Die symbolische Franziskuslegende: Die schönsten Stücke des Franziskuskanons 9783486755862, 9783486755855

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Die symbolische Franziskuslegende: Die schönsten Stücke des Franziskuskanons
 9783486755862, 9783486755855

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis Der Quellen
Bemerkungen
Einleitung zur symbolischen Franziskuslegende
Das Testament des Heiligen Franziskus
Aus der "Legende der drei Gefährten"
Aus dem Spiegel der Vollkommenheit
Aus Dem Evangelium Aeternum
Bonaventura, Die Legende Des Heiligen Franziskus
Petrus Johannis Olivi
Ubertin Von Casale, Arbor Vitae Crucifixi Jesu

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D A S

H E I L I G E

R E I C H

TEXTE ZUR MITTELALTERLICHEN GEISTESGESCHICHTE

HERAUSGEGEBEN VON

ALOIS DEMPF

D R U C K

VON

R . O L D E N B O U R G ,

M Ü N C H E N

DIE SYMBOLISCHE FRANZISKUSLEGENDE DIE SCHÖNSTEN STUCKE DES F R A N Z I S K U S K A N O N S

ÜBERSETZT VON

HEINRICH LUTZELER

MÜNCHEN UND BERLIN 1929 V E R L A G VON R.OLDENBOURG

INHALTSVERZEICHNIS

INHALTSVERZEICHNIS

V

VERZEICHNIS DER QUELLEN

VI

BEMERKUNGEN

VII

Einleitung zur symbolischen Franziskuslegende

i

Das Testament des Heiligen Franziskus

9

Aus der , .Legende der drei Gefährten"

12

Bruder Leo, Aus „dem Spiegel der Vollkommenheit"

30

Ausdem„Evangeliumaeternum" des Gerhard von Borgo San Donnino nach dem Protokoll der Kommission zu Anagni

58

Bonaventura, Die Legende des Heiligen Franziskus

61

Aus der Postille zur Apokalypse des Petrus Johannis Olivi

107

Aus dem „Arbor vitae crucifixi Jesu" des Ubertino von Casale. .

1:2

V

VERZEICHNIS DER QUELLEN

1. La Leggenda di San Francesco, scritta da tre suoi Compagni. Roma MDCCCXCIX. 2. Speculum perfectionis seu S. Francisci Assis. Legenda antiquissima auctore fratre Leone (ed. Paul Sabatier), Paris 1898. Darin auch das Testament des Heiligen Franziskus. 3. Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters. Herausgegeben von Denifle-Ehrle. Erster Band. Berlin 1885. 4. S. Bonaventurae Opera omnia. Tomus VIII. MDCCCXCVIII.

Ad

Claras Aquas

5. Stephani Baluzii Miscellaneorum Liber primus. Parisiis MDCI.XXVIII 6. Ubertino von Casale: Arbor vitae crucifixi Jesu, Venedig 1485.

VI

BEMERKUNGEN

Die kursiv gedruckten Stellen kennzeichnen Zitate aus der Heiligen Schrift. Die in Klammern gesetzten Abschnitte geben statt einer Übersetzung nur eine abkürzende Inhaltsangabe. " bedeutet: Auslassungen. In dem Protokoll der Kommission zu Anagni unterblieb der besseren Lesbarkeit wegen die Angabe der Kapitel-Nummern. Auf die Wiedergabe gleichlautender Berichte wurde, wenn eben möglich, verzichtet; so spiegelt die Auswahl nicht die starken Übereinstimmungen der Legenden untereinander, sondern verfolgt einmal die Absicht gegenseitiger Ergänzung und hebt sodann das Besondere und Einzigartige jeder Legende hervor.

VII

EINLEITUNG ZUR SYMBOLISCHEN FRANZISKUSLEGENDE

Franziskus von Assisi ist der weitaus am besten bekannte Heilige des Mittelalters. Jeder ist irgendwie in Berührung gekommen mit dem Troubadour Gottes, der den Sonnengesang dichtete, jeder kennt den milden und menschenfreundlichen Wundertäter der Fioretti, die seine liebliche Gestalt in blühendem Legendenstil umranken und viele kennen den Armutsfreund und Lebensreformer nach jener zeitgenössischen Lebensbeschreibung des umbrischen Heiligen, durch Thomas von Celano. So ist der Poverello recht wohl bekannt, aber nur nach seiner idyllischen, legendären und historischen Gestalt. Seine eigentliche Größe ist eine ganz andere. Sie ruht in der Spiritualität seines mystischen Lebens, im geistigen und apokalyptischen Sinn dieses christusförmigen Lebens, wie dies Franz selber, noch mehr aber einem bestimmten Kreise seiner Jüngerschaft bewußt war. Die b u c h s t ä b l i c h e N a c h f o l g e Christi in ihrer bitteren und herben Größe bis zur blutigen Nachbildung des Erlösungsleidens an seinem eigenen Leib ist fast vergessen neben dem Bilde des kleinen armen Troubadours und völlig unbekannt ist jene w e l t g e s c h i c h t l i c h e Gestalt, zu der Franz in der zweiten Generation seiner Nachfolger in einem unerhörten weltgeschichtlichen Mythos erhöht wurde, um mitten in der Krisis des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit als der Heros eines dritten Reiches erfaßt zu werden. Diese zweifache, in echtem Sinn legendarische Ges t a l t des heiligen Franz soll hier in ihren wichtigsten Dokumenten vorgelegt werden. Es ist zwar heute immer noch im Stil des 19. Jahrhunderts üblich, vor allem einmal aus den Heiligenlegenden den echten historischen Kern herauszuschälen. Das ist gewiß eine löbliche und wichtige AufL ü t z e l e c , Franziskuslegende.

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gäbe! Aber ist uns nicht längst die schöpferische Kraft, den geistigen Sinn eines großen Lebens zu erfassen oder gar ihn einzuordnen in den Sinn der ganzen Weltgeschichte, viel wichtiger geworden für eine Welt- und Lebenshaltung, die wieder zum vollen Lebenssinn statt zur bloßen Wissenschaftlichkeit strebt ? Beide Arten echter Legende haben wir in der alten Darstellung des Franziskuslebens aus dem 13. Jahrhundert. Vor allem verrät das T e s t a m e n t des Heiligen selbst, dessen Erhabenheit einige Jünger so sehr spürten, daß sie es fast dem Alten und Neuen Testament an religiöser Bedeutung angleichen wollten, wie ihm der ungeheure Ernst der buchstäblichen Christusnachfolge der eigentliche Sinn des Heiligenlebens ist, also auch der echten Legende, der Lebensbeschreibimg des Heiligen. So ist er in Wahrheit das große Vermächtnis der neuen franziskanischen Frömmigkeitsart der Einfühlung in das Christusleiden an Stelle der alten monastischen Frömmigkeit, die eine aristokratische, geistige und liturgische gewesen ist. Viel deutlicher aber noch zeigt sich in der Legende der drei G e f ä h r t e n , die trotz der späteren Redaktion zweifellos im wesentlichen die Stimmung der ersten Gefährten selbst zum Ausdruck bringt, wie das vollendete Leben des Heiligen mehr noch als das der Märtyrer und Bekenner, die ja alle heldenhafte Nachbildner des Christuslebens sein wollten, emporgehoben wurde im Glanz und Nachklang des evangelischen Berichts. Eine frohe erhebende Botschaft von dem geheimnisvollen Walten Gottes in diesem hohen Heiligenleben erklingt in der verklärenden Erinnerung der Gefährten. Nicht das Historische, sondern das dem Gläubigen Bedeutungsvolle, das symbolisch Hinweisende auf das Gotteswalten in diesem Leben, das es beinahe zu einem zweiten Christusleben macht, soll berichtet werden. Schon seine Kindheitsgeschichte ist voll von Andeutungen und Prophezeiungen seiner kommenden Größe. Dem Heiligen selbst offenbart sich in den Fügungen seiner Bekehrung der Sinn seiner kommenden Wirksamkeit, die Wahl und Brautschaft des armen christusförmigen Lebens, die geistliche Sohnschaft des himmlischen Vaters statt des irdischen, die Erneuerungsarbeit an der Kirche durch seine 2

drei Orden und sein Kreuzesleiden, das ihn zur sichtbaren Erneuerung des Opfertodes Christi in der Stigmatisation führen soll. Auch an Franz schließen sich 1 2 Jünger an, wie an seinen Herrn. E r verkündet neu in Lehre und Leben die 8 Seligkeiten der Bergpredigt. Aufs neue entsendet er seine Jünger in die ganze Welt zur Predigt und zum Leiden und auch er muß sie nach einem letzten Donnerstagabendmahl vor seinem armen und nackten Tod der Welt überlassen. Das S p e c u l u m p e r f e c t i o n i s , das im Kern aus den Notizen des Lieblingsjüngers, des Bruders Leo, besteht, des Sekretärs des Heiligen und Führers der drei Gefährten, birgt am meisten von dem unvergänglichen Glanz unmittelbarer Lebensnähe. E s ist wirklich historisch in dem allerhöchsten Sinn, daß hier Wort und Stimmung des Heiligen selbst in hundert unerfindbaren Einzelheiten spürbar wird. Hier entfaltet sich dies evangelische Leben in die Breite. Hier zeigt es sich in seiner tiefen Demut und kindlichen Weisheit, in der unerschütterlichen Milde und doch in dem strengsten Festhalten an dem einmal gewählten Ideal der buchstäblichen Nachfolge. Der reinstes Nachbild des Herrn sein wollte, wird hier zum Vorbild seiner Gefährten, zum Spiegel der christlichen Vollkommenheit. Die bisher angeführten Dokumente sind weit entfernt von jeder Ideologie, nur schlichte Weisheit der Christusnachfolge und voll jenes tiefsten, r e l i g i ö s e n S y m b o l i s m u s eines gottebenbildlichen Lebens. Nun aber gab es im 1 3 . Jahrhundert eine gewaltige Lehre von der Erneuerung der Kirche durch vollkommene Armut und Spiritualität, jene Schriften des Joachim von Floris, die ein drittes Reich des Heiligen Geistes verkündigten und einen neuen Orden prophezeiten, der von Gott vorausbestimmt sei und in symbolischer Deutung aus den Heiligen Schriften erschlossen werden könnte. Dieser Ordo seraphicus sollte der Träger des armen und geistigen Lebens in der erneuerten Kirche des dritten Reiches werden. Die Schriften des Abtes Joachim mußten ihren Kennern unter den Franziskanern geradezu als ein altes Testament erscheinen, dessen Verheißungen nun nach dem Auftreten des heiligen Franz erfüllt waren. Auf ihn mußten nach dieser Lehre eine ganze Reihe von biblischen Hinweisen

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gedeutet werden. Es entstand eine neue symbolische F r a n z l e g e n d e im Geist des J o a c h i t i s m u s im Kreise Johanns von Parma, des Generalministers von 1247—1257. Nun war Franz nicht mehr irgendein Ordensstifter, nun erschien er als jener apokalyptische Gottesgesandte der Eröffnung des sechsten Siegels, mit dem das dritte Reich beginnen mußte. Nun war er eine weltgeschichtliche Größe am Anfang einer vorherbestimmten Periode der Entfaltung des Gottesreichs. Wie einst Christus mit seinen 12 Aposteln den Neuen Bund, das zweite Gottesreich nach dem ersten des auserwählten Volkes verkündigt hatte, so waren nun Franz und seine 12 ersten Jünger die neuen Gottesboten eines neuen Gottesbundes, des verheißenen ewigen Evangeliums. Anm. Für die Einzelheiten dieser apokalyptischen Ideologie des 12. und 13. Jahrhunderts muß ich auf die ausführliche Darstellung in meinem Buche Sacrum Imperium verweisen und auf ein weiteres Bändchen dieser Sammlung, das die Haupttexte der joachitischen Geschichtsphilosophie in Auswahl bringen wird. Leider kann nur ein dürftiger Auszug aus jener berühmten Schrift eines gelehrten Genossen Johannes von Parma, des Gerhard von Borgo San Donnino hier geboten werden,aus dem I n t r o d u c t o r i u s in e v a n g e l i u m aeternum von 1255, der durch symbolische Exegese den Nachweisführen wollte, daß mit der Erscheinung des heiligen Franz nunmehr das vorherverkündigte dritte Reich angebrochen sei. Die ungeheure Erregung, die das Buch hervorrief, führte zu seiner sofortigen Verurteilung und so ist uns nicht mehr als ein Kommissionsbericht über seinen Inhalt erhalten. Aber er reicht zusammen mit andern Nachrichten gerade aus, um den genauen Sinn dieser symbolischen joachitischen Franzlegende feststellen zu können. 1256 ist das Evangelium aeternum Gerhards von Borgo San Donnino verworfen worden und 1257 wurde der joachitische Franziskanergeneral Johann von Parma abgesetzt. Aber die religiöse geschichtstheologische Erhöhung des heiligen Franz zu einer weltgeschichtlichen Größe konnte in seinem Orden nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der neue

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Ordensgeneral B o n a v e n t u r a übernahm es, unter Vermeidung aller häresieverdächtigen Konsequenzen des Joachitismus, diesen weltgeschichtlichen Gehalt und Sinn des Franziskuslebens festzuhalten, ja noch mehr, zu zeigen, daß das mystische Ideal der hierarchischen Vollendung, sowie es seit Bernhard von Clairvaux und in der Mystik der Viktoriner im Anschluß an den Areopagiten ausgebildet worden war, aufs reinste im heiligen Franz erfüllt sei. So ist die L e g e n d a m a i o r , die er 1260 an Stelle der bisherigen Lebensschilderungen geschaffen hat, eine hochgeistige Sinnlegende geworden, d. h. ein Werk, das das einmalige geschichtliche Leben des einzigartigen Franz erweisen soll als die Erfüllung des höchsten himmlisch-irdischen Lebensideals. Der Prolog spricht im gewaltigen rhythmischen Schwung das symbolische Geheimnis dieses Lebens aus: In Franziskus ist die Gnade des Elias in der jüngsten Zeit erschienen, er ist das lebendige Beipiel der heiligen Armut, Weltverleugnung und Christusförmigkeit, er ist von Gott als Bekenner der evangelischen Vollkommenheit, als ihr Führer und Herold ins Licht gestellt worden, er ist das Zeichen des Gottesbundes mit der Menschheit, der Engel des wahren Friedens und bestimmt, gleich dem Vorläufer Johannes der höchsten Armut den Weg in der Wüste zu bereiten. Von prophetischem Geist erfüllt, mit einer englischen Sendung begabt, mit seraphischem Feuer durchglüht und als Vir hierarchicus emporgetragen im feurigen Wagen ist er erwiesen als gekommen im Geist und in der Kraft des Elias und darum nach der Vorhersage des Evangelisten Johannes jener andere Engel bei der Eröffnung des sechsten Siegels, der vom Aufgang der Sonne aufsteigt und das Zeichen des lebendigen Gottes trägt; denn durch die Macht des lebendigen Gottesgeistes, nicht durch Naturkraft ist ihm eingeprägt das Zeichen des lebendigen Gottes, des gekreuzigten Christus. Damit sind die wesentlichen Züge der Erhöhung des Franziskuslebens für das siebente Zeitalter festgehalten, sie sind nur von den polemischen Nebenbedeutungen im Joachitismus befreit, aber gültig in rein mystischer Spiritualität. Die allzu nahe Heranrückung an Christus ist durch die betonte Gleichstellung mit der Aufgabe des Vorläufers und des 5

Elias vermieden. Freilich wird nun die schlichte Einfachheit der ursprünglichen Legende überdeckt durch die breiter strömende viktorinische Mystik. Aber alle 1 5 Kapitel sind doch straff auf das große Ziel der Sinnlegende hinkomponiert. Von der Bekehrung führt eine einzige Linie bis zur Salbung durch den Heiligen Geist, zum Verständnis seiner eigentümlichen Aufgabe und zur ersten inneren Stigmatisation. Sein Dienst an den Kirchen führt ihn hin zum geistigen Dienst an der zu erneuernden Kirche. Die dreifache Wiedergabe der Erscheinung, der Regel und Lehre Christi wird zurTrina triumphalis militia der drei Orden. Bei der Regelbestätigung spricht es Innozenz III. selber aus: dieser wahrlich ist es, der durch Tat und Lehre die Kirche stützen wird. In einer Vision der Brüder im Domhof von Assisi erscheint Franz als der neue Elias auf feurigem Wagen. E r erhält die Herzenserkenntnis der großen Ordensstifter und schließlich die äußere Stigmatisierung auf dem Berge Alverna als eine Signierung des wahren Hohenpriesters für die zweite Regel. Strenge und Menschlichkeit zugleich führen Franz zu jenem übermenschlichen Verkehr mit der Kreatur, daß das Feuer ihn nicht mehr brennt und die ganze Natur ihm dient. Die Demut macht ihn zum wunderbaren Friedensstifter unter den Menschen und erhöht ihn schon auf Erden, die heilige Armut verleiht ihm die Wunderkraft des Moses, wie Elisäus sorgt er für Trank und Speise der armen Brüder. Sein reines Ingenium durchdringt die Tiefe der Geheimnisse, denn dort, wo die Wissenschaft der Schriftgelehrten draußen stehen bleiben muß, dringt die Liebe ein. E r versteht den Geist der Schrift, weil er durch die Imitatio Christi die vollkommene Wahrheit in der Tat ausübt. Der Geist der Prophetie stellt ihn neben die Einfachen und Kindlichen, denen Christus seine Geheimnisse offenbarte, neben David und Petrus, neben den Hirten und Fischer als den Kaufmann des Evangeliums hin. Bei der Stigmatisation sieht er im Bilde des geflügelten Seraphs den Sinn des Leidens: nicht durch das Martyrium des Leibes, sondern durch das Feuer des Geistes ganz umgewandelt zu werden zum Ebenbild des gekreuzigten Christus. Nun trägt er das Banner des höchsten Königs und das Siegel des höchsten Priesters als Authentica seiner Worte

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und Werke, als Erfüllung der Verheißungen und als Testimonium der christlichen Weisheit. E r ist ins Paradies entrückt und wie Elias im feurigen Wagen aufgefahren. Um 1297, kurz vor den erschütternden Ereignissen in Anagny 1303, sollte nochmals einer der bedeutendsten Gelehrten des 1 3 . Jahrhunderts, P e t r u s J o h a n n i s O l i v i , der große Lehrer des größeren Dante, in seiner P o s t i l l e z u r A p o k a l y p s e mit eschatologischen Schauern den Untergang der feudalisierten, verweltlichten Kirche des zweiten Reiches als des neuen Babylon verkünden und zugleich den Franziskusorden als den mystischen Christus des dritten Reiches offenbaren. Die gewaltigen Perioden der gelehrten Schrift zielen nicht mehr auf den Poverello von Assisi selbst. Das Geheimnis des Gottesreichs, das sich jetzt in der Wende der Zeiten auszuwirken beginnt, ruht in der Jüngerschaft, in derReligio, in dem Orden, ja in der neuen Kirche jener armen und geistigen Menschen, die von Gott berufen sind, ein neues und herrliches Weltalter reinster Frömmigkeit und Geistigkeit heraufzuführen. Dieser neue Vorstoß der Spiritualen gegen die feudalisierte Kirche vermochte ebensowenig wie der ein halbes Jahrhundert vorher eine bleibende äußere Wirkung zu erreichen. Um so gewaltiger aber war sein geistiger Erfolg. Ohne die Erneuerung der joachitischen Franzlegende ist das apokalyptische Pathos der D i v i n a C o m m e d i a g a r nicht denkbar, deren richterliches Prinzip von hier genommen ist, nämlich Reich und Kirche durch die franziskanische Spiritualität in Ordnung zu bringen. Die symbolische Franzlegende erhält so ihren wirklichen welthistorischen Sinn: die freie Spiritualität, die geistige Persönlichkeit soll in den Kosmos der frei verstandenen religiösen und staatlichen Gemeinschaft eingefügt werden, so wie es Franz selber gewollt. Ihre unmittelbare Bedeutung war angesichts des neuen, des neuzeitlichen Geistes der Wissenschaft schon dahin. Wenn U b e r t i n o v o n C a s a l e , von Dante getadelt ob seines einseitigen Armutsfanatismus, sie nochmals in dem mächtigen Werk A r b o r v i t a e c r u c i f i x i von 1 3 0 5 darstellt, so ist dies jetzt nurmehr Sektenideologie eines abseitsstehenden Kreises innerhalb des längst zu führender wissenschaft-

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licher Bedeutung aufgestiegenen Franziskanerordens. Die Schärfe des Tons und die Enge eines moralistischen Rigorismus verraten, daß das Ende dieser großen geistigen Episode da ist. Selbst die einzige, ausführliche Schilderung des greisen Johann von Parma ist durch diese sektenhafte Enge verdorben und die hohe Spiritualität Bonaventuras ins Kleinliche und Ungeistige herabgestimmt. Der Symbolismus hat nochmals in Dante seine herrlichste Entfaltung erlebt, im Franziskanismus selber aber ist er der Vergessenheit anheimgefallen, sowie dies das Schicksal so sehr konkret zeitbedingter Geistesströmungen ist, bis im Wandel der Zeiten aufs neue ihre große Sendung beginnt. ALOIS DEMPF.

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DAS TESTAMENT DES HEILIGEN FRANZISKUS

So begann meine Buße, zu der der Herr mich, den Bruder Franziskus, erweckt hat: als ich noch in Sünden war, stieß mich der Anblick der Aussätzigen ab; aber der Herr führte mich unter sie, und ich tat Barmherzigkeit an ihnen. Als ich von ihnen ging, hatte sich mir das, was mir bitter schien, für Geist und Leib in Süßigkeit verwandelt. Nur wenig wartete ich noch und verließ dann die Zeitlichkeit. Der Herr gab mir einen solchen Glauben an die Kirchen, daß ich in Einfachheit betete und sprach: „Herr Jesu Christe, wir beten dich an in allen deinen Kirchen auf der ganzen Welt und sagen dir Lob; denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst." Darauf verlieh mir Gott bis heute einen solchen Glauben an die Priester, die nach der Vorschrift der heiligen römischen Kirche leben, daß ich ihres Standes wegen zu ihnen meine Zuflucht nehmen würde, selbst wenn sie mich verfolgten. Und hätte ich die Weisheit Salomons, träfe aber irgendwo arme Priester in ihren Pfarreien, so wollte ich nicht ohne ihre Einwilligung predigen. Sie und alle anderen möchte ich fürchten, lieben und verehren als meine Herren; ich will bei ihnen nicht auf Fehler sehen, weil ich aus ihnen Gottes Sohn erkenne und weil sie meine Herren sind. Und wie könnte ich auch anders zu ihnen sein? Ist doch in dieser Welt der höchste Gottessohn körperlich sichtbar nur durch den hochheiligen Leib und das heiligste Blut, das sie hegen und sie allein den andern darbieten. Diese heiligsten Geheimnisse möchte ich über alles auszeichnen, verehren und kostbar aufbewahren. Wo immer die heiligsten Namen und das geschriebene Gotteswort nicht die gebührende Stelle haben, da will ich mich ihrer annehmen und alle bitten, daß sie mit mir zusammen für eine würdige Stätte sorgen. Alle Gottesgelehrten, alle, die das heiligste Gotteswort darbieten, müssen wir hoch verehren als diejenigen, die uns Geist und Leben spenden. — Der Herr gab mir nun Brüder; aber niemand zeigte mir, was ich tun sollte; da enthüllte mirderAUer9

höchste selber, wie ich nach dem Vorbild des heiligen Evangeliums leben müsse. Ich ließ es in wenigen einfachen Worten aufschreiben und der Papst bestätigte es mir. Die nun kamen, um das Leben zu empfangen, gaben alles, was sie hätten besitzen können, den Armen; sie waren zufrieden mit einem Gewand, das innen und außen geflickt war, dazu dann noch Gürtel und Hosen, und mehr begehrten sie nicht. Die Geistlichen unter uns sprachen das Stundengebet wie die Weltgeistlichen. Die Laien beteten: Vater unser. Sehr gern waren wir in den Kirchen; und wir waren einfältig und allen Untertan. Ich arbeitete mit meinen Händen und möchte es weiter tun; und ich wünsche auch nachdrücklich, daß alle anderen Brüder eine Beschäftigung haben, die ihnen Ehre macht. Wer sich auf gar keine Tätigkeit versteht, soll etwas lernen, nicht aus Begier, Geld zu verdienen, sondern um ein Beispiel zu geben und nicht müßig zu sein. Wird uns einmal kein Lohn für unsere Mühen zuteil, so mögen wir zum Tisch des Herrn unsere Zuflucht nehmen und von Tür zu Tür um Almosen betteln. — Der Herr hat mir auch den Gruß geoffenbart, den wir sprechen sollen: Der Herr gebe dir den Frieden. — Die Brüder sollen sich hüten, die Kirchen, die ärmlichen Wohnungen, alles, was man für sie errichtet, als ihr Eigentum zu betrachten; sie müssen sich mit der heiligen Armut vertragen, der wir in der Regel Treue gelobten; darum dürfen sie nur wie Fremdlinge und Pilger Wohnung nehmen. Streng verpflichte ich sämtliche Brüder dazu, es niemals und nirgends zu wagen, die römische Kurie um einen Geleitbrief anzugehen, nicht von sich aus und nicht durch eine Mittelsperson, weder für eine Kirche noch für eine andere Stätte, weder unter dem Vorwand der Predigt noch zur Abwendung von Verfolgungen; nein, wo man sie nicht aufnimmt, mögen sie anderswohin enteilen, um mit Gottes Segen Buße zu tun. Ich will unbedingt dem Generalminister dieser Brüderschaft gehorchen und auch dem Guardian, dem er mich unterstellt, wen er auch dazu wählt. Ich will ein Gefangener in seinen Händen sein, will gegen seinen Willen keinen Schritt tun und in allem, was ich beginne, ihm gehorchen; denn er ist mein Herr. Und wenn ich auch krank und einfältig bin, so möchte ich doch immer einen Geist10

liehen haben, der mir den Gottesdienst vollzieht, wie es in der Regel steht. So sollen alle Brüder ihren Guardianen streng gehorchen und sich genau nach der Regel richten. Wer sich darin verfehlt und etwa Abweichungen wünscht, wer nicht katholisch gesinnt ist, soll gleich vor den nächsten Wächter geführt werden; daran sind die Brüder gebunden, wo immer sie einen solchen finden. Und der Wächter soll ihn um des Gehorsams willen streng bewachen wie einen Gefesselten Tag und Nacht, damit er ihm nicht entweicht, bis er ihn persönlich dem Minister übergeben kann. Der Minister aber soll in unbedingtem Gehorsam Brüder entsenden, die ihn wie einen Gefesselten Tag und Nacht bewachen, damit sie ihn vor den Kardinal von Ostia bringen, der Herr, Schützer und Zuchtmeister der gesamten Brüderschaft ist. — Die Brüder mögen nicht einwenden: „Das ist eine andere Regel", weil es Rückerinnerung, Ermahnung und Ermunterung ist; so möge man sich denn an das Testament, das ich armer Bruder Franziskus euch, meinen gesegneten Brüdern, hinterlasse, wie an die Regel, die zu erfüllen wir dem Herrn gelobten, in streng katholischer Gesinnung halten. Der Generalminister sowie alle anderen Minister und Wächter sollen um des Gehorsams willen diesen Worten weder etwas hinzufügen noch etwas nehmen. Immer sollen sie dies Schriftstück neben der Regel bei sich führen. Auf allen Kapiteln, die sie abhalten, sollen sie zusammen mit der Regel auch diese Worte lesen. Alle meine Brüder, die Geistlichen wie die Laien, verpflichte ich nachdrücklich, nicht die Regel und auch nicht diese Sätze irgendwie zu erläutern, dadurch daß sie sagen: „Das will so und so verstanden sein." So wie ich durch Gottes Gnade ganz rein und einfach redete, die Regel und diese Zeilen schrieb, so sollt auch ihr ganz rein, ohne weitere Auslegung, sie aufnehmen und in heiligem Wirken euch danach richten bis ans Ende. Wer dies befolgt, wird im Himmel die Segnungen des höchsten Vaters und auf Erden die Segnungen seines geliebten Sohnes empfangen, und der Tröster, der Heilige Geist, alle Kräfte der Himmel und alle Heiligen werden mit ihm sein. Ich aber, euer Diener, der geringe Bruder Franziskus, will, soviel ich kann, euch nach innen und außen diese allheiligen Segnungen sichern. ii

AUS DER LEGENDE DER DREI GEFÄHRTEN

i. Franziskus, der selige evangelische Mann, hatte einen Vater namens Petrus; er war der Sohn des Kaufmanns Bernardone und ganz auf Gelderwerb bedacht. Seine ehrenwerte Mutter hieß Pica; sie gebar wie eine zweite Elisabeth diesen glückhaften Sohn und nannte ihn in Abwesenheit des Vaters, der Geschäfte wegen nach Frankreich gezogen war, im Hinblick auf die Zukunft Johannes. An demselben Tage, an dem das gesegnete Kindlein Franziskus Johannes genannt wurde, kam an die Tür des Hauses ein fremder Bettler; als ihm die Magd des Hauses ein Almosen gegeben hatte, sagte der Fremdling zu ihr: „Ich bitte dich, bring mir den Knaben, der heute hier geboren wurde, ich möchte ihn sehen." Die Magd weigerte sich; er aber bestand darauf; er werde nicht früher von der Stelle weichen. Da schickte sie ihn voller Unwillen fort und ging. Verwundert hörte das ihre Herrin Pica und befahl der Magd, jenem Fremden das Kind zu zeigen. Sie tat es, und der Fremde nahm, wie einstens Simeon den Jesusknaben, den Knaben Franziskus in Freude und Andacht auf den Arm und sprach: „Heute sind in diesem Viertel zwei Knaben geboren worden; von ihnen wird der eine, dieser hier, zu den Besten der Welt gehören, der andere zu den Schlechtesten." Daß er über Franziskus die Wahrheit sprach, hat sich allenthalben klar gezeigt; für den andern kamen viele in Betracht. Als nun der Vater aus Frankreich zurückkehrte, freute er sich über den Sohn und nannte ihn Franziskus nach Frankreich, woher er kam. (Der heranwachsende Franziskus erlernte den Beruf seines Vaters, war aber viel freigebiger und vergnügter als er). Deswegen tadelten ihn die Eltern oft: er mache ja so große Ausgaben für sich und die andern, daß er nicht als ihr Sohn erscheine, sondern wie das Kind eines großen Fürsten. Aber weil seine Eltern reich waren und ihn zärtlich liebten, waren sie duldsam und 12

wollten ihn in diesem Punkt nicht belästigen. Wenn die Mutter von seinem verschwenderischen Auftreten die Nachbarschaft reden hörte, antwortete sie: „ W a s denkt ihr von meinem Sohn? E r wird noch Sohn Gottes sein, mit Hilfe der Gnade." (Bei aller Üppigkeit aber) war Franziskus in Wort und Sitte gleichsam von Natur höfisch; er hatte sich vorgenommen, niemandem ein ungerechtes oder häßliches Wort zu sagen. War er auch ein zu allen Scherzen aufgelegter übermütiger Jüngling, so hatte er doch den Vorsatz, dem nicht zu antworten, der zu ihm Häßliches redete. So verbreitete sich sein Ruf beinahe durch die ganze Provinz, und viele, die ihn kannten, sagten ihm eine große Zukunft voraus. Diese natürlichen Gaben waren die Stufen, von denen aus er zu solcher Begnadung aufstieg, daß er in der Selbsteinkehr zu sich sagte: „Wenn du nun schon zu den Menschen freigebig und höfisch bist, von denen du doch nur eitle, vergängliche Gunst erfährst, so ist es sicher gerecht, daß du um Gottes willen, der ja der reichste Spender ist, zu den Armen höfisch und freigebig seist." Darum sah er gern die Armen und schenkte ihnen voll Eifer Almosen . . . 2. Damals schwebte zwischen Perugia und Assisi eine Fehde. Franziskus wurde mit vielen seiner Mitbürger gefangen genommen und in Perugia eingekerkert. Seiner vornehmen Sitten wegen ließ man ihn mit den Rittern zusammen. Als eines Tages seine Mitgefangenen trauerten, schien er, von Natur heiter und scherzhaft, nicht traurig, sondern gegewissermaßen froh zusein. Einer seiner Gefährten nannte ihn mißbilligend einen Toren, weil er noch im Gefängnis Freude äußerte. Ihm entgegnete Franziskus lebhaft: „ W a s denkt ihr von mir? Ich werde noch in der ganzen Welt verehrt werden." (Einige Zeit darauf sah Franziskus im Schlaf einen weiten Palast voll kriegerischer Waffen, und eine Stimme verkündete ihm, das alles werde ihm gehören und seinen Kriegern.) Das machte ihn noch froher als sonst, so daß viele ihn verwundert fragten, woher denn seine große Heiterkeit rühre; da antwortete er: „Ich weiß, daß ich ein großer Fürst sein werde." 3. (Nach einem fröhlichen Mahl, als Franziskus mit seinen Gefährten durch die Stadt ging, fühlte er sich plötz13

lieh vom Herrn heimgesucht.) Eine solche Wonne erfüllte sein Herz, daß er nicht sprechen und sich nicht regen konnte, daß er nichts anderes zu hören und empfinden vermochte, als jene Wonne; sie entfernte ihn so weit von allem Sinnlichen, daß er nach seinem späteren Bekenntnis sich nicht hätte von der Stelle rühren können, selbst wenn man ihm mit Peitschenhieben am ganzen Körper Wunden gerissen hätte. Als aber seine Genossen sich umwandten und sahen, daß er zurückgeblieben war, gingen sie zu ihm und erkannten voller Schrecken, daß er sich gleichsam in einen anderen Menschen verwandelt hatte. Und sie fragten ihn und sagten: „Woran dachtest du, daß du uns nicht folgtest? Sannst du vielleicht darüber, ein Weib zu nehmen?" Lebhaft antwortete er ihnen: „Gewiß, ich dachte daran, mir eine Braut zu nehmen, die vornehmer, reicher und schöner ist, als ihr jemals eine saht." Da lachten sie ihn aus. Er aber sagte das nicht aus sich, sondern auf eine göttliche Eingebung hin; denn die Braut, die er sich nahm, war jene wahre Frömmigkeit, die im Adel, im Reichtum und in der Schönheit ihrer Armut alle übertrifft . . . . Blieb Franziskus in Abwesenheit des Vaters daheim, so legte er den ganzen Tisch voll Brote, auch wenn er allein mit der Mutter zu Hause aß, als ob er für eine ganze Familie zu sorgen hätte; als die Mutter ihn fragte, warum er es tue, antwortete er, es geschehe um der Armen willen, die ein Almosen empfangen sollten; so hatte er es ja gelobt, jedem, der ihn um Gotteswillen bäte, eine Gabe zu spenden. Die Mutter aber ließ ihm darin den Willen, weil sie ihn vor den andern Kindern liebte. Sie achtete auf sein Tun und wunderte sich darüber sehr in ihrem Herzen . . . 4. . . . (Franziskus besuchte mildtätig die Aussätzigen und wandte sich immer mehr dem Guten zu.) Einen Gefährten, den er sehr geliebt hatte, nahm er an eine abgelegene Stelle mit und erklärte ihm, daß er einen großen kostbaren Schatz gefunden habe. Da freute sich jener sehr und ging gern mit ihm, so oft er gerufen wurde. Franziskus führte ihn häufig zu einer Grotte bei Assisi und ging dann allein hinein, indem er den auf den Schatz versessenen Freund draußen ließ. Franziskus aber fühlte sich von einem neuen einzig-

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artigen Geist durchdrungen und betete zum Vater im Verborgenen; niemand sollte erfahren, was er drinnen tat, außer Gott, den er unablässig um Rat fragte über den Erwerb des himmlischen Schatzes . . . 5. (Eines Tages sprach der Herr zu Franziskus, er solle das zerstörte Haus Gottes wiederherstellen, was dieser auf die Damianuskirche bezog.) Seitdem ihm jenes Wort erklang, war er freuderfüllt und durchlichtet, weil er in seiner Seele empfand, daß dies wahrhaft der gekreuzigte Christus zu ihm gesprochen hatte. E r verließ die Kirche, fand neben ihr den Priester sitzen, griff zur Börse und überreichte ihm eine beträchtliche Geldsumme mit der Weisung: „Herr, ich bitte dich, kaufe Öl und lasse immerdar die Lampe vor jenem Kruzifixus brennen; und ist das Geld dafür aufgebraucht, so werde ich dir neues geben, soviel du bedarfst.** Seitdem war sein Herz so aufgelöst und verwundet in der Erinnerung an das Leiden des Herrn, daß er sein ganzes Leben die Wundmale des Herrn Jesus in seinem Herzen trug, wie es sich später leuchtend zeigte und glänzend erwiesen wurde, als dieselben Stigmata sich an seinem Körper wunderbar erneuerten. Von jener Zeit an züchtigte er das Fleisch so sehr, daß er in gesunden und kranken Tagen seinen Leib zu hart behandelte, weil er zu sich selber kaum oder niemals nachsichtig sein mochte; deshalb gestand er auch an seinem Todestag, er habe viel gesündigt gegen den Bruder Esel, womit er seinen Körper meinte . . . (In seiner äußersten Enthaltsamkeit ging er soweit), daß er, wenn er mit den Brüdern aß, in die Speisen, die er zu sich nahm, oft Asche hineintat und zur Verschleierung seiner Enthaltsamkeit den Brüdern erklärte, Schwester Asche sei keusch... So war er bis zu seinem Tode dem Leiden Christi immerdar gleichförmig. 6. (Weder Vater noch Mutter vermochten Franziskus von seiner Lebensführung abzubringen.) Da eilte sein Vater zum Gemeindehaus, beklagte sich vor den Stadtkonsuln über seinen Sohn und verlangte die Wiedererstattung der Summen, die dieser zum Schaden seines Hauses durchgebracht habe. Als aber die Konsuln ihn in seiner Aufregung sahen, luden sie Franziskus vor bzw. ließen ihn durch einen Boten rufen. Er gab dem Boten zur Antwort, er sei bereits

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durch Gottes Gnade frei geworden und unterstehe nicht mehr den Konsuln, weil er nur noch Knecht des höchsten Gottes sei. Die Konsuln wollten gegen ihn keine Gewalt anwenden und sprachen darum zu dem Vater: „Seitdem er in den Dienst Gottes getreten ist, steht er außerhalb unserer Befugnisse." (Da versuchte es der Vater beim Bischof; und Franziskus legte alle Kleider ab und gab alles Geld dem irdischen Vater aus Liebe zum himmlischen.) Die Augenzeugen waren empört über Petrus Bernardone.weiler dem Sohn auch nicht ein Kleidungsstück gelassen hatte; und voll Mitleid weinten sie über Franziskus heiße Tränen. Der Bischof aber. . . schloß ihn in seine Arme und bekleidete ihn mit seinem eigenen Mantel; denn er war sich klar darüber, daß das Verhalten des frommen Franziskus aus göttlichem Ratschluß kam, und es entging ihm nicht, daß in dem, was er mit ansah, ein großes Geheimnis waltete . . . 7. (Nun begann Franziskus mit dem Wiederaufbau der Damianus-Kirche. Als er aber bemerkte, daß der Priester dort ihm mit Rücksicht auf seine früheren Lebensgewohnheiten besondere Speisen herrichten ließ, sprach er zu sich selber:) „Das ist doch nicht das Leben eines Armen, wie du es dir wählen wolltest; geh wie ein wirklicher Armer von Tür zur Tür, nimm eine Schüssel zur Hand und sammle von wirklicher Not getrieben, etwas zu essen, von diesem und jenem; so solltest du gern leben aus Liebe zu dem, der arm geboren wurde, sehr arm lebte auf dieser Welt, nackt und arm am Kreuze hing und in einem fremden Grabe bestattet wurde." (So tat denn auch Franziskus.) Als er aber dies Gemisch der verschiedensten Speisen essen wollte, war es ihm anfangs zuwider; so etwas war er nicht einmal zu sehen, geschweige denn zu essen gewohnt; endlich besiegte er sich selbst und aß, und es schien ihm, als hätte ihm niemals ein Leckerbissen so gut geschmeckt... So dankte er Gott, weil er ihm das Bittere in Süßes verwandelt und ihm vielfache Stärkung gewährt hatte. (In dieser Gesinnung setzte er die Ausbesserung von St. Damianus fort und rief froh den Nachbarn und Vorübergehenden zu:) „Kommt und helft mir beim Bau der Damianus-Kirche; sie soll einst das Kloster der Frauen sein, durch deren Ruf und Leben unser himmlischer Vater in der

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ganzen Kirche verherrlicht wird." So sagte er, von prophetischem Geist erfüllt, die Zukunft voraus . . . 8. (Nach Beendigung der Bauarbeit ging Franziskus im bescheidenen Gewand eines Eremiten durch das Land und predigte eindringlich Buße. Der Himmel selbst hatte ihn den Gruß gelehrt, den er bot:) „Der Herr gebe dir den Frieden." So verkündete er in jeder Predigt den Frieden und entließ so das Volk, wenn sie zu Ende war. E s ist aber wundersam — denn anders wäre es unerklärbar — , daß er für diese Art der Begrüßung vor seiner Bekehrung einen Vorläufer hatte, der häufig durch Assisi eilte und „Friede und Gutes, Friede und Gutes" wünschte; von ihm glaubt man fest, daß er in der Verkündung des Friedens dem seligen Franziskus als ein zweiter Johannes vorausging; und wie Johannes, der Christus vorher verkündigte, abnahm, als Christus zu predigen begann, so erschien auch jener nicht mehr wie früher nach der Ankunft des Franziskus. 9. (Es folgt der Bericht von der Berufung des Heiligen — näheres darüber in Bonaventuras Legende — , von der Bildung der Regel und dem Wachsen der religiösen Gemeinschaft ; von Franziskus und seinen Gefährten heißt es dann:) So tief war ihre Freude, als ob sie einen großen Schatz gefunden hätten auf dem evangelischen Besitztum der Herrin Armut, der zuliebe sie das Zeitliche gern und hochherzig verlassen hatten wie K o t . . . Über diese evangeüschen Männer war man sehr verschiedener Meinung; die einen hielten sie für Dummköpfe oder Betrunkene; die andern dagegen aber erklärten, solche Worte könnten nicht von Toren stammen. Einer von den Zuhörern sagte: „Entweder haben sie sich, um ganz vollkommen zu werden, dem Herrn ergeben, oder aber sie sind gewiß verrückt, denn hoffnungslos erscheint ihr Leben, da sie sich mit kärglicher Speise begnügen, mit nackten Füßen umherziehn und die schäbigsten Kleider tragen." . . . Der Bischof von Assisi, den der Gottesmann häufig um Rat anging, nahm ihn wohlwollend auf und sagte: „Hart und schwer erscheint mir euer Leben: daß ihr nichts auf dieser Welt besitzt." „Herr," entgegnete ihm der Heilige, „hätten wir irgendwelchen Besitz, so brauchten wir Waffen zu unserem Schutz. Daraus entstehen Streitigkeiten und L ü t z e l e r , Franziskuslegende.

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Reibereien, und gewöhnlich wird dadurch mannigfach die Liebe zu Gott und dem Nächsten gehemmt; so wollen wir denn in dieser Welt nichts Zeitliches besitzen..." 10. (Mit sechs Gefährten zog nun Franziskus durch die Städte und Dörfer.) Einige hörten sie gern; andere dagegen lachten sie aus; die meisten ermüdeten sie mit Fragen, forschten, woher sie kämen oder was denn das für ein Orden sei, der ihre. Obwohl es mühevoll war, auf so viel Fragen zu antworten, bekannten sie dennoch schlichten Herzens, daß sie Büßer aus der Stadt Assisi waren; denn ihr religiöser Bund hieß noch nicht „Orden". Viele hielten sie für Betrüger und Narren und wollten sie nicht ins Haus aufnehmen, damit sie nicht wie Diebe heimlich etwas beiseite brächten. Deshalb übernachteten sie vielerorts — zahlreiche Beleidigungen mußten sie erdulden — im Säulengang der Kirchen oder der Häuser . . . (Eines Morgens bot ihnen in der Kirche ein gewisser Guido ein Almosen an; als sie im Gegensatz zu den übrigen Armen das Geld zurückwiesen, sprach er zu ihnen:) „Wie, ihr seid arm und nehmt kein Geld an wie die andern?" Da antwortete Bruder Bernhard: „ J a , wir sind arm; aber im Gegensatz zu den anderen Armen drückt uns die Armut nicht; denn durch die Gnade Gottes, dessen Rat wir befolgt haben, sind wir mit Freuden Arme geworden . . . " 1 1 . . . . Eine so große Liebe brannte in ihnen, daß es ihnen leicht erschien, den eigenen Leib im Tode zu opfern — nicht nur aus Liebe zu Christus, sondern auch für ihre Mitbrüder, für das Heil ihrer Seele oder ihres Leibes. So gingen einmal zwei von den Brüdern zusammen aus und begegneten einem Verrückten, der sie mit Steinen bewarf. Als nun der eine sah, daß die Steine gegen den andern flogen, setzte er sich selber gleich den Steinwürfen aus; denn lieber sollte er getroffen werden als sein Bruder; so war er von Nächstenliebe entflammt; in dieser Weise waren sie bereit, für einander ihr Leben zu lassen. So sehr waren sie in der Demut und Liebe gegründet und verwurzelt, daß einer den anderen wie einen Vater und Herrn verehrte . . . Trafen sie unterwegs Arme, die sie bei der Liebe Gottes um eine Spende baten, so gaben sie, falls sie nichts anderes zum Verschenken hatten, einen Teil ihrer eigenen Kleider, wenn sie auch 18

dürftig waren. Bald reichten sie ihre Kapuze dar, die sie vom Gewand abtrennten, bald den Ärmel, bald ein anderes Stück, das sie von ihrem Kleid abschnitten, damit jenes Wort des Evangeliums sich erfülle: „Gib jedem, der dich darum bittet!" . . . Wenn die Reichen dieser Welt sich zu ihnen herabließen, so nahmen sie sie voll Liebe und Güte auf und suchten sie vom Bösen abzubringen und zur Buße aufzurufen. Auch baten sie inständig, man möge sie nicht dorthin schicken, wo sie geboren waren; denn sie wollten den vertraulichen Umgang mit Familie und Blutsverwandten fliehen und das Wort des Propheten beobachten: „Ein Ausländer bin ich meinen Brüdern geworden und ein Fremdling den Söhnen meiner Mutter ..." 12. (Nun stieg allmählich auf zwölf die Zahl derer,) die Christus vollkommen nachahmten und die evangelische Vollkommenheit buchstäblich befolgten; diese erwählten Männer bildeten in ihrer unbedingten Festigkeit sozusagen das felshafte Fundament der ganzen frommen Gemeinschaft. 1 3 . . . . (Das Wachsen seiner Schar veranlaßte Franziskus, den Willen des Papstes einzuholen. Auf dem Wege nach Rom sprach er zu den Seinen:) „Machen wir einen von uns zu unserem Führer und nehmen wir ihn gleichsam als Stellvertreter Christi; so mögen wir uns dorthin wenden, wohin er sich wenden will, und mögen rasten, wenn er rasten will." Und sie wählten den Bruder Bernhard, den ersten nach dem seligen Franziskus, und hielten es so mit ihm, wie der Vater es angeordnet hatte. (In Rom war ihnen vor allem der Kardinal Johannes von St. Paul gewogen; er erklärte Papst Innozenz III.:) „Ich habe einen Vollkommenen gefunden, der nach der Weise des heiligen Evangeliums leben und in allem die evangelische Vollkommenheit beobachten möchte; ich glaube, daß durch ihn der Herr auf der ganzen Welt die Gläubigen der heiligen Kirche erneuern will." (Da ließ der Papst Franziskus kommen, erkannte seinen glühenden Eifer und erfuhr durch eine Vision seine religiöse Bestimmung. So bestätigte er denn die Regel der Minderbrüder, indem er zu sich selber sprach:) „ J a wirklich, dieser heilige, gottergebene Mann wird die Kirche Gottes stützen und erheben . . . "

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14. Darauf durchzog Franziskus, überall predigend, die Städte und Dörfer. Nicht mit den überzeugenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in der Lehre, Wahrheit und Kraft des Heiligen Geistes verkündete er treuherzig das Reich Gottes. Er war ein Prediger, der, von der apostolischen Autorität gestärkt, keine einschmeichelnden Redensarten gebrauchte und den Zauber der Form verachtete; denn was er andern mit Worten riet, hatte er vorher sich selber durch die Tat geraten, so daß er auf das getreueste die Wahrheit aussprach. Es wunderten sich viele über die Kraft und Wahrheit seiner Predigten, die ihn kein Mensch gelehrt hatte; auch gebildete und gelehrte Leute taten es, und in großen Mengen eilte man ihn zu sehen und zu hören, wie einen Menschen aus einer anderen Welt. Aus den höchsten und den niedrigen Ständen schloß man sich ihm an; Geistüche und Laien folgten den Spuren des seligen Franz; auf göttliche Eingebung machten sie sich frei von zeitlichen Sorgen und irdischem Glanz und lebten in seiner Zucht. . . 17. Einst sprach der selige Franziskus: „Wohlan, Brüder, sammelt Almosen, gerade jetzt ja sind die Minderbrüder der Welt überwiesen; von ihrer Schar sagt der Gottessohn selber im Evangelium: Was ihr einem meiner mindersten Brüder tut, habt ihr mir getan. Mag der Herr dabei auch alle geistlich Armen im Auge gehabt haben, in erster Linie hat er doch vorausverkündet, daß eine Religionsgemeinschaft der Minderbrüder in seiner Kirche entstehen werde." Daraufhin wollte er diese Bruderschaft Orden der Minderbrüder nennen und ließ es so in der Regel verzeichnen. 18. Nim hatte zwar allmählich der selige Franziskus Brüder, aber es schien ihm, als ob sie sich scheuten, Almosen zu sammeln; um ihrer Scham nicht zu nahe zu treten, ging er Tag für Tag alleine betteln. Schließlich erwog er aber, daß er soviel Arbeit als ein einzelner nicht bewältigen könne, und außerdem sagte er sich, daß doch auch jene zu diesem Werk berufen waren, wenn sie sich auch, noch nicht im Besitz der vollen Erkenntnis, davor scheuten. So sprach er denn zu ihnen: „Teuerste Brüder, ihr meine lieben Söhne, schämt euch nicht, Almosen einzuholen; für uns hat sich ja in dieser Welt der Herr arm gemacht, nach dessen Beispiel 20

wir die völlige Armut erwählt haben. Das ist nämlich unser Erbe, das uns unser Herr Jesus Christus gewann und hinterließ, uns und allen, die nach seinem Vorbild in der heiligen Armut leben wollen. Wahrlich, ich sage euch, viele, die in der Welt für höchst vornehm und erhaben gelten, werden zu dieser Gemeinschaft kommen und es für eine große Ehre und Gnade ansehen, Almosen betteln zu dürfen. So sammelt denn mit dem Segen Gottes vertrauensvoll und frohen Mutes Spenden ein . . . und sprecht zu denen, die ihr angeht: Gebt uns aus Liebe zum Herrgott ein Almosen, im Vergleich zu dem Himmel und Erde nichts bedeuten!" 20. . . . Stand Franziskus auch höher als alle Brüder, so bestimmte er doch einen von den Brüdern, die bei ihm waren, zu seinem Guardian und Herrn, dem er demütig und ergeben gehorchte, um jede Gelegenheit zum Hochmut von sich fern zu halten. E r beugte unter den Menschen sein Haupt darum bis zur Erde, um einstens würdig zu sein, unter den Heiligen und Auserwählten des Himmels im Anblick Gottes erhöht zu werden. Eifrig ermahnte er die Brüder, das heilige Evangelium und die Regel streng zu beobachten, wie sie es versprochen hatten; insbesondere sollten sie die göttlichen Gebote und kirchlichen Verfügungen in aller Demut und Ehrerbietung befolgen, indem sie voll Andacht die Messe hörten und den Leib des Herrn in hingebender Frömmigkeit empfingen. Dazu wünschte er von den Brüdern eine besondere Ehrung der Priester, da sie die verehrungswürdigen höchsten Sakramente spenden: Wo immer sie einen von ihnen träfen, sollten sie das Haupt neigen und nicht nur seine Hände küssen, sondern auch die Füße des Pferdes, auf dem erlitte: aus Ehrfurcht vor der ihm verliehenen Gewalt. . . Das wünschte Franziskus von Herzen, er wie seine Brüder möchten in Überfluß solche Werke tun, durch die der Herr verherrlicht würde. Und er sprach zu ihnen: „Wie ihr mit dem Mund den Frieden verkündet, so solltet ihr ihn noch reicher im Herzen tragen; möchte niemand durch euch zum Zorn oder zum Ärgernis verleitet werden; eure Sanftmut, Güte und Einigkeit möge alle zum Frieden führen. Denn dazu sind wir berufen, daß wir die Verletzten pflegen, die Zerbrochenen verbinden und die Irrenden zurückrufen. Viele scheinen uns 21

Glieder des Teufels zu sein und doch werden sie später Jünger Christi werden." . . . (Die Predigt der Minderbrüder drang oft so tief in das Herz der Jünglinge und Greise), daß sie sich lossagten von Vater und Mutter und allem, was sie besaßen, um den Brüdern zu folgen und nach der Ordensregel zu leben. Damals ward wirklich das Schwert der Trennung auf die Erde entsandt, da Jünglinge ihre Eltern verließen in der Hefe der Sünden und dem Orden anhingen. Wen sie aber in ihre Gemeinschaft aufnahmen, den brachten sie dem seligen Franziskus, damit er von ihm demütig und ehrerbietig das Ordenskleid empfange. Aber nicht nur Männer traten in den Orden ein, auch Frauen, Jungfrauen und Witwen waren von ihrer Predigt tiefbetroffen, bildeten auf ihren Rat in Städten und Dörfern Klöster und schlössen sich ab von der Welt, um Buße zu tun. Einer der Brüder wurde zu ihrer Beratung und Beaufsichtigung bestellt. Gleichzeitig widmeten sich auch verheiratete Männer und Frauen, die den Ehebund nicht aufgeben konnten, auf den heilsamen Rat der Brüder bei sich zu Hause strengeren Bußübungen. So wurde denn durch den seligen Franziskus, den vollkommenen Verehrer der heiligen Dreieinigkeit, Gottes Kirche in drei Orden erneuert, wie es die vorangehende Herstellung dreier Kirchen versinnbildlichte. Jeder dieser Orden wurde seinerzeit vom Papst bestätigt.. . 25. E s schmerzte den seligen Franziskus sehr, wenn jemand die Tugend vernachlässigte und geschwollenes Wissen suchte, besonders wenn er nicht bei dem blieb, wozu er ursprünglich berufen war. Darum sprach er: „Meine Brüder, wer sich von Wissensneugier bestimmen läßt, wird am Tage der Trübsal mit leeren Händen dastehen. Deshalb möchte ich euch stark sehen an Tugend, damit ihr in der Zeit der Bedrängnis und Not den Herrn auf eurer Seite hättet; denn kommen wird eine Trübsal, wo die Bücher zu nichts mehr nütze sind, wo man sie in die Fensternischen und in die Ecke werfen wird." E r sagte dies nicht etwa, weil ihm die Lesung der Heiligen Schrift mißfallen hätte, sondern um alle von übermäßigem Lerneifer abzuhalten. Liebe sollte sie zur Güte und nicht Wissensgier zu gebildetem Getue führen. In nicht ferner Zukunft spürte er Zeiten voraus, in denen —

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das wußte er schon jetzt — aufgeblasenes Wissen notwendig ein Anlaß zur Verderbnis sein würde; so erschien er nach seinem Tode einem seiner Gefährten, der allzu eifrig dem Predigt-Studium oblag, tadelte ihn und verbot es ihm mit der Weisung, er solle sein Studium auf den Weg der Demut und Einfachheit richten . . . 27. (Ein andermal) fragten ihn die Gefährten: „ S a g uns, Vater, worin der vollkommene höchste Gehorsam besteht." Zur Antwort beschrieb er ihnen folgendermaßen den wirklich und vollkommen gehorsamen Menschen unter dem Gleichnis eines Leichnams: „Nimm einen entseelten Körper und lege ihn, wohin du magst, so wirst du sehen, daß er der Bewegung nicht widersteht, die Lage nicht ändert und dem Fallenlassen nicht widerspricht; wenn man ihn hoch auf einen Stuhl setzt, beachtet er nicht das Hohe, sondern das Unterste. Derjenige nun ist wahrhaft gehorsam, der nicht fragt, warum man ihn bewegt, nicht sorgt, wohin man ihn stellt, und nicht widersteht, wenn man seine Lage verändert. In ein hohes Amt berufen, hält er an der gewohnten Niedrigkeit fest; je mehr man ihn ehrt, desto mehr findet er sich unwürdig . . 28. In der Einsiedelei von Sartiano fragte ein Bruder den anderen: „Bruder, woher kommst d u ? " und erhielt zur Antwort: „Ich komme aus der Zelle des Bruders Franziskus". Als ihn der selige Franziskus sah, sprach er zu ihm: „Wieso konntest du sagen, das sei meine .Zelle ? Ein anderer wird von nun an dort wohnen und nicht ich." Und er fügte hinzu: „Als unser Herrgott in der Wüste war, wo er betete und vierzig Tage und Nächte fastete, ließ er sich weder Zelle noch Haus anlegen, sondern blieb auf dem Felsen des Berges." 40. Einstens rief der selige Franziskus viele Brüder zusammen und sprach zu ihnen: „Ich habe den Herrn gebeten, er möge mir zeigen, wann ich sein Knecht bin und wann nicht; denn nur als sein Knecht möchte ich leben, nichts anderes wünsche ich. Der gütigste Herr aber würdigte mich dieser Antwort: Wisse, daß du in Wahrheit dann mein Knecht bist, wenn du das Heilige denkst, sprichst und wirkst. So habe ich denn euch Brüder gerufen und euch dies vor Augen gestellt, damit ich mich vor euch schämen kann, wenn ihr seht, daß ich in all dem oder in dem einen und anderen versage."

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46. Die Seligkeiten, erklärt von unserm Vater Sankt Franziskus. — Von der Armut des Geistes. Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich . . . Der ist wahrhaft arm im Geiste, der sich selber haßt und diejenigen liebt, die ihn auf die Wange schlagen. — Vom Frieden. Selig die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Diejenigen sind wahrhaft friedfertig, die in allem, was sie auf dieser Welt aus Liebe zu unserm Herrn Jesus Christus erleiden, an Leib und Seele den Frieden wahren. — Von der Reinheit des Herzens. Selig die Herzensreinen, denn sie werden Gott schauen. Wirklich herzensrein sind diejenigen, die das Irdische verachten, das Himmlische suchen und niemals aufhören, den wahren lebendigen Gott anzubeten und auf den Herrn zu bücken, reinen Herzens und reinen Geistes. — Vom demütigen Gottesknecht. Selig jener Knecht, der sich über das Gute, das der Herr durch ihn verkündet und wirkt, nicht mehr freut als über das, was er durch einen andern verkündet und wirkt. E s sündigt, wer von seinem Nächsten mehr empfangen möchte, als er von sich aus dem Herrgott geben will. — Vom Mitleid mit dem Nächsten. Selig der Mensch, der den Nächsten in seiner Schwachheit erträgt, weil er in ähnlicher Lage ja auch von ihm ertragen werden möchte. Selig der Knecht, der all sein Gut dem Herrgott zurückgibt; denn wer etwas für sich behält, verbirgt bei sich das Geld seines göttlichen Herrn, und was er zu besitzen meinte, wird ihm genommen werden. — Vom demütigen Gottesknecht. Selig der Knecht, der sich nicht für besser hält, wenn man ihn verherrlicht und erhöht, als wenn man ihn für niedrig, einfältig und verächtlich hält; denn soviel der Mensch vor Gott gilt, soviel ist er wert und nicht mehr. Wehe dem, der geistlichen Standes von andern emporgehoben wurde und freiwillig nicht heruntersteigen mag. Aber selig der Knecht, der unfreiwillig emporgehoben wurde und immerfort wünscht, unter den Füßen der andern zu stehen. — . . . Von der Zurechtweisung. Selig der Knecht, der mit seinen Untergebenen so demutsvoll umgeht, als ob es seine Herren wären. Selig der Knecht, der stets unter der Rute der Züchtigung s t e h t . . . — Von der wahren Liebe. Selig der Knecht, der den entfernten Bruder so liebt und 24

fürchtet, als wenn er zugegen wäre und der hinter seinem Rücken über ihn nichts sagt, was er nicht mit Liebe unter seinen Augen wiederholen könnte. — Wie die Gottesdiener die Kleriker ehren sollen. Selig der Knecht Gottes, der Vertrauen zu den Geistlichen hat, die im Sinne der heiligen römischen Kirche leben; und wehe jenen, die sie verachten. Mögen sie auch Sünder sein, das Recht der Verurteilung steht doch niemandem zu, da Gott es sich selber vorbehalten hat... 47. Wo Liebe und Weisheit herrschen, gibt es keine Furcht und Unwissenheit. Wo Armut sich mit Freude verbindet, haben Gier und Geiz keinen Raum. Wo Ruhe und Betrachtung wirken, fehlt alles ängstliche oder ausschweifende Hin und Her. Wo man das Haus des Herrn gottesfürchtig hütet, findet der Feind keine Stelle, wo er eindringen könnte. Wo Barmherzigkeit und Feingefühl bestimmen, schwinden Überfluß und Härte. 48. (Ein Landmann, der in den Orden der Minderbrüder eintrat), war so voll Einfalt, daß er sich an alles, was der selige Franziskus tat, halten zu müssen glaubte. Wenn daher der selige Franz in der Kirche oder anderswo beim Beten war, so wollte ihn jener sehen, um sich ihm in allen Handlungen und Gebärden völlig anzugleichen. Wenn der selige Franziskus die Knie beugte oder die Hände zum Himmel erhob, ausspuckte oder seufzte, so machte er ihm das alles nach. Als es der Heilige bemerkte, verwies er ihm erheitert dergleichen Torheiten; jener aber entgegnete ihm: „Bruder, ich versprach alles zu tun, was du tust; darum muß ich mich dir in allem angleichen". Als ihn so der Heilige in seiner großen Reinheit und Einfalt sah, war er voll Verwunderung und Freude. Johannes aber wuchs danach so sehr an Tugendkraft, daß Franziskus und die andern Brüder alle tief erstaunten über seine Vervollkommnung, und nach einiger Zeit starb er im Zustand der Heiligkeit. Wenn später der selige Franziskus unter den Brüdern mit viel äußerer und innerer Freude von der Bekehrung jenes Jüngers erzählte, nannte er ihn nicht den Bruder, sondern den heiligen Johannes. 50. (In Rom trafen sich einmal der heilige Franziskus und der heilige Dominikus vor dem Kardinal von Ostia, der ihnen die Ernennung von Ordensbrüdern zu Prälaten und 25

Bischöfen vorschlug. Beide aber antworteten ihm mit aller Ehrfurcht, er möge die Brüder im Zustand ihrer ursprünglichen Berufung lassen.) Als sie nun zusammen weggingen, bat der selige Dominikus den seligen Franziskus, ihm den Strick zu geben, mit dem er gegürtet war. Franziskus verweigerte es aus Demut, jener bestand darauf um der Liebe willen. Endlich fiel der schöne Sieg dem zu, der in Ehrfurcht bat. Seiner bestürmenden Liebe gab der selige Franziskus nach; Dominikus empfing von ihm den Strick, umgürtete sich mit ihm unter dem Gewand und trug ihn seitdem voll Ehrerbietung. Zum Schluß gaben sie sich die Hände und empfahlen einander mit freundlichen Worten. Der heilige Dominikus sprach zu dem heiligen Franziskus: „Bruder, ich möchte, daß dein Orden und der meine zu einem würden, daß wir in der Kirche auf gleiche Weise unser Leben führten." Als sie voneinander schieden, sagte der selige Dominikus zu den Umstehenden: „Das ist die Wahrheit und meine feste Überzeugung, daß diesen heiligen Menschen Franziskus alle Ordensleute nachahmen müßten; so vollkommen ist er in seiner Heiligkeit." 51. Als eines Tages der selige Franziskus den Kardinal von Ostia zur Essenszeit besuchte, ging er gleichsam wie ein Dieb von Tür zu Tür um Almosen. Nach seiner Rückkehr legte er auf die Tafel des Kardinals ein Stückchen Schwarzbrot. Da schämte sich der Kardinal ein wenig, besonders wegen der erstmalig eingeladenen Gäste. Der selige Franziskus nahm von seinen Spenden und gab jedem Ritter etwas davon. Sie nahmen es alle in großer Freude und Ehrerbietung; einige aßen es, andere legten es zurück aus Ehrfurcht vor ihm. Nach der Mahlzeit ging der Kardinal in sein Zimmer und nahm den seligen Franziskus mit; er erhob die Arme und umfing ihn froh und heiter, indem er sagte: ,,0 du lieber allereinfältigster Bruder, warum hast du mich heute beschämt, da du in mein Haus kamst, das doch das Haus deiner Brüder ist, und Almosen sammeltest?" Da antwortete ihm der selige Franziskus: „O nein, Herr, ich habe dich zutiefst geehrt, als ich den höheren Herrn ehrte, dem freiwilliger Bettel wohlgefällig ist. Ja, ich möchte es vor Gott für die höchste Vornehmheit und eine königliche Würde halten, ja 26

wahrhaftig, und für eine Ehrung dessen, der als Reicher arm daherkam. Darum ist es für mich viel tröstlicher, an einem ärmlichen Tisch zu sitzen, der mit kleinen Spenden belegt ist, als an eurer Tafel, die wohl und reichlich hergerichtet ward mit vielerlei Gerichten." Dies klare Bekenntnis des seligen Franz erbaute den Kardinal sehr, und er sprach zu ihm: „Mein Sohn, tu das, was gut in deinen Augen ist; denn Gott ist mit dir." 53. Als die Zeit des Generalkapitels nahte, das alljährlich bei Sancta Maria von Portiunkula stattfand, stellte das Volk von Assisi fest, daß der Brüder täglich mehr wurden; frommgesinnt hielt es deshalb Rat und legte dann in wenigen Tagen dort ein großes Haus aus Steinen und Kalk an, schleunigst, ohne Zustimmung und in Abwesenheit des seligen Franziskus. Als dieser aus der Provinz zurückkehrte und zum Kapitel kam, wunderte er sich sehr über das dort errichtete Haus; aus Furcht, daß die andern Brüder einen solchen Hausbau an den Orten, wo sie weilten oder noch weilen sollten, zum Vorbild nähmen, stieg er auf das Dach und warf zusammen mit den Brüdern die Ziegel, mit denen das Haus bedeckt war, auf die Erde, um es bis auf die Grundmauern zu zerstören. Da sahen einige Kriegsleute aus Assisi, die zur Wache da waren, daß der selige Franziskus und die übrigen Brüder das Haus abreißen wollten; sogleich gingen sie zu ihm und sagten: „Bruder, dies Haus gehört der Gemeinde von Assisi." Als dies der selige Franziskus hörte, antwortete er ihnen: „Nun denn, wenn es euer ist, will ich es nicht anrühren." 55. Elf Jahre nach Gründung des Ordens, als die Brüder an Zahl und Verdienst vielfach gewachsen waren, wurden „Minister" gewählt und mit einigen Brüdern beinah in alle Länder der Welt entsandt, wo der katholische Glaube gilt und geübt wird. In etlichen Provinzen nahm man sie auf, aber erlaubte ihnen nicht, Wohnung zu nehmen; aus anderen vertrieb man sie, da sie ja unehrliche Leute sein könnten; zwar hatte der oben erwähnte Innozenz III. Orden und Regel bestätigt, aber nicht eigens verbrieft. Darum erlitten die Brüder von Klerikern und Laien viele Nachstellungen. So mußten sie aus verschiedenen Provinzen fliehen; verängstigt und bedrängt, dazu von Räubern ausgeplündert und geschlagen,

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kehrten sie voller Bitterkeit zu Franziskus zurück. Sie waren fast in allen Ländern jenseits der Berge gewesen, in Deutschland, Ungarn und vielen anderen. Als das dem Kardinal von Ostia bekannt wurde, rief er den seligen Franz zu sich, führte ihn zum Papst Honorius, da Innozenz bereits gestorben war, und Heß eine andere Regel, die der Heilige nach den Anweisungen Christi verfaßte, durch Honorius mit anhängender Bulle feierlich bestätigen. (Zugleich bat Franziskus den Papst, er möge den Kardinal von Ostia zum Schirmherrn des Ordens ernennen, und zwar kam er dazu durch folgendes Gesicht:) E r hatte eine kleine schwarze Henne gesehen, deren gefiederte Beine und Füße wie bei einer zahmen Taube geformt waren; sie hatte so viele Küken, daß sie sie nicht unter ihren eigenen Flügeln bergen konnte; so gingen sie draußen in der Nähe der Henne umher. Als er aus dem Schlaf erwachte, überdachte er das Gesicht und erkannte alsbald durch den Heiligen Geist, daß er mit jener Henne gleichnisweise gemeint sei. Und er sprach: „Ich bin jene Henne, klein an Gestalt und schwarz von Natur; ich muß einfältig wie die Taube sein und mit meiner Inbrunst, dem Gefieder der Tugenden, gen Himmel fliegen. Der Herr aber gab mir durch seine Barmherzigkeit viele Kinder, die ich mit eigener Kraft nicht werde schützen können. Darum ist es nötig, daß ich sie der Heiügen Kirche empfehle, die sie unter dem Schatten ihrer Flügel schützen und lenken möge." (Wenige Jahre darauf predigte Franziskus am päpstlichen Hofe vor den Kardinälen und gewann die Zustimmung des Papstes dafür, daß der Kardinal von Ostia Schutzherr des Ordens sein solle. Von da an ebneten sich den Brüdern die Wege. Franziskus aber weissagte das Pontifikat des Kardinals, der wirklich als Gregor IX. den Thron bestieg.) 56. (Als dieser Kardinal bei S. Maria von Portiunkula die Schlafstätte der Brüder sah, die auf dem Boden ruhten und nur eine bescheidene Unterlage benutzten), begann er vor allen Begleitern heftig zu weinen und sagte: „Seht, hier schlafen die Brüder; und was brauchen wir all für überflüssige Dinge, wir Elenden! Was wird mit uns einmal geschehen?" Er selbst und alle Anwesenden fühlten sich erhoben bei diesem Anblick. 59. Um der Tugend der heiligen Demut willen verzichtete

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Franziskus, wenige Jahre nach seiner Bekehrung, auf das Vorsteheramt, indem er auf einem Kapitel vor den Brüdern erklärte: „Von nun an bin ich für euch tot; aber dort, dem Bruder Petrus von Catania, ihm wollen wir alle gehorchen, ich und ihr." Er warf sich in aller Anwesenheit nieder und versprach jenem ehrerbietigsten Gehorsam . . . So blieb er bis zu seinem Tode unterwürfig und übertraf alle in allem an Demut. 60. Eine arme alte Frau, die zwei Söhne im Orden hatte, kam nach Portiunkula und bat den seligen Franziskus um eine Gabe. Gleich wandte er sich an den Bruder Petrus von Catania, der damals General-Minister war, und fragte ihn: „Hätten wir wohl etwas, was wir unserer Mutter dort geben könnten ? " E r nannte nämlich die Mutter eines Bruders seine und aller Brüder Mutter. Bruder Petrus antwortete ihm: „Im Hause ist nichts, was wir ihr geben können. Wir haben nur ein Testament, in dem wir frühmorgens die Lektionen lesen." Da sagte ihm der selige Franziskus: „Gib unserer Mutter das Testament; das wird dem Herrn wohlgefälliger sein, als wenn wir in ihm läsen." So gab er ihr das erste Testament, das der Orden besaß. 71. Oftmals hörten wir Franziskus sagen: „Wenn ich einmal mit dem Kaiser spreche, will ich ihm raten und ihn bitten, er möge durch ein besonderes Gesetz die Menschen dazu anhalten, Weihnachten außerhalb der Städte und Dörfer Getreide und andere Körnerfrucht auf den Weg zu streuen, damit die Vöglein und besonders die Schwestern Lerchen an einem so hohen Festtag etwas zu essen haben; so sollte es geschehen aus Ehrfurcht vor dem Gottessohn . . . " 79. Der Tod des Heiligen: Nachdem der seüge Franziskus mit den Brüdern, die bittere Tränen vergossen und untröstlich waren in ihrem Weinen, die Abendmahlzeit gehalten hatte, streckte er mit großer Hingabe und Verehrung die Hände aus zum Herrn und sprach nach außen und im Innern vor Freude strahlend: „Willkommen, mein Bruder Tod!" Nach Verlesung des Evangeliums und nach Segnung der Brüder ließ er sich das Gewand ausziehen und nackt auf den Boden legen. Kurz darauf geschah es, daß er aus dieser brüchigen Welt zum Herrn hinüberging, ungefähr bei Nacht, am 4. Oktober 1226 . . .

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AUS DEM SPIEGEL DER VOLLKOMMENHEIT

i. (Als Franziskus seine dritte Regel auf Antrieb Christi aufzeichnen ließ,) fanden sich mehrere Ordensvorsteher beim Bruder Helias ein, der der Stellvertreter des Heiligen war, und sprachen zu ihm: „Wir haben gehört, daß Bruder Franziskus eine neue Regel macht, und fürchten, daß sie zu streng wird, daß wir sie nicht befolgen können. Darum wünschen wir, daß du zu ihm gehst und ihm sagst, wir wollten nicht auf jene Regel verpflichtet werden, er möge sie für sich und nicht für uns machen." Ihnen antwortete Bruder Helias, er wolle nicht ohne sie gehen; so brachen sie denn alle zusammen auf. Als man nun dem Orte nahe war, wo der Heilige weilte, rief ihn Bruder Helias an; der selige Franziskus sah die Ordensvorsteher, antwortete und sprach: „Was wollen diese Brüder?" Bruder Helias sagte: „Es sind Ordensvorsteher; sie hörten, daß du eine neue Regel machst, und fürchten, daß sie zu streng wird; sie erheben ausdrücklich Einspruch dagegen, an diese Regel gebunden zu werden; du möchtest sie für dich und nicht für sie machen." Da wandte der selige Franziskus sein Angesicht gen Himmel und sprach zu Christus: „Herr, habe ich es dir nicht gesagt, daß sie mir nicht glauben würden?" Da hörten alle die Stimme Christi, wie er von droben antwortete: „Franziskus, nichts stammt in deiner Regel von dir; das Ganze, was da steht, ist mein Werk; und ich will, daß die Regel so beobachtet wird — buchstäblich, buchstäblich, ohne weitere Erklärung, ohne sie, ohne sie." Und er sprach weiter: „Ich weiß, wie viel menschliche Schwäche vermag, und wie sehr ich ihnen helfen will; wer trotzdem gegen sie ist, möge aus dem Orden austreten." So wandte sich denn der selige Franziskus zu den Brüdern und rief aus: „Da hörtet ihr es ja, da hörtet ihr es. Wollt ihr, daß ich es euch noch einmal sagen lasse?" Die Ordensvorsteher aber machten sich gegenseitig Vorwürfe und gingen verwirrt und bestürzt von dannen. 30

4. (Ein Novize hatte vom General die Erlaubnis erhalten, den Psalter zu lesen, wünschte aber auch noch eine Bestätigung vom Heiligen selber; der sprach ihm von den großen Helden, die die Ungläubigen mit viel Mühe verfolgt hätten und als Märtyrer des Glaubens gestorben seien:) „Heute aber gibt es viele, die allein durch die Erzählung dessen, was jene gewirkt haben, bei Menschen Ruhm und Ehre finden möchten. So sind auch unter uns viele, die durch das bloße Lesen und Predigen der Werke, die die Heiligen vollbracht haben, Ehre und Lob empfangen wollen", und so sage er denn: Man sorge sich nicht um Bücher und Wissenschaft, sondern um tugendhafte Werke, weil die Wissenschaft aufbläht, die Liebe aber erbaut. Nach einigen Tagen, als der Heilige am Feuer saß, sprach ihm derselbe Novize wiederum vom Psalter. Da antwortete ihm der selige Franz: „Wenn du den Psalter hast, wirst du dir brennend ein Brevier wünschen; und wenn du ein Brevier hast, wirst du im Sessel sitzen wie ein großer Prälat und deinem Bruder sagen: Bring mir das Brevier!" Dies sprach der selige Franziskus heftig und eifervoll; er nahm Asche, streute sie über sein Haupt und fuhr mit der Hand im Kreis darüber, wie einer, der sich den Kopf wäscht; dazu sagte er: „Ich — das Brevier, ich — das Brevier!" und so wiederholte er oftmals, indem er sich mit der Hand über das Haupt fuhr. Staunend und scheu stand der Bruder dabei. Später erklärte ihm der selige Franziskus: „Bruder, auch ich fühlte mich einmal versucht, Bücher zu besitzen; da ich in diesem Punkt noch nicht den Willen des Herrn kannte, nahm ich ein Buch, in dem die göttlichen Evangelien aufgeschrieben waren, und bat den Herrn, er möge mir bei der ersten Öffnung des Buches seinen Willen offenbaren; ich beendete das Gebet und stieß bei der ersten Öffnung auf das Wort des Heiligen Evangeliums: „Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Gottesreiches zu erkennen; die andern haben nur Gleichnisse." Und er sprach: „ E s sind so viele, die zur Wissenschaft emporsteigen, daß der selig sein wird, der sich unfruchtbar gemacht hat aus Liebe zum Herrgott." i i . Der selige Franziskus hatte bestimmt, daß die Kirchen der Brüder klein sein sollten, und daß ihre Häuser nur 3i

aus Holz und Lehm hergestellt würden, zum Zeichen der heiligen Armut und Demut. E r wollte, daß man damit bei S. Maria von Portiunkula den Anfang mache; gerade die Bauten aus Holz und Lehm sollten allen Brüdern, den gegenwärtigen wie den künftigen, zum dauernden Gedächtnis dienen, vor allem an dieser ersten und hauptsächlichen Stätte des ganzen Ordens. Einige Brüder jedoch waren entgegengesetzter Ansicht und wandten ein, in gewissen Gegenden sei Holz teurer als Stein; darum erscheine es ihnen nicht richtig, die Häuser aus Holz und Lehm zu errichten. Der selige Franziskus wollte nicht mit ihnen streiten, zumal er dem Tode nahe war und sich sehr krank fühlte. Aber er ließ in sein Testament hineinsetzen: „Die Brüder mögen sich davor hüten, die Kirchen, die Behausungen und alles andere, was für sie angelegt wird, als ihr Eigentum anzunehmen; vielmehr sollen sie darin nur zu Gast sein, wie Pilger und Fremdlinge; so geziemt es der heiligen Armut." Wir, die wir bei der Abfassung der Regel und beinahe sämtlicher übrigen Aufzeichnungen zugegen waren, legen Zeugnis ab, daß er in der Regel und in seinen weiteren Schriften einiges aufschreiben ließ, mit dem viele Brüder nicht einverstanden waren, besonders die hochgestellten und gebildeten von uns, was aber heute dem ganzen Orden sehr nützlich und nötig wäre. Weil er großes Ärgernis fürchtete, paßte er sich, nicht gern freilich, dem Willen der Brüder an. Doch oft hörte man ihn klagen: „Wehe den Brüdern, die mir in dem entgegen sind, was ich als genau gottgemäß erkenne, als dem ganzen Orden nützlich und notwendig; nur ungern passe ich mich ihrem Willen an." Darum sagte er häufig uns, seinen Gefährten: „Das schmerzt und betrübt mich, daß in dem, was ich in angestrengtem Beten und langer Betrachtung barmherzigerweise von Gott erhalte, zum gegenwärtigen und künftigen Wohl des ganzen Ordens, was er mir als seinem Willen gemäß bestätigt hat, daß darin mir einige Brüder entgegen sind, nur auf ihr eigenes Wissen gestützt und von einer falschen Vorsorge geleitet; sie entkräften es durch die Erklärung: Das muß man halten und beobachten und das nicht. . . " 14. Franziskus, der wahre Freund und Nachahmer Christi, verachtete alles, was von dieser Welt ist, und verab-

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scheute ganz besonders das Geld. Durch Wort und Beispiel hielt er seine Brüder an, es wie den Teufel zu fliehen; sie hatten es in Klugheit so weit gebracht, daß sie für Kot und Geld das gleiche Maß der Liebe zeigten. Eines Tages nun betrat ein Laie die Kirche der seligen Maria von Portiunkula zum Beten und legte Opfergeld in das Kreuz. Nach seinem Weggang faßte ein Bruder in seiner Einfalt die Münzen an und warf sie in eine Fensterecke. Als das dem seligen Franziskus berichtet wurde, bat jener Bruder, der sich ertappt sah, eilends um Verzeihung und warf sich auf den Boden, um Schläge entgegenzunehmen. Da machte ihm der selige Franziskus bittere Vorwürfe und ging ihn hart an, weil er das Geld berührt hatte. E r befahl ihm, die Münzen mit eigenem Munde vom Fenster zu nehmen und sie jenseit der Umzäunung zu bringen; dort solle er sie mit eigenem Munde auf den Eselsmist werfen. Alle, die es sahen und hörten, wurden von großer Furcht erfüllt; seitdem verachteten sie noch tiefer das dem Eselsmist gleichgestellte Geld und eiferten sich täglich durch neue Beispiele an, es völlig zu verachten . . . 19. Zur selben Zeit lebte der selige Franziskus zusammen mit den Brüdern, die er damals hatte, in solcher Armut, daß sie das Heilige Evangelium in allem und jedem beobachteten, von dem Tage an, an dem ihm der Herr geoffenbart hatte, daß er und seine Brüder nach der Weise des Heiligen Evangeliums leben sollten; daher verbot er einem Bruder, der für sie das Essen besorgte, Bohnen schon am Vorabend in warmes Wasser zu legen, wie mans doch tut, wenn sie den Brüdern erst am folgenden Tag vorgesetzt würden. Vielmehr sollten sie jenes Wort des Heiligen Evangeliums beobachten: Sorget euch nicht um morgenl So legte der Bruder sie denn erst am Morgen zum Aufweichen ein, nachdem der Tag, an dem sie verspeist werden sollten, schon angefangen hatte. Daran hielten sich lange Zeit viele Brüder an verschiedenen Orten; sie wollten nicht mehr Almosen sich verschaffen oder in Empfang nehmen, als sie für einen Tag brauchten, besonders in den Städten. 20. (Als Franziskus einmal Weihnachten bei den Brüdern von Reate weilte, richteten diese zur Feier der göttlichen Geburt die Tische ein wenig sorgfältig und prächtig her. L ü t z e l e r , Franziskuslegende.

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Der Heilige sah es beim Verlassen seiner Zelle mit Unwillen.) Sofort ging er heimlich beiseite, nahm Stock und Hut eines Armen, der am gleichen Tag dorthin gekommen war, und rief einen seiner Gefährten leise zu sich. Dann ging er ohne Wissen der Brüder vor die Tür, während sein Gefährte drinnen neben der Pforte stehen blieb. Inzwischen setzten sich die Brüder zu Tisch; denn der selige Franziskus hatte angeordnet, daß man nicht auf ihn warte, wenn er nicht gleich zur Essensstunde komme. Als er draußen ein wenig gestanden hatte, klopfte er an die Tür, die ihm sein Gefährte sofort öffnete, trat wie ein armer Pilger, den Hut auf dem Rücken und den Stock in der Hand, auf die Schwelle des Hauses, in dem die Brüder aßen, und sagte: „Gebt aus Liebe zum Herrgott mir armem schwachen Pilger ein Almosen!" Der Vorsteher und die anderen Brüder erkannten ihn gleich, und der Vorsteher antwortete ihm: „Bruder, auch wir sind arm, und da unser viele sind, brauchen wir die Almosen, die wir haben; doch aus Liebe zu jenem Herrn, den du nanntest: tritt ein, wir wollen dir von den Almosen geben, die der Herr uns gegeben hat." Als er eingetreten war und vor dem Tisch der Brüder stand, gab jener ihm die Schüssel, aus der er gerade aß, und zugleich von dem Brot. Demütig nahm er es entgegen und hockte neben dem Feuer, vor den Brüdern, die zu Tische saßen. Und seufzend sprach er zu den Brüdern: „Als ich den Tisch so reich und sorglich hergerichtet sah, dachte ich, daß es nicht der Tisch armer Ordensleute sei, die täglich von Tür zu Tür um Almosen gehen; für uns, meine Lieben, schickt es sich noch mehr als für andere Ordensleute, das Vorbild Christi in Armut und Demut zu befolgen; denn dazu sind wir berufen und haben uns bekannt vor Gott und den Menschen. Darum scheint es mir auch, daß ich wie ein Minderbruder dasitze; denn mit größerer Ehre begeht man die Feste des Herrn und der anderen Heiligen in Mangel und Armut, durch die sich die Heiligen den Himmel erworben haben, als nach sorgsamer Vorbereitung im Überfluß, durch den die Seele vom Himmel entfernt wird." Da schämten sich die Brüder und dachten bei sich, daß er die reine Wahrheit sagte. Einige fingen bitter zu weinen an, als sie sahen, wie er da auf dem Boden hockte und so rein und heilig da34

nach trachtete, sie zu bessern und zu belehren. E r ermahnte die Brüder, es mit ihrer Tafel so ehrenwert und demütig zu halten, daß die Weltleute sich daran erbauen könnten, und wenn ein Armer hinzukäme und von den Brüdern eingeladen würde, so sollte er in gleicher Höhe neben ihnen sitzen können, und nicht er auf dem Boden und die Brüder auf Sitzen . . . 22. Als der Brüder noch wenige waren, aber auch nachdem ihre Zahl sich vermehrt hatte, sammelten sie stets zur Essenszeit Almosen ein, wenn sie predigend durch die Lande zogen; daran hielten sie auch fest, wenn jemand sie einlud, als sein Gast mit ihm zu speisen; mochte er auch noch so reich und vornehm sein, sie blieben dabei und betraten nicht früher sein Haus, um den Brüdern ein gutes Beispiel zu geben und die hohe Herrin Armut nach Gebühr zu ehren. Oft sagte dem Heiligen der, der ihn einlud, er möge nicht gehen; aber Franziskus antwortete: „Ich möchte nicht von meiner königüchen Würde, meinem Erbrecht, meiner und meiner Brüder Beruf ablassen: nämlich von Tür zu Tür Spenden einzuholen." Manchmal ging er mit dem zusammen, der ihn eingeladen hatte, und jener empfing die Almosen, die der selige Franz erhielt, und bewahrte sie aus Ehrfurcht vor ihm als Reliquien. Der Verfasser dieser Aufzeichnungen sah es häufig und legt davon Zeugnis ab . . . 25. Ein andermal, als sich der Heilige bei S. Maria von Portiunkula aufhielt, kam ein Armer, ein sehr geistlicher Mensch, der in Assisi Almosen gesammelt hatte, über die Straße und lobte auf seinem Weg laut den Herrn in tiefer Heiterkeit. Als er sich der Kirche der seligen Maria näherte, hörte ihn Franziskus und trat mit höchstem Eifer und inniger Freude heraus, um ihm entgegenzugehen; froh küßte er ihm die Schulter, auf der er den Almosensack trug, nahm ihn, legte ihn sich selbst über den Rücken und trug ihn ins Haus der Brüder, vor denen er erklärte: ,,So wünsche ich es, so soll mein Bruder ausziehen und mit Almosen zurückkehren, voll Jubel und Freude und voll Lob für den Herrn." 26. Einstens sprach der selige Franziskus: „Orden und Leben der Minderbrüder ist wie eine kleine Herde, die sich der Gottessohn gerade in diesen jüngsten Tagen von seinem himmlischen Vater erbat, indem er sagte: Vater, ich möchte, 3»

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daß du mir jetzt, in dieser Stunde, ein neues demütiges Volk schüfest und gäbest, das sich in Demut und Armut von allen anderen unterscheidet, die vorangegangen sind, und das sein Genüge darin findet, mich allein zu haben. Und als der Vater den Sohn angehört, sprach er: Mein Sohn, was du wünschtest, ist geschehen." Und der selige Franziskus erklärte weiter, Gott habe gewollt und ihm geoffenbart, daß sie Minderbrüder heißen sollten, und zwar darum, weil sie das arme demütige Volk seien, das der Gottessohn von seinem Vater sich erbat, und über das er selbst im Evangelium sagt: Fürchte dich nicht, kleine Herde, denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben, und an einer anderen Stelle: Was ihr einem meiner geringsten Brüder tut, das habt ihr mir getan. Mag damit der Herr auch alle geistlich Armen gemeint haben, so sagte er doch vor allem voraus, daß der Orden der Minderbrüder sich in seiner Kirche bilden werde. Als nun dem seligen Franziskus geoffenbart war, daß seine Gemeinschaft Orden der Minderbrüder heißen solle, ließ er es so in der ersten Regel verzeichnen; er brachte sie dann vor den Papst Innozenz III., der sie büligte und bestätigte und sie später im Konsistorium allgemein verkündete. Zugleich offenbarte ihm der Herr auch den Gruß, den die Brüder sagen sollten, wie er es in seinem Testament niederlegte: „Der Herr hat mir geoffenbart, ich müßte als Gruß sagen: Gebe dir der Herr den Frieden!" Als er einmal im Anfang der Ordensgründung mit einem Bruder, der einer von den ersten Zwölfen war, daherging, begrüßte dieser die Männer und Frauen auf dem Wege und die Leute auf dem Felde mit den Worten: Gebe euch der Herr den Frieden! Weil man aber bisher einen solchen Gruß noch nicht von anderen Ordensleuten gehört hatte, wunderte man sich sehr, ja einige sagten sogar ärgerlich zu ihnen: „Was soll denn nun dieser Gruß?" Da schämte sich der Bruder und sagte zum seligen Franziskus: „Laß mich einen anderen Gruß sagen!" Aber der Heilige antwortete ihm: „Laß sie doch reden; sie verstehen nicht, was Gottes ist. Schäme dich nicht; denn es werden noch die Großen und Fürsten dieser Welt jenes Grußes wegen dir und den übrigen Brüdern Ehrfurcht erweisen. Ist es nicht etwas Gewaltiges, wenn der Herr ein neues kleines Volk

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haben will, das sich von allen vorangehenden als einzigartig in Leben und Wort unterscheidet, das damit zufrieden ist, einzig ihn zu haben als den Allersüßesten!" 28. (Ein andermal hatte Franziskus inniges Mitleid mit einem sehr schwachen und kranken Gefährten.) Aber damals beobachteten die Brüder alle, ob gesund oder krank, in tiefer Heiterkeit die Armut, statt im Überfluß zu leben, und verwandten bei Erkrankungen keinerlei Arznei, ja verlangten nicht einmal nach ihr, sondern nahmen lieber etwas ein, was dem Körper zuwider war; da sprach bei sich der selige Franziskus: „Wenn jener Bruder ganz früh am Morgen reife Trauben äße, ich glaube, es würde ihm helfen." Und wie er dachte, so tat er auch. Er erhob sich eines Tages in aller Frühe, rief den Bruder heimlich und führte ihn in einen Weinberg, der neben der Niederlassung war. Dort wählte er eine Rebe, an der gute Trauben zum Essen hingen, setzte sich hin und begann mit dem Bruder von den Trauben zu kosten; denn er sollte nicht dadurch beschämt werden, daß er allein äße. Und als sie aßen, wurde der Bruder von seinen Schmerzen befreit, und sie lobten zusammen den Herrn. Zeit seines Lebens dachte der Bruder an die Barmherzigkeit und Güte, die ihm der heiligste Vater so tatkräftig bezeigte; in großer Ehrerbietung erzählte er es häufig, zu Tränen gerührt, unter den Brüdern . . . 37. Um zu predigen, ging der selige Franziskus zu einer Niederlassung der Brüder bei Rothabricii; da geschah es, daß an dem Tage, wo er predigen mußte, ein armer Kranker zu ihm kam. Er hatte großes Mitleid mit ihm und erzählte seinem Gefährten von der Armut und Krankheit des Mannes. Der aber antwortete ihm: „Bruder, es stimmt, er scheint recht arm zu sein; aber an Wünschen ist vielleicht in der ganzen Gegend keiner so reich wie er." Sofort tadelte ihn Franziskus heftig, und der Bruder bekannte sich schuldig. Da fragte ihn der Heilige: „Willst du dafür die Buße tun, die ich dir nennen werde?" Er antwortete: „ J a , ich will es gern." Da befahl ihm Franziskus: „Geh hin, zieh dein Gewand aus, wirf dich nackt dem Armen zu Füßen und gesteh ihm, daß du ihn schlecht gemacht, daß du dich an ihm versündigt hast; sag ihm, er möge für dich beten." Jener ging 37

und tat alles, was der Heilige von ihm verlangt hatte; danach erhob er sich, zog sein Gewand wieder an und kehrte zu Franziskus zurück. Da fragte ihn der Selige : „Möchtest du wissen, wie du dich an ihm, nein, an Christus versündigt hast? Wenn du einen Armen siehst, so mußt du ihn von dem aus betrachten, in dessen Namen er kommt, von Christus her, der unsere Armut und Schwäche auf sich genommen hat; menschliche Armut und Schwäche ist uns ein Spiegel, in dem wir frommen Sinnes die Armut und Schwäche unseres Herrn Jesu Christi erschauen und betrachten müssen." 40. Ein andermal verzichtete er auf alle Gefährten, indem er seinem Stellvertreter erklärte: „Ich möchte nicht durch das Vorrecht und die Freiheit ausgezeichnet erscheinen, daß ich einen besonderen Gefährten habe, sondern die Brüder mögen sich mit mir zusammentun, wie es gerade kommt, wie es ihnen der Herr eingibt," und er fügte hinzu, „ich sah einmal einen Blinden, der nur einen jungen Hund als Wegführer hatte — und ich will besser erscheinen als e r ! " E r vermied streng den Anschein der Eitelkeit und Bevorzugung und suchte immer darin seinen Ruhm, daß in ihm die Tugend Christi wohne. 41. Einmal fragte ihn ein Bruder, warum er sich nicht mehr so ihrer annehme und sie fremden Händen überlasse, als ob sie gar nicht zu ihm gehörten. Da antwortete er: „Mein Sohn, ich liebe die Brüder, wie ich es vermag. Aber wenn sie meinen Spuren folgten, würde ich sie gewiß noch mehr lieben und würde mich ihnen nicht entziehen. Einige aus der Zahl der Prälaten drängen sie zu anderem hin, indem sie ihnen die Beispiele der Alten vorhalten und meine Ermahnungen zu wenig bedenken; aber was sie tun und wie sie verfahren, wird schließlich ganz klar hervorleuchten." Als er kurz darauf von schwerer Krankheit bedrängt wurde, richtete er sich im Bett heftig auf und rief: „ W e r sind diejenigen, die meinen Orden und meine Brüder mir aus den Händen gerissen haben? Wenn ich zum Generalkapitel komme, werde ich ihnen zeigen, was mein Wille ist!" 45. Als er dem Volk in Reate auf dem Stadtplatz gepredigt hatte, erhob sich gleich nach Beendigung der Predigt der Bischof der Stadt, ein überaus feingestimmter geistlicher

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Mensch, und sagte zum Volk: „Seitdem der Herr seine Kirche pflanzte und erbaute, hat er sie stets durch heilige Männer verherrlicht, die sie in Wort und Beispiel vervollkommnen sollten. Jetzt, in unserer Gegenwart, hat er sie durch diesen armen, niedrigen, ungelehrten Franziskus verherrlicht. Darum seid ihr gehalten, den Herrn zu lieben und zu ehren und euch vor Sünden zu hüten; denn nicht jedem Volk hat er das gewährt." Nach diesen Worten stieg der Bischof von dort, wo er gepredigt hatte, herab und betrat die Bischofskirche; da kam der selige Franziskus zu ihm, verneigte sich, warf sich ihm zu Füßen und sagte: „Herr Bischof, ich versichere euch, daß in dieser Welt mir noch niemand so hohe Ehre erwies, wie ihr es heute tatet; denn gewöhnlich sagt man: E r ist ein Heiliger! und legt m i r Ruhm und Heiligkeit bei und nicht dem Schöpfer; ihr aber habt in Feinheit geschieden das Kostbare vom Gemeinen." Wenn man nämlich den seligen Franziskus lobte und ihn einen Heiligen nannte, so pflegte er auf dergleichen Reden zu antworten: ,,. . . Wie man auf einem Holzbild des Herrn und der seligen Jungfrau den Herrn und die selige Jungfrau ehrt und Holz und Bild nichts davon beanspruchen können, so ist der Diener Gottes gewissermaßen ein Bild Gottes, in dem Gott wegen seiner Wohltaten verehrt wird; aber er selber darf nichts davon für sich beanspruchen; denn vor Gott ist er noch weniger wert als Holz und Malerei, ja gilt rein nichts, so daß aller Ruhm und alle Ehre Gott allein gebührt, ihm selber aber nur die Scham und die Trübsal, solange er im Elend dieser Welt d a h i n l e b t . . . " 50. Einige Brüder beklagten sich bei dem seligen Franziskus: „Vater, siehst du nicht, daß die Bischöfe uns manchmal nicht zu predigen erlauben und uns mehrere Tage müßig an einem Ort verweilen lassen, bevor wir das Wort des Herrn verkünden können ? E s wäre besser, du erbätest dir darüber vom Papst ein Privileg; das diente auch dem Heil der Seelen." E r aber tadelte sie sehr in seiner Antwort: „Ihr, Minderbrüder, erkennt nicht den Willen Gottes und laßt mich nicht die ganze Welt bekehren, wie Gott es will; denn ich möchte durch heilige Demut und Ehrerbietung zuerst die Prälaten umstimmen; wenn sie sehen, daß wir ein heiliges Leben

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führen und ihnen demütig alle Ehre erweisen, so werden sie euch bitten, zu predigen und das Volk zu bekehren; ihr Wort wird es eher eurer Predigt zuführen als eure Privilegien, die euch nur dem Hochmut entgegentreiben . . . Ich für meinen Teil wünsche mir vom Herrn das Vorrecht, bei niemandem ein anderes Vorrecht zu haben, als allen Ehrfurcht zu erweisen und in gehorsamer Erfüllung der heiligen Regel mehr durch Beispiel als durch Lehre die Menschheit zu bekehren!" 52. Unser Herr Jesus Christus sprach einmal zum Bruder Leo, dem Gefährten des seügen Franziskus: „Bruder Leo, ich wehklage über die Brüder." „Und warum, Herr?", fragte ihn Bruder Leo. „ E s ist dreierlei," antwortete der Herr, „zunächst erkennen sie nicht meine Wohltaten an, die ich ihnen — du weißt es ja — so reich und übervoll spende, da sie doch nicht säen und nicht ernten. Dann murren sie den ganzen Tag und stehen müßig. Schließlich reizen sie sich oft gegenseitig zum Zorn, kehren nicht zur Liebe zurück und verzeihen nicht das Unrecht, das man ihnen zufügt." 53. Als Franziskus in der Nähe von Siena war, kam zu ihm ein Doktor der Heiligen Theologie vom Prediger-Orden, ein tief demütiger geistlicher Mensch. Der Lehrer sprach mit dem Heiligen eine Zeitlang über Worte des Herrn und befragte ihn schließlich über den Ausspruch Ezechiels: „Wenn du dem Gottlosen seine Gottlosigkeit nicht vorhältst, werde ich seine Seele von deiner Hand fordern." Und er fügte hinzu: „Guter Vater, ich sehe viele in der Todsünde, denen ich nicht ihre Gottlosigkeit vorhalte, sollen denn wirklich ihre Seelen von meiner Hand gefordert werden?" Ihm antwortete der selige Franziskus voll Demut, er sei ein unwissender Mensch; darum sei es eigentlich richtiger, daß er sich von ihm belehren lasse, als sich selber äußere über den Sinn der Schrift. Aber jener demütige Lehrer fuhr fort: „Nein, Bruder, ich habe wohl von einigen Weisen eine Auslegung dieses Wortes gehört, aber möchte trotzdem gern darüber eure Anschauung erfahren." Da sprach der selige Franziskus: „Wenn dieses Wort überhaupt gedeutet werden soll, so nehme ich es so, daß der Diener Gottes in sich selber, durch sein Leben und seine Heiligkeit, so sehr brennen und leuchten muß, daß das Licht seines Beispiels und die Sprache seines heiligen

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Wandels die Unfrommen zurechtweist; so, meine ich, kann sein Glanz und der Wohlgeruch seines Rufes allen ihre Verfehlungen vorhalten . . ." 54. Der selige Franziskus wünschte, daß seine Söhne mit jedermann in Frieden lebten und überall ganz unscheinbar aufträten; vor allem aber sollten sie zu den Geistlichen demütig sein; das betonte er durch Lehre und zeigte es ihnen im Beispiel. Er sagte nämlich: „Wir sind zur Unterstützung der Geistlichen bestimmt und sollen mit ihnen gemeinsam die Seelen retten; erfüllt ihr darum, was sich an ihnen Unzureichendes findet! Jeder wird seinen Lohn empfangen — nicht auf Grund seiner Amtsgewalt, sondern nach seiner Bemühung. Bedenkt, Brüder, daß der Gewinn von Seelen Gott sehr lieb ist, und daß wir das im Frieden mit den Geistlichen besser erreichen können als in Zwietracht. Hindern sie aber das Heil des Volkes, so gebührt Gott die Vergeltung; er selber wird sie heimsuchen zur rechten Zeit; darum seid den Prälaten Untertan, damit sich, soweit es an euch liegt, kein schlimmer Eifer erhebe. Wenn ihr Kinder des Friedens seid, werdet ihr Volk und Geistlichkeit gewinnen, und das wird Gott wohlgefälliger sein, als wenn ihr das Volk allein gewinnt und bei der Geistlichkeit Ärgernis erregt. Deckt ihre Fehler zu", sprach er, „füllt aus ihre zahlreichen Mängel; wenn ihr das tut, seid ihr die Demütigeren." 55. (Franziskus hatte vom Abt des Benediktinerklosters auf dem Subasio-Berg die Erlaubnis erhalten, daß die Minoriten die Portiunkula-Kirche benutzen dürften.) Wenn aber auch Abt und Mönche dem seligen Franziskus und seinen Brüdern die Kirche zu freiem Gebrauch überlassen hatten, so wollte doch der Heilige als ein guter, erfahrener Meister sein Haus, d. h. seinen Orden, auf einen festen Felsen gründen: auf die höchste Armut; darum schickte er alljährlich dem Abt und seinen Mönchen ein Gefäß voll kleiner Fische, die man „laschae" nennt, zum Zeichen höchster Demut und Armut, als ein Beweis dessen, daß die Brüder keine eigene Besitzung hatten, daß sie sich an keinem Ort aufhielten, der nicht Fremden gehörte, und daß sie also keinerlei Möglichkeit hatten, etwas zu verkaufen. Wenn nun die Brüder den Mönchen jährlich die Fischlein brachten, 4i

gaben ihnen diese ein Gefäß mit Öl, weil der selige Franziskus aus eigenem Antrieb so demütig handelte . . . 56. Einst, als sich der seüge Franziskus bei S. Maria von Portiunkula aufhielt und erst wenige Brüder da waren, ging er durch die Dörfer und Kirchen im Umkreis von Assisi und predigte allenthalben Buße; er hatte damals einen Besen bei sich, um die unsauberen Kirchen zu reinigen; denn es schmerzte ihn sehr, eine Kirche nicht so rein zu sehen, wie er es wünschte. So Heß er denn immer nach Beendigung der Predigt alle anwesenden Priester sich um ihn sammeln, irgendwo an einer abgelegenen Stelle, damit ihn die Laien nicht hörten, und predigte ihnen vom Heil der Seele, dazu aber nachdrücklich auch dies noch, daß sie eifrig darauf bedacht sein sollten, die Kirchen und Altäre rein zu halten und alles, was zur Begehung der heiligen Geheimnisse gehört. 65. Nach Beendigung des Kapitels (von 1 2 1 7 ) , auf dem viele Brüder in ferne Länder übers Meer geschickt wurden, blieb der selige Franz mit einigen Jüngern zurück und sprach zu ihnen: „Teuerste Brüder, mir ist es zubestimmt, ein Vorbild und Beispiel für alle zu sein; wenn ich nun die Brüder in die Ferne schicke, daß sie Mühsal und Schande, Hunger und Durst und andere Nöte ertragen, so muß ich doch, schon um der Gerechtigkeit und der heiligen Demut zu genügen, gleicherweise in ein abgelegenes Land gehn, damit die Brüder geduldiger die Widerstände aushalten, wenn sie erfahren, daß ich gleiches erleide. So geht denn und betet zum Herrn, daß er mich dasjenige Land wählen läßt, das am meisten ihm zum Ruhme, den Seelen zur Vervollkommnung und unserem Orden zu einem guten Beispiel dient." E s war eine Sitte des hochheiligen Vaters, wenn er ein Land aufsuchen wollte, vorher zum Herrn zu beten und auch die Brüder beten zu lassen, damit der Herr seinen Sinn leite, dorthin zu gehen, wo es ihm am liebsten war. Die Brüder gingen also beten und kamen dann wieder zu ihm. Und sogleich sprach er froh zu ihnen: „ I m Namen unseres Herrn Jesus Christus und der glorreichen Jungfrau Maria, seiner Mutter, und aller Heiligen wähle ich Frankreich, das ein katholisches Volk bewohnt, hauptsächlich deshalb, weil es unter den anderen Katholiken dem Leib Christi, der mir so lieb ist, große Ehrfurcht be-

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zeigt; darum bin ich dort am liebsten." Der selige Franziskus hatte nämlich eine tiefe Ehrfurcht und Andacht zum Leibe Christi; ja, er wollte in die Regel schreiben lassen, die Brüder sollten in den Ländern, die sie aufsuchten, in besonderer Sorge und mit besonderem Eifer sich um die Eucharistie bemühen und die Kleriker und Priester ermahnen, daß sie den Leib Christi an einer guten, würdigen Stätte bewahrten; überall, wo das nicht geschähe, sollten die Brüder selber das Versäumte nachholen . . . Und mehr: er wollte einige Brüder durch alle Länder schicken, mit vielen schönen reinen Büchsen, in die sie den Leib Christi ehrfurchtsvoll hineinlegen sollten, wo sie ihn unwürdig aufbewahrt fänden. Außerdem wollte er Brüder allenthalben mit guten schönen Eisenformen entsenden zur Herstellung schöner reiner Hostien . . . Als nun der selige Franziskus die Brüder wählte, die er mit sich nehmen wollte, sprach er zu ihnen: „Gehet hin im Namen des Herrn — zwei und zwei, demütig, ehrsam und besonders in strengem Schweigen vom Morgen bis nach der dritten Stunde; betet zum Herrn in eurem Herzen und unterlaßt alle müßigen unnützen Reden. Auch auf der Wanderschaft sei euer Benehmen demütig und ehrsam, als wenn ihr in der Einsiedelei oder in der Zelle wäret; denn wo immer wir sind und gehen, haben wir eine Zelle um uns; unser Bruder Leib ist unsere Zelle und die Seele ist der Eremit, der in der Zelle weilt, um zum Herrn zu beten und über ihn nachzusinnen. Wenn nicht die Seele ruhig in i h r e r Zelle bleibt, so nützt dem Ordensmann auch nicht viel die ä u ß e r e Zelle." Als er nach Florenz kam, traf er dort Hugo, den Kardinalbischof von Ostia, den späteren Papst Gregor. Franziskus erzählte ihm, daß er nach Frankreich gehen wolle; da widersetzte sich der Kardinal und sprach: „Bruder, ich möchte nicht, daß du über die Berge ziehst; denn eine ganze Reihe von Prälaten würde gern bei der römischen Kurie den Erfolgen deines Ordens entgegenarbeiten; ich und andere Kardinäle, die den Orden lieben, könnten besser für ihn eintreten und ihn schützen, wenn du hier in dieser Gegend bliebest." Der selige Franziskus aber entgegnete: „Herr, es ist eine große Schande für mich, wenn ich die anderen Brüder in entlegene Länder schicke und selber hier bleibe, fern von den Bedrängnissen, 43

denen sie geduldig entgegengehen, um des Herren willen." Da entgegnete ihm der Bischof wie anklagend: „Warum hast du denn deine Brüder so weit fortgeschickt, daß sie Hungers sterben und viel andere Trübsal leiden?" Voll Eifer und in prohetischem Geist antwortete ihm der selige Franz: „Glaubt ihr, Herr, Gott habe nur hier für diese Gegenden die Brüder entsandt? Nein, ich sage euch wahr und wahrhaftig: Gott wählte und sandte die Brüder, daß sie überall in der Welt die Vervollkommnung und das Heil der Seelen bewirkten; nicht nur in den Ländern der Gläubigen, auch bei den Ungläubigen werden sie sich einfinden und viele Seelen gewinnen." Verwundert hörte der Kardinal von Ostia diese Worte . . . (Nach Frankreich aber schickte der Heilige schließlich den Bruder Pacificus mit vielen anderen Brüdern. E r selbst kehrte in das Tal von Spoleto zurück.) 67. Der selige Franziskus ging einmal nach Rom, um den Bischof von Ostia aufzusuchen; nachdem er einige Tage bei ihm gewesen war, besuchte er auch den Kardinal Leo, der sehr treu zu ihm hielt. Weil damals Winterszeit war und man wegen Kälte, Wind und Regen nicht gut umhergehen konnte, bat der Kardinal den Heiligen, doch einige Tage bei ihm zu verbringen, und zwar sollte er zu essen bekommen wie ein Armer zusammen mit anderen Armen, die in dem Hause täglich beköstigt wurden. E r sagte das, weil er wußte, daß der selige Franziskus, wo immer er zu Gast war, als ein Armer behandelt werden wollte, mochten ihn auch Papst und Kardinäle mit größter Ehrfurcht und Ergebenheit aufnehmen und als einen Heiligen verehren. E r fügte hinzu: „Ich will dir ein gutes abgelegenes Haus geben, wo du ganz nach Wunsch beten und essen kannst." Da sagte Bruder Angelus Tancredi, der, einer von den zwölf ersten Brüdern, auch mit zum Kardinal gekommen war: „Bruder Franziskus, hier in der Nähe ist ein geräumiger abgelegener Turm, wo du wie in einer Einsiedelei leben kannst." Franziskus sah ihn sich an, und da er ihm gefiel, kehrte er zum Kardinal zurück und sagte ihm: „Herr, vielleicht bleibe ich einige Tage bei euch." Da freute sich der Kardinal sehr. Bruder Angelus richtete für den seligen Franziskus und seinen Gefährten im Turm ein Plätzchen her. Franziskus wollte nun nicht mehr aus

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dem Turm herausgehen, solange er bei dem Kardinal war, und wünschte auch nicht, daß einer zu ihm hereinkäme; darum versprach und übernahm es Bruder Angelus, ihm und seinem Gefährten täglich das Essen zu bringen. So ging denn Franziskus mit seinem Gefährten in den Turm; aber in der ersten Nacht, als er schlafen wollte, kamen Dämonen und schlugen ihn sehr. Da rief er seinen Gefährten und sagte ihm: „Bruder, böse Geister haben mich arg geschlagen; deshalb möchte ich, daß du bei mir bleibst; ich fürchte mich, hier allein zu sein." So lag denn in dieser Nacht sein Gefährte neben ihm; denn der selige Franziskus zitterte am ganzen Leib, wie im Fieber; beide wachten die ganze Nacht. Dabei sagte der Heilige zu seinem Gefährten: „Warum haben mich die Dämonen geschlagen? Warum hat ihnen der Herr Gewalt verliehen, mich zu schädigen?" Und er überlegte: „Die bösen Geister sind die Vollstrecker unseres Herrn; wie der Herrscher seinen Boten schickt zur Bestrafimg dessen, der sich verfehlte, so bessert und geißelt der Herr bei aller Liebe durch seine Beauftragten, die Dämonen, die in dieser Welt seine Diener sind. Oftmals sündigt auch der vollkommen Fromme, ohne es zu wissen; wenn er nun seine Sünde nicht erkennt, so wird er vom Teufel gegeißelt, damit er im Innern und nach außen sorgfältig zusehe und erwäge, worin er sich vergangen hat. Wem der Herr in diesem Leben mit wahrer Liebe begegnet, den läßt er niemals ohne Vergeltung. Ich nun bin mir durch Gottes Gnade und Erbarmen keiner Verfehlung bewußt, die ich nicht in Beichte und Genugtuung getilgt hätte; ja, in seiner Barmherzigkeit hat mir Gott das Geschenk gemacht, daß ich alles, worin ich ihm gefallen oder mißfallen kann, im Gebet klar erkenne. Nun kann es aber sein, daß er mich jetzt durch seine Boten gezüchtigt hat, um mich zu warnen; mag der Kardinal auch noch so gern sich freundlich meiner annehmen und mag ich auch noch so sehr dieser Erholung körperlich bedürfen, meine Brüder, die durch die Welt ziehen und Hunger und vielerlei Bedrängnisse ertragen, die anderen Brüder auch, die in Einsiedeleien und ärmlichen Häusern leben, könnten Gelegenheit finden, gegen mich zu murren, wenn sie meinen Aufenthalt bei dem Kardinal erfahren, und könnten sagen: „Wir tragen soviel 45

Widriges, und er hat seine Tröstungen." Nun fühle ich mich aber immer verpflichtet, ihnen ein gutes Beispiel zu sein; dazu bin ich ihnen ja gegeben worden. Die Brüder werden aber mehr erbaut, wenn ich in dürftigen Behausungen unter ihnen weile statt anderswo, und sie tragen eher ihre Trübsale, wenn sie erfahren, daß ich das Gleiche dulde." So war unser Vater mit höchstem anhaltendem Eifer darauf aus, immer und in allem ein gutes Beispiel zu sein und den übrigen Brüdern jeglichen Anlaß zum Murren über ihn zu nehmen. Darum ertrug er, ob gesund oder krank, so vieles und so Großes; alle Brüder, die davon wissen, so wie wir, die wir bis an seinen Tod mit ihm zusammen waren, können sich der Tränen kaum enthalten, so oft sie es lesen oder es sich ins Gedächtnis zurückrufen, und ertragen alle Drangsal und Not mit größter Geduld und Freude. So verließ denn der selige Franziskus in aller Frühe den Turm, suchte den Kardinal auf und erzählte ihm alles, was ihm zugestoßen war, und was er mit seinem Gefährten besprochen hatte. Ja, er sagte ihm sogar: „Die Leute halten mich für einen Heiligen, und nun geschah es, daß die bösen Geister mich aus dem Gefängnis vertrieben haben." Der Kardinal freute sich sehr über ihn; weil er ihn aber als Heiligen kannte und verehrte, mochte er ihm nicht widersprechen, als er nicht mehr dort bleiben wollte. So nahm der selige Franziskus Abschied von ihm und kehrte zur Eindiedelei von Fons Columbarum bei Reate zurück. 68. Das Generalkapitel bei S. Maria von Portiunkula pflegte man das Strohmatten-Kapitel zu nennen, weil dort nur Hütten aus Strohmatten standen. Fünftausend Brüder hatten sich um Franziskus versammelt; von ihnen wandten sich einige gelehrte, wissenschaftlich gebildete Männer an den Kardinal von Ostia, der auch anwesend war, und sprachen zu ihm: „Herr, wir wünschen, daß du dem Bruder Franziskus empfiehlst, den Rat der gelehrten Brüder zu befolgen und sich eine Zeitlang von ihnen führen zu lassen." Sie wiesen auf die Regeln des Heiligen Benedikt, Augustin und Bernhard hin, wie nach ihrer Lehre das Ordensleben einzurichten sei. All das berichtete der Kardinal dem seligen Franziskus in der Form einer Ermahnung; der aber antwortete ihm nichts, faßte ihn bei der Hand, führte ihn zu den im Kapitel ver46

sammelten Brüdern und sprach zu ihnen in der Glut und der Kraft des Heiligen Geistes: „Meine Brüder, ihr meine Brüder; der Herr berief mich auf den Weg der Einfalt und Niedrigkeit; diesen Weg zeigte er mir wahrhaft für mich und für jene, dir mir glauben und nacheifern wollen. Darum sollt ihr mir keine andere Regel nennen, nicht die von Benedikt und Augustin und Bernhard, den Heiligen, keinen anderen Weg und keine andere Lebensform, nur die, die mir der Herr in seiner Barmherzigkeit gezeigt und geschenkt hat. So sprach der Herr zu mir: ich solle in dieser Welt ein neuer Pakt sein, er wolle uns auf keinem anderen Wege führen als allein durch diese Wissenschaft. Durch eure Wissenschaft und Weisheit aber wird euch Gott verwirren, und ich vertraue auf die Vollstrecker des Herrn, daß er euch durch sie strafe und daß ihr dann, mit oder ohne Willen, voll Schande zurückkehrt in euren Stand." Da war der Kardinal sehr betroffen und antwortete nichts; die Brüder aber standen alle in großer Furcht. 72. . . . Einst sprach Franziskus: „Viele Brüder richten ihren ganzen Eifer und all ihr Streben auf den Erwerb von Wissen; dabei geben sie ihre heilige Berufung auf und irren mit Leib und Geist vom Weg der Demut und des heiligen Gebetes ab. Wenn sie dem Volk predigen und sehen, daß einige davon erbaut werden oder sogar Buße tun, so blähen sie sich auf und verwechseln doch im Grunde nur hochmütig ihre Scheinleistung mit dem, was andere wirkten und erreichten; denn sie haben mehr sich selber zum Gericht und zur Verdammnis gepredigt und haben in Wahrheit nichts aus sich gewirkt, waren nur Werkzeuge derer, durch die Gott wirklich solche Frucht geerntet hat; es ist nicht so, wie sie glauben: daß ihre Wissenschaft und Predigt die Zuhörer erbaut und zur Buße geführt habe, nein, Erbauung und Bekehrung läßt der Herr durch das Gebet und die Tränen der heiligmäßig armen, einfältig demütigen Brüder geschehen, mögen sie es selber auch noch so sehr verkennen; denn so ist es der Wille Gottes: die heiligen Brüder sollen es nicht wissen, um nicht dem Hochmut verfallen zu können. Ritter der Tafelrunde sind die von meinen Brüdern, die verborgen in der Wüste und an abgelegenen Orten weilen, um sich desto

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mehr und desto eifriger Gebet und Betrachtung zu widmen, eigene und fremde Sünden zu beweinen und einen einfachdemütigen Lebenswandel zu führen. Gott erkennt ihre Heiligkeit, von der bisweilen die Brüder und die Menschen nichts wissen; aber wenn die Engel dereinst ihre Seelen dem Herrn darbringen, wird er ihnen die Frucht und den Lohn ihrer Mühen zeigen: viele Seelen, die sie durch Beispiel, Gebet und Tränen gerettet haben, und er wird ihnen sagen: „Meine geliebten Söhne, all die Seelen hier, so viele habt ihr durch Gebet, Tränen und Beispiel gerettet, und weil ihr über Weniges getreu gewesen seid, will ich euch über Vieles setzen. Andere haben mit geistvollen Predigten etwas zu erreichen gesucht; wenn sie dabei Erfolg hatten und heilsam wirkten, so ist es durch euer Verdienst geschehen, weil ich es so wollte; darum nehmt hin den Lohn ihrer Mühen und die Frucht eurer Verdienste: das Ewige Reich, das ihr durch die Gewalt eurer Einfalt und Demut, eurer Gebete und Tränen an euch gerissen habt." So werden sie denn ihre Garben tragen, die Früchte und Verdienste ihrer heiligen Demut und Einfalt, so werden sie jubelnd und frohlockend eingehen in die Freude des Herrn. Jene aber, die nur die eine Sorge kannten, den Weg des Heils zu wissen und anderen zu zeigen, sie werden ohne gute Werke nackt und bloß vor dem Richterstuhl Christi stehen, und das werden die Garben sein, die sie bringen: nur Verwirrung, Beschämung und Schmerz. Dann wird die Wahrheit der heiligen Demut und Einfachheit, des heiligen Gebetes und der Armut, zu der wir berufen sind, Erhöhimg, Ruhm und Herrlichkeit empfangen; von dieser Wahrheit haben sich abgekehrt, die Wissenschaft aufbläht wie ein Wind; in der eitlen Weisheit, die sie eigenstolz leben und predigen, nennen sie falsch, was wahr ist, und Blinden gleich verfolgen sie grausam, die da in der Wahrheit gewandelt sind. Die Grundlage ihres Wandels, der Irrtum und die Falschheit ihrer leeren Meinungen, die sie als Wahrheit verkünden, durch die sie viele in die Fallgrube der Blindheit stürzten — in Schmerz, Verwirrung und Scham wird es enden, und sie werden mitsamt ihren finsteren Einbildungen in die äußerste Finsternis versenkt werden, zu den Geistern der Finsternis . . . " 48

j6. Der selige Franziskus, der so liebevoll für die vollkommene Beobachtung des Heiligen Evangeliums eiferte, hing sehr an dem allgemeinen Bekenntnis unserer Regel, die ja nichts anderes ist, als die völlige Beobachtung des Evangeliums, und beschenkt diejenigen, die ihm darin wahrhaft nacheifern und nacheifern werden, mit seinem besonderen Segen. Seinen Nachfolgern sagte er, unser Ordensgelübde sei das Buch des Lebens, die Hoffnung des Heils, das Unterpfand der Herrlichkeit, das Mark des Evangeliums, der Weg des Kreuzes, der Stand der Vollkommenheit, der Schlüssel des Paradieses und der Pakt des ewigen Bundes. So sollten es alle besitzen und kennen, und er empfahl den Brüdern, daß sie in ihren Unterhaltungen öfters darüber sprächen, um seiner nicht überdrüssig zu werden, und daß sie zur Erinnerung an den geleisteten Schwur sich im Innern häufiger damit auseinandersetzten. Er legte dar, man solle die Regel stets vor Augen tragen, um sich immer wieder neu ins Gedächtnis zurückzurufen, wie man zu leben habe, und was man der Erfüllung der Gelübde schulde; und mehr: er wünschte und lehrte, die Brüder sollten mit ihr sterben. 77. Diese Lehre und Anordnung des seligsten Vaters befolgte genau ein Laienbruder, von dem wir fest glauben, daß er in den Chor der Märtyrer aufgenommen wurde. Denn als er im Verlangen nach dem Martyrium unter den Ungläubigen weilte und auch schließlich von den Sarazenen zur Hinrichtung geführt wurde, da hielt er voll glühender Innigkeit in beiden Händen die Regel, beugte demütig die Knie und sprach zu seinem Gefährten: „Teuerster Bruder, in allem, was ich gegen diese Regel gefehlt habe, bekenne ich mich schuldig vor den Augen der göttlichen Majestät und vor dir." Diesem kurzen Bekenntnis folgte der Schwertstreich, der sein Leben endete, durch den er die Krone des Martyriums gewann. Ganz jung war er in den Orden eingetreten, als er die Fastenvorschrift der Regel noch kaum erfüllen konnte; aber trotz seiner zarten Jugend trug er den Panzer auf dem Fleisch. Selig der Knabe, glücklich war sein Anfang und glücklich sein Vollbringen. 78. Der selige Franziskus sprach: „Ich will hingehen und den Orden der Minderbrüder der heiligen Römischen L Q t z e l e r , Fraoziskuslegende.

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Kirche empfehlen; mächtig möge ihre Geißel die Übeltäter schrecken und verderben; aber die Kinder Gottes sollen unter ihrem Schutz volle Freiheit haben und immer reicher dem ewigen Heil entgegenwachsen. Daran sollen ihre Söhne die innigen Wohltaten der Mutter erkennen und mit einem Herzen voll Liebe und Andacht immerdar den Spuren ihres Wirkens folgen. Unter ihrer Führung wird der Orden vor bösen Zusammenstößen bewahrt bleiben, und der Sohn des Belial wird nicht gottlos den Weinberg des Herrn durchschreiten. Ja, die heilige Mutter wird wetteifern mit dem Ruhm unserer Armut und nicht zulassen, daß der Glanz der Demut und die Herrlichkeit des Gehorsams durch das Gewölk des Stolzes irgendwie verdunkelt werde. Die Bande der Liebe und des Friedens wird sie uns unverletzt erhalten; ihre prüfende Strenge wird die treffen, die uneins sind; tagtäglich wird unter ihren Augen heilige Erfüllung evangelischer Reinheit erblühen, und stündlich wird sie dafür sorgen, daß der Wohlgeruch eines guten Rufes und eines heiligmäßigen Wandels nicht verloren geht." 80. . . . Als Franziskus dem Sterben nahe war, sagte ein Bruder zu ihm: „Vater, du gehst nun zum Herrn und läßt die Familie, die dir gefolgt ist, im Tal der Tränen zurück; der Orden, in dem dein Geist walten möge, braucht aber einen, der zum Amt des Generalministers die Kraft und die Würde hätte; gib uns einen Wink, ob du einen kennst." Da antwortete der selige Franziskus — und er begleitete jedes Wort mit Seufzern: „Ach, mein Sohn, ich sehe niemanden, der ausreichte, um Führer eines so großen vielgestaltigen Heeres, Hirt einer so gewaltigen, weit verstreuten Herde zu sein; aber ich will euch ein Bild entwerfen, aus dem ihr erkennen sollt, wie der Führer und Hirte dieser Familie eigentlich sein müßte. Es muß einer sein," fuhr er fort, „von ernstester Lebenshaltung, von hohem Feingefühl und von lobenswertem Ruf. Er muß völlig frei sein von persönüchen Neigungen; denn sonst könnte die Liebe zu einem Teil Ärgernis in der Gesamtheit erregen. Mit allem Eifer wird er dem Gebet obliegen, doch so, daß er nur gewisse Stunden seiner eigenen Seele widmet und die andern seiner Herde, dem Tagewerk wird er am frühen Morgen das hochheilige 5o

Meßopfer vorangehen lassen, um dabei in langer, leidenschaftlicher Andacht sich und seine Herde in den Schutz Gottes zu stellen. Nach dem Gebet möge er mitten unter die Brüder treten, daß ihn alle umringen, daß er allen antworte und sich um alle sorge mit Liebe, Geduld und Sanftmut. Im Umgang mit Menschen nimmt er an den Einfältigen und Unwissenden gleichen Anteil wie an den Gebildeten und Gelehrten. Wem aber die Gabe der Wissenschaft verliehen ist, präge dennoch in seinem ganzen Wesen mehr das Bild der Frömmigkeit und Einfalt, der Geduld und Demut aus; er pflege bei sich und bei den andern die Tugenden und übe sich dauernd in ihnen, wenn er sie predigt; nicht so sehr sein Wort wie sein Beispiel soll die Menschen zum Guten führen. Er muß ein Verächter des Geldes sein, von dem unserem Gelübde und unserer Vollkommenheit hauptsächlich Verderben droht; allen Haupt und Vorbild, darf er niemals Schätze sammeln. — . . . Voll Mitgefühl tröste er die Leidenden, sei letzte Rettung den Bedrängten; leicht werden die Schwachen verzweifeln in ihrer Krankheit, wenn sie bei ihm keine Heilmittel finden. Ungestüm beuge er zur Sanftmut, werfe sich aber selber nieder und bestehe auch nicht unbedingt auf seinem Recht, wenn er eine Seele gewinnen kann. Die dem Orden entweichen, sind ihm wie Schafe, die ins Verderben gingen; er breitet über sie sein Mitgefühl aus und weigert ihnen niemals Barmherzigkeit... (Als dem Stellvertreter Christi gebührt ihm alle Ehre; er selber aber strebt allenthalben nach Demut.) Er hat vor allem die Aufgabe, zu unterscheiden in der dunklen Wirrnis des Gewissens und aus verborgenen Schächten die Wahrheit herauszulösen. Allen Anklagen begegne er zunächst einmal mit Mißtrauen, bis die Wahrheit nach sorgfältiger Prüfung sich klärt. Er leihe sein Ohr nicht den Geschwätzigen und glaube ihnen vor allem nicht leichthin, wenn sie Anschuldigungen vorbringen. Er darf schließlich keineswegs in der Begierde nach gemeiner Ehrung die Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit beflecken oder erschüttern. So wird keines Menschen Seele durch zu große Strenge vergehen, noch wird aus überströmender Milde Verdumpfung folgen, und nirgendwo wird schlaffes Nachgeben Auflösung 4*

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der Zucht bedingen; alle sollen ihn fürchten, und die ihn fürchten, zugleich lieben. Stets empfinde und betrachte er das Vorsteheramt mehr als Beschwerung denn als Ehrung. — Und weiter möchte ich wünschen, so wären seine Gefährten: von anständig-adliger Gesinnung, hart gegen das eigene Begehren, tapfer in der Bedrängnis, voll frommem Mitlied mit denen, die fehlten, Menschen, die alle mit gleicher Liebe umfangen, die nichts von ihrer Arbeit für sich behalten, außer dem, was sie körperlich unbedingt brauchen, die nur das Lob Gottes erstreben, den Fortschritt des Ordens, das Wohl der eigenen Seele und die Heilsvervollkommnung aller Brüder, die zu jedem gewinnend und höflich sind und jeden, der sich an sie wendet, mit heiliger Freundlichkeit empfangen, die, rein und einfach, an sich selber allen zeigen, was vorbildliche Erfüllung des Evangeliums im Sinne der Regel bedeutet. Ach ja, so müßte der Generalminister dieses Ordens sein, solche Gefährten müßte er haben." 87. (Als eines Tages die Brüder den Heiligen in seiner Hinfälligkeit sahen, riefen sie weinend aus:) „Vater, was sollen wir ohne dich tun ? An wen sollen wir uns wenden, wir Waisen ? Du bist uns stets Vater und Mutter gewesen, hast uns in Christus gezeugt und geboren; du warst uns Führer und Hirte, Lehrer und Erzieher, der uns mehr durch Beispiel als durch Worte unterwies und besserte. Wohin sollen wir gehen, Schafe ohne Hirt, verwaiste Kinder ohne Vater, unwissend einfältige Menschen wir ohne Führer! Wo sollen wir dich suchen, o Glanz der Armut, ruhmvolle Einfalt, dich, der unsere Niedrigkeit zu Ehren gebracht? Wer wird uns Blinden nun den Weg der Wahrheit zeigen? Wer zu uns sprechen, uns raten in sorgendem Wort ? Wo ist der Feuergeist, der uns auf den Weg des Kreuzes führt und uns stärkt für die evangelische Vollendung? Ach, wo sollen wir dich finden, um zu dir zu eilen, Licht unserer Augen, um dich aufzusuchen, Tröster unserer Seelen ? Sieh, Vater, nun stirbst du, gehst von uns, lässest uns zurück, ach, so allein, so bittertraurig! J a , der Tag ist nahe, der Tag des Weinens und der Bitterkeit, der Tag der Vereinsamung und der Trauer; der dunkle Tag, den wir fürchten, seitdem wir bei dir sind, an den wir nicht einmal zu denken wagten. E s ist klar, daß dein

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Leben uns immerdar ein Licht ist, und dein Wort brennenden Fackeln gleich, die uns unablässig auf den Weg des Kreuzes leuchten, zur evangelischen Vollkommenheit, zur Liebe und Nachahmung des lieben Gekreuzigten. Vater, so gib uns denn wenigstens deinen Segen, uns und den anderen Brüdern, deinen Söhnen, die du in Christus gezeugt hast; hinterlaß uns zum Gedächtnis deines Willens irgendeinen Ausspruch, daß ihn deine Brüder stets gegenwärtig haben und sagen können: Diese Worte hat unser Vater seinen Brüdern und Kindern bei seinem Tode hinterlassen." (Da ließ Franziskus aufschreiben, daß er alle Ordensgenossen bis in die fernste Zukunft segne und daß er, vor Schmerzen unfähig, mehr zu sagen, ihnen seinen Willen in drei Worten offenbaren möchte.) „Wenn sie mein Gedächtnis, meinen Segen, mein Testament ehren wollen, so mögen sie sich immerdar lieben, wie ich sie geliebt habe und noch liebe; und dann sollen sie stets unsere Herrin Armut lieben und ihr anhangen; und schließlich sollen sie sich in Treue den Geistlichen unserer heiligen Mutter der Kirche unterwerfen, den hohen und den niedrigen . . ." 88. . . . Auch im Tode wollte Franziskus seinem Herrn und Meister nachfolgen, nachdem er ihn in seinem Leben vollkommen nachgeahmt hatte. So befahl er denn, man solle ihm Brot bringen; das segnete er und ließ es in mehrere Stücke brechen, da er in seiner übergroßen Schwäche nicht mehr die Kraft hatte, es selber zu tun. Und er nahm es, reichte jedem Bruder ein Stücklein und hieß ihn es ganz verspeisen. So wie der Herr vor seinem Tode am fünften Tag mit den Aposteln zu Tisch gehen wollte, um seine Liebe zu beweisen, so wollte auch sein vollkommener Nachahmer Franziskus den Brüdern in gleicher Weise seine Liebe bezeugen. Daß er dies zur Angleichung an Christus tun wollte, geht klar aus seiner späteren Frage hervor, ob damals der fünfte Tag gewesen sei. . . 100. (Eines Tages sprach Franziskus zu seinen Gefährten:) „Wenn ein Kaiser seinem Diener ein ganzes Königtum gäbe, müßte sich da der Knecht nicht sehr freuen ? Um wieviel größer aber müßte seine Freude sein, wenn ihm die Herrschaft insgesamt übertragen würde! So muß auch ich mich 53

freuen," sagte er, „in meinen Krankheiten und Bedrängnissen und mich aufrichten im Herrn; so muß ich immerfort danken Gott Vater, seinem einzigen Sohn dem Herrn Jesus Christus und dem Heiligen Geist; denn große Gnade kam mir vom Herrn, da er sich herabließ, mich seinen unwürdigen Knecht, schon als er noch im Fleische lebte, seines Reiches zu vergewissern. So will ich denn, um ihn zu preisen, uns zu trösten und den Nächsten zu erbauen, von neuem lobsingen den Schöpfungen des Herrn, die wir täglich hinnehmen, ohne die wir nicht leben können, und in denen die Menschen oft den Schöpfer beleidigen. Undankbar vergessen wir ja dauernd all die Gnade, all die Wohltaten, da wir nicht dem Herrn lobsingen, dem Schöpfer und Spender alles Guten, wie es sich doch gebührt." Und er setzte sich hin, dachte ein wenig nach und sprach dann: „Höchster, allmächtiger, guter Herr," und fuhr fort und machte ein Gedicht daraus, das seine Gefährten sprechen und singen sollten (vor allem nach der Predigt zusammen mit den Zuhörern; dann sollte der Prediger dem Volk erklären:) „Wir sind Spielleute des Herrn und wollen als solche von euch entlohnt werden — dadurch daß ihr wirklich Buße tut." Und er sagte: „Was sind denn die Diener Gottes anders als seine Spielleute, die den Menschen ermutigen und in ihm geistliche Freude erwecken sollen ?" Das sagte er besonders von den Minderbrüdern, die dem Volk Gottes zu seinem Heil gegeben sind. 101. (Diesen Lobgesang ließ der Heilige einstens singen, als zwischen dem Bischof und dem Stadtherrn von Assisi ein erbitterter Streit schwebte. Und wirklich geschah es, daß dieser, zutiefst gerührt, nach Beendigung des Lobgesangs vor allen erklärte:) „Das versichere ich euch wahr und wahrhaftig, daß ich nicht nur dem Bischof vergebe, den ich als meinen Herrn anerkennen will und muß, sondern sogar dem, der meinen Bruder oder meinen Sohn getötet hätte." Dabei warf er sich dem Bischof zu Füßen und sagte: „Ja, ich bin bereit, euch in allem genug zu tun, wie es euch richtig scheint — aus Liebe zu unserm Herrn Jesus Christus und zu seinem Diener, dem seligen Franz." Der Bischof aber faßte ihn, hob ihn auf und sprach: „Von Amts wegen müßte ich demütig sein, aber ich neige von Natur zum Jähzorn; darum mußt du 54

mir vergeben." Da umarmten und küßten sie sich beide voll Liebe und Freundlichkeit. 107. (Der erste Bruder, der sich dem Heiligen anschloß, war Bernhard, ein Mann von so großer Vollkommenheit, daß er, wie es Franziskus vorhergesagt hatte, im Tode gleichsam verklärt erschien.) Ganz licht wurde er, nachdem er gestorben; und er sah lieblich aus und schien zu lächeln. So war er im Tode schöner als im Leben, und alle freuten sich bei diesem Anblick, da er tot so viel schöner war wie als Lebender; ja, er sah wirklich wie ein lachender Heiliger aus. 112. Bei S. Maria von den Engeln lag der Heilige krank, und zwar war dies seine letzte Krankheit, an ihr starb er dann. Da rief er eines Tages die Gefährten und sprach: „Ihr wißt, wie treu und ergeben Frau Jacoba de Septem Soliis zu mir und unserem Orden gehalten hat und noch hält; ich glaube nun, sie würde es als eine besondere Freundlichkeit und Tröstung empfinden, wenn wir sie von meiner Lage in Kenntnis setzten; und dann richtet ihr vor allem aus, sie möge mir von dem Ordenstuch schicken, dem aschenfarbigen, und möge der Tuchsendung von jener Speise beifügen, die sie mir in Rom öfters gemacht hat." Diese Speise nennen die Römer „mortariolum"; sie besteht aus Mandeln, Zucker und anderen Zutaten. Jene Frau war eine der vornehmsten und reichsten Witwen von ganz Rom und sehr geistlich gesinnt. Sie war durch das Verdienst und die Predigt des seligen Franziskus vom Herrn so sehr begnadet worden, daß sie wie eine zweite Magdalena erschien, so liebte sie stets, unter Tränen der Hingabe, Christum in seiner Süße. Man schrieb ihr also einen Brief, wie es der Heilige gewünscht hatte (aber noch bevor er abgesandt war, stand sie vor der Türe. Da fragte man den Vater, ob man sie zu ihm lassen solle; denn er hatte um der Reinheit der Sitten willen bestimmt, daß keine Frau dies Kloster betreten dürfe.) Der heilige Franziskus aber antwortete: „Diese Bestimmung gilt nicht für sie, die in ihrer großen Treue und Frömmigkeit aus der Ferne hierher gekommen ist." So trat sie denn zu ihm hin und weinte sehr vor ihm. Und wunderbarerweise brachte sie ihm für ein Gewand jenes aschenfarbene Leichentuch, und auch was sonst noch in dem Brief stand, hatte sie bei sich, 55

als ob sie ihn empfangen hätte. Und die Frau sprach zu den Brüdern: „Meine Brüder, als ich betete, hörte ich in mir eine Stimme sagen: Geh und besuche deinen Vater, den seligen Franziskus; eile und zögere nicht; denn sonst wirst du ihn nicht mehr am Leben finden; und bring ihm Tuch für ein Gewand und Zutaten für eine bestimmte Speise, so und so; dazu nimm eine große Menge Wachs für Kerzen und auch Räucherwerk." All das stand in dem Brief, der abgeschickt werden sollte, außer dem Räucherwerk. Derselbe, der einst den Königen eingegeben hatte, mit ihren Gaben seinen Sohn aufzusuchen, um ihn am Tage seiner Geburt zu ehren, derselbe gab dieser edlen, heiligen Frau ein, seinen vielgeliebten Diener in den Tagen seines Sterbens oder vielmehr seiner wahren Geburt aufzusuchen und mit ihren Gaben zu ehren. So bereitete denn die Frau die Speise, von der der heilige Vater kosten wollte; aber er nahm nur wenig davon, weil er immer matter wurde und dem Tod entgegenging. Sie ließ viele Kerzen herstellen, die nach seinem Hinscheiden bei seinem hochheiligen Leichnam brennen sollten. Aus dem Tuch machten ihm die Brüder das Gewand, in dem er begraben wurde. . . . 1 1 4 . Wir, die wir mit dem seligen Franz zusammen waren und dieses alles verzeichneten, legen Zeugnis ab, daß wir ihn oftmals sagen hörten: „Dürfte ich einmal mit dem Kaiser sprechen, ihn bitten und ihm raten, so würde ich ihm vorschlagen, daß er aus Liebe zu Gott und zu mir ein Gesetz erlasse, wonach niemand die Schwestern Lerchen einfangen oder gar töten dürfte und ihnen überhaupt nichts Böses zufügen. Ebenso müßten alle Machthaber in Stadt und Land gehalten sein, jedes Jahr Weihnachten ihre Leute zu veranlassen, daß sie außerhalb von Stadt und Dorf auf die Wege allerlei Körner streuten, um den Schwestern Lerchen und den anderen Vögeln an einem solchen Festtag zu essen zu geben. Wer aber ein Rind oder einen Esel besäße, der sollte aus Ehrfurcht vor dem Gottessohn, den in dieser Nacht die seligste Jungfrau Maria zwischen Rind und Esel in die Krippe legte, seine Tiere besonders reichlich mit Futter versorgen; desgleichen müßten an einem solchen Tage auch die Armen von den Reichen mit köstlichen Speisen verpflegt werden . . . "

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n 8 . Nächst dem Feuer liebte Franziskus besonders das Wasser; denn in ihm ist die heilige Buße und jene Trübsal versinnbildet, durch die der Schmutz von der Seele abgewaschen wird; die erste Waschung der Seele aber geschieht durch das Wasser der Taufe. Wenn er sich die Hände wusch, tat er es so, daß das Wasser, das heruntertropfte, nicht mit Füßen getreten wurde. Auch über die Felsen, die er bestieg, ging er zitternd und ehrfürchtig aus Liebe zu dem, der „Fels" genannt wird; bei dem Wort des Psalms: Auf einem Felsen hast du mich erhöht, sagte er mit großer Ehrfurcht und Andacht: „Unten am Fuß des Felsens hast du mich erhöht." Dem Bruder, der das Holz für die Feuerung herrichtete, befahl er, niemals den ganzen Baum zu fällen; es sollte von dem Baum immer noch ein Teil unversehrt bleiben, aus Liebe zu dem, der unsere Erlösung am Kreuzesholze wirken wollte. Ähnlich wies er den Bruder, der den Garten besorgte, an, nicht den ganzen Raum nur mit Nutzgewächsen zu bepflanzen, sondern einen Teil den grünenden Sträuchern vorzubehalten, die zu ihrer Zeit die Schwestern Blumen hervorbrächten, aus Liebe zu dem, der Blume des Feldes heißt und Lilie im Tal. J a , er sagte sogar dem Bruder Gärtner, er solle in einem Teil des Gartens, in einem schönen Winkel, die wohlriechenden Pflanzen insgesamt hegen und pflegen, alle, die schöne Blüten hervortrieben; diese Pflanzen und Blüten würden zu ihrer Zeit die Menschen, die sie sähen, zum Lobe Gottes einladen; denn jedes Geschöpf sagt und verkündet: „ U m deinetwillen hat mich Gott gemacht, o Mensch!" 1 2 1 . (Als Franziskus dem Tode nahe war, wunderte sich ein Bruder über seine Fröhlichkeit; ihm antwortete der Heilige innigen Herzens:) „Bruder, laß mich froh sein im Herrn, froh über das Lob, das ihm erklingt, froh über meine Krankheit; denn durch das gnaden volle Wirken des Heiligen Geistes bin ich mit meinem Herrn so eins und so verbunden, daß ich durch seine Barmherzigkeit wohl heiter sein kann in Ihm, dem Allerhöchsten."

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AUS DEM EVANGELIUM AETERNUM

. . . Joachim vergleicht das Alte Testament dem ersten Himmel, das Evangelium Christi dem zweiten und das Ewige Evangelium dem dritten Himmel. E r vergleicht weiterhin das Alte Testament dem Glanz der Sterne, das Neue Testament dem Glanz des Mondes, das Ewige Evangelium oder das Evangelium des Heiligen Geistes dem Glanz der Sonne. Das Alte Testament gilt ihm als Vorhof, das Neue als Heiligtum, das Ewige als Allerheiligstes. Das Alte Testament erscheint ihm als Schale, das Neue als Gehäuse, das Ewige Evangelium als Kern. E r behauptet, es sei das Ewige Evangelium dem Geiste und das Evangelium Christi dem Buchstaben nach; das Ewige Evangelium sei jenes, von dem Jeremias (31, 33) sagt: „Ich will mein Gesetz (in ihr Herz) legen". Ausdrücklich erklärt er, es sei das Evangelium Christi dem Worte nach, und legt dar, daß das Evangelium des Gottesreiches Evangelium des Heiligen Geistes und nicht Evangelium Christi genannt werde; dabei stützt er sich auf die Stelle aus Matthäus 24, 14: wenn das Evangelium Christi in der ganzen Welt verkündet sei, so sei doch noch nicht (?) das Ende da. Er behauptet sodann, die Heilige Schrift zerfalle in drei Teile, in das Alte Testament, in das Neue und in das Ewige Evangelium . . . An anderer Stelle heißt es ganz eindeutig: „Diese drei heiligen Bücher". An gleichem Ort stellt er dar: „Eine eigene Heilige Schrift besaßen die Gläubigen des Zeitalters, das dem Walten Gottvaters zubestimmt war, eine eigene war den Christen der Zeit verliehen, die der Wirksamkeit des Sohnes übergeben wurde, eine dritte ist uns zu eigen, die wir in einem Zeitalter leben, das der Heilige Geist mit seinem besonderen Geheimnis durchzieht." Dieser dritte Teil der Weltgeschichte, der dem Heiligen Geiste gehört, wird keine Zeichen und Bilder mehr haben. „Der Apostel," sagt er, „spricht im 13. Kapitel des I. Korinther-

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briefes von Glaube und Liebe; er unterscheidet die Zeit des Glaubens, die den zweiten, noch sinnbildlichen Abschnitt der Geschichte darstellt, von der Zeit der Liebe, die, dem Heiligen Geist zubestimmt, der Zeichen und Gleichnisse der beiden Testamente entbehrt, wie aus einer anderen Stelle hervorgeht; er vergleicht nun eins mit dem anderen und sagt: Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser Weissagen — was sich auf das zweite Zeitalter bezieht — ; wenn aber die Vollendung kommt, wird das Stückwerk abgetan werden — und das ist die Zeit der Liebe, die dritte Stufe der Weltentwicklung—. Er sagt gleichsam: Dann vergehen alle Gleichnisse, und die Wahrheit der beiden Testamente erscheint unverhüllt. So fügt er denn auch gleich hinzu: „Noch schauen wir durch einen Spiegel" usw. Er führt weiter an, daß zu Beginn des ersten Zeitalters drei große Männer erschienen: Abraham, Isaak und Jakob; von ihnen hatte der dritte, Jakob [in seinen Söhnen] zwölfe um sich; auch zu Beginn des zweiten Zeitalters erstanden drei solche Männer: Zacharias, Johannes der Täufer und Jesus Christus in seiner Menschlichkeit, der ebenso zwölfe um sich hatte [in den Aposteln], Nicht anders ist es zu Beginn des dritten Zeitalters; auch da sind drei, die jenen gleichen: ein Mann in leinenen Kleidern (Daniel 12, 7), dann ein Engel mit einer scharfen Sichel und ein weiterer Engel, der das Siegel des lebendigen Gottes trägt (Offb. 14, 14; 7, 2). Dieser letztere hatte auch im Anfang zwölfe, und er war einer unter ihnen; so hatte Jakob im ersten und Christus im zweiten Weltalter eine Zwölferschar. Unter dem Mann in leinenen Kleidern hat man Joachim, den Verfasser dieses Werkes, zu verstehen . . . Auf diese Schrift ist das Volk des dritten Zeitalters verpflichtet, wie das Volk des ersten auf das Alte und das Volk des zweiten auf das Neue Testament, mag es ihm auch noch so sehr entgegen sein. Das Ewige Evangelium ist in besonderer Weise jenem Orden übergeben und anvertraut, der sich neu bildet und gleicherweise aus dem weltlichen und dem geistlichen Stand hervorgeht. Diesen Orden nennt Joachim barfüßig . . . Von dem Engel, der das Siegel des lebendigen Gottes trägt, sagt er aus, daß er um 1200 nach Christus erschienen sei; als diesen Engel bezeichnet Bruder Gerhard in klarem Be-

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kenntnis den Heiligen Franziskus. Ferner liest man bei Joachim: „Das erste Weltalter stand unter dem Gesetz; das zweite unter der Gnade; das dritte unter der Fülle der Gnade, einer Gnade, die uns nach dem Wort des Johannes aus Gnade gegeben ward. Im ersten Weltalter herrschte die Furcht, im zweiten der Glaube, im dritten gebietet Liebe." Und es heißt weiter: „Die Werke, die der dreieinige Gott vom Beginn bis jetzt getan hat, sind nur Werke des Vaters; jene Zeit, in der Gottvater gewirkt hat, ist der Anfang der Zeit oder das erste Zeitalter und kann als erste Weltstufe bezeichnet werden . . . Von den Geschlechtern des dritten Zeitalters wissen wir noch nicht, wie viele Jahre und Monate ein jedes lebt, nur so viel wissen wir auf Grund vieler SchriftZeugnisse, daß jene Geschlechter nur kurze Dauer haben werden . . . "

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BONAVENTURA, DIE LEGENDE DES HEILIGEN FRANZISKUS EINLEITUNG Noch jetzt, in diesen Tagen, ist die Gnade Gottes, unseres Erlösers, in seinem Diener Franziskus allen wahrhaft Demütigen und den Freunden der heiligen Armut erschienen, die an ihm Gottes überströmender Barmherzigkeit ehrfürchtig inne werden und durch sein Beispiel sich angehalten fühlen, unfrommes Wesen und irdische Wünsche von Grund aus äbzutun, in der Gleichförmigkeit Christi zu leben und in unermüdlichem Verlangen der seligen Hoffnung entgegenzudürsten. Denn ihn, den ganz armen und geschundenen, umfing der erhabene Gott mit der gesammelten Fülle seiner Güte; ihn erhob er nicht nur aus dem Staub irdischen Wandels zur Armut, sondern um der Erleuchtung der Gläubigen willen machte er ihn auch zum Bekenner evangelischer Vollkommenheit, zu ihrem Führer und Verkünder; er sollte Zeugnis ablegen vom Licht und dem Herrn den Weg des Lichtes und des Friedens zum Herzen der Gläubigen bereiten. Wie der Morgenstern mitten zwischen Wolken, so war er hell im Strahlenglanz seines Lebens und seiner Lehre; machtvoll voranleuchtend führte er zum Licht, die da im Finstern saßen und im Schatten des Todes, und wie der Regenbogen der Herrlichkeit, der aufschimmert im Gewölk, so bedeutete auch er ein Zeichen für den Bund des Herrn; selber ein Engel des wahren Friedens, brachte er den Menschen die Botschaft von Friede und Heil; durch Nachfolge dem Vorläufer angeglichen, war er von Gott berufen, der höchsten Armut in der Wüste den Weg zu bereiten und in Wort und Beispiel Buße zu predigen. Zunächst überkamen ihn die Gaben der himmlischen Gnade; dann mehrte er sie durch das Eigenverdienst unbesiegter Tugend. Von prophetischem Geist erfüllt, mit der Sendung eines Engels betraut, in seraphischem Glühn ganz Feuer geworden, als ein Mann der himmlischen Ordnung im feurigen Wagen emporgetragen, so ist er, wie aus dem Ablauf seines Lebens klar 61

hervorgeht, eindeutig erwiesen: als gekommen im Geist und in der Kraft des Elias. Dazu kommt als weiteres Zeugnis des Apostels und Evangelisten Johannes Seherspruch, von dem man glaubt, daß er sich in ihm erfülle: daß dieser andere Freund des Bräutigams ihn meine unter dem Bilde des Engels, der vom Anfang der Sonne aufsteigt und das Zeichen des lebendigen Gottes trägt; es sagt ja Johannes in der Apokalypse: Bei der Öffnung des sechsten Siegels sah ich einen zweiten Engel, der vom Aufgang der Sonne aufstieg und das Zeichen des lebendigen Gottes trug. 2. Daß dieser Bote Gottes Gottes Diener Franziskus gewesen sei, so wert aller Liebe Christi, all unsrer Nachfolgerschaft, aller Bewunderung der Welt, das erkennen wir mit zweifelsfreier Gewißheit, wenn wir ihn auf dem Gipfel erlauchter Heiligkeit sehen, durch die er, unter Menschen lebend, zum Nachahmer engelhafter Reinheit wurde und allen vollkommenen Anhängern Christi als Beispiel gesetzt ward. Daß wir dies fest und treu glauben, dazu veranlaßt nicht nur die Aufgabe, die er hatte: daß er zu Weh und Weinen rief, zur Schur des Hauptes und zum Wandeln in Säcken, daß er das Tau auf die Stirn der seufzenden und klagenden Männer einzeichnete mit dem Zeichen des Bußkreuzes und einer Christus gemäßen Art; das bestätigt darüber hinaus als unverbrüchliches Zeugnis der Wahrheit jenes Gottesmal, durch das er dem gekreuzigten Christus ähnlich wurde, das seinem Leib nicht durch Naturkraft oder durch Kunstgriffe eingeprägt ward, sondern durch die wunderbare Gewalt des lebendigen Gottesgeistes . . . i. K A P I T E L i. In der Stadt Assisi lebte ein Mann namens Franziskus, dessen Andenken hochgepriesen ist; denn voll Güte senkte sich Gott auf ihn herab mit den Segnungen seiner Süße, entriß ihn gnädig den Gefahren dieses Lebens und erfüllte ihn verschwenderisch mit den Gaben himmlischer Gnade. Als Jüngling wurde er unter den eitlen Herrensöhnen der Stadt aufgezogen in Eitelkeiten; er empfing einigen Unterricht in den Wissenschaften und wurde dann für den einkömmlichen kaufmänni62

sehen Beruf bestimmt. Aber da er unter himmlischem Schutz stand, verfiel er selbst unter den lockeren Jünglingen nicht der sinnlichen Ausgelassenheit, so sehr er den Freuden hingegeben war, und unter den gierigen Kaufleuten setzte er keineswegs seine Hoffnung auf Geld und Schätze, obwohl er sich doch aufs Geschäft geworfen hatte. Denn es regte sich im Innern des jungen Franziskus ein freigebiges Mitleid mit den Armen, das ihm von oben eingepflanzt und mit ihm selber von Kind auf gewachsen war, das sein Herz mit solchem Erbarmen erfüllt hatte, daß er, schon nicht mehr taub für die Worte des Evangeliums, sich vornahm, jedem Bittenden zu spenden, besonders wenn er sich auf die Liebe Gottes beriefe. Aber einmal, im Drang der Geschäfte, ließ er einen Armen, der ihn „bei der Liebe Gottes" um ein Almosen anging, gegen seine sonstige Gewohnheit leer ausgehen; doch als es ihm bewußt wurde, lief er gleich hinter ihm her, beschenkte ihn voll Güte und versprach Gott, dem Herrn, daß er sich von nun an, wenn eben möglich, niemandem mehr versagen wolle, der ihn bei der Liebe Gottes anflehte. Diesem Vorsatz blieb er bis zum Tode unerschütterlich treu und gewann sich damit ein reiches Wachstum in der Gnade und der Gottesliebe. Später, als er Christus vollkommen angezogen hatte, bekannte er, daß er auch schon zur Zeit seines rein weltlichen Lebens die ausdrückliche Stimme der göttlichen Liebe nicht ohne eine innere Veränderung hören konnte. Die Sanftheit und Milde seines Wesens, die Feinheit seiner Sitten, die über Menschenmaß hinausgehende Geduld und Nachgiebigkeit, die über das Verfügbare hinausdrängende hohe Freigebigkeit — all diese klaren Zeichen einer guten Art, durch die der Jüngling etwas auffallend Gewinnendes hatte, erscheinen wie Vorausdeutungen jener Zukunft, in der sich der Überschwang göttlichen Segens reicher auf ihn herablassen sollte. Einmal begegnete dem Franziskus in der Stadt ein ganz einfältiger Mann aus Assisi, legte, wie man glaubt, auf Gottes Geheiß, seinen Mantel ab, breitete ihn vor ihm aus und erklärte, Franziskus werde einst aller Verehrung würdig sein, denn bald werde er Großes wirken und deswegen von der Gesamtheit der Gläubigen hohe Ehren erfahren. 2. Bis dahin ahnte Franziskus noch nicht, was Gott mit 63

ihm vor hatte; nach dem Willen des Vaters auf das Äußerliche abgelenkt, und bei der Verderbnis des natürlichen Ursprungs ins Niedere herabgezogen, hatte er noch nicht auf das Himmlische achten gelernt und war noch nicht gewöhnt, vom Göttlichen zu kosten. Weil aber die erlebte Anfechtung auf das geistliche Wort merken lehrt, zeigte sich Gottes Hand über ihm, und die Rechte des Erhabenen, die alles ändern kann, schlug ihn mit langwieriger Erschlaffung, um ihn so auf die Einung mit dem Heiligen Geiste vorzubereiten. Als er wieder bei Kräften war, legte er sich wie gewöhnlich prächtige Kleider an; da traf er einen Kriegsmann, der zwar edler Abkunft war, aber arm und schlecht angezogen; in frommem Mitleid mit seiner Armut entkleidete er sich sofort und bekleidete ihn; so genügte er gleich auf einmal einer Doppelpflicht ehrfurchtsvollen Mitgefühls, indem er den vornehmen Krieger aus beschämender Lage und den bedürftigen Menschen von seinem Mangel befreite. 3. In der folgenden Nacht, als er in tiefem Schlafe lag, zeigte ihm die göttliche Güte einen großen, kostbaren Palast voll Kriegswaffen, die das Zeichen des Kreuzes Christi trugen; es sollte darauf hinweisen, daß die Barmherzigkeit die er aus Liebe zu dem höchsten König dem armen Krieger gewährte, einen unvergleichlichen Lohn finden werde. Als er nun fragte, für wen das sei, ward ihm diese himmlische Erklärung zur Antwort, das alles werde ihm gehören und seinen Mannen. Noch war Franziskus nicht geübt in der Durchforschung göttlicher Geheimnisse; noch vermochte er nicht hinter der sichtbaren Erscheinung die unsichtbare Wahrheit zu erschauen; so nahm er denn, als er am nächsten Morgen erwachte, dies seltsame Gesicht als ein Vorzeichen großen künftigen Glückes. Und er beschloß, noch ohne Kenntnis der göttlichen Fügung, in Apulien einen edlen Grafen aufzusuchen, in dessen Gefolgschaft er ritterliche Auszeichnung erhoffte, wie es ihm sein nächtliches Gesicht scheinbar verhieß. Als er aber, bald nach dem Beginn der Reise, in die nächste Stadt gekommen war, hörte er des Nachts den Herrn voll freundlicher Milde zu ihm sagen: „Franziskus, wer kann dir mehr Gutes tun, der Herr oder der Knecht, der Reiche oder der Arme?" Als ihm Franziskus antwortete, der Herr und der Reiche könne es, 64

fuhr jener gleich fort: „Warum verlässest du denn um des Knechtes willen den Herrn, um des Armen willen den reichen G o t t ? " Da fragte Franziskus: „Herr, was willst du, daß ich tun soll}" Und der Herr sprach zu ihm: „Kehre heim in dein Land, weil das Gesicht, das du schautest, eine geistliche Wirkung versinnbildet, die sich nicht nach menschlichem, sondern durch göttlichen Fug an dir erfüllen soll." So kehrte er am Morgen eilends nach Assisi zurück — voll Freude und Sicherheit; schon jetzt ein Beispiel des Gehorsams, erwartete erden Willen des Herrn. 4. Von nun an zog er sich aus dem Schwall der öffentlichen Geschäfte zurück und betete demütig zur himmlischen Güte, sie möge ihm zeigen, was er tun solle. Bei der Inständigkeit seines Flehens wuchs mächtig in ihm die Flamme himmlischer Sehnsucht, und er verachtete bereits aus Liebe zum himmlischen Vaterland alles Irdische als ein Nichts; da fühlte er, daß er einen verborgenen Schatz gefunden habe, und wie der kluge Kaufmann sann er darauf, alles zu verkaufen, um die gefundene Perle zu erwerben. Aber noch wußte er nicht, wie das geschehen könne, wenn ihm auch schon eingegeben war, daß die geistige Kaufmannschaft von der Verachtung der Welt ihren Ausgang nimmt, und daß der Kriegsdienst Christi beginnt mit dem Sieg über das eigene Ich. 5. Als er eines Tages durch die Ebene ritt, die unter der Stadt Assisi liegt, sah er einen Aussätzigen vor sich — eine unvermutete Begegnung, die ihm einen rechten Schrecken einjagte. Aber da dachte er wieder an seinen schon gefaßten Vorsatz der Vollkommenheit und überlegte, daß er zunächst sich selbst besiegen müsse, wenn er ein Soldat Christi werden wolle; so stieg er denn ab und lief auf den Kranken zu, um ihn zu küssen. Als der die Hand ausstreckte, wie um etwas anzunehmen, ließ er das Geld mit einem Kuß hineingleiten. Sogleich sprang er wieder aufs Pferd, wandte sich ringsum, aber sah keinen Aussätzigen mehr, obwohl das Gelände nach allen Seiten frei sich öffnete. Voll Verwunderung und Freude sang er dem Herrn demütig Lob und nahm sich vor, immer mehr zum Höheren aufzusteigen. E r suchte nun abgelegene Orte auf, so recht geschaffen zu innerlicher Betrübung, und erflehte sich in langem, inständigem Gebet Erhörung vom Herrn, in L ü t z e l e r , Franziskuslegende.

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unaussprechlichen Seufzern unablässig flehend. Als er eines Tages so angespannt betete und in der Übermacht seines Eifers ganz in Gott verloren war, erschien ihm Jesus Christus als Gekreuzigter. Bei diesem Anblick schmolz seine Seele dahin, und die Erinnerung an das Leiden Christi prägte sich so tief, so in den Kern seines Herzens ein, daß er von jener Stunde an, wenn ihm Christi Kreuzigung in den Sinn kam, kaum die Tränen und Seufzer zurückhalten konnte, wie er später selber, kurz vor seinem Ende, den Vertrauten bekannte. Ein echter Mann Gottes, sah er nun ein, daß für ihn jenes Wort des Evangeliums gesprochen sei: Wenn du mir nachfolgen willst, verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich und komm mit mir! 6. Seitdem zog er den Geist der Armut an, den Sinn der Demut und das Gefühl innerster Frömmigkeit. Früher verabscheute er heftig nicht nur die Gemeinschaft mit Aussätzigen, sondern schon ihren fernen Anblick; jetzt aber gewährte er ihnen um des gekreuzigten Christus willen, der nach dem Wort des Propheten verächtlich wie ein Aussätziger erschien, in frommem Wohltun Dienste der Demut und Menschlichkeit, um sich selber völlig zu verachten. Er besuchte häufig ihre Häuser, gab ihnen reichlich Almosen und küßte ihnen in großem Mitleid Hand und Mund. Auch für die armen Bettler wollte er nicht nur das Seine, sondern geradezu sich selbst verwenden, indem er seine Kleider bald auszog, bald auftrennte, bald zerriß, wenn er grade nichts anderes zur Hand hatte. Ebenso unterstützte er fromm und verehrungsvoll die armen Priester, besonders mit Schmuck für den Altar, wodurch er am heiligen Gottesdienst teilnahm und denen, die ihn feierten, das Fehlende ergänzte. — Als er in frommer Andacht eines Tages die Kirche des Apostels Petrus aufsuchte, sah er draußen vor der Pforte eine Menge Armer; verführt von der Süßigkeit des Frommseins, getrieben von der Liebe zur Armut, spendete er einem von ihnen, dem Bedürftigsten, die eigenen Kleider, legte dessen Fetzen an und verbrachte den Tag in ungewöhnlicher Gehobenheit inmitten der Armen, um den weltlichen Glanz zu verschmähen und in stufenmäßigem Fortschritt die evangelische Vollkommenheit zu erreichen. Besonders achtsam wachte er über die Abtötung des Fleisches, so daß er

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das Kreuz Christi nicht nur drinnen im Herzen trug, sondern auch außen am Körper. All das tat der Gottesmann Franziskus, als er noch nicht in Kleidung und Lebensweise von der Welt geschieden war. 2. K A P I T E L i . Da der Diener des Höchsten darin keinen andern Lehrer hatte als Christus, ging dieser in seiner Güte so weit, ihn mit seiner wonnevollen Gnade heimzusuchen. Eines Tages war Franziskus hinausgegangen, um auf freiem Felde der Betrachtung obzuliegen; da kam er an der Kirche des heiligen Damianus vorbei, die vor Alter einzustürzen drohte. Auf Antrieb des Heiligen Geistes trat er zum Beten ein. Er warf sich vor dem Bild des Gekreuzigten nieder und empfing beim Gebet eine große Tröstung. Als er unter Tränen auf das Kreuz des Herrn schaute, hörte er mit leiblichen Ohren vom Kreuz eine Stimme zu ihm herabtönen und dreimal sagen: „Franziskus, geh hin und stelle mein Haus wieder her, das, wie du siehst, ganz in Verfall ist". Franziskus erbebte; er war in der Kirche allein; bestürzt stand er da beim Klang der wunderbaren Stimme, und plötzlich ging ihm auf: das war die Gewalt göttlicher Rede. Er verlor das Bewußtsein. Als er endlich wieder zu sich kam, machte er sich gleich gehorsam ans Werk; er sammelte sich in seiner ganzen Kraft, um diesen Auftrag, die Wiederherstellung der Kirche, auszuführen, mochte auch der Sinn des Wortes sich hauptsächlich auf jene Kirche beziehen, die Christus mit seinem, Blut erkauft hat, wie ihn der Heilige Geist lehrte und er später den Brüdern enthüllte. Er erhob sich, indem er sich mit dem Zeichen des Kreuzes stärkte, nahm Tuch zum Verkauf und eilte zur Stadt Fulginium. Dort verkaufte er das Mitgebrachte, ließ auch das Pferd zurück, das er damals ritt, empfing — ein erfolgreicher Kaufmann — den Erlös und kehrte nach Assisi zurück, in jene Kirche, die er wiederherstellen sollte. Ehrfurchtsvoll trat er ein, erwies dem armen Priester, den er dort antraf, alle gebührende Ehrfurcht und händigte ihm zum Wiederaufbau der Kirche und zum Gebrauch für die Armen das Geld aus; dazu bat er demütig, sich eine Zeitlang hier aufhalten zu dürfen. Der Priester war 5'

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mit seinem Aufenthalt einverstanden, aber wies aus Furcht vor den Eltern das Geld zurück; ein tiefer Verächter des Geldes, schleuderte Franziskus es in irgendein Fenster, indem er das Weggeworfene wie Staub geringschätzte. 2. Da hörte der Vater des Gottesdieners davon, daß er sich bei jenem Priester aufhielt, und eilte bestürzt dorthin. Da aber Franziskus der Wettstreit für Christus noch neu war, verbarg er sich in einer geheimen Nische, um dem Zorn Raum zu geben, als er die Drohungen der Verfolger hörte und sie nahen fühlte. Dort hielt er sich ein paar Tage versteckt und bat Gott inständig unter Strömen von Tränen, er möge seine Seele aus den Händen der Verfolger befreien und ihn gütig zur Erfüllung der frommen Gelübde kommen lassen, die er ihm eingegeben hatte. Da ergriff ihn eine tiefe Freude, und er begann sich selbst des Kleinmuts und der Feigheit zu beschuldigen ; so verließ er die Nische, warf alle Angst von sich und machte sich auf den Weg zur Stadt Assisi. Als ihn die Bürger sahen, schmutzig und aufgestört, wie er war, glaubten sie einen Verrückten vor sich zu haben; sie bewarfen ihn mit Steinen und dem Kot der Straße und ließen wie an einem Tollen und Wahnsinnigen in Schmährufen ihren Mutwillen an ihm aus. Doch der Diener des Herrn durchschritt wie ein Tauber ihre Reihen, von keiner Beleidigung gedemütigt oder auch nur berührt. Als der Vater das Geschrei hörte, lief er gleich herbei, aber nicht zu seiner Befreiung, sondern zu seiner Verderbnis; er schleppte ihn fort und quälte ihn zu Hause ohne jedes Mitleid zuerst mit Scheltworten, dann mit Schlägen und Fesselungen. E r aber wurde dadurch nur bereitwilliger und stärker für sein Vorhaben und dachte an das Wort des Evangeliums: Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich. 3. Nach einer Weile verreiste der Vater. Da erlaubte die Mutter, die dem Verhalten ihres Mannes nicht zustimmte, daß er, frei von Fesseln, weggehe; denn sie hoffte doch nicht das standhaft-unbeugsame Wesen ihres Sohnes zu bezwingen. Der dankte dem Allmächtigen und kehrte dorthin zurück, wo er vordem gewesen war. Als aber der Vater heimkam und ihn nicht zu Hause fand, machte er seiner Frau heftige Vorwürfe und eilte voller Wut an jenen Ort, um ihn wenigstens aus der

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Gegend zu verjagen, wenn er ihn schon nicht zurückrufen könnte. Franziskus ging, von Gott gestärkt, dem Vater entgegen und sagte frei heraus, auch seine Fessel und Schläge würden bei ihm nichts ausrichten, und er bezeugte, daß er für Christi Namen gern jedes Übel auf sich nehmen wolle. Da der Vater sah, daß er ihn nicht zurückrufen könne, suchte er ihm das Geld wiederabzunehmen; das fand sich endlich in einem Fensterwinkel, und so milderte sich etwas sein Zorn, nachdem dieser Schluck Geld den Durst der Habsucht verringert hatte. 4. Der eine: Vater dem Fleische nach; der andere: Sohn in der Gnade —, nun versuchte jener den schon aller Geldmittel ledigen Franziskus vor den Bischof der Stadt zu führen, damit er vor ihm auf das väterliche Vermögen verzichte und alles zurückgebe, was er habe. Dazu zeigte sich der wahre Liebhaber der Armut bereit, und als er vor den Bischof trat, da war bei ihm kein Halten mehr und kein Zögern, da tat er keine Äußerung und wartete keine ab, sondern legte gleich alle Kleider nieder und gab sie dem Vater zurück. Und es zeigte sich, daß der Mann Gottes unter den vornehmen Kleidern ein härenes Gewand auf dem Leibe trug. Er war trunken von wunderbarem Eifer, warf seine Beinkleider weg, stand vor allen nackt da und sprach zu seinem Vater: „Bisher habe ich dich Vater auf Erden genannt; jetzt aber darf ich mit Gewißheit sagen: Vater unser, der du bist im Himmel; ihm habe ich alle meine Schätze zurückgegeben, auf ihn habe ich Hoffnung und Vertrauen gesetzt". Als das der Bischof sah, bewunderte er den maßlosen Eifer dieses Gottgeweihten; er stand auf, schloß ihn weinend in seine Arme und hüllte ihn gut und fromm in den Mantel, den er selber trug, indem er die Seinen anwies, ihm etwas zu geben, womit er seine Blöße bedecken könne. Man brachte ihm den ärmlichen, billigen Mantel eines Bauern, der bei dem Bischof in Dienst stand. Franziskus nahm ihn dankbar entgegen und bezeichnete ihn eigenhändig mit dem Mörtel, der grade da war, in Form eines Kreuzes; so machte er aus ihm eine Hülle des gekreuzigten Menschen und des halbnackten Armen. Nackt blieb der Knecht des höchsten Königs zurück, um dem gekreuzigten Herrn in seiner Blöße nachzufolgen, weil er ihn liebte. Er 69

trug die Waffe des Kreuzes und gab sich hin an das Holz des Heils, durch das er aus dem Schiffbruch der Welt sollte gerettet werden. 5. So war denn der Verächter der Welt die Fessel weltlicher Begierden los; er verließ die Stadt und ging frei und sicher ins Einsame und Abgeschiedene, um allein und schweigend dem Geheimnis himmlischer Kunde zu lauschen. Als in einem Walde der Gottesmann Franziskus in französischer Sprache jubelnd Gottes Lob sang, überfielen ihn aus dem Hinterhalt Räuber und fragten ihn mordgierig, wer er sei; ihnen antwortete der Malm Gottes voll Vertrauen mit prophetischer Stimme: „Ich bin der Herold des großen Königs". Da stürzten sie sich auf ihn und stießen ihn in eine Grube voll Schnee, indem sie riefen: „Bleib da liegen, du Bauer, du Gottes-Herold!" E r aber sprang aus der Grube heraus, als sie weggingen, und in tiefer Freude sang er mit noch lauterer Stimme durch die Wälder dem Schöpfer aller Wesen Lob. 6. Nun kam er an ein Kloster in der Nähe, bat wie ein Bettler um Almosen und erhielt es als ein Unbekannter und Verachteter. Im Weitergehen erreichte er Eugubium, wo ihn ein früherer Freund erkannte, aufnahm und wie einen Armen Christi mit einem dürftigen Unterkleid beschenkte. — Von dort begab sich der Liebhaber völliger Demut zu den Aussätzigen und war mit ihnen zusammen, gewissenhaft allen dienend um Gotteswillen. E r wusch ihre Füße, verband ihre Schwären, entfernte die Fäulnis aus den Wunden und trocknete den Eiter; er küßte auch in wunderbarer Selbstaufgabe ihre schwärenden Wunden — er, der bald ein evangelischer Arzt sein sollte. Deswegen gewährte ihm Gott eine solche Gewalt, daß er bei der wunderbaren Heilung körperlicher und geistiger Krankheiten einen staunenswerten Erfolg hatte . . . 7. Als so Franziskus in der Demut Christi schon fest Wurzel gefaßt hatte, erinnerte er sich des Auftrags, zu dem er vom Kreuze aus verpflichtet worden war: daß er für die Wiederherstellung der Damianus-Kirche sorgen solle. In vollem Gehorsam kehrte er nach Assisi zurück, um wenigstens durch Bettel der göttlichen Stimme zu genügen. In seiner Liebe zu dem armen Gekreuzigten legte er alle Scheu ab und bettelte bei denen, unter denen er im Überfluß gelebt hatte; er belud

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seinen schwachen, vom Fasten aufgeriebenen Körper mit der Last der Steine und richtete wirklich die Kirche mit Gottes Hilfe und unter der frommen Teilnahme der Bürger wieder her. Um aber nicht nach der Arbeit in Erschlaffung zu versinken, schaffte er gleich an einer Kirche des Heiligen Petrus weiter, die außerhalb der Stadt lag; denn den Fürsten der Apostel verehrte er ganz besonders in der Reinheit seines aufrichtigen Glaubens. 8. Als er mit dieser Kirche endlich fertig war, gelangte er an einen Ort, den man Portiuncula nennt; dort hatte von altersher eine Kirche der Allerseligsten Jungfrau und Gottesgebärerin gestanden, war aber nun verlassen und wurde von niemandem gepflegt. Franziskus verehrte glühend die Herrin der Welt und richtete sich beim Anblick der verlassenen Kirche zu einem längeren Verweilen ein, um sie wieder in Ordnung zu bringen. Von altersher wurde sie „Heilige Maria von den Engeln" genannt, und der Mann Gottes schloß aus diesem Namen, daß hier öfter Engel erschienen waren. Aus Ehrfurcht vor den Engeln und aus heißer Liebe zu der Mutter Christi blieb er dort. — Diese Stätte zog der Heilige allen Gegenden der Welt vor; denn hier begann er in Demut, wuchs in Tugend, starb in glücklicher Vollendung, diesen Ort empfahl er im Tode den Brüdern, da er der Jungfrau sehr lieb sei. . . . Hier gründete der Heilige Franziskus, getrieben von einer göttlichen Offenbarung, den Orden der Minoriten. Denn auf Geheiß der göttlichen Vorsehung, die den Diener Christi in allem lenkte, errichtete er zunächst drei wirkliche Kirchen, bevor er den Orden bildete und das Evangelium predigte, und zwar nicht nur um vom Sinnlichen ins Geistige, vom Geringeren zum Höheren in geordnetem Fortschritt aufzusteigen, sondern auch um das, was er später wirken sollte, in einem äußerlichstofflichen Werk geheimnisvoll vorzubilden. Denn wie wir es jetzt erfüllt sehen, war dies die Entsprechung jener dreifachen äußeren Wiederherstellung, daß unter der Führerschaft des gleichen Heiligen nach der von ihm gegebenen Form, der Regel und Lehre Christi die Kirche dreifache Wiederherstellung erlebte und dreifachen Triumph die Schar derer, die Rettung finden sollten.

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3. K A P I T E L 1 . Franziskus blieb nun bei der Kirche der jungfräulichen Gottesmutter und flehte in inständigem Seufzen zu Ihr, die das Wort voll Gnade und Wahrheit empfing, er möchte ihrer Fürsprache würdig werden. Da geschah es durch die Verdienste der barmherzigen Mutter, daß er den Geist der evangelischen Wahrheit empfing und gebar. Als er nämlich eines Tages demütig die Messe von den Aposteln hörte, wurde jenes Evangelium verlesen, in dem Christus den zum Predigen entsandten Jüngern eine evangelische Lebensform auferlegt: sie sollten nicht Gold noch Silber noch Kupfergeld im Gürtel tragen, sie sollten unterwegs keinen Ranzen haben und keine zwei Röcke, auf Schuhe und Stock sollten sie verzichten. Als der Freund der apostolischen Armut das hörte, erfaßte, überdachte, fühlte er sich gleich von unsagbarer Freude durchdrungen: „Das ist ja, was ich suche", sagte er, „das ist's, was ich von ganzer Seele mir wünsche". E r löste sofort die Schuhe von den Füßen, legte Stock und Tasche weg, schwor ab dem Geld, begnügte sich mit einem Rock, band die Verschnürung auf und nahm statt des Gürtels einen Strick, indem er allen Eifer seines Herzens darauf warf, das Gehörte wohl zu verwirklichen und sich in allem der apostolischen Regel genau einzupassen. 2. Auf himmlischen Antrieb wurde seitdem der Gottesmann Nachahmer evangelischer Vollkommenheit und mahnte alle zur Buße. Seine Reden waren keineswegs töricht und lächerlich, sondern voll der Kraft des Heiligen Geistes; sie drangen in den innersten Kern, und heftige Verwunderung erfaßte die Zuhörer. In jeder Predigt verkündete er den Frieden mit den Worten: „Der Herr gebe euch den Frieden!" und grüßte so das Volk zu Beginn seiner Ansprache. Diese Art der Begrüßung hatte ihn, wie er später erklärte, der Herr selber gelehrt. So geschah es, daß er, nach dem Wort des Propheten [Isaias] selber von prophetischem Geist angehaucht, den Frieden verkündete, das Heil predigte und durch heilsame Ermahnungen sehr vielen den wahren Frieden wiedergab, die früher von Christus getrennt waren und fernab vom Heil gelebt hatten.

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3. So wurde der Mann Gottes weithin bekannt — durch die Wahrhaftigkeit seiner einfachen Lehre wie seines Lebens. Einige betraten nach seinem Beispiel den Weg der Buße, verzichteten auf alles und verbanden sich ihm in ihrer gesamten Lebenshaltung. Unter ihnen ragt als der erste der ehrwürdige Bernhard hervor; er empfing die göttliche Berufung verdientermaßen als der Erstgeborene des seligen Vaters, der erste der Zeit nach und durch den Vorrang der Heiligkeit. Kaum nämlich hatte er von der Heiligkeit des Christus-Dieners erfahren, so beschloß er nach seinem Beispiel die Welt völlig zu verachten und fragte ihn um Rat, wie er das durchführen solle. Als das der Gottgetreue hörte, fühlte er in sich den Trost des Heiligen Geistes, weil er ja nun die erste Nachkommenschaft empfangen hatte, und er antwortete ihm, sie müßten Gott selber deswegen um Rat fragen. So betraten sie denn — es war schon Morgen — die Kirche des Heiligen Nikolaus. Nach einem Gebet öffnete Franziskus, der Verehrer der Dreieinigkeit, dreimal das Evangelienbuch und bat Gott, daß er in dreifacher Bezeugung Bernhards heiligen Vorsatz bestätige. Beim ersten öffnen des Buches stieß er auf folgende Stelle: „Wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen]", beim zweiten öffnen las er: „Nehmt nichts mit auf den Weg\" und beim dritten dann: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir\" Da sagte der Heilige: „Das ist Leben und Regel für uns und alle, die sich unserer Gemeinschaft anschließen wollen. So geh denn hin, wenn du vollkommen sein willst, und vollende, was du gehört hast." 4. Kurz darauf wurden im gleichen Geist fünf weitere Männer berufen; so war denn die Sechszahl der FranziskusSöhne voll. Unter ihnen stand der Heilige Vater Ägidius an dritter Stelle, ein Mann von Gott erfüllt und würdig eines rühmlichen Gedächtnisses. Er zeichnete sich bald in der Übung hoher Tugenden aus und wurde, wie der Diener Gottes von ihm vorhersagte, auf den Gipfel höchster Betrachtung erhoben, obwohl er unwissend und einfältig war. Denn lange Zeit betrieb er unablässig das, was aufwärts führt, und wurde, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe, in häufigen Ekstasen 73

so sehr zu Gott emporgerissen, daß er in der Welt mehr das Leben eines Engels als eines Menschen zu führen schien. 5. Damals gewährte der Herr auch einem Priester der Stadt Assisi, namens Silvester, einem Mann von ehrbarem Lebenswandel, eine Vision, die nicht schweigend übergangen werden darf. In seinem menschlichen Sinn verabscheute er die ganze Art des Franziskus und seiner Brüder; aber er sollte nicht durch sein unbedachtes Urteil gefährdet werden, sondern erleuchtend suchte ihn die göttliche Gnade heim. Er sah nämlich im Schlaf die ganze Stadt Assisi von einem riesigen Drachen umschlossen; das Untier schien bei seiner ungeheuren Ausdehnung die ganze Gegend zu bedecken. Da aber trat — so dünkte es ihn — aus dem Mund des Franziskus ein goldenes Kreuz hervor, das mit seiner Spitze den Himmel berührte und dessen Arme seitlich bis ans Ende der Welt zu reichen schienen; beim Anblick dieses Strahlenzeichens floh jener furchtbare, abscheuliche Drache davon. Als sich ihm dies Bild zum dritten Male zeigte, erkannte er es als ein göttliches Orakel und erzählte alles dem Mann Gottes und seinen Gefährten der Reihe nach. Kurz darauf verließ er die Welt und folgte so unbedingt den Spuren Christi, daß sein Leben im Orden die Vision bestätigte, die er in der Zeitlichkeit gehabt hatte. 6. Die Kunde von dieser Vision erfüllte den Mann Gottes nicht mit menschlichem Stolz, sondern indem er Gottes Güte in seinen Wohltaten erfaßte, ging er mit um so größerem Mut daran, den alten Feind in seiner Schläue zu vertreiben und den Ruhm des Kreuzes Christi zu predigen. — Als er eines Tages an einem einsamen Ort seine Jahre in Bitterkeit bedachte und beweinte, kam die Freude des Heiligen Geistes über ihn und die Gewißheit, daß nun alle Sünden vergeben seien. Da ward er über sich selbst emporgerissen und tauchte ganz unter in ein wunderbares Licht; dabei wurde seinem geweiteten Geist seine und seiner Söhne Zukunft leuchtend klar. Als er nun zu den Brüdern zurückkehrte, sagte er: „Habt Mut, ihr meine Lieben, und freut euch im Herrn-, werdet nicht traurig, weil eurer nur wenige sind, und laßt euch nicht durch meine und eure Einfalt ängstigen; denn wie mir der Herr in Wahrheit geoffenbart hat, wird uns Gott zu 74

einer gewaltigen Menge anwachsen lassen, und der Segen seiner Gnade wird uns vervielfältigen." 7. Da sich zu gleicher Zeit ein anderer gutgesinnter Mann ihrer Heilsgemeinschaft anschloß, erreichte die gesegnete Nachkommenschaft des Gottesmannes die Siebenzahl. Da rief der fromme Vater alle Söhne zu sich, verkündete ihnen mehr vom Reiche Gottes, von der Verachtung der Welt, von der Verleugnung des eigenen Willens und von der Züchtigung des Leibes und eröffnete ihnen sein Vorhaben, sie in die vier Himmelsrichtungen zu entsenden. Denn schon hatte die unfruchtbare und ärmliche Einfalt des heiligen Vaters sieben Söhne hervorgebracht und wünschte die Gesamtheit der Gläubigen dadurch für Christus zu gebären, daß sie sie zu klagender Buße aufrief. „Geht hin," sagte der liebe Vater zu den Söhnen, „verkündet den Menschen den Frieden und predigt Buße zur Vergebung der Sünden. Seid geduldig in der Trübsal, wachsam beim Gebet, eifrig bei der Arbeit, bescheiden beim Predigen, ernst in euren Sitten und dankbar für Wohltaten, weil ihr mit all dem euch die ewige Seligkeit gewinnt." Da warfen sie sich demütig vor dem Gottesknecht zu Boden und empfingen frohen Geistes die Verpflichtung zu heiligem Gehorsam. Er aber sagte jedem einzeln: „Wirf dein Sinnen auf den Herrn, und er wird dich ernähren!" Dies Wort pflegte er immer zu sagen, wenn er einem Bruder Gehorsam auferlegte. Damals ging auch er selber zusammen mit einem Gefährten in einer Richtung davon, nachdem er die sechs übrigen in Kreuzesform nach den anderen Richtungen entsandt hatte; war er sich doch bewußt, daß er den andern als ein Beispiel gesetzt sei und darum erst handeln statt lehren müsse. — Nach einiger Zeit aber wünschte sich der liebevolle Vater die Anwesenheit seiner treuen Nachkommenschaft ; da er sie nicht auf einmal zu sich rufen konnte, erbat er dies von demjenigen, der die Verstreuten Israels sammelt. So geschah es, daß nach kurzer Zeit sich alle gleicherweise zusammenfanden, wie er es gewünscht hatte — unverhofft und zu ihrer eigenen Verwunderung, ohne jede menschliche Aufforderung einfach durch das Wirken der göttlichen Gnade. Da sich damals noch vier weitere ehrenhafte Männer ihnen anschlössen, wuchs ihre Schar auf zwölf. 75

8. Als so der Diener Christi allmählich die Zahl seiner Brüder steigen sah, schrieb er für sich und die Brüder in einfacher Sprache eine Lebensregel, in der die Beobachtung des heiligen Evangeliums die unerschütterliche Grundlage bildete und außerdem noch ein paar Anweisungen standen, die für eine einheitliche Lebensführung nötig erschienen. E r wünschte nun, der Papst möchte billigen, was er geschrieben hatte, und beschloß darum, allein im Vertrauen auf die göttliche Lenkung, mit jener Schar der Einfältigen sich persönlich an den Apostolischen Stuhl zu wenden. Aber die Gefährten waren in ihrer Einfalt bestürzt; da ermutigte sie Gott, der sich aus der Höhe dem Wunsche des Franziskus neigte, indem er dem Heiligen folgende Schau gewährte. Es war ihm, als ob er über einen Weg ginge, neben dem ein Baum von außergewöhnlicher Höhe wuchs. Als er sich ihm genähert hatte und unter ihm stand voll Verwunderung über seine Größe, wurde er plötzlich durch die Kraft Gottes emporgehoben, so daß er den Wipfel berührte und die Spitze des Baumes mit Leichtigkeit herunterbog. Gotterfüllt erkannte er in dieser Schau eine Vorbedeutung: daß sich der Papst in seiner apostolischen Würde zu ihm herablassen werde; da freute er sich herzlich, stärkte seine Brüder im Herrn und machte sich mit ihnen auf den Weg. 9. Als er nun zur römischen Kurie gekommen war und vor den Heiligen Vater geführt wurde, legte er seine Pläne dar und bat demütig und inständig um die Anerkennung jener Lebensregel. Da sah der Stellvertreter Christi, Innozenz III., in seiner ungewöhnlichen Weisheit bei dem Gottesmann die bewunderungswürdige Reinheit des einfachen Herzens, die Festigkeit des Vorsatzes und die Feuerglut eines heiligen Wollens; so entschied er sich, durch seine Zustimmung die gottgefällige Bitte zu erfüllen. Aber er zögerte noch, das zu genehmigen, worum ihn der Arme Christi bat, weil es einigen von den Kardinälen als etwas Unerhörtes erschien, das Menschenkraft übersteige. Nun war aber unter den Kardinälen der ehrwürdige Bischof von Sabina, Johannes vom Heiligen Paulus, ein Liebhaber aller Heiligkeit und den Armen Christi ein Helfer. Vom heiligen Geiste entflammt, sprach er zum Heiligen Vater und seinen Brüdern: „Wenn

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wir das Verlangen dieses Armen als übersteigert und unerhört zurückweisen, so müssen wir uns, da man uns um die Bestätigung einer evangelischen Lebensform bittet, wohl davor in acht nehmen, gegen das Evangelium Christi zu verstoßen. Denn wenn jemand behauptet, die Beobachtung und das Gelöbnis evangelischer Vollkommenheit schließe etwas Neuartiges oder Unvernünftiges ein, was unmöglich durchzuführen sei, so ist damit unwiderleglich dargetan, daß er Christus, den Urheber des Evangeliums, lästert." Nach dieser Darlegung wandte sich der Nachfolger des Apostels Petrus zu dem Armen Christi und sagte: „Mein Sohn, bete zu Christus, daß er uns durch dich seinen Willen zeige, damit wir ihn genauer erkennen und dann deine frommen Wünsche um so überzeugter erfüllen." 10. Der Diener des allmächtigen Gottes versenkte sich ganz ins Gebet und erhielt in demütigem Flehen, was er nach außen hin vorbringen konnte und was der Papst in sich empfand. E r berichtete zunächst ein Gleichnis, wie er es von Gott empfangen hatte: von einem reichen König, der sich mit einer schönen armen Gattin froh verband, und von der Anerkennung der Nachkommenschaft, die die Züge des königlichen Vaters an sich trug und darum an seinem Tisch erzogen werden sollte; zur Deutung fügte er hinzu: „Es ist nicht zu befürchten, daß durch Hunger umkommen die Söhne und Erben des ewigen Königs, die zur Ebenbildlichkeit des Königs Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes von einer armen Mutter geboren worden sind und durch den Geist der Armut in einer armen Heilsgemeinschaft erzeugt werden sollen. Wenn der Himmelskönig seinen Nachfolgern das ewige Reich verspricht, wie sollte er nicht um so mehr das gewähren, was er gemeinhin Guten und Bösen spendet!" Als der Stellvertreter Christi dieses Gleichnis und seine Auslegung sorgsam angehört hatte, erkannte er in tiefer Verwunderung und voll innerster Gewißheit, daß C h r i s t u s in einem Menschen gesprochen habe. Es bestärkte ihn auch darin, daß die Vision, die er gerade damals vom Himmel empfangen hatte, sich in diesem Manne erfüllen sollte; so gab der Geist Gottes es ihm ein. E r sah nämlich, wie er erzählte, im Traum die Lateranbasilika beinahe als Ruine;

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aber ein armer, bescheidener, verachteter Mann schob seine Schulter darunter und stützte sie, damit sie nicht einstürze. „ J a , " sagte er, „dieser ist es, der durch Tat und Lehre die Kirche Christi stützen wird." Da erfüllte er voll Eifer und Verehrung in allen Punkten die Bitte des Dieners Christi, dem er seitdem stets mit besonderer Liebe zugetan war . . . 4. K A P I T E L 1. Voll Vertrauen auf die Gnade des Himmels und das Ansehen des Papstes ging Franziskus in großer Zuversicht auf das Tal von Spoleto zu, um das Evangelium Christi zu verwirklichen und zu lehren . . . (Als er und seine Gefährten Hunger empfanden, brachte ihnen ein Unbekannter, der gleich wieder verschwand, etwas Brot; sie erkannten daraus das Walten Gottes und gelobten von neuem, unter allen Umständen das Gelöbnis der heiligen Armut zu halten.) 2. Als sie nun in das Tal von Spoleto zurückkehrten, im Herzen ihren heiligen Vorsatz, begannen sie zu überlegen, ob sie sich unter den Menschen aufhalten oder sich an einsame Orte zurückziehen sollten . . . (Durch eine göttliche Eingebung aber) erkannte Franziskus, daß er vom Herrn entsandt war, um für Christus die Seelen zu gewinnen, die der Teufel an sich bringen wollte. Deshalb zog er es vor, nicht für sich allein, sondern für alle zu leben, bestimmt von dem Beispiel desjenigen, der sich herabließ, als der Eine für alle zu sterben. 3. Der Gottesmann und seine Gefährten fanden sich bei der Stadt Assisi in einer verlassenen Hütte zusammen, wo sie nach der Regel heiliger Armut in viel Not und Entbehrung dahinlebten und daran genug hatten, sich mehr am Brot der Tränen als der Freuden zu erfrischen. Sie gaben sich Gott unablässig flehend hin, indem sie mehr freilich im Geist als im Wort ein demutsvolles Beten pflegten, weil sie noch nicht die kirchlichen Bücher besaßen, aus denen sie das Stundengebet hätten singen können. An ihrer Stelle war ihnen Buch das Kreuz Christi, das sie Tag und Nacht in dauerndem Anblick betrachteten, durch das Beispiel und die Unterweisung des Vaters belehrt, der ihnen oft eine Predigt vom Kreuze Christi hielt. Als die Brüder ihn baten, er möge 78

sie beten lehren, sagte er: „Wenn ihr betet, sprecht: Vater unser, und: Christus, wir beten dich an angesichts all deiner Kirchen, die es in der ganzen Welt gibt, und preisen dich, weil du durch dein heiliges Kreuz die Welt erlöst hast." Außerdem lehrte er sie Gott in allen Geschöpfen und aus ihnen allen loben, die Priester in tiefer Ergebenheit verehren und die Wahrheit des Glaubens, wie die Heilige Römische Kirche sie vertritt und lehrt, fest glauben und einfältig bekennen. Jene hielten sich an die Weisungen des heiligen Vaters in allem und warfen sich vor allen Kirchen und Kreuzen, die sie von ferne sehen konnten, demütig betend nieder, wie er es ihnen gesagt hatte. 4. Als die Brüder an jenem Ort verweilten, betrat der Heilige an einem Samstag Assisi, um nach seiner Gewohnheit am Sonntag morgen in der Domkirche zu predigen. Während aber der Gottergebene in einer Hütte, die im Garten der Kanoniker lag, nach seiner Gepflogenheit im Gebet zu Gott die Nacht verbrachte, wurde er körperlich von seinen Söhnen entrückt; und siehe, etwa um Mitternacht, da einige Brüder ruhten, einige noch beim Beten waren, fuhr ein Feuerwagen von wunderbarem Glanz durch die Tür des Hauses . . . und erhellte die Nacht. Voll Bestürzung waren die noch Wachen, erschrocken fuhren die andern aus dem Schlaf, und sie fühlten Herz und Leib licht werden, während die Gewalt jenes wunderbaren Leuchtens ihnen einander Sinnen und Trachten enthüllte. Einer erkannte das Herz des andern, und e i n e s Herzens erkannten sie, daß ihnen der heilige Vater vom Herrn im Glanz des Feuerwagens gezeigt werde, körperlich fern, geistig gegenwärtig, mit verklärtem Angesicht, von Himmelsglut und-blitz umstrahlt, entflammt von den Kräften der Übernatur; sie sahen, daß sie wie die wahren Israeliten ihm folgen sollten, da er unter den geistlichen Männern als ein zweiter Elias von Gott zum Wagen und Wagenlenker gemacht worden war . . . Als nun Franziskus nach seiner Rückkehr ihnen sehr vieles eröffnete, was Menschensinn überstieg, wurde es den Brüdern tief gewiß, daß der Geist des Herrn in so großer Fülle auf seinem Diener Franziskus geruht habe, daß ihnen den sichersten Weg die Nachfolge seines Lebens und seiner Lehre bot.

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5- . . . Denen aber, die ihn sahen, erschien er als Wesen einer anderen Welt, weil er stets Herz und Auge himmelwärts richtete und alle emporziehen wollte. Da reifte in Christi Weinberg die Knospe himmlischen Duftes, und nachdem er die Blüten der Sanftmut, der Ehrfurcht und eines tugendhaften Lebens aus sich hervorgetrieben hatte, brachte er überschwängliche Frucht. 7. (Die Anhänger des Heiligen) gelangten bald bis an die Grenzen des Erdkreises. Denn die heilige Armut als das einzige Mittel, das sie hatten, machte sie zu jedem Gehorsam bereit, stark bei der Arbeit und leicht bepackt für den Weg. Weil sie nichts Irdisches hatten, nichts liebten und nichts zu verlieren fürchteten, waren sie überall sicher und kannten nicht das zitternde Hin und Her von Furcht und Sorge; sie lebten sozusagen fern von aller inneren Wirrnis und erwarteten ohne ängstliche Spannung den kommenden Tag und die Unterkunft am Abend. Verschiedentlich erlitten sie als gemeines verächtliches Volk viel Schimpf, aber die Liebe zum Evangelium Christi hatte sie so geduldig gemacht, daß sie lieber dort sein wollten, wo ihnen körperliche Drangsal widerfuhr, als dort, wo man ihre Heiligkeit kannte und sie sich weltlicher Begünstigung rühmen durften. Sogar der ungeheure Mangel an Geld erschien ihnen als Fülle, da ihnen nach dem Rat des Weisen statt des Großen das ganz Geringe gefiel. — Als einige Brüder bis zu den Ungläubigen vorgedrungen waren, geschah es, daß ein Sarazene ihnen mitleidig Geld anbot zur Beschaffung des Nötigsten. Er wunderte sich über ihre Weigerung, es anzunehmen, da er sah, daß sie mittellos waren. Als er aber erfaßte, daß sie aus Liebe zu Gott arm geworden waren und kein Geld besitzen wollten, fühlte er sich ihnen in so großer Zuneigung verbunden, daß er ihnen die Besorgung alles Nötigen anbot, solange er auch nur die geringste Möglichkeit dazu habe. O unschätzbare Köstlichkeit der Armut, vor ihrer Kraft wandelt sich auch das barbarisch-wilde Herz zu tiefinnigem Mitgefühl; wie abscheulich und verrucht ist es da, wenn ein Christ diese edle Perle mit Füßen tritt, wo doch der Sarazene sie voll Verehrung auflas! 11. (Der Orden war inzwischen auf fünftausend Brüder angewachsen.) Franziskus hielt sie mit glühendem Eifer 80

zur Befolgung der Regel an, indem er sagte, daß er nichts aus Eigenem in sie hineingebracht habe, sondern alles so habe aufzeichnen lassen, wie es ihm von Gott geoffenbart worden war. Dies bekräftigte noch mehr das Zeugnis Gottes, da ihm nach wenigen Tagen durch den Finger des lebendigen Gottes die Stigmata des Herrn Jesus eingeprägt wurden, gleichsam als Siegel des Hohepriesters Christus zur völligen Bestätigung der Regel und zur Empfehlung ihres Urhebers . . . j. K A P I T E L 1. Als der Gottesmann Franziskus sah, daß sein Beispiel sehr viele dazu drängte, das Kreuz Christi glühenden Herzens auf sich zu nehmen, fühlte er sich selbst getrieben, als ein guter Führer des Christus-Heeres vom Gipfel einer unbesiegten Tugend aus die Palme des Sieges zu gewinnen. E r achtete auf das Wort des Apostels: Die aber Christus angehören, haben ihr Fleisch gekreuzigt samt ihren Begierden und Leidenschaften. Um die Kreuzeswaffe am eigenen Leib zu tragen, wehrte er in so strenger Zucht dem Verlangen der Sinne, daß er kaum das zur Selbsterhaltung Unerläßliche zu sich nahm . . . . Zog er zur Verkündigung des Evangeliums aus, so paßte er sich in der Beköstigung denen an, die ihn aufnahmen, um dann aber wieder nach seiner Rückkehr in Kargheit und peinlicher Strenge enthaltsam zu sein. So unterwarf er sich in allem dem Evangelium Christi; zu sich selber hart und menschlich dem Nächsten gegenüber, bot er nicht nur in der Enthaltung, sondern auch in der Annahme von Speisen ein erbauliches Vorbild. Der nackte Boden war oft seinem schmächtig abgespanntem Körper die Lagerstatt; ein Stück Holz oder einen Stein unter dem Kopf, noch häufiger sitzend verbrachte er die Nacht und diente, mit einem einzigen ärmlichen Rock bedeckt, dem Herrn in der Blöße und in der Kälte. 2. Auf die Frage, wie er sich mit einem so dünnen Gewand vor den rauhen Winterfrösten schützen könne, antwortete er im Eifer seines Herzens: „ W e n n Sehnsuchtsglut nach dem himmlischen Vaterland uns innen berührte, würden wir die äußere Kälte leicht ertragen." Er verabscheute die weichen L ü t z e l e r , Franziskuslegende.

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und liebte die rauhen Kleider, indem er erklärte, eben dadurch habe Johannes der Täufer sich aus göttlichem Munde Lob verdient. Erhielt er einmal ein schmiegsames Gewand zum Geschenk, so flocht er, wenn er es merkte, gleich Stricke hinein: nicht in den Hütten der Armen, erklärte er, sondern in den Palästen der Fürsten müsse man nach einem Wort der ewigen Wahrheit Weichheit der Kleider suchen. Außerdem hatte er die Erfahrung gemacht, daß Rauhheit die Dämonen abschreckt, wohlige Weichheit aber zu stärkerem Versuchen anreizt. . . 3. In strenger Zucht wachte er über sich selbst und hielt dies für die wichtigste Sorge eines jeden, daß er seine Reinheit bewahre; so stürzte er sich mehrfach im Anfang seiner Bekehrung zur Winterszeit in eine mit Eis gefüllte Grube, um sich den häuslichen Feind vollkommen niederzuzwingen und das weiße Gewand der Scham vorm Glutbrand der Wollust zu bewahren. Für einen geistlichen Menschen, versicherte er, werde es unvergleichlich erträglicher sein, große körperliche Kälte zu ertragen, als das Feuer körperlicher Begierde auch nur maßvoll in der Seele zu spüren . . . 5. Aber er lehrte nicht nur, daß man die Leidenschaften des Fleisches abtöten und ihre Anreize zügeln müsse, sondern auch, daß man die äußeren Sinne, durch die der Tod in die Seele eintritt, mit höchster Achtsamkeit bewachen solle. E r verlangte, daß man sich vor Vertraulichkeiten mit Frauen, Gespräch und Anblick, sorgfältig hüte; das bedeute für viele eine Gelegenheit zum Fall. E r erklärte, daß auf diese Weise der Schwache gebrochen und der Starke oft geschwächt werde, und fügte hinzu, wenn man von den wirklich Bewährten absehe, sei es im Umgang mit ihnen für jeden ebenso leicht, ihren unheilvollen Einfluß zu vermeiden, wie — nach einem Wort der Heiligen Schrift — in Feuer zu wandeln und nicht die Fußsohlen zu verbrennen. E r selbst hatte, um nicht Eitles zu sehen, seine Augen so gründlich von ihnen abgekehrt, daß er, wie er einmal einem Gefährten sagte, fast keine am Gesicht wiedererkennen konnte. E r hielt es für eine Gefährdung der inneren Festigkeit, die Bilder ihrer Formen in sich aufzunehmen, da sie das Flämmlein des gezügelten Fleisches wieder anfachen oder den Glanz eines

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schamhaften Gewissens beflecken konnten. Er erklärte das Gespräch mit einer Frau für widrig, ausgenommen bei der Beichte oder zu ganz kurzer Unterweisung, soweit es sich auf das Seelenheil bezieht und schicklich ist. „Was für Geschäfte hätte denn auch ein Qrdensmann mit einer Frau", fragte er, „es sei denn, sie begehre in frommer Bitte Buße oder einen Rat für die Besserung des Lebens ? Wer sich zu sicher fühlt, bei dem dringt der Feind leichter ein, und wenn einmal vom Menschen der Teufel einen kleinen Finger hat, so nimmt er gleich die ganze Hand." 6. Er lehrte weiter, daß man den Müßiggang, die Hefe aller schlechten Gedanken, unbedingt fliehen solle, und zeigte durch sein Beispiel, wie man das aufrührerische und träge Fleisch durch dauernde Zügelung und in fruchtbarer Arbeit bändigen könne. Er nannte seinen eigenen Leib Bruder Esel, da er ja mühsame Lasten tragen, häufig Schläge erdulden und mit gemeiner Kost zufrieden sein müsse. Wenn er sah, daß ein Faullenzer und Herumtreiber von der Arbeit anderer leben wollte, dann drängte es ihn, einen solchen Menschen Bruder Fliege zu nennen, weil er nichts Gutes wirkte, sondern das gut Gewirkte verdarb und sich allen wertlos und verächtlich machte. Deshalb erklärte er eines Tages: „Ich will, daß meine Brüder arbeiten und sich beschäftigen, damit sie nicht, dem Müßiggang ergeben, sich im Geist und mit Worten in dem ergehen, was unziemlich ist." — Er wünschte auch, daß seine Brüder ein evangelisches Schweigen beobachteten, damit sie jederzeit jedes überflüssige Wort vermieden, da sie ja am Tage des Gerichtes davon Rechenschaft ablegen sollten. Wenn er aber doch einen an leere Reden gewöhnten Bruder fand, ließ er ihn hart an; er versicherte, daß ein bescheidenes Schweigen für die Reinheit des Herzens eine Wache sei und gewaltige Stärkung bringe; denn Tod und Leben, heißt es, sind in den Händen der Zunge, nicht im Sinne des Geschmacks, sondern der Sprache. 7. Er wollte aber die Brüder nur nach dem Maß ihrer Fähigkeiten zu einem strengen Leben führen und vermied darum eine unbedingte Strenge, die kein Mitleid kennt und nicht mit dem Salz unterscheidenden Zartgefühls gewürzt ist. Als eines Nachts im Übermaß der Enthaltsamkeit ein 6(

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Bruder so sehr von Hunger gepeinigt war, daß er keine Ruhe finden konnte, und der fromme Hirte einsah, daß seinem Schaf Gefahr drohe, rief er den Bruder, setzte ihm Brot vor, nahm zur Vermeidung jeglicher Beschämung selber zuerst davon und forderte ihn freundlich zum Essen auf. Da legte der Bruder seine Scheu ab und nahm den Imbiß voll tiefster Freude, da er durch das umsichtige Nachgeben des Hirten von körperlicher Pein frei geworden war und ein bedeutungsvolles Beispiel der Erbauung empfangen hatte. Am nächsten Morgen rief der Gottesmann die Brüder zusammen, berichtete ihnen, was in der Nacht geschehen war, und fügte für die Zukunft mahnend hinzu: „Nicht die Gewährung von Speise, sondern von Liebe diene euch zum Beispiel, ihr meine Brüder." Und er hieß sie weiter die rechte Unterscheidung treffen, durch die ja erst der Wagen der Tugenden gelenkt werde — nicht jene, die das Fleisch anrät, sondern diejenige, die Christus gelehrt hat, dessen hochheiliges Leben offensichtlich reinstes Beispiel der Vollkommenheit ist. 8. Da aber der Mensch in seiner Fleischesschwäche dem makellos gekreuzigten Lamm nicht völlig nachfolgen kann, sondern immer wieder in Schmutz gerät, so bestärkte er in nachdrücklicher Unterweisung diejenigen, die auf die Vervollkommnung des Lebens bedacht waren, daß sie sich in täglichen Tränenströmen reinigen müßten. Wenn er auch selber bereits eine wunderbare Reinheit von Herz und Leib erreicht hatte, so hörte er doch nicht auf, mit reich vergossenen Tränen zugleich die geistigen Augen rein zu waschen, ohne den Verlust der körperlichen Sehkraft zu erwägen. Durch das dauernde Weinen hatte er sich nämüch eine weitgehende Schwächung der Augen zugezogen; der Arzt riet ihm, er müsse sich der Tränen enthalten, wofern er der Erblindung entgehen wolle; aber da antwortete ihm der Heilige: „Nein, Bruder Arzt, wegen der Liebe zum Licht, die wir mit den Fliegen teilen, darf man keineswegs auf das schauende Suchen des Ewigen Lichtes verzichten; hat doch nicht der Geist des Fleisches wegen, sondern das Fleisch um des Geistes willen die Wohltat des Lichtes empfangen." So wollte er lieber das Licht des körperlichen Gesichts verlieren, als durch die Einschränkung seiner drängenden Ehrfurcht 84

den Tränen gebieten, durch die das innere Auge rein wird, so daß es Gott zu schauen vermag. 9. Gleichzeitig wurde ihm von den Ärzten, denen sich die Brüder bittend anschlössen, der Rat gegeben, er möge sich durch eine Einbrennung helfen lassen. Demütig stimmte der Mann Gottes zu, weil er erkannte, daß dies heilsam und zugleich quälend sei. So berief man denn einen Chirurgen, der zur Vorbereitung der Einbrennung ein eisernes Instrument ins Feuer legte. Der Knecht Christi ermutigte den schon angstgeschüttelten Leib und redete das Feuer wie einen Freund an, indem er sagte: „Lieber Bruder Feuer, der Höchste hat dich vor den übrigen Dingen durch beneidenswerten Glanz, durch Schönheit und Nützlichkeit ausgezeichnet. Sei mir in dieser Stunde geneigt, sei mir heilsam. Ich flehe zu dem mächtigen Herrn, der dich geschaffen hat, er möge mir deine Hitze mildern, daß ich das Brennen leicht ertragen kann." Nach Beendigung des Gebetes machte er über das glühheiße Eisen das Kreuzzeichen und erduldete dann ohne Zittern alles. Das zischende Eisen wurde in das zarte Fleisch hineingebohrt und vom Ohr bis zur Augenbraue gezogen. Mochte der brennende Schmerz auch groß sein, so sagte doch der Heilige zu den Brüdern mit aller Bestimmtheit: „Lobet den Höchsten, denn ich versichere euch, ich spürte nicht die Glut des Feuers und keinen körperlichen Schmerz." Und zum Arzt gewandt, fügte er hinzu: „Wenn das Fleisch nicht gut ausgebrannt ist, so beginne noch einmal!" Der Arzt wunderte sich, in einem so schwachen Körper eine so gewaltige Kraft des Geistes zu finden, und verbreitete dieses göttliche Wunder, indem er bekannte: „ J a , wirklich, ihr meine Brüder, heute habe ich Wunderbares gesehen." Da er in seiner Reinheit soweit gelangt war, daß das Fleisch mit dem Geist und der Geist mit Gott in wunderbarer Harmonie übereinstimmte, geschah es auf göttliche Anordnung, daß die ihrem Schöpfer ergebene Schöpfung seinem Willen und Befehl sich wundersam unterwarf. . . 1 1 . Aber nicht nur die Schöpfung diente dem Knecht Gottes auf seinen Wink, sondern auch die Vorsehung des Schöpfers neigte sich allenthalben seinem Begehren. Einstmals fühlte er sich durch eine Reihe von Krankheiten sehr

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geschwächt; zu seiner inneren Auffrischung hätte er gern ein wohlgebildetes Lied gehört; aber es wäre unschicklich gewesen, sich diesen Gefallen von Menschen erweisen zu lassen. Da erfüllten willfährige Engel den Wunsch des Heiligen. Eines Nachts nämlich, als er wachte und über den Herrn sann, erklang plötzlich eine Zither: zaubrisch fügten sich die Töne, voll tiefer Süße war die Melodie. Man sah niemanden, aber der Wechsel der Klangstärke ließ auf ein Kommen und Gehen des Spielers schließen. Da wandte er sich zu Gott und erfreute sich bei diesem wohltönenden Sang einer solchen Wonne, daß er in einer anderen Welt zu leben glaubte. Das blieb den ihm näherstehenden Brüdern nicht verborgen; so erkannten sie an häufigen gewissen Zeichen, Gott suchte ihn mit so zahlreichen ungewöhnlichen Tröstungen heim, daß er sie nicht mehr alle verheimlichen konnte . . . 6. KAPITEL i . Reiche Demut — Schutz und Zier aller Tugenden — hatte den Gottesmann zuinnerst befruchtet. Er selber hielt sich freilich nur für einen Sünder, obwohl er in Wirklichkeit glanzvoller Spiegel aller Heiligkeit war. Auf ihr wollte er sein Leben gründen wie der weise Baumeister, der das von Christus gewiesene Fundament legt. Er sagte, deswegen sei Gottes Sohn aus der Höhe, aus dem Schoß des Vaters in unsere Verächtlichkeit herabgestiegen, um als Herr und Meister in Wort und Beispiel Demut zu lehren. Darum wollte er gern als ein Jünger Christi vor sich und den andern gering erscheinen, in Erinnerung an jenes Wort des höchsten Lehrers: Was hoch ist vor den Menschen, ist vor Gott verworfen. Auch dies pflegte er zu sagen: „Wie viel der Mensch in den Augen Gottes gilt, so viel ist er wert und nicht mehr." Indem er die Lobeserhebungen der Welt für töricht hielt, war er froh über Vorwürfe und traurig über Anerkennung. Er wollte über sich lieber Tadel als Lob hören, in dem Bewußtsein, daß jenes zur Vervollkommnung führe und dieses dem Sturz entgegentreibe. Wenn die Leute die Verdienste seiner Heiligkeit rühmten, befahl er oft einem Bruder, das Gegenteil zu behaupten, ihn herunterzusetzen und das ihren Ohren einzu86

hämmern. Als der Bruder ihn—natürlich nur ungern — Bauer und Tagelöhner nannte, ohne Nutzen und ohne Wissen, wurde sein Geist und sein Gesicht von Freude verklärt, während er antwortete: „ E s segne dich der Herr, Geliebtester, denn du hast sehr wahr gesprochen, so etwas ziemt sich dem Sohn des Petrus Bernardone zu hören." 2. Um sich vor andern verächtlich zu machen, ersparte er sich so wenig eine Beschämung, daß er sogar bei der Predigt vor allem Volk seine Fehler preisgab. Einmal hatte er seiner Schwäche wegen und zur Wiedergewinnung der Gesundheit seine strenge Enthaltsamkeit ein wenig gelockert. Kaum war er wieder bei Kräften, da fühlte er sich auch schon in seiner tiefen Selbstverachtung zu einem Vorwurf gegen das eigene Fleisch getrieben: „Das paßt sich nicht", sagte er, „daß das Volk mich für enthaltsam hält und ich im Gegenteil mich heimlich erquicke." So erhob er sich, vom Geist heiliger Demut entzündet, ließ auf einer Straße von Assisi das Volk zusammenrufen, betrat feierlich mit vielen Brüdern, die er bei sich hatte, eine größere Kirche und befahl, daß man ihn mit einem Strick um den Hals, nackt, nur in Hosen, vor aller Augen zu jenem Stein schleppe, auf den die Übeltäter zur Bestrafung gestellt wurden. E r bestieg ihn und predigte, obwohl er noch vom Viertage-Fieber schwach war, trotz der bitteren Kälte mit viel Feuer, indem er allen Zuhörern versicherte, sie dürften ihn nicht als einen geistlichen Menschen rühmen, sondern müßten ihn insgesamt als einen im Fleisch befangenen Genießer verachten. Als die Versammelten diesen ungeheuren Vorgang erlebten, staunten sie und gestanden, da sie seine Strenge kannten, voll Ehrfurcht, eine solche Demut müsse man bewundern, aber könne sie kaum nachahmen. Mochte dies auch nach dem Wahrspruch des Propheten mehr als Wunder erscheinen und nicht als Beispiel, so ragte es doch als Wahrzeichen vollkommener Demut auf und lehrt den Nachfolger Christi den Schall flüchtigen Lobes verachten, Prahlerei und schwellenden Stolz unterdrücken und die Verlogenheit gaukelnder Heuchelei niederhalten... 5. Franziskus sprach einmal zu seinem Gefährten: „Ich komme mir nicht als Minderbruder vor, wenn ich nicht einmal

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in der folgenden Lage gewesen bin. Gesetzt, ich werde Vorsteher der Brüder, gehe zum Kapitel, predige und ermahne die Brüder und am Schlüsse heißt es gegen mich: ,Du paßt uns nicht; denn du bist ungebildet, unberedt, einfältig bis zur Torheit'. So werde ich denn mit Schande herausgeworfen, verachtet von allen. Ich sage dir nun, wenn ich nicht mit der gleichen Miene, der gleichen inneren Fröhlichkeit und dem gleichen festen Willen zur Heiligung diese Worte aufnehme, so bin ich noch lange kein Minderbruder..." In dieser Weise wollte Franziskus um der Selbsterniedrigung willen seine Brüder „Mindere" nennen und die Ordensvorsteher „Diener" (Minister); er wollte damit die Bezeichnungen des Evangeliums anwenden, dessen Beobachtung er versprochen hatte, und außerdem sollten seine Schüler aus jenem Namen lernen, daß sie zur Erlernung der Demut in die Schulen des demütigen Christus gekommen seien. Sagte doch der Lehrer der Demut Jesus Christus, um seine Schüler für eine völlige Demut heranzubilden: „Wer unter euch der Größere sein will, möge euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht." — Als einmal der Kardinal von Ostia, der spätere Gregor IX., ein eifriger Schützer und Förderer der Minderbrüder, dessen künftiges Pontifikat der Heilige vorausverkündigt hatte, ihn fragte, ob es ihm genehm sei, daß seine Brüder in kirchliche Würdenstellen emporrückten, antwortete er: „Herr, als Mindere sind sie zu meinen Brüdern berufen worden, so unbedingt, daß sie nicht erwarten etwas Größeres zu werden. Wenn ihr wollt," fügte er hinzu, „daß sie in der Kirche Gottes Frucht bringen, so laßt sie und haltet sie im Zustand ihrer Berufung und drängt nicht darauf, daß sie zu den höheren kirchlichen Stellen aufsteigen." 6. Da er bei sich wie bei den ihm Unterstellten der Demut den Vorrang über alle Ehrungen gab, hielt ihn Gott, der Liebhaber der Demütigen, für würdig zu einer noch größeren Erhöhung; deren Art zeigte einem Bruder, einem Mann von ausgezeichneter Tugend und Frömmigkeit, eine himmlische Schau. Als er einmal den Gottesmann begleitete und zusammen mit ihm in einer verlassenen Kirche inbrünstig betete, geriet er in Verzückung und sah, wie im Himmel unter vielen 88

Sitzen einer vor den übrigen wertvoll war, mit kostbaren Steinen geschmückt und von jeglicher Glorie leuchtend. Er wunderte sich im Innern über den Glanz dieses erhabenen Throns und begann unruhig zu erwägen, wer ihn wohl einmal besteigen dürfe. Da vernahm er eine Stimme, die zu ihm sprach: „Dieser Sitz gehörte einem von den abtrünnigen Engeln, und nun ist er für den demütigen Franziskus bestimmt." Als der Bruder aus der Gebetsekstase endlich wieder zu sich kam, folgte er wie gewöhnlich dem Seligen, der schon vor ihm herausgegangen war. Und da sie auf dem Wege miteinander von Gott redeten, fragte ihn jener Bruder im Hinblick auf seine Vision geschickt aus, was er eigentlich über sich selber denke. Ihm antwortete der demütige Jünger Christi: „Ich komme mir als der größte Sünder vor." Als ihm der Bruder widersprach, das könne er mit reinem Gewissen nicht behaupten und nicht annehmen, fügte Franziskus hinzu: „Wenn Christus einen auch noch so verbrecherischen Menschen mit solcher Barmherzigkeit verfolgt hätte, ich bin gewiß, er wäre Gott noch viel dankbarer als ich." Das Erlebnis so wunderbarer Demut bestärkte den Bruder in der Richtigkeit der ihm gewährten Schau; er erkannte, wie auch das heilige Evangelium es bezeugt, daß nur der wahrhaft Demütige auf den Gipfel der Herrlichkeit erhoben wird, daß aber der Stolze in die Tiefe stürzt. 8. Als Franziskus eines Tages nach Imola kam, besuchte er den Bischof der Stadt und bat ihn demütig, daß er mit seiner Billigung das Volk zur Predigt rufen dürfe. Aber der Bischof antwortete ihm unwirsch: „Es genügt, Bruder, daß ich meinem Volke predige." In wahrer Demut neigte Franziskus das Haupt und ging hinaus; aber nach einer knappen Stunde trat er wieder ein. Als der Bischof etwas verwirrt ihn fragte, was er denn nun zu bitten komme, antwortete ihm jener mit demütigem Herzen und in demütigem Ton: „Herr, wenn der Vater den Sohn an der einen Tür herausgetrieben hat, so muß er durch eine andere wiederkommen." Diese Demut besiegte den Bischof; froh umarmte er ihn und sagte: „Du und alle deine Brüder haben von nun an die Erlaubnis, in meinem Sprengel uneingeschränkt zu predigen; so hat es eine heilige Demut v e r d i e n t . . . " 89

7. K A P I T E L 1. Unter den übrigen charismatischen Gaben, die Franziskus vom freigebigen Spender der Dinge erhielt, verdiente er mit besonderem Vorrecht die eine, daß er sich Reichtümer der Einfalt gewann durch die Liebe zur höchsten Armut. In ihr fühlte sich der Heilige dem Sohn Gottes nah verbunden; von ihr sah er, daß sie fast in der ganzen Welt zurückgestoßen war. Ihr wollte er sich in dauernder Liebe anverloben, nicht nur weil er um ihretwillen Vater und Mutter verließ, sondern auch weil er alles insgesamt in den Wind schlug, was er haben konnte. Keiner gierte mehr nach Gold als er nach der Armut; keiner wachte eifriger über einen Schatz als er über diese Perle des Evangeliums. Es beleidigte sein Auge ganz besonders, an den Brüdern etwas zu sehen, was nicht in allem mit der Armut zusammenstimmte. Er besaß wirklich vom Anfang seiner Ordensstiftung bis zu seinem Tode nur Gewand, Strick und Hosen und war damit zufrieden. — Die Armut Jesu Christi und seiner Mutter rief er sich häufig unter Tränen ins Gedächtnis; jene sei die Königin der Tugenden, erklärte er, da sie am König der Könige und an seiner königlichen Mutter so herrlich erstrahlte. Wenn die Brüder ihn bei ihren Zusammenkünften fragten, welche Tugend vorzüglich zum Christusfreunde mache, öffnete er sozusagen das Geheimnis seines Herzens und antwortete: „Wisset, Brüder, die Armut ist ganz besonders ein Weg zum Heil, gleichsam ein Zündstoff der Demut und die Wurzel der Vollkommenheit, deren Frucht vielfältig ist, aber verborgen. Sie meint das Evangelium mit dem Schatz, der im Acker vergraben ist; um ihn zu erstehen, soll man alles verkaufen, und was sich nicht verkaufen läßt, ist im Vergleich mit ihm verächtlich." 2. „Wer jenen Gipfel der Armut erreichen will," fuhr er fort, „muß nicht nur auf weltliche Klugheit, sondern in gewissem Maße auch auf wissenschaftliche Bildung verzichten, damit er frei von solchem Besitz in die Macht Gottes eingehe und sich nackt den Armen des Gekreuzigten darbiete. Denn der verzichtet nicht völlig auf die Zeitlichkeit, der im geheimen hier und da am eigenen Sinn festhält." Oft predigte 90

er über die Armut und prägte den Brüdern jenes Wort des Evangeliums ein: „Die Wölfe haben ihre Höhlen und, die Vögel des Himmels ihre Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er sein Haupt legen könnte." Deswegen wies er die Brüder an, nach Art der Armen ärmliche Hütten zu bauen, die sie nicht als Eigentum bewohnen sollten, sondern wie Pilger und Fremde fremdes Gut. E r sagte nämlich, das sei Bestimmung der Pilger, unter einem fremden Dach zu weilen, nach dem Vaterland zu dürsten und friedlich weiterzugehen. E r drohte, gegebenenfalls schon errichtete Häuser zu zerstören oder die Brüder aus ihnen zu vertreiben, falls er an ihnen etwas finden sollte, was einer Aneignung oder Bereicherung nahe käme und damit der evangelischen Armut entgegen wäre. E r nannte sie Fundament seines Ordens; von dieser Grundlage sei der Gesamtbau der Religionsgemeinschaft entscheidend abhängig — so sehr, daß ihre Festigkeit Stärke, ihr Ausweichen grundhafte Zerstörung bedeute. 3. Demgemäß lehrte er, wie er es selber in einer Offenbarung erfahren hatte, der Eintritt in ihre heilige fromme Gemeinschaft müsse von jenem evangelischen Wort aus beginnen: Wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. So ließ er nur diejenigen in den Orden hinein, die ohne Eigentum waren und schlechthin nichts mehr für sich behielten. (Als aber einmal jemand sein Gut den Seinen vermachte und den Armen vorenthielt, fuhr ihn Franziskus hart an) und sprach: „Geh deiner Wege, Bruder Fliege, da du noch nicht Haus und Verwandtschaft verlassen hast. Deinen Blutsverwandten hast du das Deine gegeben und die Armen betrogen, du bist der heiligen Armen nicht würdig. Vom Fleische gingest du aus und hast dem geistigen Bau ein schadhaftes Fundament unterlegt..." 4. (Ein andermal, in einer furchtbaren Notzeit, bat man den Mann Gottes, er möge erlauben, daß man von den eintretenden Novizen einige Dinge behalte, um sie im rechten Augenblick wegzugeben.) Aber Franziskus antwortete ihm mit frommem Rat: „Das sei fern von uns, teuerster Bruder; daß wir um eines Menschen willen unfromm gegen die Regel handeln. Ich wollte lieber, du entblößtest den Altar der 9i

glorreichen Jungfrau, wenn die Not dazu drängt, als verstießest auch nur im geringsten gegen das Gelöbnis der Armut und gegen die Beobachtung des Evangeliums . . . " 5. (Eines Tages fanden Franziskus und einer seiner Gefährten eine Börse; dieser drängte sehr dazu, daß man sie aufhebe und das Geld den Armen lasse. Da enthüllte Franziskus dem Bruder den ganzen Trug der Hölle: eine Schlange ringelte sich aus dem Geldbeutel, rasch anwachsend, hervor. Und der Heilige belehrte den Jünger:) „Ja, Bruder, Geld ist für die Diener Gottes nichts anderes als der Teufel und die giftige Schlange." 6. (Danach hatte der Heilige die wunderbare Begegnung mit drei ärmlichen Frauen, die sich in allem glichen und ihn mit den Worten grüßten: „Heil der Herrin Armut". Darauf verschwanden sie plötzlich, während Franziskus eine tiefe Freude in sich fühlte. Die Brüder überlegten, was es bedeuten könne, und sie erkannten, daß durch die Frauen die Schönheit evangelischer Vollendung in Keuschheit, Gehorsam und Armut versinnbildet werde. Dazu erinnerten sie sich, daß Franziskus die Armut als Braut, Mutter und Herrin anzureden pflegte.) 9. Einstmals weilte er gerade am heiligen Ostertag in einer Einsiedlerhütte, die so weit von den menschlichen Behausungen ablag, daß er nicht gut betteln konnte; in Erinnerung an jenen, der am gleichen Tag den nach Emmaus ziehenden Jüngern als Fremdling erschien, bat er wie ein armer Pilger die eigenen Brüder um ein Almosen. Als er es demütig empfangen hatte, unterwies er sie in heiligen Gesprächen, daß sie, die wie Pilger und Fremdlinge und wahre Hebräer durch die Wüste der Welt gingen, die Pascha des Herrn, d. h. den Übergang aus dieser Welt zum Vater, in der Armut des Geistes unablässig feiern sollten . . . 8. KAPITEL 1. Die wahre Frömmigkeit, die nach dem Worte des Apostels stark zu allem ist, hatte das Herz des Franziskus so sehr erfüllt und sein Innerstes durchdrungen, daß der Gottesmann ganz unter ihrer Herrschaft zu stehen schien. 92

S i e führte ihn durch Demut zu Gott empor, sie machte ihn Christus gleichförmig im Nachvollzug seines Leidens, sie verband ihn im gütigen Sichneigen dem Nächsten und versetzte ihn durch die umfassende Befreundung mit den Dingen in den Zustand der Unschuld zurück. S i e trieb ihn fromm bei jeglichem Tun; wenn er aber sah, daß Seelen, die mit dem kostbaren Blut Jesu Christi erkauft wurden, sich am Schmutz der Sünde befleckten, weinte er ganz besonders, aus so großem, zartem Erbarmen, daß er die Sünder gleichsam wie eine Mutter täglich in Christo gebar . . . 2. Ein Prediger, der bei der Predigt nicht das Heil der Seelen suche, sondern den eigenen Ruhm, der durch die Verworfenheit der Lebensführung das zerstöre, was er durch die Wahrheit der Lehre aufgebaut habe, ein solcher Prediger sei tief zu beklagen, lehrte er, und er sagte, diesem Menschen müsse man den einfachen unberedten Bruder vorziehen, der durch sein gutes Beispiel die übrigen zum Guten führe . . . 3. . . . Als er einmal, von schlechten Beispielen erschüttert, ängstlichen Herzens den Vater des Erbarmens für die Söhne bat, empfing er vom Herrn diese Antwort: „Warum sorgst du dich, du ärmliches Menschenkind? Machte ich dich darum zum Hirten meiner Gemeinde, daß du mich als ihren Führer und Beschützer verkenntest? Ich habe dich, einen einfachen Menschen, dazu bestellt, damit man das, was ich an dir wirke, nicht menschlicher Anstrengung, sondern der himmlischen Gnade zuschreibe. Ich habe dich berufen und werde dich bewahren und behüten; an die Stelle der Abgefallenen werde ich andere treten lassen; ja, wenn sie noch nicht geboren sind, so will ich ihre Geburt bewirken; von welchen Erschütterungen diese Religion der Armut heimgesucht werden mag, immerdar wird sie durch mein Walten heil fortbestehen." 5. . . . Franziskus hatte wirklich eine angeborene Milde, die seine Verehrung für Christus verdoppelte . . . (In diesem Geiste sprach er das Wort:) „Bruder, wenn du einen Armen siehst, so wird dir der Spiegel des Herrn und seiner armen Mutter vorgehalten. Nimm den Notleidenden als ein Gleichnis der Nöte, die er auf sich genommen h a t . . . " Einmal

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begegnete ihm ein Armer, als er gerade seiner Schwäche wegen über dem Gewand noch einen kleinen Mantel trug. Voll Milde sah er ihn in seinem Elend und sagte zu seinem Gefährten: „Wir müssen diesem Armen den Mantel zurückgeben; denn er gehört ihm. Wir haben ihn nur leihweise angenommen, bis es gelänge, einen Ärmeren zu finden." Weil aber der fromme Vater so schlecht gestellt war, widersetzte sich der Gefährte heftig, er solle sich nicht so vernachlässigen und nur an den anderen denken. Aber Franziskus entgegnete: „Der große Almosengeber würde es mir, glaube ich, als einen Diebstahl anrechnen, wenn ich das, was ich habe, nicht dem Bedürftigeren gebe . . . " 6. Wenn er den ersten Ursprung von allem erwog, steigerte sich seine Frömmigkeit ins Überreiche; sogar die ganz kleinen Geschöpfe redete er mit Bruder und Schwester an; wußte er doch, daß sie die gleiche Abstammung hatten wie er. E r liebte sie um so herzlicher und inniger, als sie im Gleichnis der Natur die fromme Sanftmut Christi ausdrücken und nach dem Zeugnis der Schrift versinnbilden. Oft kaufte er Lämmer, die geschlachtet werden sollten, in Erinnerung an jenes allermildeste Lamm, das zur Loskaufung der Sünder in den Tod gehen wollte . . . 7. Eines Tages wurde dem Gottesmann bei der Portiunkula-Kirche S. Maria ein Schaf überreicht, das er aus Liebe zur Unschuld und Einfalt, die die Natur des Schafes ausdrückt, dankbar entgegennahm. In seiner Frömmigkeit ermahnte er das Schäflein, daß es das Lob Gottes suche und sich davor hüte, den Brüdern Ärgernis zu geben. Das Schaf richtete sich streng nach der Weisung des Gottesmannes, als ob es seine Frömmigkeit erkannt hätte. Denn hörte es die Brüder im Chore singen, so trat es selber in die Kirche und beugte ohne weitere Anweisung das Knie, indem es sein Blöken zum Altar der Jungfrau, der Mutter des Lammes, sandte, als ob es danach verlange, sie zu grüßen. Auch ließ es sich, wenn der allerheiligste Leib Christi in den Feierlichkeiten der Messe erhoben wurde, auf die Knie nieder, als wollte so das Vieh in seiner Ehrfurcht die Unandächtigen der Ehrfurchtslosigkeit beschuldigen und die Christus Ergebenen zur Verehrung des Sakramentes einladen . . .

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g. Ein andermal ging er mit einem Bruder durch die Sümpfe von Venetiä und fand eine große Menge Vögel, die auf den Zweigen saßen und sangen. Bei ihrem Anblick sprach er zu dem Gefährten: „Die Brüder Vögel loben ihren Schöpfer; so laßt uns unter sie treten und im Stundengebet dem Herrn lobsingen." Als sie in ihrer Mitte standen, entwichen die Vögel nicht; aber sie zwitscherten so laut, daß sich die beiden beim Stundengebet unmöglich gegenseitig hören konnten; da wandte sich der Heilige mit folgenden Worten an die Vögel: „Brüder Vögel, hört mit Singen auf, so lange wir Gott das gebührende Lob darbringen." Und wirklich waren sie gleich still und verharrten so lange in Schweigen, bis sie von dem Heiligen Gottes wieder die Erlaubnis erhielten, zu singen, nachdem das Stundengebet in seiner ganzen Länge gesprochen und der Preis Gottes beendet war. Als aber der Gottesmann ihnen die Erlaubnis gab, nahmen sie sofort ihren gewohnten Gesang wieder a u f . . . I i . . . . So steht man in Ehrfurcht vor der Frömmigkeit des Seligen, die eine so wunderbare Kraft und Milde hatte, daß sie die wilden Tiere zähmte, die Waldtiere in Haustiere verwandelte, die sanften belehrte und die Natur der vernunftlosen, die gegen den Menschen gleich nach seinem Fall aufsässig wurde, ihm wieder gefügig machte. J a , Frommheit ist es, die sich allen Geschöpfen verbindet, die zu allem stark ist und die Verheißung des jetzigen und künftigen Lebens hat.

9. K A P I T E L 1. . . . Um aus der ganzen Wirklichkeit einen Antrieb göttlicher Liebe zu empfangen, freute sich Franziskus an allen Werken aus Gottes Hand und erhob sich über den Anblick der Herrlichkeiten zu Grund und Ursache jedes Lebens. Im Schönen erschaute er den Schönsten, und an den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, verfolgte er überall den Geliebten; alles nahm er als Stufe, auf der er zur Erfassung dessen aufstieg, der ganz liebenswert i s t . . . 2. Jesus Christus, der Gekreuzigte, hing ihm immerdar zwischen den Brüsten seiner Seele wie ein Myrrhenbüschel.

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Ihm wollte er sich ganz anverwandeln in der Glut seiner überschwänglichen Liebe . . . 11. K A P I T E L x. Unermüdlicher Gebetseifer und dauernde Tugendübung hatten den Gottesmann zu einer solchen geistigen Klarheit geführt, daß er trotz seines Mangels an gelehrter Kenntnis der heiligen Bücher mit wunderbar scharfsinniger Einsicht die Tiefen der Schrift durchforschte, vom Glanz des Ewigen Lichtes erleuchtet. Wo gelehrtes Wissen im Vorhof stehen bleibt, drang ins Innere die Leidenschaft des Liebenden . . . 2. (Einstmals öffnete er einem Lehrer der heiligen Theologie, der ihm schwierige Fragen vorgelegt hatte, die Geheimnisse göttlicher Weisheit); da antwortete der wohlunterrichtete Mann bewundernd und in tiefem Staunen: „Die Theologie dieses heiligen Vaters ist durch die Reinheit der Betrachtung gleichsam auf Flügeln emporgetragen, ja, ist ein fliegender Adler, während unsere Wissenschaft, mit dem Bauch an der Erde, nur Schritt für Schritt weiterkommt..." 14. So pflegt der erhabene Lehrer den Einfältigen und Kleinen seine Geheimnisse zu enthüllen, wie er zuerst in David erschien, dem größten unter den Propheten, dann in dem Apostelfürsten Petrus und schließlich in Franziskus, dem Armen Christi; sie waren einfältig in ihrer Unkenntnis der Schriften und wurden erleuchtet in der Unterweisung des Heiligen Geistes: der eine wurde zum Hirten, damit er das auserwählte Volk weide nach dem Auszug aus Ägypten, der andere zum Fischer, damit er das Netz der Kirche anfülle mit Gläubigen aller Art, der dritte zum Kaufmann, damit er die Perle des evangelischen Lebens erwerbe, nachdem er alles verkauft und weggegeben hatte um Christi willen. 12. K A P I T E L 2. . . . Mit allem Eifer forschte Franziskus, auf welchem Wege und in welcher Weise er Gott nach seinem Wohlgefallen vollkommener dienen könnte. Das war seine höchste 96

Philosophie, das war sein höchster Wunsch zeit seines Lebens, die Weisen und die Einfältigen, die Vollkommenen und die Unvollkommenen, jung und alt zu fragen, wie er wohl in wachsender Tugend zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen k ö n n e . . . 3. (Franziskus erkannte, daß die Predigt ein Mittel dazu sei. Als er nun einmal eine Menge Vögel traf,) begrüßte er sie wie vernünftige Wesen . . . und sprach zu ihnen: „Ihr meine Brüder Vögel, ihr schuldet eurem Schöpfer großes Lob, da er euch mit Gefieder bekleidete und euch Flügel zum Fliegen gab, da er euch die Reinheit der L u f t gewährte und euch lenkt, ohne daß ihr euch ängstlich zu sorgen braucht." Als er dies und ähnliches zu ihnen sprach, bezeigten die Vöglein auf wunderbare Weise ihre Freude; sie reckten den Hals, breiteten die Flügel aus, öffneten den Schnabel und blickten aufmerksam zu ihm hin. E r ging in wunderbarer Inbrunst durch ihre Mitte und berührte sie mit seinem Gewand, ohne daß auch nur eins von ihnen sich von der Stelle bewegt hätte. Erst als er über sie das Kreuzzeichen gemacht hatte und ihnen die Erlaubnis zum Wegfliegen gab, flatterten sie, von dem Gottesmann gesegnet, alle auf einmal davon. Das alles beobachteten die Gefährten, die am Wege warteten. Der Einfältige und Reine aber begann nach seiner Rückkehr zu ihnen sich der Nachlässigkeit zu beschuldigen, weil er bisher noch nicht den Vögeln gepredigt hatte. 4. (Ein andermal machten während seiner Predigt die Schwalben einen solchen Lärm, daß man ihn kaum verstehen konnte); da redete sie der Gottesmann an und sprach zu ihnen — alle hörten es: „ I h r meine Schwestern Schwalben, nun ist es an der Zeit, daß i c h spreche; ihr habt jetzt genug geredet. Hört das Wort Gottes, seid still, bis die Predigt vom Herrn zu Ende ist." Jene aber, als seien sie der Einsicht fähig, schwiegen sofort und regten sich nicht von der Stelle, bis die Predigt ganz vorbei war. Staunen ergriff alle, die es sahen, und sie verherrlichten Gott. Die Kunde von diesem Wunder verbreitete sich ringsum, und viele verehrten den Heiligen in neuem Glauben und tiefer Andacht . . . 7. Was auch immer Franziskus, der Gottesknecht, unternehmen mochte, ihm stand der zur Seite, der ihn gesalbt und L ü t z e l e r . Franziskuslegende.

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entsandt hatte, der Geist des Herrn und Christus selber, die Kraft und Weisheit Gottes, so daß er an Worten heilsamer Lehre Überfluß hatte und leuchtete von der Macht großer Wunder. Sein Wort war wie ein brennendes Feuer, das in das Innerste des Herzens drang, und alle standen voll Bewunderung vor ihm, da er den Schmuck menschlicher E r findung verschmähte und von dem Anhauch göttlicher Offenbarung duftete . . . (So war es klar), daß nicht er sprach, sondern der Geist des Herrn . . . 8. . . . Alle, jeden Alters und Geschlechtes, eilten den neuen, der Welt vom Himmel gegebenen Mann zu sehen und zu hören. E r aber schritt durch die Lande und verkündete feurig das Evangelium, in innerer Gemeinschaft mit dem Herrn, der sein Wort bekräftigte durch die nachfolgenden Wunderzeichen; kraft seines Namens trieb Franziskus, der Herold der Wahrheit, Dämonen aus, heilte die Kranken und, was größer ist, erweichte durch die Eindringlichkeit seiner Predigt auch die Verhärteten zur Buße; so machte er allenthalben Leib und Herz gesund. 12. . . . Ihn hob empor über das Gewöhnliche der Vorrang der Tugenden, ein prophetischer Geist, die Gewalt der Wunder, die vom Himmel geschenkte Weissagung der Predigt, der Gehorsam der vernunftlosen Kreatur, die stürmische Wandlung der Herzen beim Anhören seiner Worte, die Unterweisung, die ihm der Heilige Geist verlieh über alle menschliche Gelehrsamkeit hinaus, die Ermächtigung zur Predigt, die ihm der Heilige Vater nicht ohne eine Offenbarung gewährte, dazu die vom gleichen Stellvertreter Christi vollzogene Bestätigung der Regel, in der die Form der Predigt festgelegt ist, und schließlich die Zeichen des höchsten Königs, die seinem Körper in der Art eines Siegels eingedrückt waren — all das macht es der Welt, in zehnfacher Bezeugung gleich sam, zur unbezweifelbaren Gewißheit, daß Christi Herold Franziskus verehrenswert ist in seiner Sendung, authentisch in seiner Lehre, bewunderungswürdig in seiner Heiligkeit und daß er wirklich als Bote Gottes das Evangelium Christi gepredigt hat.

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i j.KAPITEL 1. Franziskus, der engelgleiche, pflegte niemals vom Guten auszuruhen, sondern stieg nach Art himmlischer Geister auf der Jakobsleiter zu Gott empor oder zum Nächsten herab. Denn er hatte die ihm zur Tugendübung beschiedene Zeit so klug einteilen gelernt, daß er den einen Teil dem mühevollen Dienst am Nächsten widmete, den anderen der entrückenden ruhigen Betrachtung vorbehielt. (In einer solchen einsamen Betrachtung fühlte er sich, zwei Jahre vor seiner Rückkehr zu Gott, auf dem Alvernerberg in die Höhe gehoben, und ein göttlicher Wahrspruch gab ihm ein, den Willen Gottes über seine Person aus der Heiligen Schrift herauszulesen.) 2. . . . Bei der dreifachen Öffnung des Evangelienbuches stieß sein Gefährte immer wieder auf das Leiden des Herrn; da erkannte der Gotterfüllte, daß er vor seinem Scheiden aus dieser Welt so, wie er in seinen Lebenshandlungen Christus nachgeahmt hatte, ihm nun auch in den Betrübnissen und Schmerzen der Passion gleichförmig sein solle. Mochte er auch bei der größeren Härte seines bisherigen Lebens und durch die ununterbrochene heilige Kreuztragung körperlich hinfällig sein, so schrak er doch keineswegs zurück, sondern drängte noch heftiger zur Erduldung des Martyriums . . . 3. In der seraphischen Glut seiner Sehnsucht wurde er zu Gott emporgetrieben und in der Wonne innerer Teilnahme Dem anverwandelt, der aus übergroßer Liebe gekreuzigt werden wollte. Als er eines Morgens, um das Fest Kreuzerhöhung, auf einer Seite des Berges betete, sah er einen Seraphin mit sechs feurigen glanzvollen Flügeln von der höchsten Höhe des Himmels niedersteigen. In sehr schnellem Flug durch die Lüfte gelangte er in die Nähe des Heiligen und schwebte über ihm; da erschieit zwischen den Flügeln das Bild eines gekreuzigten Menschen, dessen Hände und Füße in Form eines Kreuzes ausgestreckt und dem Kreuz angeheftet waren. Zwei seiner Flügel erhoben sich über seinem Haupt, zwei hatte er zum Fliegen ausgebreitet, zwei verhüllten seinen ganzen Leib. Franziskus erschauerte tief bei diesem Anblick, und ihn befiel Freude und Trauer zu7*

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gleich in seltsamer Mischung. E r freute sich über die gnadenvolle Schau, die ihm zeigte, daß ihn Christus in der Gestalt eines Seraphins sah, aber die Anheftung an das Kreuz durchdrang seine mitfühlende Seele mit dem Schwert der Schmerzen. E r wunderte sich sehr beim Anblick einer so unerforschlichen Schau, in der Erwägung, daß die Entkräftung der Passion mit der Unsterblichkeit des seraphischen Geistes gar nicht zusammenstimme. (Schließlich ging ihm auf,) daß er nicht durch das fleischliche Martyrium, sondern in der verwandelnden Glut des Geistes dem gekreuzigten Christus ganz ähnlich werden sollte. Im Entschwinden ließ die Vision in seinem Herzen ein wunderbares Brennen zurück, aber prägte auch seinem Fleisch nicht weniger wunderbare Bildzeichen ein. Denn sogleich zeigten sich ihm an Hand und Fuß Maler von Nägeln, wie er sie kurz vorher an dem Bild des gekreuzigten Mannes erblickt hatte. Hand und Fuß erschienen mitten drin von Nägeln durchbohrt; die Köpfe der Nägel traten auf der inneren Hand und am oberen Fuß hervor, während die Spitzen auf der Gegenseite sich abzeichneten. Die Köpfe der Nägel waren an Händen und Füßen rund und schwarz, ihre Spitzen länglich, umgebogen und wie umgeschlagen; sie traten aus dem Fleisch hervor und ragten darüber hinaus. Auch war seine rechte Seite wie von einer Lanze durchbohrt und zu einer roten Wunde aufgerissen; aus ihr strömte oft heiliges Blut, das ihm Gewand und Beinkleider netzte. 4.—10. (Franziskus hätte seine Stigmatisation gern vor allen verborgen; aber schließlich enthüllte er sie in zurückhaltenden Worten seinen Gefährten, wobei er jedoch verschwieg, was der Engel zu ihm gesprochen hatte. In vielen Wundern bekräftigte Gott den Empfang der heiligen Wundmale, für deren Bestehen eine Reihe Zeugen angeführt werden und in denen ¿ich die Franziskus gewährten sieben Visionen des Kreuzes vollenden. O du eifrigster Soldat Christi, die letzte Schau hat) dich im Innern entflammt und dich nach außen als den anderen Engel bezeichnet, der vom Aufgang der SQnne aufsteigt, dich, der du das Siegel des lebendigen Gottes an dir trägst. (Durch diese siebenfache Erscheinung des Kreuzes Christi) bist du gleichsam auf sechs

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Stufen zu dieser siebten gelangt, auf der du endlich zur Ruhe kommen solltest. . . 14. K A P I T E L 1. Nun war Franziskus in leiblicher und geistiger Weise mit Christus ans Kreuz geheftet; er brannte nicht nur von seraphischer Liebe zu Gott, sondern schmachtete mit dem gekreuzigten Christus nach der Schar derer, die erlöst werden sollen. Darum ließ er, weil er wegen der an den Füßen hervortretenden Nägel nicht mehr gehen konnte, seinen abgestorbenen Leib durch die Städte und Dörfer tragen, um alle anzutreiben, das Kreuz Christi auf sich zu nehmen. Seinen Brüdern sagte er: „Laßt uns anfangen, Brüder, unserm Herrgott zu dienen, weil wir bisher zu wenig vollbracht haben." E r hatte auch den großen glühenden Wunsch, wieder zum Ursprung seiner Demütigung zurückzukehren: sich wie am Anfang den Aussätzigen zu widmen und seinem vor Mühsal schon verfallenen Körper wieder die frühere Dienstbarkeit abzugewinnen. E r nahm sich vor, unter Christi Führerschaft Ungeheures zu wirken, und hoffte, wenn die Glieder erschlafften, drängend tapferen Herzens über den Feind zu triumphieren in neuem Kampf. Dort hört ja Müßiggang und Lauheit auf, wo der Stachel der Liebe zu immer Größerem antreibt. So sehr aber stimmten in ihm Fleisch und Geist zusammen, so groß war die Bereitwilligkeit, zu gehorchen, daß, wenn sein Geist zu jeglicher Heiligkeit strebte, das Fleisch nicht im geringsten mehr widerstand, sondern ihn gar zu überflügeln suchte. 2. So wuchs dem Gottesmann das Übermaß seiner Verdienste, die alle in Geduld erworben werden müssen. Da befiel ihn aber so schwere, vielfältige Krankheit, daß kaum ein Glied mehr an ihm verschont blieb von dem furchtbaren Schmerz des Leidens. Täglich, dauernd mußte er durch mannigfache Qual hindurch, daß das Fleisch beinahe verging und sozusagen nur noch Haut und Knochen übrigblieben. Wenn ihn die schrecklichen Schmerzen peinigten, so faßte er diese seine Nöte nicht als Strafen auf, sondern gab ihnen den Namen von „Schwestern". Als ihn aber einmal die Schmerzen stärker als gewöhnlich stachen, sagte ein Bruder

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in seiner Einfalt zu ihm: „Bruder, bitte den Herrn, daß er milder mit dir verfahre; denn seine Hand lastet, scheint es, ungebührlich hart auf dir." Als das der Heilige hörte, stieß er einen Klageruf aus und antwortete: „Kennte ich nicht deine einfältige Reinheit, so würde ich dich von nun an als Gefährten verabscheuen, da du es gewagt hast, Gottes Urteil über mich tadelnswert zu finden." Mochte er auch in langer, ungeheurer Erschöpfung ganz aufgerieben sein, so warf er sich doch zu Boden, so daß die Knochen in hartem Fall aufstießen. Er küßte die Erde und sprach: „Ich danke dir, Herrgott, für all meine Schmerzen hier und bitte dich, mein Herr, daß du sie verhundertfachst, wenn es dir so gefällt; denn dies wird mir das Angenehmste sein, daß du mich mit Schmerz schlägst und nicht schonst; die Erfüllung deines heiligen Willens ist mir ein überreicher Trost." Deshalb glaubten die Brüder in ihm einen zweiten Job erkennen zu sollen, dem mit der Erschlaffung des Fleisches die Stärke des Geistes wuchs. Er wußte übrigens schon lange seinen Heimgang voraus, und als der Todestag bevorstand, sagte er seinen Brüdern, daß nun das Zelt seines Körpers bald abgebrochen werden müsse, wie es ihm von Christus geoffenbart worden war. 3. . . . So verlangte er denn nach Sancta Maria von Portiuncula getragen zu werden, um dort, wo er den Geist der Gnade empfangen hatte, den Geist des Lebens zurückzugeben. Als man ihn dorthin überführt hatte, breitete er sich in jener tiefen Hinfälligkeit, die jede Ermattung beschloß, eifervoll auf dem bloßen Boden ganz nackt aus, um in einem überzeugenden Beispiel darzutun, daß er mit der Welt nichts mehr gemein hatte. Denn er wollte in dieser letzten Stunde, in der der Feind noch weiter zürnen konnte, nackt mit dem Nackten, ringen. Als er nun so auf der Erde lag, unter sich ein rauhes Stück Zeug, erhob er nach seiner Gewohnheit das Gesicht gen Himmel, dessen Herrlichkeit er sich ganz hingab, bedeckte mit der linken Hand die Wunde der rechten Seite, damit man sie nicht sähe, und sprach zu den Brüdern: „Ich habe das Meine getan; Christus möge euch das Eure lehren." 4. Da weinten sehr die Gefährten des Heiligen; sein Leiden durchdrang sie wie ein Pfeil, und wunderbar litten sie 102

mit. Einer von ihnen, den der Gottesmann zum Guardian bestimmte, erkannte in göttlicher Erleuchtung seinen Wunsch, erhob sich eilends, ergriff ein Gewand samt Strick und Hosen und brachte es dem Armen Christi, indem er sagte: „Dies überlasse ich dir als einem Armen, und du mögest es empfangen nach der Bestimmung des heiligen Gehorsams." Darüber freute sich der Heilige und frohlockte in seines Herzens Heiterkeit, weil er nun sah, daß er der Herrin Armut bis ans Ende die Treue gehalten habe; er streckte die Hände zum Himmel empor und pries seinen Christus, weil er aller Lasten ledig und frei zu ihm ging. Denn all das hatte er getan, um der Armut nachzueifern; er wollte ja kein Gewand besitzen, das ihm nicht ein anderer dargereicht hatte. Das war in der Tat sein Wunsch: in allem dem gekreuzigten Christus gleichförmig zu sein, der arm, gepeinigt und nackt am Kreuze hing. Darum blieb er auch am Anfang seiner Bekehrung nackt vor dem Bischof stehen und wollte am Ende seines Lebens nackt die Welt verlassen; so verpflichtete er die ihm beistehenden Brüder im Gehorsam der Liebe, daß sie, wenn sie seinen Tod bemerkten, ihn so lange nackt auf dem Boden liegen ließen, wie jemand brauche, um bequem eine Meile zurückzulegen. O du allerchristlichster Mann, der du lebend dem lebenden Christus und sterbend dem sterbenden und gestorben dem gestorbenen in vollkommener Nachfolge gleichförmig sein wolltest und dir schließlich verdientest, in vollkommener Angleichung an ihn verherrlicht zu werden! 5. Als schließlich die Stunde seines Verscheidens nahte, ließ er alle Brüder, die zur Stelle waren, zu sich rufen, tröstete sie über seinen Tod mit lieben Worten und ermahnte sie in väterlicher Innigkeit zu göttlicher Liebe. E r gab ihnen Weisungen, wie sie in Geduld und Armut ausharren und der Heiligen Römischen Kirche die Treue halten sollten, indem er den übrigen Anordnungen das Heilige Evangelium voranstellte. Während nun alle Brüder ringsum saßen, streckte er über sie mit verschränkten Armen in Kreuzesform die Hände aus—schon immer liebte er diesesZeichen— und gab allen Gefährten, den anwesenden und abwesenden, in der Kraft und im Namen des Gekreuzigten den Segen. Und er fügte hinzu: „Ihr

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alle meine Söhne, lebet wohl in der Furcht des Herrn und verharret in ihr immerdar. Und wenn in Zukunft Versuchung und Trübsal naht, glücklich dann, wer bei dem bleibt, was er begonnen hat. Ich eile nun zu Gott, dessen Gnade ich euch alle empfehle." Nachdem er so seine milde Ermahnung beschlossen hatte, ließ sich der Gottgeliebte das Evangelienbuch bringen und verlangte danach, daß man ihm das Evangelium Johannis von der Stelle an vorlese, die mit den Worten: „Vor dem Osterfeste" beginnt. E r selbst stimmte, soweit er konnte, den Psalm an: „Mit meiner Stimme habe ich zum Herrn gerufen, mit meiner Stimme habe ich zum Herrn gefleht" und er sprach ihn bis zu Ende: „Die Gerechten warten meiner, bis du mir wohltust". 6. Nachdem sich schließlich alle Geheimnisse an ihm erfüllt hatten, nachdem seine hochheilige Seele, vom Körper gelöst, in den Abgrund der göttlichen Klarheit verschlungen war, entschlief der Selige im Herrn. Einer von den Brüdern, sein Schüler, sah, wie jene beglückte Seele in der Form eines gewaltig leuchtenden Sterns von einem weißen Wölkchen emporgetragen und über viele Wasser geradeswegs in den Himmel entführt wurde, sie strahlte vom Glanz erhabener Heiligkeit und war mit himmlischer Weisheit und Gnade überschwänglich erfüllt; so gewann sich der Heilige Zugang an den Ort des Lichtes und des Friedens, wo er mit Christus ohne Ende ruht. — (Ein anderer, Bruder Augustinus, der schon lange die Sprache verloren hatte, rief plötzlich aus:) „Vater, warte auf mich, warte; sieh, ich komme ja schon, komme mit dir." Als die Brüder ihn tiefverwundert fragten, mit wem er denn so kühn spreche, antwortete er: „Seht ihr denn nicht, wie unser Vater Franziskus zum Himmel fährt ?" Und sogleich verließ seine heilige Seele das Fleisch und folgte dem heiligsten Vater. — . . . Lerchen, Freundinnen des Lichtes, die Dämmerung und Dunkel scheuen, kamen in der Sterbestunde des Heiligen, als schon im Zwielicht die Nacht sich ankündigte, in großer Menge über das Dach des Hauses, kreisten lange mit ungewöhnlichem Jubel und legten so in Anmut ein klares Zeugnis ab für die Glorie des Heiligen, der sie zum Lobe Gottes einzuladen pflegte. 104

i5. KAPITEL 1. So gelangte Franziskus unter dem Schutz der himmlischen Gnade, Stufe für Stufe, aus der Niedrigkeit zur Höhe — er, der Knecht und Freund des Allerhöchsten, Gründer und Führer des Ordens der Minderbrüder, Verkünder der Armut, Urbild der Buße, Herold der Wahrheit, Spiegel der Heiligkeit jind Beispiel unbedingter evangelischer Vollendung. Dieser wunderbare Mann war überreich an Dürftigkeit, erhaben in seiner Demut, lebensvoll durch Abtötung, klug in seiner Einfalt und hervorragend in aller ehrwürdigen Tugend . . . 2.—4. (Was er bedeutete, machten nach seinem Tode allen die heiligen Wundmale klar, die er in inniger Angleichung an Christus trug.) Seine Glieder fühlten sich weich und schmiegsam an; sie hatten gleichsam wieder die Zartheit des Knabenalters und ließen an überzeugenden Zeichen den Schmuck der Unschuld erkennen. Schwärzlich hoben sich von dem ganz weißen Fleisch die Nägel ab, und die Seitenwunde rötete sich gleich einer rosig blühenden Blume. So schön und wundersam wirkten diese Farben, daß sie allenthalben glückhafte Bewunderung erregten . . . Die diesen ungewohnten erhabenen Anblick hatten, wurden im Glauben bestärkt und zur Liebe getrieben; die davon hörten, verwunderten sich und hatten den Wunsch, es selber zu sehen. Als das Volk den Heimgang des Vaters erfuhr und der Ruf des Wunders sich verbreitete, strömte man eilends herbei, um das mit leiblichen Augen zu betrachten, was der Vernunft jeden Zweifel nehmen und das Herz mit Freude überschütten sollte. (Unter den Bürgern von Assisi befand sich ein gebildeter, kluger Kriegsmann namens Hieronymus, der an jenen heiligen Zeichen zweifelte und ungläubig wie Thomas war. Aber nachdem er sie berührt hatte, wurde er einer der eifrigsten Zeugen der Stigmatisation.) 5.—8. (Jene Nacht, in der Franziskus verschied, widmeten seine Jünger und das Volk dem Lobe Gottes.) Am Morgen geleiteten dann die Scharen, die zusammengekommen waren, den heiligen Leichnam zur Stadt Assisi; sie trugen Zweige in den Händen, unzählige Kerzen leuchteten auf, es

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klang von Hymnen und Gesängen. Sie gingen auch an der Kirche des heiligen Damianus vorbei; dort lebte damals in klösterlicher Abgeschlossenheit mit ihren Jungfrauen die edle Jungfrau Klara, die jetzt im Himmel verklärt ist; für eine Weile setzten sie den heiligen Leichnam nieder, der mit himmlischen Perlen ausgezeichnet war, und boten ihn jenen heiligen Jungfrauen zur Schau und zum Kusse dar. So kamen sie denn schließlich lobsingend zur Stadt und legten den kostbaren Schatz, den sie trugen, in der Kirche des heiligen Georg mit aller Ehrfurcht nieder. Hier hatte Franziskus als Knabe lesen und schreiben gelernt und später die erste Predigt gehalten; hier wurde ihm am Ende der erste Ruheplatz bereitet. Diese schiffbrüchige Welt verließ der ehrwürdige Vater im 1226. Jahr der göttlichen Menschwerdung, am 4. Oktober, spät an einem Samstag; begraben wurde er am Sonntag. . . (Auch nach seinem Tode noch wirkte Franziskus viele Wunder. Nach ihrer Prüfung verfügte Papst Gregor IX. am 16. Juli 1228 seine Heiligsprechung. Zwei Jahre später wurde sein Leib in eine ihm zu Ehren errichtete Basilika überführt, wobei auf dem Wege viele Wunder geschahen; und so ging es fort bis auf den heutigen Tag, unablässig wirkte der Heilige weiter, den der Herr wie Enoch ins Paradies entrückt und wie Elias im Feuerwagen der Liebe zu sich emporgerissen hatte.) 9. . . . Durch seine Verdienste wird Rettung den Blinden und Tauben, den Stummen und Lahmen, den Wassersüchtigen und den vom Schlag Gerührten, den Besessenen und Aussätzigen, den Schiffbrüchigen und Gefangenen, von ihm kommt Hilfe in allen Krankheiten, Nöten und Gefahren, und es wurden auch viele Tote wunderbar durch ihn erweckt. So wird es den Gläubigen klar, wie der Allerhöchste in Kraft und Herrlichkeit seinen Heiligen mit Wundern umgibt — Er, dem Ehre und Ruhm gehört, ohne Grenzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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PETRUS JOHANNIS OLIVI

Wenn die Herrschaft der babylonischen Buhlerin auf ihrem Tier am höchsten ward, so wird finsterste Nacht sein.. danach aber wird sichtbar werden ein christusförmiges Leben und ein Abbild Christi. . . Ein neues hehres Zeitalter wird beginnen. 217. Im sechsten Teil der Kirchenentwicklung soll sich eine einzigartige Vollkommenheit des Lebens und der Weisheit Christi offenbaren; dann wird der frühere Zustand so gänzlich schwinden, daß sich ein neues Weltalter oder eine neue Kirche zu bilden scheint; so wie dann das Vergangene überwunden wird, so wurde auch die alte Synagoge verdrängt, als bei der ersten Ankunft Christi eine neue Kirche gegründet ward. (Dreifach vollzieht sich die Ankunft Christi:) zunächst litt er dem Fleische nach, erlöste die Welt und gründete die Kirche; dann erneuert er die in jenem ersten Zeitalter gegründete Kirche und vervollkommnet sie im Geist eines evangelischen Lebens; schließlich verherrlicht er die Auserwählten beim Gericht und vollendet alles. (Die zweite Ankunft des Herrn geschieht in der Gesamtentwicklung der Kirche; nun aber gehen wir der dritten entgegen). 218. (Dieser sechste Abschnitt entspricht dem sechsten Schöpfungstag, an dem die Tiere geschaffen wurden und nach ihnen der Mensch.) Die wilden Tiere und das Gewürm sind die Reiche der Heiden und die Sekten der falschen Propheten, die dann am heftigsten gegen die Kirche wüten dürfen. Die Lasttiere sind die Einfältigen, die zum Gehorsam und zum Tragen von Lasten bereit sind. Der evangelische Orden aber gleicht dem vernünftigen Menschen, der nach dem Bilde Gottes gemacht ward; er wird unterwerfen die wilden Tiere und alles Land . . . 220. Im ersten Weltalter hat Gottvater sich als der Furcht-

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bare und Schreckliche gezeigt . . . Im zweiten zeigte sich Gottsohn als der offenbarende Lehrer, als das vollkommene Wort der Weisheit seines Vaters. Im dritten aber wird der Heilige Geist sich zeigen als Herd und Flamme göttlicher Liebe, als Kellermeister geistlicher Trunkenheit, als ein Vorratshaus göttlicher Wohlgerüche, geistlicher Salbungen und Salben, als Siegestanz brausenden Jubels und geistlicher Freuden, der nicht nur in bloßem Wissen, sondern in innerer Erfahrung, in köstlichem Genießen Gottvater in all seiner Macht und das eingeborene Gotteswort in all seiner Wahrheit und Weisheit mitteilen wird. 223. Nach den drei göttlichen Personen sind drei Gesetze zu unterscheiden: das alte Gesetz, das zum Vater gehört, das Gesetz des Evangeliums, in dem wir leben und das dem Sohne zukommt, und das Gesetz künftiger Freiheit, das unter dem Heiligen Geiste steht. 224. Nach der authentischen Bezeugung und Bestätigung der Römischen Kirche steht es fest, daß die vom seligen Franz gegebene Minoritenregel das wahre und eigentliche Evangelium ist, das Christus selber befolgt hat, das er den Aposteln auferlegte und in seinen Evangelien aufzeichnen ließ. (Nicht minder gewiß aber ist es), vor allem durch die glorreichen Stigmata, die Christus dem Heiligen eingeprägt hat, daß er, Franziskus, wirklich der Engel ist, der das sechste Siegel öffnet. 228. E s ist nun zu erwägen, wann die Öffnung des sechsten Siegels beginnt. Die einen glauben: mit dem Anfang des Ordens und der Regel, die jener heilige Vater stiftete, die andern: (mit der Offenbarung des dritten Weltalters durch Abt Joachim), die dritten: mit der Vernichtung Babylons und der fleischlichen Kirche durch die zehn Horner des Untiers, d. h. durch zehn Könige, die vierten: mit der Erweckung des Geistes oder einiger zum Geist des Christus und Franziskus — in einer Zeit, in der seine Regel allenthalben nichtswürdige, spitzfindige Bekämpfung erfahren soll, wo die Kirche derer, die stolz im Fleische wandeln, sie verurteilen wird, so wie Christus verurteilt wurde von der verworfenen Synagoge der Juden. So muß denn vorausgehen

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die Zeit der Kirchenzerstörung, so ¡wie damals ,die Zerstörung der Synagoge vorherging. 229. Wie der erste Herodes die Kindein mordete, um den Christusknaben zu töten, so hat auch in der ersten Kindheit dieses Ordens, als die Könige der Welt in ihm Christi Armut andachtsvoll verehrten, der neue Herodes der im Fleische wandelnden Gelehrten den Stand evangelischen Bettlertums verdammt. 233. (Franziskus hat eine evangelische Lebensart und -regel erneuert und sie nach Christus und seiner Mutter am tiefsten erfüllt. Von Bruder Leo hat Petrus Olivi erfahren, daß er folgendes glaube:) Wenn in der Drangsal der Babylonischen Versuchung Stand und Regel des seligen Franz wie Christus gekreuzigt wird, so wird der Heilige glorreich auferstehen; wie er im Leben und in den Wundmalen der Kreuzigung Christus einzigartig angeglichen ward, so wird er auch in der Auferstehung Christus angeglichen werden; die Auferstehung aber wird seinen Jüngern zur Festigung und Unterweisung nötig sein, so wie Christi Auferstehung den Aposteln nötig war, um sie zu stärken und über die Gründung und Lenkung der künftigen Kirche zu unterrichten. 236. . . . Bevor das neue Babylon vernichtet wird, werden die Gottlosen die Wahrheit des evangelischen Lebens feierlich bekämpfen und verdammen; aber es werden auch geistliche Menschen erstehen, um sie mit allem Eifer zu verteidigen und zu beobachten, um sie scharf und klar zu erkennen und zu predigen, so daß die sechste Öffnung dann einen festlichen Anfang findet, wie es ihr gebührt . . . Ich weiß aus mehreren vertrauenswürdigen Quellen, daß unser heiliger Vater Franziskus mehrfach diese Versuchung vorausgesagt hat. 237. (Wie die Synagoge von den zwölf Patriarchen und die Kirche von den zwölf Aposteln hauptsächlich verbreitet wurde, so wird auch die Endkirche) von zwölf evangelischen Männern verbreitet werden. Wirklich hatte Franziskus zwölf Söhne und Gefährten, durch die und in denen der evangelische Orden gegründet und eröffnet war. 241. (In dieser Zeit wird das Untier der Abtrünnigkeit erscheinen; seine beiden Horner, Sinnbilder einer falschen

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Frömmigkeit und einer falschen Weissagung, sind den Hörnern des Lammes irreführend ähnlich; wenn es zur Höhe steigt, wird die stärkste Versuchung des geheimnisvollen Antichrist kommen.) Denn dann werden sich falsche Christusse und falsche Propheten erheben; sie werden alle dazu verführen, die Begierde und die Fleischlichkeit oder den fleischlichen Ruhm des weltlichen Tieres anzubeten; sie werden sich dabei zur Bekräftigung auf ihre kirchliche Autorität berufen, der zu widersprechen als Ungehorsam, Widerspenstigkeit und schismatische Empörung erscheinen muß; sie werden sich weiterhin berufen auf die gesamte Wissenschaft all ihrer Magister und Doktoren . . ., der zu widersprechen töricht, wahnsinnig und häretisch erscheinen muß; sie werden schließlich Gründe anführen und den Sinn der Schriften verdrehen, werden auch auf eine ausgedehnte, alte, vielgestaltige Religion verweisen, die in langer Folge von altersher sich stark gezeigt habe und gefeiert worden sei. Mit diesen Zeugnissen scheinen sie dann das Feuer göttlichen Zornes auf die Widersacher herabzubeschwören und ein Scheinfeuer des heiligen apostolischen Eifers in ihre Jünger einzusenken . . . Sie werden auch bestimmen, daß, wer nicht gehorcht, gebannt und aus der Synagoge ausgeschlossen, gegebenenfalls auch dem weltlichen Arm des ersten Untiers überantwortet werden soll. Sie werden weiter dahinarbeiten, daß das Bild des ersten Tieres, das ist der falsche Papst, vom König des ersten Tieres erhoben und angebetet wird, das heißt, daß man ihm mehr Glauben schenkt als Christus und seinem Evangelium, und daß man ihn schmeichelnd ehrt als den Gott dieser Welt. 251/2. Nach der Zerstörung der Synagoge wurde die Völkerkirche in ihrer Schönheit erkoren; nach der Vernichtung der buhlerischen Babel, wird die geistliche Kirche nach Gebühr erhöht werden und ein festliches geistiges Gastmahl wird ihrer Hochzeit folgen. 264. Wie es den Aposteln angemessener war, mit Christus die Fundamente der ganzen Kirche und des christlichen Glaubens zu bilden, so ist es den Lehrern des dritten Alters der Kirche gemäßer, geöffnete Tore und Pförtner zu sein: Erklärer der Weisheit Christi. Solange der Baum nur in seinen Wurzeln

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dasteht, kann er ja auch nicht in seiner Ganzheit allen so klar werden und sich ausdrücklich darstellen, als wenn er Zweige, Blätter, Blüten und reife Früchte trägt; ebenso kann und soll sich erst in der Reife und nicht schon im Anfang der Baum der Kirche darstellen in seiner ganzen Bildung, im Walten der göttlichen Vorsehung und Weisheit, die an ihren Teilen mannigfaltig widerstrahlt und teilhat. 267.

in

UBERTIN VON CASALE, ARBOR VITAE CRUCIFIXI JESU

5. Buch, Kapitel 3. Schließlich war es so: da mochten, die für Jesus eiferten, sich noch so sehr empören gegen die Schlechtigkeit der Braut, die sich allenthalben und immer wieder den Ehebrechern zuneigte, das Vieh der Zuchtlosigkeit, das Gewürm der Habsucht, das Getier des Stolzes befleckte doch über und über die zeitliche Kirche in ihrem Wandel, und die Heuchlerschar gottloser Häretiker begann sie zu zersetzen. Aber Gott hielt dennoch nicht zornig mit seiner Barmherzigkeit zurück, sondern beschloß einen letzten Aufruf an die Kirche des fünften Zeitalters zu richten. E r erweckte in ihrer Mitte Männer einer hohen Wahrhaftigkeit. Sie rotteten aus die Begierde, vertrieben das Gelüst, verzichteten auf Würdenstellen, taten in Bann die Doppelzüngigkeit, verteidigten die Wahrheit, stellten die Gesittung wieder her und eiferten einzigartig und vor allen Jesus Christus nach. Ihr vorbildliches Leben war eine heftige Anklage gegen die Entartung der Kirche; das Wort ihrer Predigt trieb das Volk zur Buße; die Stärke ihrer Beweise machte zuschanden die Verkehrtheit der Häretiker; ihr besänftigendes Gebet war ein Schutz gegen den Zorn Gottes. Sie alle überragte, Elias und Enoch gleichgeordnet, Franziskus und Dominikus. Von ihnen war jener gereinigt mit der Kohle seraphischer Glut, brannte von himmlischem Feuer und schien die ganze Welt damit zu entzünden. Der andere strahlte hell über der Finsternis der Welt, leuchtend im Glanz der Weisheit und fruchtbar im Wort der Predigt; wie ein Cherub war er, mit weitreichendem allumfassendem Fittich. Diese ihre Art strömte über auf ihre Söhne. In der Fülle ihres Geistes aber verbanden sich bei den Heiligen Klarheit und Inbrunst. Das Grundübel des fünften Zeitalters bestand in einer vielfältig auflösenden Eitelkeit. Sie nährte sich aus der Be-

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gierde nach zeitlichen Gütern und aus dem Überflusse daran. Deshalb darf derjenige, der das Zeitliche von sich und seiner Art unbedingt fern hielt, als der hauptsächliche Erneuerer dieses Zeitalters gelten. Weil mit ihm die sechste Entwicklungsstufe der Kirche beginnt, auf der sich die Erneuerung des christlichen Lebens vollziehen soll, so kann man wohl sagen, daß auf ihn der erste Mensch vorausweist, den Gott in seinem Ratschluß, nach Beendigung des Fünftagewerkes, zu seinem Ebenbild erschuf: damit er allen Zeiten geschenkt werde . . . Jeder der beiden Heiligen hat in seiner Art vollständig und vollkommen die Welt verachtet und seiner Nachkommenschaft dasselbe anbefohlen. Es soll jetzt von dem die Rede sein, dessen Stand so heftig angegriffen wird. Die Zerstörer des evangelischen Lebens gerieten von Anfang an mit ihm in erbitterten Streit; heimtückische Lehrer traten als Widersacher der höchsten Armut auf. So wollen wir uns denn ganz besonders dem zuwenden, von dem in aller Strenge gilt, daß er das Siegel eines Christus ähnlichen Lebens gewesen ist. Das beweist die Spur seines Wandels, die Erhabenheit seiner geistigen Schau, die Größe der ihm entgegengebrachten Bewunderung und vor allem jene Auszeichnung, daß er durclj gleiche Wundmale dem hochheiligen Leiden Jesu Christi verbunden war. Wenn wir von seinem Wandel sprechen, wie er sich mühte, das Leben Christi immer mehr nachzuleben, nachzuleiden, wer fände da genügend Worte? All seinen Eifer warf er darauf, in der Öffentlichkeit und in der Stille, an sich und an anderen zu verlebendigen, was von Christi Weiterwirken vergessen war. Das war das besondere Vorrecht des gesegneten Franziskus, daß er zuerst in frommer umfassender Sorge das Leben Jesu der heiligen Kirche geben durfte: in der dauerhaften Gemeinschaft seines Ordens. Gewiß waren die heiligen Apostel die starken Fundamente eines solchen Lebens, nächst dem ersten und höchsten Eckstein Christus Jesus, auf dem jeder Bau einer kirchlichen Lebensordnung gegründet, ausgeführt und vollendet wird. Aber wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, mußte die Synagoge, der Falschheit schuldig, davon ausgeschlossen bleiben, und das Heidentum war noch nicht reif, eine solche Hoheit in sich aufzuL ü t z e l e r , Franziskuslegende.

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nehmen. So zeigte denn der Heilige Geist den Aposteln, daß jene Lebensform evangelischer Vollkommenheit damals noch nicht in die Masse hineingetragen werden konnte. Deshalb verpflichteten sie auch keineswegs die Gemeinden, die sie gründeten, auf jene Aufgabe, die sie von Christus empfangen hatten und zutiefst vollbrachten. Das war vielmehr der dritten Gesamtphase der Weltgeschichte vorbehalten, in der sich vor allem die Person des Heiligen Geistes darstellt, und der Öffnung des sechsten Siegels oder der sechsten Entwicklungsstufe der Kirche, auf der der Kirche das Leben Christi gegeben werden soll, die Rückkehr zur Urkirche, zur Vollkommenheit des Lebens Jesu, gleichsam in einem neuen Zeitalter, am Beginn einer neuen Kirche. Ich fügte darum hinzu, daß diese sechste Stufe in besonderem Maße als ChristusZeit erscheint; darauf deutet hin, was Johannes bei der Öffnung des sechsten Siegels sagt: „Ich sah einen anderen Engel aufsteigen vom Aufgang der Sonne, der das Zeichen des lebendigen Gottes trugund Joachim sagt über die Apokalypse: Dieser Engel ist der, den Christus — in der „Entsprechung" der Zeitalter — kommen läßt im Anfang der dritten Phase. So ist denn klar, was die Joachim gewährte Erleuchtung enthält, daß zu Beginn des sechsten Zeitalters ein engelhafter Mann der Welt gegeben werde, den Christus zur „Entsprechung" der Zeiten entsendet, und der hervorragen wird als Erneuerer des christlichen Lebens. Sodann erzählte mir ein berühmter Lehrer dieses Ordens, was in seiner Anwesenheit der Bruder Bonaventura, damals Generalminister und gefeierter Lehrer, auf dem Kapitel von Paris feierlich gepredigt hat: daß nach seiner festen Überzeugung der selige Franziskus der Engel des sechsten Siegels war . . . Mit größtem Nachdruck versicherte er dort, wie ich, wenn ich mich recht erinnere, von jenem erfuhr, er wisse es ganz sicher durch feierliche unbezweifelbare Offenbarungen von solchen, denen man glauben müsse. Mir aber, der ich diesesschreibe, steht es fest auf Grund vieler Zeugnisse alter heiligmäßiger Brüder, daß es so dem seligen Franziskus selber und auch vielen seiner Gefährten geoffenbart worden war, deren apostolisches Leben jeden Argwohn verbietet für alle, die nicht falschen, mißgünstigen und verdrehten Geistes sind. 114

Die Grundlage ¡des Ordens und die Vollkommenheit, die furchtbare Zerstörung und Entkräftung, die glorreiche Auferstehung in der Angleichung an Christi sonnenhaftes Leben — all das stand ihnen nicht durch eine, sondern durch unzählige, für sie unbezweifelbare Offenbarungen so klar vor Augen, daß sie es mit zweifelsfreier Gewißheit versicherten. Wohl zu beachten ist auch das Zeugnis eines gottergebenen heiligen Mannes von größter Vollkommenheit, der in unseren Tagen erstanden ist; was man auch immer über den heiligsten Bruder Johann von Parma erfährt, der General dieses Ordens gewesen ist, hochberühmter Lehrer und mächtiger Prediger, so war er vollendet durch Strenge, Demut und Liebe, durch die Einsamkeit und Hoheit der schauenden Betrachtung, durch die Flucht vor aller weltlichen Annehmlichkeit ; göttlicher Eifer verzehrte ihn, da er die Zerrüttung dieses Zeitalters und der Kirche sah; standhaft bekannte er die Wahrheit und trug um ihretwillen voll Geduld die größten Verfolgungen und Schmähungen; sie hielten ihn auch nicht ab, diese glutvolle Wahrheit vor einigen Päpsten und vielen Kardinälen zu verfechten. So rechnen ihn denn, die da Jesum herzlich lieben und nachahmen, mit Gewißheit und nach Verdienst unter die Eiferer und seraphischen Männer und großen Heiligen der himmlischen Kirche. Nicht die Natur, sondern die Kraft der Gnade stärkte auch noch den Greis in der Leidenschaft der Seele. Ein Jünger des Evangelisten Johannes, wollte er das irrende Asien mit Christus verbinden. Als ihm der Papst jener Zeit die Erlaubnis dazu gegeben hatte, zog er aus und gelangte nach Camerinum in den Marken. Da berief ihn zur himmlischen Glorie Christus Jesus, dem er in der vollkommenen Beobachtung des Evangeliums, der Regel und des Testamentes des armen seligen Franziskus treu gedient hatte. Von seiner Verklärung im Himmel hat in den Wundern seiner verherrlichten Demutsjünger Jesus der Welt soviele Zeugnisse gegeben, daß ich mich selten von einem anderen Heiligen gelesen zu haben erinnere, seine Wunder hätten sich seit langem so vermehrt. Denn er erweckte mehrere Tote, entriß viele bedrohlichster Todesgefahr, kam zu Hilfe den Blinden, Stummen, Tauben, Entmutigten, Bedrängten, Ausgemergelten, oft und in allen 8»

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Nöten und Schwächen; wenn ihn auch die fleischliche Kirche nicht anerkannte, die er heftig anklagte, so erschien er um so reicher in der himmlischen Kirche mit Wunderkraft beschenkt. E r nun versicherte mit aller Bestimmtheit, wie ich es mit meinen unwürdigen Ohren aus seinem heiligen Munde vernommen habe, daß das sechste Siegel in Franziskus und seinem Stand beginnt, und daß die Ungerechtigkeit der Kirche ihren Höhepunkt erreichen mußte, als die Überläufer unter seinen Söhnen und die ihnen wohlgesinnten schlimmen Prälaten seine Lebensform und -regel verwirrten. Dabei meinte er jene Kirche, die nicht Jerusalem und Braut Jesu genannt wird, sondern Babylon und freche Buhlerin, deren Verurteilung den Glanz des Lebens Christi völlig wiederherstellen wird, zu deren Verdammnis in der sechsten Vision der Apokalypse die Heiligen ein feierliches Alleluja singen. Ich glaube aber, daß Jesus, der Verteidiger dieser seiner höchsten Wahrheit, darum so vielfache Wunder gewirkt hat bei der Anrufung jenes hochheiligen Mannes, damit die Wahrheit, die er der fleischlichen Kirche predigte, und die bei den fleischlichen Jüngern des Franziskus so tiefem Haß begegnete, allen mit den Augen des Glaubens Beschenkten als gewiß einleuchtete; voll Demut und voll starken Glaubens sollte man ihr dienen, wenn Gott vom Himmel her unzweifelhaft ihre Richtigkeit erwiese. Ich persönlich, damals noch ein Jüngling, der sich dauernd quälte wegen seiner Abweichungen von der gelobten Lebensführung, empfing aus seinem heiligen Munde, im vierten Jahre vor seinem glücklichen Hinscheiden, ein bezeichnendes Wort, während ich in sein engelhaftes Angesicht schaute. E r sagte: „Sei getrost, mein Sohn; denn bevor vier Jahre verstrichen sind, wird dir Gott ausdrücklich zeigen, wem du folgen sollst, und wessen Wort richtig und ohne Einschränkung zu beobachten ist". Ich war damals in Greccio, wo der engelhafte Mann das Leben eines Engels führte; man feierte grade das Fest des seligen Jakobus, am 25. Juli; ich brach in Wehklagen aus, als ich alle meine Sünden bekannt hatte, und wußte nicht, was ich befolgen sollte; denn die Prälaten der Kirche wie des Ordens duldeten nicht nur jene gelockerte Lebensweise, sondern verlangten sie geradezu. Doch er

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widersprach ihnen ganz und gar, und als ich weinte und, glaube ich, zu seinen heiligen Füßen kniete, sagte er mir zum Abschied, was ich oben berichtete. Vier Jahre später, soviel ich weiß, am 20. März, ging er in treuer Befolgung der Lehre selig in die Ewigkeit ein. Ich lebte damals zurückgezogen, zwiespältig und trauernd über die Unvollkommenheit meiner Lebensführung, bedrückt von der Pflicht der Lesung; da kam plötzlich, zu Pfingsten, als ich an ganz anderes dachte, Bruder Salonion, der Minister der Marken, zu mir und berichtete, daß Johannes, der Heilige Gottes, verschieden sei im Glanz unzähliger Wunder; wenn aber auch mein Geist auf andere Dinge gerichtet war und ich nicht im geringsten an das dachte, was ich von dem Heiligen gehört hatte, fiel mir doch auf einmal, als ob eine Lanze mein Herz durchbohrte, wieder all das ein, was er über die Befolgung der Wahrheit im Geiste Christi gesagt hatte; als wenn ich ihn selber vor mir sähe, so einprägsam sprach er zu mir: „Das ist es, was du befolgen mußt. Denn Gott ist kein Zeuge der Lüge, wenn er meine Lehre bestärkt durch eine solche Menge von Wundern." Soviel sei gesagt zum Andenken und zum Zeugnis des gesegneten heiligen Mannes, der für mich unzweifelhaft auch zu dem Engel des sechsten Siegels gehört; ich möchte annehmen, daß er durch jenen Engel versinnbildet wurde, der dem verwunderten Johannes das Geheimnis des Weibes und des Untiers und die Verurteilung der großen Buhlerin anzeigt (Kap. 17). Aber ich glaube, daß er auch jener Engel sein müsse, von dem es im 19. Kapitel heißt, daß er vom Himmel herabstieg. Denn auch er stieg aus dem Leben des Himmels und dem Bannkreis des Himmelskönigs Jesu herab. Er hatte vor allem eine gewaltige Kraft, das evangelische Leben inmitten der Überläufer zu beobachten und all die verhärteten Führer in ihrer Gottlosigkeit zu erweisen. Aber auch das Erdreich der ganzen Kirche, das er für Christus fruchtbar machen wollte, ist überstrahlt von der Herrlichkeit seines Lebens. Er hatte den Mut, immer wieder herauszuschreien, daß die verruchte Babylon vom wahren Gottesdienst abgefallen war, wie es jenes Kapitel der Apokalypse ausführlich kundgibt; in angestrengter Bemühung ermahnte er das Volk der Auserwählten, aus ihrer Mitte aus-

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zutreten. Darum hatte er auch •— so höre ich — einen besonderen Plan für diejenigen, die Franziskus heiligmäßig nachahmten nach Art des Herrn Jesus Christus, die viele Verfolgungen erduldeten bei der Beobachtung der Regel und des Testamentes ihres Vaters; bei der Unmöglichkeit, inmitten Babylons das Evangelium genau zu beobachten, wollte er sie nach Asien bringen, bis Jesus in seiner Güte sich herablasse, der Kirche Erneuerer des evangelischen Lebens zu gewähren; er sagte ihnen prophetisch voraus, daß sie dort vom Anblick des Sturmes gerettet werden sollten. Aber kehren wir nun zu der Vollkommenheit des Franziskus zurück; ihn erweisen als den Engel des sechsten Siegels nicht nur fremde Zeugnisse, sondern die Vollkommenheit seines Lebens selber. Er stieg vom Aufgang der Sonne herab . . . und trug in besonderer Weise das Zeichen des lebendigen Gottes in den Kreuzeswunden an seinem Leib, die er sich durch sein Christus gleiches Leben gewann. Ganz einzigartig leuchtete das Leben Christi, wie es aus der Beobachtung des Evangeliums hervorgeht, auf in der Kreuzigung, in der tiefen Demut, in der äußersten Armut, in der Inbrunst der Liebe, in dem Verlangen nach unserer Erlösung, durch die Kasteiung seines Fleisches und in der gütigen mitfühlenden Hingabe an die Sünder und Betrübten. Seine größte Vollkommenheit lag in der inneren Pflege und Vervollkommnung der göttlichen Liebe; in ihr war er dauernd der Gottheit zugewandt, mit der er in Person vereint war, und der er andachtsvoll nach Gebühr diente für sich und alle seine Getreuen. In der Härte des Lebens . . . suchte Franziskus, der rechtmäßige Sohn und Nachfolger Christi, die höchste Strenge; in Speise, Kleidung, Wohnung, Schlaf und dergleichen hielt er die sinnlichen Regungen in Schranken ; er gönnte sich kaum das, was zur Selbsterhaltung unerläßlich ist. In langer Buße wuchs er zur Unschuld und bedurfte nicht mehr zur Vermeidung von Ärgernissen der Geißel; trotzdem mutete er sich Härten und Lasten zu und verfuhr, auch schon der anderen wegen, unerbittlich mit sich. So nannte er seinen Leib Bruder Esel; denn dauernd legte er ihm schwere Mühen auf; hart waren Streu und Decken, die er ihm bot, und mit geringer und minderer Nahrung hielt 118

er ihn am Leben. Um der vollkommenen Reinheit des Herzens willen machte er sich von jeder Vertraulichkeit frei, da sie im Innern schaden und nach außen übel wirken könne; so ganz enthielt er sich davon, daß er von kaum einer Frau wußte, wie sie aussah; den Umgang mit Frauen gebot er zu meiden mit allem Eifer, denn er sei Pest für die Reinheit. Er sah sich im Tal der Tränen und lebte ohne Unterlaß im Weinen; so wurde er im Geist so lauter und in den Sinnen so rein, daß er förmlich wieder im Stand der Unschuld zu leben schien. In seiner Legende liest man, daß er gleichsam allen Geschöpfen, auch den unbeseelten, befohlen habe: . . . daß das Feuer seine Glut zügelte, das Wasser den Geschmack veränderte, die Luft in der Nacht hell aufleuchtete, der trockene Stein einen würzigen Quell entließ, daß insgesamt dieElemente dem unschuldigen Franziskus dienstbar waren. In der Tiefe seiner Demut und in der Ausrottung alles weltlichen Ruhmstrebens ahmte er so vollkommen Christus nach, daß er sich und seinen Orden der ganzen Welt unterwerfen wollte; um der Geringste von allen sein zu können, wollte er nichts von der Amtsgewalt der Kirche haben, nur dies, daß er mit ihrer Ermächtigung das heilige Evangelium beobachten dürfe. Das Heil der Seelen suchte er durch die Kraft der Demut zu bewirken und nicht durch irgendein Machtgepränge. Waren ihm auch mehrere Päpste wegen seiner heiligen Ergebenheit wohlgeneigt und zu Willen, so mochte er doch nie ein Privileg erbitten oder annehmen, das seine demutsvolle Unterwerfung hätte mindern können; vielmehr war dies sein Wunsch: sich allen zu unterwerfen und sich so durch demütige Unterwerfung in der Liebe Christi allen hinzuschenken. Denn er wußte, daß die Demut, nachgiebig wie etwas Weiches, das Harte in sich aufnimmt, wenn sie dem Harten weicht, daß aber Hart auf Hart im Widerstand sich gegenseitig zerstören. Darum befahl Franziskus in seinem heiligen Testament allen Brüdern, den Vorstehern wie den Untergebenen, keinen Brief vom Apostolischen Stuhl zu verlangen, weder zur Ausübung der Predigt noch zur Vermeidung von Verfolgungen. Franziskus sagte nämlich in seiner Demut, wenn sie demütig die Bischöfe und Priester um Erlaubnis bäten, so würden sie die Hirten der Kirche 119

durch das Beispiel der Demut erbauen und dazu die eigene Tugend der Vollkommenheit bewahren durch geduldiges Ertragen; wenn aber umgekehrt die Brüder unter dem Schutz eines Privilegs gegen den Willen der Prälaten handelten, so würden sie sich durch solchen Schutz erhaben vorkommen und nicht demütig ausharren; dazu würden sie die hochmütigen Prälaten zum Widerstand und zu ihrer Erniedrigung veranlassen; wenn es aber dann hart auf hart geht, muß nach beiden Seiten Ärgernis entstehen, und unwirksam bleibt das Wort der Wahrheit, sobald in seinem Verkünder nicht das Beispiel der Demut erscheint. Wenn die Prälaten ein-, zwei-, ja dreimal die Brüder am Predigen gehindert haben, diese aber immer voll Geduld und Demut bleiben, so werden sie tatsächlich doch dem Volke predigen und auf die Dauer das harte Herz des Prälaten durch heiliges Beispiel erweichen, bis er die Predigt so heiligmäßiger Brüder nicht nur gestattet, sondern geradezu wünscht und sucht. Dann wird eine solche Predigt mehr erbauen als tausend, die im Streit und in verminderter Demut gehalten werden. So hat es auch Franziskus selber erwiesen, wie in seiner Legende der Fall des Bischofs von Imola zeigt. Ja, das leuchtet klar hervor aus dem Leben des Heiligen, daß es in sich selber eine gewaltige Kraft hatte. Jetzt stützen sich viele auf die Autorität, und viele erheben sich gegen Widersacher. Er aber antwortete laut wehklagend den Brüdern, die ihm zusetzten und sich nicht in so tiefer Demut allen unterwerfen wollten: „Ach, Brüder, ihr meine Brüder, ihr, ja, ihr wollt mir rauben den Sieg über die Welt. Christus entsandte mich doch, um die Welt durch die völlige Unterwerfung unter alle zu bezwingen; durch das Beispiel der Demut sollte ich die Seelen zu ihm führen." Und er fügte hinzu : „Liebe Brüder, wenn ihr euch vor allen demütigt, werdet ihr alle bekehren; die euch ruchlos verfolgen, werden sich Christus zuwenden, wenn eure Geduld sich bewährt, und sich daran genug tun, die Spuren eurer Füße zu küssen . . . " So ähnlich sprach er zu den Brüdern, die er sich fern von allem Prunk der Kirche und standhaft in der Demut wünschte. Darum nannte er sie auch „Minderbrüder", damit sie nicht erwarteten, „Höhere" zu werden. Sie sollten in keiner Weise 120

auf die Prälatenwürde aus sein . . . Wie wahr hat [doch Franziskus prophezeit! Wieviel Übel ist in den Orden hineingekommen durch jenen Aufstieg! Denn darum bemüht man sich, darauf zielt man, deshalb greift Ehrgeiz um sich unter denen, die irgendein Vermögen haben. Deswegen treibt man sich an der Kurie herum, lebt bei den Prälaten, schmeichelt ihnen, denkt nicht an Verzicht, sondern betreibt die Beförderung mit allen Mitteln auf Schleichwegen, durch Heuchelei und krummes Gerede und ist schließlich so weit gekommen, daß Volk und Priester, Kleriker und Ordensmann ganz verfangen erscheinen in dem Getriebe ihres Ehrgeizes. Wenn einer so beginnt, so muß er — das ist klar — verwirren statt erbauen. Das sind nur Andeutungen; es fehlen die Worte, um die Schlechtigkeit des Zeitalters zu schildern. Der demütige Franziskus dagegen wollte zur Bewahrung seiner tiefen Demut und zur Unterbindung künftigen Ehrgeizes nicht zum Priester erhoben werden. Er wußte, daß bis zur Verklärung des sechsten Zeitalters der Geist der Armut nicht wohl auf dem Weg über das Prälatentum die Herrschaft über die Seelen gewinnen könne . . . Zuerst nämlich mußte sich der Stand der Armen in Demut bewähren, damit er später im Prälatentum nicht Hochmut hinzulerne. Viele suchen eine Decke für ihren Stolz: sie hätten ohne Privilegien die Beschwernisse des Klerikerstandes nicht ertragen können. Darauf können wir aus den Worten des seligen Franziskus zweierlei erwidern: einmal, daß es für vollkommene Männer, die sie doch sein sollen, nur ein Beschwernis gibt: in die Sünde getrieben zu werden; nun kann aber niemand ohne seine Zustimmung sündigen. Wenn man sagt, man könne die vielen auferlegten Drangsale der eigenen Unvollkommenheit wegen nicht ertragen, so ist dem entgegen zu halten, daß man dann nicht den Weg zu so großer Vollkommenheit einschlagen und durch die eigenen Unvollkommenheiten den Stand der Vollkommenen untergraben darf. Zum zweiten wäre zu antworten, daß es ihnen erst darum schlecht ging, weil sie den Widerstand gegen die Kleriker einleiteten und zeitliches Gut durch Erwerb und Meßgelder nicht weniger gierig an sich rissen. Hätten sie dagegen sich ihre Demut und Armut bewahrt in aller Reinheit, 121

so würden sie mit Freude die Belästigungen ertragen haben; man konnte ihnen nicht sehr zusetzen, da sie nichts zu verlieren hatten. Außerdem hatte ihnen Franziskus zu fliehen empfohlen, wenn sie irgendwo geschädigt würden, statt mit Hilfe von Privilegien Widerstand zu leisten; sie sollten dann anderswohin gehen und Buße tun. So lehrt er es nach dem Evangelium, an das wir uns gebunden haben, indem er mit Jesus spricht: „Wenn man euch in einer Stadt verfolgt, so flieht in eine andere"; so wiederholt es auch das heiligste Testament des heiligen Vaters Franziskus.

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DAS

HEILIGE

REICH

Texte zur mittelalterlichen Geistesgeschichte. Herausgegeben von Priv.-Doz. Dr. A. D e m p f . Aus mancherlei höchst aktuellen Gründen rückt die alte Reichsidee heute in den Vordergrund des geistesgeschichtlichen Interesses. Wir wissen wieder, was selbst das später herabgekommene Heilige Römische Reich Deutscher Nation immer noch darstellte, fragen aber vor allem, was das Reich in seiner abendländischen Blütezeit von Karl dem Großen bis auf Dante bedeutet hat, was alles geistesgeschichtlich unter seinem Ideal verborgen war; die konkrete abendländische Geschichtsphilosophie, die Symbolik einer transzendenten Weltanschauung von mythischer Weite. Dies soll in dieser Sammlung nach seinen bedeutsamsten, aber fast unbekannten Texten in flüssigen Übersetzungen leicht zugänglich gemacht werden. Neben dem vorliegenden

Bändchen

erschien bereits :

H I L D E G A R D VON B I N G E N . D E R W E G D E R W E L T . In Auswahl übersetzt von Dr. Maria-Louise Lascar. Der Gang der Welt wird in 26 Visionen der größten deutschen F r a u des Mittelalters geschildert. Dies großartigste Werk der symbolischen Weltanschauung im 12. J a h r h u n d e r t ist nach seinem hier möglichst klar herausgestelltenSinn kaum bekannt. Es ist Dantes Weltbild im Geist einer deutschen Seherin, viel herber, weniger poetisch, aber geschaut in mythischer K r a f t , deutsche Romantik s t a t t italienischer Gotik. Weiter sind in V o r b e r e i t u n g : D I E GERMANISCHE R E I C H S I D E E . Die Reichslehre der Karolingerzeit in ausgewählten Dokumenten. Übersetzt von Wolfram von den Steinen. JOACHIM VON F L O R I S . Das dritte Reich. I n Auswahl übersetzt von Dr. Maria Louise Lascar. D I E D E U T S C H E N R E I C H S T H E O R E T I K E R D E R DANTEZ E I T . I n Auswahl übersetzt. NICOLAUS VON CUES. Concordantia catholica. I n Auswahl übersetzt.

SACRUM IMPERIUM Geschichts- und Staatsphilo sophie des Mittelalters und der politischen Renaissance von AloiB D e m p f . 590 Seiten. Gr.-8°. 1929. Broschiert M. 20.—, in Leinen geb. M. 22.50. Aus dem I n h a l t : I. E I N F Ü H R U N G . Vier Kapitel einer positiven Sozialphilosophie. 1. Zeitund Reichsbewußtsein. 2. Formen der Öffentlichkeit. 3. Volkspersönlichkeit. 4. Die geschichtliche Wirklichkeit. II. D I E M I T T E L A L T E R L I C H E N GESCHICHTS- U N D G E M E I N SCHAFTSLEHREN. I. Die Grundbegriffe der christlichen Geschichtstheologie. 2. Die Entstehung der altchristlichen Kirchenverfassung und Geschichtsphilosophie. 3. Aurelius Augustinus. 4. Die germanische Reichsidee. 5.Die Einheit und Freiheit der Kirche. 6. Der deutsche Symbolismus des 12. Jahrhunderts. 7. Joachim von Floris. 8. Christ und Antichrist, die Krise des Mittelalters. 9. Die philosophische Renaissance. 10. Bonaventura und Thomas von Aquin. III. D I E P O L I T I S C H E RENAISSANCE. 1. Die Altliberalen. 2. Die Kurialisten. 3. Die Konservativen. 4. Die Traditionalisten. 5. Die politische Reformation. L i t e r a r i s c h e r H a n d w e i s e r : Von den beiden starken Polen historischer Forschung, der Quellenedition und der synthetischen Darlegung hat die letztere seit einer Reihe von Jahren einen Großteil der produktiven Kraft wieder an sich gezogen . . . Es gilt mit einer überdurchschnittlichen Quellenkenntnis die Naivität im Schillerschen Sinne sich zu bewahren und jede Sentimentalität auszuschalten. Dies ist Dempf in erstaunlichem Maß gelungen, er ist wirklich ein mittelalterlicher Mensch geworden und hat sich hierdurch die seltsame Eignung erworben, Ideen und Taten in diesem heiligen Reich richtig zu deuten . . . Das Buch selbst aber ist ein mächtiges Gebäude der mittelalterlichen Geschichts- und Gemeinschaftslehren geworden . . . . A b e n d l a n d : Wir besitzen kein Buch eines katholischen Gelehrten über das Mittelalter, das es mit dieser Methode erfaßt, die den Historismus dadurch überwindet, daß sie ihn metaphysisch einordnet . . . Ich glaube, daß das Werk damit die Prolegomena zur Geschichtsphilosophie darstellt, welche wir so nötig haben und welche nicht durch schöne Programmschriften zu ersetzen sind. Dempf hat nicht nur wie so viele — um das Bild Lotzes zu gebrauchen — die berühmten methodologischen Messer gewetzt, er hat gleich geschnitten — und der Schnitt durch das Mittelalter und das christliche Altertum ist gelungen, ein Ansporn für weitere Arbeiten und Bemühungen katholischer Philosophen und Historiker.

HANDBUCH DER PHILOSOPHIE Herausgegeben von A. Baeumler u. M. Schröter Seither erschienene

Sonderausgaben:

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Philosoph. Jahrbuch der Görresgesellschaft: Weyls Beitrag zum Handbuch der Philosophie stellt eine Leistung von solcher Bedeutung dar, daß ihr gründliches Studium f ü r jeden, der Uber die Probleme der Philosophie der Mathematik zur Klarheit kommen will, unerläßlich ist. E T H I K DES ALTERTUMS. Von Prof. Dr. Ernst Howald. 64 S„ Lex.-8». 1927. Kart. M. 3.—. Theologischer Literaturbericht: Mit souveräner Beherrschung der philologischen Unterlagen hat Ernst Howald eine instruktive enzyklopädische Skizze von den bedeutsamsten ethischen Gedanken der Antike gegeben. Überall spürt man eine kritische Verwertung der neuesten Spezlalforschung... E T H I K DES MITTELALTERS. Von Priv.-Doz. Dr. A. Dempf. 112 S„ Lex.-8». 1927. Kart. M. 5.25. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung:... Der stolze Bau der mittelalterlichen Ethik wird In dem vorliegenden Buche mit wissenschaftlicher Sorgfalt und in eingehender geistesgeschichtlicher Würdigung meisterhaft a u f g e f ü h r t . . . E T H I K DER NEUZEIT. Von Prof. Dr. Theodor Litt. 184 S„ Lex.-8«. 1927. Kart. M. 8.70. Archiv f ü r die gesamte Psychologie: . . . Mit der dem Verfasser eigentümlichen gedanklichen Klarheit und begrifflichen Schärfe ersteht auf dem Hintergrunde dieser Gesamtentwicklung der ethischen Idee das besondere System . . . nach Abhängigkeit und Wirkungsmöglichkelten kritisch durchforscht und auf diese Welse wieder in Beziehung zum Ganzen gesetzt. Der Historiker und der Systematiker ergänzen sich In reizvollem Wechselspiel. RELIGIONSPHILOSOPHIE EVANGELISCHER THEOLOGIE. Von Prof. Dr. Emil Brunner. 100 S., Lex.-8\ 1927. Kart. M. 4.80. Christentum und Wissenschaft: . . .Erfrischend und stark wirkt die reformatorische Klarheit, Entschiedenheit und Tiefe... Ein tapferes Bekenntnis — ganz im Sinne und Geiste Luthers. RELIGIONSPHILOSOPHIE KATHOLISCHER THEOLOGIE. Von P. Erich Przywara. S. J. 104 S., Lex.-R». 1927. Kart. M. 5.—. Kölnische Volkszeitung: Mit einer erstaunlichen Gelehrsamkeit und einem seltenen Weltblick hat Przywara auf diesen 104 Seiten die Grundlagen des Gesamtgebietes der katholischen Rellgionsphilosophle bearbeitet... GESELLSCHAFTSPHILOSOPHIE. Mit einem Anhang über die philosophischen Voraussetzungen der Wirtschaftswissenschaften. Von Prof. Dr. O. Spann. 188 S., Lex.-8». 1928. Kart. M. 8.85. Es gab bisher keinen Abriß der Gesellschaftsphllosophle. Wir müssen daher Othmar Spann für seine Arbelt um so dankbarer sein, denn Jede Philosophie ist genötigt, das Gemeinschaftsleben der Menschen auf seinen Grund zurückzufahren und wird damit zur Gesellschaftsphilosophie. RECHTSPHILOSOPHIE. Von Prof. Dr. Arthur Baumgarten. 90 S., Lex.-8*. 1929. Kart. M. 4.25. Schwelzerische Juristenzeitung: . . . aber auch wo man ablehnen muß, ist man dem Verfasser für die klaren und wirklichkeitsgesättigten, nicht bloß formallogischen, an den Dingen selbst vorbeigehenden Problemstellungen dankbar. Nur durch solche Rede und Gegenrede kann die Rechtsphilosophie zum sozialen Fortschritt beitragen. DIE GEDANKENWELT DES CHINESISCHEN K U L T U R K R E I S E S . Von Prof. Dr. Alfred Forke. 215 S„ Lex.-8«. 1927. Kart. M. 10.—. Orientalische Literaturzeitung: In diesem ebenso klar geschriebenen wie aus gründlicher wissenschaftlicher Erkenntnis hervorgegangenen Buch hat der Verfasser, der als Autorität auf dem Gebiete chinesischer Philosophie bekannt Ist, die Resultate seines lebenslangen Studiums zu einer überaus brauchbaren und lesenswerten Synopsis zusammengefügt und dadurch nicht nur der Sinologie sondern auch der Philosophie einen großen Dienst erwiesen. Ausführlicher Prospekt über das Sammelwerk selbst kostenlos!

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