.  319, 324 f. Meyer-Blanck, M.  410 Meyer, J.-E.  334 Meyer, M.  404 Meyer, P.  319 Michel, D.  276 Mischke, M.  328, 336 Moltmann, J.  10, 38 Moody, R. A.  7 Mühling, M.  165 Mühlum, A.  7, 331

449

Müller, H. M.  16, 19 f., 36, 46, 71, 116, 183, 282, 319 ff. Münkler, H.  371 Nassehi, A.  2, 328, 330, 335, 339 ff., 343 f., 346, 350 Neuenschwander, U.  15 Nicol, M.  324 Nietzsche, F.  51 Nord, I.  333, 343 Novalis  40, 42 Nüchtern, M.  411, 413, 416 Ohst, M.  15, 30, 33, 71, 74, 100, 282, 319, 322 Otto, R.  91 Pannenberg, W.  6, 8 ff., 224, 337, 374, 386, 394, 420 Paus, A.  6, 7, 199 Peters, A.  8 Petzold, E. R.  14 Pieper, J.  7 Plessner, H.  51 Plieth, M.  352 Pock, J.  14, 346, 350 Probst, M.  371 Puhdys 355 Rahner, K.  5 f., 9 f., 278, 279 Rauer, V.  412 f., 416 Reiner, R.  329 Remenyi, M.  12, 420 Reuter, I.  325, 350, 361, 397 Reutlinger, C.  331 Riemann, F.  195, 199 Ringleben, J.  12, 15, 19, 62 Ritter, W. H.  370, 372 Rölli, M.  7, 8, 328, 336, 340, 342, 377 Rosenau, H.  13, 69, 246, 260 Rosenberger, M.  410, 421 Roth, M.  32, 69, 90, 102 f., 105, 272, 277, 293, 299 Roth, U.  14, 319, 326, 338 f., 343, 345, 347 f., 387 Rotte, R.  370 f. Rüegger, H.  13, 335

450

Namensregister

Saake, I.  330, 339 f., 343 f., 346, 350 Saborowski, M.  7 f., 328, 336, 340, 342, 377 Sartre, J.-P.  8, 197, 204, 358, 393 Schaede, S.  10, 12, 351, 379, 386 Schäfer, C.  1, 13, 376 Schardien, S.  13 Schärtl, T.  335 Scheler, M.  2, 335 Scheliha, A. v.  19, 35, 64, 67 f., 74, 118, 120, 205 Schelling, F. W. J.  51 Scherer, G.  2, 7 f., 130 Schibilsky, M.  4 Schiesser, U.  411, 413, 415 f., 419 Schipper, B. U.  414 Schlag, T.  370, 372 Schlatter, A.  10 Schleiermacher, F. D. E.  86, 115, 252 Schlich, T.  13 Schlingensief, C.  329 Schmalenberg, E.  9 Schmidt, M.  371 Schneider-Flume, G.  11 Schneider-Harpprecht, C.  332, 346, 352, 391 Schneider, W.  13, 335, 371 Schreiber, M.  334 Schröter, J.  13, 100 Schüle, A.  394 Schulz, W.  197 f., 209, 385 Schumacher, B. N.  8, 181, 201 Schütte, H.-W.  15 Schwarz, C.  370 f. Schweikhardt, C.  407 Schwöbel, C.  5 Slenczka, N.  12 f., 100, 280, 298, 356, 358 f., 363, 368, 380, 415 Sopata, M.  6 Spengler, O.  193 f., 196 ff. Spiegel, Y.  399 Stange, C.  10, 245, 277 Stebler, C.  14 Stock, K.  10 Strasser, K.  14 Striet, M.  13

Student, J.-C.  7, 331 Stuhlmann, R.  372 Stümke, V.  12, 415 Sunderbrink, B.  333 Tag, B.  407 Taschner, J.  371 f. Theunissen, M.  8 Thiede, W.  12, 335 f., 338, 356, 399, 408 Thielicke, H.  6, 11, 394 Tillich, P.  208 Toynbee, A.  7 Trillhaas, W.  15, 41 Tück, J.-H.  12, 399 Tugendhat, E.  215, 365, 408 Uden, R.  336 Utsch, M.  410 f., 419 Vondung, K.  412 f. Wagner-Rau, U.  326, 335, 359, 361, 366, 387, 393 Wandinger, N.  370 Waser, P. G.  407 Weber, G.  2, 35, 51, 330, 335, 343 Weigel, S.  407 Weinrich, M.  85, 89 Welker, M.  388, 394, 408 Welsch, W.  3 Wenz, G.  11, 244, 356, 399 Weyel, B.  3 f., 334, 387, 394 Wieser, V.  412 Wilke, M.  201, 205 Wittekind, F.  21, 118, 139 Wittwer, H.  1, 3 f., 327, 333 Zerrath, M.  16 ff., 29, 45, 47, 70, 86, 97, 110, 117, 128, 135 f., 162, 173, 182, 232, 251 f., 273, 296, 299, 309, 420 Zillessen, D.  394, 398 Zimmerling, P.  401 Zimmermann-Acklin, M.  13, 238, 240 Zolles, C.  412 Zolles, M.  412

Sachregister Anerkennung  111, 135, 359, 362 f., 367 f., 379, 384 –– Ehre  53, 111, 120, 239, 291, 359 Angst –– Angst und Sehnsucht  180, 192 ff., 196, 199 f., 204, 213, 216, 232, 234, 236, 241 f., 251, 264, 303, 351, 362 f., 408 f., 421 –– Angst vor der Bestimmung  192, 195 f., 199, 212, 406, 418 –– Angst vor der gnadenlosen Erinnerung  392, 393 –– Angst vor der Nichtigkeit  193, 195, 303, 358, 362 f., 365 f., 374, 379, 382 f., 406 f. –– Angst vor Überfremdung  423 –– Apokalypseangst  410 f., 417 f. –– Existenzangst  192 f., 198, 203, 209, 213, 405 f., 408, 417 –– Gerichtsangst  9, 11, 138 f., 141 ff., 145, 196, 212, 241, 244, 259 f., 357, 365, 379, 406, 414 –– Gewissensangst 196 –– Herzensangst  192 f., 196, 198, 204, 251, 411 –– Lebensangst  160, 192 f., 235, 241 f., 261, 264, 269, 302, 306, 331, 362 –– Lebensgier  160, 184, 209, 235, 240, 242, 264, 269, 302, 306, 330, 362, 368 f., 407, 422 –– Schamangst  360 ff., 367 –– Selbstangst  180, 196 ff., 212 ff., 354, 405, 409, 413, 419, 421 –– Todesangst  180, 184, 190 ff., 195 ff., 203 ff., 209, 212, 216, 241, 338, 353 f., 362, 368, 390, 404 f., 408 f., 418 –– Weltangst  165, 192 f., 196 ff., 204, 213, 251 f., 354, 405, 409 f., 413, 419, 421 Apokalyptik  37, 126, 128, 149, 405, 410 ff. –– innere Apokalypse  419

–– kupierte Apokalypse  413 ff. –– säkularisierte Apokalyptik  414, 418, 421 f. Beerdigung (Bestattung)  14, 23, 240, 319, 325 f., 332, 334, 336, 345, 348 f., 357, 385, 394, 396, 399 f., 402 –– anonyme Bestattung  332, 343, 386 –– Feuerbestattung 332 –– Friedwald  332, 334 –– Seebestattung 334 Buße  110 f., 141, 150, 300 f., 310 –– Bußernst  137, 415 –– Doppelbewegung von Glaube und Buße  110, 113, 144, 150, 234, 274, 298, 350 Dasein  2, 8, 39, 63, 130 f., 148, 152, 157, 180, 184, 186 f., 194 ff., 201 ff., 212 f., 217, 221, 223, 225, 227, 238, 240 f., 245, 249, 262, 264, 270, 284, 312, 405, 409, 412 –– Endlichkeit  47 f., 54, 57 ff., 61 ff., 97 f., 108, 112, 131, 133 f., 146 ff., 159, 161, 164 f., 173, 181, 189, 192, 194, 198, 200, 210, 212 f., 216 f., 224 f., 232, 244, 247, 256, 263, 276, 278, 282, 284 f., 291, 299, 301 f., 304, 308 f., 337, 355, 358, 362, 375, 384, 405, 408 f. –– Kampf  51 f., 207 f., 269, 284 –– Kreatürlichkeit  2, 17, 42, 47 f., 51, 54, 59, 107 f., 121, 130, 147, 161, 165, 180, 186 f., 194 f., 200, 205, 212 f., 217, 222, 224, 233, 240, 245, 291, 299, 301, 308, 409, 422 –– Selbsterhaltung  51 f., 54, 58 f., 144, 180, 193, 207, 212, 216, 228, 239, 241 –– Sterblichkeit  22, 51, 97, 131, 180 f., 190, 216, 224 f., 243, 303, 339, 342, 376, 405

452

Sachregister

Dialektik von Gesetz und Evangelium  74, 91, 94 f., 105, 110, 142, 281 f., 287 f., 296, 300, 302 f., 322, 327, 345, 381, 422 –– Aufhebung (dialektisch)  94 –– Vertiefung (dialektisch)  94 ff., 109, 292 –– Verwandlung (dialektisch)  95 f., 109, 171, 241, 313 Einstellungen zum Tod –– Carpe Diem  186 f. –– kreatürliche Todesfurcht  165, 192 f., 199 f. –– Lebensflucht  107, 186 f., 209, 217, 270 –– Mut  23, 267 f., 279, 291, 305, 422 –– Nichtwissen  37, 133, 169, 186, 208, 304 f., 417 –– Sichtbarkeit des Todes  335, 339, 342 –– Tapferkeit  204, 210, 269, 277 f., 302, 369, 377 –– Todesexperte  343 f., 346 –– Todesforscher  343 f., 350 –– Todesverdrängung  2, 23, 184, 203, 224, 327, 331, 335 ff., 342, 344 f., 351 Evangelium  69 f., 74 ff., 84, 94, 99 ff., 110, 119, 142 ff., 190, 216, 251, 265, 281 ff., 285 f., 288 f., 296 f., 310, 321, 381, 398 f., 421 Geheimnis –– Geheimnis der Offenbarung  40, 45, 61, 83, 85 f., 88, 90, 97, 102, 129 f., 137, 140, 150 f., 153 f., 156, 158, 170, 206, 247, 249, 273, 281, 401 –– Geheimnis des Lebens  6, 32, 35, 198, 206, 219, 352, 360 f., 375, 393 –– Geheimnis des Reiches Gottes  149 f. –– Geheimnis des Todes  1, 20, 22, 39 f., 42, 76, 182, 184, 189, 249, 267, 273 f., 279, 296, 300, 303 ff., 312 f., 360, 383 –– Glaubensgeheimnis  30, 33, 69, 73 f., 88, 153 –– Menschentum ohne Geheimnis  34, 54, 197, 199, 352 Gesetz –– Gesetz der Vernunft  97, 284 –– Gesetz des Daseins  52, 96 ff., 104, 107, 152, 206, 221 ff., 226, 228, 232 f., 236, 241

–– Gesetz des Herzens  97, 284, 406 –– Gesetz des Kampfes und der Zucht des Todes  51, 180, 207, 225, 232, 284 –– Gesetz des Lebens  96, 219 –– Gesetz des Schicksals  97 f., 111, 258, 284, 389 –– Gesetzesreligion  219, 240, 258, 281 ff., 289 –– moderne Gesetzhaftigkeit  284 ff. Glaube –– bejahtes Gotterleiden  23, 112 f., 150, 174, 192, 207, 210, 250, 277 ff. –– Doppelbewegung von Schuldgefühl und Vertrauen  108, 110, 144, 193, 225, 303, 351 –– Ewigkeitsgewissheit  76 f., 83 f., 90, 96, 110, 126, 146, 148, 154, 157, 170 f., 177, 192, 200, 204 ff., 208 f., 212, 227, 229 f., 232, 252, 258, 263, 265, 267, 269, 272, 279 f., 284, 288 f., 296 ff., 300, 302, 304, 308 f., 314 –– Ewigkeitsglaube  37 f., 41, 63, 76, 90, 148, 170, 173, 251 f., 307 –– Gotteskindschaft  40, 100, 119, 120, 122, 160, 165, 171, 287, 305 f., 308, 312 –– kontrafaktische Gewissheit  254, 279, 296, 300 f., 304, 352, 366, 409 –– Lebensmöglichkeit  109, 113 f., 204, 226 f., 350, 408, 422 –– Liebesgewissheit  22, 77, 93, 96, 109, 154, 160, 171, 229, 231, 252, 267, 300, 302, 305, 382 f., 384 –– Osterglaube  90, 176, 295, 297, 299 –– Seligkeit  110, 141, 146, 154, 159 ff., 253 –– simul-Struktur des Glaubens  9, 84, 110, 144, 170, 229 f., 321 –– synthesis per hiatum irrationalem  88 –– transitus  159, 300, 309 ff., 312 –– Vollendungsgewissheit  216, 260, 263, 268, 301, 305, 307, 310, 314, 382, 395, 409, 423 Gleichzeitigkeit  72 f., 81, 271, 273 –– geschichtliche Gleichzeitigkeit  73, 81, 271, 388 f. –– Gleichzeitigkeit mit Jesus  84, 115 f., 155, 158, 267, 269, 280, 292 ff., 297 f., 300, 304 f., 388

Sachregister –– gnadenhafte Gleichzeitigkeit  117, 272, 292, 388 f., 409 –– religiöse Gleichzeitigkeit  73, 81, 116, 389, 401 Gott –– absolute Freiheit  92, 223, 267 –– Allmacht Gottes  61, 102, 105, 195, 221, 227, 231, 242, 248 f., 264, 378, 392, 420 –– Gedenken Gottes  394 –– Gott alles in allem  12, 85, 161 ff. –– Gott als der Allbedingende  45, 50, 86, 91 ff., 224 –– Gott als der Eine  50 –– Gott als Herr und Geist  91 ff., 155 –– Gott als Person  92 –– Gottes Leben  47, 160, 194, 212, 216 ff., 221, 227, 248, 263, 280, 288, 305, 312, 366 –– Heiligkeit Gottes  22, 57, 62 f., 99, 101, 105 ff., 121, 133, 137, 141, 217, 219, 225, 229, 234, 236, 238, 241, 256, 259, 261, 267, 286, 355, 359, 366 –– heimliche Güte Gottes  103, 144, 249 –– opus alienum Dei  102, 227 –– opus proprium Dei  102, 227 –– pater absconditus  103 –– unerbittliche Liebe Gottes  84, 91, 105, 137, 144, 146, 221, 230, 244, 247, 249 f., 256, 285, 378 –– Verborgenheit Gottes  103, 113, 227, 246, 267, 276 f., 279, 291, 299 f., 307, 315, 367 –– Zorn Gottes  84, 99, 101 ff., 107, 137, 142 ff., 221, 227, 236, 248, 277, 289, 356, 366, 378 ff. Gottgeschiedenheit  110, 139 f., 142, 174, 215 f., 219, 230, 233, 243, 262, 267 –– Anfechtung  23, 84, 107 f., 112, 117, 120, 145, 209, 248, 262 ff., 270, 274, 279 ff., 288 f., 291, 294, 298 ff., 302, 303, 307, 309 f., 315, 345, 349, 350 f., 368 f., 373, 422 –– Erbsünde  108 f. –– Gott als Wahnvorstellung  89, 104, 107, 286 –– Gotteshass  104, 107, 253 –– Gottverlassenheit  19, 22, 176, 273, 275 ff., 279, 289, 303, 366 ff., 372, 376, 378

453

–– innere Unruhe  290, 396 –– Nichtigkeit des Lebens  24, 264, 353, 357, 361 f., 364 ff., 373, 374 ff., 379 f., 382 –– Resignation  98, 106, 113, 145, 199, 208, 223, 229, 236, 241, 264, 269, 277, 284, 288 f., 304, 306, 336, 362 f., 366 ff., 382, 384, 392, 418, 422 –– Scham  39, 191, 219, 267, 336, 358 ff., 364, 366 ff., 380, 382, 393, 396 f. –– Schuld  106 f., 110 f., 119, 121, 137, 140 f., 145, 156, 171, 196, 207 f., 222, 224, 229, 234 f., 253, 254, 267, 281, 286 ff., 296, 306, 331, 351, 358 f., 361 ff., 369, 373, 379 ff., 394, 397 f. –– Selbstbehauptung  23, 48, 51, 55, 92, 97, 106 f., 111, 114, 141, 149, 152, 155, 183, 204, 220, 222, 230, 236, 250, 261, 264, 271 f., 284 f., 288, 397, 420 –– Sinnlosigkeit  98, 191, 198, 231, 235, 263, 303, 346, 352 f., 365, 376 ff., 409 –– soziale Einsamkeit  232, 234, 341 –– Unglaube  105 f., 109 f., 115, 139, 146, 170, 216, 230, 232 f., 234, 246, 250 f., 253 ff., 259, 303, 351, 395, 408 –– Verschlossenheit  107, 111, 139 f., 143, 145, 155 f., 158, 234, 360, 389, 393, 398 f. –– Verzweiflung  55, 107 f., 145, 191, 194, 204, 209, 253, 281, 290, 296, 381, 396 –– Zweifel  93, 98, 106, 108, 112, 145, 229 f., 303, 349 ff., 396 Grenzerfahrung  22, 181 f., 184, 206, 211 f., 300 f., 313, 356 Grenzsituation  205 ff., 291 Grundgesetz der Antinomie  45 Hospiz  7, 331, 377 humanes Wahrheitsbewusstsein –– autonomer Zweifel  29, 33 f., 64, 66, 89, 97 –– Ewigkeitsbezogenheit  22, 28, 31, 43 f., 51, 58 f., 61 f., 76, 83, 90, 96, 107 ff., 131, 154, 157, 169 ff., 176, 181, 183, 188, 192, 199 f., 203, 233, 247 ff., 256, 278, 283 –– Sehnsucht nach Vollendung  93, 96, 108, 199 f., 213, 232, 252, 262 f., 265, 302, 314, 367, 376, 380, 383 f., 395, 422

454

Sachregister

Jesus –– Auferstehung Jesu  155, 172, 174, 176, 268, 273, 295 ff., 349, 354, 368, 373, 388 –– Geist Jesu  155 ff. –– Lebenshingabe  117, 122, 268, 285, 290 f., 293, 369 –– Stellvertretung  121, 290, 292 Kirche –– communio sanctorum  396, 401 –– Kirchenkritik  27 f., 35 f., 43 –– sichtbare Kirche  152 f. –– unsichtbare Kirche  56, 153, 164, 401 Klage  207, 314, 367, 376, 379 Leben nach dem Tod –– Auferweckung der Person  135 –– doppelter Ausgang  137, 139, 176, 230, 243, 245, 255 ff., 264 –– ewiges Leben  48, 76 f., 83, 88, 100, 107, 126, 150, 152, 154 f., 158, 160 f., 171 f., 195, 217 f., 221, 227 ff., 236, 240, 242, 245 f., 251, 264, 278, 301 f., 311 f., 314, 334, 348, 391 –– Fegefeuer  127, 138, 142, 257, 386 –– Hölle  142, 199, 253 f., 279, 334, 348, 364, 410 –– immanente Unsterblichkeit  328, 334 f., 407 f., 418, 423 –– Jüngstes Gericht  12, 125 f., 136 f., 171, 355, 357, 398 –– Leibliche Auferstehung  5, 10, 12, 37, 125 f., 131 ff., 146, 171, 298, 334, 348 f., 386, 388 –– postkatastrophisches Überleben  413, 416, 421 –– Reich Gottes  37 f., 78, 99, 117, 126, 146, 149 ff., 158, 160, 164, 171 f., 226, 245, 249 f., 252 f., 258, 273, 280 f., 285, 307 –– Reinkarnation  132 f., 138, 334 –– Seelenschlaf  78, 125 ff. –– Unsterblichkeit der Seele  8, 10, 12, 37, 125 f., 131 ff., 171, 225, 334, 385 f., 388, 407 –– Verdammnis  109, 125, 138 f., 243, 245 f., 249 ff., 255, 258, 260, 313, 365, 379 –– Weiterleben in der Erinnerung  132 f., 334 f., 354, 389, 392, 396, 407, 418, 423

–– Zwischenzustand  78, 125 ff. –– ἀποκατάστασις πάντων  125, 243, 252 ff., 262, 264 Nacht der Bildlosigkeit  20, 21, 38 ff., 169, 175 f., 277 Opfer –– Heldentod  193, 237, 239, 370 –– Insrechtsetzung der Opfer  373, 398 –– Mobbingopfer 372 –– Opferdienst  143, 219, 285 –– Postheroismus 370 –– Sacrificium  369, 372 –– Selbstopfer  285, 289, 291, 293, 370 –– Sich aufopfern  291, 370 –– sozialisierter Opfertod  371 –– Sühnopfer  13, 121, 289, 369 –– Victima  363 f., 369, 371 f. Organspende  334, 371 Patientenverfügung  331, 378 Person –– Bestimmung zum Personsein  57 f., 101, 112 f., 133, 145, 147 f., 157, 183, 186, 189, 193 ff., 202 f., 205, 212, 222 ff., 233, 238 ff., 251, 309, 362, 394 ff. –– Depersonalisierung  34, 330, 390 –– Ehre und Pflicht  53, 98, 236, 238 f. –– Einheit von Herz und Vernunft  55 ff., 98, 107, 134, 157, 276 –– Einheit von Hingabe und Kreativität  47 f., 92, 149, 151, 157, 297 f., 390 –– endliche Freiheit  46 ff., 53, 61, 85 f., 88, 92 f., 100 f., 107, 112 ff., 119, 139, 151 f., 183, 189 f., 192 ff., 200, 202 f., 205 f., 212 f., 222 f., 236, 240, 246 ff., 260, 263 f., 270, 280, 298, 306, 378, 383 f., 405, 408 f. –– endliche Persönlichkeit  57 f. –– ewige Person  57 f., 135 f., 148 ff., 161, 172, 252, 272 –– Gewissen  30, 47, 52, 54 f., 56 f., 59, 62, 64 f., 72 f., 86 f., 107, 109 ff., 113 f., 121, 134, 136, 157, 163, 189 f., 193 ff., 199, 234, 239, 241, 253 f., 276, 287, 306 –– Gottebenbildlichkeit  58, 223 f. –– innerliche Einsamkeit  183, 196, 202, 211, 268

Sachregister –– Leib  12, 56, 135 –– Ruf und Fügung  46 f., 87, 117, 147 –– schlechthinnige Abhängigkeit  46, 48, 50 f., 86, 89, 120, 122, 189, 205, 222, 263, 298, 304 f., 308, 382 f., 422 –– Seele  40, 56 f., 132, 134, 385 –– Spannung zwischen Faktizität und Bestimmung  47, 49, 51, 86, 106, 108 f., 130, 133, 181, 193 f., 202, 204, 212, 222 ff., 227, 235 f., 238, 274, 356, 358, 366, 408 –– Unverletzlichkeit  191, 238 f., 360, 367 Rechtfertigung  115, 119 f., 397 Reinkarnation 334 Schöpfung –– Abschied von der Kosmologie  128 f., 162, 165, 171, 273, 419 –– creatio continua  88, 129, 146 –– creatio ex nihilo  129, 147 –– Gott als Schöpfer  47, 129, 216, 219, 221, 225, 245, 263, 294, 378, 420 –– Neuschöpfung  87 f., 118, 126, 146 ff., 155, 158, 171, 229, 250, 270, 273, 311 –– Seufzen der Schöpfung  165, 194 –– Umwelt  130, 165 –– Vollendung der Schöpfung  158, 162, 165, 174, 193, 251, 420 –– Welt  40, 50, 56, 63, 112, 127 ff., 152 f., 165, 193, 196 ff., 245, 408 f., 412, 415, 418 ff. Selbsttötung  187, 237 ff., 313, 400 Sterbebegleitung  14, 376 f. Sterbehilfe  13, 187, 226, 331, 378 todesähnliche Erfahrungen  17, 181, 215 f., 232, 233 ff., 263, 300, 302, 350, 356 f., 365, 373, 375 Todesdefinitionen –– Durchgang  190, 215, 217, 228, 231, 263, 267, 278, 301, 303, 306, 311, 313, 387 –– endgültiger Tod  197, 203, 210, 220, 231, 362, 363 –– ewiger Tod  3, 230 f. –– Fluchtod  8 f., 235, 244, 374 –– Ganztod  10, 12, 147, 386 f., 390, 394 –– Gottesbegegnung  11, 22, 86, 171 f., 190, 204, 210, 212, 216, 219 f., 226, 229 ff.,

455

233, 241, 243 f., 251, 258, 260 ff., 277 f., 298, 301 f., 307, 311, 313 –– Hirntod  1, 3, 13 –– kreatürlicher Tod  2, 51, 180 f., 187, 212, 226, 235, 243 f., 261 –– natürlicher Tod  2 f., 8 f., 13, 180, 221 ff., 225, 245, 331 –– Nichts  186 f., 195, 211, 216, 219, 231 f., 242 f., 251, 263 f., 267, 288, 303, 343, 365, 383 –– Offenbarungsmacht  188, 190 ff., 216 –– personaler Tod  2 f., 212 –– sozialer Tod  3, 185, 235, 330, 341, 364 f., 390 –– Übergang  11, 188, 199, 219, 231, 312, 321, 343 –– Vergehen  138 f., 165, 176, 180, 202, 210, 219, 225, 243 ff., 248 ff., 253 f., 256 f., 360 –– Verhältnislosigkeit des Todes  2, 10 ff., 363, 386, 390 –– Vernichtung  142, 160, 216, 219, 229 f., 232, 235, 243, 245, 250, 253, 255 f., 258 ff., 269, 276, 366, 374, 383 Todesstrafe  237, 239, 328 Trauer  14, 330, 333, 342 f., 352, 387, 391, 399 f. Trauerbegleitung  14, 345, 352, 391 Vergebung  119, 138, 143, 150, 156, 160, 296, 306, 310 f., 359, 363, 365 ff., 379 f., 383 f., 397 ff. Verletzlichkeit  362, 368, 375 f., 380, 382, 384 Versöhnung  87 f., 109, 118, 145 f., 155, 268, 281, 288 ff., 293 f., 300, 306, 372, 399 –– Friede mit Gott  114, 119, 142 ff., 161, 275, 289 f., 294, 306 –– gestückte Versöhnung  143, 381 –– objektive Versöhnungstheorie  293 –– subjektive Versöhnungstheorie  293 f. –– Versöhnungstod 281 Volk  61 ff., 97, 208 Weltende  21, 78, 126 ff., 130 f., 137, 162, 165, 171 f., 354, 404 f., 409, 411 f., 417 ff., 422 Wiedergeburt (Taufe)  146, 300 f.