Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens [1 ed.] 9783428500550, 9783428100552

Deutschland mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hitler: Rechtsextremisten marschieren auf, Nazi-Symbole werden gezeigt,

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Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens [1 ed.]
 9783428500550, 9783428100552

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 129

Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens Von

Thomas Wandres

Duncker & Humblot · Berlin

T H O M A S WANDRES

Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 129

Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

Von

Thomas Wandres

Duncker & Humblot · Berlin

Aufgenommen in die Reihe von den Herausgebern Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wandres, Thomas:

Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens / Thomas Wandres. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 129) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10055-7

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10055-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Untersuchung wurde im Sommersemester 1999 von der rechts wissenschaftlichen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Die nach Abschluß der Arbeit im Herbst 1998 erschienene Rechtsprechung und Literatur konnte größtenteils bis Sommer 1999 berücksichtigt werden. An erster Stelle gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Gerhard Werle, der das Thema der Arbeit angeregt und ihre Entstehung mit konstruktiver Kritik begleitet hat. Als Mitarbeiter seines Lehrstuhls an der Humboldt-Universität zu Berlin habe ich über Jahre jede erdenkliche Unterstützung und eine herausgehobene Förderung erfahren. Von Gerhard Werle habe ich in jeder Hinsicht sehr viel gelernt. Besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder, der die Untersuchung in der Schlußphase betreut und schließlich begutachtet hat. Seinem unbestechlichen Blick verdanke ich zahlreiche Verbesserungen. Außerdem bedanke ich mich bei ihm und seinem Mitherausgeber Herrn Prof. Dr. Eberhard Schmidhäuser für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe „Strafrechtliche Abhandlungen N.F.". Für die rasche Erstattung des Zweitgutachtens danke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Hoyer. Auch sonst habe ich von vielen Unterstützung erfahren, insbesondere dadurch, daß sie einzelne Passagen der Arbeit gelesen und mir kritische Ratschläge gegeben haben. Zu nennen sind Ken Eckstein, Olaf Hohmann, Guido Klumpp, Janine Nuyken, Stephan Wernicke und Martina Würker. Für den internationalrechtlichen Teil gaben mir Patrick Steinke und Andreas Ueltzhöffer wertvolle Hinweise. Von Herzen danke ich Uta Franziska, meiner lieben Frau, die mich mit unerschütterlicher Gelassenheit durch Höhen und Tiefen begleitet hat. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern, denen ich nicht genug danken kann. Thomas Wandres

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

19

Erster Teil Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen A. Einführung

21

I. Auschwitz und die Zeitgeschichtsforschung

24

1. Historisierung des Nationalsozialismus

25

2. Intentionalismus und Strukturalismus

28

3. Externe Verantwortungszuschreibung

32

4. Singularität des Holocaust

35

5. Unsicherheit der Quellenlage

39

6. Opferzahlen

43

7. Auschwitz-Erklärungen

46

II. Auschwitz und die bundesdeutsche Justiz III. Geschichte als Identifikationsfaktor

50 54

1. „Bewältigung" der Vergangenheit

55

2. Vergangenheitspolitik und Volkspädagogik

62

IV. Auschwitz-Leugnen als internationales Phänomen B. Erscheinungsformen I. Eine kurze Geschichte des Auschwitz-Leugnens II. Systematisierung der Erscheinungsformen 1. Bloßes Auschwitz-Leugnen a) Geschichtskritik oder Geschichtsklitterung?

66 70 71 79 80 80

nsverzeichnis

8

aa) Die Selbstetikettierung ernstgenommen

81

bb) Klare Fälle

82

cc) Weiteres Vorgehen

83

b) Methoden des radikalen Revisionismus

83

aa) Vom Detail aufs Ganze

84

bb) Hochrechnen, Herunterrechnen, Aufrechnen

85

cc) „Untaugliche", „fehlende" und „überlegene" Beweise

86

dd) Pauschale Fälschungsvorwürfe

90

c) Zusammenfassung und Systematisierung

91

2. „Auschwitz-Lüge"

93

3. Ableitung aktueller Konsequenzen aus dem radikal-revisionistischen Geschichtsbild

!

94

a) Anknüpfen an die nationalsozialistische Rassenideologie

94

b) Hervorrufen aktueller Pogromstimmung

95

C. Terminologie

96

I. Bisherige Bezeichnung der Erscheinungsformen

96

1. „Einfache Auschwitz-Lüge"

96

2. „Qualifizierte Auschwitz-Lüge"

97

II. Neue Bezeichnung der Erscheinungsformen

97

1. Bloße radikale Geschichtsrevision

98

2. Radikale Geschichtsrevision Angriffe

als Instrument

persönlichkeitsbezogener

3. Radikale Geschichtsrevision als Instrument schwerer Rechtsgutsgefährdungen

98 98

Zweiter Teil Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens A. Einführung I. Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes 1. Beleidigungsunrecht a) Individualbeleidigung b) Beleidigung mehrerer

100 100 102 102 103

aa) Kollektivbeleidigung

103

bb) Sammelbeleidigung

104

nsverzeichnis 2. Volksverhetzungsunrecht

104

3. Strafprozessuale Besonderheiten

105

II. Gesetzgebungsgeschichte bis zum Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994

105

1. 1960-Der Volksverhetzungstatbestand entsteht

106

2. 1985 - Das Antragsrecht der Beleidigungstatbestände wird modifiziert ....

110

3. 1994 - Die Spezialvorschrift § 130 Abs. 3 StGB wird geschaffen

113

B. Stand der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

123

I. Die Rechtslage vor dem Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994

123

1. Rechtsprechung

123

a) Beleidigung (§§ 185 ff. StGB)

123

b) Volksverhetzung (§ 130 a.F. StGB)

128

2. Literatur

129

a) Beleidigung (§§ 185 ff. StGB)

130

b) Volksverhetzung (§ 130 a.F. StGB)

132

II. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994

134

1. Der Regelungsgehalt des neuen § 130 StGB

134

2. Die Reaktion auf den neuen § 130 StGB

139

C. Strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens im Ausland I. Die Rechtslage in ausgewählten Staaten

142 142

1. Belgien

143

2. Dänemark

144

3. Frankreich

145

4. Großbritannien

148

5. Kanada

149

6. Luxemburg

150

7. Niederlande

151

8. Österreich

152

9. Schweden

153

10. Schweiz

154

11. Tschechien

155

12. USA

156

II. Unterschiede und Gemeinsamkeiten

157

10

nsverzeichnis Dritter Teil Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

A. Die Rechtsgutslehre als „strafrechtliches Verfassungsrecht" I. Überblick über den Stand der Rechtsgutslehre II. Die personale Rechtsgutslehre als Maßstab „richtiger" Strafgesetze

161 163 167

1. Individualrechtsgüter

169

2. Universalrechtsgüter

170

3. Sonderfälle

172

III. Zusammenfassung und Stellungnahme

174

B. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

177

I. Beleidigung (§§ 185 ff. StGB)

177

1. Geschütztes Rechtsgut a) Handlungs-und Verletzungsobjekt b) Inhaltsbestimmung

177 179 180

aa) Schwerpunkt im Faktischen

181

bb) Schwerpunkt im Normativen

182

cc) Integration der beiden Aspekte des Ehrbegriffs

184

2. Tatbestandsmäßige Handlung a) § 185 StGB (Beleidigung i.e.S.) aa) Bloße radikale Geschichtsrevision (1) Absprechen des Opferschicksals

184 186 186 188

(2) Inzidenter Lügenvorwurf

190

(3) Korrektur durch § 194 Abs. 1 StGB?

191

(4) Nachgeborene als Beleidigungsopfer?

192

(5) (Zwischen-)Ergebnis

194

bb) Radikale Geschichtsrevision als Instrument persönlichkeitsbezogener Angriffe

195

cc) Radikale Geschichtsrevision als Instrument schwerer Rechtsgutsgefährdungen 196 b) §§ 186 f. StGB (Üble Nachrede, Verleumdung)

196

aa) Historische Wahrheit

198

bb) „Geschichtsfälschung"

198

c) (Zwischen-)Ergebnis

200

nsverzeichnis 3. Beleidigung von Personenmehrheiten

201

a) Kollektivbeleidigung

202

b) Sammelbeleidigung

203

aa) „Große" Gruppen

204

bb) Gesellschaftliche Minderheiten

204

4. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB)

207

5. Strafantrag (§ 194 StGB)

208

6. Ergebnis

209

II. Volksverhetzung (§ 130 StGB) 1. Geschütztes Rechtsgut

210 211

a) Originäre statt abgeleitete Inhaltsbestimmung

212

b) Öffentlicher Friede

213

aa) Gesellschaftsorientierter Friedensbegriff

214

bb) Gefahrorientierter Friedensbegriff

216

( 1 ) Hypothetischer Polizeibeamter (2) Doppelter Gefahrbegriff c) Andere Rechtsgüter

218 221 222

d) Vorverlegung von Rechtsgüterschutz

224

aa) Konkretes Gefährdungsdelikt

224

bb) Abstraktes Gefährdungsdelikt

225

2. Tatbestandsmäßige Handlung a) § 130 Abs. 3 StGB aa) Abstrakter Gefährdungstatbestand

228 228 229

(1) Gesetzeswortlaut: „Leugnen" oder „Verharmlosen" nationalsozialistischer Völkermordhandlungen 229 (2) Einschränkende Auslegung bereits des Gefährdungstatbestandes ;. 231 (3) Gesetzessystematik

233

(4) Genetische und historische Aspekte

234

(5) Teleologische Aspekte

235

(6) Korrektur durch weitergehende Ziele des Gesetzgebers?

237

(a) Sonderfall der Sammelbeleidigung

238

(b) Schutz der historischen Wahrheit

239

(c) Tabuschutz

242

(d) Resümee

244

(7) Reichweite der Tatbestandsalternative „Verharmlosen"

245

(8) (Zwischen-)Ergebnis

246

12

nsverzeichnis bb) Geeignetheit zur Friedensstörung

247

(1) Erscheinungsformen 2 und 3

249

(2) Erscheinungsform 1

251

(a) Totalleugnung des Holocaust (b) Leugnung der Gaskammertötungen (3) (Zwischen-)Ergebnis

251 253 255

b) § 130 Abs. 1 StGB

256

aa) Erscheinungsformen 1 und 3

256

bb) Erscheinungsform 2

257

cc) (Zwischen-)Ergebnis

259

3. Besonderheiten des Verbreitens von Schriften

260

4. Anwendung des § 86 Abs. 3 StGB

262

a) Mündliche Äußerungen und identifizierende schriftliche Darlegungen .. 262 b) Verbreiten von Schriften etc

263

c) Resümee

263

III. Sonderproblem: Der Überzeugungstäter

264

1. Maßgeblicher Personenkreis

265

2. Juristische Konsequenzen

266

a) Tatbestands-, Rechtfertigungs- oder Schuldlösung

266

b) Strafzumessung

268

IV. Zusammenfassung und Konkurrenzen

269

C. Strafprozeß: Allgemeinkundigkeit des Holocaust Vierter

270

Teil

Verfassungsmäßigkeit des Strafrechts gegen das Auschwitz-Leugnen A. Bestimmtheitsgebot, Art. 103 Abs. 2 GG

275

B. Meinungsfreiheit, A r t 5 Abs. 1 GG

276

I. Schutzbereichsbestimmung

277

1. Werturteile

277

2. Tatsachenbehauptungen

278

a) Grundsatz der Nichteinbeziehung bewußt oder erwiesen unwahrer Tatsachenbehauptungen 278 b) Historische „Tatsachen"-Behauptungen 3. Resümee

280 284

nsverzeichnis II. Eingriff

285

III. Schranken

286

1. Art. 5 Abs. 2 GG a) „Allgemeine Gesetze" aa) Überblick

286 287 287

(1) Formale Kriterien

287

(2) Materiale Kriterien

288

(3) Kombination von formalen und materialen Kriterien

289

bb) Eigene Lösung

290

cc) Resümee

292

(1) Hier vertretene Lösung (Strafbarkeit der Erscheinungsformen 2 u. 3) 292 (2) Abzulehnende erweiterte Auslegung (Strafbarkeit der Erscheinungsform 1) 293 b) Recht der persönlichen Ehre

294

aa) Hier vertretene Lösung (Strafbarkeit der Erscheinungsformen 2 u. 3) 294 bb) Abzulehnende erweiterte Auslegung (Strafbarkeit der Erscheinungsform 1) 294 ( 1 ) Übliche Schrankenanwendung (2) Spezifisch verfassungsrechtlicher Ehrbegriff? 2. Verfassungsimmanente Schranken

294 295 296

a) Staatssymbol „Auschwitz"

297

b) „Wehrhafte Demokratie"

298

c) Resümee

300

C. Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG I. Schutzbereich und Eingriff II. Resümee

300 300 302

D. Ergebnis der verfassungsrechtlichen Betrachtung

303

Zusammenfassung und Ausblick

304

Literaturverzeichnis

308

Sachwortregister

332

Abkürzungsverzeichnis a. Α.

anderer Ansicht

a. a. Ο.

am angegebenen Ort

Abg.

Abgeordnete/r

abgedr.

abgedruckt

Abs.

Absatz (bei Rechtsvorschriften)

abw.

abweichend

a.D.

außer Dienst

a.E.

am Ende

a.F.

alte Fassung

al.

alinéa (bei französischen Rechtsvorschriften)

Alt.

Alternative (bei Rechtsvorschriften)

Anm.

Anmerkung

ArchCrimR

Archiv für Criminalrecht (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite)

Art.

Artikel (bei Rechtsvorschriften)

AT

Allgemeiner Teil

Aufl.

Auflage

Aussch.

Ausschuß

Az.

Aktenzeichen

BAnz.

Bundesanzeiger (zit. nach Jahr und Nr.)

Bd.

Band

Bearb.

Bearbeiter/in

Beschl.

Beschluß

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zit. nach Band und Seite)

BGHSt BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (zit. nach Band und Seite)

BK

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BMJ

Bundesminister/in der Justiz, Bundesministerium der Justiz

BRat-Drs.

Bundesratsdrucksache (zit. nach Nr./Jahr)

BReg.

Bundesregierung

BT

Besonderer Teil, Deutscher Bundestag Bundestagsdrucksache (zit. nach Wahlperiode/Nr.) Bundestags-Protokoll(e) (zit. nach Wahlperiode / Nr. der Sitzung und Datum) Buch und Bibliothek (zit. nach Jahr und Seite)

BT-Drs. BT-Prot. BuB

Abkürzungs Verzeichnis Buchst.

15

Buchstabe

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zit. nach Band und Seite)

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

ders.

derselbe

d. h.

das heißt

dies.

dieselbe

DStR

Deutsches Strafrecht N.E (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite)

DuR

Demokratie und Recht (zit. nach Jahr und Seite)

E

(Gesetz-)Entwurf

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 1950)

entspr.

entsprechend, entspricht

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift (zit. nach Jahr und Seite)

f.

folgende Seite

ff.

folgende Seiten

FG

Festgabe

Fn.

Fußnote(n)

FS

Festschrift

G

Gesetz

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Gesellschaft (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite)

GK

Grundkurs

GS

Gedächtnisschrift

GVB1. GWU

Gesetz- und Verordnungsblatt Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite) Handbuch des Staatsrechts

HdbStR Hervorheb.

Hervorhebung

h.M.

herrschende Meinung

HRLJ

Human Rights Law Journal (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite)

hrsg., Hrsg.

herausgegeben, Herausgeber/-in

i.d.F.

in der Fassung

i.e.S.

im engeren Sinne

i. Orig.

im Original

IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 1966

i.w.S.

im weiteren Sinne

i.S.

im Sinne

i.V.m.

in Verbindung mit

Abkürzungsverzeichnis

16 IYHR

Israel Yearbook on Human Rights (zit. nach Jahrgang, Jahr und Seite)

JCP

La Semaine Juridique Generale (zit. nach Jahr, Rubrik und Nr. des

JR

Juristische Rundschau (zit. nach Jahr und Seite)

Beitrags) JuS

Juristische Schulung (zit. nach Jahr und Seite)

JZ

Juristenzeitung (zit. nach Jahr und Seite)

KJ

Kritische Justiz (zit. nach Jahr und Seite)

krit.

kritisch

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (zit. nach Jahr und Seite)

LdR

Lexikon des Rechts

LG

Landgericht

lit.

Buchstabe (littera, bei Rechtsvorschriften)

LK

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch

MfS

Ministerium für Staatssicherheit (DDR)

MichiganLR

Michigan Law Review (zit. nach Band, Jahr und Seite)

m. Nachw.

mit Nachweisen

MSchrKrim

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zit. nach Jahr und Seite)

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

m. zahlr. Bsp.

mit zahlreichen Beispielen

Nachw.

Nachweise

n.F.

neue Fassung

N.F.

Neue Folge

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)

ΝΚ

Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch

Nr., Nrn.

Nummer, Nummern

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)

öfftl.

öffentliche /en/er/es)

OLG

Oberlandesgericht

Prot.

Protokoll(e)

RG

Reichsgericht

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zit. nach Band und Seite)

Rn.

Randnummer

ROW

Recht in Ost und West (zit. nach Jahr und Seite)

Rspr.

Rechtsprechung

RuP

Recht und Politik (zit. nach Jahr und Seite)

S.

Satz, Seite

s.

siehe

Sitz.

Sitzung

SK

Systematischer Kommentar

StÄG

Strafrechtsänderungsgesetz

Abkürzungsverzeichnis StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StrR

Strafrecht

StV

Strafverteidiger (zit. nach Jahr und Seite)

u. a.

und andere, unter anderem

UN-AMR

Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen

Urt.

Urteil

v.

vom, von

VerbrBekG

Verbrechensbekämpfungsgesetz

vgl.

vergleiche

WRV

Weimarer Reichsverfassung

ζ. B.

zum Beispiel

ZBJV

Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (zit. nach Jahr und Seite)

zit.

zitiert

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik (zit. nach Jahr und Seite)

Zusf., zusf.

Zusammenfassung, zusammenfassend

zust.

zustimmend

2 Wandres

Einleitung Deutschland mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hitler: Rechtsextremisten marschieren öffentlich auf, unter ihnen viele junge Leute. Nazi-Symbole werden gezeigt, Parolen skandiert, Kampflieder gesungen. Noch mehr erschrecken die Gewalt· und Haßausbrüche, deren Opfer vor allem Ausländer und andere Minderheiten sind. Man ist sich unter Demokraten einig, daß es so etwas in Deutschland nicht mehr geben darf. Die Erwartungen der Öffentlichkeit richten sich nicht zuletzt auf Polizei und Justiz. Konsequente Anwendung der vorhandenen, notfalls Verschärfung der Strafgesetze lautet die einhellige Forderung. Die geistigen Wurzeln dieser bestürzenden Erscheinungen sind rasch ausgemacht: Es ist der längst totgeglaubte nazistische Ungeist, der auf rätselhafte Weise zu neuem Leben erwacht ist. Warum läßt sich diesem Ungeist neues Leben einhauchen, wo doch gerade die Deutschen wissen müßten, wozu er führt? Kann jemand ernsthaft glauben, diese Ideologie könne auch nur eine Spur anders enden als sie schon einmal geendet ist? Ein Blutstrom durch das in Trümmern liegende Europa, die Zerschlagung deutscher Staatlichkeit und die grundstürzende moralische Diskreditierung des deutschen Volkes angesichts eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs und kaltblütig geplanter und ausgeführter, jede menschliche Vorstellung übersteigender Massenverbrechen sind doch, so sollte man meinen, Warnung genug. Wem die Schreckensbilanz des Dritten Reiches vor Augen steht, der müßte nach menschlichem Ermessen für alle Zeiten gegen die Nazi-Ideologie immun sein. In diesen Zusammenhang, so scheint es, fügen sich die Umtriebe der Auschwitz-Leugner bruchlos ein. Wer öffentlich von einer „Auschwitz-Lüge" faselt und die Deutschen auffordert, jede Verantwortung von sich zu weisen, weil das deutsche Volk „in Wahrheit" gar keine historische Verantwortung trage, konterkariert die jahrzehntelangen Bemühungen politischer Aufklärung und Bildung in Deutschland. Hinzu kommt die Angst, das mühsam und in kleinen Schritten erworbene Vertrauen der Völkergemeinschaft in die deutsche Demokratie könne durch derartige Aktivitäten auf einen Schlag beschädigt werden. Denn das uneingeschränkte Bekenntnis zur unrühmlichen Geschichte und die Pflege der Erinnerung sind Grundpfeiler offizieller deutscher Politik nach 1945. Die Versuchung ist groß, Auschwitz-Leugnern kurzerhand einen strafbewehrten Maulkorb zu verpassen. Vielleicht ist da ein Moment des Zögerns, ob so etwas unter freiheitlich-demokratischen Verhältnissen in Ordnung gehe, doch kann man sich rasch damit trösten, es treffe schon keinen Falschen. Denn verhöhnen nicht die Auschwitz-Leugner in unverschämter Weise die Opfer des Nationalsozialis2*

20

Einleitung

mus? Sabotieren sie nicht das Bemühen um Versöhnung zwischen Deutschen und Juden? Und sind sie nicht sogar, genau genommen, die „geistigen Brandstifter" neonazistischer Gewalt? Was noch viel schlimmer wiegt: Sie leugnen hartnäckig, obwohl das Gegenteil ihrer Behauptungen offenkundig feststeht. Wissen wir nicht ganz genau, was in Auschwitz geschehen ist? Wer die Gaskammertötungen an Juden leugnet, kann eigentlich nur ungebildet oder von bösartiger Gesinnung sein. Gerade weil die wesentlichen Zusammenhänge beim Auschwitz-Leugnen so klar scheinen, ist es keine Überraschung, daß man in Deutschland der eingangs beschriebenen Versuchung nicht widerstehen konnte und im Jahre 1994 mit § 130 Abs. 3 StGB eine spezielle Strafnorm gegen das Auschwitz-Leugnen geschaffen hat. Wenn alles so offenkundig, klar und ohne jeden Zweifel ist, warum dann diese Untersuchung? Vielleicht war der erste Impuls, daß dem Juristen bei einer auffällig häufigen Verwendung bekräftigender Attribute instinktiv unwohl wird. Schon so manches im Tonfall der Überzeugung vorgetragene Urteil hat sich bei näherer Betrachtung als bloßes Vor-Urteil entpuppt. Damit soll nicht gesagt werden, daß Vorurteile nicht legitim wären - für viele Lebensbereiche sind sie sogar unentbehrlich. Als Basis für eine strafgerichtliche Verurteilung reicht aber ein Vorurteil auf gar keinen Fall, auch wenn es von der überwältigenden Mehrheit geteilt wird. Denn mit dem Strafrecht schwingt der Staat sein schärfstes Schwert. Den wichtigsten Anstoß zu dieser Untersuchung hat aber ein anderer Umstand gegeben. Mitten in der deutschen Hauptstadt liegt der Platz, auf dem die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 triumphierend die Bücher ihrer Gegner in Flammen aufgehen ließen. Das Gebäude, in dem heute die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin untergebracht ist, befindet sich direkt am Rand dieses Platzes. Vom Schreibtisch aus kann man die Touristen beobachten, die das von Micha Ullman gestaltete Mahnmal besichtigen. Es handelt sich um eine ebenerdig eingelassene Glasplatte, durch die man Einblick in einen unterirdischen Raum mit gähnend leeren Bücherregalen hat. Auch Auschwitz-Leugner haben über ihre eigenwillige Geschichtsauffassung Bücher geschrieben. Diese Bücher werden im Zuge von Strafverfahren beschlagnahmt, bei einer Verurteilung eingezogen und unbrauchbar gemacht. Wenn in Deutschland im staatlichen Auftrag Bücher vernichtet werden, so sollte man dafür eine besonders solide Rechtfertigung haben. Dazu will diese Untersuchung einen Beitrag leisten. Wer meint, die Mühe lohne sich nicht, sollte in Berlin einen Blick über die Schultern der Bebelplatz-Touristen werfen. Er wird in einen Abgrund sehen.

Erster Teil

Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen A. Einführung Der Gegenstand dieser Arbeit ist die „Auschwitz-Lüge". So wird das, was hier auf seine strafrechtliche Relevanz untersucht werden soll, inzwischen allgemein genannt - bisweilen mit dem Zusatz „sogenannte" Auschwitz-Lüge. Wenn sich ein Begriff für die Beschreibung eines empirischen Phänomens eingebürgert hat, hat es wenig Sinn, ihn einfach zu ignorieren. Eine Präzisierung ist freilich unvermeidlich, weil der Terminus in mehrfacher Hinsicht ungenau ist. Auschwitz, der Name de$ größten Konzentrations- und Vernichtungslagers des nationalsozialistischen Deutschland, ist heute zum Begriff für den millionenfachen Völkermord an den europäischen Juden, aber auch an anderen Volksgruppen während des Dritten Reiches geworden. Der Begriff „steht für Brutalität und Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung, für die in perverser Perfektion organisierte »Vernichtung' von Menschen".1 Wenn nun einzelne von der „Auschwitz-Lüge"2 reden, so sagen sie damit zunächst, Auschwitz sei eine Lüge. Damit wird, das liegt auf der Hand, nicht die Existenz des Lagers Auschwitz im heutigen Polen in Frage gestellt, sondern die Realität des unter anderem an diesem Ort begangenen Völkermordes während des Zweiten Weltkrieges, für den Auschwitz heute als plakative Bezeichnung steht. Verfechter der ,Auschwitz-Lüge" behaupten, die Völkermordtaten hätten nicht, nicht im bekannten Ausmaß oder jedenfalls nicht mittels Massenvergasungen stattgefunden. Wer von einer „Auschwitz-Lüge" redet, bezichtigt also genau betrachtet diejenigen der Lüge, welche die historischen Kerntatsachen des Völkermordes für unumstößlich wahr halten und dieser Überzeugung Ausdruck verleihen. Das ist die Auffassung der überwältigenden Mehrheit nicht nur des deutschen Volkes, so daß es sich bei den Verfechtern der ,Auschwitz-Lüge" ohne Zweifel um eine oppositionelle Minderheit handelt. Genau betrachtet enthält das Etikett „Auschwitz-Lüge" also ein über das Bestreiten etablierter historischer Tatsachen hinausgehendes Element, nämlich in letzter Konsequenz den Vorwurf, es gebe Kreise, die dem deutschen Volk und der 1

So der seinerzeitige Bundespräsident Herzog in seiner Ansprache zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 19. Januar 1996 im Deutschen Bundestag. 2 Der Begriff entstammt dem Titel einer 1973 erschienenen Broschüre von Thies Christophersen; siehe unten Erster Teil, Β. I., S. 71.

22

1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

Weltöffentlichkeit eine Geschichtsfälschung vorgesetzt hätten. Wer anklagend von einer „Auschwitz-Lüge" spricht, bestreitet damit also nicht lediglich die Tatsachengrundlage des etablierten Geschichtsbildes, sondern behauptet darüber hinaus, der Holocaust sei lediglich eine böswillige Erfindung, eine Art besonders hinterhältiger Propaganda. Geschürt sei diese Propaganda, so kann man die Verfechter der „Auschwitz-Lüge" raunen hören, von den politischen Erzfeinden Deutschlands. Böse Absichten stünden dahinter, vor allem der Wunsch nach ungehindertem Zugriff auf die inzwischen wieder wohlgefüllten deutschen Kassen. Während die Propagandisten der „Auschwitz-Lüge" noch an den Stäben ihres Gedankenkäfigs rütteln, durchschaut man bereits, welches Gebäude sie auf diesen geistigen Fundamenten zu errichten gedenken: Das alte Schreckgespenst einer „Weltverschwörung" wird aus der Versenkung geholt3 und treibt, kaum zum Leben erweckt, seinen verwirrenden Spuk in den verwirrten Köpfen. Diese weitergehende Dimension des eingebürgerten Begriffs „Auschwitz-Lüge" ist für die juristische Bewertung einer einschlägigen Äußerung möglicherweise nicht unerheblich. Insofern ist höchste sprachliche Präzision vonnöten, um das Gesamtphänomen in allen seinen Erscheinungsformen richtig erfassen und im Anschluß daran bewerten zu können. Verwendet man für alle Positionen, welche Kritik am etablierten Geschichtsbild des Holocaust üben, vorschnell den Begriff „Auschwitz-Lüge", wird dieser mehrdeutige Terminus zum reinen Negativbegriff in der politischen Auseinandersetzung. Das mag im Zusammenhang politischhistorischer Kontroversen unschädlich sein, wo es vor allem auf die prägnante Kennzeichnung komplexer Phänomene ankommt, im Zusammenhang mit juristischen Wertungen ist eine solche plakative Vereinfachung unzulässig. Keimzelle der ,Auschwitz-Lüge" ist die Nichtakzeptanz der historischen Kerntatsachen, die dem nationalsozialistischen Volkermord an den europäischen Juden sein spezifisches Gepräge geben. Werden diese Tatsachen nicht in Frage gestellt, ist für den zweiten Schritt - die Behauptung einer gezielten Geschichtsfälschung allergrößten Ausmaßes - naturgemäß kein Raum. Der Zweifel an den historischen Eckdaten des Holocaust ist also das Mindestgemeinsame aller Geschichtsdeutungen, welche von der Mehrheitsauffassung abweichen. Unter Hintanstellung der weiteren Folgerungen, die üblicherweise von 3 In Hitlers „Mein Kampf 4 (Ausg. 1935), 11. Kap. „Volk und Rasse", heißt es, „die Juden" träumten von „der Weltherrschaft" (S. 343) und der angestrebte Staat Israel solle als „Organisationszentrale [der] internationalen Weltbegaunerei" dienen (S. 356). Zu Hitlers „Konzept von den Juden als »Drahtziehern der Weltgeschichte4" heißt es bei E. Nolte, in: Furet/ders., „Feindliche Nähe44, 1998, S. 42, das Konzept sei „der Verneinung nicht wert, sondern bloß einer Verwerfung 44. Vgl. ferner Auerbach, „Weltjudentum44 und Jüdische Weltverschwörung", in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 217 ff. In die gleiche Kategorie gehört der Unter-der-Hand-Vertrieb der 24 „Protokolle der Weisen von Zion", welche angeblich die geheimen Pläne der „zionistischen Weltverschwörer 44 enthalten sollen, und die schon durch „Mein Kampf 4 geistern (S. 337). Näher Ben-Itto, Die Protokolle der Weisen von Zion, 1998; Körner, in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 165 ff.

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denen gezogen werden, welche die „Auschwitz-Lüge" propagieren, soll daher zunächst die Kritik an den historischen Fakten in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden. Man kann dann sehr genau beschreiben, was diejenigen mindestens tun, die sich mit der etablierten Geschichtsschreibung des Holocaust nicht abfinden wollen: Sie bestreiten die Tatsachenbasis dieser Geschichtsschreibung. Mit dem Terminus „bestreiten" verfügt man über die denkbar neutralste Etikettierung ihres Verhaltens. Eine Bewertung der Motive und damit der subjektiven Seite des Verhaltens erfolgt bei Verwendung dieses Begriffes zunächst nicht. Man könnte also von den „Holocaust-Bestreitern" reden - ein zwar präziser, aber doch merkwürdig farbloser Begriff. Dieser Begriff blendet den Anlaß der Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen und damit seine gesellschaftliche Relevanz völlig aus. Ausgangspunkt ist nämlich die Feststellung, daß es sich beim Bestreiten des Holocaust - jedenfalls wenn es über unbedeutende Detailfragen hinausgeht - um eine winzige Minderheitsauffassung, 4 um die „Lehre" einer lunatic fringe handelt. Deshalb ist es besser, von einem Leugnen des Holocaust zu sprechen. Mit „Leugnen" wird zum Ausdruck gebracht, daß sich Vertreter dieser Geschichtsdeutung in offenen Widerspruch zu dem setzen, was allgemeine Überzeugung ist. Sie weigern sich hartnäckig, die Mehrheitsauffassung zu akzeptieren, sie leugnen die historische Wahrheit des Holocaust. Der Begriff „Leugnen" ist aber, das ist zuzugeben, bezüglich der subjektiven Seite weniger neutral, ja vielleicht sogar schillernd. Es fragt sich nämlich, ob jemand, um das Verdikt zu verdienen, er leugne einen Sachverhalt, im Stillen von der Richtigkeit des Gegenteils seiner Behauptung überzeugt sein muß. Klar ist der Befund beim sich durch Leugnen verteidigenden Straftäter, der seine Tatbeteiligung wider besseres Wissen bestreitet, weil er aufgrund der im übrigen unklaren Beweislage hofft, nicht überführt zu werden. Die Frage, ob Auschwitz-Leugner durchweg entgegen ihrer eigenen Überzeugung - beispielsweise aus politisch-taktischen Gründen - die Tatsachenbasis des Holocaust angreifen, ist jedoch sehr schwer zu beantworten. Der Terminus des Leugnens verlangt das - zumindest umgangssprachlich - auch nicht. Man spricht auch dann davon, jemand leugne, wenn man ihm nicht absprechen will, von seiner Position subjektiv überzeugt zu sein.5 Es spricht vieles dafür, daß gerade AuschwitzLeugner ab einem bestimmten Punkt völlig von ihrer „überwertigen Idee" beherrscht sind.6 Das ändert aber nichts daran, daß sich Auschwitz-Leugner, wenn sie diese Idee zum Ausdruck bringen, schroff gegen die etablierte Auffassung stellen. Daß die Mehrheit ein solches Verhalten - unabhängig von der subjektiven Überzeugung des Äußernden - als „Leugnen" bezeichnet, ist ohne weiteres nachvollziehbar. Die Bezeichnung „Auschwitz-Leugnen" soll daher auch dieser Arbeit 4 So auch Stein, MichiganLR 85 (1986/87), 277 (321). 5

Vgl. Gerhard Wahrig (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Stichwort „leugnen": „Die Wahrheit (von etwas) bestreiten, für nicht wahr erklären" (Hervorheb. v. Verf.). Ebenso Wolfgang Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl. 1997. 6 Aus psychiatrischer Sicht de Boor, Wahn und Wirklichkeit, 1997, S. 14; 17 f.: „unerschütterliche Gewißheit".

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

zu Grunde gelegt werden, weil die Einbuße an sprachlicher Präzision gegenüber dem Begriff „Bestreiten" dadurch aufgewogen wird, daß die krasse Minderheitsposition einer solchen Geschichtskritik, und damit der eigentliche Konfliktpunkt, deutlicher zum Ausdruck kommt.

I . Auschwitz und die Zeitgeschichtsforschung Wenn man von Minderheitspositionen spricht, wird damit die Existenz einer etablierten Mehrheitsposition vorausgesetzt. Diese Mehrheitsposition in Sachen nationalsozialistischer Völkermord gibt es jedoch, stellte man hierfür auf die Gesamtheit der Staatsbürgerinnen und -bürger ab, allenfalls in groben Umrissen. Man muß keine repräsentativen Umfragen („Was wissen Sie über den Holocaust?") durchführen, um sich darüber klar zu werden, daß die meisten Menschen zwar die wichtigsten Eckdaten der Völkermordverbrechen im Dritten Reich präsent haben, bezüglich eines geschlossenen und detailreichen Geschichtsbildes aber deutliche Defizite zu verzeichnen sein würden. 7 Das ist übrigens ein Befund, der sich für historisches Wissen ganz allgemein erheben läßt.8 Nur ein kleiner Kreis zeitgeschichtlich besonders Interessierter wird - über die Kreise der Fachhistoriker hinaus - in diesem Bereich über profundes Wissen verfügen. Es gibt daher zur Bestimmung, ob jemand geschichtliche Tatsachen leugnet, auf den ersten Blick nur einen tauglichen Maßstab: die Erkenntnisse der seriösen Zeitgeschichtsforschung. Die Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung hier in ganzer Breite entfalten zu wollen, wäre vermessen. Schon gar nicht kann eine endgültige Bewertung der verschiedenen Positionen geleistet werden. Man muß sich aber klar darüber sein, daß man diese Leistung vollbringen müßte, wollte man jede noch so geringe Abweichung vom etablierten Geschichtsbild mit dem Verdikt „leugnen" belegen. Darum kann es aber nicht gehen. Von Auschwitz-Leugnen kann man sinnvoll nur da sprechen, wo entgegen der etablierten Auffassung tferatatsachen des Holocaust in Abrede gestellt werden. Ist sich die Geschichtsforschung heute in den Kerntatsachen einig? Besteht ein geschlossenes Bild des Volkermordes im Dritten Reich jeden1 Vgl. Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 343 m. w. N. in Fn. 46. 8 Wodak/Menz/Mitten/Stern, Die Sprachen der Vergangenheiten, 1994, S. 15 ff. verwenden eine „Mozartkugel"-Metapher, welche die Filterung deutlich macht, die stattfindet, bis die Bevölkerung einen Zugang zur Geschichte erhält. Der Kern („Pistazien") sind die Quellen, die nächste Schicht („Marzipan") die Fachhistoriker, die folgende Schicht („Nougat") die nicht-fachgebundenen Intellektuellen (Journalisten, Lehrer, Schriftsteller - „nichtspezialisierte Intelligenz") und die letzte Hülle („Schokolade") die (Laien-)Bevölkerung. Die Bevölkerung habe zum Kern nur einen mittelbaren Zugang. Da aber schon die Fachhistoriker - je nach Vorverständnis - nur gefärbte „Vergangenheiten " produzierten und die nächste Vermittlungsschicht diese wiederum nach ihren Interessen selektiere, gelange an die Bevölkerung nur ein erheblich vorgefärbtes Geschichtsverständnis.

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falls in seinen entscheidenden Grundlinien? Diese - und nur diese - Fragen sollen im folgenden beantwortet werden. Dabei muß zu meinem Bedauern manches verdienstvolle Werk unberücksichtigt bleiben. Ich habe es mir versagt, auch nur annähernd die gesamte Spezialliteratur zum Dritten Reich im allgemeinen und zum Holocaust im besonderen in die Darstellung aufzunehmen. Diese Literatur füllt inzwischen Bibliotheken, und interessierte Leserinnen und Leser können sich dort aus erster Hand weit trefflicher informieren als das im Rahmen eines knapp gefaßten, auf das Wesentliche konzentrierten Überblicks möglich ist. Hinweise auf weiterführende Literatur werden freilich gegeben. Die Auswahl ist auch durch das Erkenntnisinteresse bestimmt: Vor allem solche Stellungnahmen werden ausführlicher dargestellt, welche dem „Randbereich" der etablierten Zeitgeschichtsforschung zuzuordnen sind, also die umstrittenen Positionen, die Streitpunkte.9 Denn gerade die juristische Auslotung der „Randphänomene" ist Ziel dieser Arbeit. Die stets mitzudenkende Frage ist nämlich: Was gehört gerade noch - trotz kontroverser Erörterung - zum Grundbestand seriöser Geschichtsschreibung, was fällt bereits eindeutig aus diesem Rahmen heraus?

1. Historisierung des Nationalsozialismus Das grundsätzlichste aller Probleme im Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Volkermordverbrechen als Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist die Frage, ob es sich dabei überhaupt um „Geschichte" im eigentlichen Sinne handelt. Diese Fragestellung klingt seltsam, ist aber ganz ernst gemeint. Der Nationalsozialismus ist zwar unbestreitbar ein historisches, das heißt in der Vergangenheit liegendes Ereignis. Ist er deswegen aber ohne weiteres historisierbar? 10 Dagegen spricht die Beobachtung, daß der Nationalsozialismus, rund fünfzig Jahre nach seiner Überwindung, noch immer in eigentümlicher Weise lebt. 11 Freilich nicht in der Weise, daß es in der Bundesrepublik Deutschland tatsächliche Bemühungen gäbe, den Nationalsozialismus wiederzubeleben - solche Bemühungen sind, glücklicherweise, völlig vereinzelt geblieben. Der Nationalsozialismus lebt als Negativ-, als 9

Einen im wesentlichen vollständigen Überblick geben Kershaw, Der NS-Staat, 1988 (Neuaufl. 1994); E. Nolte, Streitpunkte, 2. Aufl. 1994. 10 Vgl. Backes/ Jesse/Zitelmann, Was heißt: „Historisierung" des Nationalsozialismus, in: dies. (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 25 ff.; Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus (1985), in: Grami/ Henke (Hrsg.), Nach Hitler, 2. Aufl. 1987, S. 159 ff.; Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 289ff. (mit Grundsatzkritik am Begriff „Historisierung", S. 311 f.). Aus juristischer Sicht Haffke, Über die (Un-)Möglichkeit, Geschichte in Strafprozessen aufzuarbeiten, in: de Boor /Frisch/Rode (Hrsg.), Vergessen Verdrängen - Verleugnen, 1996, S. 41 (42): Historisieren sei, „begriffen als Bemühen um Verstehen ... das genaue Gegenteil von Wegschauen oder Ablegen". 11 So schon 1980 E. Nolte in einem von der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung in München veranstalteten Vortrag (Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?), abgedruckt in: „Historikerstreit", München 1987, S. 13 ff.

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Schreckbild weiter. Bei allen Geschichtsdebatten sitzt in der Runde ein stummer Gast: Die „Vergangenheit, die nicht vergehen will". 1 2 Und jeder, der in den Verdacht gerät, eine wenn auch noch so geringe Affinität zu diesem Schreckbild zu besitzen, sich nicht deutlich genug davon abzugrenzen, muß mit gesellschaftlichen Konsequenzen rechnen. In diesem Zusammenhang sei nur an die Jenninger- 13 und die Walser-Rede 14 sowie den Historikerstreit 15 erinnert. Ernst Nolte, dessen Thesen den Kristallisationspunkt des Historikerstreits bildeten, erklärt sich die heftige Reaktion in später Einsicht so: „Es handelt sich um ein ,Tabu-Thema', ja um das Tabu-Thema schlechthin, die »Endlösung der Judenfrage', den »Holocaust'. Wer an dieses Thema rührt, darf sich nicht wundern, wenn sich ein Sturm der Empörung erhebt." 16 Die emotionale Potenz des Themas sollte man also nicht unterschätzen, und es fragt sich, ob eine wirklich neutrale, rationale, ausschließlich den Kriterien der Wissenschaftlichkeit verpflichtete Betrachtung einer noch heute so wirkmächtigen Vergangenheit überhaupt möglich ist. Verneinte man die Frage, so entzöge sich der Holocaust der Erfassung mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft. 17 Er würde zu einem meta-historischen Menetekel, zu einem Negativ-Symbol, seine Bewertung letztlich zu einer Frage der moralisch richtigen Weltanschauung. Der Holocaust entzöge sich dem rationalen Diskurs. Sich dieser Grundsatzfrage klar geworden zu sein, ist für das Thema elementar. Denn manche Mißverständnisse lassen sich vermeiden, wenn man weiß, daß für viele Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachkommen nur diese nicht-rationale Sichtweise akzeptabel ist. 18 Für diejenigen, die unter der Realität des Natio12

So der Titel eines Artikels von E. Nolte, der am 6. Juni 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und den „Historikerstreit" auslöste. 13 Der seinerzeitige Bundestagspräsident Philipp Jenninger trat nach einer zum 50. Gedenktag der „Reichskristallnacht" am 10. 11. 1988 im deutschen Bundestag gehaltenen Rede von seinem Amt zurück. Dazu Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches, 2. Aufl. 1993, S. 376f.; Wodak/Menz/Mitten/Stern, Die Sprachen der Vergangenheiten, 1994, S. 167 ff. 14 Der Schriftsteller Martin Walser löste mit seiner Frankfurter Friedenspreisrede vom 11. Oktober 1998 (abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12. 10. 1998, S. 15) eine Debatte aus, an der sich u. a. Ignatz Bubis, Klaus v. Dohnanyi, Marcel Reich-Ranicki und Richard v. Weizsäcker beteiligten. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog urteilte darüber in seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 1999 im Deutschen Bundestag: „Walsers Rede ... hat eine wichtige Auseinandersetzung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das wohl auch." 15 Die wichtigsten Beiträge sind abgedruckt in: „Historikerstreit", Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, 1987. Eine kommentierte Übersicht findet sich bei Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 321 ff. 16 E. Nolte, Abschließende Reflexionen über den sogenannten Historikerstreit, in: Backes /Jesse /Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 88 (Hervorheb. i. Orig.). 17 Furet, in: ders. /Nolte, „Feindliche Nähe", 1998, S. 114: „Wenn jeder Versuch, den ... Nazismus zu historisieren ... als ein schuldhafter Versuch des , Verstehens', im Hinblick auf die von diesem Regime begangenen Verbrechen betrachtet wird, dann bleibt den Historikern des 20. Jahrhunderts nichts anderes übrig, als zu schweigen ..."

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nalsozialismus gelitten haben, gibt es keine Historisierung, keine distanzierte Betrachtung oder gar ein verstehendes, ein begreifendes Nachvollziehen der wirkmächtigen Antriebe des Dritten Reiches und seiner Verbrechen. Für diesen Personenkreis ist Auschwitz ein Symbol, kein Gegenstand gedanklichen Reflektierens, sondern ein Stichwort, das augenblicklich schaudern und zutiefst erschrecken läßt, das an geistige Abgründe führt. Das Lagertor von Auschwitz wird zur äußersten Schwelle des Faßbaren. „Denn hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen." Auschwitz ist nicht irgendein Bezugspunkt der Weltgeschichte, sondern einer der Orte, an dem unschuldige Menschen starben - , Juden und Christen, Polen und Deutsche, russische Kriegsgefangene und Zigeuner, Menschen aus ganz Europa, die auch von einer Mutter geboren waren und Menschenantlitz trugen". 19 Wer vor diesem Hintergrund gleichwohl für „größere subjektive Distanz zum Untersuchungsobjekt" plädiert, weil „mangelnder Abstand zum Gegenstand der Analyse nachweisbar zu Verzerrungen und Verfälschungen in der Darstellung historischer Ereignisse" führen könne, 20 muß sich darüber im klaren sein, daß ihm auf diesem Weg nicht die gesamte Gesellschaft folgen will oder folgen kann. Von fundamentaler Wichtigkeit scheint mir daher die Erkenntnis zu sein, daß beide Wege des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit jeweils für sich legitim sind. Daher sollte weder dem ehrlich Gedenkenden seine subjektive Betroffenheit abgesprochen werden, noch sollte demjenigen, der für eine rationale Durchdringung des Stoffes plädiert, unbesehen emotionale Kälte oder gar eine verachtenswerte Gesinnung vorgeworfen werden. „Der Historiker ist auch ein moralisch empfindender und urteilender Mensch, doch er weiß, daß die Geschichte voll von unmoralischen Akten ist und daß er sich seiner spezifischen Aufgabe nicht entziehen darf, auch die schlimmsten unmoralischen Akte so weit wie irgend möglich verstehbar und unter Umständen sogar verständlich zu machen."21 Für diejenigen, die sich dem Holocaust mit dem üblichen Instrumentarium historischer Forschung nähern wollen, folgt daraus in erster Linie, daß trotz nüchterner Beschreibung der Fakten eine gewisse Zurückhaltung in den Formulierungen angebracht ist. 22 Es ist zuzugeben, daß es sich dabei um eine Gratwanderung handelt - wem is Das schließt rationale persönliche Bewältigungsversuche Betroffener nicht aus, ζ. B. R. Frisier, Die Mütze oder Der Preis des Lebens, 1997; R. Klüger, weiter leben, 4. Aufl., 1995; O. Schwerdt, Als Gott und die Welt schliefen, 1998. 19 Die beiden vorstehenden Sätze stammen aus der mündlichen Urteilsbegründung von Senatspräsident Hans Hofmeyer im Auschwitz-Prozeß; vollst. Wortlaut: Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 90 f. 20 Backes, Objektivitätsstreben und Volkspädagogik, in: Backes/ Jesse/Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 614. Ebenso: Backes/ Jesse/Zitelmann, Was heißt: „Historisierung" des Nationalsozialismus, im selben Bd., S. 25 (27). 2

t E. Nolte, Streitpunkte, 2. Aufl. 1994, S. 37 (Hervorheb. i. Orig.). So auch eindringlich Furet, in: ders. /Nolte, „Feindliche Nähe", 1998, S. 58 („Zweideutigkeiten vermeiden"). Zur „moralischen Dimension" der NS-Historiographie ausführlich Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 37 ff.; zur Sprache S. 166; zur Rationalität S. 341 f. 22

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dieses diffizile Austarieren zu abenteuerlich erscheint, der sollte aber besser auf befestigten Wegen spazieren gehen. Mit diesen Vorbehalten läßt sich auch der Holocaust mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen. 23 Das emotionale Begleitelement ist dabei geradezu ein Kennzeichen von Zeitgeschichte. Denn Zeitgeschichte ist eben „Vergangenheit, mit der die Gegenwart noch ringt".24

2. Intentionalismus und Strukturalismus Der Beschränkung auf die Grundlinien der Geschichtsschreibung zum Holocaust folgend, will ich mich einer weiteren, vielleicht der Hauptkontroverse um den Nationalsozialismus zuwenden. Auch diese Kontroverse kreist um eine sehr grundsätzliche Frage, wenn sich die Frage auch notwendig erst stellen kann, nachdem man eine historisch-wissenschaftliche Behandlung der in Rede stehenden Epoche deutscher Geschichte für grundsätzlich zulässig erklärt hat. Es geht um die Frage, welches die treibenden Kräfte für die Durchführung der „Endlösung der Judenfrage" waren. 25 Ist die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Juden und Slawen, Geisteskranke und Zigeuner primär auf eine von vorneherein feststehende Planung, eine politische Intention zurückzuführen („Intentionalismus"), die sich in ihren wichtigsten Leitlinien schon in Hitlers „Mein Kampf ausformuliert findet? 26 Oder läßt sich der Völkermord eher als eine Abfolge sich immer weiter radikalisierender Maßnahmen beschreiben, beginnend mit der Sondergesetzgebung,27 sich verdichtend in Deportation und Gettoisierung 28 und schließlich gipfelnd in der massenhaften Tötung der Ausgegrenzten? 29 Ist der nationalsozialistische Massen23 Daß durch Historisierung einer „Relativierung" des Holocaust Vorschub geleistet werde, hat Vormbaum, GA 1998, 1 (31) überzeugend zurückgewiesen. Eher bestehe umgekehrt die Gefahr, daß sich „die Exorbitanz von Auschwitz ... in einem Umfeld zahlloser anderer Elemente" verliere (a. a. O., Fn. 61). 24 So die Formulierung von Werle, Zur Konzeption von Forschung und Lehre im Fach „Juristische Zeitgeschichte", in: Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte - Ein neues Fach?, 1993, S. 63. 25 Einen guten Überblick gibt Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 169 ff. 26 So ζ. B. Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 89: „starke ideologische Triebfeder". 27 Dokumentensammlung: Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, 2. Aufl. 1996. Zum berüchtigten „Blutschutzgesetz" vom 15. 9. 1935 und zum Sonderstrafrecht für Juden: Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 179 ff., 449 ff., 698 ff. Zur Bedeutung des normativen Rahmens: Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 377: „Die Juden waren sozial Tote; man konnte sie mit Recht umbringen, und zwar im doppelten Sinne von moralischer Korrektheit und de facto gegebener Legalität." (Hervorheb. i. Orig.).

28 Benz, Die „Kristallnacht" als Anfang vom Ende, in: ders. (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933-1945, 3. Aufl. 1993, S. 541 ff.; Kwiet, Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung, im selben Bd., S. 545 (631 ff.). Im Anhang des Bandes findet sich auch eine Zeittafel „Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung, Vernichtung" (S. 739 ff.).

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mord also mehr eine Folge der Strukturen des Dritten Reiches („Strukturalismus") als einer alles dominierenden und überwölbenden Weltanschauung? Beide Deutungen belasten und entlasten auf je verschiedene Weise. Stark vereinfacht läßt sich das folgendermaßen skizzieren: Ist die treibende Weltanschauung, also die Intention das Entscheidende, so liegt die Hauptschuld für das Geschehene bei den Trägern dieser Ideologie. Die Haupttäter Hitler, der den Vernichtungsbefehl erteilte, 30 sowie Himmler und die Angehörigen des engsten Führungskreises, wie beispielsweise Göring und Heydrich, wären dann auch die Hauptverantwortlichen für den Völkermord. Die nachgeordneten Deutschen wären „nur" ihre Handlanger gewesen, hätten lediglich Beihilfe zu den Verbrechen der Haupttäter geleistet.31 Mit der Überwindung der nationalsozialistischen Weltanschauung wäre die Gefahr einer Wiederkehr solcher Massenverbrechen weitgehend gebannt - politisch trüge man mit einem konsequenten „Anti-Faschismus" ausreichend Sorge dafür, daß sich Auschwitz nie wiederhole. Stellten hingegen die Strukturen eines totalen Staates die eigentlich wirkmächtigen Faktoren dar, welche zum Völkermord geführt hätten, wären die Zukunftsaussichten beunruhigender. Peter Reichel hat diesen Aspekt auf den Punkt gebracht: „Wieviel schärfer stellt sich die Schuld- und Verantwortungsfrage, wieviel schwieriger, wenn nicht unmöglich, wird der Glaube an eine humane Welt, wenn man begreifen muß, daß die Endlösung kein bloßer Rückfall in die Barbarei war, sondern ein Produkt der modernen Zivilisation .. . " 3 2 Von dieser Position aus wendet sich der historisch geschärfte Blick auch fast zwangsläufig zurück auf die Weimarer Republik und die Frage, inwieweit deren Verfassung den Aufstieg und die Machtübertragung an die Nationalsozialisten ermöglicht oder doch zumindest begünstigt habe.33 - Ein Thema, das bis in die heutige Zeit die historisch-politische und die staatsrechtliche 29

Jüngste Deutung in dieser Richtung: Aly, „Endlösung", 1995. Zu dieser Deutung Thamer, Verführung und Gewalt, 1986, S. 700 ff. sowie jüngst Ch. Gerlach, Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: Werkstatt Geschichte 6 (1997), Heft 18. Zu den abweichenden Positionen vgl. die Übersicht bei Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 195 ff. 30

31 Ganz parallel auch die juristische Bewertung der Völkermordverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz; vgl. Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 32. Aly, „ E n d lösung", 1995, S. 398 schreibt, die Behauptung, der Führerstaat sei monokratisch strukturiert gewesen, gehe der „spätere(n) kollektive(n) Verteidigungsstrategie der beteiligten Deutschen" auf den Leim. In die Richtung auch F. Bauer, Im Namen des Volkes (1965), in: Die Humanität der Rechtsordnung, 1998, S. 77 (83). Zur Dominanz dieser Verteidigungsstrategie in den fünfziger Jahren Frei, Vergangenheitspolitik, 1996, S. 405. 32 Reichel, Politik mit der Erinnerung, 1995, S. 320. 33 Grundlegend aus historischer Sicht: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 4. Aufl. 1984; O. Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus, 2. Aufl. 1981; Schulze, Weimar, Deutschland 1917-1933, 1982, S. 328ff., 413ff. Historische Einzelaspekte: Winkler, Von Weimar zu Hitler, Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin (Öfftl. Vorlesungen, Heft 3), 1993. Aus staatsrechtlicher Sicht: Gusy, Weimar - die wehrlose Republik?, 1991.

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Diskussion in der Bundesrepublik bewegt.34 Zusätzlich träfe, wäre dieser Erklärungsansatz richtig, einen großen Teil des deutschen Volkes unmittelbare Schuld wegen der bereitwilligen Einpassung in die Strukturen der Herrschafts- und Tötungsmaschinerie aufgrund verbreiteter „Autoritätsgläubigkeit" 35 oder gar der Identifikation mit den ideologischen Prämissen des Nationalsozialismus. „Der Holocaust war nicht das Werk einiger NS-Fanatiker, sondern das Ergebnis eines vielschichtigen politischen Prozesses."36 Andererseits würde es auf diesem Wege möglich, die Führung des Dritten Reiches tendenziell zu entlasten, in extremer Betonung von Eigengesetzlichkeiten der Substrukturen sogar bis hin zu der Behauptung, Hitler selbst habe von der „Endlösung" im Sinne einer systematischen Tötung der europäischen Juden - zumindest bis zum Oktober 1943 - nichts gewußt. 37 Aber auch die Wirtschaft („Großkapital") und die Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten, welche die Nationalsozialisten groß werden ließen oder sie gar aktiv förderten, trügen eine erhebliche Verantwortung. 38 In ihrer „reinen Form" kommen diese Deutungsmuster des nationalsozialistischen Völkermordes nach zunehmender Entwicklung der Zeitgeschichtsforschung heute immer seltener vor - sie werden vielfach kombiniert und variiert. Intentionalistische Erklärungselemente finden sich beispielsweise auch in der vieldiskutierten Arbeit von Daniel Jonah Goldhagen, der einen „eliminatorischen Antisemitismus" - freilich nicht von „oben herab" verordnet, sondern zum Tatzeitpunkt längst im Bewußtsein des deutschen Volk implementiert 39 - zur entscheidenden Triebfeder des reibungslosen Mordens erklärt. 40 Freilich verwendet Goldhagen auch 34

Zur ersten: Wehler, Bonn-Berlin-Weimar, Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar?, in: Diiwell/Vormbaum, Themen juristischer Zeitgeschichte (1), 1998, S. 15 ff. Zur zweiten: Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987, S. 221 f. m. w. N. Plakativer Beleg für das frühe Abgrenzungsstreben der Bundesrepublik Deutschland: Allemann, Bonn ist nicht Weimar, 1956. 35 Vgl. auch die sorgfältige Analyse von Browning, Ganz normale Männer, Das ReservePolizeibataillon 101 und die „Endlösung" in Polen, 1993, S. 165 ff., 178, 211, 213, 246 f. 36 Aly, Macht, Geist, Wahn, 1997, S. 209. 37

So die umstrittene These David Irvings, Hitler's War, London 1977. Entgegnungen von Broszat, Hitler und die Genesis der „Endlösung", in: Graml/Henke (Hrsg.), Nach Hitler, 1987, S. 187 (195 ff.) (auch veröffentlicht in: VfZ 4 (1977), 739 ff.) und H. Mommsen, Die Realisierung des Utopischen, GG 3 (1983), 381 ff. 3

« Vgl. nur Aly /Heim, Vordenker der Vernichtung, 1991; Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 180. 39 Abgeschwächt formuliert beispielsweise Bankier, Die öffentliche Meinung im HitlerStaat, 1995, S. 213: Bei den meisten Deutschen sei „wegen ihrer »traditionell4 antisemitischen Haltung ... die Widerstandskraft gegen die Maschinerie des Völkermordes sehr gering gewesen". Gegen eine Erklärung des Holocaust primär aus dem Antisemitismus: Jäckel, Hitlers Herrschaft, 1986, S. 132 ff. 40 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 198 ff., 200: „Ein dämonisierender, rassistisch begründeter Antisemitismus war die Triebkraft des eliminatorischen Programms bis hin zum Völkermord, seiner logischen Konsequenz." Diese Position entzieht sich strenggenommen der Zuordnung zum klassischen Intentionalismus mit seiner „Führungs-Fixie-

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strukturalistische Erklärungselemente, wenn er schreibt, es müßten „eine auf Mord gerichtete Ideologie und die Gelegenheit zum Mord" zusammengekommen sein, damit sich ein solches Völkermordgeschehen habe entwickeln können.41 Seine Grundposition schlägt übrigens bis in die Einzelheiten durch, beispielsweise wenn Goldhagen die Bedeutung der Gaskammertötungen hinsichtlich Ausmaß und Qualität für vergleichsweise gering erklärt. 42 Diese im ersten Moment erstaunliche Nuance43 ist insofern folgerichtig, als die von Goldhagen behauptete, mindestens kenntnismäßige Involvierung weiter Kreise der deutschen Bevölkerung in den Judenmord („willige Vollstrecker") umso naheliegender erscheint, je weniger sich der Massenmord in der Abgeschiedenheit der Vernichtungslager abspielte. Schließlich sind weit übergreifende Schuldzuweisungen auch auf der Basis einer intentionalistischen Sichtweise denkbar, wie beispielsweise der Erklärungsansatz von Julius H. Schoeps zeigt, der in Hitlers Ausspruch „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn" 44 einen „deutlichen" Beleg dafür gefunden zu haben glaubt, „wie sehr Christentum und Nationalsozialismus eine quasi symbiotische Beziehung eingegangen sind". „Wenn wir akzeptieren", fährt Schoeps fort, „daß der Nationalsozialismus tatsächlich eine echte Glaubensbewegung war, dann gilt auch für den Vorgang des organisierten Judenmordes, daß dieser nur erklärbar ist, wenn man den christlichen Kontext der Bewegung berücksichtigt". 45 Beiden Erklärungsrichtungen wird, das kann man sich denken, von ihren jeweiligen Gegnern vorgeworfen, sie verharmlosten das historische Geschehen. Je nachdem, welchem Personenkreis man persönlich die Hauptschuld am Nationalsozialismus im allgemeinen und am Völkermord im besonderen gibt, empfindet rung", weil Goldhagen „Führer- und Volksintention miteinander verschränkt"; vgl. Rusinek, Die Kritiker-Falle, in: Heil/Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, 1998, S. 110 (114, 118). Ähnlich Kailitz, Anregung oder Ärgernis?, in: Heydemann/ Jesse (Hrsg.), Diktaturvergleich, 1998, S. 187 (196 f.): „kollektivistische Variante des Intentionalismus". Krit. zu Goldhagens Quellenbasis Birn/Rieß, Goldhagen und seine Quellen, im selben Bd., S. 38 ff. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 491. 42 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 23 f. und S. 193 in Fn. 81: „Der Einsatz von Gas bei der Vernichtung der Juden durch die Deutschen war daher - anders als weithin angenommen - ein nebensächliches Phänomen. Es war leicht anzuwenden, aber nicht unentbehrlich. Auch ohne die Erfindung der Gaskammer hätten die Deutschen ebenso viele Juden ermorden können." 43 Rusinek, Die Kritiker-Falle, in: Heil/Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, 1998, S. 110 (113) faßt sein Erstaunen in die Worte: „ . . . Überlegungen, die man bisher doch eher auf der Seite der Auschwitzleugner und »Revisionisten' vermutet hätte." 44

Mein Kampf, München 1926, S. 70. Schoeps, Erlösungswahn und Vernichtungswille, in: Ley /Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, 1997, S. 265, 268. Zur Haltung der christlichen Kirchen gegenüber dem NS-Staat: E. Klee, „Die SA Jesu Christi", 1989; W. Seibert, Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte, 1996, S. 37 ff., 141 f. m. w. N. Zur Haltung gegenüber dem Holocaust: Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 504 ff. Ganz entgegengesetzt, nämlich als rassistische Tendenzen abwehrende Geisteshaltung, deutet Aly, Macht, Geist, Wahn, 1997, S. 113 f. den Katholizismus am Beispiel Bayerns. 45

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

man dessen relative Entlastung als Schuldverschleierung und vermutet (vor)schnell unlautere Motive. Ohne hier den Streit der „Historikerschulen" weiterführen oder ihn gar entscheiden zu können, spricht jedoch vieles dafür, daß beide Ansätze je für sich etwas Richtiges erkannt haben.46 Das liegt daran, daß sich der Nationalsozialismus schon wegen seiner Doppelbödigkeit und inneren Widersprüchlichkeit einer einheitlichen Deutung entzieht.47

3. Externe Verantwortungszuschreibung Die bisher geschilderten Erklärungsmuster bewegen sich freilich alle in einer „Binnenperspektive", weil sie die Ursachen für den Holocaust zwar bei verschiedenen Gruppen der Gesellschaft suchen, aber eben ausschließlich innerhalb des zeitgenössischen Deutschland. Besondere Brisanz haben daher Deutungen, welche den Völkermord auf externe Ursachen zurückführen, den wirkmächtigen Impuls also bei anderen entdeckt zu haben glauben. Der bekannteste Vertreter eines solchen externen Erklärungsansatzes ist Ernst Nolte, der die Auffassung vertritt, man könne den Nationalsozialismus nicht ohne seine „Präzedenzien" verstehen, man müsse ihn also in einen übergreifenden historischen Kontext einordnen. Das historisch vorgängige Geschehen seien die „Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution" gewesen, Auschwitz sei deshalb als „die aus Angst geborene Reaktion" auf diese Vorgänge zu erklären. 48 Und Nolte fragt weiter: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische4 Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer »asiatischen* Tat betrachteten? War nicht der »Archipel GULag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der,Klassenmord 4 der Bolschewiki das logische und faktische Prius des »Rassenmords* der Nationalsozialisten?"49 Die ganz andere Qualität des Völkermordes an den Juden wolle er damit nicht in Frage stellen, versichert Nolte , schon gar nicht könne ein Mord durch den anderen „gerechtfertigt" werden. Auch müsse man festhalten, daß die nationalsozialistische Reaktion auf die bolschewistische Herausforderung natürlich eine „überschießende und in diesem ihrem Überschießen inadäquate Reaktion" gewesen sei. 50 Es führe jedoch „in die Irre", nur auf das So auch Furet, in: ders./ Nolte, „Feindliche Nähe44, 1998, S. 91; Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 110, 115 f. 47

Schon im (Unter-)Titel treffend auf den Begriff gebracht: Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, 2. Aufl. 1993, S. 79; Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, 1986, S. 696 ff., 700 f., 704 (Hervorheb. v. Verf.). 48

E. Nolte, Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?, in: „Historikerstreit 44, 1987,

5. 32. 49 E. Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Juni 1986, erneut abgedruckt in: „Historikerstreit 44, 1987, S. 39 (45). So die spätere Klarstellung: E. Nolte, Streitpunkte, 2. Aufl. 1994, S. 373; vgl. auch ders., in: Furet/ Nolte, „Feindliche Nähe44, 1998, S. 46 („exzessive Reaktion44).

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eine Verbrechen zu schauen und das andere nicht zur Kenntnis zu nehmen, „obwohl ein kausaler Nexus wahrscheinlich ist". 5 1 Hans Ulrich Wehler hat Noltes Methode als „Trivialisierung durch Vergleich" bezeichnet, wobei nicht der Vergleich an sich das Problem sei, sondern die gewählte Form einer „assoziativen Spekulation".52 Ein seriös durchgeführter Vergleich zwischen bolschewistischem Kulakenmord 53 und nationalsozialistischem Holocaust ergebe einen entscheidenden Unterschied. Während bei ersterem eine - wenn auch geringe - „Optionschance" (Anpassung, Kollektivierung) bestanden habe, habe diese beim zweiten völlig gefehlt. „Kein Jude . . . , den die deutschen Häscher auf ihrer Jagd zum Auffüllen der Vernichtungslager gefangen haben, hat je irgendeine Optionschance besessen."54 Mit dem beschriebenen übergreifenden Erklärungsansatz Noltes ist aber noch nicht der Gipfel externer Verantwortungszuschreibung erreicht. Eine im hier interessierenden Zusammenhang erwähnenswerte Deutung der nationalsozialistischen Judenpolitik ist die immer wieder auftauchende Verfechtung einer „NotwehrThese. Zumindest die Internierung der Juden, also Deportation und Gettoisierung, ließen sich - so diese Position - möglicherweise als Reaktion auf eine „Kriegserklärung" der Juden an Deutschland verständlich machen. Hierzu wird gerne auf die Erklärung des Präsidenten des Zionistischen Weltkongresses, Chaim Weizmann, vom 29. August 1939 hingewiesen, welcher im Namen der,Jewish Agency for Palestine" zum Ausdruck gebracht hat, in einem kommenden Krieg kämpften die Juden in aller Welt „auf der Seite Großbritanniens und der anderen Demokratien". 55 Auch ein 1941 in den USA erschienenes Buch von Theodore Newman Kaufman („Germany must perish") gilt manchen als ,3eleg" für eine genuin feindselige Einstellung der Juden gegenüber Deutschland.56 Gegen diese Ansicht wird 51 E. Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, a. a. O., S. 46.; ders., Streitpunkte, 2. Aufl. 1994, S. 394 mit der Klarstellung, die „Kausalität" sei durch „subjektives Bewußtsein" vermittelt. Weiter präzisierend ders., in: Furet/Nolte, „Feindliche Nähe", 1998, S. 44: „Wenn man sich die Köpfe Hitlers und seiner nächsten Gefolgsleute wegdenkt, gab es keinen »kausalen Nexus4 zwischen Gulag und Auschwitz ...".

Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, 1988, S. 17. Weitere Gegenpositionen in: „Historikerstreit", 1987, 48 ff. und im Überblick bei Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 321 ff. Kershaw selbst lehnt Noltes „Spekulationen" ebenfalls ab. 53 Grundlegend Conquest, Die Ernte des Todes, Stalins Holocaust in der Ukraine 19291933, 1988; ders., Stalins Völkermord, 1974. Zweifel an der Vernichtungsabsicht äußert Merl, Opferzahl im Stalinismus, GWU 46 (1995), 277 (287, 301). Zur staatsorganisierten Hungersnot in der Ukraine (1932/33) vgl. Merl, a. a. O., 293 f. m. w. N. (Tod von sechs Mio. Menschen); Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 196 (204ff.) (drei bis zehn Mio. Opfer). 54 Wehler, a. a. O., S. 170. 55 Vgl. Auerbach, „Kriegserklärungen" der Juden an Deutschland, in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 1992, S. 122 (123). Zur Person Weizmanns: Gutmann u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust, deutsche Ausgabe Bd. III, 1993, S. 1573 ff. 56 Erstmals hat die „Notwehrthese" Paul Rassinier propagiert (Zum Fall Eichmann, Was ist Wahrheit? oder Die unbelehrbaren Sieger, Leoni am Starnberger See 1963). Vgl. auch 3 Wandres

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

gewöhnlich eingewandt, Kaufman sei ein Einzelgänger gewesen und habe keinerlei Mandat gehabt, für die Juden im ganzen zu sprechen, Weizmann sei lediglich Vorsitzender eines „zionistischen Interessenverbandes" gewesen, so daß er keine völkerrechtlich verbindliche Erklärung habe abgeben können.57 Warum diese „exzentrische Kapriole" Noltes 58 - milde formuliert - Irritationen auslöst, liegt auf der Hand, wird doch den Opfern eine zumindest kollektive Mitverantwortung an ihrem späteren Schicksal zugeschrieben.59 Hermann Grami hat diese Verantwortungszuschreibung mit der Begründung zurückgewiesen, sie hänge lediglich „dem alten antisemitischen Popanz von der Verschwörung des »Weltjudentums4 gegen Deutschland ein neues Mäntelchen um". 6 0 Der Fairneß halber muß aber festgehalten werden, daß Noltes Ausführungen nur bei böswilliger Auslegung dahin gedeutet werden können, er habe damit einer völkerrechtlichen Rechtfertigung der Ausrottungspolitik Hitlers in streng juristischem Sinne das Wort reden wollen. Sichtbar ist aber, daß diese Position bereits einen Berührungspunkt zu Autoren aufweist, deren weitere Schlußfolgerungen ahnen lassen, daß es ihnen nicht lediglich um Erklärung, sondern bereits um Apologie des Nationalsozialismus geht. Wenn man schon von „Kriegserklärungen" spricht, liegt jedenfalls die Deutung näher, daß Hitler es war, der in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, also rund sieben Monate vor Weizmanns Äußerung, den Juden den Krieg erklärte. 61 Die Übersicht zeigt, wie weit sich der Bogen der Erklärungsbemühungen spannt. Allen beschriebenen Positionen gemeinsam ist aber - das bleibt festzuhalten - , daß an der Tatsachenbasis des Holocaust nicht gerüttelt wird. Selbst die „Notwehr"These - bei der es allenfalls um Putativnotwehr gehen könnte - zweifelt ja gerade nicht daran, daß die „erklärbare" Tat stattgefunden hat. Trotz dieser Kontroversen, die heute vielleicht etwas stiller und hinter verschlossenen Türen, aber immer noch mit Nachdruck geführt werden, ist sich die Geschichtswissenschaft über die LegiE. Nolte, Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?, in: „Historikerstreit" 1987, 13 (24). Klarstellend zur „Kaufmann-Legende": Benz, Judenvernichtung aus Notwehr?, in: ders. (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland, 1994, 179 (189 ff., 194 ff.). 57 Auerbach, „Kriegserklärungen" der Juden an Deutschland, in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 1992, S. 122 ff.; Benz, a. a. O., S. 195; Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, 1988, S. 84. 58 Wehler, a. a. O., S. 84. Darauf hat eindringlich hingewiesen: H. Mommsen, Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus, in: „Historikerstreit", 1987, S. 174 (182). 60 Grami, Alte und neue Apologeten Hitlers, in Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland, 1994, S. 64. 59

61 „Und eines möchte ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tage nun aussprechen: Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wurde meistens ausgelacht. [ . . . ] Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Volker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." (Völkischer Beobachter, Münchener Ausgabe, 31.1. 1939).

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timität von unterschiedlichen Bewertungen der historischen Fakten grundsätzlich einig. 62 Wenn man also von „Verharmlosung" des historischen Geschehens durch die eine oder andere der dargestellten Positionen reden will, muß man sich darüber im klaren sein, daß es sich auf dieser Ebene lediglich um eine qualitative Verharmlosung des Geschehenen handeln kann. In die gleiche Kategorie fällt die Kontroverse um die Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen historischen Massenmorden, der ich mich jetzt zuwende.

4. Singularität des Holocaust Die bereits dargestellte These Noltes, die Schreckenstaten der Bolschewisten seien für den Holocaust das historische Vorbild gewesen, deutet unabhängig von den weiteren von ihm gezogenen Schlußfolgerungen an, daß das stalinistische Unrecht nach Dimension und Qualität ähnlich zu bewerten sein könnte wie der Holocaust. Schon eine solche Andeutung löst bekanntlich allgemeinen Widerspruch aus, und es entsteht die Befürchtung, damit werde Zweifel an einer Eigenschaft des nationalsozialistischen Völkermordes geweckt, die man bisher als feststehend und angesichts der Verbrechensdimension selbstverständlich angesehen hat: an seiner Singularität. 63 Ist Vergleichen legitim? Ist es zulässig, das Außerordentliche in Relation zu anderen historischen Geschehnissen zu setzen? Bei genauer Betrachtung kreist die Kontroverse um die Doppelbedeutung des Wortes „Vergleichen". Im wissenschaftlichen Sinne heißt Vergleichen nicht mehr als „Nebeneinanderstellen". Dieses Unternehmen dient dem Zweck, das sich ergebende Gesamtbild prüfend in den Blick nehmen zu können. Damit wird aber gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man bisweilen umgangssprachlich unter einem solchen Vorgehen versteht. „Vergleichen" im umgangssprachlichen Sinne heißt nämlich oftmals Gleichsetzen, für gleichwertig erklären. Wird der Nationalsozialismus in diesem zweiten, umgangssprachlichen Sinne mit anderem historischen Unrecht verglichen, welches bei objektiver Betrachtung wesentlich weniger schwer wiegt, kann es sich in Einzelfällen tatsächlich um eine qualitative wie quantitative Verharmlosung, eine „Relativierung" des Geschehenen handeln. Wer sich auf Vergleiche einläßt, tut daher gut daran, klarzustellen, welche Art des Vergleichens er meint. Im ersten, im wissenschaftlichen Sinne, ist der Vergleich freilich eine unentbehrliche Methode. Auch dem Etikett „Singularität" liegt, wie man leicht einsehen kann, ein vorangegangener Vergleich zugrunde. 64 Singulär, einzigartig ist der Holocaust nur, wenn und 62

Vgl. nur Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, 1988, S. 124: „Nichts sollte in einem liberal-demokratischen Gemeinwesen selbstverständlicher sein als die Legitimität einer solchen Debatte." 63 Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 165 merkt dazu an, schon der Begriff „Holocaust" impliziere eine „beinah sakrale Einzigartigkeit".

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

weil er sich gegenüber ähnlichen Massentötungen nach Dimension und Struktur deutlich abhebt, eben im Vergleich zu anderen historischen Mordtaten so anders ist, daß wir zu ihm keinerlei Entsprechung finden. Einen umfassenden Vergleich der Völkermorde des 20. Jahrhunderts hat der französische Autor Yves Ternon vorgelegt. 65 Ternon schreibt, man befinde sich bei einem solchen Forschungsvorhaben in einem Dilemma, weil der Historiker „zunächst der Einzigartigkeit jeden Falles von Massenmord Rechnung tragen muß und dabei nach Gemeinsamkeiten mit anderen Fällen zu suchen hat - eine elementare wissenschaftliche Vorgehensweise - , ohne jedoch jene zu beleidigen, die jeden Vergleich ... als Verletzung ihres kollektiven Gedächtnisses empfinden". 66 Neben der Tötung der Juden ordnet Ternon auch die Ausrottung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten als Völkermord, als „Genozid" ein. 67 „Von den verschiedenen Gruppen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden - Geisteskranke, sowjetische Kriegsgefangene, bolschewistische Kommissare, Homosexuelle, Zeugen Jehovas - , waren allein die Juden und Zigeuner aufgrund rassischer Gesichtspunkte der Vernichtung geweiht." 68 Bei dieser Arbeit handelt es sich um einen behutsam argumentierenden, sorgfältig wägenden und außerordentlich materialreichen Vergleich - weit entfernt von jeder „assoziativen Spekulation". Ternon kommt zu dem Ergebnis, der türkische Völkermord an den Armeniern von 1915/ 16, dem etwa eine bis eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, stelle das staatsorganisierte Verbrechen in diesem Jahrhundert dar, welches am ehesten mit dem Holocaust verglichen werden könne. 69 „Trotzdem gibt es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten", bilanziert Ternon am Ende seines Vergleichs. „Die strukturelle Komponente war bei den Armeniern entscheidender als die ideologische, während es sich bei den Juden umgekehrt verhielt." Und Ternon arbeitet weitere Unterschiede heraus: „Verschieden waren das Motiv, die Vorsätzlichkeit, die Vorstellungen des Mörders von den Opfern, die Absicht und das Verhalten des 64

Backes/ Jesse/Zitelmann, Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus?, in: dies. (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 25 (27, 38); Jesse, Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus, im selben Bd., S. 543 (558). 65 Ternon, Der verbrecherische Staat, Völkermord im 20. Jahrhundert, 1996 (französische Originalausgabe: L'État Criminel, Les génozides au XX e siècle, 1995). 66 Ternon, a. a. O., S. 12, ähnlich: 53 f. 67 Zum - wenig thematisierten - Völkermord an diesen Volksgruppen grundlegend Kenrick/Puxon, Sinti und Roma - die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat, 1981. 68 Ternon, a. a. O., S. 129, ähnlich: 136. Zum NS-Behindertenmord („Euthanasie") als Modell von Zigeunermord und „Endlösung" vgl. Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, S. 393 ff., 450. 69 Ebenso Geiss, Massaker in der Weltgeschichte, in: Backes/ Jesse/Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 110 (117); Potthoff, Ein verschwiegener, vergessener Genozid, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1998, S. 160 (162), der zusammen mit den vorhergehenden Pogromen und den türkischen Vernichtungsmaßnahmen in den Jahren 1918-1920 insgesamt sogar von „annähernd 2,5 Mio." armenischen Opfern ausgeht.

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Nachfolgestaats." 70 Mit der letzten Bemerkung spielt Ternon auf den Umstand an, daß sich die Bundesrepublik Deutschland nie geweigert hat, die historische Tatsache des Völkermordes an den Juden anzuerkennen und die Konsequenzen zu tragen. Hingegen habe die Türkei ihre Schuld bis auf den heutigen Tag vertuscht und sei auch nicht davor zurückgeschreckt, Beweisdokumente zu fälschen oder zu unterdrücken. 71 Diese umfassend recherchierte, sorgfältig wägende und damit wissenschaftlichen Standards entsprechende Studie zeigt: Vergleichende Geschichtsforschung kann durchaus zum besseren Verständnis der qualitativen wie quantitativen Dimension des nationalsozialistischen Völkermordes beitragen und läßt uns mit Ternon hoffen, daß der Holocaust „im Gedächtnis der Menschheit einzigartig bleiben wird". 7 2 Denn erst durch einen historischen Vergleich zeigt sich das neuartige Element dieses Völkermordes, das ihn von allen denkbaren Vergleichsgrößen abhebt: „Wirklich neu und einzigartig war das hohe Maß staatlicher, rationell geplanter Massenmorde, die in ihrer Systematisierung, Bürokratisierung, technischen Perfektion und genozidalen Intention alle bisherigen Massaker in den Schatten stellten." 73 Doch wer mit dem Vergleichen erst einmal angefangen hat, wird sich kaum um den Vergleich herumdrücken können. Immer wieder kommt - fast zwangsläufig - die Diskussion darauf. Auch wenn man hinter dem Thema kein echtes Erkenntnisinteresse, sondern lediglich politische Absicht vermutet - seit den Thesen von Emst Nolte 74 steht der Vergleich von Bolschewismus und Nationalsozialismus auf der Tagesordnung zeitgeschichtlicher Kontroversen. Da gerade dieser Vergleich, wie wir noch sehen werden, möglicherweise bei subtilen Formen der Auschwitz-Leugnung eine Rolle spielen kann, soll darauf in der gebotenen Kürze eingegangen werden. Immanuel Geiss hat die Meinung vertreten, bei entsprechender Vorsicht könne man sich auf die Gegenüberstellung von Bolschewismus und Nationalsozialismus durchaus einlassen: ,3ei allen Unterschieden der Totalitarismen im einzelnen haben sie hinreichend strukturelle Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten, die einen ersten Vergleich rechtferti70 Ternon, a. a. O., S. 154 f. Hinzu kommt die unterschiedliche Opferauswahl: Während beim Armenier-Genozid vorwiegend die Männer getötet, Frauen und Kinder aber deportiert wurden, gab es beim Holocaust grundsätzlich keine alters- oder geschlechtsbezogene Differenzierung. Zu Abweichungen in der Anfangsphase der Einsatzgruppentötungen vgl. Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 200 m. w. N. 71 Ternon, a. a. O., S. 151. 72 Ternon, a. a. O., S. 157.

73 Geiss, Massaker in der Weltgeschichte, in: Backes/ Jesse/Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 119. 14 Gegen die Unterstellung politischer Absichten hat sich Nolte mit einer ziemlich unverhohlen orakelnden „Prophezeiung" gewehrt: „Wenn jüdische Gelehrte ... gar von Antisemitismus sprechen . . . , dann antworte ich ihnen, daß sie vielleicht eines Tages froh sein werden, wieder auf eine Auffassung rekurrieren zu können, welche die These, der Nationalsozialismus sei eine singuläre Vernichtungsideologie und -realität gewesen, nicht von Behauptungen über Zahlen oder Verfahrensweisen abhängig macht." E. Nolte, Abschließende Reflexionen über den sogenannten Historikerstreit, in: Backes /Jesse /Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 83 (107).

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gen." 75 Für beide Systeme sei eigentümlich, daß die „Bedrohung" durch die Verfolgten in Wahrheit nur fiktiv gewesen sei. In ihrer extremen Phase seien beide Regime von nur einem Mann beherrscht worden. 76 Ein weiteres gemeinsames Element von Bolschewismus und Nationalsozialismus sei - bei aller Gegnerschaft die elementare Bedeutung einer in sich geschlossenen „Weltanschauung" gewesen.77 „Vergleichbar sind ... auch Verdrängungs- und Verschweigungsmechanismen in den jeweiligen Gesellschaften über Mittäter- und Mitwisserschaft durch Terror, Zensur und wissenschaftliche Tabuisierung, auch durch wohlmeinende Intellektuelle im Ausland." 78 Die von Nolte behauptete oder zumindest suggerierte kausale Verknüpfung der Holocaustverbrechen mit den staatlich initiierten Verbrechen in der Sowjetunion („kausaler Nexus") ist gleichwohl eine wenig plausible These.79 Die technisch-bürokratische Perfektion macht den Völkermord an den Juden, aber auch den Sinti und Roma, zum größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, zu einem „Weltverbrechen". 80 Das gilt vor allem, wenn màn den historischen Hintergrund mit in den Blick nimmt. Deutschland war und ist ein Land des Westens, welches an der europäischen Aufklärung teilhatte und in einer langen Tradition des Rechtsstaats steht.81 Der durch den systematischen Völkermord vollzogene Bruch mit dieser Traditionslinie 82 ist also wesentlich krasser, als man das für die Sowjetunion jemals behaupten könnte.„In dieser Beziehung ist Auschwitz so einzigartig wie der Mount Everest." 83

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Geiss, a. a. O., S. 120. Für einen Vergleich auch Bracher, Wendezeiten der Geschichte, 1995, S. 239; Kailitz, Anregung oder Ärgernis?, in: Heydemann/ Jesse (Hrsg.), Diktaturvergleich, 1998, S. 187 (224). Ebenso Ternon, Der verbrecherische Staat, Völkermord im 20. Jahrhundert, 1996, S. 196 ff., der aber bezogen auf die Sowjetunion eher von einer „genozidären Situation" sprechen will; ein „klarer Fall von Völkermord" sei aber die staatsorganisierte Hungersnot in der Ukraine (1932-1933) gewesen (S. 204ff.). Zur „großen Hungersnot" (schätzungsweise sechs Mio. Opfer) vgl. auch Werth, Ein Staat gegen sein Volk, in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 51 (178 ff.) m. w. N. 76 Zu diesem Aspekt Bullock, Hitler und Stalin, Parallele Leben, 1991. 77

Zitelmann, Nationalsozialismus und Antikommunismus, in: Backes/ Jesse/Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 218 (228). ™ Geiss, a. a. O., S. 122. Ebenfalls ablehnend: Furet, in: ders./ Nolte, „Feindliche Nähe", 1998, S. 35 („... nicht irrelevant, aber ... nicht die Bedeutung einer Beziehung von Ursache und Wirkung"); H. Mommsen, Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus, in: „Historikerstreit", 1987, S. 174ff.; S. 182 („... nicht nur methodisch unhaltbar, sondern auch in [den] Prämissen und Schlußfolgerungen absurd . . . , allenfalls ließe sich auf historisch notwendige psychologische Handlungsbedingungen verweisen"); Zitelmann, Nationalsozialismus und Antikommunismus, in: Backes /Jesse /Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 218 (233). so So auch Geiss, Geschichte des Rassismus, 1988, S. 293. 81 Winkler, Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen, in: „Historikerstreit", 1987, S. 256 (261). 82 So auch Bracher, Wendezeiten der Geschichte, 1995, S. 223. 83 Geiss, a. a. O., S. 122.

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5. Unsicherheit der Quellenlage Auch in diesem Bereich könnte man, wollte man einen umfassenden Überblick über die Quellenlage zum Nationalsozialismus und insbesondere zum Holocaust geben, eine eigene Monographie schreiben. Bestandsaufnahme und Quellenkritik sind aber zu allererst das Metier der Fachhistoriker, die dieser Aufgabe auch in heute kaum noch überschaubarem Umfang nachgekommen sind. Gleichwohl muß man sich über die kritischen Punkte der Quellenlage zum Nationalsozialismus, also vor allem über die grundsätzlichen „Unsicherheiten", klar werden, will man zu einer treffsicheren Aussage darüber gelangen, was aus Sicht der etablierten Zeitgeschichtsforschung zu den hinreichend belegten Kerntatsachen des Holocaust gehört. Im Bereich der Zeitgeschichtsforschung spielt die Erinnerung von Zeitzeugen gemeinhin eine besonders wichtige Rolle. Ihre Einbeziehung in die Forschung liegt nahe, weil - anders als bei weiter zurückliegenden geschichtlichen Epochen - das unmittelbare Erleben und seine Schilderung eine facettenreiche und farbige Geschichtsschreibung verspricht. Schon unmittelbar nach dem Ende des Dritten Reiches sind Erinnerungsbücher von Zeitzeugen erschienen, in der Folge immer wieder Sammelbände herausgegeben worden, die unter anderem die Aussagen der wenigen überlebenden Mitglieder der Sonderkommandos, die die Leichen aus den Gaskammern zu den Verbrennungsöfen transportierten, dokumentieren. 84 Aber auch Erlebnisberichte aus der Täterperspektive liegen vor. 85 Christopher Brownings bekannte Studie über das Reserve-Polizeibataillon 101 stützt sich schwerpunktmäßig auf Vernehmungsprotokolle mutmaßlicher Täter. 86 Der kritische Punkt bei solchen Zeugnissen ist, daß ihre subjektive Färbung geradezu ein Wesensmerkmal darstellt. Je nach Zeitpunkt der Niederschrift oder Protokollierung können verschiedene Einflüsse eine Rolle gespielt haben. Und so manche Nuance des jeweiligen Berichts ist, auch wenn der Zeitzeuge noch so um Objektivität bemüht war, Vorverständnissen und Eigeninteressen geschuldet.87 Diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ist die vornehmste Aufgabe der Quellenkritik. Die kritische Haltung 84

Ζ. B. Greif, Wir weinten tränenlos ... Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos" in Auschwitz, 1995; Kogon, Der SS-Staat, Neuausg. 1974.; Filip Müller, Sonderbehandlung, Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz, 1979. 85 Am bekanntesten: Broad-Bericht, Aussage von Pery Broad, einem SS-Mann der politischen Abteilung im Konzentrationslager Auschwitz, abgedruckt bei: Naumann, Auschwitz, Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, 1965, S. 200ff.; Broszat (Hrsg.), Kommandant in Auschwitz, Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, 1963. Browning, Ganz normale Männer, 1993, S. 193. 87 Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 140 f. meint, „Nachkriegsaussagen" der Täter seien wegen ihrer Tendenz zur Abschwächung „für die Rekonstruktion der historischen Wahrheit... fragwürdig". Zur Vorsicht raten auch Browning, Ganz normale Männer, 1993, S. 194ff.; Wodak/Menz/Mitten/Stern, Die Sprachen der Vergangenheiten, 1994, S. 92 f.

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des Forschers gegenüber jedem Zeitzeugnis gehört nämlich wie selbstverständlich zum „Handwerk". Daher ist höchste Vorsicht gegenüber dem vorschnellen Schluß angebracht, sorgfältig begründete Zweifel am Inhalt einzelner Quellen seien ein Indiz für unlautere Absichten. Insgesamt läßt sich zwar sagen, daß die Dichte der Aussagen von Zeitzeugen und die widerspruchsfreie Erwähnung der immer gleichen Geschehnisse ein nahezu geschlossenes Bild vom Holocaust in seinen prägenden Grundzügen geliefert hat. Die nachvollziehbare Tendenz von Zeitzeugen, die eigene Rolle möglichst positiv darzustellen und die Schuld anderen zuzuweisen, muß allerdings korrigierend berücksichtigt werden. „Schließlich ist der Holocaust eine Geschichte mit viel zu wenig Helden und viel zu vielen Tätern und Opfern." 88 Nicht nur legitim, sondern für eine seriöse Geschichtswissenschaft unerläßlich ist es, das aus Zeitzeugenberichten gewonnene Bild des nationalsozialistischen Völkermordes mit anderen Quellen abzugleichen. Wichtigste Quelle sind hierbei die überlieferten Dokumente, also Schriftstücke und Fotografien. Schon die Anklagebehörde im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß hatte unzählige, vorwiegend amtliche Dokumente zusammengetragen.89 Ein immer wieder auftauchendes Grundproblem ist die Frage der Echtheit eines Dokuments, die bei Zweifeln letztlich nur durch ein Sachverständigengutachten geklärt werden kann. Auch wenn im Einzelfall das Verdikt gesprochen werden müßte, ein Dokument sei nicht authentisch, ist es geradezu absurd, die gesamten überlieferten Dokumente als auf diesem Wege zustandegekommen zu bezeichnen. Die hierfür erforderliche ,»Fälscherwerkstatt", die offenbar in einigen Köpfen herumspukt, gibt es auf dieser Welt nicht. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die Aktenlage keineswegs vollständig ist, viele Zeugnisse des mörderischen Vorgehens wurden vernichtet. „Die Täter waren sich der Singularität ihres Verbrechens bewußt und verwischten die Spuren, so gut sie konnten." 90 Auch muß man in Rechnung stellen, daß die Leugnung des Völkermordes schon während seiner Ausführung ganz notwendig dazugehörte, daß der Holocaust nicht ohne Grund „Geheime Staatssache" war. Dem trägt auch die vielfach im Schriftverkehr verwendete „Tarnsprache" Rechnung, deren Entschlüsselung in Grenzfällen noch heute Schwierigkeiten bereiten kann. 91 Die Opfer sollten nämlich ungewarnt in den Tod gehen, Reibungsverluste sollten vermieden werden und schließlich sind sich die Nationalsozialisten des Echos in der Bevölkerung bis zuletzt nicht sicher gewesen.92 Einigen Äußerungen Heinrich Himmlers, Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, ist zu entnehmen, daß 88

Browning, Ganz normale Männer, 1993, S. 207. Dokumentenindex, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, 23 Bände, 1949, Bd. 23, S. 461 ff. 90 Aly, „Endlösung", 1995, S. 394. 89

Zu diesen Schwierigkeiten eindrucksvoll Aly, „Endlösung", 1995, S. 21, 255, 279. Vgl. auch Auerbach, „Sonderbehandlung", in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 187 ff.; Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 195; Kogon/Langbein/Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas, 1986. 92 Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 220.

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er bei allem Stolz auf die mörderische „Leistung" seiner SS davon überzeugt war, der jetzt lebenden Generation dürfe man vom wahren Ausmaß der Tötungen keine Kenntnis geben. Wenn überhaupt, so könne man erst später davon reden, „vielleicht erst nach Jahrzehnten äußerster Verleumdung". 93 Nicht selten stoßen Historiker auch - vor allem, wenn sie die erst seit kurzem frei zugänglichen osteuropäischen Archive auswerten - auf Quellen, welche sich in den bisherigen Forschungsstand nur schwer einfügen lassen („disparate Dokumente").94 In vielen Bereichen ist das Wissen noch lückenhaft, was sich am Beispiel des Baltikums zeigen läßt. „Was sich 1941 im Baltikum, in Lemberg, Minsk und Kiew abgespielt hat, ist vergleichsweise gut dokumentiert, aber jenseits dieser Linie gibt es riesige Gebiete, die hinsichtlich der Holocaust-Forschung bis heute terra incognita sind." 95 Wer also die Vorstellung hat, die vorhandenen Dokumente ergäben ein lückenloses Bild bis hinein in alle Details des Holocaust, sieht sich getäuscht.96 Andererseits ist es aber nicht so, daß die „blinden Flecken" überwögen. Insgesamt ist daher bezüglich der Dokumentenlage die Schlußfolgerung angebracht, daß trotz oder gerade wegen fortdauernder intensiver Forschungsbemühungen manche fachwissenschaftliche Kontroverse, insbesondere über Einzelheiten, auch in den nächsten Jahrzehnten unvermeidbar sein wird. 97 Ein letzter Themenkreis ist wegen seiner Wichtigkeit für die Problematik des Auschwitz-Leugnens herauszugreifen und näher zu beleuchten. Während sich die Zeitgeschichtsforschung zunächst um Überblicksdarstellungen zu den Grundlinien des nationalsozialistischen Herrschaftssystems 98 und des Gesamtvorgangs des Holocaust99 bemühte, ist der Fokus in jüngerer Zeit Schritt für Schritt enger geworden. Neben den zahlreichen Hitler-Biographien 100 und den Lebensbeschrei93 Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 221 m.N. 94 Aly, „Endlösung", 1995, S. 339. 95

Wilhelm, Offene Fragen der Holocaust-Forschung, in: Backes/ Jesse /Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 403 (405) (Hervorheb. i. Orig.). 96 Das gilt vor allem für die Rolle Hitlers; vgl. Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 17 f. 97 So auch Aly, „Endlösung", 1995, S. 387. 98 Nach wie vor nicht überholt: Anatomie des SS-Staates, 2 Bände, 1967, enthält die Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte für den Auschwitz-Prozeß. Bd. 1 : Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 15 ff.; ders., Befehl und Gehorsam, S. 215 ff. Bd. 2: Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, S. 11 ff.; Jakohsen, Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, S.. 137 ff.; Krausnick, Judenverfolgung, S. 235 ff. 99 Grundlegend: Gutmann u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, deutsche Ausgabe (hrsg. von Jäckel/Longerich/Schoeps), 4 Bände, 1993; Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bände, 1990; Jäckel/Rohwer (Hrsg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, 1987. Als „Klassiker" ist zu nennen: Reitlinger, Die Endlösung, 4. Aufl. 1961. 100 Die wichtigsten: Bullok, Hitler, Eine Studie über Tyrannei, 1977; J. C. Fest, Hitler, Eine Biographie, 2 Bände (Bd. 1: Der Aufstieg, Bd. 2: Der Führer), 1973; Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 21. Aufl. 1978; Zitelmann, Hitler, Selbstverständnis eines Revolutionärs, 3. Aufl. 1990.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

bungen anderer namhafter NS-Größen 101 werden immer mehr Teilbereiche einer genaueren Beschreibung und Analyse unterzogen. 102 Diese Spezialstudien bieten je für sich eine sehr viel genauere Bestandsaufnahme der für ihr Thema relevanten Quellenlage, als sie in einer überblicksartigen Darstellung jemals geliefert werden könnte. So blieb es auch nicht aus, daß man sich inzwischen mit der Vernichtungsmaschinerie des Konzentrationslagers Auschwitz en detail wissenschaftlich beschäftigt hat. 1 0 3 Die vorerst einzige 104 und daher wegweisende Studie in diesem Bereich ist das vieldiskutierte Buch von Jean Claude Pressac. 105 Schon die Person des Autors weist enge Bezüge zum Thema „Auschwitz-Leugnen" auf, handelt es sich bei Pressac doch um einen ehemaligen Weggefährten von Robert Faurisson. Faurisson, der uns in der Folge noch ausführlicher beschäftigen wird, zählt zu den führenden Köpfen der französischen „Revisionisten". Anfangs treibt Pressac ein Impuls, der sich in der Wissenschaftsgeschichte oft als entscheidender Faktor des Erkenntnisgewinnes erwiesen hat: Pressac zweifelt an der Realität der Massenvergasungen. Er sammelt akribisch Baupläne, Korrespondenzen, Kostenvoranschläge, Gesprächsprotokolle und Fotografien des Konzentrationslagers Auschwitz, um damit die technische Untauglichkeit der Anlagen für Massenvernichtungen belegen zu können. Am Ende entsteht jedoch eine Studie mit völlig entgegengesetztem Ergebnis. Unter dem Eindruck der ernüchternden Quellenlage setzt sich bei Pressac die Überzeugung durch, daß die ausgewerteten Dokumente die Aussagen der Zeitzeugen im wesentlichen stützen. Es wäre also für die Ausräumung von naturwissenschaftlich begründeten Zweifeln hilfreich gewesen, hätte die Sowjetunion die in ihren Archiven lagernden Unterlagen, welche Pressac jetzt publiziert hat, schon vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems zugänglich gemacht. 106 So ist das Buch von Pressac nicht nur ein eindrucksvoller Beleg für die Realität des Holocaust, sondern auch ein Sieg ernsthaft betriebener Wissenschaft über die Irrationalität.

101

Einen Überblick bieten: J. C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches, 1963 (Neuausg. 1993), S. 103 ff.; Smelser/Zitelmann (Hrsg.), Die braune Elite, 22 biographische Skizzen, 1989. Wichtige Einzelstudie: Herbert, Best, Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, 2. Aufl. 1996. 102 Im hier interessierenden Zusammenhang besonders wichtig: Aly, „Endlösung", 1995; Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, 1991; Drobisch/Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933 -1939,1993; Sofsky, Die Ordnung des Terrors, 4. Aufl. 1993. 103 Für die Notwendigkeit der Beseitigung eines „im Detail fragmentarischen Forschungsstandes" plädiert eindringlich Scheffler, NS-Prozesse als Geschichtsquelle, in: ders./Bergmann (Hrsg.), Lerntag über den Holocaust, 1988, S. 13 (25). 104 Wenn man von den auf naturwissenschaftliche und technische Fragen konzentrierten „Gutachten" radikal-revisionistischer Autoren einmal absieht. Siehe unten Erster Teil, Β. I., S. 77 ff. 105

Pressac, Auschwitz - Technique and Operation of the Gas-Chambers, Beate KlarsfeldFoundation 1989. Besser zugänglich ist die überarbeitete deutsche Ausgabe: Die Krematorien von Auschwitz, Die Technik des Massenmordes, 2. Aufl. 1995. 106 So auch Heinson, Warum Auschwitz?, 1995, S. 40.

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6. Opferzahlen Mit der Erörterung der bereits stark in die Einzelheiten gehenden Studie von Pressac ist der Übergang von den zeitgeschichtlichen Kontroversen, die sich um die qualitative Dimension des Holocaust entzündet haben, zu den Kontroversen um seine quantitative Dimension vollzogen. Im Mittelpunkt der Diskussion steht seit Jahrzehnten die Frage, wie viele Menschen Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes geworden sind. 107 In einer allerersten Reaktion könnte man annehmen, darüber könne es ja wohl keine seriöse Kontroverse geben, es sei schließlich Allgemeinwissen, daß rund sechs Millionen Juden der „Endlösung" zum Opfer gefallen seien. Dieser erste Impuls trifft etwas Richtiges, blendet aber auch Entscheidendes aus. Richtig daran ist, daß es erlaubt sein muß, zum Zwecke des Gedenkens die Dimension des Schrecklichen auch in entsprechend plakativen Zahlen, wie sie kurz nach dem Ende des Krieges aufgrund überschlägiger Schätzungen ermittelt wurden, zum Ausdruck zu bringen. Von bestimmten Zahlen hängt das Erschrecken über das „Weltverbrechen Auschwitz" aber nicht zwangsläufig ab. Moralisch und juristisch gesehen - das versteht sich von selbst - wäre schon das erste und einzige Opfer eines Völkermordplanes unstreitig schwerstes Unrecht. Andererseits ist die historische Dimension des Holocaust von den Opferzahlen auch nicht völlig unabhängig. Im Bewußtsein der Weltöffentlichkeit wächst die Bestürzung über ein Verbrechen naturgemäß mit der Zahl der Menschen, die ihm zum Opfer gefallen sind. Es ist daher durchaus denkbar; daß jemand, der die Opferzahlen „herunterrechnet", damit die Dimension des nationalsozialistischen Völkermordes abzuschwächen versucht, was man als „quantitative Verharmlosung" bezeichnen könnte. Dieses Verdikt ist vor allem dann angebracht, wenn es sich nicht um Korrekturen im oberen Grenzbereich der Opferzahl handelt, sondern mit derart geringen Zahlenangaben operiert wird, daß der Holocaust - bildlich gesprochen - zu einer Fußnote in der Chronik der historischen Unrechtstaten verkümmert. 108 Man kann zwar keinen exakten Grenzwert angeben, ab dem die errechnete Opferzahl nicht mehr das Ergebnis seriöser Forschung sein kann, doch ist die Tendenz hinreichend klar. Abgesehen von diesen klaren Fällen sind plausibel begründete Korrekturen aber gänzlich unverdächtig. Das ergibt sich schon aus dem selbstverständlichen Anspruch der Geschichtswissenschaft, möglichst exakt zu arbeiten. Dieser Aspekt ist wichtig - aber keineswegs das einzige Argument, welches für eine ständige Bereitschaft zur Korrektur spricht, wenn es die Quellenlage und das mit fortschreitenden Forschungsbemühungen tendenziell anwachsende Faktenwissen erfordern. Das entscheidende Argument gegen vorschnelle Festlegungen ist nämlich die Notwendigkeit innerer Widerspruchsfreiheit des historischen Gesamtbildes vom nationalsozialistischen Völkermord. 107 Einen Überblick gibtAfy, Macht, Geist, Wahn, 1997, S. 185 ff. 108 So auch E. Nolte , Streitpunkte, 2. Aufl. 1994, S. 312.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß davon die Gesamtopferzahl in nennenswertem Umfang berührt würde, ergeben sich durch neue Erkenntnisse oft andere Gewichtungen. So ist es denkbar, daß in der Zeit kurz nach dem Ende des Dritten Reiches der Anteil der Gaskammertötungen tendenziell zu hoch, der Anteil der systematischen Erschießungen, 109 der planmäßigen Tötung durch Gifteinspritzung, 110 der „Vernichtung durch Arbeit", 111 der Ermordung durch Unterwerfung unter todbringende Lebensbedingungen - unzureichende Kleidung, Unterbringung und Versorgung sowie permanente Seuchengefahr - und nicht zuletzt der Anteil der Opfer der Todesmärsche 112 aufgrund damals fehlender Detailkenntnisse eher zu gering veranschlagt wurde. Daß durch eine andere Gewichtung notwendig eine „Entlastung" erreicht würde, ist ein - freilich beliebter - Fehlschluß. Ganz im Gegenteil zwänge eine höhere Zahl von Opfern, die nicht in der Abgeschiedenheit der Konzentrationslager unter strikter Geheimhaltung und nur mit Kennntnis einer überschaubaren Anzahl von SS-Angehörigen ums Leben gekommen wären, zu dem Schluß, große Teile des deutschen Volkes hätten von den Vernichtungsmaßnahmen gewußt 113 oder seien sogar aktiv daran beteiligt gewesen. Die erst in jüngster Zeit nachdrücklich thematisierte Verstrickung der Wehrmacht in die Massentötungen von Zivilisten ist ein Beispiel für eine solche erweiterte Verantwortungszuschreibung. 114 Um Plausibilität und Widerspruchsfreiheit geht es auch, wenn bei bestimmten Tötungsarten die Zahl der Opfer aufgrund naturwissenschaftlicher und technischer Rahmenbedingungen notwendig limitiert ist. Seit Ρ ressacs Studie über die Technik der Vernichtungsanlagen in Auschwitz 115 haben 109 Grundlegend zu den Einsatzgruppen Krausnick /Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges, Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942,1981, S. 620: Dokumentiert sei die Ermordung von „mindestens 535.000 jüdischen Menschen", aufgrund des weiteren Quellenmaterials sei davon auszugehen, „daß nicht weniger als 700.000750.000 Juden bereits im ersten Dreivierteljahr der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft auf sowjetischem Boden den ... Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer gefallen sind". no Ζ. B. die Tötungen mit Phenol im Häftlingskrankenbau des Stammlagers Auschwitz; vgl. Auschwitz-Urteil, abgedruckt bei: Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 190. in Hierzu prägnant und kenntnisreich der zweite empirische Teil der Arbeit von Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 336 (362, 368, zusf. 375 f.); S. 382: „Die Arbeit der Juden war der Tod auf Raten." Vgl. auch Scheffler, Wege zur „Endlösung", in: Strauss /Kampe (Hrsg.), Antisemitismus, 1985, S. 186 (208 f.). ι 1 2 Siehe den dritten empirischen Teil der Arbeit von Goldhagen, Hitlers willige Vollstrekker, 1996, S. 385 ff.; S. 436: „Die Todesmärsche waren nichts anderes als eine Fortsetzung der Konzentrations- und Vernichtungslager..." h 3 Zur Frage der Kenntnis der Deutschen von den Völkermordverbrechen Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 141, 192, 199f.; S. 201: „Die in der Nachkriegszeit allgemein zu hörende Behauptung, die Deutschen hätten nichts gewußt, war ein mühsam errichteter Scheingrund, mit dem die Schuld verleugnet werden sollte." 114 Heer, Killing Fields, Die Wehrmacht und der Holocaust, in: Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg, 1995, S. 57 ff.; Klee/Dreßen, „Gott mit uns", Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, 1989, S. 101 ff., 117ff.; A. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug, 1989. 115 Pressac, Die Krematorien von Auschwitz, 2. Aufl. 1995.

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wir genauere Kenntnisse über die Kapazitäten der Gaskammern und der Krematorien, die sich durch vertiefende Studien in Zukunft voraussichtlich noch präzisieren lassen werden. 116 Die seriöse Geschichtswissenschaft beruft sich daher nicht lediglich auf irgendein wertfreies „Wissenschaftsethos", wenn sie die Opferzahlen entsprechend dem aktuellen Forschungsstand korrigiert, sondern vermeidet damit vor allem, sich zum Gespött derjenigen zu machen, denen an der historischen Wahrheit von Auschwitz wenig, an den Opfern nichts, dafür aber aus durchsichtigen Gründen alles daran liegt, die Arbeit der Zeitgeschichtsforschung gründlich zu diskreditieren. Prinzipiell gibt es zwei Methoden zur Feststellung der Zahl der jüdischen Opfer des Holocaust. Die erste Methode ist die direkte, bei der durch Addition der Opferzahlen der Konzentrations- und Vernichtungslager, der Gettoräumungen, der Einsatzgruppen sowie anderer dokumentierter Einzelaktionen eine Gesamt-Opferzahl errechnet wird. Die zweite Methode ist die indirekte - auf dem Vergleich von Bevölkerungsstatistiken vor und nach dem Holocaust beruhende - Berechnung. Beide Methoden werden üblicherweise kombiniert, um einen Abgleich der Ergebnisse zu ermöglichen. 117 „Einer mathematisch-exakten Beweisführung, die in der Feststellung genauer Zahlenangaben münden würde, stehen erhebliche quellenmäßige und methodische Schwierigkeiten gegenüber, die gewöhnlich unterschätzt, aber als Beweis für vermutete politische Absichten oder für die Unfähigkeit der Historiker gerne benutzt werden." 118 Wolfgang Benz hat sich trotz der Gefahr, in gleicher Weise gescholten zu werden, der Mühe unterzogen, eine Gesamtberechnung der Opferzahl herauszugeben. Das Werk beruht auf 17 Länderstudien, die jeweils von ausgewiesenen Spezialistinnen und Spezialisten erstellt worden sind. Dadurch konnte den Besonderheiten der länderspezifischen Quellenlage119 Rechnung getragen werden, und das Gesamtwerk behält selbst dann bleibenden Wert, wenn in Einzelbereichen neue Erkenntnisse hinzukommen sollten. In der Gesamtbilanz hat Benz ein „Minimum von 5,29 Millionen und ein Maximum von knapp über sechs Millionen" jüdischen Opfern errechnet, für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau geht die Studie davon aus, daß im September 1941 und von Januar 1942 bis November 1944 etwa eine Million Juden „durch Giftgas ermordet

116

Pressac, a. a. O., S. 202 gibt die Zahl der nichtregistrierten, in Gaskammern getöteten Juden mit 470.000-550.000 an. Die Todesfälle der registrierten Häftlinge (Juden und Nichtjuden) mit 126.000, der sowjetischen Kriegsgefangenen mit 15.000, der übrigen (Sinti und Roma usw.) mit 20.000 und kommt so auf eine Gesamtopferzahl von 631.000-711.000. Eine seriöse Kapazitätsangabe der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz findet sich auch bei Sofsky, Die Ordnung des Terrors, 1993, S. 300. 117 Zu den Schwierigkeiten der Umsetzung von Bevölkerungs- und Umsiedlungsdaten in Opferzahlen Aly/Heym, Vordenker der Vernichtung, 2. Aufl. 1994, S. 153 f., 276 ff.; Aly, „Endlösung", 1995, S. 198 f. (mit Kritik an Benz). 118 Benz., Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Dimension des Völkermords, 1991, S. 1. 119 „ . . . für Österreich ist die Quellenlage ausgezeichnet, für Albanien mehr als unbefriedigend, um nur zwei Beispiele zu nennen." {Benz, a. a. O., S. 14).

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wurden". 120 „Diese Zahlen, das kann bei aller Vorsicht konstatiert werden, kommen der Realität so nahe, wie das nur möglich ist." 1 2 1

7. Auschwitz-Erklärungen Nach dem knappen Überblick über Quellenlage und Opferzahlen soll der Blick noch einmal von den Einzelheiten - über die man noch vieles schreiben könnte auf einen übergreifenden Aspekt gelenkt werden. Auf die Frage nämlich, ob man Auschwitz rational erklären kann. Die Frage „Warum Auschwitz?" kann man als ungeheure Zumutung, bestenfalls als sinnlos empfinden, aber sie hängt mit dem Stand der Zeitgeschichtsforschung und dem Leugnen des Holocaust enger zusammen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Die denkbar radikalste Beantwortung dieser Frage besteht nämlich darin, die historische Realität mit der Begründung zu leugnen, 122 das gesamte Volkermordgeschehen sei so unerklärlich, unglaubhaft oder gar widersinnig - man denke nur an die Bindung von Transportund Personalkapazitäten, die an der Front dringend gebraucht worden wären - , daß es „eigentlich" gar nicht stattgefunden haben könne. Man sollte die in dieser Überlegung liegende intellektuelle Herausforderung nicht unterschätzen. Denn die Eigenschaft des Holocaust, nur unter äußersten Anstrengungen begreifbar zu sein, ist die geistige Keimzelle für seine Leugnung. 123 Diesem Umstand sind schon zum Zeitpunkt seiner Ausführung viele Zeitgenossen innerhalb und außerhalb Deutschlands auf den Leim gegangen, wenn sie trotz sich immer mehr verstärkender Gerüchte über Massentötungen an Juden im Osten den Gedanken verwarfen, die Berichte könnten wahr sein. „Es scheint, daß diese Informationen einen komplexen psychologischen Prozeß der Verleugnung und der Unterdrückung bei den Hörern und Lesern ausgelöst haben." 124 Selbst nach der Flucht der Auschwitz-Häftlinge Rudolf Vrba 125 und Alfred Wetzler im April 1944, die einen detaillierten Bericht über die Vernichtungsaktionen in Auschwitz über Geheimdienstkanäle an die alliierten Regierungen gelangen ließen, siegte letztlich 120

Benz, a. a. O., S. 17. Die Zahlen kommen denen von Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bände, 1982 (aktualisierte Neuausg. 1990), S. 1280 (1299 f.) sehr nahe: 5.100.000 Gesamtopfer, eine Million im „Todeslager Auschwitz". 121 Benz, a. a. O., S. 15. Weitere Zahlenangaben bei Gutmann u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust, deutsche Ausgabe Bd. IV, 1993, S. 1735 ff.; Piper, Auschwitz, Wie viele Juden, Polen, Zigeuner ... wurden umgebracht?, 1992; ders., Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, 1993. »22 Heinson, Warum Auschwitz?, 1995, S. 39 f. 123 Werte/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 214. m Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 156; vgl. auch Auerbach, Judenvernichtung - was wußten die Deutschen?, in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 112 ff. 125 Vrba war Zeuge im Auschwitz-Prozeß; vgl. Werle/Wandres, a. a. O., S. 75 f.

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die Ungläubigkeit. 126 Ein wichtiger Faktor dafür ist sicherlich, daß sich das ungeheure Ausmaß der Verbrechen menschlicher Vorstellungskraft entzog. „So ist also das, was als der Holocaust bekannt wurde, selbst für Gegner der Nationalsozialisten, die absichtlich nach Informationen suchten, eine unfaßbare und daher nicht zu glaubende Wirklichkeit gewesen." 127 Wie schwer muß es daher einem nachgeborenen Deutschen fallen, die ganze schreckliche Wahrheit zu akzeptieren? Ist es möglich, sich bruchlos damit abzufinden, daß möglicherweise der eigene Vater oder Großvater zu Hitlers „willigem Vollstrecker" geworden ist? - Insofern enthält das Wort von der „Gnade der späten Geburt" viel mehr schweren Existentialismus, als dies den „unbekümmerten Redenschreibern des Bundeskanzleramtes" 128 seinerzeit bewußt gewesen ist. Auch wenn für die jüngere Generation das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik - von wenigen Ausnahmen abgesehen keine Frage ist, sitzt doch der Stachel einer in höchstem Maße unrühmlichen Vergangenheit noch immer tief im Fleische. In dieser Lage kann es sich als fatal erweisen, wenn man gegenüber der Generation von Deutschen, welche aufgrund „später Geburt" gar keine eigene Anschauung des seinerzeitigen Geschehens haben kann, 129 darauf beharrt, der Holocaust sei nicht zu erklären, nicht zu verstehen und schon gar nicht zu begreifen, dafür aber umso fester zu glauben. Die Forderung eines nicht hinterfragbaren „Glaubens" ist deshalb gefährlich, weil sie notwendig eine gehörige Prise Irrationales enthält und damit den Keim des Unglaubens schon in sich trägt. Und dieser Unglaube ist, das darf man nicht vergessen, wegen des damit verbundenen Wegfalls jeder Verantwortlichkeit um vieles attraktiver als der Glaube an die historische Wahrheit. So verständlich es ist, wenn Pädagogen in durchaus guter Absicht vor allem das genuin Furchtbare und damit Unbegreifliche am Holocaust herausstellen, um damit tiefste Betroffenheit zu erzeugen, so sehr kann dieses Bemühen unversehens in das Gegenteil des Angestrebten umschlagen. Das Bemühen um die Beantwortung der Frage „Warum Auschwitz?" ist daher im Grunde nur der beinahe verzweifelte Versuch, das Unfaßbare wenigstens so weit faßbar zu machen, daß seine notwendige Tradierung an nachfolgende Generationen gelingt. Daher kann man nur eindringlich davor warnen, die beiden bereits ausführlich charakterisierten Aspekte der Geschichtserinnerung unbedacht in Eins zu setzen. 126 Ausführlich Lichtenstein, Warum Auschwitz nicht bombardiert wurde, 1980, 21 ff.; im Anhang sind die Berichte von Vrba und Wetzler abgedruckt (S. 133 ff.). 127 Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 157. 128 Bude, Bilanz der Nachfolge, 1992, S. 81; der damalige Bundeskanzler Kohl ist für diese „geschichtslose" Redewendung heftig gescholten worden. 129 Wolffsohn, Das Bild als Gefahren- und Informationsquelle, in: Backes/ Jesse/Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 522 ff.; 524: „Wir, die Nachgeborenen des Holocaust, Nichtjuden ebenso wie Juden, müssen, allein schon aus biologischen Gründen, keine Sühne leisten, denn wir sind nicht schuldig geworden. Nicht Umkehr ist unsere Aufgabe, aber das Verhindern der Wiederkehr."

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Zum Zwecke tiefempfundenen Gedenkens mag es unentbehrlich sein, den Holocaust aus der Geschichte herauszulösen und ihn als ein letztlich unbegreifbares Faktum einzuordnen. Anders hält das menschliche Gehirn diesen Akt des Erinnerns wahrscheinlich auch gar nicht aus. Gleichzeitig muß aber, so schwer das fallen mag, ganz unabhängig davon der Aspekt des rationalen Begreifens berücksichtigt werden. Auch wenn aus Gründen verständlicher emotionaler Betroffenheit nicht jeder auf diesem Terrain wirken will oder kann, so muß doch der rationalen Auseinandersetzung zumindest für Historiker und zeitgeschichtlich Interessierte Raum gegeben werden. Für die jüngere Historikergeneration spielen, weil eine persönliche biographische Verstrickung ausscheidet, „Rechtfertigungs- und Anklagebedürfnisse keine zentrale Rolle mehr". 1 3 0 Daher enthalten gerade die jüngeren Arbeiten, die bereits ausgiebig gewürdigt wurden, regelmäßig nüchterne und gut begründete Analysen der wirkmächtigen Antriebsfaktoren des Holocaust. Diese Erklärungen sind zwar weit davon entfernt, eine einzige griffige Gesamterklärung zu liefern, doch können dadurch zumindest einzelne Aspekte nachvollziehbar gemacht werden, beispielsweise der scheinbare Widerspruch zwischen effizienter Kriegführung und der gleichzeitigen Verwendung unentbehrlicher Ressourcen zur Durchführung der „Endlösung". 131 Neben diesem Bemühen, Teilaspekte rational nachvollziehbar zu machen, gibt es - soweit ich es übersehe - in der zeitgeschichtlichen Literatur auch zwei ganz grundsätzliche und übergreifende Erklärungsansätze, die der intentionalistischen Schule nahestehen. Der erste Ansatz stammt von Gunnar Heinson, der die Frage „Warum Auschwitz?" dahingehend beantwortet, Hitler habe mit den Juden nicht lediglich deren personale Existenz zu beseitigen versucht, sondern den Jüdischen Geist". 132 Dieser jüdische Geist habe seinen Kern im „Lebensheiligkeits- und Liebesgebot", also letztlich im menschlichen Gewissen. Durch Beseitigung des Tötungsskrupels habe sich Hitler einen strategischen Vorteil in den künftigen Eroberungskriegen verschaffen wollen. 133 Damit erkläre sich auch bruchlos der augenfällige Widerspruch zwischen Kriegführung und der Bindung von Kräften durch die Judenvernichtung: „Die Gelehrten scheitern am Aufdecken des Zusammenhangs, weil sie davon überzeugt sind, daß beide Ziele einander doch behindern. Hitler sieht das ganz anders. Er braucht tötungswillige Deutsche für den Krieg und will sie dafür von der jüdischen Ethik befreien." 134 Die rücksichtslose Vernichtung des Schwächeren durch den Stärkeren, welche Hitler am Walten der Natur zutiefst bewundert hat, 135 werde durch das jüdische Gesetz bekämpft und 130 Backes / Jesse /Zitelmann, Was heißt: „Historisierung" des Nationalsozialismus, in: dies. (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit, 1990, S. 25 (39,43). 131 Aly, „Endlösung", 1995, S. 279, 319 f. Hingegen hält Geiss, Geschichte des Rassismus, 1988, S. 287 an der „Widersinnigkeit" fest und erklärt sie so: „Der Haß auf die Juden hatte ... eine Eigendynamik gewonnen, die andere rationale Überlegungen beiseite schob." »32 Heinson, Warum Auschwitz?, 1995, S. 132.

1 33 Heinson, a. a. O., S. 140, 172. ι** Heinson, a. a. O., S. 163.

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verboten. Hitler habe die Deutschen von diesem Gesetz befreien wollen, „damit sie im anstehenden Völkerringen nicht aus »Gefühlsduseleien"* oder „aus mangelnder »Rücksichtslosigkeit4 untergingen". 136 Heinson zieht daraus den Schluß, daß „den Anfängen wehren" vor allem heiße, die Gefahren aufzuzeigen, die von einer solchen Ideologie ausgehen. Die Behauptung, es gebe Ziele, die höher stünden als das Tötungsverbot, sei nämlich die geistige Keimzelle jedes, auch jedes künftigen Völkermordes. 137 Der zweite übergreifende Ansatz ist Heinsons Erklärung verblüffend ähnlich und stammt von - Ernst Nolte: „Was Hitler letzten Endes anzuhalten und zu beseitigen versuchte, war ... der Prozeß der Jntellektualisierung der Welt4, das immer stärkere Hervortreten der ratio von Individuen und der damit verbundenen Komplizierungen, Undurchsichtigkeiten, ,Unnatürlichkeiten\ die nichts Geringeres als die Herrschaft der »grausamen Königin aller Weisheit4, der Natur, und damit die Entfaltung des wahren Lebens kriegerischer Tapferkeit und weiblicher Fruchtbarkeit zerstören. 44 Hitler habe die Juden als angebliche Urheber der „Transzendenz, die im »Intellekt4 ihre greifbarste Erscheinungsform hat44 und damit des offensichtlichen Gegenentwurfs zu seiner „Weltanschauung44 1 3 8 beseitigen wollen. „Kein »Intellektueller4 kann daran zweifeln, wie er urteilen soll, da er in den Juden sein eigenstes Wesen verworfen sieht. 44139 Diese übergreifenden Erklärungsansätze sind erst der Anfang einer sich am Horizont abzeichnenden zeitgeschichtlichen Kontroverse und werden möglicherweise noch Erwiderungen nach sich ziehen. Läßt man sich auf die beiden vorliegenden Antworten zur Ausgangsfrage „Warum Auschwitz?44 ein, so drängt sich freilich eine Folgefrage auf. Wie konnte Hitler auf die Idee kommen, seinen „Kampf der Weltanschauungen44 bis zur buchstäblich letzten Konsequenz zu führen? Wie konnte er sich zu dem Entschluß versteigen, ein ganzes Volk auszurotten? War Hitler ein Wahnsinniger? 140 Heinson verneint diese Frage, weil Hitler im Sinne seiner „neuen Moral 44 durchaus nachvollziehbar und erschreckend folgerichtig gehandelt habe. „Wahnsinnig daran ist möglicherweise nur die Gewißheit, durch Judenmord das jüdische Gesetz auch tatsächlich aus der Welt schaffen zu können. 44141 135 Zum Recht des Stärkeren als Naturgesetz vgl. Hitler in: Mein Kampf, München 1926, S. 312 f., 384; Picker, Hitlers Tischgespräche, Neuausg. 1989, S. 187. 136 Heinson, a. a. O., S. 132.

137 Heinson, a. a. O., S. 182. 138 Zu den Elementen der nationalsozialistischen Weltanschauung ebenso Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches, 2. Aufl. 1993, S. 105: „Gegen den Intellekt, die Abstraktion und das konzeptionelle Denken stellte sie die konkrete Erscheinung, das unmittelbare Erlebnis und die visuelle Wahrnehmung und Gestaltung." 139 Alle vorangestellten Zitate aus E. Nolte, Streitpunkte, 2. Aufl. 1994, S. 401. 140 Aus psychiatrischer Sicht de Boor, Wahn und Wirklichkeit, 1997, S. 36 ff. („Der Fall Adolf H."). 141 Heinson, a. a. O., S. 171. 4 Wandres

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

IL Auschwitz und die bundesdeutsche Justiz Nicht nur die Zeitgeschichtsforschung, auch die bundesdeutsche (Straf-)Justiz hat ihren Teil dazu beigetragen, die historische Wahrheit des Holocaust anhand sorgfältig ermittelter Fakten offenzulegen und das Ergebnis in ihren Urteilen als bleibendes Zeugnis für Gegenwart und Zukunft festzuhalten. 142 Ob dieser Anteil bedeutender hätte ausfallen können oder müssen, darüber kann man lange diskutieren. 143 An dieser Stelle müssen einige wenige Bemerkungen genügen. Wäre es der deutschen Justiz wirklich von Anfang an, also spätestens seit Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949, ernsthaft darum gegangen, die Vergangenheit strafrechtlich „aufzuarbeiten", so hätten die Ermittlungsbemühungen unverzüglich und mit Hochdruck einsetzen müssen.144 Ein solches Unternehmen hätte aber, das kann man ohne Umschweife sagen, in krassem Gegensatz zum Zeitgeist der fünfziger Jahre gestanden, der sich in dem Ausruf zusammenfassen läßt: „Das Vergangene soll ruhen!" 145 Daß der Ulmer Einsatzgruppenprozeß 1958 eine Wende einleitete und noch im selben Jahr die Ludwigsburger Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der NS-Verbrechen eingerichtet wurde, ist weithin bekannt. 146 Von 1958 an kam es zu mehreren Strafverfahren, in denen Beteiligte am Holocaust verfolgt und abgeurteilt wurden. Angehörige des Lagerpersonals der Vernichtungslager Chelmno, Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec und Majdanek standen vor Gericht. Angeklagt wurden auch Tötungsverbrechen in den jüdischen Gettos, so beispielsweise in Warschau und in Lodz. Mehrfach waren Tötungsaktionen von SS- und Polizeikommandos in Polen und in der Sowjetunion Gegenstand von Strafverfahren. 147 Die in diesen Verfahren geleistete strafrechtliche Aufarbeitung beschränkte sich im wesentlichen auf das Verhalten solcher Personen, die unmittelbar an Tötungsaktionen beteiligt gewesen waren. Die historische Aufarbeitung war lediglich ein Nebenprodukt der Prozesse, weil Mittelpunkt eines Strafverfahrens stets die Tat des individuellen Angeklagten ist. Ein historisches Gesamtgeschehen kann und darf daher nur erfaßt werden, soweit die individuelle Tat ohne ihren zeitgeschichtlichen Bezugsrahmen unverständlich bliebe. Daß die durchgeführten Strafverfahren den Holocaust keineswegs auch nur nahezu vollständig „aufarbeiteten", liegt offen zutage. Viele der am Völkermord Beteiligten wurden in die Strafverfolgungsmaßnahmen gar nicht einbezogen, das gilt beispielsweise für die Angehörigen der Reichsbahn, die die Transporte in die Vernichtungszentren 142

Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 2. Aufl. 1984; Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, 22 Bände, 1968; Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 23 ff., 94 ff. 143 Krit. Friedrich, Die kalte Amnestie, Neuausg. 1994. 144 Ebenso Scheffler, Der Beitrag der Zeitgeschichte zur Erforschung der NS-Verbrechen, in: Weber/Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren?, 1984, S. 114, 120. M Werle/Wandres, a. a. O., S. 20. M Werle/Wandres, a. a. O., S. 22 ff. M Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 2. Aufl. 1984, S. 165 ff.

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organisierten, aber auch für die Mehrzahl der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, die dafür sorgten, daß die Transporte reibungslos über Ländergrenzen rollten. 148 Schließlich war auch das den Strafverfahren zugrundegelegte juristische Konzept fragwürdig, das von der Grundannahme ausging, man könne das VölkermordUnrecht bruchlos mit den zur Tatzeit geltenden Rechtsregeln des Dritten Reiches erfassen. 149 Viel entscheidender ist für den hier interessierenden Zusammenhang die Frage, ob der Nachkriegsjustiz andere, vielleicht sogar bessere und weitergehende Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung standen als der Zeitgeschichtsforschung. Klar ist, daß sich Richter und Historiker aus verschiedenen Perspektiven dem historischen Gegenstand nähern, der Richter durch die Beschränkung auf gesetzlich zugelassene Beweismittel und durch die Bindung an prozessuale Beweisregeln (in dubio pro reo) eher über einen eingeschränkteren Fokus verfügt. 150 Andererseits kann nur die Justiz Tatverdächtige und Zeugen vorladen und nur sie verfügt über autoritative Möglichkeiten der Beweiserhebung. Nicht zu unterschätzen ist auch der Aspekt, daß vom Verteidigungsverhalten eines Angeklagten so mancher Impuls ausgehen kann, der zu verstärkter Nachforschung Anlaß gibt. Das bekannteste Beispiel ist die Behauptung eines ,3efehlsnotstands". 151 Deshalb haben auch immer wieder Zeithistoriker zur Nutzbarmachung des Justizmaterials für die historische Forschung aufgerufen, 152 andere haben die Materialien ohne Umschweife ihren Arbeiten zugrundegelegt. 153 Umgekehrt haben Zeithistoriker in nicht zu unterschätzendem Ausmaß die Justiz dadurch unterstützt, daß sie in Strafprozessen Sachverständigengutachten erstatteten. 154 148 Weitgehend ausgespart wurde auch der Anteil der NS-Justiz; vgl. Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz, 1983; ders., Die kalte Amnestie, 1984 (Neuausg. 1994), S. 162 ff.; Ostendorf/ ter Veen, Das Nürnberger Juristenurteil", 1985, S. 56 ff. 149 Ausführlich Werle/Wandres, a. a. O., S. 30ff., 38ff. 1 50 Haffke, Über die (Un-)Möglichkeit, Geschichte in Strafprozessen aufzuarbeiten, in: de Boor /Frisch/Rode, Vergessen - Verdrängen - Verleugnen, 1996, S. 41 ff., 54f.: Wegen der „Dosierung der Wahrheitssuche" im Strafprozeß könne „die auf formalisiertem Wege gefundene, forensische Wahrheit nicht mit der Wahrheit etwa eines empirischen Wissenschaftlers, eines Historikers oder eines Psychotherapeuten identisch sein". 151 Scheffler, Der Beitrag der Zeitgeschichte zur Erforschung der NS-Verbrechen, in: Weber / Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren?, 1984, S. 114 (128 f.); Werle/Wandres, a. a. O., S. 58. 1 52 Scheffler, Wege zur „Endlösung", in: Strauss/Kampe (Hrsg.), Antisemitismus, 1985, S. 186 (187 f.); ders., NS-Prozesse als Geschichtsquelle, in: Scheffler/Bergmann (Hrsg.), Lerntag über den Holocaust, 1988, S. 13 (19, 22, 26). 1 53 Die Ermittlungsakten der Zentralen Stelle Ludwigsburg verwenden ζ. B. Browning, Ganz normale Männer, 1993, S. 193; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 1996, S. 219 ff. ι 5 4 Ζ. B. die Gutachten für den Auschwitz-Prozeß: Buchheim/Broszat/Jakobsen/Krausnick, Anatomie des SS-Staates, 2 Bände, 1967. Einen Überblick geben: Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 2. Aufl. 1984, 259ff.; Scheffler, Der Beitrag der Zeitgeschichte zur Erforschung der NS-Verbrechen, in: Weber/Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren?, 1984, S. 114 (128 f.). *

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

Damit kommen wir an den in diesem Zusammenhang kritischen Punkt: Was die Zeithistoriker beispielsweise in den Auschwitz-Prozeß an historischem Hintergrundwissen einbrachten, stammte notwendig aus einem außerhalb des Gerichtsverfahrens vorgenommenen Wertungsprozeß, beeinflußte also bereits vor der Erhebung des unmittelbaren Zeugenbeweises in gewissem Umfang das Vorverständnis des Gerichts. Dieser Umstand veranlaßte seinerzeit Ernst Forsthoff zu einer heftigen Polemik gegen die Berücksichtigung der zeithistorischen Gutachten im Auschwitz-Prozeß, die er als „forensischen Historismus" bezeichnete.155 Sein Kernargument lautete, bei der historischen Forschung handle es sich um eine Geisteswissenschaft, die nicht „auf Verwirklichung angelegt" sei, ihre Erkenntnisse seien vom Zeitpunkt ihrer Formulierung „der Widerlegung durch besseres Wissen und bessere Argumente" ausgesetzt. Führe man diese - naturgemäß vorläufigen wissenschaftlichen Erkenntnisse als Gutachten in Gerichtsverfahren ein und stütze darauf das Urteil, sei das „apodiktisch" und bedeute den „Tod aller geisteswissenschaftlichen Forschung". 156 Man kann sich denken, daß der Jurist Forsthoff bei diesen Ausführungen weniger von der Sorge um das Schicksal der deutschen Geschichtswissenschaft getrieben war als vielmehr die Befürchtung hegte, nicht das Gericht ermittle unter Heranziehung der in Strafprozessen üblichen Beweismittel einen Ausschnitt aus dem historischen Geschehen, sondern die Zeithistoriker seien diejenigen, die das letzte Wort darüber hätten, ob aufgrund ihrer außerhalb der prozessualen Bindungen erlangten Erkenntnisse eher die Anklage oder eher das Verteidigungsverhalten des Angeklagten der Wahrheit entspreche. Adolf Laufs erwiderte seinerzeit Forsthoff, für dessen Bedenken sei „durchaus kein Anlaß", weil ein historischer Sachverständiger, wie jeder Sachverständige, dem Gericht ohne weiteres den „letzten Stand der Forschung" seines Fachgebietes mitteilen könne. 157 Die von Forsthoff erhobenen methodischen Bedenken sind freilich mit dieser Bemerkung, so richtig sie für sich gesehen ist, nicht gänzlich zu zerstreuen. Der Historiker ist als Basis seiner Erkenntnisse - ganz ähnlich wie der Richter auf Beweismittel - auf Quellen angewiesen, beispielsweise auf Zeitzeugenaussagen oder Dokumente. Während jedoch der Richter, befragte er einen Zeitzeugen direkt, jeden Zweifel zugunsten des Angeklagten ausschlagen lassen müßte (in dubio pro reo), besteht diese Bindung für den Historiker nicht. Erhebt der Richter also den Zeitzeugen- oder Urkundenbeweis auf dem „Umweg" über ein historisches Gutachten, so besteht zumindest die theoretische Gefahr, daß dadurch der in dubioGrundsatz überspielt wird. 1 5 8 Dieser Befund ist für unser Thema deshalb wichtig, i » Forsthoff, 156 Forsthoff,

NJW 1965, 574 (575). a. a. O., S. 574 f.

157 Laufs, NJW 1965, 1521. Grundsätzlich zur Problematik: Marxen/Werle, Erfolge, Defizite und Möglichkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts in vorwiegend empirischer Hinsicht, Gutachten für die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" des Deutschen Bundestages, Berlin 1997, S. 244 ff.

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weil man als Jurist dazu neigt, den Tatsachenfeststellungen eines Gerichts besonderen Wert beizumessen. Diese Wertschätzung ist zweifellos angebracht, wenn der Satz „Im Zweifel für den Angeklagten" uneingeschränkt gegolten hat. Denn wenn schon der geringste Zweifel zugunsten des Angeklagten ausschlägt, der Urteilsfindung also nur die Tatsachen zugrundegelegt werden, die sich unter Ausschluß jeden Zweifels zur Überzeugung des Gerichts feststellen lassen, dann handelt es sich um eine wohlbegründete Feststellung, wenn man sagt: „Gerade weil die Gerichte an die strengen Formen des Strafprozesses gebunden sind, haben ihre Feststellungen besonderes Gewicht." 159 Nicht mehr ganz uneingeschränkt gilt dieser Satz aber dann, wenn die im Urteil niedergelegten historischen Erkenntnisse nicht auf Basis eigener direkter Beweiserhebungen des Gerichts zustande gekommen sind, sondern lediglich auf der Basis zeithistorischer Gutachten. Daraus ist folgende Schlußfolgerung zu ziehen: Soweit die bundesdeutschen Gerichte, beispielsweise im Auschwitz-Prozeß, auf der Grundlage eigener direkter Beweiserhebungen - also in der Realität vorwiegend durch Zeugen- und Urkundenbeweis - zu tatsächlichen Feststellungen über den nationalsozialistischen Völkermord gelangt sind, bereichern diese Feststellungen unser historisches Wissen in besonders unanfechtbarer Weise. Daher hat die bundesdeutsche Justiz mit diesen Feststellungen auch der Zeitgeschichtsforschung zusätzliche Erkenntnisquellen eröffnet, die eine besonders hohe Gewähr für inhaltliche Richtigkeit bieten. 160 Hingegen sind Feststellungen, welche auf Gutachten historischer Sachverständiger beruhen, nicht anders zu bewerten als der Inhalt der Gutachten selbst. Das gleiche gilt übrigens für Justizmaterialien, die die „Feuertaufe" des Strafprozesses nicht zu bestehen hatten, insbesondere also für Ermittlungsakten. 161 Man muß sich daher vor dem Fehlschluß hüten, die Justiz habe gegenüber der Zeitgeschichtsforschung einen spezifischen Vorsprung in Sachen Richtigkeitsgewähr. Diesen Vorsprung hätte sich die bundesdeutsche Justiz nur sichern können, hätte sie das getan, was bekanntlich über Jahrzehnte unterblieben und heute nicht mehr wettzumachen ist: Die bundesdeutsche Justiz hätte im Rahmen lückenloser strafrechtlicher Verfolgung der NS-Verbrechen ein dichtes Netz an direkten Beweisen erheben müssen. Auch dann wäre - schon wegen des m-dwWo-Grundsatzes sicherlich nicht die ganze historische Wahrheit des Völkermordes ans Licht gekommen. Es hätte sich aber ein derart solides Gesamtbild des Holocaust ergeben, daß dieses Bild zweifellos erschütternd, nicht aber zu erschüttern gewesen wäre. Man 158 Außerdem setzt sich der Sachverständige der Ablehnung aus, wenn er Wertungen vornimmt, die allein dem Richter vorbehalten sind; vgl. Marxen /Werle, a. a. O., S. 262. »59 Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 29, 215. 160 Garscha/Kuretsidis-Haider, Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich, Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, 1995, S. 59ff.; Scheffler, NS-Prozesse als Geschichtsquelle, in: ders./Bergmann (Hrsg.), Lerntag über den Holocaust, 1988, S. 13 (16, 21, 24, 26). 161 Vgl. Birn/Rieß, Goldhagen und seine Quellen, in: Heil/Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, 1998, S. 38 (47 ff., 52).

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

kann mutmaßen, daß uns in diesem Falle ein Phänomen namens „Auschwitz-Leugnen" gänzlich unbekannt geblieben wäre. - Es ist aber nun einmal ganz anders gelaufen mit Auschwitz und der bundesdeutschen Justiz. Deshalb sind wir heute, es bleibt dabei, in vielen Bereichen auf die Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung angewiesen.

I I I . Geschichte als Identifikationsfaktor Heftigkeit und Emotionalität, welche die zeitgeschichtlichen Kontroversen um den Nationalsozialismus und insbesondere den Holocaust prägen, sind ein untrügliches Zeichen dafür, daß es dabei um einen elementaren Aspekt für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, unserer ganzen Nation geht. Daß sich· Individuen auf ihre Vergangenheit zu beziehen pflegen, hat zunächst einen ganz banalen Grund. Der Mensch ist bereits in seiner individuellen Entwicklung notwendig darauf angewiesen, auf das bauen zu können, was er bereits „hinter sich" hat. Das Innehaben „wohlerworbener" Rechte und das Sich-Berufen-Können auf die in der Vergangenheit erbrachte Leistung legen den Grund für ein erfülltes Leben in der Gegenwart und sind Voraussetzung für den sorglosen Blick in die Zukunft. Jeden Tag völlig „neu anfangen" zu müssen, wäre ein schweres Los, das Los des Sisyphos. Das Bild wandelt sich freilich, wenn in der Vergangenheit nicht nur Positives, sondern - was erfahrungsgemäß unausweichlich ist - auch Negatives zu verzeichnen ist. Beispielsweise Peinliches, Mißglücktes oder gar manifestes Unrecht. In einem solchen Fall wird der Betroffene sich nichts sehnlicher wünschen, als daß man ihn „neu anfangen", Vergangenes vergangen sein lasse. Ähnlich geht es ganzen Gesellschaften. Gemeinsam erlebte Geschichte schafft kollektive Identität. Ein Volk mit gespaltener Vergangenheit hätte keine auf festem Grund ruhende Gegenwart und damit auch keine gestaltbare Zukunft. Gleichwohl lohnt es sich, den entscheidenden Unterschied festzuhalten. Während ein Individuum ohne Umstände an seinen Taten gemessen werden kann, ist das für eine ganze Gesellschaft ungleich komplizierter. Denn nicht jeder einzelne in einem Kollektiv wird gleichermaßen Verantwortung für die „dunklen Flecken" der nationalen Vergangenheit tragen, genau wie sich nicht jeder die Leistungen der Gesamtheit in gleichem Maße als eigenes Verdienst anrechnen kann. Hinzu kommt der übergreifende Generationenzusammenhang mit seiner ganz spezifischen Problematik. Die nachwachsende Generation stellt sich, entwicklungspsychologisch notwendig, in einem Ablösungsprozeß zumindest zeitweise gegen die Elterngeneration, will sich abgrenzen, neu anfangen, eigenes schaffen. Gleichwohl ist die junge Generation keinesfalls unabhängig von den Vorausleistungen der Elterngeneration, weil sie dieser zumindest verdankt, überhaupt bis zu diesem Punkt des Selbständigwerdens herangewachsen zu sein. Das Geflecht aus dankbarer Berufung auf die als positiv empfundene Vergangenheit, die wesentlich die Vergangenheit der Elterngeneration ist, und krasser Ablehnung der „Schatten-

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Seiten" dieses Vermächtnisses ist prinzipiell unentwirrbar. Nicht vergessen werden darf auch, daß der Generationenwechsel sich nicht lediglich in längeren Zeiträumen, sondern ständig und kontinuierlich vollzieht. So können zu bestimmten Zeiten selbst Gleichaltrige durchaus Eltern haben, die ganz verschiedene Vergangenheiten haben. Wenn man von „der Vergangenheit" eines Volkes spricht, handelt es sich daher stets um die erhebliche Vereinfachung einer in Wahrheit viel komplexeren Materie.

1. „Bewältigung" der Vergangenheit Was aber, wenn die nationale Vergangenheit ganz überwiegend schaudern läßt? Wenn sich die Vergangenheit zu positiver Identifikation nicht eignet und eine schwere Hypothek für die Zukunft bedeutet? Im Grunde bleiben dann drei Möglichkeiten des kollektiven Umgangs mit einer unrühmlichen gemeinsamen Vergangenheit. Die drei Möglichkeiten können im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit anhand des Verhaltens der Nachfolgestaaten des Dritten Reiches beobachtet werden. 162 Die erste Möglichkeit ist der Weg, den Österreich gegangen ist. Es ist der Weg der Externalisierung der Vergangenheit. 163 Indem man sich unter Ausblendung der eigenen Anteile darauf berief, als Nation eines der ersten Opfer der deutschen Expansionsbestrebungen geworden zu sein, 164 wandelte sich der Nationalsozialismus im nachhinein zu einer von außen aufgedrängten Erscheinung. Die offizielle Nachkriegslinie war damit vorgezeichnet: Wiederherstellung der alten Ordnung, Wiederanknüpfen an die durch den ,Anschluß" unterbrochene staatliche Kontinuität und Vorkehrungen gegen „nationalsozialistische Wiederbetätigung" einzelner. Das war's - zunächst jedenfalls. Die Siegermächte entließen Österreich aus der Verantwortung für das Deutsche Reich - „ein Wunder". 165 Die wahre Verstrickung hat die österreichische Geschichtswissenschaft dann in den achtziger Jahren offengelegt. 166 „Das bleibt aber Literatur. Die Verbrechen sind veijährt, die Besitzstände konsolidiert." 167 162

Einen Überblick gibt Blänsdorf, Die Einordnung der NS-Zeit in das Bild der eigenen Geschichte, in: Bergmann/Erb/Lichtblau (Hrsg.), Schwieriges Erbe, 1995, S. 18 ff. 163 Ebenso Bude, Bilanz der Nachfolge, 1992, S. 12; Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 679 (684). 164 Olbrich, Österreich und seine nationalsozialistische Vergangenheit, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 87 f. 165 Roellecke, Der Staat 28 (1989), 505 (513). 166 Vgl. Hanisch, Österreichische Geschichte 1890-1990, 1994, S. 337; Olbrich, Österreich und seine nationalsozialistische Vergangenheit, a. a. O., S. 103 f. 167 Roellecke, a. a. O., S. 513. Krit. zum Weg Österreichs auch Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 332.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

Die zweite Möglichkeit ist der Weg der Universalisierung. Diesen Weg ging die DDR. 1 6 8 Der Nationalsozialismus - und damit der Holocaust - wurde als ausschließlich weltanschauliches Problem klassifiziert. Das einzige, was einen nach diesem Selbstverständnis mit dem Nationalsozialismus verband, war die eigene Opferrolle, gegründet auf die politische Verfolgung überzeugter Kommunisten im Dritten Reich. 169 Die DDR reihte sich quasi im Nachhinein in die Anti-HitlerKoalition ein. 1 7 0 Als erster konsequent „antifaschistischer" Staat 171 auf deutschem Boden fühlte man sich der Vergangenheit nur in negativer Weise verpflichtet. Dieser Verpflichtung meinte man durch die Gründung eines auf gegensätzlichen Grundlagen aufgebauten Staates nachgekommen zu sein. 172 Mit einigen spektakulären Strafprozessen gegen ausgewählte Nazi- und Kriegsverbrecher sowie solche, die man kurzerhand dazu erklärte, 173 und durch einen umfangreichen Elitenaustausch in Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Kultur 1 7 4 demonstrierte man eine schonungslose Abrechnung mit dem Nazi-Regime. Es ist wahrscheinlich, daß auf dem Gebiet des neugegründeten sozialistischen Staates - verglichen mit den anderen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches - kein geringerer Anteil von Personen lebte, der in mehr oder minder großem Umfang an den Holocaust-Verbrechen beteiligt war. 175 Von diesem Personenkreis verlangte man die kompromiß-

168 Ebenso Bude, Bilanz der Nachfolge, 1992, S. 12; Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 679 (684). 169 Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens?, in: ders. (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 31 ff. (32). Anläßlich des Mielke-Prozesses hat Aly, Macht, Geist, Wahn, 1997, S. 28 darauf hingewiesen, daß man die „terroristischen Methoden der KPD" im Kampf gegen die Weimarer Republik nicht ausblenden dürfe: b i s lang sind nur einige Zipfel der Wahrheit sichtbar. Aber: Es werden in Moskau noch Dokumente ans Licht kommen, von denen selbst die kältesten Krieger nicht zu träumen wagten." no Roellecke, Der Staat 28 (1989), 505 (514).

171 Neubert, Politische Verbrechen in der DDR, in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 829 (839, 841) bezeichnet das „kommunistische Projekt Antifaschismus" als „selektives Programm zur Geschichtsklitterung und Instrument des Machterhalts", in dessen Rahmen selbst die Mauer zum „antifaschistischen Schutzwall" avancierte. 172 Von daher erklärt sich auch die Weigerung, Entschädigungszahlungen zu leisten, weil „die Verbrechen der Nazis nicht mit materiellen Mitteln wiedergutzumachen" seien; vgl. Lemke, Instrumentalisierter Antifaschismus, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 61 (67 m. w. N.). 173 Die Selbstdarstellung der DDR findet sich bei Benjamin u. a., Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945-1949, Berlin 1976, S. 213ff.; dies., Zur Geschichte ... 19491961, Berlin 1980, S. 278 ff., 283 ff. Krit. Eisert, Die Waldheimer Prozesse, München 1993; Neubert, Politische Verbrechen in der DDR, in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 829 (842, 863 ff.) m. w. N.; Werkentin, Die Reichweite politischer Justiz in der Ära Ulbricht, in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Wissenschaftl. Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994, S. 179(187). 174 Frei, NS-Vergangenheit unter Ulbricht und Adenauer, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 126.

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und lautlose Integration in das neue Staatssystem.176 Unter dieser stillschweigenden Bedingung wurde jede individuelle Verstrickung vollständig ausgeblendet und „der Kapitalismus", welcher „den Faschismus" gefördert habe, zum eigentlichen Hauptverantwortlichen der verbrecherischen Vergangenheit erklärt. Die dritte Möglichkeit wählte - nicht ganz freiwillig - die Bundesrepublik. Es ist der vergleichsweise dornenreichste und deshalb nicht mit wenigen Sätzen abzuhandelnde Weg. Ausgangspunkt dieses Weges war die grundsätzliche Übernahme der historischen Verantwortung, des „Kainsmals der NS-Verbrechen". 177 Mit der Herstellung der deutschen Einheit fällt der Schatten dieser gemeinsamen Vergangenheit übrigens auch wieder dahin, wo ihn das trügerische Licht der Universalisierung jahrzehntelang künstlich überstrahlte. Wie die Bundesrepublik - und seit 1990 das vereinte Deutschland, das in dieser Beziehung Kontinuität wahrte - im einzelnen mit der Last der Vergangenheit umgegangen ist, wird gleich noch weiter zu vertiefen sein. An dieser Stelle sei nur festgehalten, daß auch die Bundesrepublik einen Kunstgriff anwandte, um unter der historischen Erblast nicht unvermittelt zu zerbrechen. Die Bundesrepublik ging den Weg der Internalisierung, 178 wofür unter anderem die Redensart von der „Vergangenheitsbewältigung" ein markantes Indiz ist. Neben diesen drei Wegen des Umgangs mit dem nationalsozialistischen Erbe gibt es aber noch eine vierte Möglichkeit, von der man sich fast nicht traut, sie beim Namen zu nennen und schon gar nicht, sie als „Weg" zu bezeichnen. Man kann auch nicht sagen, daß diese Möglichkeit von einem der Nachfolgestaaten des Dritten Reiches genutzt worden wäre. Jedenfalls im Prinzip nicht. Die vierte Möglichkeit besteht darin, die unrühmlichen Anteile der Vergangenheit zu leugnen, einfach zu behaupten, es sei nichts gewesen. Sollte doch etwas gewesen sein, habe man nichts davon gewußt, 179 und falls auch diese Einlassung sich nicht halten lasse, sei jedenfalls alles nicht so schlimm gewesen. Diese gestufte Leugnungsstrategie ist viel zu bekannt, als daß man glaubwürdig behaupten könnte, es habe 17 5 Dieses Faktum veranlaßte den Schriftsteller Jurek Becker, Weimarer Rede 1994 (teilw. abgedruckt in: Die Zeit v. 20. 5. 1994, S. 57 f.) zu der ironischen Bemerkung: „Von den zehntausend Antifaschisten, die es in Nazideutschland gegeben haben mag, lebten allein acht Millionen in der DDR." 176 Zu diesem Aspekt Gauck, Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 885 (888 f.); Neubert, Politische Verbrechen in der DDR, im selben Bd., S. 829 (841): „Anfang der fünfziger Jahre hatten mehr als ein Viertel der SED-Mitglieder eine NS-Vergangenheit." 177 Roellecke, Der Staat 28 (1989), 505 (515).

1 78 Bude, Bilanz der Nachfolge, 1992, S. 12, der darunter die Einordnung des Nationalsozialismus als „antidemokratische Gefahr" versteht. Zur Frühphase der Bundesrepublik vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, 1996, S. 397 (Amnestierung und Integration der ehemaligen Anhänger des Dritten Reiches verbunden mit normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus). 179 Benz, Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 47 ff. (48); Kempowski, Haben Sie davon gewußt?, 1979.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

diese Strategie in Deutschland und anderswo nicht gegeben. Trotzdem: Öffentlich ist man diesen Weg selten und offiziell überhaupt nicht gegangen. Wegen der Aufmerksamkeit des Auslandes hätte man ihn auch gar nicht gehen können, ohne daß sich ein Sturm der Entrüstung erhoben hätte. Schon gar nicht hat sich, wie der Überblick gezeigt hat, der ganz überwiegende Teil der deutschen Zeitgeschichtsforschung auf solche Abwege eingelassen. Aber für die individuelle Bearbeitung der persönlichen Verstrickung und insbesondere für das, was in Deutschland bis auf den heutigen Tag Eltern und Großeltern ihren fragenden Kindern und Enkeln erzählen, hat diese Strategie fraglos ihre Bedeutung. 180 Die Verschleierungsstrategie blieb daher auch nicht gänzlich ohne Folgen für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese Vergangenheit hat nämlich ihrerseits etwas Doppeldeutiges, und nicht immer redet man - insbesondere zwischen den Generationen - vom selben, wenn man vom gleichen spricht. Das Doppeldeutige besteht darin, daß die einen von Krieg und Vertreibung reden, die anderen vom Völkermord. Während man das eine konkret erfahren und als das eigene Schicksal greifbar erlebt hat, blieb das andere, der Holocaust, für viele Deutsche bis heute etwas Abstraktes. Man kann als Nachgeborener oft hören, man habe sich „Arbeitslager vorgestellt ... aber doch keine Vernichtungslager". 181 Möglicherweise haben sich daneben im Einzelfall auch Betroffenheit, Schuldeinsicht und Scham über die im deutschen Namen und von Deutschen verübten Verbrechen eingestellt. Das blieb dann aber Privatsache, wobei sicher auch die Angst vor den unkalkulierbaren psychologischen Folgen für die Familie eine Rolle spielte, hätte man gegenüber den Nachgeborenen offen geredet. Schon in der Frühphase der Bundesrepublik merkte man auch, daß man sich mit zu weitgehenden Bekenntnissen nur unnötige Scherereien bei der Entnazifizierung 182 180

G. von Arnim, Das große Schweigen, 1989. Bude, Bilanz der Nachfolge, 1992, S. 65. Hingegen kommt Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, 1995, S. 141 zu dem Ergebnis, es sei „aufgrund der riesigen Zahl an Zeugenaussagen, die Deutsche wie auch Juden während und nach dem Krieg gegeben haben, wie auch aus Tagebüchern von Zeitgenossen der Schluß zu ziehen, daß weite Kreise der deutschen Bevölkerung ... entweder gewußt oder geahnt haben, was in Polen und in Rußland vor sich ging." Eine weitgehende Kenntnis konstatiert auch Grami, Alte und neue Apologeten Hitlers, in: Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland, 1994, S. 30 f. Vgl. auch das zeitgenössische Tagebuch E. Jüngers, in dem sich über ein Dutzend Eintragungen über den Judenmord - sowohl durch die Einsatzgruppen als auch in Vernichtungslagern finden: Jünger, Strahlungen, 1949, S. 94, 105f., 110, 112f., 114, 136, 224, 250, 309, 312, 330, 343, 433 f., 536, 562. Allgemein zur menschlichen „Neigung, es nicht so genau wissen zu wollen" Gauck, Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 885 (886, 890 f.). 182 Vollnhals (Hrsg), Entnazifizierung, Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, 1991. Einen knappen Überblick gibt Benz, Entnazifizierung, in: ders. (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 69 ff. Vorwiegend aus Sicht der deutschen Betroffenen: Ostler, NJW 1996, 821 ff. Zur „Liquidation" der Entnazifizierung in den fünfziger Jahren: Frei, Vergangenheitspolitik, 1996, S. 54 ff. Zu „Renazifizierungs"-Tendenzen: Brochhagen, Nach Nürnberg, 1994, S. 173 ff.; E. Nolte, Die Deutschen und ihre Vergangenheiten, 1995, S. 93. 181

Α. Einführung

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machen würde, berufliche Nachteile 183 hätte und vielleicht sogar befürchten müßte, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Erfahrung eigenen persönlichen Leids durch Krieg und Nachkrieg im Hinterkopf, das zerstörte und besetzte Land und ihre eigene Zukunft vor Augen, beschlossen die Deutschen innerlich, irgendwie sei das Konto jetzt ausgeglichen, und es müsse endlich Schluß sein mit der ständigen Rede von der deutschen Schuld. 184 Mit der Vermengung von eigener Betroffenheit und dem Leiden der Opfer wurde das Verhältnis von Aktion und Reaktion bis zur Unkenntlichkeit verwischt. 185 „Keine polnische Familie wäre aus Lemberg verjagt und nach Breslau umgesiedelt, kein Deutscher aus Königsberg vertrieben, kein russischer Panzer bis an die Elbe gesteuert worden, wenn Hitlerdeutschland nicht mehr als fünf Jahre lang einen bis dahin unvorstellbaren Vernichtiings- und Weltanschauungskrieg im Osten geführt hätte." 186 Doch diese Einsicht setzte sich einstweilen nicht durch, und so lautete der verbreitete Dreiklang auf die nationalsozialistische Vergangenheit: „Ruhenlassen, Nach-vorne-Schauen, Schlußstrich-Ziehen." Auch die offizielle Haltung der Bundesrepublik ist von solchen Parolen nicht völlig unbeeinflußt geblieben, was wir schon bei der strafrechtlichen »Aufarbeitung" der NS-Verbrechen gesehen haben. 187 Für die Zwecke der an dieser Stelle zu leistenden notwendig kursorischen und auf die wesentlichen Grundlinien beschränkten Darstellung muß eine in die Einzelheiten gehende Analyse der verschiedenen Epochen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte unterbleiben, welche die Entwicklung in Wellen- und Gegenbewegungen aufzeigen könnte. 188 Ausgangspunkt aller Entwicklungen war jedenfalls die Forderung der Siegermächte nach einem klaren Bruch mit den Irrwegen des Dritten Reiches. 189 Dieser 183 Zur Weiterbeschäftigung „belasteter" Personen im öffentl. Dienst vgl. Brochhagen, Nach Nürnberg, 1994, 298 ff., 318 ff. 184 Arendt, Besuch in Deutschland, Neuausg. 1993, S. 25 f.; Benz, Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 47 ff. (52 f.): „Schließlich, als sich materieller Erfolg reichlich eingestellt hatte, verbreitete sich die Gewißheit ziemlich allgemein, daß man nach solcher Aufbauleistung ein Recht darauf habe, aus Hitlers Schatten herauszutreten und von Auschwitz nichts mehr hören zu müssen." iss Bergmann/Erb/Lichtblau (Hrsg.), Schwieriges Erbe, 1995, S. 14. 186

Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, 1988, S. 54 f. Frei, Vergangenheitspolitik, 1996, S. 403 sieht die Hauptursache in der jahrzehntelangen Verdrängung der „Faktizität der tiefen Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen der SS-Einsatzgruppen [und] ... in die ,Endlösung4". 187 Siehe oben, Erster Teil, Α. II., S. 50 f. 188 Dieser Mühe hat sich für das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik Frei, Vergangenheitspolitik, 1996 unterzogen; vgl. auch Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, 1981. 189

Zu den eigenen politisch-ideologischen Bemühungen der Alliierten unter den Stichworten ,»reorientation" und ,»reeducation" vgl. Benz, „Umerziehung", in: ders. (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 191 ff.; ders., Potsdam 1945, Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, 1986.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

Bruch war die Grundbedingung für jeden nationalen „Neuanfang" des deutschen Volkes nach 1945. Die offene Abkehr vom Nationalsozialismus als vergangene Realität wie als politisches Programm wurde so fast zwangsläufig zu den „zentralen legitimatorischen Elementen" der jungen Bundesrepublik, 190 und sie ist es bis heute geblieben. Dabei ging es auch darum, trotz der als Belastung empfundenen Vergangenheit die politische Handlungsfähigkeit in Gegenwart und Zukunft nicht aufs Spiel zu setzen. Hierfür war neben konsequenter Westbindung die bereits genannte Internalisierung der nationalsozialistischen Erfahrung ein gangbarer Weg. 191 Man einigte sich stillschweigend darauf, die Abkehr vom Nationalsozialismus in einen übergreifenden staatstheoretischen Zusammenhang zu stellen. Dieser Zusammenhang kann im Kern als „Anti-Totalitarismus" bezeichnet werden. 192 Der beginnende Kalte Krieg stärkte der jungen Bundesrepublik auf diesem Weg zusätzlich den Rücken, weil der Anti-Totalitarismus auch die klare Gegenposition zur staatlichen Entwicklung im sowjetischen Einflußbereich markierte, sich nahezu bruchlos als Anti-Kommunismus interpretieren ließ. Das Bild bliebe unvollständig, erwähnte man nicht abschließend, daß die Bundesrepublik aus der übernommenen Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit nicht lediglich staatspolitische Konsequenzen zog, sondern auch handfeste Leistungen erbrachte. Die Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts war vielleicht die größte Herausforderung für die Bundesrepublik, und sie hatte eine hohe „symbolische, geschichts- und imagepolitische Bedeutung". 193 190

Garbe, Äußerliche Abkehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheitsbewältigung", in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 693 (713 m. w. N.). Ebenso Benz, Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995, S. 47 (53); Bergmann/Erb/Lichtblau (Hrsg.), Schwieriges Erbe, 1995, S. 11. 191 Einen Überblick gibt Brochhagen, Nach Nürnberg, 1994. M So auch Bracher, Wendezeiten der Geschichte, 1995, S. 173 ff., 181 f.; Glaeßner, Kommunismus - Totalitarisme - Demokratie, 1995, S. 18 f.; Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 31 f., 43 f., zusf. 75; H. Meier, Neonazismus und Bürgerrechte, Merkur 1993, 450 (450); Ch. Meier, Verurteilen und Verstehen, in: „Historikerstreit", 1987, S. 48 (52); Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 685; ders., Der schöne Schein des Dritten Reiches, 2. Aufl. 1993, S. 79. 193 Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 679 (691). Zum Umfang der Wiedergutmachung: Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwarz (Hrsg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, 6 Bände; Bd. I: Schwarz, Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, 1974; Bd. II: Biella u. a., Das Bundesrückerstattungsgesetz, 1981; Bd. III: Féaux de la Croix /Rumpf, Der Werdegang des Entschädigungsrechts, 1985; Bd. IV: Brunn u. a., Das Bundesentschädigungsgesetz, 1. Teil, 1981; Bd. V: Giessler u. a., Das Bundesentschädigungsgesetz, 2. Teil, 1983; Bd. VI: Finke/Gnirs/Kraus/Pentz, Entschädigungsverfahren und sondergesetzliche Entschädigungsregelungen, 1987. Vgl. auch Goschler, Wiedergutmachung, Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954), 1992. Speziell zur Wiedergutmachung von Justizunrecht Vogl, Stückwerk und Verdrängung, Wiedergutmachung nationalsozialistischen Strafjustizunrechts in Deutschland, 1997.

Α. Einführung

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Was die Vergangenheit selbst anging, meinte man, sie werde sich schon irgendwie „bewältigen" lassen. 194 Hitler sei, hat Eberhard Jäckel geschrieben, von außen gekommen, und er sei den Deutschen auch wieder von außen genommen worden. 195 Wirklich losgeworden sind wir ihn bis heute nicht. Und er wird uns womöglich noch durch Generationen begleiten, „als ewiges Denkmal des Menschenmöglichen". 196 Die Auseinandersetzung mit dem „Denkmal des Menschenmöglichen" wurde - „wie widerstrebend das auch geschehen sein mochte" 197 - zu einem konstitutiven Element der politischen Kultur der Bundesrepublik, und das ist auch richtig so. Dieser Teil unserer Geschichte läßt sich nicht bewältigen. 198 Wer die Vergangenheit bewältigen wollte, müßte sich ihr gewaltig zeigen, müßte ihr Gewalt antun. Wenn einige Zeitgenossen bei den Deutschen den „aufrechten Gang" anmahnen,199 kann man darauf nur antworten, daß jede Haltung da passend ist, wo sie hingehört. Es gibt zweifellos viele Anlässe, bei denen eine aufrechte und unbeugsame Haltung wünschenswert, ja sogar ein Ausdruck von bewundernswertem Mut ist. Bei einem durch und durch traurigen Anlaß wirkt eine solche Haltung aber bestenfalls deplaziert. Es ist ja gerade die Tragik dieses Jahrhunderts, daß unser Volk selten genug wußte, wann die eine und wann die andere Haltung die richtige gewesen wäre. Es hat in Deutschland Momente der aufrichtigen Erinnerung gegeben. Man konnte stumme Tränen sehen - Tränen der Trauer und der Scham. Aber auch Tränen der Wut über die eitle Borniertheit derer, die sich nicht erinnern wollen, die meinen, längst jenseits der Geschichte zu stehen. Die diesem Teil unserer Geschichte angemessene Geste ist - auch wenn das manchem widerstreben mag - nicht der aufrechte Gang, sondern der Kniefall. In Wahrheit ist es die Vergangenheit, die uns überwältigt.

194

Krit. Brochhagen, Nach Nürnberg, 1994, S. 11: „Selten bei einem Begriff wissen so viele, was gemeint ist, ohne zu wissen, was er meint." Zur Terminologie Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, 1959; Frei, Erinnerungspolitik, 1996, S. 12 f. („nebulöser Begriff 4 ); Garbe, Äußerliche Abkehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheitsbewältigung", in: Schildt/Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 693 ff.; Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, im selben Bd., S. 679 ff. (680); Weber, „Vergangenheitsbewältigung", in: Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 196ff. ι 9 * Jäckel, Hitlers Weltanschauung, Neuausg. 1983, S. 138, 159. 196 Jäckel, a. a. O., S. 159. 197 Reichel, Politik mit der Erinnerung, 1995, S. 274. 198 Ähnlich E. Nolte, Die Deutschen und ihre Vergangenheiten, 1995, S. 189: „Die Vergangenheit kann nicht nur nicht bewältigt werden, sie sollte auch nicht bewältigt werden. Wohl aber muß sie erforscht und durchdacht werden, und keine Nation hat so viel Grund, dieses Durchdenken in Angriff zu nehmen wie die Deutschen ..." (Hervorheb. i. Orig.). i " Prominentester Vertreter dieser Forderung war F.J. Strauß, der die Deutschen aufforderte, „sich von ihren Knien zu erheben und wieder aufrecht gehen zu lernen", Die Welt v. 19. 1. 1987, S. 1.

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1. Teil: Auschwitz-Leugnen als gesellschaftliches Phänomen

2. Vergangenheitspolitik und Volkspädagogik Bei aller berechtigten Kritik am Umgang der Bundesrepublik mit der nationalsozialistischen Vergangenheit darf nicht vergessen werden, daß der eher pragmatische Weg 2 0 0 einer Internalisierung auch seine Vorzüge hat. Läßt man die Idee einer „Bewältigung" der Vergangenheit endlich fallen, bleibt durch ein solches Vorgehen das Bekenntnis zur unrühmlichen Vergangenheit unberührt. Die uneingeschränkte Annahme des historischen Erbes wird lediglich in einen neuen, zukunftsgerichteten Zusammenhang gestellt. Entscheidend für die Zukunft ist, das liegt auf der Hand, nicht die penetrante Wiederholung der immer gleichen Beschwörungs- und Bekenntnisformel, die geschehenen Gewaltverbrechen dürften sich nicht wiederholen. Hinter dieser Übung steht bei genauerer Betrachtung doch nur der durch nichts begründete Glaube, eine Wiederholung der Geschichte sei bereits ausgeschlossen, „solange man sich nur regelmäßig an sie erinnere". 201 Entscheidender als die „Konservierung unseres Entsetzens"202 ist daher die Frage, welche Konsequenzen aus der Vergangenheit gezogen werden. 203 Hierfür aber ist es ganz wesentlich, wie die Vergangenheit bewertet wird, weil es andernfalls aussichtslos erscheint, die richtigen „Lehren" für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. An diesem Punkt setzt dann auch die eigentlich relevante Auseinandersetzung ein. Die nationalsozialistische Vergangenheit wird zur Projektionsfläche aktueller Politikvorstellungen. Dieser Perspektivenwechsel von der neutralen, allenfalls geschichtswissenschaftlich interessanten Vergangenheitsbetrachtung zur unmittelbaren Nutzbarmachung der Vergangenheit als politisches Argument ist der für unser Thema entscheidende Aspekt. Die geschichtsbezogene Argumentation ist, das verwundert nicht, in der Bundesrepublik ein wichtiger Bestandteil aktueller politischer Debatten. 204 Für die Geschichtserinnerung selbst ist das nicht unproblematisch. Wird die Vergangenheit in den Dienst gegenwärtiger Ziele gestellt, sind Verzerrungen und Instrumentalisierungen unvermeidbar. Dann geht es nicht lediglich um die mehr oder weniger voraussetzungslose Suche nach der „historischen Wahrheit", sondern um diejenige Interpretation der Geschichte, welche die eigene politische Position am besten stützt. Scheint ein besonders gewaltiger Knüppel gegen den politischen Gegner ange200 Ein Plädoyer gegen Utopien und für Pragmatismus findet sich bei Schmitt Glaeser, Ein Leben ohne Utopie?, in: de Boor/Meurer (Hrsg.), Über den Zeitgeist, Bd. 1, 1993, S. 205 ff. 20» Reichel, Politik mit der Erinnerung, 1995, S. 273. 202 So der damalige Bundespräsident Herzog in seiner Ansprache zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 19. 1. 1996 im Deutschen Bundestag. 203 Kershaw, Der NS-Staat, 1988, S. 166 schreibt, man müsse akzeptieren, daß aus der Tatsache, „daß bisher nichts direkt Paralleles geschehen ist" keinesfalls gefolgert werden könne, daß sich in Zukunft nicht „etwas Ähnliches ereignen könnte" (Hervorheb. i. Orig.). 2 42 Arzt, JuS 1982, 717 (719) nennt „die Unbefangenheit befremdend, mit der der BGH auf ,die nationalsozialistische Sondergesetzgebung4 zurückgreift, um zu ermitteln, wer als ,Jude4 gemeint sein soll". Blanke, Urteilsanm., KJ 1979, 197 (200) meint anläßlich der Besprechung des Berufungsurteils (OLG Koblenz, Urt. v. 2. 5. 1978, a. a. O., S. 193 ff.) - also in Unkenntnis dessen, was bald kommen sollte - , der BGH habe es stets vermieden, sich dem „zugegebenermaßen peinlichen Unterfangen" zu unterziehen, „eine gleichsam amtliche Definition des Rechtsbegriffs ,Juden' zu geben, indem er auf die der nationalsozialistischen Verfolgung zugrundeliegenden administrativen Definitionen verweist." Cobler, KJ 1985, 159 (165f.) findet die „juristische Logik ... gedankenlos". Deutsch, Urteilsanm., NJW 1980, 1100 bezeichnet es als „verwirrend, ... auf Ahnenforschung zurückzukommen und die infamen Nürnberger Rassengesetze - sei es auch unter positiven Vorzeichen - heute anzuwenden". Stein, MichiganLR 85 (1986/87), 277 (304) bemerkt, es handle sich um „absurdes Theater", welches „bizarr" wirke. Krit. auch Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 39.

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

hoch der Preis für das sicher gut gemeinte Anliegen des BGH, dem Kläger effektiven Rechtsschutz gegen das Auschwitz-Leugnen zu gewähren, in Wahrheit ist, zeigen dann aber mit aller Deutlichkeit die daran anschließenden Ausführungen in der Urteilsbegründung. Daß der Kläger selbst nicht verfolgt worden sei, so heißt es dort, ändere nichts an der bis heute fortbestehenden ,3elastung" des Verhältnisses „gegenüber seinen deutschen Mitbürgern". Denn das Bild der „Bürger jüdischer Abstammung" - zu denen nach den vpm BGH für maßgeblich erklärten Kriterien auch der Kläger gehöre - werde in der Bundesrepublik unausweichlich durch „das entsetzliche Geschehen" in der Vergangenheit „geprägt". Ob die heute in Deutschland lebenden Juden - vom „Volljuden" bis zum „Mischling" - wollen oder nicht: „Sie verkörpern diese Vergangenheit, 143 auch wenn sie selbst nicht an ihr teilhaben mußten." 144 Die zivilrechtliche Entscheidung BGHZ 75, 160 wurde in der Folge trotz dieser fragwürdigen Formulierungen zum dogmatischen Dreh- und Angelpunkt der gesamten, vor allem strafgerichtlichen Rechtsprechung. 145 Dabei ist festzuhalten, daß die wichtigsten Gesichtspunkte, auf denen die Entscheidung dogmatisch aufbaut, auch schon in früheren strafrechtlichen Judikaten 146 angelegt waren. 147 Zwei Aspekte sind für die dogmatische Linie der Rechtsprechung essentiell: Erstens die Annahme, mit dem Leugnen von Auschwitz könne - auch ohne jeden Zusatz, also schon durch bloße radikale Geschichtsrevision 148 - auf „die Juden" Bezug genommen werden. Durch diese Bezugnahme werde jeder Gruppenangehörige unter einer Kollektivbezeichnung beleidigt (Sammelbeleidigung). Diese erste Annahme ist insofern bemerkenswert, als der BGH bei von ihrer Größe her vergleichbaren Gruppen (ζ. B. „die Katholiken", „die Protestanten", „die Akademiker") eine eindeutige Abgegrenztheit gegenüber der sonstigen Bevölkerung stets verneint und schon aus diesem Grunde eine derart konturenarme Sammelbeleidigung für nicht möglich erklärt hat. Die bezüglich der Juden postulierte Abweichung in der rechtlichen Bewertung wird damit begründet, die Juden erschienen wegen des in der Geschichte einmaligen, „ihnen vom Nationalsozialismus auferlegten Schicksals in 143

Hierzu bemerkt Friedrich, Die kalte Amnestie, 2. Aufl. 1994, S. 501 mit beißendem Sarkasmus: „Sie tun dies nahezu allein, denn die Urheber, Befürworter und Beiwohner des entsetzlichen Geschehens haben sich jeder Verantwortung entzogen." Krit. auch Cobler, KJ 1985, 159(168). 144 BGH, a. a. O., S. 166. 145 Fortgeführt durch BGHSt 32, 1 (9 f.); 40, 97. 146 OGHSt 2, 291 (312); BGHSt 11, 207 (208); 13, 32 (38) [Nieland]; 16, 49 (57) [„Bankiersverschwörung"]; 17, 28 (35); BGH NJW 1952, 392 (m.N. auf OGHSt 2, 291); BGH NJW 1952, 1183 (1184) [Hedler]. Eine Traditionslinie zur Rspr. vor 1945 läßt sich für Sammelbeleidigungen „der Juden" hingegen nicht auffinden; vgl. Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 38 f. m. w. N. 147 So auch BGHZ 75, 160 (164): Daß die Anerkennung des Verfolgungsschicksals zur Ehre eines jeden Gruppenangehörigen gehöre, sei „schon durch jene Rechtsprechung vorgezeichnet". 148 Zur Terminologie siehe oben Erster Teil, C. II. 1., S. 98.

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er strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

der Allgemeinheit als eine eng umgrenzte Gruppe". 149 Zweitens ist die Annahme bedeutsam, das Bestreiten des Verfolgungsschicksals, welches implizit bereits durch das bloße Leugnen des Holocaust - also durch radikale Geschichtsrevision geschehen könne, sei eine Ehrverletzung. Dies sei damit zu begründen, daß durch eine solche Äußerung die Persönlichkeit eines jeden heute lebenden Juden in ehrrelevanter Weise angegriffen werde. 150 Diese Rechtsprechung stellt die materiellrechtliche Basis dar, derer die Modifikation des Strafantragsrechts durch das 21. StÄG 1 5 1 bedarf, um die vom Gesetzgeber angestrebte Wirkung zu erzielen. 152 Zusammen mit dem seither geltenden § 194 Abs. 1 Satz 2 StGB kann nämlich die auf diese Weise konstruierte Sammelbeleidigung auch ohne Strafantrag verfolgt werden, wenn die sonstigen in der Vorschrift genannten Voraussetzungen vorliegen. Abschließend bleibt festzuhalten, daß durch die in § 194 Abs. 1 Satz 2 StGB getroffene Regelung für die Strafgerichte die Frage der Strafantragsberechtigung derzeit regelmäßig nicht aufgeworfen ist. „Derzeit" deswegen, weil die genaue Lektüre der Vorschrift zeigt, daß eine Strafverfolgung von Amts wegen nur hinsichtlich solcher Personengruppen als Beleidigungsbetroffene zulässig ist, welche die nationalsozialistische Verfolgung überlebt haben und heute noch lebender Teil der inländischen Bevölkerung sind. 153 Folgt man also der Rechtsprechung bei ihrer Annahme, schon das Auschwitz-Leugnen in Form bloßer radikaler Geschichtsrevision stelle eine Sammelbeleidigung dar, kommt es auf die bei zivilrechtlichen Unterlassungsklagen erforderliche Abgrenzung, wer sich im einzelnen zum beleidigten Personenkreis rechnen dürfe - oder besser: müsse - für die Strafgerichte regelmäßig nicht an. Damit bleibt den Strafgerichten der Umgang mit den infamen Nürnberger Rassengesetzen bis auf weiteres erspart. Jedenfalls solange, bis der letzte Holocaust-Überlebende in Deutschland gestorben sein wird.

149 BGHSt 11,207(209). 150 Neben der Beleidigung kommt eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) in Betracht; jüngst bestätigt durch BayObLG NStZ 1997,283 (285). 151 G v. 13. 6. 1985, BGBl. 1985 I, S. 965; siehe oben Zweiter Teil, Α. II. 2., S. llOff. 152 Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185, Rn. 3: „Nur auf der Grundlage dieser extensiven Rspr. kann der... Beleidigungsschutz der Juden ... praktisch werden." Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 64 f. stellt fest, eine Erweiterung des materiellen Rechts durch den neugefaßten § 194 StGB komme nicht in Betracht. 153 So der - zutreffende - Hinweis in BGHSt 40, 97 (103). Hinsichtlich der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) ist eine Verfolgung von Amts wegen nur möglich, wenn der Verunglimpfte sein Leben als Opfer der (im hier interessierenden Zusammenhang: nationalsozialistischen) Gewalt- und Willkürherrschaft verloren hat (§ 194 Abs. 2 Satz 2 StGB); vgl. zu diesem Problemkreis BGH, a. a. O., S. 104ff.; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 194 Rn. 4.

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

b) Volksverhetzung

(§ 130 a.F. StGB)

Im Verhältnis zur Beleidigung behandelte die Rechtsprechung die Volksverhetzung durchgängig als höherstufiges Unrecht. Charakteristisch für das zugrundegelegte Stufenverhältnis zwischen (Sammel-)Beleidigung und Volksverhetzung ist die Formulierung, eine Äußerung könne nur dann als Volksverhetzung tatbestandsmäßig sein, „wenn sie, abgesehen von einer allgemeinen Beleidigung, Angriffe auf die Menschenwürde" enthalte. 154 Vereinfacht gesagt ist nach dieser Ansicht Volksverhetzung - und zwar nach § 130 Nr. 3 StGB a.F. 155 - eine Beleidigung, die so heftig ist, daß sie nicht nur die Ehre, sondern darüber hinaus die Menschenwürde des Angegriffenen verletzt. Die gängige Fragestellung der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen lautete daher: Handelt es sich bei der konkret zu beurteilenden Äußerung „nur" um eine (Sammel-)Beleidigung oder geht die Äußerung inhaltlich darüber in einem Maße hinaus, daß man bereits von Volksverhetzung sprechen muß? Diese Stufenfolge war der bis zum Inkrafttreten des VerbrBekG geltenden Fassung des § 130 StGB 1 5 6 geschuldet, welcher für alle drei Tatbestandsalternativen verlangte, daß durch die in Rede stehende Äußerung die Menschenwürde des Betroffenen angegriffen werde. Voraussetzung für einen Menschenwürdeangriff, so die ständige Rechtsprechung, sei es, daß der Adressat im Kern seiner Persönlichkeit getroffen, daß ihm das Lebensrecht als gleichwertiges Glied in der Gemeinschaft bestritten oder daß er als „unterwertiges Wesen" behandelt werde. 157 Aktuelle Äußerungen, die einen historischen Bezug in der Weise herstellten, daß sie geradezu als Aufforderung zur Wiederholung der Behandlung verstanden werden müßten, wie sie den Juden im Dritten Reich im Vorfeld von Deportation und Vernichtung widerfahren ist, seien - so die Ansicht der Rechtsprechung - durchgängig als Menschenwürdeangriff im Sinne der Volksverhetzungsvorschrift einzuordnen. 158 Im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen nahm die Rechtsprechung daher an, eine Volksverhetzung durch bloße radikale Geschichtsrevision („einfache Auschwitz-Lüge") 159 sei nicht möglich, weil dieses LeugnungsverhalM OLG Celle, NJW 1970, 2257 (Hervorheb. v. Verf.). >55 Daß die Rspr. häufig offen lasse, welche „Tatbestandsvariante" sie für gegeben erachte, bemängeln Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392 u. Blau, Urteilsanm., JR 1986, 82 f. 156 § 130 a.F. StGB lautet: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft." (Hervorheb. v. Verf.). 157 BGHSt 21, 371 (373); 31, 226 (231 f.) [Stäglich]; 36, 83 (90f.); 40, 97 (100) [Deckert]; BayObLG NJW 1991, 1493; OLG Celle NJW 1982, 1545; OLG Frankfurt NJW 1989, 1367. 158 BGHSt 16, 49 (54, 56) [„Bankiersverschwörung"]; 21, 371 (373); 31, 226 (231 f.) [Stäglich]; BGH NStZ 1981, 258; 1984, 310; 1994, 140. 159 Zur Terminologie siehe oben Erster Teil, C. I. 1., S. 96 f. u. II. 1., S. 98.

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ten zwar die Ehre jedes Juden zu verletzen imstande und daher beleidigend sei, nicht aber auf den Kern seiner Persönlichkeit abziele. 160 Ein Angriff auf die Menschenwürde liege hingegen vor, wenn der Täter „die Tatsache der systematischen Morde an Juden als Lügengeschichte darstellt, absichtlich erfunden zur Knebelung und Ausbeutung Deutschlands zugunsten der Juden". 161 Auch die im Einzelfall bestehende „Identifikation" des Täters „mit der nationalsozialistischen Rassenideologie" könne die Einordnung als Menschenwürdeangriff begründen. 162 Schließlich sei es denkbar, daß sich der Angriff auf die Menschenwürde aus anderen Umständen des jeweiligen Einzelfalles ergebe, beispielsweise aus einer erkennbar „feindseligen Haltung" 163 des Täters gegenüber dem angesprochenen Personenkreis. Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 (Radikale Geschichtsrevision als Instrument schwerer Rechtsgutsgefährdungen) war also nach Ansicht der Rechtsprechung stets als Volksverhetzung einzuordnen, in der Erscheinungsform 2 (Radikale Geschichtsrevision als Instrument persönlichkeitsbezogener Angriffe) 164 jedenfalls dann, wenn die entsprechenden Angriffe darin bestanden, die in Deutschland lebenden Juden als angebliche Urheber einer „Holocaust-Erfindung" zu bezeichnen oder wenn der rein instrumentelle Charakter vorgeblich wertfreier Geschichtskritik zum Zwecke bösartiger antisemitischer Agitation nicht zu übersehen war. 2. Literatur Wie reagierte die Literatur auf die geschilderte Rechtsprechungslinie? Die Frage soll an dieser Stelle noch nicht erschöpfend beantwortet werden. In Zusammenhang mit der Entwicklung und Darstellung meiner eigenen Position wird sich das Bild dann abrunden. 165 Hier kann es nur darum gehen, einen Überblick darüber zu geben, welche Grundhaltung in der Literatur zum von der Rechtsprechung eingeschlagenen Weg vorherrschte. Auch sollen die wichtigsten Einwände genannt werden, welche üblicherweise gegen die von der Rechtsprechung gewählte dogmatische Konstruktion erhoben wurden. Eine Bemerkung sei vorangestellt: Intensiv und systematisch haben sich mit dem „Auschwitz-Leugnen" als Rechtsproblem in der Zeit vor dem „Deckert-Urteil" und dem VerbrBekG ohnehin nur wenige juristische Autoren befaßt. Daher sollen Stimmen, welche ohne jede Auseinandersetzung lediglich die Rechtsprechungsargumente wiedergeben, 166 aus der nachfolgenden Darstellung ausgespart bleiben. 160 BGHSt 40, 97 (100); OLG Celle NJW 1982, 1545. 161 BGH, a. a. O., S. 100; BGH NStZ 1994, 140. ι « BGH, a. a. O., S. 100 m. w. N. 163 BGH, a. a. O., S. 102. 164 Zur Klassifizierung der Erscheinungsformen siehe oben Erster Teil, C. II., S 98 f. 165 Siehe unten Dritter Teil, B., S. 177 ff. 166 Z. B. H. W. Schmidt, MDR 1981, 972 (974f.). 9 Wandres

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

a) Beleidigung (§§ 185ff. StGB) Es liegt auf der Hand, daß man sich in der Literatur wenn überhaupt, dann schwerpunktmäßig mit den beiden Annahmen des BGH auseinandersetzte, welche die dogmatischen Stützpfeiler bilden, auf denen die beleidigungsrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens ruht. Das ist zum einen die Auffassung der Rechtsprechung, eine Sammelbeleidigung „der Juden" sei trotz des zahlenmäßig großen Personenkreises möglich. Zum anderen geht es um die Einordnung aller Formen des Auschwitz-Leugnens - also bereits der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) 167 - als rechtlich relevante Angriffe auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen des auf diese Weise bezeichneten Kollektivs. Für den ersten Punkt, also die Annahme, die Bevölkerungsgruppe „der Juden" sei trotz der großen Zahl ihrer Mitglieder aufgrund des historischen Verfolgungsschicksals ausreichend umgrenzt, zeigen viele Autoren zwar durchaus Verständnis für die Beweggründe dieser „Überdehnung der Kollektivbeleidigung" durch die Rechtsprechung, bezeichnen den eingeschlagenen juristischen Weg aber dennoch mit deutlichen Worten als strafrechtsdogmatisch nicht akzeptabel.168 So wird beispielsweise formuliert, dieser Weg sei „menschlich und politisch" verständlich, doch sei er »juristisch eine von Anfang an höchst anfechtbare Verlegenheitslösung gewesen .. , " . 1 6 9 Bereits bei Schaffung der geltenden Strafantragsregelung in § 194 Abs. 1 Satz 2 StGB durch das 21. StÄG 1 7 0 habe der Gesetzgeber zu wenig beachtet, daß durch die an dieser Stelle vorgenommene Modifikation der materiellrechtliche Anwendungsbereich der Rechtsfigur „Sammelbeleidigung" unberührt bleibe und daß „seine schon heute problematische Weite nicht noch mehr ausgedehnt werden" könne, „ohne den Charakter der Beleidigung als eines gegen das Individuum gerichteten Delikts preiszugeben". 171 Andererseits findet sich in der Literatur nicht selten ausdrückliche Zustimmung zu einer als strenge Ausnahme verstandenen Juristischen Sonderbehandlung" der Beleidigung von Juden unter einer Kollektivbezeichnung. Die einmalige Ausnahme lasse sich trotz unbestreitbarem NichtVorliegen der für alle anderen Fälle unverzichtbaren Kriterien der Sammelbeleidigung172 damit rechtfertigen, daß es sich in diesem Fall um eine historische Sondersituation handle, aus der sich eine besondere Pflichtenstellung des deutschen Volkes gegenüber den heute lebenden Juden 167

Zur Klassifizierung der Erscheinungsformen siehe oben Erster Teil, C. II., S 98 f. »68 So ζ. B. Arzt, JuS 1982, 717 (719, 727); Geppert, Jura 1983, 530 (539, Fn. 59); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 62, 64, zusf. 70 f. Vorsichtiger Herdegen, in: LK 10. Aufl., Vor § 185, Rn. 22, 24. 169 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185, Rn. 3 - so schon die Voraufl. 1991. 170 Siehe oben Zweiter Teil, Α. II. 2., S. 110 ff. πι Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185 Rn. 3; § 194, Rn. 4; krit. auch Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 194 Rn. 1. 172 Vgl. nur Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185, Rn. 3 f.

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ableiten lasse. 173 Die Singularität der an den Juden verübten Verbrechen in der Vergangenheit - so die offenbar hinter dieser Ansicht stehende Überlegung - verlange eben auch in der Gegenwart nach einer singulären juristischen Einordnung der damit in Zusammenhang stehenden Äußerungen. Bezüglich der zweiten Annahme der Rechtsprechung, also der Einordnung des Auschwitz-Leugnens als Ehrangriff, sind dezidiert kritische Stimmen eher selten. 1 7 4 Ja es scheint fast so, als werde das darin liegende Problem von den meisten gar nicht wahrgenommen 175 oder jedenfalls augenblicklich wieder aus den Überlegungen ausgeblendet.176 Das überrascht vor allem deswegen, weil ohne eine Ehrverletzung der materiellrechtliche Kern der zuvor mühsam begründeten Sammelbeleidigung entfiele. Die Berechtigung der Rechtsprechungsposition in diesem durchaus kritischen Punkt wird - wenn die Frage überhaupt angesprochen wird nicht weiter problematisiert, sondern kurzerhand akzeptiert. 177 Es ist unübersehbar, daß die Autoren das Hervorrufen allgemeiner Empörung, welche man beim Auschwitz-Leugnen (zum Glück!) ausnahmslos konstatieren kann, unbesehen mit dem individuell-ehrverletzenden Charakter einer solchen Äußerung in Eins setzen. So kann man beispielsweise die auf vorsorgliche Erstickung jeden aufkeimenden Zweifels angelegte Formulierung lesen, „die aggressive Verharmlosung der nationalsozialistischen Judenvernichtung" sei „selbst schon als Beleidigung anzusehen". 178

173 Blanke, Urteilsanm., KJ 1979, 197 (199); Deutsch, Urteilsanm., NJW 1980, 1100; Emmerich/Würkner, NJW 1986, 1195 (1196); Giehring, StV 1992, 194 (199, Fn. 94); Heselhaus, JA 1995, 272 (276); H. Jung, JuS 1986, 80; Lohse, NJW 1985, 1677 (1680); Maurach/ Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 15, § 27 Rn. 10; H. Meier, Merkur 1994, 1128 (1130). Ostendorf, NJW 1985, 1062 (1064) hält einen besonderen Ehrenschutz zwar für objektiv unnötig, nicht aber für „subjektiv" entbehrlich. Den singulären Charakter betont auch Schulze-Fielitz, Urteilsanm., JZ 1994, 902 (904). Skeptisch, aber gerade noch zustimmend Tenckhoff, JuS 1988, 460 m. w. N. 174 Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392 (393, Fn. 11); Jakobs, Urteilsanm., StV 1994, 540 (541 f.); Köhler, NJW 1985, 2389 (2390, Fn. 11); Unckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185, Rn. 3 - so schon die Voraufl. 1991; Stein, MichiganLR 85 (1986/87), 277 (301); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 61 f., 64. Ablehnend auch Findeisen/Hoepner/Ziinkler, ZRP 1991, 245 (247), freilich ohne jede Begründung. 175 Das trifft nicht zu auf Frommel, KJ 1994, 323, die der Ansicht ist, der BGH werde nicht restriktiv genug interpretiert. Der BGH habe nämlich durchaus klargestellt, daß ohne eine „persönliche Verletzung" (des Klägers) ein ehrrelevanter Angriff entfalle (S. 335). Als Beleg zitiert Frommel d i e Urteilspassage: „ E r s c h ö p f t e s i c h die Aussage darin, die Geschichtsschreibung einer Unwahrheit zu bezichtigen, dann wäre der Kläger durch sie nicht verletzt." (BGHZ 75, 160 [161]). Ähnlich Wallrabenstein, KJ 1995, 223 (225), die feststellt, mit der durch die Rspr. vorgenommenen Auslegung des § 185 StGB werde bezüglich der Juden lediglich „auf eine ausdrückliche Bekundung der Mißachtung verzichtet". 176 Letzteres deutlich bei Dietz, KJ 1995, 210 (218 f.). 177 Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 138; Maurach/ Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 13. 178 Blanke, Urteilsanm., KJ 1979, 197 (201). *

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

b) Volksverhetzung

(§ 130 a.F. StGB)

Bei der Bestrafung des Auschwitz-Leugnens als Volksverhetzung hat aus strafrechtsdogmatischer Sicht die Zustimmung der Literatur zur Rechtsprechungslinie überwogen - zumindest auf den ersten Blick. Das schließt nicht aus, daß in Details und Nebenpunkten Kritik geübt wurde. Unter diese Rubrik fällt beispielsweise die Feststellung, es sei der Rechtsprechung anzukreiden, daß sie die jeweilige Tathandlung durchweg nicht sauber und zweifelsfrei unter die einzelnen Tatbestandsalternativen (§ 130 Nr. 1 bis 3 a.F. StGB 1 7 9 ) subsumiere. 180 Zwar reiche ,jede Handlung nach §§ 185 ff. StGB" zur Erfüllung von § 130 Nr. 3 a.F. StGB aus, doch bedürfe es zumindest der eindeutigen Feststellung einer objektiven Äußerung - die Feststellung einer entsprechenden „Tätergesinnung" genüge jedenfalls nicht. 181 Strafrechtsdogmatische Grundsatzkritik haben dagegen nur wenige Autoren formuliert. Theoretisch wäre die Bildung von Gegenpositionen zur Rechtsprechung in der Gestalt zweier entgegengesetzter „Meinungslager" zu erwarten gewesen. Man hätte nämlich einerseits eine zu weite, andererseits eine zu enge Auslegung und Anwendung des Volksverhetzungstatbestandes durch die Rechtsprechung bemängeln können. Die erste Form denkbarer Kritik gibt es im veröffentlichten Schrifttum nicht, 1 8 2 während die zweite Form zumindest vereinzelt vorkommt. So wurde der Rechtsprechung vorgeworfen, sie ignoriere mit der von ihr errichteten hohen Hürde einer „qualifizierten Auschwitz-Lüge" die Entstehungsgeschichte des § 130 StGB, der „gerade auch" geschaffen worden sei, um „die als ,Auschwitz-Lüge* verbreitete Verleumdung der Verfolgten des deutschen Faschismus unter Strafe zu stellen". 183 Auch sei die von der Rechtsprechung vorgenommene Differenzierung zwischen „einfacher" und „qualifizierter Auschwitz-Lüge" „dogmatisch nicht nachvollziehbar", 184 und sie leuchte als „scholastische Unterscheidung ... niemandem ein". 1 8 5 Überhaupt sei festzustellen, daß die Rechtsprechung den Tatbestand der Volksverhetzung im Bereich des Auschwitz-Leugnens durch „Manipulierung" des Tatbestandsmerkmals »Angriff auf die Menschenwürde" nach und nach habe „leerlaufen lassen". 186 Die in der Literatur im übrigen vorhandene dogmatische Übereinstimmung mit der Rechtsprechungslinie ändert freilich nichts an der vielerorts spürbaren, biswei179 Zu deren Wortlaut siehe oben, S. 128 in Fn. 154. 180 Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392; Blau, Urteilsanm., JR 1986, 82 f. 181 Baumann, a. a. O., S. 392. 182 Wenn man von Grundsatzkritik an der Volksverhetzungsvorschrift als solcher einmal absieht; vgl. nur Hassemer, KJ 1990, 359 (362, 365). 183 Cobler, KJ 1985, 159 (164). Weusthoff, Endlich geregelt?, in: Bailer-Galanda/Benz/ Neugebauer (Hrsg.), Wahrheit und Auschwitzlüge, 1995, S. 237 (241) findet, schon die Bezeichnung „qualifizierte Auschwitzlüge" sei ein „Unwort". 184 Frommel, KJ 1994, 323. 185 Frommel, a. a. O., S. 334. 186 Frommel, KJ 1995,402(404).

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len auch offen zum Ausdruck gebrachten Unzufriedenheit mit dem nach geltendem Recht erzielbaren Ergebnis. Insbesondere wurde die mangelnde Erfassung des Auschwitz-Leugnens in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) moniert. Nach geltendem Recht, so konnte man in der Zeit vor dem VerbrBekG lesen, werde die radikale Geschichtsrevision allenfalls nach § 185 StGB erfaßt. Das gelte jedenfalls, solange mit den Äußerungen der radikalen Revisionisten „erkennbar hetzerische Angriffe" nicht verbunden seien. Diese strafrechtliche Erfassung sei aber unzureichend, weil „die auf vordergründige Scheinobjektivität angelegten öffentlichen Äußerungen bzw. Veröffentlichungen" dieses Personenkreises „durch ihre Verbrämung besonders hinterhältig, im Hinblick auf eine ... mögliche Beeinflussung und Förderung der Bereitschaft gerade junger Menschen zur Bejahung oder unkritischen Akzeptierung neonazistischer Tendenzen gefährlich und in gleicher Weise strafwürdig" seien. 187 „In gleicher Weise strafwürdig" soll heißen, daß die anstößigen Thesen der radikalen Revisionisten in ihrer sozialschädlichen Wirkung Äußerungen vergleichbar seien, welche den Tatbestand der Volksverhetzung seinerzeitiger Fassung unstreitig erfüllten. Als Konsequenz müsse man daher, so wurde angemahnt, eine neue Strafvorschrift „zur Lückenschließung" schaffen. 188 Die Forderung nach Tätigwerden des Gesetzgebers, so eine weitere Stimme, sei schon deshalb berechtigt, weil sich die bisherige Fassung des § 130 StGB als „notwendigerweise unpraktikabel" erwiesen habe. 189 Bei genauer Betrachtung laufen die vorhandenen Stellungnahmen in der Literatur insgesamt auf die Forderung nach einer Ausweitung der Bestrafung wegen Volksverhetzung hinaus. Dieses Bild ergibt sich, so kann man vermuten, weil sich nur wenige Autoren dem Thema „Auschwitz-Leugnen" mehr als oberflächlich gewidmet haben. Wenn sie es aber taten, so - von den Strafrechtskommentatoren vielleicht einmal abgesehen - ersichtlich deswegen, weil sie mit dem von der Rechtsprechung erzielten Ergebnis nicht einverstanden waren. Die dadurch hervorgebrachten Positionen unterscheiden sich lediglich darin, welchen Weg der Abhilfe sie vorschlugen. Während die einen meinten, das Problem liege darin, daß die Gerichte in Strafprozessen gegen Auschwitz-Leugner das geltende Recht „nicht konsequent genug" anwendeten, meinten die anderen, die Rechtslage gebe tatsächlich nicht mehr her, es komme daher darauf an, sie zu verändern. 190

187 v. Bubnoff, ZRP 1982, 118 (119). 188 v. Bubnoff, a. a. O., S. 119. 189 Geilen, NJW 1976, 279 (280 f.). 190 Trotz der konstatierten begrenzten Möglichkeiten der geltenden Rechtslage sprach sich Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392 (393) dezidiert gegen eine Veränderung aus.

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II. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 Die geforderte Änderung kam mit dem VerbrBekG. 1 9 1 Aber war es auch die gewünschte?

1. Der Regelungsgehalt des neuen § 130 StGB U m diese Frage beantworten zu können, ist erst einmal ein konzentrierter Blick auf die Einzelheiten der am 1. Dezember 1994 in Kraft getretenen Volksverhetzungsvorschrift zu werfen. Dabei reicht es nicht aus, sich lediglich mit dem für unser Thema besonders wichtigen Abs. 3 zu befassen. Schon um den neu eingefügten „Leugnungstatbestand" 1 9 2 zutreffend in seinen systematischen Zusammenhang einordnen zu können, muß man sich die ganze Vorschrift ansehen/ 193 Denkt man an das Gesamtphänomen ,Auschwitz-Leugnen", so ist es auch nicht von vorneherein ausgeschlossen, daß sich die Änderungen des § 130 StGB auf die strafrechtliche Erfassung solcher Erscheinungsformen auswirken, deren Subsumtion unter den Volksverhetzungstatbestand alter Fassung längst eingespielt gewesen war. Auch aus diesem Grunde ist eine detaillierte Normanalyse unumgänglich. § 130 StGB in der Fassung des VerbrBekG lautet: „(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. Schriften (§ 11 Abs. 3), die zum Haß gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, daß Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden, a) verbreitet, b) öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, c) einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder d) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Buchstaben a bis c zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, oder 191 G zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze v. 28. 10. 1994, BGBl. I, S. 3186 ff. 192 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 41.

193 Bezüglich der Einbeziehung eines Teils des § 131 a.F. StGB (Aufstachelung zum Rassenhaß) in die Volksverhetzungsvorschrift vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 1, 32 f. u. § 131 vor Rn. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 1.

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2. eine Darbietung des in Nummer 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet. (3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220a Abs. 1 bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. (4) Absatz 2 gilt auch für Schriften (§ 11 Abs. 3) des in Absatz 3 bezeichneten Inhalts. (5) In den Fällen des Absatzes 2, auch in Verbindung mit Absatz 4, und in den Fällen des Absatzes 3 gilt § 86 Abs. 3 entsprechend."

Zunächst gilt es, die neugefaßte, überaus verklausulierte und mit mehreren nicht leicht durchschaubaren Verweisungen arbeitende Volksverhetzungsvorschrift nach Wortlaut und innerer Systematik zu erfassen. Das gelingt am leichtesten, wenn man § 130 StGB in zwei Tatbestandsgruppen gliedert: Erstens in einen Äußerungstatbestand (Abs. 1 u. 3) und zweitens in einen Schriften- (bzw. Rundfunk-) Verbreitungstatbestand (Abs. 2 u. 4). 1 9 4 Vom Äußerungstatbestand sind insgesamt drei Arten volksverhetzender Inhalte erfaßt. Erstens das Aufstacheln zum Haß oder die Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen (Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 u. 2), zweitens ein Angriff auf die Menschenwürde anderer durch Beschimpfung, böswillige Verächtlichmachung oder Verleumdung (Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 - 3 ) und drittens - und das ist das eigentlich Neue am neuen Volks Verhetzungsparagraphen - die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung einer „unter der Herrschaft des Nationalsozialismus" begangenen Völkermordhandlung (Abs. 3 Alt. 1 - 3). Die zur Umschreibung der Völkermordhandlung gewählte Formulierung „Handlung der in § 220a Abs. 1 bezeichneten Art" trägt der Tatsache Rechnung, daß zur maßgeblichen Tatzeit („unter der Herrschaft des Nationalsozialismus") die Völkermordvorschrift des § 220a StGB noch nicht in Geltung war. 195 Durchgängige Voraussetzung für alle drei Begehungsvarianten ist, daß die Äußerung mit dem beschriebenen Inhalt „in einer Weise" fällt, „die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören". Die beiden ersten Äußerungsformen (Abs. 1 Nrn. 1 u. 2) erfüllen unter dieser Voraussetzung ohne weiteres den Tatbestand, die dritte Form (Abs. 3) nur dann, wenn die inkriminierte Äußerung „öffentlich oder in einer Versammlung" getan wird. Die Strafdrohung des Äußerungstatbestandes ist bezüglich der vorgesehenen Höchststrafe einheitlich (fünf Jahre Freiheitsstrafe). Für die beiden ersten Begehungsvarianten ist zudem eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten vorgesehen, nicht jedoch für die dritte Variante.

194 Abweichend v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 4, 32, 41, der eine systematische Dreiteilung in „Äußerungstatbestand" (Abs. 1), „Schriftenverbreitungstatbestand" (Abs. 2) und „Leugnungstatbestand" (Abs. 3 u. 4) vorschlägt. 195 So auch BT-Drs. 12/8588 v. 20. 10. 1994, S. 8. § 220a StGB wurde eingefügt durch G v. 9. 8. 1954, BGBl. II, S. 729. Es handelt sich um die innerstaatliche Umsetzung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Genozid-Konvention v. 9. 12. 1948, BGBl. 1955 II, S. 210).

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Der Schriften-Verbreitungstatbestand schließt alle erdenklichen Möglichkeiten des nach außen gerichteten Umgangs mit einschlägigen Druckerzeugnissen oder beispielsweise Tonträgern ein (Abs. 2 Nr. 1 lit. a - d StGB). Im Ergebnis wird lediglich das unmittelbare Besitzen eines einzelnen Stückes sowie dessen unentgeltliche Übergabe an eine bestimmte, über achtzehn Jahre alte Person zum endgültigen Verbleib oder mit der Verpflichtung zur Rückgabe aus der im übrigen flächendeckend konzipierten Strafdrohung ausgenommen.196 Es werden grundsätzlich alle „Schriften" im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB erfaßt, 197 die etwas enthalten, das - würde es mündlich geäußert - einer der beschriebenen Varianten des Äußerungstatbestandes unterfiele. Dabei ist im Gegensatz zum Äußerungstatbestand nicht erforderlich, daß sich derjenige, welcher die Schriften usw. verbreitet oder ihre Verbreitung vorbereitet, ihren Inhalt zu eigen macht. 198 Für die beiden ersten Begehungsalternativen (Abs. 1 Nrn. 1 u. 2) ergibt sich das unmittelbar aus der Fassung des Abs. 2 Nr. 1, wo der Inhalt von Abs. 1 sprachlich nur leicht variiert wiederholt wird - allerdings mit einer bedeutsamen Ausnahme. Eine wesentliche Abweichung besteht nämlich darin, daß das Erfordernis des Abs. 1, die Äußerung müsse „geeignet" sein, „den öffentlichen Frieden zu stören", in Abs. 2 fehlt. 199 Für die dritte Begehungsform (Abs. 3) hat sich der Gesetzgeber anstelle einer ausdrücklichen Einbeziehung in den Normtext des Abs. 2 der Verweisungstechnik bedient (Abs. 4). Das hat zur Folge, daß für diese Begehungsvariante auch das Erfordernis der „Eignung zur Friedensstörung" in den Verbreitungstatbestand transformiert wird. 2 0 0 Schließlich wird die Verbreitung jeden Inhalts, der den Schriften-Verbreitungstatbestand erfüllen würde, grundsätzlich auch für den Fall in die Strafdrohung einbezogen, daß die Verbreitung im Wege der „Darbietung ... durch Rundfunk" 201 geschieht (Abs. 2 Nr. 2). Aber auch diese klare Regel hat eine irritierende Ausnahme: Die Verweisungsnorm des Abs. 4 bezieht sich nämlich erstaunlicherweise nur auf „Schriften" mit dem in Abs. 3 bezeichneten Inhalt. Die Verbreitung solcher Inhalte als Live-Sendung im Rundfunk ist also nicht strafb a r 2 0 2 Bei der Strafdrohung wird es dann wieder einheitlich: Alle Begehungsalter196 Mit Ausnahme von § 130 II Nr. 1 c) wie bei „harter Pornographie"; vgl. Lenckner, in: Schänke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 184 Rn. 6 ff., 57 ff. Zu den Tathandlungen im einzelnen v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 39 u. § 131 Rn. 30. 197 Also auch Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen u. andere Darstellungen. 198 Liegt eine Identifikation mit dem Schrifteninhalt vor, ist der Äußerungstatbestand (mit höherer Strafdrohung) spezieller. So für das Verhältnis von Abs. 3 u. 4 Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1175). Allgemein zur Unterscheidung zwischen „Behaupten" und „Verbreiten" Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 253 f. i " Aus diesem Grunde bezeichnet Lenckner, a. a. O., Rn. 12 den § 130 Abs. 2 StGB als „allgemeinen Diskriminierungstatbestand", der aber im Gegenzug wieder enger als Abs. 1 sei, weil „der Angriff hier speziell durch das Verbreiten von Schriften usw. erfolgen muß". 200 So auch Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 23.

201 Live-Sendungen in Radio und Fernsehen, weil bei Wiedergabe einer Aufzeichnung bereits Abs. 2 Nr. 1 eingreift; so v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 39 u. § 131 Rn. 31 f.; Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 7 u. § 184 Rn. 7; Lenckner, in: Schönke/ Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 15 u. § 184 Rn. 51.

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nativen des Verbreitungstatbestandes unterliegen einer Strafdrohung von Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Nach dem Wortlaut der neugefaßten Volksverhetzungsvorschrift ist ferner die Bestimmung des Angriffsziels der Äußerung bzw. des Schrifteninhalts nicht einheitlich gelöst. Als grundlegende Weichenstellung kann man festhalten, daß im Rahmen des Äußerungstatbestandes ein „Teil der Bevölkerung" - also lediglich eine inländische Personenmehrheit 203 - als Angriffsziel genannt wird, während die Vorschriften der zweiten Gruppe (Verbreitungstatbestand) den angegriffenen Personenkreis zusätzlich um „nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte" Gruppen 204 erweitern. Damit ist für den Verbreitungstatbestand grundsätzlich auch ein Angriff auf entsprechende ausländische Personenmehrheiten in die Strafdrohung einbezogen.205 Aber auch in diesem Zusammenhang gibt es eine Ausnahme: Für die dritte Äußerungsform (Abs. 3) fehlt es - genauso wie für die dritte Verbreitungsform (Abs. 4) - an einer ausdrücklichen Benennung des anvisierten Personenkreises. 206 Schließlich gilt für alle Begehungsweisen der Absätze 2 - 4 die „Sozialadäquanzklausel" des § 86 Abs. 3 StGB entsprechend (Abs. 5), nicht jedoch für die beiden unter den Äußerungstatbestand fallenden Begehungsweisen des Absatzes 1. Die Absätze 2 - 4 sind daher nicht anwendbar, 207 wenn die den Tatbestand erfüllende Schrift (Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4), Darbietung (Abs. 2 Nr. 2) oder Äußerung (Abs. 3) im konkreten Fall der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder Wissenschaft, der Forschung oder Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient. 208 Etwas vereinfacht läßt sich die aus dem 202 Daß der Gesetzgeber das wollte, ist schwer vorstellbar. Ein Redaktionsversehen („Mit heißer Nadel gestrickt") vermutet auch Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 23. 2°3 y. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 33; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169); Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 2; Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 3. 204 Die Formulierung ist der Tatbestandsfassung des § 220a StGB (Völkermord) angeglichen.

205 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 33; Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 2, 10; Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 13. Vgl. auch BT-Drs. 12/6853 v. 18. 2. 94, S. 24 mit dem zusätzlichen Argument, Abs. 2 setze die Eignung zur Störung des (inländischen!) öffentlichen Friedens im Gegensatz zu Abs. 1 nicht voraus, 206

Damit ist noch nicht gesagt, daß ein Angriff auf eine Personenmehrheit nicht ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal auch der dritten Form (Abs. 3 u. 4) der Volksverhetzung sein könnte, doch könnte sich dieses Merkmal - wegen des auch in den Verbreitungstatbestand transformierten Erfordernisses der „Eignung zur Friedensstörung" - von vorneherein nur auf einen Teil der inländischen Bevölkerung beziehen. 207 Tatbestandsausschluß: v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl. § 130 Rn. 53. 208 Zu den Widersprüchen dieser Einbeziehung der Sozialadäquanzklausel ausführlich v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 53 f.; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169, 1180); Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 25.

138

2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Gesetzeswortlaut abgeleitete innere Systematik der neugefaßten Volksverhetzungsvorschrift wie folgt in Tabellenform darstellen: § 130 StGB

Abs. 1 Nr. 1

Angriff auf Eignung die Menschen- zur Friedenswürde störung -

X

Abs. 1 Nr. 2

X

X

Abs. 3 1

-

X

-

-

Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 ( « Abs. 1 Nr. I ) 3 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 ( » Abs. 1 Nr. 2) 3 Abs. 4 2 ( « Abs. 3) 3 1 2 3

X

-

-

X

Angegriffene Gruppe Bevölkerungsteil, Inland Bevölkerungsteil, Inland -

Bevölkerungsteil, In-/Ausland Bevölkerungsteil, In-/Ausland -

Geltung des § 86 Abs. 3 -

Äuße-

rungstatbestand

X X VerbreiX

tungstatbestand

X

Zusätzliches Erfordernis: öffentlich oder in einer Versammlung. Nur Verbreitung durch Schriften usw., nicht durch Rundfunk. Schriften-Inhalt « Äußerungs-Inhalt nach dem in Klammern genannten Absatz.

Hat man sich in einem ersten Schritt der nicht unerheblichen Mühe unterzogen, die neue Volksverhetzungsvorschrift zu erfassen und zu durchschauen, 209 gilt es in einem zweiten Schritt, sich die wichtigsten Veränderungen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage210 zu vergegenwärtigen: - Die Nrn. 1 u. 2 der alten Fassung des § 130 StGB wurden in Abs. 1 Nr. 1 der neuen Bestimmung zusammengefaßt, wobei der „Angriff auf die Menschenwürde" entfiel. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß die Streichung dieses Tatbestandsmerkmals im Gesetzgebungsverfahren damit begründet wurde, mit den genannten Handlungen sei „in der Regel" ein Menschenwürdeangriff verbunden, so daß das ursprüngliche Ziel des zusätzlichen Tatbestandsmerkmals, nämlich die Anwendung der Vorschrift auf „legale politische, wirtschaftliche und soziale Auseinandersetzungen" zu verhindern, auch so erreicht werde. 211 - Nr. 3 der alten Fassung wurde unter ausdrücklicher Einbeziehung des Menschenwürdeangriffs zu Abs. 1 Nr. 2 der neuen Volksverhetzungsvorschrift. - Ein Teil des alten § 131 StGB (Aufstacheln zum Rassenhaß) wurde „zu einem allgemeinen und umfassenden Diskriminierungstatbestand ... verbunden mit 209 König/Seitz, NStZ 1995, 1 (3): „ . . . schwer durchschaubare(s) Geflecht". 210 Vgl. den Wortlaut von § 130 a.F. StGB, oben S. 128 in Fn. 156. 211 BT-Drs. 12/6853 v. 18. 2. 1994, S. 24; 12/7960 v. 15. 6. 1994, S. 6; 12/8411 v. 1. 9. 1994, S. 6. Zur Gesetzgebungsgeschichte ausführlich oben Zweiter Teil, Α. II. 3., S. 113 ff.

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einer Erhöhung der Strafdrohung" 212 umgestaltet und in Abs. 2 des neuen § 130 StGB eingestellt. - Schließlich wurde in Abs. 3 der Tatbestand eingefügt, welcher für den hier interessierenden Zusammenhang mit Abstand am wichtigsten ist, nämlich die unter bestimmten Umständen strafbare Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermordes. In einer Verweisungsnorm (Abs. 4) wurde ergänzend bestimmt, daß die Verbreitung von Schriften usw. mit dem inkriminierten Inhalt strafbar ist, auch wenn sich der Verbreitende den Inhalt nicht zu eigen macht.

2. Die Reaktion auf den neuen § 130 StGB Wie sich die Rechtsprechung in Bezug auf das Auschwitz-Leugnen unter der neuen Rechtslage im ganzen entwickelt, wird sich zeigen. Weil sich mit dem VerbrBekG im Bereich der Beleidigung (§§ 185 ff. StGB) nichts geändert hat, sind Korrekturen allenfalls bei der Einordnung der verschiedenen Erscheinungsformen des Auschwitz-Leugnens als Volksverhetzung 213 und bei der Bestimmung des Konkurrenzverhältnisses zwischen den beiden Deliktsarten zu erwarten. Die Literatur reagierte, wenn auch verhalten, auf die neue Gesetzeslage, und sie lieferte Analysen, Kommentare und vereinzelt auch Kritik. Insofern ist es an dieser Stelle möglich, ein erstes Stimmungsbild zu zeichnen. Damit kommt man auch der Beantwortung der eingangs gestellten Frage näher, ob die Gesetzesänderung dem Gewünschten entspricht. Läßt man die publizierten Reaktionen Revue passieren, so überwiegt die Zustimmung zur Gesetzesänderung, ja man hat den Eindruck, als habe sich spontane Erleichterung darüber eingestellt, daß der Gesetzgeber endlich „mit einem Federstrich" das leidige Problem der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens gelöst habe. 214 Mit dem neugefaßten § 130 StGB sei es gelungen, so kann man lesen, „antisemitische Propaganda einfach wegen ihrer Abscheulichkeit unter Strafe zu stellen". 215 Der neue Tatbestand sei zudem nichts anderes als die schon seit langem fällige „Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung" der Bundesrepublik Deutschland.216 Durch die Schaffung eines gesonderten Tatbestandes in 212 Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn 1. Zu den Einzelheiten v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 1, 32 f. u. § 131 vorRn. 1. 213 Erste Annäherungen ζ. B. in BGH, Beschl. v. 2. 4. 1997, 3 StR 95/97 (Vorinstanz: LG Berlin), in dem freilich die Einbeziehung der „Eignungsformer in den Verbreitungstatbestand von § 130 Abs. 3 StGB offengelassen wird. 214 Frommel, KJ 1994, 323 (336). 215 Frommel, KJ 1995,402 (405). 216 Partsch, EuGRZ 1994, 429 (434); die Strafjpflicht der Bundesrepublik Deutschland ergebe sich aus dem „Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung" (BGBl. 1969 II, 962).

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Absatz 3 habe sich die Ansicht der Rechtsprechung eindrucksvoll bestätigt, daß die „einfache Auschwitzlüge" von der bisherigen Gesetzesfassung nicht erfaßt gewesen sei. Diese Erscheinungsform falle daher auch nicht unter Abs. 1 Nr. 1 des neuen § 130 StGB, auch wenn man dort den „Angriff auf die Menschenwürde" gestrichen habe. 217 Sowohl die Schaffung des „Sondertatbestandes" in Absatz 3 als auch die Streichung des Menschenwürde-Merkmals in Abs. 1 Nr. 1 seien als „eine Art Beweiserleichterung" für die Gerichte anzusehen,218 wodurch „die Rechtssicherheit gefördert" werde. 219 Zwar wird vereinzelt die relative Konturlosigkeit der in Absatz 3 aufgenommenen Tatbestandsalternative „Verharmlosen" bemängelt, 2 2 0 doch fügt man im gleichen Atemzug hinzu, die damit einhergehenden Probleme ließen sich durch eine entsprechende Auslegung des den Tatbestand insgesamt begrenzenden Merkmals „Eignung zur Friedensstörung" 221 ohne weiteres in den Griff bekommen. 222 Durch die neue Strafbestimmung sei klargestellt worden, daß es sich beim Auschwitz-Leugnen um eine „Tabuverletzung von extremer Schärfe" handle. 223 Alles in allem könne man davon ausgehen, daß nunmehr der Problemkreis Auschwitz-Leugnen abschließend geregelt sei: „Die Neuregelung dürfte die Rechtsanwendung vereinfachen, namentlich die juristisch und moralisch kaum durchführbare Abgrenzung zwischen der »einfachen* und der qualifizierten Auschwitzlüge4 entbehrlich machen." 224 Demgegenüber wird nur ganz spärlich juristische Grundsatzkritik geübt, und wenn, dann überwiegend in moderatem Ton und mit eher zurückhaltenden Formulierungen. 225 Unmißverständlich bringt einzig Beisel seine Ablehnung zum Ausdruck, wenn er den neuen § 130 Abs. 3 StGB als „das letzte Glied in einer Kette von Gesetzen" bezeichnet, „in denen der Gesetzgeber seiner Neigung zu (rechter wie linker) Gesinnungsdiskriminierung ... Ausdruck verliehen hat". Die Regelung komme einem „staatlich verordneten ,Denkverbot4 sehr nahe" und stelle einen „Angriff auf die geistige Freiheit Andersdenkender" dar. 226 Schon sanfter klingt 217 Beisel, NJW 1995, 997 (998 f.). Die Streichung erklärt Dahs, NJW 1995, 553 (554) damit, der Gesetzgeber habe auf diesem Weg der engen Auslegung der Rspr. eine Absage erteilen wollen. Strikt gegen die Streichung spricht sich U. Neumann, StV 1994, 273 (274, 276) aus („partielle[r] Abbau des Rechtsstaats"). 218 Frommel, KJ 1995,402 (408 f.). 219 Krüger, Kriminalistik 1995,41. 220 Beisel, a. a. O., S. 999; Wallrabenstein, Endlich geregelt?, in: Bailer-Galanda/Benz/ Neugebauer (Hrsg.), Wahrheit und Auschwitzlüge, 1995, S. 237 (247). 221 Daß durch ausufernde Auslegung dieses Merkmals die Änderung auch „künftig unterlaufen" werde, befürchtet Frommel, KJ 1994, 323 (337). 222 Beisel, a. a. O., S. 999 f. 223 Weusthoff, Endlich geregelt?, in: Bailer-Galanda/Benz/Neugebauer (Hrsg.), Wahrheit und Auschwitzlüge, 1995, S. 237 (246). 224 Dahs, NJW 1995, 553 (554). 225 Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1175, 1177): „Vermeintlich eindeutige Pönalisierung"; König/Seitz, NStZ 1995, 1 (3): „Etwas zu viel des Guten getan".

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demgegenüber der rechtspolitisch begründete Tadel, ein Verbot des AuschwitzLeugnens diene nur der „Tabuisierung" und tauche die historische Wahrheit von Auschwitz in das fragwürdige Zwielicht eines „ideologisch motivierten Mythos". 227 Auch müsse man sich fragen, welche Funktion das neue Gesetz angesichts einer schon zuvor zu keinem Zeitpunkt existierenden Strafbarkeitslücke eigentlich habe. 228 Ohne Not habe man jetzt eine Situation geschaffen, in der im Zusammenspiel mit den Beleidigungsvorschriften „rechtlich unübersichtliche Konkurrenzverhältnisse" entstehen könnten. 229 Das Gesetz sei „sicher... ein Signal". 230 Damit gehöre es aber in die Kategorie „symbolisch-rituelle Gesetzgebung".231 Als dogmatische Detailkritik bei grundsätzlicher Zustimmung zum gesetzgeberischen Gesamtkonzept ist hingegen die Bemerkung einzuordnen, die unterschiedslose Strafbarerklärung von „Billigen" und „Leugnen" in Absatz 3 sei unausgewogen, weil das Leugnen des Holocaust gegenüber seinem zweifellos strafwürdigen Billigen eine weitaus geringere „Provokation" darstelle. 232 Weiterhin schlage negativ zu Buche, daß die Tatbestandsmerkmale „Verharmlosen" und „Leugnen" außerordentlich weit seien, weil nach dem Wortlaut schon das In-Abrede-Stellen einer einzigen historischen Völkermordhandlung oder die Nennung einer falschen Größenordnung zur Tatbestandserfüllung genüge.233 Ein Kardinalfehler des neuen § 130 Abs. 3 StGB bestehe darin, daß der Gesetzgeber die Schwierigkeit - wenn nicht Unmöglichkeit - übersehen habe, dem Täter einen Leugnungsvorsatz nachzuweisen. 234 Auch könne man bezweifeln, „ob eine Lüge überhaupt strafwürdiges Unrecht ist". 2 3 5 Auf das VerbrBekG als ganzes gemünzt schreibt Dahs, man könne die „politischen Einflüsse" schon aufgrund der kurzen Dauer der Vorarbeiten erahnen, und es sei zu bedauern, daß sich der Gesetzgeber keine Zeit für „die Erarbeitung rechtstatsächlicher Grundlagen" genommen habe, 236 - eine Kritik, die auch 226 Beisel, NJW 1995, 997 (1000). Verfassungsrechtliche Bedenken formuliert auch Huster, NJW 1996,487 ff.; dazu ausführlich unten Vierter Teil, B. u. C., S. 276 ff. 227 Dietz, KJ 1995,210(221). 228 König/Seitz, NStZ 1995, 1 (3); H. Meier, Merkur 1994, 1128 (1130). 229 Krüger, Kriminalistik 1995,41 f. 230 König/Seitz, NStZ 1995, 1 (3). In diesem Sinne auch Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 130, Rn. 8a; ähnlich Weusthoff, Endlich geregelt?, in: Bailer-Galanda /Benz/Neugebauer (Hrsg.), Wahrheit und Auschwitzlüge, 1995, S. 237 (246 f.), die ohne Ergebnis darüber nachdenkt, ob das Strafrecht so etwas dürfe. 231 H. Meier, Merkur 1994, 1128. So schon im Vorgriff auf die neue Bestimmung Bertram, NJW 1994, 2002 (2004). 232 Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1175). 233 König/Seitz, NStZ 1995, 1 (3); diese Konsequenz sieht auch Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1176) m. w. N. 234 Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1179); Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Rn. 20. 235 Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 130, Rn. 8a. 236 NJW 1995, 553; zustimmend König/Seitz, NStZ 1995, 1 („Dem Zeitdruck Opfer gebracht").

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2. Teil: Bisherige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

auf den Regelungsbereich „Auschwitz-Leugnen" durchschlägt! Angesichts der gerügten Detailmängel des neuen Volksverhetzungsparagraphen entfährt Lenckner der resümierende Stoßseufzer: „So wie Auschwitz immer ein Trauma der Deutschen bleiben wird, so ist ein solches offenbar auch die »Auschwitzlüge4 für das deutsche Strafrecht." 237

C. Strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens im Ausland Zugegeben, die in anderen Staaten bestehende Rechtslage in Sachen „Auschwitz-Leugnen" hat grundsätzlich keine Bedeutung für das deutsche Strafrecht. 238 Insofern könnte man sich auf den Standpunkt stellen, ausländische Rechtszustände interessierten aus juristischer Sicht nicht, 2 3 9 und daher diene ein Blick über die Grenze allenfalls der Stillung individuellen Bildungshungers. Wenn gesetzgebende Körperschaften und Bundesjustizministerium einen orientierenden Rechtsvergleich noch nicht einmal im Zusammenhang mit der Neufassung des § 130 StGB für nötig gehalten hätten, 240 so ließe sich diese Argumentationslinie fortführen, sei ein solcher Vergleich auch im Rahmen dieser Untersuchung überflüssig. Die Wahrheit liegt, wie so oft, zwischen den Extremen. Einerseits wäre ein breit angelegter, auch die ausländische Literatur und Rechtsprechung umfassend einbeziehender Rechtsvergleich wegen der fehlenden Weichenstellungsfunktion in der Tat übertrieben. Andererseits erscheint es schon wegen der Internationalität des Phänomens ,Auschwitz-Leugnen" 241 angezeigt, den juristischen Horizont durch einen Blick über den nationalen Tellerrand zu erweitern.

I . Die Rechtslage in ausgewählten Staaten Im folgenden soll der Mittelweg eines knappen Überblicks über die Rechtslage in ausgewählten Staaten Europas und Nordamerikas beschritten werden, wobei die 237 in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, Rn. 20. 238 Ausnahmen: Bei Auslandstaten, für die nach § 7 II Nrn. 1 u. 2 StGB deutsches Strafrecht gilt, kommt es regelmäßig darauf an, daß die nach deutschem Strafrecht erfaßte Äußerung, Schriften Verbreitung etc. auch am ausländischen Tatort mit Strafe bedroht ist; vgl. Eser, in: Schönke /Schröder, 25. Aufl. 1997, § 7 Rn. 17, 23; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 7 Rn. 2. Auch kann die Frage für das Auslieferungsrecht relevant werden; vgl. § 2 IRG (Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen v. 23. 12. 1982, BGBl. I, S. 2071). 239 Bertram, NJW 1994, 2002 (2004) meint, der Einwand, im Ausland existierten keine Strafbestimmungen, greife wegen der historischen Erblast „letztlich nicht durch". 240 in den Gesetzgebungsmaterialien fehlt jeder Hinweis, und das BMJ antwortete in einem Schreiben v. 5. 1. 1998 an den Verf.: „ . . . in dem für § 130 zuständigen Referat liegen die ... Materialien nicht vor." 241 Dazu ausführlich oben Erster Teil, Α. IV., S. 66 ff.

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praxisleitenden Gesichtspunkte im Zentrum der Betrachtung stehen. Für die Auswahl der Länder war maßgebend, daß dort in jüngster Vergangenheit vergleichbare Aktivitäten in Sachen Auschwitz-Leugnen zu beobachten waren wie wir sie aus Deutschland kennen. 1. Belgien In Belgien gibt es seit März 1995 neben der Strafbarkeit rassistischer und fremdenfeindlicher Hetze 242 eine Spezialvorschrift zur Erfassung des Auschwitz-Leugnens, 243 die von der Tatbestandsbeschreibung her dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB bis auf die deutlich niedrigere Strafdrohung gleicht. Die Vorschrift lautet: „Mit Gefängnis von acht Tagen bis zu einem Jahr wird bestraft, wer mit den Mitteln des Art. 444 des Strafgesetzbuchs den Völkermord, der unter dem nationalsozialistischen Regime während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde, in Abrede stellt, verharmlost, zu rechtfertigen sucht oder billigt."

Der Verweis auf Art. 444 des belgischen Code Pénal (CP-B) führt dazu, daß die Strafbarkeit auf Begehungsweisen mit einer gewissen gesellschaftlichen Breitenwirkung beschränkt ist. Was das Auschwitz-Leugnen durch mündliche Äußerung angeht, besteht gegenüber der deutschen Vorschrift insofern eine erweiterte Strafbarkeit, als auch nicht-öffentliche Äußerungen erfaßt werden, wenn sie gegenüber mehreren berechtigt anwesenden Personen fallen. Der wichtigste praktische Anwendungsfall ist Auschwitz-Leugnen vor einer Schulklasse. Außerdem greift die Strafdrohung ein, wenn neben einer „beleidigten Person" - das werden insbesondere Überlebende des nationalsozialistischen Völkermordes sein - auch Zeugen anwesend sind. Zudem ist, dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB nicht unähnlich, die Verbreitung von Schriften etc. mit dem inkriminierten Inhalt strafbar, wobei im Ergebnis lediglich die nicht-öffentliche Weitergabe an eine einzelne Person zum Verbleib oder mit der Verpflichtung zur Rückgabe von der Strafbarkeit ausgenommen ist. Art. 444 CP-B lautet: „Der Beschuldigte wird ... bestraft, wenn die Tatbegehung unter einem der folgenden Umstände erfolgte: In Versammlungen oder an öffentlichen Orten. In Anwesenheit mehrerer Personen an einem nicht öffentlichen Ort, wahrnehmbar für eine Anzahl von Personen, die das Recht haben, sich dort zu versammeln oder sich dort aufzuhalten. An jedem Ort in Gegenwart der beleidigten Person und vor Zeugen.

242

Loi du 30. 7. 1981, tendant à réprimer certains actes inspirés par le racisme et le xéno-

phobie. 243 Loi du 23. 3. 1995, tendant à réprimer la négation, la minimisation, la justification ou l'approbation du génocide commi par le regime national-socialiste allemand pendant la seconde guerre mondiale.

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Durch Druckschriften oder sonstige Schriften, Bilder oder Plakate, verbreitet oder verkauft, zum Kauf angeboten oder so angebracht, daß sie öffentlich wahrgenommen werden können. Durch Schriften, die nicht öffentlich verkauft werden, die aber mehreren Personen angeboten werden oder sich an eine Mehrzahl von Personen richten."

Die Einbeziehung der Konstellation einer vor Zeugen vorgenommenen Äußerung gegenüber einer Person, die vorfi Äußerungsinhalt in ihrer Ehre oder jedenfalls in ihren Gefühlen verletzt wird, deutet darauf hin, daß die belgische Vorschrift vor allem dem Schutz der Persönlichkeitsrechte von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen dient. 2. Dänemark In Dänemark ist das Auschwitz-Leugnen grundsätzlich nicht strafbar. Auch anstößige und widerliche Äußerungen genießen den uneingeschränkten Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit. 244 Im Zusammenhang mit dem Beitritt Dänemarks zum Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 245 wurde 1971 ein § 266b in das dänische StGB eingefügt, 246 welcher denjenigen mit einer Geldbuße, Haft- oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bedroht, der... „ . . . öffentlich oder vorsätzlich zur Verbreitung in weiteren Kreisen eine Äußerung tut oder eine andere Mitteilung macht, durch die eine Personengruppe bedroht, verhöhnt oder herabgesetzt wird aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, nationalen oder ethnischen Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer sexuellen Orientierung." 247

Um die Verbreitung von rassistischen Propagandaschriften effektiver unterbinden zu können, wurde § 266b StGB-DK im Jahre 1995 um einen zweiten Absatz erweitert: „Wenn es sich um einen Vorgang handelt, der als Propagandatätigkeit zu charaktarisieren ist, ist dies bei der Strafzumessung als erschwerender Umstand zu berücksichtigen." 248

Nach dieser Vorschrift kann rassistische Hetze in Dänemark bestraft werden, doch wird damit nach allgemeiner Ansicht das Leugnen des Holocaust nicht erfaßt. Das gilt jedenfalls dann, wenn mit der eigenwilligen Geschichtsdarstellung keine „antisemitischen Ausfälle" verbunden sind. Deswegen kam es in den letzten Jahren des öfteren vor, daß sich rechtsextremistische Schriftenversender unbehelligt in Dänemark niederließen und von dort aus andere europäische Länder - auch 244 245 246 247 248

Näher Molter, in: Leggerne /Meier, Republikschutz, 1995, S. 298 ff. Textabdruck u. a. in BGBl. 1969 II, 962. Zur Vorläufervorschrift vgl. Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, 1962, S. 175 f. Derzeit geltende Fassung, Amtsbl. Nr. 886 v. 30. 10. 1992, S. 4101 f. Amtsbl. Nr. 309 v. 17. 5. 1995, S. 1486.

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Deutschland - mit einschlägigen Hetzschriften versorgten. Am bekanntesten ist der Fall des mit internationalem Haftbefehl gesuchten US-Amerikaners und Kopfes der N S D A P / A O 2 4 9 Gary Rex Lauck, der im März 1995 in Kopenhagen festgenommen wurde, und um dessen Auslieferung an Deutschland es ein zähes diplomatisches Tauziehen gab. 2 5 0 Der notorische Nazi-Propagandist Lauck wurde schließlich doch ausgeliefert, weil sich die dänische Justiz davon überzeugen ließ, daß seine öffentliche Äußerung, die Juden seien im Nationalsozialismus „eher zu human behandelt worden als das Gegenteil", 251 als antisemitische Hetze unter § 266b StGB-DK fällt. 2 5 2

3. Frankreich In Frankreich sind die hier interessierenden Äußerungen schwerpunktmäßig als Presseinhaltsdelikte strafbar. 253 Als wichtige Ergänzung von Art. 24 des französischen Gesetzes über die Pressefreiheit (PresseG-F) 254 wurde bereits 1972 durch das Loi Pleven 255 - benannt nach dem Abgeordneten, der den Gesetzesvorschlag eingebracht hatte - eine Passage eingefügt (Art. 24 al. 6 PresseG-F), die diskriminierende, zum Haß oder zur Gewaltausübung anreizende Inhalte bei Strafe verbietet, soweit sich diese Inhalte auf eine nach ethnischen, nationalen, rassischen oder religiösen Merkmalen gekennzeichnete Person oder eine Gruppe von Personen bezichen. 256 Damit sei klargestellt worden, daß es sich bei Rassismus „nicht um eine 249

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei/Auslands- und Aufbauorganisation. Lauck war bereits 1976 vom LG Koblenz wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu sechs Monaten Freiheitsstrafe und 1.000 DM Geldstrafe verurteilt, dann aber in die USA abgeschoben worden. Im August 1996 verurteilte das LG Hamburg Lauck zu vier Jahren Freiheitsstrafe wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rasscnhaß durch 20jähriges Versenden nationalsozialistischen Propagandamaterials nach Deutschland. Zu den Deutschlandkontakten Laucks vgl. den autobiographischen Bericht des Szcne-Aussteigers Hasselbach, Die Abrechnung, 2. Aufl. 1993, S. 77 f., 116. 250

251

Plog, Er schwieg, grinste und gähnte, in: Tagesspiegel v. 22. 8. 1996, S. 3.

252

Oberster Gerichtshof Kopenhagen, Beschl. v. 24. 8. 1995; nach Auskunft der Königlich Dänischen Botschaft handelte es sich um den ersten und bisher einzigen Anwendungsfall des § 266b StGB-DK. 2S1 Einen Überblick sowohl über die rechtsextremistischen Aktivitäten als auch die juristischen Gegenmaßnahmen gibt Turpin, L'activité de la Commission national consultative des Droits de l'Homme (2è chronique), Les Petites Affiches, 2. 3. 1994, p. 6ff.; ders, La lutte contre le racisme, l'antisémite, la xénophobie et le révisionnisme; 3 è m c chronique de l'activité de la Commission national consultative des Droits de l'Homme, Les Petites Affiches, 30. 9. 1994, p. 8 ff. 2454 Loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse (Bull, des Lois, 12e S., B. 637, n. 10850). 255 Loi n° 72-546 du 1 e r juillet 1972. 256 Provocation à la discrimination, à la haine e à la violence raciale ; es handelt sich um die innerstaatliche Umsetzung der Pönalisierungspflichten aus Art. 4 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, welches Frank10 Wandrcs

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Meinung, sondern um eine Straftat" handle. 257 Unter den Tatbestand soll beispielsweise die Aussage in einer Radiosendung fallen, die Gaskammern zur Massentötung von Menschen in deutschen Konzentrationslagern seien „ein Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges". Begründung: Mit der damit verbundenen Bagatellisierung des Schicksals der jüdischen Opfer werde an rassistisches Gedankengut angeknüpft. 258 Die Strafdrohung des Art. 24 al. 6 PresseG-F beträgt Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und/oder Geldstrafe bis zu 300.000 Francs. Eine gesetzgeberische Präzisierung in Bezug auf das Auschwitz-Leugnen erfolgte im Jahre 1990 durch das französische Loi Gayssot. 259 Durch Art. 9 dieses Artikelgesetzes wurde unter anderem ein neugeschaffener Art. 24 b l s direkt hinter Art. 24 in das PresseG-F eingefügt. Unter Strafe gestellt wird in dieser Vorschrift das vorsätzliche In-Abrede-Stellen der Existenz bestimmter Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach Art. 24 b l s PresseG-F wird bestraft, wer unter den Modalitäten des Art. 23 PresseG-F, also beispielsweise in öffentlich angeschlagenen oder verbreiteten Druckerzeugnissen oder unter Verwendung audio-visueller Medien, „ . . . die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestreitet, wie es in Art. 6 des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof ... definiert ist und entweder von einem Mitglied einer nach Art. 9 dieses Statuts für verbrecherisch erklärten Organisation oder von einer Einzelperson begangen wurde, die durch eine französische oder internationale Gerichtsentscheidung eines solchen Verbrechens für schuldig befunden worden ist."

Die Vorschrift verweist auf die Strafdrohung des Art. 24 al. 6 PresseG-F. Art. 24 b l s PresseG-F bezieht sich nur auf einen Ausschnitt aus dem im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen relevanten zeithistorischen Geschehen. Rückgekoppelt wird die Strafbarkeit eines tatbestandsrelevanten „Bestreitens" von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nämlich an die Feststellungen des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg aus dem Jahre 1946 bzw. französischer Gerichte. Bei der konkret bestrittenen Tat muß es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit 260 handeln, das von einem Täter begangen worden ist, der ent-

reich im Oktober 1971 ratifiziert hat (Textabdruck u. a. BGBl. 1969 II, S. 961 ff.). Zu den Einzelheiten Korman, Le délit de diffusion d'idées racistes, JCP 89,1, 3404. 257 Turpin, Les Petites Affiches, 30. 9. 1994, p. 8 (9). 258 Versailles, 18 mars 1991, Gazette du Palais 2 - 3 août 1991. Bestätigt durch La Cour de Cassation, Deuxième Chambre Civile, 18 décembre 1995, ârret n° 1653 [Jean-Marie Le Pen]. In einer gemeinsam mit dem ehemaligen Republikaner-Vorsitzenden Schönhuber gegebenen Pressekonferenz im Dezember 1997 in München wiederholte Le Pen diese Äußerung (Tagesspiegel v. 6. 12. 1997, S. 2 u. 8. 1. 1998, S. 5). 259 Loi n° 90-615 du 13 juillet 1990, tendant à réprimer tout acte raciste, antisémite ou xénophobe, Journal Officiel de la Republique Française, 14 juillet 1990, p. 8333. Zu dessen Vereinbarkeit mit Art. 19 III IPbpR vgl. UN-AMR, E v. 8. 11. 19% {Faurisson ./. Frankreich), EuGRZ 1998, 271 m. Anm. Weiß (S. 274 ff.). Ausführlich Klein, Fall Faurisson zur Holocaust-Lüge, in: Baum/Riedel/Schaefer (Hrsg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, 1998, S. 121 (126) („erhebliches Unbehagen").

C. Strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens im Ausland

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weder Angehöriger der im ganzen als verbrecherisch erklärten NS-Organisationen war oder wegen seiner Tat individuell von einem französischen Gericht 261 oder von einem internationalen Gericht 262 verurteilt worden ist. Zu verbrecherischen Organisationen nach Ait. 9 IMG-Statut wurden vom Internationalen Militärgerichtshof erklärt: Das Korps der politischen Leiter, die Gestapo, der SD (mit gewissen Ausnahmen) sowie die SS. 263 Von der kollektiven Verurteilung wurden lediglich diejenigen Mitglieder ausgenommen, die keine Kenntnis von der verbrecherischen Tätigkeit ihrer Organisation gehabt hatten, nach Kenntniserlangung unverzüglich ausgeschieden waren oder lediglich in untergeordneter Stellung gedient hatten. 264 Diese Feinheiten berühren aber nicht das Grundkonzept des französischen Gesetzes gegen das Bestreiten von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Juden. Der wichtigste Unterschied zum deutschen § 130 Abs. 3 StGB besteht darin, daß man sich bei Bestimmung der maßgeblichen Faktenbasis, welche jemand „bestreitet" oder „in Abrede stellt" (qui auront contesté ), nicht an den aktuellen Erkenntnissen der Fachhistoriker orientiert, sondern an der „prozessualen Wahrheit". 265 Entscheidend ist also, was internationale Gerichte - im hier interessierenden Zusammenhang der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg - und französische Gerichte über den Holocaust in ihren Urteilen festgestellt haben. Für die

260 Art. 6 c) IMG-Statut v. 8. 8. 1945, 82 United Treaty Series 279. Zum ganzen Werle, ZStW 109 (1997), 808 (810): „Der Grundgedanke dieses Tatbestandes lautet: Bestimmte schwere Angriffe gegen Individuen treten in eine internationale Dimension, wenn sie systematisch ,gegen eine bestimmte Zivilbevölkerung 4 gerichtet sind. Das wichtigste Beispiel ist der Völkermord." 261 Die Gesamtzahl der vor französischen Militärgerichten in der Besatzungszeit angeklagten Personen ist nicht bekannt, ebensowenig der Anteil von Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Verurteilt wurden insgesamt 2.107 Angeklagte, davon 104 zum Tode. Vor Militärgerichten in Frankreich und Französisch-Nordafrika ergingen Urteile gegen mindestens 1.918 Deutsche. Hinzu kommen die anhand französischer Listen nachvollziehbaren 956 Verurteilungen in absentia; vgl. Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 1984, S. 98 ff. 262 Der Streit, ob es sich beim IMG um ein internationales Strafgericht gehandelt habe, spielt für das französische Recht, das von dieser Annahme ausgeht, keine Rolle. Vom IMG wurden (unter anderem) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt: Martin Bormann, Hans Frank, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim v. Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Franz Sauckel, Arthur Seyß-Inquart, Julius Streicher (ausschl. wg. Menschlichkeitsverbr.). Zu lebenslanger Freiheitsstrafe wurde Walther Funk verurteilt, zu zeitiger Freiheitsstrafe Konstantin v. Neurath, Baidur v. Schirach (ausschl. wg. Menschlichkeitsverbr.) und Albert Speer. 263 Art. 9 IMG-Statut; Urteil des IMG v. 1. 10. 1946, IMG-Dokumente, Bd. 1, S. 286 ff. 264 Urteil des IMG v. 1. 10. 1946, a. a. O., S. 293f., 300f., 307. 265 Zum Unterschied grundlegend Haffke, Über die (Un-)Möglichkeit, Geschichte in Strafprozessen aufzuarbeiten, in: de Boor/ Frisch/Rode (Hrsg.), Vergessen - Verdrängen - Verleugnen, 1996, S. 41 (46, 49 f., 55) m. w. N. Allgemeiner Krauß, FS f. Schaffstein, 1975, S. 411 (428 f.). Zu Wert und Gewicht historischer Feststellungen im Strafprozeß ausführlich oben Erster Teil, Α. II., S. 51 ff. 10*

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subjektive Tatseite reicht es nach Art. 24 b l s PresseG-F aus, daß der Täter von der Abweichung seiner Version von Geschichte gegenüber dem in den maßgeblichen Strafprozessen Festgestellten weiß und trotzdem an seiner eigenwilligen Darstellung festhält. Beispielsweise soll der Tatbestand erfüllt sein, wenn in einer Artikelserie der Holocaust als „Mythos von der Judenvernichtung" bezeichnet wird, weil damit die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnende und gerichtlich festgestellte Deportation und Tötung von Millionen jüdischer Menschen im Dritten Reich bestritten werde. 266 4. Großbritannien In Großbritannien steht Auschwitz-Leugnen bisher nicht unter Strafe. Zwar sind rassistische Ausfälle grundsätzlich Verbrechen nach dem Public Order Act von 1986, doch besteht für die Erfassung des bloßen Infragestcllens der historischen Wahrheit des Holocaust nach allgemeiner Ansicht eine Gesetzeslücke.267 Auf die bessere Erfassung rechtsextremistischer Propaganda zielte daher ein Gesetzentwurf, 2 6 8 der dem Parlament bereits Anfang 1997 vorgelegt, wegen Auslaufens der Wahlperiode aber nicht mehr abschließend beraten wurde. In diesem Entwurf war die Strafbarkeit von Redebeiträgen und Publikationen vorgesehen, in denen der Genozid am jüdischen Volk oder vergleichbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch das nationalsozialistische Deutschland (the Holocaust) geleugnet werden. Der Entwurf sah eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vor. Das Gesetzesvorhaben wird im wesentlichen von der nun amtierenden LabourRegierung unter Premier Blair unterstützt. Doch gibt es in Großbritannien auch erheblichen Widerstand. Die zentralen Argumente gegen ein solchcs Gesetz lauten: Es sei unmöglich zu bestimmen, was unter den Begriff „Holocaust-Leugnung44 falle, 269 die Redefreiheit (freedom of speech) werde ohne ausreichende Rechtfertigung eingeschränkt, und schließlich machc man, was politisch unklug sei, NeoNazis zu Märtyrern. 270 Ob das umstrittene Gesetz verabschiedet und die britische Rechtslage an „den Stand in den anderen europäischen Staaten44271 angepaßt wird, ist derzeit noch ungewiß.

266 La Cour de Cassation, Deuxième Chambre Civile, 25 novembre 1992, arret n° 1061 [Charles Guillaume]. 267 House of Commons Hansard (Parliamentary Debates) v. 29. 1. 1997, S. 370 (371 ). Der Malicious Communications Act von 1988 (Section 1) schließt die Lücke nicht. a* 269 270 271

Holocaust Denial Act 1997, (Private Member's-)Bill 89 v. 29. 1. 1997. The Independent v. 30. 1. 1997; The Times v. 30. 1. 1997. The Sunday Times v. 2. 2. 1997. The Times v. 9. 8. 1997.

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5. Kanada Auf die kanadische Rechtslage wurde bereits im Zusammenhang mit dem spektakulären „Zündel-Prozeß" eingegangen.272 Die nach kanadischem Prozeßrecht erforderliche umfassende Beweisaufnahme und die Besonderheiten des JurySystems sind der Grund dafür, daß in diesem Strafverfahren der Gerichtssaal unversehens zu einem Propagandaforum für prominente Auschwitz-Leugner und ihre zum Teil aus dem Ausland eingeflogenen „Sachverständigen" wurde. 273 Das Auschwitz-Leugnen selbst war zum Zeitpunkt des Prozesses in Kanada nur indirekt strafbar, insofern nämlich, als sich das Bestreiten des nationalsozialistischen Völkermordes als wissentliche „Falschmeldung" erweisen ließ. Der die Grundlage von Zündeis Verurteilung bildende Section 181 des kanadischen Criminal Code lautet: 274 Jeder, der vorsätzlich eine Äußerung, Darstellung oder Meldung veröffentlicht, von der er weiß, daß sie falsch ist, und die einem öffentlichen Interesse bezüglich rassischer und sozialer Toleranz schadet oder wahrscheinlich schadet, ist eines strafbaren Vergehens schuldig und kann mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft werden.44

Der Sache nach handelt es sich also um eine nicht notwendig personenbezogene Verleumdung, welche aufgrund ihres Inhalts oder ihrer Zielrichtung die rassische oder soziale Toleranz und damit das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gefährdet. Insofern war der kanadische s. 181 dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB mit seinem Erfordernis der „Eignung zur Friedensstörung44 nicht unähnlich, wobei eindeutig nur die vom Tätervorsatz umfaßte Falschdarstellung unter die Vorschrift fiel. Im weiteren Fortgang des Zündel-Verfahrens erklärte freilich der kanadische Supreme Court am 27. August 1992 die Strafbestimmung in einer 4-zu-3-Entscheidung für unvereinbar mit der Canadian Charter of Rights and Freedoms. In s. 2 (b) der Charter ist die Rede- und Pressefreiheit garantiert, wobei der vorangehende s. 1 der Charter für alle nachfolgenden Grundfreiheiten bestimmt, daß diese durch Gesetz eingeschränkt werden dürfen, wenn die Einschränkung durch unabweisbare Erfordernisse in einer „freien und demokratischen Gesellschaft" begründet ist. Ein solches Erfordernis meinten die Richter des Supreme Court zur Rechtfertigung der Strafbestimmung s. 181 nicht ausmachen zu können, so daß die Verurteilung Zündeis wegen der Verbreitung der Harwood-Schrift aufgehoben wurde.

272 Siehe oben Erster Teil, B. I., S. 76 ff. 273 Vgl. die vor Genugtuung strotzende Darstellung bei Lenski, Der Holocaust vor Gericht, Der Prozeß gegen Ernst Zündel, deutsche Ausgabe Toronto 1993, S. 183 ff., 321 ff., 351 ff., 353 ff. 274 „False news44-provision (früher s. 177) Criminal Code, R.S.C., 1985, c. C-46.

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strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens 6. Luxemburg

I m Großherzogtum Luxemburg gibt es seit Juli 1997 eine gesetzliche Grundlage, die speziell auf die strafrechtliche Ahndung des Auschwitz-Leugnens zugeschnitten i s t . 2 7 5 Das Artikelgesetz fügte unter anderem in Kapitel V I des Zweiten Buches des luxemburgischen Code Pénal (CP-L) einen neugefaßten Art. 4 5 7 - 3 ein, der denjenigen mit Strafe bedroht, d e r . . . „ . . . die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen bestreitet, verharmlost, rechtfertigt oder negiert, wie es in Art. 6 des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof ... definiert ist und entweder von einem Mitglied einer nach Art. 9 dieses Statuts für verbrecherisch erklärten Organisation 276 oder von einer Einzelperson begangen wurde, die durch eine luxemburgische, eine ausländische oder internationale Gerichtsentscheidung eines solchen Verbrechens für schuldig befunden worden ist." I m letzten Absatz des Art. 457 - 3 CP-L wird die Strafbarkeit auch noch auf weitere, in der Vergangenheit begangene oder in der Zukunft geschehende Völkermordhandlungen erstreckt, deren Faktizität einen gewissen Grad staatlich-administrativer Anerkennung erfahren hat: s wird [ebenfalls] bestraft..., wer durch eine der in dieser Vorschrift genannten Begehungsweisen die Existenz eines oder mehrerer Völkermorde, wie sie im Gesetz vom 8. August 1985, welches die Strafbarkeit des Völkermordes bestimmt und durch die Rechtsprechung oder einen luxemburgischen Hoheitsträger oder internationalen Hoheitsträger anerkannt ist,... bestreitet, verharmlost, rechtfertigt oder negiert." Die Strafandrohung beträgt Freiheitsstrafe von acht Tagen bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe von 10.000 bis 1 M i o . Francs. Die Begehungsweisen beschränken sich auf solche mit einer gewissen gesellschaftlichen Breitenwirkung. Wird eine tatbestandsmäßige Äußerung getan bzw. der Inhalt einer Schrift etc. verbreitet, so ist strafbar, wer diese Handlungen v o r n i m m t . . . „ . . . an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Versammlungen durch Schriftstücke, Druckwerke, zeichnerische Darstellungen, Gravuren, Gemälde, Abzeichen, Bilder oder jede andere Form der Verkörperung, durch verbale Kundgabe oder durch den Verkauf, die Verbreitung, den Vertrieb oder die Ausstellung von Abbildungen an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Versammlungen, die durch Aufhängen oder Aufkleben der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, oder durch jede Art der audio-visuellen Kommunikation." Die luxemburgische Vorschrift orientiert sich erkennbar an der jüngeren Gesetzgebung anderer europäischer Staaten. Beispielsweise ist der französische Einfluß unübersehbar, was den speziell gegen das Auschwitz-Leugnen gerichteten Teil des 275

Loi du 19 juillet 1997 complétant le code pénal en modifiant Γ incrimination du racisme et en portant incrimination du révisionnisme et d'autres agissements fondés sur des discriminations illégales, Memorial A N° 54 v. 7. 8. 1997, S. 1680 ff. 276 Vgl. die Nachweise zur französischen Rechtslage, oben Zweiter Teil, C. I. 3., S. 147.

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Tatbestands angeht. Auch in Luxemburg macht man sich zum Zwecke der Bestimmung der für eine Strafbarkeit relevanten historischen Grundlagen lieber von den justiziellen Feststellungen eigener, fremder oder internationaler Gerichte abhängig als vom Stand der Zeitgeschichtsforschung. Zusätzlich werden neben Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch Kriegsverbrechen einbezogen. Die genereller formulierte Ergänzung der Vorschrift, welche auch andere Volkermordtaten einbezieht, wirkt dem Eindruck entgegen, es gehe lediglich um eine auf die deutschen Massenverbrechen während des Zweiten Weltkriegs beschränkte Ahndung von Geschichtsverfälschungen, auch wenn dieser Anwendungsfall gegenwärtig bei weitem im Vordergrund stehen dürfte. Im Vergleich zur deutschen Rechtslage fällt vor allem der deutlich niedrigere Strafrahmen auf.

7. Niederlande In den Niederlanden wird seit längerem diskutiert, ob man dem Treiben der Auschwitz-Leugner nicht einen umfassenden strafrechtlichen Riegel vorschieben solle. Die Position, die das befürwortet, hat sich bisher aber nicht durchsetzen können. Daher gibt es in den Niederlanden keine Sondervorschrift gegen das Auschwitz-Leugnen. Zwar müsse man, so die niederländische Justizministerin Sorgdrager, gegen das „beunruhigende Wiederaufleben des faschistischen Gedankengutes" in Europa energisch vorgehen, doch hätte in diesem Zusammenhang ein strafrechtliches Verbot „eher symbolischen Wert". 2 7 7 Anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn über die eigenartige Geschichtsdarstellung hinaus solche Schlußfolgerungen gezogen werden, die sich unter die Strafbestimmung „Diskriminierung" (Art. 429 quater StGB-NL) subsumieren lassen. Art. 429 quater StGB-NL lautet: „Wer in Ausübung seines Amtes, Berufs oder Gewerbes andere Personen wegen ihrer Rasse, Religion, Weltanschauung, ihres Geschlechts oder ihrer hetero- oder homosexuellen Orientierung diskriminiert, wird mit Gefängnis bis zu zwei Monaten oder Geldbuße der dritten Kategorie bestraft."

Zusätzliche Voraussetzung ist also, daß die diskriminierende Äußerung im Rahmen beruflicher Tätigkeit fällt, so daß der private Lebensbereich ausgespart bleibt. Aus der Praxis der niederländischen Gerichte hat der Fall des Belgiers Verbeke Aufmerksamkeit erregt. Anfang der neunziger Jahre hatte Verbeke in den Niederlanden Hetzschriften der Vrij Historisch Onderzoek (VHO) vertrieben, in denen unter anderem der Holocaust geleugnet wurde. 278 Verbeke wurde im März 1995 wegen Verstoßes gegen Art. 429 quater StGB-NL zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten auf Bewährung sowie zu einer Geldbuße von 5.000 Gulden verurteilt. Das Urteil wurde im Mai 1996 vom Gerichtshof in Den Haag bestätigt. 277 Die Welt v. 9. 12. 1997, S. 7. 278 Vgl. van Donselaar, Monitor Racisme en Extreem-rechts. Eerste rapportage, 1997, S. 19 f. m. w. N.

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8. Österreich In Österreich wird jede „nationalsozialistische Wiederbetätigung" repressiv unterdrückt. 279 Ein im Verfassungsrang stehendes NS-Verbotsgesetz 280 bietet hierfür seit Jahrzehnten eine tragfähige Rechtsgrundlage. In der Vergangenheit haben die österreichischen Gerichte die Behauptung einer „Auschwitz-Lüge" zwar überwiegend als entsprechende Wiederbetätigung eingeordnet, 281 doch ist es auch vereinzelt zu Freisprüchen durch Geschworenengerichte gekommen.282 Die Verbotsgesetznovelle von 1992 283 brachte eine gesetzliche Klarstellung der Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens.284 Die maßgebliche Erweiterung in § 3h VerbotsG-Ö (in Verbindung mit § 3g VerbotsG-Ö) lautet: „§ 3g: Wer sich auf eine andere als die in den §§ 3a bis 3 f. bezeichnete Weise im nationalsozialistischen Sinn betätigt, wird, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger strafbar ist, mit Freiheitsstrafe von einem bis zu 10 Jahren, bei besonderer Gefährlichkeit des Täters oder der Betätigung bis zu 20 Jahren bestraft. § 3h: Nach § 3g wird auch bestraft, wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, daß es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht."

Wie man sofort sieht, ist der österreichische Straftatbestand - abgesehen von der deutlich höheren Strafdrohung - dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB ähnlich. 285 Die grundlegende Abweichung besteht freilich darin, daß die Vorschrift in den größeren Zusammenhang des Verbotsgesetzes eingebettet ist. Daher müssen sich entsprechende Aktivitäten der Auschwitz-Leugner als „nationalsozialistische Wiederbetätigung" darstellen. Anstelle des im deutschen Volksverhetzungstatbestand verwendeten abstrakten Merkmals „Eignung zur Friedensstörung" tritt die konkretere Festlegung, daß es auf den Verbreitungsgrad der inkriminierten Äußerung ankomme. Sprachlich wird das durch das Tatbestandsmerkmal „Zugänglichwerden für viele Menschen" zum Ausdruck gebracht. Für die im deutschen § 130 Abs. 3 StGB ebenfalls vorhandene Begehungsalternative „Verharmlosen" ist in Österreich klargestellt, daß es sich um ein „gröbliches" Verharmlosen handeln muß. Neben dem Holocaust („nationalsozialistischer Volkermord") sind auch andere Verbre279

Allgemein zur Vergangenheitspolitik Österreichs oben Erster Teil, A. III. 1., S. 55. Nationalsozialistengesetz 1947, Bundesverfassungsgesetz v. 6. 2. 1947, BGB1.-Ö Nr. 25/1947; basierend auf Verbotsgesetz v. 8. 5. 1945, StGBl. Nr. 127/ 1945. 281 Baile r-Galanda, Die österreichische Rechtslage und der „Revisionismus", in: dies./ Benz/Neugebauer (Hrsg.), Wahrheit und Auschwitzlüge, 1995, S. 218 (218 f.) m. w. N. 282 Baile r-Galanda, a. a. O., S. 218 (221) m. w. N. nennt diese Freisprüche wegen der „klaren Aussage" des Verbotsgesetzes „unverständlich". 280

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3 G ν. 26. 2. 1992, BGB1.-Ö Nr. 148/1992. Zur Anwendungspraxis vgl. Keller, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Symposium v. 26. 11. 1993, Innsbruck o.J., S. 79 f. 28< * So auch v. Bubnoff, LK 11. Aufl., § 130 Rn. 42. 284

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chcn gegen die Menschlichkeit als Leugnungsobjekt einbezogen. Dem deutschen „Billigen" entspricht das österreichische „Gutheißen", welches durch ein „Rechtfertigen" ergänzt wird. Schließlich ist die in Deutschland in einem eigenen Verbreitungstatbestand geregelte Schriften-, Medien- und Rundfunkverbreitung in den einheitlich gefaßten Tatbestand integriert. Daneben ist es in Österreich denkbar, daß man für die strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens auf § 283 StGB-Ö (Verhetzung) 286 zurückgreift. Diese Bestimmung, welche inhaltlich und strukturell mit dem deutschen § 130 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2 StGB vergleichbar ist, lautet auszugsweise: „( 1 ) Wer öffentlich auf eine Weise, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu gefährden, zu einer feindseligen Handlung gegen eine im Inland bestehende Kirche oder Religionsgcsellschaft oder gegen eine durch ihre Zugehörigkeit zu einer solchen Kirche oder Rcligionsgcscllschaft, zu einer Rasse, zu einem Volk, einem Volksstamm oder einem Staat bestimmte Gruppe auffordert oder aufreizt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer öffentlich in einer die Menschenwürde verletzenden Weise gegen eine der im Abs. 1 bezeichneten Gruppen hetzt, sie beschimpft oder verächtlich zu machen sucht."

Wegen der gegenüber § 3h VerbotsG-Ö deutlich geringeren Strafdrohung wird die Anwendung der VerhetzungsVorschrift aber nur da ernsthaft in Betracht kommen, wo es an einer der Voraussetzungen des Sondertatbestandes mangelt, also typischcrweisc beim Nichtvorliegcn einer „Betätigung im nationalsozialistischen Sinn" oder beim Fehlen der erforderlichen Breitenwirkung der Äußerung.

9. Schweden Das Auschwitz-Leugnen als solches wird in Schweden nicht von einer speziellen Strafbestimmung erfaßt. Lediglich eine über das Leugnen hinausgehende „Hetze" ist strafbar, wenn sie an bestimmte Merkmale anknüpft und sich gegen eine bestimmte Personengruppe richtet. Der einschlägige § 8 des 16. Kapitels des schwedischen StGB bedroht denjenigen mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, in minder schweren Fällen mit Geldstrafe, der... in Worten oder auf andere Weise Hetze gegen eine Volksgruppe betreibt oder seine Mißachtung gegenüber einer Volksgruppe oder einer anderen Gruppe von Personen zum Ausdruck bringt, die durch ihre Rasse, Hautfarbe, Nationalität oder Herkunft oder durch ihr religiöses Bekenntnis gekennzeichnet wird."

Antisemitische Ausfälle sind nach schwedischem Recht strafbar, radikal-revisionistische Geschichtserörterungen als solche sind es nicht. Die Einführung einer besonderen Strafbestimmung gegen das Auschwitz-Leugnen ist derzeit nicht geplant. 2H6 BundcsG v. 23. 1. 1974, BGB1.-Ö Nr. 60/ 1974.

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10. Schweiz Bei der Schaffung einer unter anderem auch das Auschwitz-Leugnen erfassenden Strafbestimmung hat sich die Schweiz an den seit 1992 in Österreich gesammelten Erfahrungen mit Prozessen gegen radikale Revisionisten orientiert. Vor Schaffung des neuen Art. 261 bis StGB-CH bestand im schweizer Strafrecht für die „Verbreitung diskriminatorischer Ideen" sowie die „Verharmlosung oder Leugnung von Genozid" eine Strafbarkeitslücke. Die Gesetzesberatungen waren nicht nur von ausgiebigen Debatten, sondern auch von „heftigen Emotionen" gekennzeichnet. 2 8 7 Am Ende ergriffen mehrere Komitees gegen die Vorlage von Bundesrat und Parlament vom 18. Juni 1993 das Referendum, so daß eine Volksabstimmung erforderlich wurde. Der neugeschaffene Tatbestand des Art. 261 bis StGB-CH („Rassendiskriminierung"), welcher in der Abstimmung vom 25. September 1994 angenommen wurde, lautet: 288 „[1] Wer öffentlich eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft, [2, 3 ] . . . , [4] wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstoßenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,

[5]..., wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft."

Die Vorschrift dient dem Ziel, die sich aus Art. 4 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 289 ergebenden Pönalisierungspflichten in innerstaatliches Recht umzusetzen. Was das AuschwitzLeugnen in seiner Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) angeht, so ist das schweizer Gesetz erkennbar zurückhaltend. Dahinter steht die Erwägung, daß man seriöse Forschung nur äußerst schwer von „pseudo-wissenschaftlicher" abgrenzen könne, wolle man nicht unversehens das Fundament der Forschungsfreiheit gefährden. „In einer aufgeklärten Welt kann es für die Forschung grundsätzlich keine Tabus geben und ist für die Zensur kein Platz. Es muß das Privileg der Forschung sein, auch scheinbar gesicherte Erkenntnisse über die Vorkommnisse im Zweiten Weltkrieg wieder in Frage zu stellen." 290 Eine Konstellation gebe es jedoch, so die schweizerische Sichtweise, bei der man ohne Skrupel einen Trennstrich ziehen könne. Dieser Fall liege vor, wenn die angebliche „Forschung" erkennbar 287 p. Müller, ZBJV 1994, 241 (242) m. w. N. 288

Der ebenfalls neu eingefügte Art. 171c Militärstrafgesetzbuch ist bis auf die Hinzufügung „In leichten Fällen erfolgt disziplinarische Bestrafung" textgleich. 289 Vom 7. 3. 1966 (Textabdruck u. a. BGBl. 1969 II, S. 961 ff.). 29 0 p. Müller, ZBJV 1994, 241 (250).

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von Prämissen ausgehe, die mit den Grundpostulaten der Aufklärung - denen die Forschungsfreiheit gerade ihre Existenz verdanke - keinesfalls vereinbar seien. Eine solche unvereinbare Grundannahme sei die Ideologie der Höher- oder Minderwertigkeit einer Gruppe von Menschen.291 Deshalb ist der schweizerische Leugnungs-Tatbestand, der dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB im übrigen sehr ähnlich ist, an die zusätzliche Voraussetzung geknüpft, daß die ihm unterfallenden radikalrevisionistischen Behauptungen dadurch motiviert sind, daß es dem Täter auf diskriminierende Menschenwürdeangriffe ankommt. 292 Im Unterschied zum deutschen Recht ist auch klargestellt, daß unter das Tatbestandsmerkmal „Verharmlosen" nur sehr weitgehende, nämlich „gröbliche" Verharmlosungen fallen.

11. Tschechien Ein spezielles Gesetz gegen das Auschwitz-Leugnen gibt es zwar in der Republik Tschechien nicht, doch können damit in Zusammenhang stehende Äußerungen, die (1) zum Volks- oder Rassenhaß aufhetzen oder (2) sich als Propaganda oder öffentliche Sympathieerklärung für rechtsextremistische Strömungen darstellen, bestraft werden. Für die erste Gruppe von Äußerungen ergibt sich das aus § 198a StGB-CZ („Volks- und Rassenverhetzung"), der lautet: „(1) Wer öffentlich zum Haß gegen andere Nationen oder Rassen oder zur Beschränkung der Rechte und Freiheiten ihrer Angehörigen aufruft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer sich zur Begehung der in Absatz 1 aufgeführten Tat vereinigt oder zusammenrottet."

Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Äußerung der zweiten Gruppe bedroht, also insbesondere öffentliches Sympathisieren mit „dem Faschismus". Die §§ 260 f. StGB-CZ („Unterstützung von und Propaganda für Bewegungen, die auf die Unterdrückung der Rechte und Freiheiten der Bürger zielen") lauten:

„§ 260 (1) Wer eine Bewegung unterstützt oder propagiert, die nachweisbar auf die Unterdrükkung der Rechte und Freiheiten der Bürger zielt oder nationalen, rassischen, klassenmäßigen oder religiösen Haß verkündet, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Mit Freiheitsstrafe von drei bis zu fünf Jahren wird der Täter bestraft, wenn er a) die in Abs. 1 aufgeführte Tat durch Presse, Film, Rundfunk, Fernsehen oder auf eine andere ähnlich wirksame Weise begeht, 291 P.Müller, a.a.O., S. 251. 292 R Müller, a. a. O., S. 256: „Diskriminatorische Motivation", deren Nachweis freilich „nicht immer einfach" sei. Zur Praxis vgl. Colonego, Erfahrungen mit dem Schweizer Gesetz gegen Rassismus und Verleugnen des Holocaust, Süddeutsche Zeitung v. 6./7. Juli 1996, S.ll.

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b) diese Tat als Mitglied einer organisierten Gruppe begeht oder c) diese Tat während der allgemeinen Mobilmachung des Staates begeht.

§261 Wer öffentlich Sympathien gegenüber dem Faschismus oder ähnlichen, in § 260 aufgeführten Bewegungen äußert, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft."

Auschwitz-Lcugnen in der Erscheinungsform 3 (Geschichtc als Instrument schwerer Rcchtsgutsgefährdungen) ist also in Tschechien als Volks- und Rassenverhetzung (§ 198a StGB-CZ) strafbar. Die Vorschrift ist dem deutschen § 130 Abs. 1 StGB nicht unähnlich. Zusätzlich ist aber bereits die radikal-rcvisionistischc Leugnung des Holocaust (Erscheinungsform 1) ohne weiteres durch die §§ 260 f. StGB-CZ erfaßbar, wenn sich das Leugnen oder Verharmlosen der historischen Wahrheit den Umständen nach als rechtsextremistische Propaganda einordnen läßt oder der Täter durch seine eigenwillige Geschichtsdeutung öffentlich eine affirmative Haltung zu rcchtsextremcm Gedankengut zum Ausdruck bringt. Diese Strafvorschriften richtcn sich nämlich mit einer außerordentlich weiten Tatbestandsformulicrung gegen jede Form „faschistischer" oder „ähnlicher" Betätigung, ja bereits gegen die öffentliche Kundgabe von Sympathie für solchc Ideologien.

12. USA In den USA ist Auschwitz-Leugnen grundsätzlich nicht strafbar. Die Rcchtslagc ist denkbar liberal. Selbst ein Marsch von mit SA-Uniformen bekleideten NeoNazis durch eine Ortschaft im US-Bundesstaat Illinois, wo viele Holocaust-ÜberIcbcndc wohnen, wurde von der Justiz nicht verboten, 293 geschweige denn wurden Strafverfahren gegen Teilnehmer oder Organisatoren des Marschcs eingeleitet. Man geht in den USA einmütig davon aus, auch noch so anstößige Äußerungen fielen unter die durch den First Amendment zur amerikanischen Bundesverfassung garantierte Meinungsäußerungsfreiheit (freedom of speech).294 Das gelte jedenfalls solange, als die Äußerung nicht auf die Schaffung einer konkreten und aktuellen Gefahr (clear and present danger) für höchstpersönlichc Rechtsgütcr abziele, was insbesondere dann anzunehmen sei, wenn öffentlich zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen aufgefordert werde. 295 Zwar gibt es in den USA durchaus engagierte BcM „Skokie-Fair, Chikago 1977, in dem die American Civil Liberties Union (ACLU) unter Einsatz jüdischer Anwälte den Nazi-Marsch durchsetzte. Vgl. Frowein, AöR 105 (1980), 169 (171, 185); Horowitz, in: Law and Contemporary Problems 43 (1979), 328 ff.; Neier, Tageszeitung Magazin v. 7./8. 2. 1998, S. VII. 294 Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, 1994, S. 34: „Die Holocaust-Leugner haben jedes Recht, sich an jede Straßenecke zu stellen und ihre Verleumdungen hinauszuposaunen." Ausführlich G. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 95 ff., 169 f., zusf. 189. 295 Insofern fällt Auschwitz-Lcugnen in der Erscheinungsform 3 (Geschichte als Instrument schwerer Rcchtsgutsgcfährdungcn) nicht unter die Redefreiheit; vgl. auch Frowein,

. trafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

mühungen gesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen, die auf den Nachweis abzielen, daß die eigenwillige Geschichtssicht der radikalen Revisionisten nichts mit „Meinung" zu tun habe, sondern lediglich geschickt getarnte rechtsextremistische Agitation und Propaganda sei. Doch beschränken sich diese Anstrengungen auf den gesellschaftlichen Diskurs und die argumentative Beeinflussung der öffentlichen Meinung. 296 Das schließt nicht aus, daß beispielsweise im Lehrbetrieb Beschäftigte mit arbeits- oder dienstrcchtlichen Konsequenzen rcchnen müssen, wenn sie ihre Stellung dazu benutzen, den nationalsozialistischen Völkermord in Frage zu stellen. 297 Gesetzliche Verbote des Auschwitz-Lcugncns, gar verbunden mit einer Strafdrohung, gibt es hingegen in den USA nicht.

I I . Unterschiede und Gemeinsamkeiten Auf die wesentlichen Gesichtspunkte reduziert, läßt sich sagen, daß es unter den vorgestellten Staaten zwei grundsätzlich verschiedene gesetzgeberische Regelungskonzeptc gibt. Zur ersten Gruppe gehören die Staaten, welche auf eine ausdrückliche strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Lcugncns, insbesondere bereits der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrcvision), verzichten und diese anstößigen Äußerungen in gewissen Grenzen tolerieren. Die grundsätzliche Zurückhaltung wird vor allem mit einer weit verstandenen Meinungs- bzw. Redefreiheit begründet. Die zweite Gruppe bilden Staaten, in denen es spezielle Strafvorschriftcn gegen das Auschwitz-Lcugnen gibt. Zur ersten Gruppe „liberaler" Staaten gehören Dänemark, Großbritannien, Kanada, die Niederlande, Schweden und allen voran die USA. In diesen Staaten tritt das Strafrccht erst auf den Plan, wenn die Forderung nach einer radikalen Geschichtsrcvision für weitergehende Angriffe instrumentalisiert wird, insbesondere für gruppenbezogene Hetze. Die höchstc Strafbarkeitsschwelle existiert in den USA, wo erst in einer konkreten und aktuellen Gefahrschaffung für die Rcchtsgütcr anderer eine Überschreitung der Redefreiheit gesehen wird. In den USA können daher nur besonders schwcrc Formen des Auschwitz-Lcugncns (Erscheinungsform 3) bestraft werden, insbesondere das Schürcn aktueller Pogromstimmung. In den übrigen Staaten der ersten Gruppe rcicht für eine Strafbarkeit bereits eine abstrakte Gcfahrschaffung durch diskriminierende Hetze aus, u. a. wenn die Äußerungen an rassische oder religiöse Merkmale anknüpfen. Das ist beispielsweise der AöR 105 (1980), 169 (173, 185), der die Meinung vertritt, schon im Zeigen von NS-SymboIcn liege die konkludente Drohung, die Juden würden verfolgt, sobald die Gruppe der NSAnhänger über genügend Macht verfüge. 296

Dafür plädiert auch die US-Amerikanerin Lipstadt, Betrifft: Auschwitz-Leugnen, 1994, S. 268 f., wobei sie gleichzeitig wegen der Rationalitätsfeindlichkeit der AuschwitzLeugner davor warnt, mit diesen selbst als Gegenüber zu diskutieren: „Mit ihnen zu reden wäre so, als wollte man einen Wackelpudding an die Wand nageln." 297 Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, 1994, S. 17 f.

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Teil:

ier

strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Fall, wenn stigmatisierende Zuschreibungen erfolgen, wie sie antisemitischen Äußerungen eigen sind. Man stimmt auf internationaler Ebene weitgehend darin überein, daß die Einschränkung der Meinungs- und Redefreiheit zum Schutze elementarer Rechte anderer in einer freien und demokratischen Gesellschaft unentbehrlich ist. 2 9 8 Die einschlägigen ausländischen Strafbestimmungen sind nach Inhalt und Struktur dem deutschen § 130 Abs. 1 StGB, also der „klassischen" Volksverhetzung vergleichbar. Rein formal gilt das Ausgeführte auch für Tschechien, doch kommt dort eine Besonderheit zum Tragen, die allenfalls in Österreich mit seinem verfassungsrechtlichen Verbot der „NS-Wiederbetätigung" eine ungefähre Entsprechung findet: In Tschechien wird eine politische Äußerung strafrechtlich erfaßt, wenn die tragende Ideologie „faschistisch" oder „dem Faschismus" ähnlich ist, so daß auch Auschwitz-Leugnen in allen Erscheinungsformen - also bereits die bloße radikale Geschichtsrevision - bestraft werden kann, sofern sich das Leugnen angesichts der Umstände als rechtsextremistische Propaganda darstellt. Insofern steht Tschechien der Sache nach schon jenseits der gedanklichen Trennlinie zu der nun folgenden zweiten Gruppe von Staaten. Die zweite Gruppe von Staaten, zu der auch Deutschland gehört, erfaßt das Auschwitz-Leugnen seit wenigen Jahren mittels spezieller Strafbestimmungen, und zwar mit unterschiedlicher Intensität. Häufig existieren daneben - wie in den meisten Staaten der ersten Gruppe - Strafnormen, die nach Inhalt und Struktur dem deutschen § 130 Abs. 1 StGB ähnlich sind und die alle Formen gruppenbezogener Hetze ohne Rücksicht auf den thematischen Anknüpfungspunkt erfassen. Das restriktivste Modell innerhalb der zweiten Gruppe steuert die Schweiz bei, wo das Leugnen des Völkermordes an den europäischen Juden zwar explizit und vollständig erfaßt, die Strafbarkeit aber davon abhängig gemacht wird, daß die Äußerung gerade zum Zwecke einer aktuellen rassischen oder religiösen Diskriminierung erfolgt. Daher wird in der Schweiz die radikale Geschichtsrevision nur dann bestraft, wenn sie einschlägig instrumentalisiert wird. Aber auch hinsichtlich des Äußerungsinhalts ist das schweizer Gesetz enger als der deutsche § 130 Abs. 3 StGB, weil von vorneherein nur „gröbliche" Verharmlosungen, die dem Leugnen sehr nahe kommen, unter den Tatbestand fallen. Die gleiche enge Tatbestandsformulierung findet sich in Österreich, wo das Auschwitz-Leugnen aber in den größeren Zusammenhang des NS-Verbotsgesetzes eingebettet ist. 2 9 9 Diese Einbettung hat - ganz abgesehen von der immensen Strafdrohung (bis zu zehn, in schweren Fällen sogar bis zu 20 Jahren Freiheitsstrafe) - zur Folge, daß man in Österreich angesichts aktueller Phänomene den Blick in Richtung Vergangenheit richtet, um 298 Zur h.M. im Kreise der Signatarstaaten des IPbpR Klein, Fall Faurisson zur HolocaustLüge, in: Baum/Riedel/Schaefer (Hrsg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, 1998, S. 121 (126 f.); vgl. auch Art. 20 II IPbpR. 299 Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung siehe unten Vierter Teil, B. III. 1. b) bb) (2), S. 296 mit Fn. 92.

. trafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens

die Vergleichbarkeit mit dem nationalsozialistischen Schreckbild zu ermitteln, während in der Schweiz die Aufmerksamkeit ganz der gegenwärtig vorhandenen bzw. in naher Zukunft drohenden Gefahrensituation gilt. In dieser Hinsicht ähnelt die schweizer Rechtslage dem deutschen § 130 Abs. 3 StGB mit seinem Erfordernis der Eignung zur Friedensstörung. Gänzlich auf die konkrete Feststellung gruppenbezogener Gefahrschaffung verzichtet man in Belgien, wo der Tatbestand ohne weitere Voraussetzungen schon die bloße radikale Geschichtsrevision unter Strafe stellt, wenn sie öffentlich oder ähnlich publikumswirksam geschieht. Im Gegenzug wird in Belgien lediglich Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr angedroht, was im Vergleich zur deutschen Höchststrafe von fünf Jahren moderat ist. Sowohl Deutschland als auch Belgien, Österreich und die Schweiz folgen übereinstimmend dem Regelungsmodell, daß der Maßstab, welcher für ein Leugnen etc. der historischen Wahrheit des Holocaust relevant sein soll, nicht im Gesetz steht. In dieser Hinsicht wird stillschweigend - gleichsam dynamisch - auf die etablierten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft verwiesen. Vor allem in diesem Punkt unterscheidet sich die ansonsten vergleichbare Strafbestimmung in Frankreich, der die einschlägige luxemburger Vorschrift nachgebildet ist. Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß man sich in den beiden Staaten bei der Bestimmung der maßgeblichen historischen Faktenbasis nicht an den Erkenntnissen der etablierten Geschichtswissenschaft orientiert, sondern an der „prozessualen Wahrheit" des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg (1946) und der eigenen nationalen Gerichte, in Luxemburg auch der Gerichte anderer Staaten. 300 Zusammen mit der Annahme, für den Leugnungsvorsatz reiche das Bewußtsein, von dem gerichtsoffiziellen Geschichtsbild abzuweichen, handelt es sich also um eine nur dürftig getarnte gesetzliche Festschreibung von Geschichte. 301 Dafür sind die Strafdrohungen deutlich niedriger als in Deutschland, insbesondere in Luxemburg, wo höchstens sechs Monate Freiheitsstrafe verhängt werden können.

300 Zu Wert und Gewicht gerichtsförmiger historischer Feststellungen siehe oben Erster Teil, Α. II., S. 51 ff. 301 Zu den Bedenken Klein, a. a. O., S. 126 („erhebliches Unbehagen").

Dritter Teil

Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Gegenstand einer Neukonzeption soll nicht die Gesetzeslage sein. Die nachfolgenden Ausführungen richten sich an Wissenschaft und Praxis, nicht an den Gesetzgeber.1 Auf Basis des geltenden Strafrechts (de lege lata) soll das Konzept für eine in jeder Hinsicht tragfähige strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugncns entwickelt werden. Zu diesem Zweck wird es unentbehrlich sein, die etablierte strafjuristische Erfassung des Auschwitz-Leugnens vor Inkrafttreten des VerbrBekG 2 kritisch in den Blick zu nehmen. Das geschieht aber nur insoweit, als es für das Verständnis der jetzigen Rechtslage noch von Bedeutung ist. Dazu gehört die Anwendung der Vorschriften, welche durch die Gesetzesänderung unangetastet gebliebcn sind, also vor allem die Bestrafung des Auschwitz-Leugnens als Beleidigung (§§ 185 ff. StGB). Bezüglich der neugefaßten VolksvcrhctzungsVorschrift (§ 130 StGB) besteht hingegen die Aufgabe darin, eine mcthodcngerechtc Normauslegung anzubieten und damit das dogmatische Fundament dafür zu legen, daß die praktische Anwendung der Vorschrift auf die drei Erscheinungsformen 3 des Auschwitz-Lcugnens gelingt. Schließlich wird das Konkurrenzverhältnis zu klären sein, das nach geltendem Recht im Einzclfall zwischen Bclcidigungs- und Volksverhctzungsunrccht entstehen kann. Bevor man derart konkret wird, kann man jedoch die generelle Frage aufwerfen, ob die Strafvorschriften gegen das Auschwitz-Lcugncn überhaupt angewendet werden dürfen.

1

Anders Klein, Fall Faurisson zur Holoeaust-Lügc, in: Baum/Riedel/Schaefer (Hrsg.), Mcnschcnrcchtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, 1998, S. 121 (128), der allerdings offen läßt, ob er den deutschen Gesetzgeber meint. 2 G zur Änderung des Strafgcsctzbuchcs, der Strafprozcßordnung und anderer Gesetze v. 28. 10. 1994, BGBl. I, S. 3186 ff. 3 Siehe oben. Erster Teil, C. II., S. 98 f.

Α. Die Rechtsgutslehre als „strafrechtliches Verfassungsrecht 44

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A. Die Rechtsgutslehre als „strafrechtliches Verfassungsrecht" Warum zu diesem Zweck nicht gleich ein Blick auf das „wirkliche" Verfassungsrecht, das Grundgesetz?4 Warum überhaupt im Bereich des Strafrechts nach Maßstäben suchen, wo doch das Grundgesetz von der Normenhierarchie her ohnehin die letztlich entscheidenden, weil höherrangigen Maßstäbe enthält?5 Die Antwort ist: Es ist zwar völlig richtig, daß man ein mit der Verfassung nicht zu vereinbarendes Strafgesetz gar nicht erst anwenden dürfte. Dieser theoretisch klare Grundsatz hat aber bei der Umsetzung in praktische Entscheidungen seine Tücken. Zunächst ist festzuhalten: Die zutreffende Antwort auf die Frage, was genau ein Strafgesetz verbietet, kann nur durch dessen methodengerechte Auslegung gefunden werden. Zwar wäre es übertrieben, von einer spezifisch strafjuristischen Methode zu sprechen, doch ist zumindest bei den beiden klassischen Auslegungsmethoden „grammatische Auslegung" und „systematische Auslegung" ohne die Einnahme einer genuin strafrechtlichen Perspektive nicht weiterzukommen. Und die Frage nach dem genauen Regelungsgehalt einer Verbotsnorm, also die Frage, welches Verhalten die Norm ihren Adressaten eigentlich in der Praxis verbietet, muß logisch vorrangig beantwortet werden, damit man in einem nächsten Schritt beurteilen kann, ob diese Verhaltensnorm 6 in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und wenn ja, ob sich dieser Eingriff verfassungsrechtlich rechtfertigen läßt.7 Auch diese verfassungsrechtliche Folgefrage beantwortet sich in den seltensten Fällen umstandslos aus der Verfassung heraus, denn Verfassungsbestimmungen sind vergleichsweise allgemein und abstrakt, besitzen ein „hohes Maß interpretativer Offenheit". 8 Daher bedarf die Verfassung ihrerseits der konkretisieren4

Das entspräche dem Vorgehen von Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 155, 427 f., der dem Rechtsgutsbegriff allenfalls die Stellung eines Arguments im Rahmen der grundrechtlichen Prüfung einräumt; krit. Jakobs, ZStW 110 (1998), 716 (719f.). Ähnlich Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 49f., 55 („mit dem Vorrang der Verfassung auch für das Strafrecht ernst... machen44); Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 9 („die einzige dem Strafgesetzgeber vorgegebene Beschränkung ... liegt in den Prinzipien der Verfassung 44). Spöttisch hingegen Naucke, StrR, 8. Aufl. 1998, § 2 Rn. 88: „Jedesmal, wenn man mit einem einzelnen Strafgesetz nicht zurechtkommt, richtet man die Hoffnung auf das Grundgesetz.44 Hier wird der Blick erst unten Vierter Teil, S. 275 ff. auf das Verfassungsrecht gelenkt. 5 Braum, KritV 1995, 371. 6

Erwiese sich die im Strafgesetz enthaltene Verhaltensnorm als verfassungsgemäß, wäre weiter zu fragen, ob das auch für die Sanktionsnorm zutrifft. Mit der zweistufigen verfassungsrechtlichen Prüfung strafrechtlicher Normen folge ich Lagodny, a. a. O., S. 8; zust. Appel, a. a. O., S. 79, 163 f., 312 f. Lagodny kommt zum Ergebnis, daß auf Basis des Strafzwecks „Generalprävention 44 bezüglich der Sanktionsnorm mit „besonders großen verfassungsrechtlichen Hürden44 nicht zu rechnen sei (S. 317). 7 Zu dieser Fragestellung siehe unten Vierter Teil, S. 276 ff. s R. Dreier, FS f. Maihofer, 1988, 87 (98); im gleichen Sinne Naucke, StrR, 8. Aufl. 1998, § 2 Rn. 99, 101. 11 Wandres

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

den Auslegung - und zwar unter Heranziehung der jeweiligen Fachdisziplinen. Welche Gesetzesvorhaben beispielsweise im Zusammenhang mit den konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im einzelnen unter den Titel „Strafrecht" fallen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 GG), kann nicht losgelöst davon bestimmt werden, wie das Strafrecht üblicher- und anerkannterweise sein Terrain absteckt.9 Und, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die „verfassungsmäßige Ordnung" des Art. 2 Abs. 1 GG als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit könnte in Bereichen, in denen kein spezielleres Freiheitsgrundrecht einschlägig ist, ohne die selbstregulierende Kraft des Strafrechts nahezu ungehemmt durch neue Strafgesetze - also einfaches Gesetzesrecht - zu Lasten des verbürgten Grundrechtsgehalts ausgeweitet werden. 10 Es ist die traditionelle Aufgabe der Fachgerichte, das einfache Gesetzesrecht verbindlich auszulegen. Eine Korrektur durch die Verfassungsgerichtsbarkeit kommt nur da in Betracht, wo bei der Entscheidung durch das Fachgericht spezifisches Verfassungsrecht nicht beachtet, insbesondere die Bedeutung grundrechtlicher Gewährleistungen schon im Ansatz verkannt worden ist. 11 - Abgesehen von diesen methodischen Überlegungen, die ganz allgemein für das Verhältnis von Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht - egal welchen Rechtsgebiets - gelten, gibt es aber noch einen anderen, im ersten Moment vielleicht überraschenden, letztlich aber ausschlaggebenden Grund, sich an dieser Stelle vorrangig mit dem Strafrecht zu befassen. Das Strafrecht besitzt nämlich nach Ansicht eines nicht unerheblichen Teils der Strafrechtswissenschaft ein eigenes „strafrechtliches Verfassungsrecht": 12 die (systemkritische) Rechtsgutslehre. 9 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 244, 315 f.; a.A. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 494, 503, zusf. 529, der eine Abgrenzung nach dem Sanktionscharakter der Norm vorschlägt. m Als einzige genuin verfassungsrechtliche Grenze verbleibt ansonsten das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil unter „verfassungsmäßiger Ordnung" seit BVerfGE 6, 32 die „Gesamtheit der Normen" verstanden wird, „die formell und materiell der Verfassung gemäß sind" (Leits.); krit. Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 18 ff.

π BVerfGE 1, 5 (6); 7, 198 (207); 12, 113 (124); 18, 85 (92); 54, 148 (151 f.); 90, 241 (251 ff.) st. Rspr.; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. lOOff., 166; Battis, HdbStR, Bd. VII, 1992, § 165 Rn. 56; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 121; Löwer, HdbStR, Bd. II, 1987, § 56 Rn. 141 f.; Robbers, NJW 1998, 935 (938 f.); Roellecke, HdbStR, Bd. II, 1987, § 54 Rn. 22, 25. Für eine erweiterte Überprüfungskompetenz bei der Sinnermittlung von Meinungsäußerungen: Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 162 f. In der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik sind die beiden Abtreibungs-Entscheidungen (BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff.) die bisher einzigen Fälle, in denen eine Strafnorm vom BVerfG für nichtig erklärt wurde. Zur Erklärung dieses Befundes ausführlich Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 53, 71, 317. 12 So die - ironisch gemeinte - Bezeichnung von Bohnert, JuS 1984, 182 (186). Ganz ernst aber Naucke, Die Aushöhlung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 483 (496): „strafrechtliche Gesetzlichkeit" (Hauptkennzeichen: „inhaltlich begrenzte, um konkrete Humanität bemühte Legalität" [S. 498]) habe den Charakter einer „Verfassung des Kriminalrechts". Krit. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 48, 206 f., 306 f., 381 ff., der

Α. Die Rechtsgutslehre als „strafrechtliches Verfassungsrecht

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I· Überblick über den Stand der Rechtsgutslehre Die meisten Anhänger einer systemkritischen Rechtsgutslehre erheben den Anspruch, innerhalb des Spezialgebiets „Strafrecht" einen verbindlichen Maßstab für die Überprüfung von Normen zu liefern. Und zwar einen übergeordneten Maßstab, der - dem Auslegungskanon der juristischen Methodenlehre vorgelagert 13 - dazu geeignet ist, legitime Norminhalte von illegitimen zu unterscheiden. 14 Man sieht sofort, daß dem ganzen Unternehmen die stillschweigende Prämisse zugrundeliegt, das Strafgesetzbuch dürfe nichts anderes enthalten als „echtes" Kriminalunrecht. 1 5 Diese Prämisse ist nie ernsthaft bestritten worden 1 6 - lediglich über die Frage, was genau „Kriminalunrecht" sei, welche inhaltliche Qualität ein Strafgesetz haben müsse, gingen die Auffassungen je nach Zeitströmung mehr oder weniger weit auseinander. Immerhin erwähnt das geltende StGB den Begriff „Rechtsgut" in der Überschrift der §§ 5 und 6, in § 34 und in § 184c Nr. 1 S t G B , 1 7 doch liegt es nahe, daß mit seiner Nennung lediglich ein aus der Binnensicht des Strafgesetzbuchs zu angesichts eines gewandelten Staat/Bürger-Verhältnisses strafrechtsimmanente Begrenzungsversuche als „wenig zeitgemäß" (S. 303, 328), „anachronistisch" (S. 332) und daher „überflüssig" (S. 390) ablehnt. 13 Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (156). Oder darin integriert: Gössel, FS f. Oehler, 1985, S. 97 (98). W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 22, 83 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 22, 67, 213; ders., Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (87 f.); Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 117, 177, 193; Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957; M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut", 1972, S. 17, 85; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 2, 9ff.; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, 151 (164, 167); Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung, 1984, S. 21, 49ff., 68; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 119 f., 165, 170, 180, 215. Mit einem materialen Verbrechenskonzept („strafrechtliche Gesetzlichkeit") strebt Naucke, JuS 1989, 862 (867); ders., Die Aushöhlung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 483 (485, 495 f.) das gleiche Ziel an, obgleich er den Begriff „Rechtsgut", dem er skeptisch gegenübersteht (vgl. Naucke, Strafrecht, 8. Aufl. 1998, § 6 Rn. 73 f.), vermeidet. Einschränkend Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 8, 11, der neben der Rechtsguts- auch eine Pflichtverletzung verlangt. Ähnlich Otto, ZStW 87 (1975), 539 (562), der zusätzlich danach fragt, ob eine „Vertrauensenttäuschung" vorliege. Aus historischer Sicht Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 106, 177, 199; Naukke, Der materielle Verbrechensbegriff im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 269 (277, 280); Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut", 1962. ι 5 Zurückgehend auf Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, nach der Ausgabe von 1766 übers, u. hrsg. von Alff, 1966 (Nachdr. 1988), S. 65 ff. 16 Im Gegenteil, alle bedeutenden Autoren (ζ. B. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch VII, Kap. 2 u. 4; Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, Kap. 4 u. 12) sind Beccaria gefolgt. Vgl. im einzelnen Naucke, Der materielle Verbrechensbegriff im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.) Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, 269 (273). 17 Die Begriffsprägung geht zurück auf Birnbaum, ArchCrimR N.F. 1 (1834), 149ff.; vgl. Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151. u

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

entwickelndes, systemimmanentes Rechtsgutsverständnis angesprochen sein kann. Die Vertreter einer „kritischen" Rechtsgutslehre legen dem Begriff hingegen ein systemtranszendentes Verständnis zugrunde, verstehen „Rechtsgut" als einen Maßstab, der von außen an die einzelnen Straftatbestände anzulegen ist. Entschieden ist der Streit um die richtige Sichtweise trotz jahrzehntelanger Diskussion bis heute nicht. 18 Im Grunde geht es beim „Rechtsgut" um etwas ganz Simples, was sich aber gerade wegen der angestrebten Einfachheit rasch als höchst diffizil erweist: Man sucht nach einem axiomatischen Begriff, 19 der für das gesamte System des Strafrechts passen und - neben anderen Kriterien - die Funktion haben soll, materiell kriminelles Verhalten und materiell nicht-kriminelles Verhalten zuverlässig auseinander zu halten. 20 Diese Unterscheidung kann, das ist für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB von vorneherein festgelegt, nur einem einzigen Zweck dienen: Sie kann ein geplantes oder bereits vorhandenes Strafgesetz als ganz oder teilweise illegitim erweisen. Das ist dann der Fall, wenn die formelle Tatbestandsbeschreibung des fraglichen Gesetzes in allen oder einigen Fällen kein materielles Kriminalunrecht erfaßt. Für die Lehre vom Rechtsgut liegt dieser Befund vor, wenn es sich bei einem unter den Tatbestand subsumierbaren Verhalten nach seiner objektiven oder subjektiven Tendenz unter keinem Gesichtspunkt um eine Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung handelt.21 Dann ist die Forderung nach einer restriktiven Interpretation, partiellen Nichtanwendung oder gar der kompletten Ausscheidung dieses Tatbestandes aus dem Strafgesetzbuch berechtigt. Und zwar aus juristischen, nicht lediglich aus rechtspolitischen Gründen! 22 Die Unterscheidung zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Verhalten mit Hilfe des Rechtsgutsbegriffs kann aber im Gegenzug nicht dazu dienen, über das geschriebene Recht hinaus eine Strafbarkeit de lege lata mit der Erwägung zu begründen, bei materieller Betrachtung handele es sich auch bei diesem oder jenem, vom geschriebenen Recht bisher nicht erfaßten is Gössel FS f. Oehler, 1985, 97 (101); Naucke, StrR, 8. Aufl. 1998, § 6 Rn. 72; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 5; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151. 19 Den Aufbau eines axiomatischen Systems erklärt Otto, ZStW 87 (1975), 539 (549) für gescheitert, was daran liege, daß auch die Gesellschaft nicht einem einzigen Axiom folge. Skeptisch auch Fischen NStZ 1988, 159 (163); Krauß, ZStW 76 (1964), 19 (66ff.); Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 30. 20 Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151. 21 Überblick und Zusf. bei Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 53 ff. Vgl. ferner Hassemer, ZRP 1997, 316 (318); M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 70 ff., zusf. 78; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 25; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (166 f.); Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 328, 334. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 5, 41, 47 ff. u. E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (829) verlangen mindestens eine „konkrete Verletzungsfahrlässigkeit/ -pflichtwidrigkeit". 22 Rudolphi, FS f. Honig, 1970, 151 (157, 166 f.). Eher für eine lediglich rechtspolitische Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs: Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 1, 35,41.

Α. Die Rechtsgutslehre als „strafrechtliches Verfassungsrecht

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Verhalten um eine Rechtsgutsverletzung und damit ebenfalls um Kriminalunrecht. 23 Insofern erweist sich - das Gelingen der Kreation eines brauchbaren Rechtsgutsbegriffs vorausgesetzt - die Rechtsgutsverletzung als notwendige, nicht aber zugleich als hinreichende Bedingung der Strafbarkeit. 24 Hinzukommen muß wegen des verfassungsrechtlich gesicherten Prinzips nulla poena sine lege mindestens noch die formelle Vertypung des materiellen Kriminalunrechts in einem geschriebenen Strafgesetz. 25 Umgekehrt kann man davon ausgehen, daß ein vorhandenes, ordnungsgemäß zustandegekommenes Strafgesetz im demokratischen Rechtsstaat die - allerdings widerlegliche - Vermutung in sich trägt, der im Gesetz enthaltenen formellen Beschreibung von Unrecht stehe auch ein entsprechender materieller Unrechtsgehalt der tatbestandsmäßigen Handlung gegenüber. Angesichts der weitreichenden Funktion, die dem Rechtsgutsbegriff von Teilen der Literatur zugeschrieben wird, ist es besonders mißlich, daß sein genauer Gegenstand nicht selten wie „im dunklen Nebel verhüllt" erscheint und Anlaß „zu rätselhafter Unklarheit" gibt. 26 Ein Stück weit liegt das sicher daran, daß sich ein solcher „rechtlicher Fundamentalbegriff' 27 - genauso wie beispielsweise das Schuldprinzip - nicht zu unmittelbarer Deduktion eignet.28 Bisweilen steckt aber hinter der „Vernebelung" nichts anderes als Absicht, denn auch heutzutage würde mancher das lästige „Rechtsgutsverletzungsdogma" am liebsten beseitigt sehen,29 weil 23 Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 216 f. Zulässig ist allein die Verwendung als Argument für die Schaffung eines entsprechenden Straftatbestandes de lege ferenda. Wegen dieser Funktion bezeichnet Hassemer, Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (87) den Rechtsgutsbegriff als „ambivalent". Auf die Gefährdung der „Position des Gesetzes als Grenzlinie für den Machtbereich des Staates" durch einen materiellen Verbrechensbegriff weist Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 172 ff., 268 f. hin. Zum - hier irrelevanten - Sonderfall der juristischen Aufarbeitung von Systemkriminalität Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996; Werle, ZStW 109 (1997), 808 ff. m. w. N. 24 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 22 mit Fn. 25 (ähnlich: S. 214); Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 175 mit Fn. 1. 25 Hassemer, a. a. O., S. 211. Eindringlich G. Wolf, Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken?, in: Universitätsschriften Frankfurt/O., Antrittsvorlesung III, S. 141 (159 ff.). Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 226 beschreibt legitime Strafgesetzgebung treffend als „Transformation materiellen Unrechts in formelles". Den materiellen Gehalt des formellen Gesetzlichkeitsprinzips sieht Naucke, Der materielle Verbrechensbegriff im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.) Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, 269 (288) darin, daß damit eine ,»Beengung von Macht" einhergehe. 2 6 So mit Blick auf die Funktion des Rechtsguts als „ungeschriebenes strafbarkeitseinschränkendes Tatbestandsmerkmal" Gössel, FS f. Oehler, 1985, S. 97 (98). 27

Hassemer, Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (91). 2 « Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 16 („lediglich Beurteilungsmaßstab"). 29 Der Begriff stammt von Schaffstein, Der Streit um das Rechtsgutsverletzungsdogma, DStR 4 (1937), 335 (348). Zur Beseitigung des Rechtsgutsbegriffs durch die nationalsozialistische Strafrechtslehre: M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 16 m. w. N.; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 55, 73, 172 ff.

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ihm die damit verbundene Beschneidung der Pönalisierungsmacht des Gesetzgebers nicht recht ist. Für die Konzeption des Rechtsgutsbegriffs gibt es, wie gesagt, zwei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit besteht darin, den Begriff aus dem bestehenden Normenbestand des Strafgesetzbuches, also induktiv zu entwikkeln (systemimmanenter Rechtsgutsbegriff). Dann ist das von einer Strafnorm geschützte „Rechtsgut" nichts anderes als der „vom Gesetzgeber in den einzelnen Straftatbeständen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel". 30 Auf Basis der zweiten Möglichkeit agiert, wer beim Aufschlagen des geltenden Strafgesetzbuchs von sich behauptet, bereits im Besitz des Rechtsgutsbegriffes zu sein. Das setzt voraus, daß er den Begriff zuvor aus übergeordneten, also vorpositiven Prinzipien abgeleitet hat (systemtranszendenter Rechtsgutsbegriff). In diesem Fall dient der Rechtsgutsbegriff als Maßstab „richtiger" Strafgesetze. Nur diese Begriffsbildung ist in der Lage, neben dem Gesetzesanwender auch dem Strafgesetzgeber Grenzen zu ziehen.31 Daher entspricht auch nur diese Begriffsbildung dem oben skizzierten Anspruch einer systemkritischen Rechtsgutslehre, so etwas wie ein „strafrechtliches Verfassungsrecht" zu sein. Das heißt nicht, daß ein systemimmanenter Rechtsgutsbegriff wertlos wäre, denn er dient immerhin der zweckentsprechenden Auslegung der Straftatbestände und begrenzt damit die Entscheidungsmacht des gesetzesanwendenden Richters - mehr leistet dieser positivistische Begriff jedoch nicht. 32 Es wäre daher ein Gewinn an Rechtssicherheit, gelänge die überzeugende Begründung eines systemtranszendenten, vorpositiven, „kritischen" Rechtsgutsbegriffs. Unter den bisher vertretenen Konzeptionen, die sich diesem Ziel verpflichtet fühlen, scheint am ehesten die personale Rechtsgutslehre in der Lage zu sein, den eingangs beklagten Nebel zu lichten und dem Rechtsgutsbegriff praktisch handhabbare Konturen zu geben. Diese Lehre ist daher einer näheren Betrachtung wert.

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So die bekannte Formulierung von Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919, S. 94. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 67; M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 17, 85; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (156). 32 W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 71. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 28 kritisiert, daß der systemimmanente Rechtsgutsbegriff auf Strafgesetze „jedweden Inhalts44 passe, auch auf ein „System von Führerbefehlen 44. Diese Form der „Rechtsgutskonzeption44 habe der nationalsozialistischen Rechtslehre einen nahtlosen Anschluß ermöglicht (S. 50); dazu auch Spendel, JuS 1996, 871 (872f.). Ferner krit. M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 17, 85; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 7; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (154): „Als inhaltsleere Abstraktion ... gibt uns [der systemimmanente Rechtsgutsbegriff] ... keinerlei Auskunft mehr darüber, welcher Art das Unrecht der einzelnen Delikte ist oder sein sollte.44 31

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IL Die personale Rechtsgutslehre als Maßstab „richtiger" Strafgesetze Die personale Rechtsgutslehre in all ihren Verästelungen und Feinheiten darzustellen, würde zu weit führen. 3 3 Das ist für den hier interessierenden Zusammenhang auch gar nicht erforderlich. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Grundannahme, Kriminalunrecht zeichne sich dadurch aus, daß die Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts vorliegen müsse. 3 4 Man hat rasch gemerkt, daß es sich bei dieser Formulierung um einen vereinfachenden Sprachgebrauch handelt, weil Rechtsgüter als normative, geistige Gebilde als solche gar nicht „verletzt" und nur i m übertragenen Sinne „gefährdet" werden können. 3 5 Verletzen kann man keine ideellen Werte, sondern nur reale Gegebenheiten. 36 Der Gattungsbegriff als solcher zieht als geistige Ordnungskategorie weiter majestätisch seine Bahn, auch wenn in 33 Detaillierte Darstellungen findet sich ζ. B. bei Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991 u. M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972. 34

Vgl. § 2 Abs. 1 Alternativ-Entwurf StGB AT, 1966: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft. 44 (Hervorheb. v. Verf.). Ferner Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 55; M. Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, 1972, S. 8; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (zusf. 167); Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung, 1984, S. 78; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 50, 188. Dagegen hat in den dreißiger Jahren Schaffstein, DStrR 2 (1935), 97 (104) polemisiert, die Lehre von der Rechtsgutsverletzung sei „steter Anlaß zu wirklichkeitsentfernenden [!] Verzerrungen 44. Moderater: ders., DStrR 4 (1937), 335 (337), wo er lediglich vorschlägt, anstelle des Begriffs „Rechtsgut44 den Begriff „Volksgut44 zu verwenden. Für eine Entfernung des Rechtsgutsbegriffs auch Höhn, Deutsches Recht, 1935 und allgemein die NS-Strafrechtslehre; vgl. Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut44, 1962, S. 70ff. Ebenfalls krit. Brauneck, FS f. Mayer, 1966, S. 235 (241) (Kern des Unrechts: „antisoziale Einstellung44) u. Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (492), der in der Konzentration auf die Rechtsgutsverletzung eine „Überbetonung der Erfolgsseite 44 sieht: „Das verbotene sozialunethische Verhalten (und nicht eine Rechtsgutsverletzung) ist der generelle Unwertgehalt aller Normen44 (S. 513 in Fn. 30). 35

Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 18 bezeichnet die Unterscheidung zwischen „Rechtsgut und Handlungsobjekt44 als einziges nicht kontroverses Ergebnis einer „knapp 140jährigen Problemgeschichte44. 36 W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 83, 94; Jescheck/ Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 2614, S. 259f.; Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 31 f. m. w. N. Dieser Gedanke findet sich schon bei v. Liszt, ZStW 8 (1888), 133 ff. Anders Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 56ff., zusf. 88, die Rechtsgüter als „reale, kausal veränderbare Gegenstände/Sachverhalte etc.44 bezeichnet (Hervorheb. i. Orig.). Ferner Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 114 f., für den Rechtsgüter „reale Gegebenheiten44 sind, die als „Entfaltungsvoraussetzungen des Individuums44 durch die kriminelle Handlung unmittelbar beeinträchtigt werden können. Im gleichen Sinne schon Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung, 1984, S. 65. Ähnlich Gössel, FS f. Oehler, 1985, S. 97 (108) („soziale Realität44); Rudolphi, FS f. Honig, 1970, S. 151 (164, 166) („werthafte soziale Funktionseinheiten44). Wiederum anders M. Marx, Zur Definition des Begriffs »Rechtsgut4, 1972, S. 62 ff., der als Rechtsgüter „diejenigen Gegenstände44 ansieht, „die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht44 und deren „Verfügbarkeit 44 verletzt werde (S. 69).

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der Realität das letzte Objekt der zugehörigen Gattung verschwunden sein sollte. 37 Aber die Objekte selbst - als konkrete Verkörperung der in ihnen Wirklichkeit gewordenen Idee - können ohne weiteres verletzt oder gefährdet werden. 38 Wird ein Rechtsgutsobjekt verletzt, so beeinträchtigt das aber zugleich die uneingeschränkte Geltung der in diesem Objekt verkörperten Idee, weil der Täter mit seinem Verhalten zum Ausdruck bringt, daß er dem ideellen Wert seine Anerkennung versage. 39 Zwei Beispiele verdeutlichen das: Der Täter verletzt oder gefährdet im strengen Sinne zwar nicht das Rechtsgut „Leben", indem er in Tötungsabsicht auf einen anderen Menschen, einen Träger des Rechtsguts schießt, sondern real nur den konkreten Menschen, das Rechtsgutsobjekt. Gleichwohl kann man das Verhalten des Täters mit gutem Grund als „Rechtsgutsgefährdung" oder "-Verletzung" bezeichnen, weil er bei unbeschränkter Anerkennung des Rechtsguts Leben nicht in Tötungsabsicht auf einen anderen Menschen geschossen hätte. Andererseits löscht der Kraftfahrer, welcher ein plötzlich vor seinen Wagen laufendes Kind tötet, das konkrete Rechtsgutsobjekt völlig aus, die Geltung des Rechtsguts „Leben" stellt er damit - verkehrsgerechte Fahrweise vorausgesetzt - nicht in Frage. 40 Man liegt nicht ganz falsch, wenn man die Kontroverse darüber, ob man die Rechtsgüter selbst oder ausschließlich die Rechtsgutsobjekte verletzen könne, für reichlich akademisch hält. Die praktischen Auswirkungen der theoretisch hochinteressanten Debatte sind schon deshalb gering, weil auch diejenigen, welche Rechtsgüter als „reale Gegebenheiten" bezeichnen, umstandslos anerkennen, daß ein Angriff auf das „Verletzungsobjekt" Rechtsgut nur an einem konkreten „Handlungsobjekt" ausgeführt werden kann. 41 Faßt man Rechtsgüter als reale gesellschaftliche Gegebenheiten auf, wird allenfalls die Überlegung erleichtert, ob eine bestimmte, für strafbar erklärte Handlung tatsächlich eine spürbare „Verletzungskausalität" erwarten lasse.42 Zudem wird eine gedankliche Brücke zur Strafzweckdiskussion43 geschlagen, denn seinen Anspruch, Rechtsgüter-Schutz zu betreiben, 37

Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 103: „Wenn der Dackel ,Waldi' stirbt, läßt das den Begriff,Dackel' völlig unberührt." 38 Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 88,91. 39 Daß Rechtsgüter bereits ihr Entstehen „praktisch-tätiger Anerkennung" verdanken, hat Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 130 ff. (zusf. 165) auf Basis der Philosophie Kants und Fichtes überzeugend herausgearbeitet. Daß Rechtsgutsverletzungen „sozialschädlich" seien, begründet Otto, ZStW 87 (1975), 539 (562) u. a. mit der Erwägung, daß über den „ E i n z e l s c h a d e n hinaus die Veitrauensgrundlage der Rechtsgesellschaft" erschüttert werde und „Mißtrauen" Platz greife. 40

Ebenso Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 106. 41 Baumann/Weber/Mitsch, StrR AT, 10. Aufl. 1995, § 3 Rn. 18; Graul, a. a. O., S. 72, 106; Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 57f., 114f., 117 m. w. N.; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 34. 42 Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 139 ff.; H oyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 86ff.; Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 13 („reale Verletzungskausalität").

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kann das Strafrecht nur einlösen, wenn es auch wirkt. Auf eine Vertiefung dieser Aspekte soll hier verzichtet werden, denn weitaus wichtiger ist in unserem Zusammenhang der Umstand, daß das wie auch immer verletzbare normative Gebilde „Rechtsgut" für die personale Rechtsgutslehre keineswegs jeden Inhalt in sich aufnehmen kann. Nicht jede normative Hervorbringung, die irgendwelchen Herrschaftsentwürfen entspringt, ist für diese Lehre akzeptabel.44 Dreh- und Angelpunkt ist nämlich die Voraussetzung, daß sich das verletzte oder gefährdete Rechtsgut auch als personales Rechtsgut erweisen läßt. 45

1· Individualrechtsgüter Schon die Begriffsbildung „personales" Rechtsgut ist unübersehbar in der Person, im Individuum zentriert. Wer - wie die personale Rechtsgutslehre - das Individuum zum Ausgangspunkt und Zentrum seiner Begriffsbildung macht, gibt damit zugleich Aufschluß darüber, wie er das Verhältnis Staat/Bürger versteht. Es fällt sofort auf, daß dieses Verständnis mit dem des Grundgesetzes übereinstimmt. Der am Anfang der Verfassung stehende Grundrechtsteil und der herausgehobene Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GG legen beredtes Zeugnis davon ab, daß das Individuum im Mittelpunkt der Rechtsordnung zu stehen hat. Zweck des demokratischen und sozialen Rechtsstaates unter dem Grundgesetz ist es, dem Menschen zu dienen - und nicht umgekehrt. Die Rechtsgüter des Individuums sind daher gegen sozialschädliche Angriffe von außen zu schützen 4 6 Ohne Zweifel gehören dazu solche Rechtsgüter, die sowohl für die Existenz und die Entfaltung des Individuums unentbehrlich, als auch nach der Grundüberzeugung vom Bestehen unveräußerlicher Menschenrechte mit dem Individuum originär und untrennbar verbunden sind. 47 Die wichtigsten Beispiele sind das Leben, die körperliche Unversehrt-

43 Klassisch der Überblick bei Roxin, JuS 1966, 377 ff. Beachtenswert auch Callies, NJW 1989, 1338 ff.; Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 8, S. 63 ff. m. w. N.; Kargl, Die Funktion des Strafrechts aus rechtstheoretischer Sicht, 1995, S. 21 ff.; Stratenwerth, Was leistet die Lehre von den Strafzwecken?, 1995. 44 Vom Ausgangspunkt seiner „strafrechtlichen Gesetzlichkeit" faßt das Naucke, JuS 1989, 862 (867) in die Worte: „Gesetzlichkeit ist prinzipielles Mißtrauen gegenüber demjenigen, der Strafrecht schaffen kann." 45 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 65, 125 bezeichnet es als Merkmal des „zeitgenössischen Rechtsgutsdenkens", daß es sich durch „Orientierung ... an einem personalen Rechtsverständnis" auszeichne. Zustimmend Vogel, StV 1996, 110 (111). Strikt gegen eine Beschränkung auf personale Rechtsgüter Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 153. 46 Baumann/Weber/Mitsch, StrR AT, 10. Aufl. 1995, § 3 Rn. 12. 47 Lampe, FS f. Welzel, 1974, S. 151 (159): „grundlegende menschliche Bedürfnisse". Naucke, Der materielle Verbrechensbegriff im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 269 (280): Das „Verbrechen als Rechtsverletzung" sei ein ,Angriff auf grundlegende Menschenrechte " [Hervorheb. v. Verf.]. Abweichend Zaczyk, Das Un-

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heit, die Freiheit, das Eigentum und - als Ausfluß der Menschenwürde - die Ehre. Zum Schutz solcher Rechtsgüter (auch) das Strafrecht aufzubieten, muß für den Staat schon deshalb legitim sein, weil er gegenüber dem Einzelnen zur Grundrechtswahrung verpflichtet ist und daher bei der Konzeption seines Strafrechts auch die Drittschutz-Dimension 48 einbeziehen darf, unter Umständen sogar muß.

2. Universalrechtsgüter Universalrechtsgüter - oder besser: Rechtsgüter der Allgemeinheit und des Staates 49 - unterscheiden sich von Individualrechtsgütern neben der Trägerschaft vor allem durch die ihnen gegenüber bestehende eingeschränkte Dispositionsbefugnis. 50 Daß nicht das einzelne Individuum über Verzicht oder Bewahrung von Rechtsgütern der Allgemeinheit disponieren darf, heißt aber noch lange nicht, daß diese Rechtsgüter nicht ganz oder überwiegend dem Schutz individueller Interessen dienten.51 Ist das der Fall, so sind Rechtsgüter der Allgemeinheit auch für die personale Rechtsgutslehre akzeptabel.52 Läßt sich ihre Existenz hingegen mit einem - wenn auch vermittelten - Individualschutz nicht erklären, so sind sie als „Schein-Rechtsgüter" für die Rechtfertigung von Straftatbeständen ungeeignet.53 Das wichtigste Beispiel für ein Rechtsgut der Allgemeinheit, das zweifellos Individualinteressen dient, ist die Sicherung des demokratischen Rechtsstaates und seiner tragenden Institutionen. In diesem Fall ist die Bedingung der personalen Rechtsgutslehre ohne weiteres erfüllt, daß „der Schutz von Institutionen nur so weit reichen" dürfe, „als er Bedingung der Möglichkeit des Personenschutzes ist". 5 4 Aber auch kompliziertere Schutzkonstellationen im Bereich der in den letzten Jahren im Mittelpunkt des Interesses stehenden Umwelt-, Wirtschafts-, Drogen- und Computerkriminalität lassen sich durchaus in den beschriebenen Begriffsrahmen einfügen, indem man strikt nach ihrer Funktion für den einzelnen Menschen fragt. 55 recht der versuchten Tat, 1989, S. 155 ff., der annimmt, sämtliche Rechtsgüter verdankten ihr Dasein einer, Anerkennungsleistung". 48 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 13; näher unten Vierter Teil, B. III. l.a) bb), S. 290f. 49 Der Begriff „Universalrechtsgut" wird im internationalen Strafrecht in abweichendem Sinne verwendet. Lagodny, a. a. O., S. 38 schlägt deshalb den Begriff „Gemeinschaftsrechtsgut" vor. so M. Marx, Zur Definition des Begriffs »Rechtsgut4, 1972, S. 82. 51 Nach Lampe, FS f. Welzel, 1974, S. 151 (157 ff.) liegt jedem Rechtsgut - wenn es denn eines sein sollte - ein „individuelles Interesse44 zugrunde. 52 M. Marx, a. a. O., S. 83 schreibt, eines „gespaltenen44 Rechtsgutsbegriffs (Individual-/ ,,Sozial"-Rechtsgüter) bedürfe es dann nicht. 53 Hassemer, Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (90f.); Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 142. * Hassemer, a. a. O., S. 91. 55 Hassemer, a. a. O., S. 88 ff.; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 28, 33.

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Die bedeutendste Konsequenz, welche die personale Rechtsgutslehre aus der Existenz von Individualrechtsgiitern auf der einen und solchen der Allgemeinheit auf der anderen Seite zieht, ist die Forderung nach einer „Rechtsgüterhierarchie". 56 Während das Individualrechtsgut unmittelbar mit dem Individuum verbunden ist, bedarf es bei einem Rechtsgut der Allgemeinheit immer einer mehr oder weniger großen Zahl von Schritten, um es auf das Individuum zurückzubeziehen. Wer sich beispielsweise mit der Feststellung zufrieden gibt, die Tatbestände des Umweltstrafrechts (§§ 324 ff. StGB) schützten „die Umwelt", dringt zum Problem gar nicht erst vor. Hingegen eröffnet sich der Blick auf die ganze Breite des Problemfelds, wenn man zu begründen versucht, auf welche Weise dieser Normenkomplex dem Schutz von Leben und Gesundheit von Individuen dient. 57 ,Je mehr Schritte man gehen muß, um eine Strafdrohung mit einem menschlichen Interesse legitimierend zu vermitteln, desto vorsichtiger muß man im Ob und Wie der Strafdrohung sein." 58 Diese ,Je-desto"-Relation gilt übrigens auch im Verhältnis zwischen Verletzungs- und konkreten oder abstrakten Gefährdungsdelikten. 59 Die Forderung nach zunehmender gesetzgeberischer Zurückhaltung, je weiter man sich mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten vom Individuum entfernt, rechtfertigt sich unter anderem aus dem ultima-ratio- Charakter 60 des Strafrechts.

56 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 79, 85, 221 ff.; ders., Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (92); Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 142 ff. Ablehnend Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 201 f. 57 Zur rechtswissenschaftlichen Grundsatzkritik am „anthropozentrischen Weltbild" ausführlich Hohmann, a. a. O., S. 74 ff., 109 ff., 112 m. w. N.; zur philosophischen Höffe, Moral als Preis der Moderne, 1993, S. 196 ff. Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 22 weist darauf hin, daß auch die Vielfalt einer intakten Natur zu einem „menschenwürdigen Leben" dazugehöre. 58 Hassemer, Grundlinien, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (92). 59 Hohmann, a. a. O., S. 142: „Je geringer (abstrakter) die von dem im Tatbestand beschriebenen Verhalten ausgehende Gefahr einer Verletzung des Rechtsguts ist, desto niedriger der legitime Strafrahmen." Zu „Je-desto"-Relationen auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 428, 439, zusf. 450. Ablehnend Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 202 f., 574. 60 BVerfGE 39, 1 (47); 57, 250 (270); 73, 206 (253). Baumann/Weber/Mitsch, StrR AT, 10. Aufl. 1995, § 3 Rn. 19 m. w. N.; W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 92f.; Gehrhardt, NJW 1975, 375 ff.; Hassemer, Grundlinien, in: Philipps/ Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 (93); Prittwitz, Das deutsche Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387 (392 ff., 405); Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 31, 38 ff.

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3. Sonderfälle Für Anhänger der „reinen Lehre" vom personalen Rechtsgut erübrigt sich ein ergänzender Abschnitt „Sonderfälle". Läßt sich eine Strafbestimmung nicht mit dem - wenn auch vermittelten - Schutz des Individuums rechtfertigen, so fehlt ihr die Legitimität. 61 Gerade das Strafrecht ist aber traditionell weniger theoriefixiert als praxisorientiert. Und in der Praxis merkt man schnell, daß es so etwas wie gesellschaftliche „Bestrafungsbedürfnisse" gibt, 62 die sich gewaltig auftürmen können - aber auch wieder spurlos vergehen. Eine Handlung wird in einer konkreten kulturellen und historischen Situation von der Mehrheit der Zeitgenossen als strafwürdig angesehen. Wandelt sich die Situation, gilt die gleiche Handlung plötzlich als wertneutral oder ist sogar hoffähig geworden. Das eindrucksvollste Beispiel sind die Sexualdelikte.63 Personale Rechtsgüter, gleich ob es sich um Rechtsgüter des Individuums oder der Allgemeinheit handelt, sind also je nach kultureller und historischer Situation wandelbar, 64 man kann auch sagen, sie seien zeitgeistabhängig. Das gilt selbst für so elementare Rechtsgüter wie das Leben. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist selbstverständlich undenkbar, daß der Kernbereich des Lebensschutzes jemals im ganzen zur normativen Disposition stehen dürfte. Bei der Bestimmung des erlaubten Risikos, im Bereich der Rechtfertigungsgründe sowie bei der rechtlichen Behandlung von Grenzsituationen zu Beginn und am Ende des Lebens65 ist aber selbst bei diesem elementaren Rechtsgut die grundsätzliche historische und kulturelle Wandelbarkeit nicht zu übersehen. Im Grundsatz hat Hassemer daher zu Recht darauf hingewiesen, daß es aus praktisch-empirischer Sicht unzureichend sei, lediglich die Frage zu stellen, „warum Menschen Verbrechen begehen", wenn man nicht zuvor die Frage beantwortet habe, „warum Menschen Handeln als Verbrechen bestimmen".66 Denn gerade im demokratischen Rechtsstaat setzt die Etikettierung einer Handlung als „Verbrechen" voraus, daß es die erforderliche Mehrheit für einen Straftatbestand gibt - oder jedenfalls gegeben hat - , unter den sich die in Rede stehende Handlung sub61

In diese Richtung Naucke, Die Aushöhlung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit, in: Institut ßr Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 483, der allerdings nicht von „Rechtsgut", sondern von „S\i2&gesetzlichkeit" spricht, die nur das enthalten dürfe, was , jedem Bürger eines Staates unabdingbar wichtig ist, gleichgültig, welches politische System herrscht" (S. 485). 62 Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 169. 63

Grundlegend Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten,

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Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 227 f.; Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 112ff.; Lampe, FS f. Welzel, 1974, S. 151 (156, 163 f.); M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 87 f.; Naucke, StrR, 8. Aufl. 1998, § 6 Rn. 73 f.; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 15; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 178. 65 Vgl. hierzu nur Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 18,20 m. w. N. 66 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 40 (ähnlich: 133).

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sumieren läßt. Hassemer beobachtet die gesellschaftliche Realität also durchaus zutreffend, wenn er schreibt: „Menschliches Verhalten ist immer nur im Kontext jeweils wirksamer gesellschaftlicher Reaktions- und Bewertungsmechanismen ... kriminelles Verhalten." 67 Wichtige Faktoren für den gesellschaftlichen Reaktionsund Bewertungsmechanismus seien die Häufigkeit, in der das fragliche Verhalten auftrete, der Grad, in dem die Bevölkerung über das Verhalten informiert sei und es als problematisch wahrnehme sowie der aktuelle Stellenwert des durch das Verhalten beeinträchtigten gesellschaftlichen Gutes. Die Bereitschaft, ein gesellschaftliches Gut zum strafrechtlichen „Rechtsgut" zu erheben, hänge aber in erster Linie davon ab, wie sehr sich eine Gesellschaft aufgrund der genannten Faktoren ernsthaft „bedroht" fühle. 68 In dieser Allgemeinheit scheinen die Ausführungen Hassemers auf ein vereinfachtes sozialwissenschaftliches Modell der gesellschaftlichen Verständigung über „Rechtsgüter" hinauszulaufen. Aber die Absicht zielt tiefer - eben auf die von der „reinen" personalen Rechtsgutslehre bisher nicht erfaßten Sonderfälle. Hassemer will nämlich unter den im gesellschaftlichen Prozeß zu „Rechtsgütern" verdichteten „Bedrohungsgefühlen" nicht lediglich diejenigen anerkennen, die auch der nüchternen Prüfung anhand normativer Kriterien insofern standhalten, als sie sich auf den Schutz eines Individualinteresses zurückführen lassen. Er will auch solche Strafbestimmungen durchgehen lassen, die ausschließlich dem gesellschaftlichen „Tabuschutz" dienen.69 Wo nachweislich ein Tabu existiere, schreibt Hassemer, sei es keineswegs irrational, diese gesellschaftliche Werterfahrung mit strafrechtlichen Mitteln zu schützen, irrational wäre es vielmehr, die gesellschaftliche Realität hartnäckig zu ignorieren. Wenn sich beispielsweise eine Mehrheit durch das Verbrennen der Bundesflagge - sei es auch aufgrund irrationaler Mechanismen - in ihrem Vertrauen in den Staat erschüttern lasse, entstehe im Ergebnis eine reale Gefahr. Und am Ende der Ursachenkette stünden dann, das dürfe man nicht übersehen, personale Rechtsguts Verletzungen. Rationale „Rechtsgüterpolitik" dürfe daher in diesem Fall nicht die augenblickliche Abschaffung der Strafnorm (§ 90a StGB) fordern, sondern müsse zunächst einmal durch Tabu-Abbau die unerwünschte Strafbarerklärung obsolet machen, indem sie das Vertrauen der Bürger in den Staat „auf eine neue, verläßlichere, rationale Grundlage" stelle. Gelinge das, entfalle zugleich der Sinn der Flaggenverbrennung, weil es dem Täter offensichtlich nicht um schlichte Sachbeschädigung, sondern um einen Angriff auf den Staat mit dem Mittel der Symbolverletzung gehe.70 - Man nimmt keineswegs die Pointe vorweg, wenn man Hassemers Erweiterung der personalen Rechtsgutslehre als für die 67

Hassemer, a. a. O., S. 143.

« Hassemer, a. a. O., S. 147 ff., 158 f.; ähnlich Lampe, FS f. Welzel, 1974, S. 151 (163). 69 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 168. Im einzelnen falle darunter der Schutz der Staatssymbole, § 90a StGB (S. 173 ff.), der Umgang mit Toten, § 189 StGB (S. 175 ff. [185]) und das Sexualtabu (S. 189). Krit. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 124 in Fn. 28. 70 Hassemer, a. a. O., S. 242 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens nicht ganz unerheblich bezeichnet. Denn auch das Auschwitz-Leugnen läßt sich als Tabuverletzung deuten, die nicht lediglich auf die „historische Wahrheit", sondern möglicherweise viel tiefer zielt, nämlich auf den Basiskonsens der deutschen Gesellschaft der Gegenwart. 71

I I I . Zusammenfassung und Stellungnahme Führt man die (personale) Rechtsgutslehre auf ihren Kern zurück, so geht es darum, einen universal verwendbaren und verbindlichen Maßstab für „richtige" Strafgesetze zu finden. Dieser Anspruch ist natürlich nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Man kann sagen, daß die Renaissance der Rechtsgutslehre eine fast schon verzweifelte Reaktion auf die „moderne" kriminalpolitische Tendenz ist, gesellschaftlichen Problemlagen mit zunehmendem, ja bisweilen ausuferndem Einsatz immer neuer Strafbestimmungen zu begegnen.72 Daß es diese Tendenz gibt, liegt ebenso auf der Hand wie die hierfür maßgeblichen Gründe: Strafrecht sei, hat Lagodny stellvertretend für viele andere geschrieben, politisch bequem, es suggeriere Aktivität, sei scharf und zugleich (vermeintlich) kostenneutral. 73 Aufgrund des angesichts zunehmender gesellschaftlicher Komplexität verständlichen Strebens nach Sicherheit in der Unsicherheit wird das Strafrecht immer mehr zu einem flankierenden Steuerungsinstrument für die unterschiedlichsten politischen Zwecke. 74 Hinzu kommt die verbreitete Neigung des Sicherheitsbedürftigen, in Bezug auf unerwünschtes Verhalten zu fordern, man solle bereits „den Anfängen wehren". 75 Da die Strafbarkeit verbrecherischer Gesinnungen aus naheliegenden Gründen ausscheidet,76 knüpft man statt dessen an die erste greifbare Handlung 71 Ebenso v. Bubnoff, ZRP 1982, 118 (120) („Grundlagen der... Verfassungsordnung"). 72 R-A. Albrecht, Das Strafrecht im Zugriff populistischer Politik, in: Institutßr Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 429 (435 f.). 73 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 2. 74 Ein Auslöser der Diskussion war das Buch des Soziologen U. Beck, Risikogesellschaft, 1986. Zu den kriminalpolitischen Entwicklungen und Tendenzen aufgrund der „modernen Lebensrisiken": P.-A. Albrecht, KritV 1988, 182 (183 ff.); Hassemer, NStZ 1989, 553 (557 f.); Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 28 m. w. N. in Fn. 34. 75 W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 99. 76 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 321: „Das Verbot allein des auf aktives Tun gerichteten 'bösen' Gedankens ist verfassungswidrig." Für Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 264 ff. zielt ein Anknüpfen an die „Tätergesinnung" auf den „Kern eines liberalen Strafrechts" (S. 267). F.-C. Schroeder, Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 297: „Eine Gesinnungsabwehr ... ist ... für ein rechtsstaatliches Strafrecht untragbar". Schon Ulpian, Digesten, 48, 19, 18 schrieb: „cogitationis poenam nemo patitur" (die Gedanken sind straffrei) bzw. in einer anderen Fassung des gleichen Gedankens: „de internis non judicat praetor" (über innere Vorgänge urteilt kein Richter); vgl. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 5. Aufl. 1991, S. 40 (Nr. 38) bzw. S. 54 (Nr. 19).

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an, die auf eine entsprechende subjektive Zielrichtung des Handelnden schließen läßt. Das Ergebnis ist die ständige Zunahme von konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten, also eine Vorverlagerung des strafrechtlichen Zugriffs ins „Vorfeld" einer manifesten Rechtsgutsverletzung.77 Angesichts dieser Situation besteht eine Möglichkeit für den Strafrechtler darin, sich auf die praxisorientierte Kommentierung neu entstandener Vorschriften zu beschränken. Wer sich - sei es aus pragmatischer Überzeugung, sei es aus Resignation78 - für diesen Weg entscheidet, kommt mit einem systemimmanenten Rechtsgutsbegriff mühelos zurecht. Der Weg der personalen Rechtsgutslehre mit ihrem „kritischen", systemtranszendenten Rechtsgutsbegriff ist ein grundsätzlich anderer. Ihr geht es um die Verteidigung eines rechtsgüterschützenden Kernstrafrechts gegen die Zumutungen der Tagespolitik. Die personale Rechtsgutslehre hat vorrangig eine „negative Funktion", 79 sie ist ihrem ursprünglichen Charakter nach defensiv. Daß man das Grundmuster aber auch „umdrehen" und damit neue oder weitergehende Pönalisierungen begründen kann, haben beispielsweise die Abtreibungsentscheidungen des BVerfG gezeigt.80 Auf die sich daraus ergebende Fragestellung, ob es auch andere Situationen geben könne, in denen der Gesetzgeber über den ausdrücklichen Verfassungsauftrag des Art. 26 Abs. 1 GG (Verbot des Angriffskriegs) hinaus verpflichtet sei, zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes eine Strafnorm zu schaffen, 81 braucht im hier interessierenden Zusammenhang nicht 77 Überblick bei Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 26ff. m. w. N. Vgl. ferner Amelung, ZStW 92 (1980), 19 (31, 60); Dencker, StV 1988, 262 (263); Hassemer, NStZ 1989,553 (558); Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (752 f.). 78 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 25. Polternder Tadel bei Naucke, Die Aushöhlung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 483 (486), der hinter dieser Haltung fehlende „Anstrengung" und „intellektuelle Kraft" vermutet. In die gleiche Richtung ders., JuS 1989, 862 (865): „Der moderne Strafjurist hat ein strategisches Verhältnis zum Gesetz." 79 Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 174. Ebenso Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 51 („Abwehrinstrument gegen den normsetzenden Staat"); Naucke, JuS 1989, 862 (867) („prinzipielles Mißtrauen gegenüber demjenigen, der Strafrecht schaffen kann"). 80 BVerfGE 39, 1; 88, 203. Grundsatzkritik bei Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 163 ff. („in ihr Gegenteil verwandelt"). Detailkritik bei Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 167, 271 f. Auf die mit der Konzentration auf den Rechtsgüterschutz verbundene Gefahr hat schon Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (752) hingewiesen, der schreibt, das Prinzip verführe „zur Gläubigkeit an die Legitimation all dessen, was mit dem Rechtsgutsbegriff in einen positiven Zusammenhang gebracht werden kann". In die gleiche Richtung Vogel, StV 1996, 110 (114). 81 Zur völkerrechtlichen „Strafpflicht" von Nationalstaaten vgl. nur K. Ambos, Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen, Freiburg 1997, S. 163 ff., 203 m. w. Ν. Allgemein zum Pönalisierungsgebot zugunsten hochwertiger Rechtsgüter Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie, 1984, S. 50 ff. m. w. N. Eher skeptisch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 68 f., 164 (Fn. 485); Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 254ff.; Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 36 f.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

näher eingegangen zu werden. Von Bedeutung ist hingegen die Frage, ob es sich bei der Forderung der personalen Rechtsgutslehre, ein Straftatbestand, der sich nicht - wenn auch vermittelt - durch den Schutz eines Individualinteresses legitimieren könne, dürfe nicht angewendet werden und müsse so rasch als möglich aus dem Strafgesetzbuch verschwinden, um eine juristisch verbindliche Forderung handelt. Daß es dem Anspruch der systemkritischen Rechtsgutslehre entspricht, sich für verbindlich zu erklären, wurde schon gesagt. Fraglich ist nur, ob sich dafür eine hinreichende Begründung finden läßt. Bei einigen Autoren klingt an, nur ein Strafrecht, welches den Anforderungen der personale Rechtsgutslehre gerecht werde, entspreche auch den Vorgaben des Grundgesetzes.82 Es ist ohne sorgfältige Überprüfung anhand konkreter Fallbeispiele nicht zu sagen, ob diese Behauptung ausnahmslos zutrifft. 83 Allenfalls eine deutlich eingeschränktere These läßt sich aus dem bisher Gesagten ableiten: Wenn für den Fall, daß jemand die durch einen Straftatbestand verbotene Handlung ausführte, mit der Verletzung oder Gefährdung eines personalen Rechtsguts zu rechnen wäre, kann der Gesetzgeber mit der Schaffung dieser Strafvorschrift keinen Verfassungsverstoß begangen haben.84 Damit ist aber umgekehrt keineswegs gesagt, daß ein Straftatbestand, für den der Nachweis, er schütze ein personales Rechtsgut, trotz aller Anstrengungen nicht gelingt, ausnahmslos von Verfassungs wegen unzulässig sein müßte. Eine bereits an dieser Stelle vorgenommene Festlegung in der Frage nach der umfassenden Gültigkeit der personalen Rechtsgutslehre wäre daher einigermaßen willkürlich, trüge bekenntnishafte Züge und könnte sich vor allem als vorschnell erweisen. 85 Auch geht es hier weder um die prinzipielle Richtigkeit oder Unrichtigkeit strafrechtlicher Grundsatztheorien, noch um die endgültige Entscheidung eines „Schulenstreits". In dieser Untersuchung geht es primär um die Frage, wie es sich mit der Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens verhält. Insofern steht nicht das ganze Spektrum denkbarer menschlicher Handlungen in Rede, sondern es geht ausnahmslos um (mündliche oder schriftliche) Äußerungen. Im engeren Bereich der Äußerungs- bzw. Kundgabedelikte wäre es aber nicht überraschend, erwiesen sich am Ende die Vorgaben der personalen Rechtsgutslehre nicht lediglich als „strafrechtliches Gütesie82 Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 65, 70ff.; Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 36, eher verwirrend S. 44f.; M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut4, 1972, S. 38 ff.; Rudolphi, FS f. Honig, 1970, 151 (166 f.). 83 Ablehnend Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 376; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 50, 144 m. w. N. Vorsichtig Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 65, 233; Vogel, StV 1996, 110 (115). Zum Verfassungsrecht ausführlich unten Vierter Teil, S. 275 ff. 84

Diese These geht vom Bestehen der hergebrachten Notwehr- und Notstandsvorschriften aus, so daß die Unterlassung der tatbestandsmäßigen Handlung bzw. die Vornahme der gebotenen Handlung nicht auch um den Preis der Aufopferung höherwertigerer eigener Rechtsgüter gefordert wird. 85 In diesem Sinne auch Roxin, StGB AT Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 16: „Der Rechtsgutsbegriff hat sich ... im Besonderen Teil zu bewähren44.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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gel" für zu erwartende Verfassungskonformität, sondern als von der Verfassung gefordert. Das weitere Vorgehen ist nun vorgezeichnet. Bei der Auslegung der Beleidigungs- und Volksverhetzungsvorschriften im Blick auf den Anwendungsfall „Auschwitz-Leugnen" wird das Augenmerk stets darauf zu richten sein, ob das Ergebnis auch mit den Vorgaben der personalen Rechtsgutslehre zu vereinbaren ist. Es läßt sich absehen, daß schon die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale von der Suche nach personalen Rechtsgutsverletzungen nicht unbeeinflußt bleiben wird. 86 Ein solches Vorgehen hat den Vorteil, daß man sich am Ende sicher sein kann, den Problemfächer in ganzer Breite entfaltet zu haben. Man läuft dann auch keine Gefahr, sich bei der Normanalyse aus Bequemlichkeit mit diffusen „Zwischen·", „Universal-" oder „Auffangrechtsgütern" zufrieden zu geben,87 obwohl sich mit der gebotenen Anstrengung ohne weiteres der Bezug zu „klassischen" Rechtsgütern des Individuums herausarbeiten ließe.

B. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens I . Beleidigung (§§ 185 ff. StGB) Der ganze 14. Abschnitt des Strafgesetzbuchs ist mit Beleidigung" überschrieben - aber auch § 185 StGB, der innerhalb des so bezeichneten Abschnitts steht. Insofern ist es ungenau, wenn man einfach danach fragt, ob es sich beim Auschwitz-Leugnen um „eine Beleidigung" handelt. Vielmehr ist präziser zu fragen, ob die drei Erscheinungsformen 88 des Auschwitz-Leugnens den Tatbestand der Beleidigung i.e.S. (§ 185 StGB) erfüllen oder ob es zwar um Beleidigung i.w.S. geht, genauer gesagt aber um Üble Nachrede (§ 186 StGB) bzw. Verleumdung (§ 187 StGB).

1. Geschütztes Rechtsgut Die Beleidigungstatbestände (§§ 185 ff. StGB) schützen - mit Ausnahme des § 189 StGB 89 - die Ehre. Die Ehre ist ein personales Rechtsgut, weil sie - abge86 Das zeigt sich ζ. B. deutlich bei Gallas, FS f. Heinitz, 1972, S. 171 (181 f.); Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 36 f.; Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 185 f. 87 Baumann/Weber/Müsch, StrR AT, 10. Aufl. 1995, § 3 Rn. 14. 88 Siehe oben Erster Teil, C. II. 1.-3., S. 98 f. 89 § 189 StGB schützt nach h.M. das Pietätsgeßhl der Angehörigen (bzw. der Allgemeinheit): Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 175 ff. (185); Lackner/ Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 189 Rn. 1; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 13, § 25 Rn. 37 f.; E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (904). Für die 12 Wandres

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sehen vom noch gesondert zu behandelnden Problemkreis „Kollektivehre" - nur Individuen zukommt. 90 Daher kann es an dieser Stelle keinen grundsätzlichen Streit zwischen der hergebrachten systemimmanenten und der „kritischen" Rechtsgutslehre geben. Differenzen sind allenfalls bei der genaueren Bestimmung dessen denkbar, was vom Rechtsgut „Ehre" im einzelnen erfaßt ist. Was aber ist die Ehre? Trotz jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung91 hat sich ein allgemein anerkannter Begriff bisher nicht herausgebildet, und auch von einem gesellschaftlichen Konsens kann keine Rede sein. 92 TenckhoffhdX bereits in seiner in den siebziger Jahren erschienenen Monographie über sechzig verschiedene Ehrbegriffe gezählt.93 Statt einer detaillierten Auseinandersetzung genügt für unseren Zusammenhang eine vereinfachte Darstellung, welche die wichtigsten Grundlinien der Kontroverse um den Ehrbegriff nachzeichnet. Was ein juristischer Begriff taugt, zeigt sich besonders deutlich an seiner Abschichtungsleistung im Grenzbereich des einschlägigen Fallmaterials. Das Auschwitz-Leugnen markiert, zumindest in seiner Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision), einen solchen Grenzbereich. Zielt jemand, der die historischen Tatsachengrundlagen von Opferschicksalen im Dritten Reich ganz allgemein bestreitet, auf die Ehre individueller Opfer und ihrer Nachkommen? Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, muß man zunächst klären, wie das Angriffsobjekt, die Ehre, beschaffen ist. Die meisten Abhandlungen zum Thema Ehre und Beleidigung beginnen mit dem Hinweis, es gebe einen Grundsatzstreit zwischen „faktischen" und „normativen" Begriffsbildungen.94 Außerdem gebe es noch die Kategorien „äußere" und „innere" Ehre als Rechtsgut auch des § 189 StGB: Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 125; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 121 m. w. N. Vorzugswürdig ist die vermittelnde Ansicht, der zu Lebzeiten bestehende Anerkennungs- und Achtungsanspruch, welcher aus der Ehre als einem Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fließt, bestehe - wenn auch modifiziert über den Tod hinaus fort: BVerfGE 30, 173 (194); BGHSt 40,97 (105) m. w. N.; Hunger, Das Rechtsgut des § 189 StGB, 1996; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 189 Rn. 1; Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 38 in Fn. 101, S. 46 f. Eine Kombination aus der zuerst und zuletzt genannten Ansicht vertreten Tröndle /Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 189 Rn. 1. Wiederum anders Jakobs, FS f. Jescheck, 1985, S. 627 (637), für den der Unrechtskern in der „Mißachtung des öffentlichen Interesses" an „korrekter informeller Zurechnung" besteht. w Jakobs, FS f. Jescheck, 1985, S. 627 (628 ff.) sieht neben der Person zugleich ein öffentliches Interesse am Schutz „gegen Verfälschung der informellen Zurechnung" betroffen. Ähnlich Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 188 ff., zusf. 268, der Verletzungen des persönlichen „Achtungsanspruchs ... zugleich als Angriff auf die Existenzgrundlagen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats" einordnet. Den personalen Aspekt bekräftigt F.-C. Schroeder, JR 1979, 89 mit der Erwägung, hinter der Ehre stehe „das Rechtsgut... der psychischen Gesundheit". Aus historischer Perspektive krit. gegenüber einer Aufladung des Ehrenschutzes durch Gemeinschaftsinteressen: Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 125 f. m. w. N. („völkisches Rechtsgut"). Einen Überblick gibt Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 32 ff. 92 Findeisen/Hoepner/Zünkler, ZRP 1991, 245 (246). 93 Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 35 ff. m. w. N.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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Ehre. 95 Flankierend wird auf den Umstand hingewiesen, die „wahre" Ehre eines Menschen werde durch die Äußerung eines schnöden Ehrabschneiders ohnehin nie tangiert. 96 Insofern könne es bei den Beleidigungstatbeständen allenfalls darum gehen, daß der aus der Ehre ableitbare Anspruch des Individuums, eine dem persönlichen Ehrbestand entsprechende gesellschaftliche Behandlung zu erfahren, nicht eingelöst werde. Daher beschädige die beleidigende Äußerung bei genauer Betrachtung nicht die Ehre, sondern das soziale „Anerkennungsverhältnis". 97 Da alle diese Aspekte jeweils für sich etwas Richtiges enthalten, ist die Versuchung groß, sie kurzerhand zu einem vermittelnden Ehrbegriff zu integrieren. Ein solcher Kompromiß mag im Ergebnis unvermeidlich sein. Trotzdem lohnt es sich, seine Voraussetzungen noch einmal im einzelnen zu durchdenken.

a) Handlungs- und Verletzungsobjekt Fangen wir mit dem letztgenannten Aspekt an: Daß „die Ehre" - wie auch immer sie beschaffen sein mag - als solche nicht beeinträchtigt werden könne, ist aus geistig-philosophischer Perspektive so richtig wie unspektakulär. Es handelt sich strukturell um die gleiche Problemkonstellation, die schon beim Rechtsgut eine Rolle spielte.98 Die Kontroverse dreht sich letztlich um die treffende Unterscheidung zwischen Handlungs- und Verletzungsobjekt. 99 Auch bei anderen Rechtsgütern als der Ehre erfolgt der Angriff am konkreten Handlungsobjekt nicht immer in der Weise, daß das darin verkörperte Gut konkret in Mitleidenschaft gezogen würde. So läßt beispielsweise ein Diebstahl (§ 242 StGB) das Eigentum an der fremden beweglichen Sache völlig unberührt, und die Tat schränkt wegen des Besitzverlustes nur den aus § 903 BGB fließenden Anspruch des Eigentümers ein, mit der betreffenden Sache nach Belieben zu verfahren. Gleichwohl ist man sich 94 Arzt, JuS 1982, 717 m. w. N.; Engisch, FS f. Lange, 1976, S. 401 (417); Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 43; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 1; Maurach/Schweder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 2. Krit. zu dieser Differenzierung, die „zu mancherlei Mißdeutungen Anlaß" gebe, Tenckhoff, JuS 1988, 199 (202). 95 Arzt, JuS 1982, 717; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 1; Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (825, 827); Tenckhoff, JuS 1988, 199 (202); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 185 Rn. 2. 96 Gornig, JuS 1988, 274 (278); Herdegen, in: LK 10. Aufl, § 185 Rn. 1; Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 178 f. Dazu spöttisch Arzt, JuS 1982, 717 in Fn. 7: Der Gedanke werde „in der Literatur mit viel Kunst aufgebauscht". 97 W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 186; Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (430f.); Köhler, NJW 1985,2389 (2390); Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 65 f., 104f.; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 1; Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 21; Tenckhoff, JuS 1988, 199 (203); E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (899); Zaczyk, in: NK, vor § 185 Rn. 1,5 m. w. N. 98 Siehe oben Dritter Teil, Α. II., S. 167 f. 99 E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (889). 12'

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einig, daß das durch den Diebstahlstatbestand geschützte Rechtsgut das Eigentum ist. Insofern ist es richtig, wenn die tatsächliche Wirkung eines Ehrangriffs darin gesehen wird, daß durch ihn das eigentlich geschuldete Anerkennungs- bzw. Achtungsverhältnis zwischen freien und gleichen Bürgern in Mitleidenschaft gezogen, die Ehre „an sich" aber nicht verletzt werde. Es ist also nicht erforderlich, daß man im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen sagen könnte, der Ehrbestand eines Menschen jüdischer Abstammung oder Angehörigen einer anderen Opfergruppe des nationalsozialistischen Völkermordes sei durch eine solche Äußerung gemindert worden. Der Ehrbestand kann durch fremde Äußerungen ohnehin nicht gemindert werden, sondern nur durch eigenes zurechenbares Verhalten des Ehrträgers selbst. 100 Allenfalls kann es also um die Frage gehen, ob durch die mit dem Auschwitz-Leugnen verbundenen Behauptungen die ungestörte Geltendmachung des aus dem vorhandenen Ehrbestand fließenden Anerkennungs- bzw. Achtungsanspruchs gegenüber der Gesellschaft 101 beeinträchtigt wird. Mit dieser Klarstellung im Hinterkopf kann man ohne Einbuße an juristischer Genauigkeit davon sprechen, den Beleidigungstatbeständen (§§ 185 ff. StGB) gehe es um den Schutz des Rechtsguts „Ehre". b) Inhaltsbestimmung Es bleibt die Frage: Was ist die Ehre? Die Antwort fällt deshalb nicht leicht, weil erstens - was üblich ist - die Meinungen auseinandergehen und zweitens - und das macht die Sache schwierig - über den Kreis der Fachwissenschaft hinaus jeder meint, bei diesem Thema mit Anspruch auf Verbindlichkeit mitreden zu können. 102 Beim Eigentum ist das anders. Da räumt der Laie normalerweise ein, es sei Sache der Rechtsordnung, im einzelnen zu bestimmen, was unter Eigentum zu verstehen und in welchem Umfang das in der Lebenswirklichkeit Vorfindbare normativ zu schützen ist. 1 0 3 Die Schwierigkeiten, den Ehrbegriff in allgemein akzeptierter Weise zu bestimmen, haben ihre Wurzeln darin, daß kaum ein Rechtsgut einem so tiefgreifenden historischen und kulturellen Wandel ausgesetzt war wie die Ehre. 104 100 v. der Decken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz, 1980, S. 185; Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (430). Diesen Umstand bringt Jakobs, FS f. Jescheck, 1985, S. 627 (638) auf die griffige (ansonsten aber zu enge) Formel: „Ehre ist Zurechenbarkeit als verdienstlich". 101 Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 178 f. spricht in diesem Zusammenhang von der „Chance" auf „Umsetzung in Persönlichkeitsentfaltung". 102 Engisch, FS f. Lange, 1976, S. 401 (409). Das führt dann zu „Aphorismen zur Lebensweisheit" à la Schopenhauer (gleichnamiges Werk, Kap. IV, Von dem, was einer vorstellt, in: Deussen [Hrsg.], Sämtliche Werke IV, 1913, S. 400): „Die Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserem Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung." 103 So sieht es auch Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich vor, der seine Begrenzung lediglich in Art. 19 Abs. 2 GG findet. 104

Zur Geschichte des Ehrbegriffs vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 4 m. w. N.

StrR BT Teil-

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Der überkommene Ehrbegriff ist eng mit einer ständisch gegliederten Gesellschaftsordnung verknüpft. Mit Etablierung des bürgerlichen Gleichheitspostulats ist eine komplette Dimension des ursprünglichen Begriffsrahmens obsolet geworden. 105 Eine weitere Dimension, die bis heute fortlebt, ist die stillschweigende Bezogenheit der Ehre auf außerrechtliche Vorstellungen, wie Sitte und Anstand. 106 Man erwartet vom anderen stillschweigend ein bestimmtes, an den jeweiligen sozialen Verkehrskreis angepaßtes Verhalten. Bleibt das erwartete Verhalten aus oder geschieht gar das glatte Gegenteil, ist man gekränkt. Diese menschliche Reaktion lenkt den Blick auf die letzte, vielleicht problematischste Dimension der Ehre, nämlich auf das emotionale Element. Zwischen dem Gefühl, herabgesetzt worden zu sein und der nach (weitgehend) rationalen Gesichtspunkten gezogenen Schlußfolgerung, man habe eine Ehrkränkung erlitten, sind die Übergänge fließend. 107 Keinesfalls darf aber eine Rechtsordnung, die den Anspruch auf gesellschaftliche Steuerung nicht aufgeben will, dieses emotionale Potential einfach ignorieren. 108 Denn selbst wenn sich individuelle psychische Befindlichkeiten nicht leichthin durch abstrakte Rechtsbegriffe erfassen lassen, ist nicht von der Hand zu weisen, daß sie in der sozialen Realität ganz erhebliche Wirkung entfalten.

aa) Schwerpunkt im Faktischen Insofern ist es nicht verwunderlich, daß ein „faktischer" Ehrbegriff eine gewisse Überzeugungskraft hat. 1 0 9 Der faktische Ehrbegriff orientiert sich ganz pragmatisch am Beobachtbaren und ist ein naher Verwandter des oft bemühten „Rechtsgefühls". Würde man aber sämtlichen individuellen Ehrempfindungen gleichberechtigt Raum geben, verflüchtigte sich das rechtlich Verbindliche rasch im Beliebigen. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: Erstens ist der Fall denkbar, daß jemand einen unverdient guten Ruf genießt. Jede Enthüllung der wahren Sachlage führte in einem solchen Fall zu einer Minderung des sozialen Ansehens und damit zugleich zu einer Minderung der nach rein faktischen Kriterien bestimmten Ehre dieser Person. Zweitens ist es nicht ausgeschlossen, daß jemand überempfindlich auf Äußerungen reagiert, die durchschnittlich robuste Naturen sich nicht weiter zu Herzen nehmen würden. In beiden Fällen muß man, will man überzeugende Ergebnisse erzielen, den empirischen Befund für juristisch unerheblich erklären, daß sich 105 Diesen inneren Zusammenhang hat schon Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika (Reclam-Ausgabe 1985, S. 282) gesehen: „So haben ... Unähnlichkeit und Ungleichheit unter den Menschen die Ehre geschaffen; je geringer diese Verschiedenheiten werden, desto schwächer wird die Ehre, und mit ihnen würde sie ganz verschwinden."

ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 51,58, 89, 161; Maurach/Schroeder/ Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 7 ff. 107 Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (7) schreibt, oft fühle sich der Mensch schon „dadurch beleidigt, daß jemand dem, was er selbst für richtig hält, widerspricht". 108

Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 242. 109 Ablehnend Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (428 ff.).

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der jeweilige Betroffene in seinem psychischen Wohlbefinden nach Maßgabe seines selbst definierten sozialen Geltungsanspruchs beeinträchtigt fühlt. Im ersten Fall wird man das gewünschte Ergebnis mit der normativen Erwägung begründen, das Strafrecht dürfe nicht zum Schutz eines unverdient guten Rufes aufgeboten werden, weil die Gesellschaft ein legitimes Interesse an der Aufdeckung jeder Form von Hochstapelei habe. 110 Im zweiten Fall wird man darauf abheben, individuelle, vom gesellschaftlichen Durchschnitt deutlich abweichende Überempfindlichkeiten dürften nicht zu Lasten des Äußernden gehen. In beiden Fällen sieht man sich also veranlaßt, zu einem vom Faktischen unabhängigen Korrektiv zu greifen. Man erhält dann einen normativ korrigierten Ehrbegriff auf faktischer Grundlage, kurz gesagt: einen faktisch-normativen Ehrbegriff.

bb) Schwerpunkt im Normativen Mit Hilfe einer entgegengesetzten Schwerpunktsetzung kann man den Standpunkt vertreten, für juristische Zwecke könnten empirisch feststellbare Befindlichkeiten des Publikums keine ausschlaggebende Rolle spielen. Für die Ehre komme es daher nicht auf das „Volksempfinden", sondern auf eine normative, eine wertende Begriffsbildung an. 111 Auf diesem Standpunkt steht auch - überwiegend unausgesprochen - das Bundesverfassungsgericht. 112 Das Problem liegt aber darin, daß sich über den präzisen Inhalt eines normativen Ehrbegriffs eine theoretisch unendliche Diskussion führen läßt. 113 Bei einem Thema wie der Ehre ist die Aussicht gering, daß sich im umstrittenen Grenzbereich allseitiger Konsens einstellt. Das zeigt sich eindrucksvoll an der Struktur der Kritik, die im Schrifttum an dem Ehrbegriff geübt wird, den das BVerfG seiner Rechtsprechung zugrunde legt. Von diesem Begriff heißt es in den Stellungnahmen mancher Kritiker, es gebe ihn gar nicht, Ehrenschutz finde nämlich nicht statt. 114 Diese Behauptung ist in der Haupt»o Tenckhoff,

JuS 1988, 199(202); 1989, 35.

m U.a. Gornig, JuS 1988, 274 (278); Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967; Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (430); Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 104f.; Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 183 ff., 187; Otto, JR 1983, 1 (2 f.); Tenckhoff, JuS 1988, 199 (203 f.). 112 Das wird deutlich in BVerfGE 54, 148 (154), wo die Frage einer Ehrkränkung nicht lediglich unter Bezugnahme auf Art. 5 Abs. 2 GG, sondern am Maßstab des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) herausgearbeitet wird. Einen ausführlichen Überblick über die Ehrenrechtsprechung des BVerfG gibt Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 66 ff. ι 1 3 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 237 f.; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 154 („prinzipiell grenzenlos"). 114 Grasnick, Urteilsanm., JR 1995, 162; Isensee, AfP 1993, 619 (620); Kiesel, NVwZ 1992, 1129 (1133); Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: HdbStR, Bd. V, 1992, S. 101 (133, Rn. 64); ders., NJW 1994, 1897; Redeker, NJW 1993, 1835 (1836); Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873 (876, 878) (,Privilegierung der Rücksichtslosen"); Sendler, NJW 1993, 2157; ders., ZRP 1994, 343; Stark, JuS 1995, 689 (692) (jeweils

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sache reine Polemik. 115 Natürlich gibt es einen verfassungsrechtlichen Ehrbegriff, nur ist dieser normative Ehrbegriff in der Ausformung durch das BVerfG erheblich enger, als ihn die Kritiker dieser Rechtsprechung gerne hätten. Bei allem Streit im Detail darf aber nicht vergessen werden, daß man sich über den Mindestbestand eines normativen Ehrbegriffs völlig einig ist: Der Kernbestand der Ehre ist die Menschenwürde. 116 Was Menschenwürde ist, läßt sich anhand tatsächlicher Gegebenheiten nicht bestimmen. Ganz im Gegenteil: Die empirisch beobachtbare, bis in die Gegenwart immer wiederkehrende alarmierende Mißachtung der Menschenwürde in vielen Teilen der Welt kann gerade kein Argument dafür sein, die Würde des Menschen gebe es in Wahrheit nicht. Die Festlegung, daß jedem Menschen schon alleine wegen seines Menschseins Würde zukomme, ist eine normative Bestimmung reinsten Wassers. Es handelt sich um den denkbar klarsten Fall eines aus dem empirischen Sein nicht ableitbaren Sollen-Satzes. Daß es dem Grundgesetz mit diesem Sollen-Satz ernst ist, zeigt sich daran, daß es ihm einen Platz an herausgehobener Stelle einräumt, nämlich in Art. 1 Abs. 1 GG. 1 1 7 Der Kern des normativen Ehrbegriffs ist also hart - aber er ist zugleich relativ klein. Wenn man das Prinzip der Menschenwürde nicht im Alltag zur „kleinen Münze" verkommen lassen will, 1 1 8 kann sich ein ausschließlich aus der Menschenwürde abgeleiteter Ehrbegriff nur den allergröbsten verbalen Angriffen auf das Individuum entgegenstellen. Insofern besteht ein unabweisbares Bedürfnis nach einer gewissen Erweiterung des auf diese Weise gewonnenen normativen Ehrbegriffs. Der endgültige Ehrbegriff muß zusätzlich zur Menschenwürde dasjenige Mindestmaß an faktischer gesellschaftlicher Anerkennung einbeziehen,119 das erfahrungsgemäß kein Mensch entbehren kann, ohne daß dadurch sein Zusammenleben mit anderen gestört oder die Entfaltung seiner Persönlichkeit behindert wird. 1 2 0 Man erhält auf diese Weise eim. w. N.). Moderater Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 109, 119 f., zusf. 264 f., der die Kritik an der Rspr. aber grundsätzlich für berechtigt hält. Ähnlich Otto, Urteilsanm., JR 1994, 473 (475); Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 37. H5 in diesem Sinne Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 115 (»/einer Unmut", „Unzufriedenheit mit den Abwägungsergebnissen"). Das BVerfG verteidigen u. a. Grimm, ZRP 1994, 276; ders., NJW 1995, 1697; Schulze-Fielitz, Urteilsanm., JZ 1994, 902 (905); Soehring, NJW 1994, 2626; Wiegandt, KritV 1997, 19. 116 v. der Decken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz, 1980, S. 159; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 44, 177 f. („konstanter Ehrfaktor"); Isensee, AfP 1993, 619 (626); Kiesel, NVwZ 1992, 1129 (1130); Kriele, NJW 1994, 1897 (1898); Makkeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 177 f., 218; G. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 14f.; Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95 (99); ders., NJW 1996, 873 (876); Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (825); Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 178 f.; Tettinger, JZ 1983, 317 (318, 320); Timm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 1996, S. 126. Krit. Jakobs, FS f. Jescheck, 1985, S. 627 (639); ders., StV 1994,540 (541). n ? Zusätzlich normativ abgesichert durch Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG. us Davor warnt Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 29 m. zahlr. Bsp. in Fn. 1. 119 A.A. Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 5, welche die erforderliche Erweiterung auf normativer Grundlage vollziehen.

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nen anhand faktisch orientierter Erwägungen erweiterten Ehrbegriff auf normativer Grundlage, kurz gesagt: einen normativ-faktischen Ehrbegriff. cc) Integration der beiden Aspekte des Ehrbegriffs Beide Aspekte des Ehrbegriffs, der faktische und der normative, sind je für sich essentiell.121 Der materielle Gehalt des Ehrbegriffs wird nur dann ausgeschöpft, wenn sich darin sowohl die Wertschätzung, die ein konkreter Mensch in den Augen anderer genießt, als auch sein sittlich-personaler Wert angemessen widerspiegeln. 122 Daher ist die gleichberechtigte Integration beider Aspekte durchaus kein fauler, sondern ein in der Sache notwendiger Kompromiß. In welchem Verhältnis steht hierzu die eingangs genannte Unterscheidung zwischen „äußerer" und „innerer" Ehre? Es spricht alles dafür, daß bei Durchführung dieser unverkennbar naturalistischen Differenzierung nichts anderes als Komplementärkategorien zur faktischen und normativen Ableitung des Ehrbegriffs entstehen.123 So verstanden besteht die äußere Ehre in der Anerkennung der Lebensleistung und der Charaktereigenschaften eines Menschen, soweit hiervon seine sozialen Entfaltungsbedingungen abhängen. Die innere Ehre besteht in einem Mindestmaß sozialer Achtung alleine aus der Tatsache des Menschseins selbst. Ein sowohl den Erfordernissen einer offenen Gesellschaft als auch dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechender dualistischer Ehrbegriff bezieht beide Dimensionen in der Weise ein, daß sie sich nicht nur wechselseitig ergänzen, sondern zugleich beschränken. Daher verdichtet sich im strafrechtlich geschützten Rechtsgut „Ehre" das für eine freie Entfaltung des Einzelnen unentbehrliche Maß an allseitiger Anerkennung (soziale Dimension) und Achtung seiner Person (Würde-Dimension).

2. Tatbestandsmäßige Handlung Für jeden der Beleidigungstatbestände muß, um den Tatbestand zu erfüllen, die Äußerung von ihrem Inhalt her so beschaffen sein, daß sie mindestens eine der bei120 Engisch, FS f. Lange, 1976, S. 401 (413 f.); Otto, JR 1983, 1 (2); E.A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (888, 893). In die gleiche Richtung Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 179 („variabler Ehrfaktor"), der allerdings nur die „legitime Entfaltung" schützen will (S. 186). 121 Engisch, FS f. Lange, 1976, S. 401 (413 f., zusf. 417); E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (893, 903). 122 Geppert, Jura 1983, 530 (532), 580 (589); Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (430); Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 177ff., 181; Otto, JR 1983, 1 (2f.). 123 Im Detail abweichend die Literatur- u. Rechtsprechungsanalysen bei Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185 Rn. 1 und Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 1, jeweils m. w. N.: Innere Ehre entspreche dem Rechtsgut des § 185, äußere Ehre dem des § 186 StGB. Wie hier Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 65 ff. m. w. N.; Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (825 ff.).

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den Dimensionen des Ehrbegriffs verletzt. Vorsätzliche Miß- oder Nichtachtung gegenüber einem anderen kann sowohl durch eigenes negatives Werturteil als auch durch die Behauptung solcher Tatsachen zum Ausdruck gebracht werden, die das Werturteil anderer über die in Bezug genommene Person erfahrungsgemäß negativ beeinflussen. 124 Im letzteren Fall schafft der Äußernde gleichsam die Tatsachenbasis für fremde negative Werturteile über den Betroffenen. 125 Die erste Konstellation - vorsätzlich selbst geäußertes negatives Werturteil - fällt unter § 185 StGB, weshalb auch unwahre Tatsachenbehauptungen, die ausschließlich gegenüber dem Betroffenen selbst geäußert werden, von vorneherein nur diesen Tatbestand erfüllen. Mangels Wahrnehmung durch Dritte wird nämlich in diesem Fall nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als ein durch Tatsachen gestütztes eigenes Werturteil. 126 Die zweite Begehensweise - personenbezogene Tatsachenbehauptung gegenüber Dritten - fällt unter §§ 186 f. StGB, wenn es sich um Tatsachen handelt, die geeignet sind, die Person, auf die sie sich beziehen, verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. 127 Sind die solcherart ehrrelevanten Tatsachen wahr, greift nach der gesetzlichen Systematik ein Strafausschließungsgrund ein, 1 2 8 was nach dem hier zugrundegelegten Ehrbegriff, welcher im Bereich des sozialen Anerkennungsanspruchs lediglich die zur legitimen Persönlichkeitsentfaltung erforderlichen Rahmenbedingungen gewährleistet, nur konsequent ist. 1 2 9 Ist der Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung nicht erweislich, war der Äußernde insoweit aber gutgläubig, so tritt eine Strafbarkeit wegen Übler Nachrede (§ 186 StGB) ein. Wußte er hingegen positiv von der Unwahrheit des Geäußerten (direkter Vorsatz), so trifft ihn die Strafe wegen Verleumdung (§ 187 StGB).

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Hieraus ergibt sich laut Zaczyk, in: NK, § 186 Rn. 2 f. auch ein Leitgesichtspunkt für die Abgrenzung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung. Beim Werturteil sei der Gehalt der Äußerung „so mit der Person des Äußernden verbunden, daß der Inhalt keine von der Verbindung unabhängige Aussagekraft hat". Hingegen handele es sich um eine Tatsachenbehauptung, „wenn durch sie das Opfer so gekennzeichnet wird, daß Dritten unabhängig von der Person des Äußernden ... eine selbständige Überprüfung des Geäußerten möglich ist". 125 Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 254f.; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 186 Rn. 1. 126 Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 67 f. m. w. N.; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 185 Rn. 2, 11; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185 Rn. 1, 6, 9; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 2; Tenckhoff, JuS 1989, 35 (36 f.); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 186 Rn. 5; E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (909). Abweichend, nämlich für Tatsachenbehauptungen die §§ 186 f. StGB als leges speciales einordnend: Herdegen, in: LK, 10. Aufl., Vor § 185 Rn. 30, § 185 Rn. 1. 127 Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 186 Rn. 2,4; § 187 Rn. 1. 128 Arzt, JuS 1982, 717 (721); Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 186 Rn. 7, § 187 Rn. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 186 Rn. 10, 13, § 187 Rn. 2; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 111 f.; Tenckhoff, JuS 1988, 199 (203); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 186 Rn. 3, 8, 12, § 187 Rn. 1; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 304. Abweichend Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (433) („Tatbestandsmerkmal"). 129 Ebenso Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 232 f.

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a) § 185 StGB (Beleidigung i.e.S.) „Die Beleidigung wird ... bestraft" sagt das Strafgesetzbuch in § 185 StGB, und das Gesetz geht dabei ganz selbstverständlich davon aus, man wisse schon, was mit „Beleidigung" im Sinne dieser Vorschrift gemeint sei. 1 3 0 Hat man es aber mit einem Grenzfall wie dem Auschwitz-Leugnen zu tun, stellen sich wegen der mangelnden Schärfe des Begriffs rasch Unsicherheiten ein. Beleidigung ist - so liest man durchweg in Urteilen, Kommentaren und Lehrbüchern - „ein rechtswidriger Angriff auf die Ehre eines anderen durch vorsätzliche Kundgabe eigener Miß- oder Nichtachtung". 131 Diese Kundgabe kann zwar von einer Erklärung begleitet sein, die sich bei genauerer Analyse als Tatsachenbehauptung erweisen läßt, ihr Schwerpunkt muß aber in einem Werturteil liegen. „Ein Werturteil ist ... anzunehmen, wenn die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Behauptung Sache der persönlichen Überzeugung bleibt." 1 3 2 Dieses Werturteil ist nur dann als beleidigend einzuordnen, wenn es sich über den Betroffenen - gemessen an dem, was als gewöhnlich und normal gelten kann - in negativer Weise ausspricht. Der BGH hat diesen Umstand in einem einzigen Fall auf die klare Formel gebracht: „Ein Angriff auf die Ehre wird geführt, wenn der Täter einem anderen zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen mindern würden." 133 Daher ist zweifelhaft, ob das bloße Absprechen von über das Normalmaß hinausreichenden Leistungen, Verdiensten und Vorzügen, oder aber umgekehrt das InAbrede-Stellen einer gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt außergewöhnlich schwierigen, durch Lebensumstände wie Krankheit, finanzielle Not oder Schicksalsschläge geprägten Biographie, eine Miß- oder Nichtachtung gegenüber dem Betroffenen darstellen kann. 134

aa) Bloße radikale Geschichtsrevision Um die letztgenannte Kategorie, nämlich das kategorische Absprechen eines gegenüber der Allgemeinheit herausgehoben schweren Schicksals, geht es beim 130 Ob § 185 StGB ausreichend bestimmt ist, wird unten Vierter Teil, Α., S. 275 f. erörtert. 131 RGSt40,416; 71, 159 (160); BGHSt 1, 288 (289); 7, 129(130f.); ll,67(70f.); 16,58 (62 f.); Herdegen, in: LK 10. Aufl., § 185 Rn. 1; Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 65; Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 185 Rn. 3; Lenckner, in: Schönke/Schröder StGB, 25. Aufl. 1995, § 185 Rn. 1; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 3 f.; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 110; Tenckhoff, JuS 1988, 787 (788); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 185 Rn. la. Krit. Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 83 ff.; Otto, JR 1983,1 (2). 132 Otto, JR 1983, 1 (5). Vgl. auch Zaczyk, in: NK, § 186 Rn. 2f. 133 BGHSt 36,145(148). 134 Grundsätzlich ablehnend Jakobs, Urteilsanm., StV 1994, 540 (542); Köhler, NJW 1985, 2389 (2390 in Fn. 11); Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185 Rn. 3; Tenckhoff, JuS 1988, 199 (203 ff.). Für einen „spezifischen Achtungsanspruch" von „Opfern staatlichen Mordens": Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392 (393 in Fn. 11).

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Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1. Das ist besonders augenfällig, wenn die tragenden Säulen der zeitgeschichtlichen Forschung angegriffen werden, wenn also ein Fall der Totalleugnung oder einer quantitativ-qualitativen Verharmlosung vorliegt, welcher einer Totalleugnung sehr nahe kommt. 135 Wenn im folgenden die beleidigungsrechtliche Relevanz dieser Fallgestaltung untersucht wird, gehe ich der Übersichtlichkeit halber davon aus, die Äußerungen seien unter individualisierender Bezeichnung der Person gefallen, auf die sich der Äußerungsinhalt nach dem Willen des Äußernden beziehen soll. Später wird die Fragestellung dann um die Besonderheiten erweitert, die mit einem Angriff auf mehrere, nicht individualisierte Personen verbunden sind. Im Zusammenhang mit der Beleidigung ausscheiden kann man schon jetzt diejenigen, gleichsam abgeschwächten Varianten der bloßen radikalen Geschichtsrevision, bei denen lediglich die genaue Gesamtopferzahl oder einzelne Tötungsarten in Zweifel gezogen werden (quantitative Verharmlosung) oder bei denen unter Anerkennung des Opferschicksals dessen etablierte historisch-moralische Bewertung nicht geteilt wird (qualitative Verharmlosung). 136 Im ersten Fall ist nämlich nicht zu erkennen, inwiefern der Äußernde gerade der konkret angesprochenen Person ihr Opferschicksal bestritte, indem er behauptet, neben ihr, einem überlebenden Opfer, habe es seiner Ansicht nach weniger Leidensgenossen gegeben oder diese seien durch andere Tötungsmethoden ums Leben gebracht worden als die etablierte Forschung annehme. Im zweiten Fall, in dem gegenüber einer Person die Aussage gemacht wird, man akzeptiere zwar die Faktizität des von ihr erlittenen Schicksals, empfinde es aber im Vergleich zu dem, was in der Welt sonst vorgekommen sei, und noch immer vorkomme, als nicht weiter außergewöhnlich, liegt zwar zweifellos ein Werturteil vor, es wird aber gegenüber der konkreten Person keine Mißoder Nichtachtung zum Ausdruck gebracht. Weder wird durch eine solche Äußerung der für die gleichberechtigte Entfaltung in der Gesellschaft erforderliche Anerkennungsanspruch noch der aus der Würdedimension der Ehre fließende Achtungsanspruch nicht eingelöst, weil zwar jeder den Anspruch hat, daß eine unverdiente Herabsetzung seiner Person unterbleibt, nicht aber, daß man sein individuelles Empfinden mit ihm teilt. 1 3 7 Hätte nämlich jeder Mensch einen regelrechten Anspruch auf allseitiges Mitleid, wäre es nicht erklärbar, warum man Dankbarkeit dafür empfinden sollte, wenn einem diese zutiefst menschliche Form der Anteilnahme entgegengebracht wird. Mitleiden ist eine Tugend-, nicht aber eine Rechtspflicht. Anders könnte es nur sein, würde jemand, statt sich der erwarteten Anteiles Zur Systematisierung der empirisch beobachtbaren Leugnungs- und Verharmlosungsstrategien siehe oben Erster Teil, Β. II. 1. c), S. 91 ff. 136

Zu dieser Differenzierung siehe oben Erster Teil, Β. II. 1. c), S. 91 f. Vgl. auch Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1177). 137 Schon in RGSt 40,416 (417) wird zur Frage, ob durch Sitzenbleiben und Nichteinstimmen in ein „Hoch" auf den Kaiser eine (Majestäts-)Beleidigung liegen könne, ausgeführt, Voraussetzung wäre eine Rechtspflicht zum Jubeln, die sich allein aus Sitte und Üblichkeit nicht herleiten lasse.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

nähme lediglich nicht anzuschließen, demonstrativ seine Genugtuung über den durch und durch traurigen Anlaß zum Ausdruck bringen. 138 (1) Absprechen des Opferschicksals Nun aber zu der im Mittelpunkt des Interesses stehenden Fallgestaltung, in der ein Absprechen des individuellen Opferschicksals als logische Folge des Äußerungsinhalts nicht von der Hand zu weisen ist. Eine solche Konstellation liegt vor, wenn der Holocaust insgesamt bestritten oder jedenfalls in seiner Dimension derart stark bagatellisiert wird, daß dies seiner Totalleugnung nahe kommt. Denn wenn jemand die Nichtexistenz des Gesamtgeschehens behauptet, erklärt er zugleich das damit verbundene individuelle Schicksal für nicht existent. Streng genommen müßte man den Fall hier aussparen und erst unter „§§ 186 f. StGB" erörtern, weil es sich bei dem Äußerungsinhalt dem Schwerpunkt nach um eine Tatsachenbehauptung handelt. 139 Trotzdem soll schon hier das Nötige gesagt werden. Erstens, weil die Rechtsprechung in Fällen des Auschwitz-Leugnens stets ohne Differenzierung einheitlich vom Vorliegen eines Werturteils ausgegangen ist, wofür der Grund vermutlich in der unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Leugnung des Holocaust sei eine derart abstruse Behauptung, daß ihr Schwerpunkt mangels ernstzunehmender Tatsachenbasis in einem personenbezogenen Werturteil liegen müsse. 140 Zweitens - und das ist der ausschlaggebende Grund - weil man umstandslos feststellen kann, daß das Bestreiten des Opferschicksals als solches weder geeignet ist, den Betroffenen „verächtlich zu machen", noch „in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen", wie es die §§ 186 f. StGB verlangen. Das heißt nämlich nichts anderes, als daß die fragliche Tatsachenbehauptung einen ehrverletzenden Inhalt haben müßte. 141 Aber weder der aktuelle Achtungs- noch der einem Auschwitz-Überlebenden zustehende Anerkennungsanspruch wird mit dem Absprechen der erlittenen Verfolgung unmittelbar beeinträchtigt. 142 Lediglich die Anerkennung eines gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ungewöhnlich schweren Schicksals wird damit verweigert. Jakobs hat zutreffend angemerkt, daß man bei den überlebenden Opfern einer Naturkatastrophe niemals auf die Idee 138 RGSt 76, 226 (228): Höhnische Bemerkungen über einen allgemein als tragisch empfundenen Fall (Tod im Felde) können eine Beleidigung der Witwe des Gefallenen sein. 139 Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 252 (Fn. 281); Jakobs, StV 1994, 540 (542); ders., JR 1997, 344.

140 BGHSt 11, 207 (208); 13, 32 (38); 16, 49 (57); 17, 28 (35); 40, 97 (103) („eher eine Beleidigung"); BGHZ 75, 160; BVerfGE 90, 241 (251 ff.). Zustimmend Hufen, Urteilsanm., JuS 1995, 638. Parallel das Vorgehen von Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95 (97) bezüglich der Behauptung, die CSU sei „die NPD Europas" (vgl. BVerfGE 61, 1). Pointierter Tadel bei H. Arendt, Wahrheit und Politik, 1972, S. 55: „Unbequeme historische Tatbestände ... werden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne." (Hervorheb. v. Verf.). 141 Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 112. 142 Ebenso Wallrabenstein, KJ 1995, 223 (225).

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käme, ihnen könnte durch das Absprechen ihres Schicksals die Ehre geschmälert werden. 143 Gleichwohl schwankt man einen Augenblick, ob nicht bei erlittenem schweren Unrecht die Beurteilung anders ausfallen müßte. Denn der Holocaust unterscheidet sich vom Naturereignis dadurch, daß es sich bei ihm um eine von Menschen zu verantwortende, kraß menschenrechtswidrige Verfolgungsmaßnahme handelt. Außerdem gibt es auch unter den Opfern anderer Verbrechen nicht wenige, die nur in der offenen Aussprache dessen, was ihnen widerfahren ist, den für sich akzeptablen Umgang mit dem Erlittenen finden und erwarten, daß ihrem Schicksal uneingeschränkte Anerkennung gezollt wird. Diese individuelle Erwartung kann freilich für die rechtliche Wertung nicht entscheidend sein. Der ausschlaggebende Gesichtspunkt ist nämlich, daß es ein grotesker Gedanke wäre, jemand könnte sich ernsthaft wünschen, Opfer zu werden, um damit seine gesellschaftliche Stellung zu beeinflussen. Die Eigenschaft, Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, steht damit in denkbar großem Gegensatz zu anderen persönlichen Eigenschaften, bei denen man sich zwar trefflich streiten kann, ob sie für die Ehre relevant sind, bei denen es aber immerhin Leute gibt, welche die Eigenschaft gerne hätten. Verbrechensopfer zu werden ist hingegen ebenso tragisch wie unverdient. Daher ist ein solches Schicksal ehrneutral. 144 Und selbst wenn es anders wäre, änderte sich am Ergebnis deswegen nichts, weil es demjenigen, der nicht mehr tut als die nationalsozialistischen Völkermordtaten zu leugnen, nicht um die Herabsetzung der jüdischen Opfer geht, sondern um die (unverdiente) Heraufsetzung der deutschen Täter. 145 Das Schwergewicht der Behauptung liegt nicht auf dem Bestreiten des Opferschicksals, sondern auf dem Leugnen der Tat, so daß auch aus diesem Grund eine zielgerichtete Verletzung der Opferehre ausscheiden würde. 146 Je nach den besonderen Umständen des Falles, insbesondere der gesellschaftlichen Nähebeziehung zwischen Äußerndem und Betroffenen, kommt durch die Nichtanerkennung des Verfolgungsschicksals allerdings ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des überlebenden Holocaust-Opfers in Betracht (Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG; § 823 Abs. 1 BGB), der im Wege der zivilrechtlichen Unterlassungsklage abgewehrt werden kann (Anspruchsgrundlage: § 1004 BGB). 1 4 7 143 StV 1994, 540 (541). Im gleichen Sinne Peglau, NStZ 1998, 196 (197), der jedoch die Art und Weise, wie jemand sein Opferschicksal meistert, für ehrrelevant hält. 1 44 Ebenso Herdegen, in: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 27; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185 Rn. 3; Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 59 ff.; Zaczyk, in: NK, § 185 Rn. 10. Auch Peglau, NStZ 1998, 196 (197) räumt dies ein, nimmt aber an, § 185 schütze neben der Ehre die »Anerkennung eines Verfolgungsschicksals". 145

Jakobs, StV 1994, 540 (541), der freilich im von ihm kommentierten Fall Deckert übersieht, daß sich der Angeklagte darauf nicht beschränkte. 146 Zustimmend Otto, Jura 1995, 277 (279 f.), der die Ehrverletzung aber darin sieht, daß das Opfer gezwungen werde, sein Verfolgungsschicksal „zu verteidigen oder zu begründen" (S. 280).

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

(2) Inzidenter Lügenvorwurf Selbst wenn man nach dem bisher Gesagten zu dem Zugeständnis bereit ist, das generelle oder jedenfalls sehr weitgehende Absprechen des Opferschicksals sei für sich gesehen kein ehrrelevanter Angriff, wird man sich mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden geben. Man wird nämlich zusätzlich überlegen, ob in dem für sich gesehen nicht ehrrelevanten Leugnen des Verfolgungsschicksals nicht stillschweigend die Unterstellung steckt, wer unter diesen Umständen ein Verfolgungsschicksal für sich in Anspruch nehme, müsse lügen. Stimmte diese Überlegung, so wäre der darin steckende Vorwurf an einen Holocaust-Überlebenden, er sei jemand, der vor abstrusen Lügen nicht zurückschrecke, in der Tat eine Verletzung seines Anerkennungsanspruchs. Diese weitergehende Deutung der bloßen radikalen Geschichtsrevision leuchtet aber nur bei flüchtigem Hinsehen ein und hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Noch vertretbar ist die Annahme, mit jedem Ausdruck des Zweifels gegenüber dem, was ein anderer sage, werde auch Zweifel an des anderen Glaubwürdigkeit geäußert. Präziser formuliert: man äußere damit Zweifel an der auf dieses konkrete Thema bezogenen Glaubwürdigkeit des anderen. Aber es wäre ersichtlich eine Überinterpretation, entnähme man dem auf sachliche Bedenken gestützten Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit einer einzelnen Äußerung stets den weiteren Inhalt, dem Äußernden könne aufgrund seiner nunmehr zu Tage getretenen Neigung zu vorsätzlicher Falschdarstellung kein Glaube mehr geschenkt werden, er sei also ein Lügner. Denn legte man vergleichbaren Äußerungen stets einen solchen Sinn bei, wäre jede kontroverse Diskussion mit abweichenden Positionen im Tatsächlichen als wechselseitiger Austausch von tatbestandlichen Beleidigungen zu bewerten. Man könnte dann allenfalls im konkreten Einzelfall über eine Rechtfertigung nach § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) nachdenken. So verfährt man aber mit Recht nicht. Denn üblicherweise bringt jemand dadurch, daß er an der Darstellung eines anderen sachlich begründete Zweifel anmeldet, keineswegs zum Ausdruck, die von ihm für fehlerhaft gehaltene Darstellung des anderen beruhe auf vorsätzlicher Verfälschung. Ganz im Gegenteil: Zum Ausdruck gebrachte Zweifel an der Richtigkeit fremder Sachaussagen enthalten im Normalfall die inzident geäußerte Vermutung, die Darstellung sei aufgrund von Verwechslungen, Irrtümern oder logischen Fehlschlüssen zustande gekommen.148 Da diese Ursachen aber, würden sie tatsächlich den Grund für das Zustandekom147 Warum in der berühmt gewordenen Entscheidung BGHZ 75, 160 davon abweichend der Weg beschritten wurde, den Unterlassungsanspruch auf §§ 1004, 823 II BGB i.V. mit § 185 StGB zu stützen, bleibt rätselhaft. Zu einer parallel gelagerten zivilrechtl. Konstellation vgl. Emmerich/Würkner, NJW 1986, 1195 (1197). Die höhere „Attraktivität und Effizienz" des zivilrechtl. Ehrenschutzes betonen Arzt, JuS 1982, 717 (725); Geppert, Jura 1983, 530 (531), 580 (581, 583) sowie Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 45, der aber die Unverzichtbarkeit des Strafrechts als ultima ratio hervorhebt (S. 256, zusf. 271). 148 Dietz, KJ 1995, 210 (215 f.) nennt als Prüfkriterien „Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit und Nachprüfbarkeit".

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men der kritisierten Aussage abgegeben haben, keineswegs als ehrenrührig, sondern als zutiefst menschlich zu gelten hätten („Irren ist menschlich"), kann damit niemandem der gesellschaftliche Geltungswert und schon gar nicht die Achtung als Mensch abgesprochen werden. Die Schwelle, ab welcher der solcherart Angegangene, der empört aufspringt und fragt: „Wollen Sie mich der Lüge bezichtigen?", allgemeines Verständnis für seine Reaktion erwarten dürfte, wird erfahrungsgemäß erst überschritten, wenn in der bisher mit Sachargumenten geführten Diskussion andere, nämlich unsachliche und herabsetzende Töne aufgekommen sind. Bezogen auf das Auschwitz-Leugnen in seiner Erscheinungsform 1 heißt das, daß eine ehrrelevante Bezichtigung von Holocaust-Opfern, bei ihnen handle es sich um Lügner, in besonders gelagerten Einzelfällen nicht völlig ausgeschlossen werden kann, jedoch nicht schon am bloßen Bestreiten historischer Tatsachen festzumachen ist. Ausnahmefälle sind insbesondere im Überschneidungsbereich der Erscheinungsformen 1 und 2 denkbar, in denen die Kritik an der etablierten Geschichtssicht mehr und mehr in den Hintergrund, ihre Dienstbarmachung als Vehikel für personenbezogene Angriffe hingegen immer mehr in den Vordergrund tritt. (3) Korrektur

durch § 194 Abs. 1 StGB?

Bisweilen ist argumentiert worden, es gebe eine ausdrückliche gesetzliche Korrektur des hier gefundenen Ergebnisses, die radikale Geschichtsrevision erfülle nicht den Tatbestand des § 185 StGB. Die fragliche Korrektur sei vom Gesetzgeber in § 194 Abs. 1 StGB vorgenommen worden. An dieser Argumentation ist lediglich richtig, daß der Gesetzgeber das Thema Auschwitz-Leugnen 1985 mit Hilfe der „Beleidigungslösung" umfassend zu erledigen gedachte. Die Gesetzgebungsgeschichte149 deutet zwar darauf hin, daß der Gesetzgeber davon ausging, durch § 185 StGB werde auch das Bestreiten der historischen Wahrheit des Holocaust erfaßt. 150 Diese Auffassung konnte sich darauf stützen, daß eine ständige Rechtsprechung - bis heute - zu diesem Ergebnis kommt. 151 Freilich hat die Ansicht des Gesetzgebers im Gesetzeswortlaut keinen hinreichenden Ausdruck gefunden. § 194 Abs. 1 S. 2 StGB regelt nur das Antragserfordernis, modifiziert aber nicht das materielle Recht, 152 die Regelung verweist auf die Beleidigungstatbestände (§§ 185 ff. StGB), die nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen sind. Da der Wortlaut des § 185 StGB denkbar wenig Leitfunktion hat, kommt es entscheidend auf die dargestellten systematischen und teleologisch-rechtsgutsorientierten Gesichtspunkte an, so daß eine Korrektur des gefundenen Ergebnisses ausscheidet.153 149 Dazu ausführlich oben Zweiter Teil, Α. II. 2., S. 110 ff. 150 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 10/3242 v. 24. 4. 1985, S. 8. 151 Dazu ausführlich oben Zweiter Teil, Β. I. 1. a), S. 126 f. 152 Ebenso Frommel, KJ 1994, 323 (335); a.A. Peglau, NStZ 1998, 196 (197). 153 Ebenso Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 185 Rn. 3, § 194 Rn. 1; Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 64 f., 69 f.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

(4) Nachgeborene als Beleidigungsopfer? Ein weiterer Problemkreis ist anzusprechen. Die Rechtsprechung geht nicht nur davon aus, Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 sei eine Beleidigung von Auschwitz-Überlebenden, was zur Folge hätte, daß es mit dem Versterben der letzten selbst von Verfolgung betroffenen Person niemanden mehr geben würde, der durch radikale Geschichtsrevision beleidigt werden könnte. 154 Die Rechtsprechung geht einen Schritt weiter und bezieht zusätzlich die Nachkommen der Opfer - genauer gesagt: der jüdischen Opfer - als mögliche Beleidigungsopfer ein. Läßt man sich probehalber auf die Grundannahmen der Rechtsprechung ein, 1 5 5 so käme die Beleidigung von Nachkommen verfolgter Juden deshalb in Betracht, weil ihr heutiges Schicksal durch das Verfolgungsschicksal ihrer Vorfahren „geprägt" sein würde. Der BGH hat zu dieser Frage seither nicht mehr Stellung genommen, was daran liegt, daß in den strafrechtlichen Folgefällen von keiner Seite Strafantrag gestellt worden ist. Die rechtliche Würdigung konzentrierte sich daher ausschließlich auf die Frage der Beleidigung von Holocaust-Überlebenden, bei der wegen § 194 Abs. 1 S. 2 StGB ein Strafantrag entbehrlich ist. 1 5 6 Wenn nicht das Auschwitz-Leugnen irgendwann ganz verschwindet, wird die Frage der Beleidigung nachgeborener Juden mit der Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Daher soll jetzt die Frage gestellt und beantwortet werden, ob für den Fall, daß ein Auschwitz-Leugner Positionen des radikalen Geschichtsrevisionismus in Gegenwart eines nachgeborenen Juden erörterte, eine Beleidigung des nicht selbst von Verfolgung betroffenen Juden durch den Auschwitz-Leugner denkbar ist. Auf Basis der hier vertretenen Auffassung kommt ein ehrrelevanter Angriff wiederum nur auf dem Umweg über die Überlegung in Betracht, in einem Bestreiten der historischen Realität des Holocaust könnte inzident die Bezichtigung enthalten sein, wer angesichts dieser Sachlage auf dem Verfolgungsschicksal beharre, müsse ein Lügner sein. Ein Nachgeborener kann sich aber unmöglich auf sein eigenes Schicksal, sondern nur auf das seiner Vorfahren berufen. Daher kann seine Überzeugung von vorneherein nicht auf Selbsterlebtem, sondern nur auf Überlieferung beruhen. Wenn aber schon das AuschwitzLeugnen in der Erscheinungsform 1 gegenüber einem selbst von Verfolgung Betroffenen nicht ohne weiteres den gegen diesen gerichteten impliziten Vorwurf vorsätzlicher Verfälschung der Wahrheit enthält, kann dieser Vorwurf erst recht nicht in der gleichlautenden Äußerung gegenüber einem Nachgeborenen enthalten sein. Die Begründung, die der BGH für die nach seiner Ansicht vorliegende Verletzung der Ehre eines nachgeborenen Juden gegeben hat, 157 überzeugt also nicht. 154

Es bliebe dann nur noch die Erfassung der Äußerung durch § 189 StGB (Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener). Wie auch immer man das durch diese Vorschrift geschützte Rechtsgut bestimmt, die Frage der Verunglimpfung des Andenkens eines Verstorbenen kann nicht anders beantwortet werden als die Frage, ob ihn die fragliche Äußerung zu Lebzeiten beleidigt hätte. 155 BGHZ 75, 160; ausführlich oben Zweiter Teil, Β. I. 1. a), S. 123 ff. 156 Vgl. nur BGHSt 40,97 (103 f.). 157 BGHZ 75, 160.

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Der lediglich verhaltene Widerspruch in der Literatur ist nur damit zu erklären, daß man das Ergebnis moralisch richtig fand. 158 Das ist aber zu kurz gedacht, denn der juristische Preis dafür ist hoch. Die BGH-Ansicht steht und fällt nämlich mit einer dogmatischen Ableitung, von der man sich wünscht, sie wäre nach 1945 nicht mehr gedacht und schon gar nicht in Urteilsform gegossen worden. Die Begründung des BGH baut auf der stillschweigenden Annahme auf, jüdische Deutsche bedürften eines anders gearteten Ehrenschutzes als andere Deutsche.159 Eine solche „dogmatische Sonderbehandlung" ist aber juristisch und moralisch außerordentlich fragwürdig. In Wahrheit handelt es sich um eine versteckte Diskriminierung - gut gemeint, aber aufs Ganze gesehen schädlich. Nach richtiger Ansicht ist es nämlich nicht nur für jüdische Deutsche, sondern für die ganz überwiegende Mehrheit aller Deutschen eine Zumutung, die Auslassungen der AuschwitzLeugner ertragen zu müssen. Bei einem nicht-jüdischen Deutschen käme man aber auf der Basis des hier zugrundegelegten Ehrbegriffs gar nicht erst auf die Idee, seine politisch-moralische Empörung über die radikale Geschichtsrevision einer lunatic fringe hänge mit einer juristisch relevanten Verletzung seines persönlichen Anerkennungs- und Achtungsanspruchs zusammen.160 Noch weniger leuchtet die Annahme des BGH ein, das heutige Verhältnis der jüdischen Deutschen zu ihren Mitbürgern werde „durch das entsetzliche Geschehen" in der Vergangenheit „geprägt". 161 In Wahrheit ist es gerade umgekehrt! Wenn man von moralischen Belastungen redet, so ist das Verhältnis des deutschen Tätervolkes zu seinen jüdischen Opfern „belastet". Und wenn überhaupt jemand in der heutigen Bundesrepublik Deutschland die Vergangenheit des Dritten Reiches „verkörpert", 162 dann sind es nicht die hier lebenden Juden, sondern die, soweit sie nicht gestorben sind, unter uns lebenden NS-Täter. 163 Will man die Möglichkeit von Ehrverletzungen gegenüber Nachgeborenen erörtern, so kommt man dem Kern der Sache näher, wenn man ein Fallbeispiel wählt, in dem ein die Gnade der 158 Deutsch, Urteilsanm., NJW 1980, 1100: „Das Urteil befriedigt menschlich, politisch und historisch. Rechtlich wirft es mehr Fragen auf als es beantwortet." Ähnlich Coble r, KJ 1985, 159(165). >59 Erst recht fragwürdig ist die Annahme von BGHSt 8, 325 (325 f.), bereits die Bezeichnung eines anderen als „Jude" könne unter bestimmten Begleitumständen seine Ehre verletzen. In dieser Bezeichnung kann nichts Ehrenrühriges liegen, weil sich ein normativ korrigierter Ehrbegriff an Art. 3 Abs. 3 GG orientiert. Ebenso Arzt, JuS 1982, 717 (718, 727); Tenckhoff, JuS 1988,618 (620), 787 (790). 160

Ebenso Ladeur, DuR 1981,49 (53 f.), dessen pointiert formulierte Bedenken gegenüber der Annahme, es komme eine Ehrverletzung aller „aufrechten Deutschen" in Betracht, überzeugend sind. Dieser klare Befund kann auch nicht dadurch korrigiert werden, daß man den Einsatz des Strafrechts zu einem „Akt der Selbstreinigung" des deutschen Volkes hochstilisiert; so aber Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, 1962, S. 168. 161 BGHZ 75, 160(166). 162 BGH, a. a. O., S. 166. 163 Friedrich, Die kalte Amnestie, 2. Aufl. 1994, S. 511 findet für diesen Sachverhalt die sarkastischen Worte: „Die lebendige Anteilnahme am Los der Ausgelöschten bei vollendetem Desinteresse an Namen und Geschick der Veranstalter des Grauses mutet widersinnig an." 13 Wandres

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späten Geburt 164 für sich beanspruchender nicht-jüdischer Deutscher als »Abkömmling eines Völkermörders" bezeichnet wird. Durchdenkt man diesen Fall, so löst er sich in der Weise, daß nicht der Anerkennungsanspruch des Nachgeborenen, sondern allenfalls der seines Vorfahren beeinträchtigt wäre, weil der inzident gegen diesen gerichtete Vorwurf schwersten kriminellen Fehlverhaltens geeignet ist, dessen gesellschaftlichen Anerkennungsanspruch zu verletzen. 165 Wohlgemerkt den Anerkennungs-, nicht aber den aus der Menschenwürde fließenden Achtungsanspruch, weil ein Mensch seine Würde selbst dann nicht einbüßt, wenn er ein schreckliches Verbrechen begeht. 166 Es ginge dann im Schwerpunkt auch nicht mehr um ein Werturteil, sondern um eine Tatsachenbehauptung, weil die Frage der NS-Täterschaft des Vaters oder Großvaters prinzipiell dem Beweise zugänglich ist. Für die Tatbestandsmäßigkeit (§§ 186 f. StGB) käme es daher auf den Wahrheitsgehalt der Äußerung an. Der Anerkennungsanspruch des Sohnes oder Enkels kann hingegen so oder so nicht beeinträchtigt sein, auch wenn er aufgrund der erfolgten Etikettierung zutiefst empört sein sollte. Das folgt daraus, daß sich das subjektive Empfinden durch normative Grundsätze - in diesem Fall die Ablehnung jeder Form von „Sippenhaft" - korrigieren lassen muß. Zu einem anderen Ergebnis könnte man nur kommen, wenn man seinem juristischen Verständnis eine Theorie der genetischen Vererbung von Opferschicksal und Täterschuld unterlegte, was mit rassistischen Denkmustern mehr gemein hätte als mancher wahrhaben will. Bei Lichte besehen ist daher die These des BGH von der in den Juden „verkörperten" Unrechtsvergangenheit nichts anderes als das geistige Gegenstück zu dem mit Recht zurückzuweisenden „Kollektivschuld"-Vorwurf gegenüber dem deutschen Volk. 1 6 7 (5) (Zwischen-)Ergebnis Als Zwischenergebnis kann man festhalten, daß das Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) selbst bei direkter Kundgabe gegenüber dem jeweiligen Betroffenen nicht geeignet ist, dessen Anerkennungs- und Achtungsanspruch zu beeinträchtigen. Zur Klarstellung sei betont, daß dieses Ergebnis nicht für einen Äußernden gilt, der den Holocaust unter Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vergangenheit ausdrücklich billigt, und zwar aus einem doppelten Grund. Erstens kann, wer das historische Geschehen für gerecht164 Siehe dazu oben Erster Teil, Α. I. 7., S. 47. 165 Sollte der Vorfahr zum Zeitpunkt der Äußerung bereits gestorben sein, wäre an § 189 StGB zu denken. 166 Giehring, StV 1985, 30 (35). Insofern ist rätselhaft, wieso bei einem Verbrechensopfer die Menschenww/rfe im geringsten von seinem Opferschicksal abhängen sollte. So aber BGHSt 40, 97, (105 f.) in Bezug auf § 189 StGB: „ . . . Bestandteil der Würde eines Menschen können auch die besonderen Umstände seines Todes sein." 167 Vgl. Jaspers, Die Schuldfrage, 1946, S. 50ff.; Buchheim, FS f. Hennies, 1988, S. 513 ff.

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fertigt erklärt, im Gegenzug die historische Wahrheit nur um den Preis leugnen, sich in unauflösbare Widersprüche zu verwickeln. 168 Und zweitens steckt im Billigen die Aussage, die Prinzipien der nationalsozialistischen Opferauswahl seien richtig gewesen. Wer sich noch heute mit der nationalsozialistischen Rassenlehre identifiziert, spricht den Verfolgten und den Angehörigen der Nachfolgegeneration den schon aus der Tatsache des Menschseins fließenden Achtungsanspruch ab, weil er ihre Diskriminierung und Tötung aus rassischen Gründen für politisch erwünscht und juristisch gerechtfertigt erklärt. In einem solchen Fall ist der objektive Tatbestand des § 185 StGB erfüllt. Nur in einem solchen Fall überzeugt die für die Heranziehung der Nürnberger Rassengesetze gegebene Begründung, 169 man benötige diese historischen Dokumente als rationalen Maßstab für die Bestimmung des unter dem Chiffre „nationalsozialistische Rassenlehre" in Bezug genommenen Personenkreises. 170

bb) Radikale Geschichtsrevision als Instrument persönlichkeitsbezogener Angriffe Bei Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 liegt hingegen nach dem bisher Gesagten ohne weiteres eine den Anerkennungsanspruch beeinträchtigende Äußerung vor. Dabei ist es unerheblich, in welchem Umfang die historischen Tatsachen des Holocaust geleugnet werden. Wird nämlich einem anderen vorgeworfen, er gehöre zum Kreis der Urheber einer wie auch immer beschaffenen ,Auschwitz-Lüge", wird damit zum Ausdruck gebracht, er sei ein Mensch, der vor abstrusen Lügen nicht zurückschrecke. Insofern handelt es sich um ein personenbezogenes Werturteil, das geeignet ist, den gesellschaftlichen Anerkennungsanspruch des Betroffenen zu beeinträchtigen. Andererseits könnte in der Behauptung, die etablierte Geschichtsdarstellung des Holocaust sei das Ergebnis einer gezielten Manipulation, zugleich eine Tatsachenbehauptung liegen, 171 nämlich die Behauptung, der von der Äußerung Betroffene habe an der angeblichen „Geschichtsfalschung" mitgewirkt, erhalte die falsche Darstellung aufrecht oder ziehe daraus ungerechtfertigte politische, moralische oder finanzielle Vorteile. Die mit diesem Aspekt der Äußerung zusammenhängenden Fragen werden sogleich bei der Erörterung der §§ 186 f. StGB behandelt.

168 Ebenso Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1177). 169 BGHZ 75, 160 (164 ff.). 1 70 Zur Abgrenzbarkeit des Personenkreises als Voraussetzung einer Sammelbeleidigung ausführlich unten Dritter Teil, Β. I. 3. b), S. 203 f. 171 So auch Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392 (393 in Fn. 10); Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 13. 13

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cc) Radikale Geschichtsrevision als Instrument schwerer Rechtsgutsgefährdungen Bei der dritten Erscheinungsform des Auschwitz-Leugnens werden häufig zugleich die Erscheinungsformen 1 und /oder 2 vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn an die nationalsozialistische Rassenideologie oder an andere rassistische Denkmuster (wieder-)angeknüpft wird, aber auch, wenn der Äußernde die Behauptung aufstellt, zur Erlangung politischer und materieller Vorteile sei von einem bestimmten Personenkreis Geschichte verfälscht worden. Stigmatisierung und Hetze sind in fast allen Fällen mit einer Beeinträchtigung einer der beiden Ehrdimensionen derer verknüpft, auf die sie zielen. Zumeist ist die Würde-Dimension betroffen. Nicht gänzlich ausgeschlossen ist freilich, daß in einem konkreten Einzelfall in derart nüchtern-kalkulierter Weise zum Tätigwerden gegen eine Bevölkerungsgruppe aufgefordert wird, daß man neben dem primär intendierten Angriff auf andere, meist höherwertigere Rechtsgüter der Betroffenen eine Ehrverletzung nicht ausmachen kann. Das ist deshalb denkbar, weil selbst in der sehr viel konkreteren Anstiftung (§ 26 StGB) zu einer schweren Straftat nur ganz selten zugleich eine Ehrverletzung gegenüber dem ins Auge gefaßten Opfer liegt. 172 Von diesem theoretisch denkbaren Sonderfall abgesehen gilt das bereits Gesagte: Immer wenn über eine sachlich gehaltene Kritik an der etablierten Geschichtsdarstellung hinaus ein direkter und konkreter Personenbezug hergestellt wird, ist der Tatbestand der Beleidigung erfüllt.

b) §§ 186f. StGB (Üble Nachrede, Verleumdung) Handelt es sich beim Auschwitz-Leugnen nicht im Schwerpunkt um eine (falsche) Tatsachenbehauptung? Die Rechtsprechung hat die Auseinandersetzung mit dieser Frage stets vermieden. Als Grund für diese Zurückhaltung kann man folgende Überlegung vermuten: Ginge es um Tatsachen, so wären diese qua definitone dem Beweise zugänglich. 173 Zwar ist die Beweislastverteilung für den Äußernden ungünstig, weil das Risiko, daß sich die Wahrheit der von ihm behaupteten Tatsache nicht erweisen läßt, ganz auf seiner Seite liegt. Bei § 186 StGB gilt nämlich in glattem Gegensatz zu sonst im Strafprozeß die Beweislastregel „in dubio contra ™ Tenckhoff, 173

JuS 1988, 199(204).

RGSt 41, 193 (194): Tatsache ist „etwas Geschehenes oder Bestehendes, dem Beweise Zugängliches . . . , das zur Erscheinung gelangt und in die Wirklichkeit getreten ist". Im gleichen Sinne auch RGSt 55, 129 (131); 67, 268 (269f.); BGHSt 12, 287 (291 ff.); Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 253 f.; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 186 Rn. 3; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 186 Rn. 3; Otto, JR 1983, 1 (5); Rüthers, FS f. Löffler, 1980, S. 303 (307); Tenckhoff, JuS 1988, 618 (619); Timm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 1996, S. 38, 133; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 186 Rn. 2; Zaczyk, in: NK, § 186 Rn. 2 f. Krit. zum Beweisbarkeitskriterium Wenzel, NJW 1968, 2353 (2354 f.).

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reum". 174 Trotzdem müßte man dem Äußernden Gelegenheit zur Führung des Wahrheitsbeweises geben. Das Gericht wäre sogar gehalten, auf eine umfassende Beweisaufnahme hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes der Äußerung hinzuwirken (§ 244 Abs. 2 StPO), denn Beweislast bedeutet keineswegs Beweisführungslast. 175 Insofern kann es in strafrechtlichen Beleidigungsprozessen für den von der Äußerung Betroffenen günstiger sein, wenn die ihn herabsetzende Äußerung vom Gericht als Werturteil eingeordnet wird. 1 7 6 Denn dann wird ihm die Wiederholung und breiteste Erörterung der ehrenrührigen Tatsachen im Gerichtssaal erspart, womit bekanntlich immer die Gefahr verbunden ist, daß am Ende doch „etwas hängenbleibt".177 Würde eine Beweisaufnahme in Verfahren wegen AuschwitzLeugnens nötig, bestünde zudem die Gefahr, daß der Gerichtssaal zum Propagandaforum der Auschwitz-Leugner und ihrer fragwürdigen „Sachverständigen" würde. 178 Daß die Rechtsprechung gegen diese Gefahr noch eine zweite juristische Sicherung eingebaut hat, nämlich die Annahme von Allgemeinkundigkeit (§ 244 Abs. 3 S. 2, Alt. 1 StPO) des Gegenteils dessen, was Auschwitz-Leugner zu behaupten pflegen, wird noch zu erörtern sein. 179 Man könnte sich nun in langen Betrachtungen darüber verlieren, ob es sich bei dem Anliegen, den Gerichtssaal nicht zum Propagandaforum verkommen zu lassen, um ein legitimes Anliegen handelt. Rechtspolitisch kann daran kein vernünftiger Zweifel bestehen. Aber es ist absehbar, daß eingewendet würde, der zu zahlende Preis einer Relativierung rechtsstaatlicher Prinzipien sei zu hoch. Wolle man die Publizitätswirkung zugunsten der Auschwitz-Leugner vermeiden, müsse man notfalls auf Strafprozesse gegen sie ganz verzichten. 180 Diese Überlegungen sowie die denkbaren weiteren Argumente gehen freilich unversehens ins Leere, wenn man sich die Mühe macht, die Problemlage genauer zu analysieren. Es ist nämlich 174 Allgemein Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 186 Rn. 7a; Lenckner, in: Schönke/ Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 186 Rn. 13 ff.; Tenckhoff, JuS 1988, 618 (622 f.); ders. JuS 1989, 35 (37); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 186 Rn. 8 ff. Theoretisch tiefgründig Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 248 in Fn. 91, 265 f., 282 m. w. N. Bedenken wegen Verletzung des Schuldprinzips bei Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 18 ff. (21). Für verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit hingegen Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 243. 175 Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 26 Rn. 17. 176 Arzt, JuS 1982,717(719). 177 Geppert, Jura 1983, 530 (531), 580 (581, 583) („semper aliquid haeret"); Maurach/ Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 26 Rn. 25. Zur (unvermeidlichen) Belastung des Opfers im beleidigungsrechtlichen Strafverfahren meint E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886 (908 f. in Fn. 41), es sei so, als ob man bei einer Körperverletzung „laufend weiter Ohrfeigen bekäme, während darüber gestritten wird, ob es sich wirklich um Ohrfeigen handele". 178 Broszat, Soll das Leugnen oder Verharmlosen nationalsozialistischer Judenmorde straffrei sein?, in: Grami /Henke (Hrsg.), Nach Hitler, 2. Aufl. 1987, S. 292 (294); Cobler, KJ 1985, 159 (161, 168); Eschen, ZRP 1983, 10 (12). 179 Siehe unten Dritter Teil, C., S. 270ff. 180 In diese Richtung Cobler, KJ 1985, 159 (161).

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

fraglich, um welche Art von Wahrheit es beim Auschwitz-Leugnen eigentlich geht. Die bisher angestellten Überlegungen gehen allesamt und wie selbstverständlich von der Annahme aus, es gehe um den Wahrheitsgehalt der historischen Darstellung. Die Tatsachenbehauptungen der Auschwitz-Leugner bezögen sich auf die historische Wahrheit des Holocaust, und da gelte, daß die Darstellung der etablierten Zeithistoriker richtig, die der Auschwitz-Leugner aber falsch sei. 181 Lasse man daran Zweifel aufkommen und führe Beweisaufnahmen durch, brauche man sich nicht zu wundern, wenn dabei ein fruchtloser „Historikerstreit" im Gerichtssaal herauskomme. In Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen kommt aber eine weitere, bisher überwiegend nicht wahrgenommene Tatsachen-Dimension ins Spiel. In der für das Beleidigungsrecht zentralen Erscheinungsform 2 wird nämlich über den geäußerten Zweifel an der historischen Wahrheit hinaus behauptet, die Darstellung des Holocaust beruhe auf einer bewußten Fälschung. Damit wird aber sowohl die Existenz einer solchen Fälschung behauptet, als auch werden ihre angeblichen „Urheber" oder „Nutznießer" benannt. Daher ist es erforderlich, bei der Frage der für das Beleidigungsrecht maßgeblichen Tatsachenbehauptung im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Leugnen zwei Problemkreise streng auseinanderzuhalten: 182 (1) Die Diskussion um die historische Wahrheit des Holocaust und (2) die Behauptung einer gezielten Geschichtsfälschung.

aa) Historische Wahrheit Zunächst zum ersten Problemkreis. Wird der Holocaust insgesamt bestritten oder jedenfalls in seiner Dimension derart stark bagatellisiert, daß dies seiner Totalleugnung nahe kommt, so handelt es sich zwar - wie bereits festgestellt dem Schwerpunkt nach um eine Tatsachenbehauptung. Es wird die Richtigkeit der etablierten Geschichtsdarstellung des Holocaust in Frage gestellt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist aber die bloße radikale Geschichtsrevision nicht ehrrelevant. Insofern entschärft sich das Problem des „Historikerstreits im Gerichtssaal" doch ganz erheblich, weil - jedenfalls in Zusammenhang mit dem Beleidigungsrecht - über die historische Wahrheit des Holocaust kein Beweis erhoben werden muß. bb) „Geschichtsfälschung" Diese Erkenntnis leitet zum zweiten Problemkreis über. Wenn überhaupt die Führung eines Wahrheitsbeweises in Betracht kommt, dann kann Beweisthema 181 Ein Plädoyer für den Schutz von „Tatsachenwahrheiten" findet sich bereits bei H. Arendt, Wahrheit und Politik, 1972, S. 51, weil es keine Chance gebe, daß ein historisches Faktum, sei es „erst einmal vergessen oder, was wahrscheinlicher ist, fortgelogen, eines Tages wieder entdeckt werden wird". 182 Gegen eine solche Differenzierung wohl Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 263 in Fn. 339 („aus übergeordneten Überlegungen skeptisch ...").

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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von vorneherein nur die angebliche gezielte „Geschichtsfälschung" sein, wie sie üblicherweise beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 behauptet wird. Wie man die Tatsache, daß es sich dabei um eine völlig absurde Behauptung handelt, strafrechtsdogmatisch einfängt, ist zugegebenermaßen Ansichtssache. Insofern muß man einräumen, daß der Rechtsprechung eine gewisse Überzeugungskraft nicht abzusprechen ist, wenn sie den Schwerpunkt einer solchen Äußerung nicht im schwerlich ernstzunehmenden Tatsachengehalt verortet, sondern in dem damit verbundenen negativen Werturteil über die angeblichen „Geschichtsfälscher" oder „Nutznießer". Wer in „Weltverschwörungs"-Kategorien denkt, benutzt die Diskussion über Zeitgeschichte lediglich als Vehikel, um damit sein eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich einen Angriff auf die kurzerhand zu Initiatoren und Nutznießern der „Verschwörung" erklärten Juden. Trotzdem spricht mehr dafür, auch solche personenbezogenen Tatsachenbehauptungen im Rahmen der §§ 186 f. StGB zu erfassen, bei denen man schon im Vorfeld einer Beweisaufnahme mit Sicherheit sagen kann, daß sie falsch sind. Das Prozeßrecht bietet dann die nötige Handhabe, die überflüssige Beweisaufnahme zu vermeiden. 183 Der hauptsächliche juristische Vorteil der dogmatisch konsequenten Einordnung von personenbezogenen Tatsachenbehauptungen liegt darin, daß der Tatbestand der Üblen Nachrede (§ 186 StGB), bei welchem sich der Vorsatz des Täters nicht auf den Wahrheitsgehalt der Äußerung zu erstrecken braucht, einen erweiterten Strafrahmen für Äußerungen in der Öffentlichkeit und das Verbreiten von Schriften entsprechenden Inhalts vorsieht. Daneben steht dann auch der Tatbestand der Verleumdung (§ 187 StGB) zur Verfügung. Zwar werden die Fälle selten sein, in denen es gelingt, einem Auschwitz-Leugner nachzuweisen, daß er die Unrichtigkeit des von ihm praktizierten Auschwitz-Leugnens in der Erscheinungsform 2 positiv kannte - ausgeschlossen ist es nicht. Keineswegs in allen Fällen beruht die Entstehung der subjektiven Überzeugung von der „falschen Geschichtsschreibung" nur auf Verblendung und dem Ausgeliefertsein an eine „überwertige Idee". 184 Man kann vermuten, daß sich eine nicht geringe Zahl der AuschwitzLeugner bewußt des Mittels der Geschichtsklitterung bedient, daß es also in Wahrheit dieser Personenkreis ist, auf den der Vorwurf der Geschichtsfälschung zurückfällt. Insbesondere bei unübersehbar antisemitischer Zielrichtung, eigenhändiger Dokumentenfälschung oder glaubhaftem Geständnis ist es daher denkbar, daß der Nachweis der wissentlichen Behauptung der falschen Tatsache „Geschichtsfälschung" gelingt. Dann aber bietet § 187 StGB im Vergleich mit § 185 StGB den in jeder Hinsicht angemesseneren Strafrahmen.

183 Siehe unten Dritter Teil, C., S. 270 ff. 184 Zum psychiatrischen Hintergrund vgl. de Boon Wahn und Wirklichkeit, 1997, S. 14, 17 f.

. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

c) (Zwischen-)Ergebnis Um die Gedankenführung übersichtlich zu halten, wurde bisher unterstellt, der Beleidigungsbetroffene werde durch den in Rede stehenden Äußerungsinhalt durchweg eindeutig identifiziert. Unter Aussparung des sogleich zu behandelnden Problemkreises Beleidigung von Personenmehrheiten" konnte daher vorab die Frage erörtert werden, ob das Auschwitz-Leugnen in seinen einzelnen Erscheinungsformen die Ehre einer konkreten Person zu verletzen imstande ist. Folgendes Zwischenergebnis kann festgehalten werden: aa) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 verletzt weder den Anerkennungs- noch den Achtungsanspruch einer konkreten Person und ist daher nicht ehrrelevant. Das gilt sowohl für die am weitesten gehende Totalleugnung, als auch für die ihr sehr nahe kommende quantitativ-qualitative Verharmlosung .des Holocaust. Erst recht nicht ehrrelevant sind die weniger weit gehende quantitative sowie die im Bereich der historisch-moralischen Bewertung des Geschehenen angesiedelte qualitative Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermordes. Daher kommt es bei der Erscheinungsform 1 auch nicht auf die Differenzierung zwischen Werturteil (§ 185 StGB) und Tatsachenbehauptung (§§ 186 f. StGB) an. Eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) scheidet ebenfalls aus, weil dieser Tatbestand nur erfüllt sein könnte, wenn die fragliche Äußerung für den Fall, daß der Betroffene noch lebte, zumindest als Beleidigung (i.w.S.) seiner Person einzuordnen sein würde. 185 bb) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 verletzt den Anerkennungsanspruch der konkreten Person, die als Urheber oder Nutznießer einer „Geschichtsfälschung" bezeichnet wird. Der Schwerpunkt der Äußerung, beim Holocaust handle es sich um eine „Fälschung", liegt in einer Tatsachenbehauptung, auch wenn damit zugleich das Werturteil verbunden ist, 1 8 6 die Urheber oder Nutznießer der etablierten Geschichtsdarstellung seien Menschen, die nicht vor Lügen oder deren Ausnutzung zurückschreckten. Angesichts solcher Anwürfe ist es nicht zweifelhaft, daß Auschwitz-Leugner Vorsatz bezüglich der Geeignetheit ihrer Äußerung haben, eine der „Geschichtsfälschung" bezichtigte Person verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Denkbar ist allenfalls, daß ein Auschwitz-Leugner gleichwohl keinen oder lediglich bedingten Vorsatz bezüglich der Unwahrheit seiner zur Herabsetzung geeigneten Tatsachenbehauptung hat, weil er in seinem „Gedankenkäfig" so gefangen ist, daß er subjektiv mehr 185

§ 189 StGB erfordert ein „Verunglimpfen", also grundsätzlich eine besonders schwerwiegende Beleidigung, eine gewichtige Üble Nachrede oder eine Verleumdung: Herdegen, in: LK, 10. Aufl., § 189 Rn. 3; Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 364; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 189 Rn. 3; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 189 Rn. 2; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 25 Rn. 40; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 121; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 189 Rn. 2. 186 Ebenso Tenckhoff, JuS 1988 618 (620), der solche „substantiierten Werturteile" einheitlich als Tatsachenbehauptung einordnet.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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oder weniger stark an die Richtigkeit des Geäußerten glaubt. Dann kommt eine Bestrafung wegen Übler Nachrede (§ 186 StGB) in Betracht. Soweit man materiellrechtlich über die Führung des Wahrheitsbeweises nachdenkt, kommt als Beweisthema von vorneherein nicht die historische Wahrheit des Holocaust in Betracht, sondern ausschließlich die vom Täter behauptete „Geschichtsfälschung". Hat der Täter direkten Vorsatz bezüglich der Unwahrheit seiner Behauptung, liegt eine Verleumdung (§ 187 StGB) vor. Theoretisch wäre es denkbar, daß der Täter ohne die Anwesenheit Dritter eine einzelne Person der „Geschichtsfälschung" bezichtigte; dann käme lediglich eine Beleidigung i.e.S (§ 185 StGB) in Betracht. 187 cc) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 verletzt grundsätzlich den Anerkennungsanspruch der Person, auf welche die Hetze zielt. Wird zum Zwecke der Hetze eine „Geschichtsfälschung" behauptet, liegt der Schwerpunkt in einer Tatsachenbehauptung, weshalb sich die Strafbarkeit analog Erscheinungsform 2 bestimmt. Besteht die Hetze vorwiegend in einer persönlichen Herabwürdigung des Angegriffenen, handelt es sich im Schwerpunkt um eine Werturteil, so daß § 185 StGB einschlägig ist. In einem solchen Fall ist die Würde-Dimension der Ehre betroffen. Theoretisch nicht gänzlich ausgeschlossen ist bei der Erscheinungsform 3 schließlich der Fall, daß in derart nüchtern-kalkulierter Weise zum Tätigwerden gegen eine Person aufgehetzt wird, daß neben dem primär intendierten Angriff auf andere, höherwertigere Rechtsgüter - wie beispielsweise Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit - keine Ehrverletzung festgestellt werden kann.

3. Beleidigung von Personenmehrheiten Die zur Erörterung der materiellen Kernprobleme des Beleidigungsrechts vorgenommene Vereinfachung auf eine Individualbeleidigung muß nun zugunsten der Beleidigung von Personenmehrheiten aufgehoben werden. In der Realität steht der gleichzeitige verbale Angriff auf mehrere Personen bekanntlich bei weitem im Vordergrund. Auschwitz-Leugner interessieren sich so gut wie nie für Einzelne, sie konzentrieren sich auf die Geschichte als ganzes. In den Erscheinungsformen 2 und 3 beinhaltet das Auschwitz-Leugnen grundsätzlich eine Beleidigung i.w.S. zumeist eine Üble Nachrede (§ 186 StGB) oder Verleumdung (§ 187 StGB). Aber wem wird übel nachgeredet oder wer wird verleumdet? Unübersehbar gedeiht der für die Erscheinungsform 2 typische „Fälschungs"-Vorwurf der Auschwitz-Leugner auf einem antisemitisch getränkten geistig-ideologischen Nährboden. Als Urheber und Nutznießer der geschichtsverfälschenden „Weltverschwörung" gegen das deutsche Volk werden - manchmal auf Umwegen, meist aber ganz direkt „die Juden" genannt. 188 Diese perfide, aber in Bezug auf Einzelpersonen nicht 187 Zur Begründung siehe oben Dritter Teil, Β. I. 2., S. 185. 188 Vgl. Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, 1962, S. 81 ff. Ausführlich oben Erster Teil, B.II. 2., S. 93f.

3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

gerade konkrete Bezichtigung hat erfahrungsgemäß zur Folge, daß sich die Opfer des Holocaust und ihre Nachkommen betroffen fühlen - und verständlicherweise zutiefst empört sind. Das juristische Problem liegt aber darin, daß es sich bei „den Juden" um einen relativ großen Personenkreis handelt. Außerdem ist es nicht gerade naheliegend, daß die Auschwitz-Leugner jeden Menschen jüdischer Abstammung der tatsächlichen Urheberschaft an der von ihnen behaupteten „Geschichtsfälschung" bezichtigen wollen. Näher liegt die beabsichtigte Einbeziehung aller Juden, wenn man das Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 dahin interpretiert, es sei damit vor allem die Behauptung verbunden, „die Juden" nutzten die „gefälschte Geschichte" aus, um für sich ungerechtfertigte politische, moralische und finanzielle Vorteile gegenüber dem deutschen Volk zu erlangen. 189

a) Kollektivbeleidigung Wenn es juristisch ausschließlich auf die falsche Tatsachenbehauptung ankommt, die etablierte Geschichtsdarstellung des Holocaust beruhe auf einer „Fälschung", dann könnte nur eine Personengemeinschaft als solche beleidigt sein, wenn zugleich behauptet würde, dieses Kollektiv sei Urheber der „Geschichtsfälschung" oder erhalte die „Fälschung" aufrecht. Zwar gibt es als allgemein bekannte jüdische Organisation den „Zentralrat der Juden in Deutschland".190 Der Zentralrat der Juden erfüllte auch die strengsten Kriterien, die für die Möglichkeit einer Beleidigung von Personengemeinschaften in Literatur und Rechtsprechung aufgestellt worden sind. 191 Diese Körperschaft des öffentlichen Rechts erfüllt (1) 189 im skandalauslösenden „Deckeit-Urteil" des LG Mannheim, NJW 1994, 2494 (2498) wird strafmildernd berücksichtigt, Deckert sei davon motiviert gewesen, „die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken". Das Gericht habe daher „die Tatsache ... nicht außer Acht gelassen, daß Deutschland auch heute noch ... weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben ...". 190 Als weitere denkbare Ziele einer Kollektivbeleidigung nennt Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, 1962, S. 100 f. die jüdischen Gemeinden und die Landesverbände. 191 Vgl. RGSt 70, 140 (141); 74, 268 (269); BGHSt 6, 186 (189 ff.); 36, 83 (88); Frotscher, JuS 1978, 505 (510); Geppert, Jura 1983, 530 (537); Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 75 f.; Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 69f.; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185 Rn. 5; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 3; Maiwald, JR 1989, 485 (486); Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 1, 8. Aufl. 1995, § 24 Rn. 17 ff.; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 109; Tenckhoff, JuS 1988, 457 (458 f.); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 185 Rn. 18 ff. (jeweils m. w. N.). Krit. gegenüber einer transpersonalen „Gemeinschaftsehre" Arzt, JuS 1982, 717 (718) („kräftiger Schuß nationalsozialistischer Vorstellungen"); v. der Decken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz, 1980, S. 163 f.; Herdegen, in: LK 10. Aufl., Vor § 185 Rn. 19 m. w. N. in Fn. 7; Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (419f., 439ff.) („nur echte Lebens- und Schicksalsgemeinschaften"). Für eine „Verabschiedung" der Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften Hassemer, KJ 1990, 359 (365).

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

eine anerkannte soziale Aufgabe, ist (2) in der Lage, mittels ihrer Organe den intern gebildeten einheitlichen Willen nach außen in wirksame Erklärungen und Handlungen umzusetzen und ist (3) in ihrem Bestand vom Wechsel ihrer Mitglieder unabhängig. Da es bei der Behauptung einer „Geschichtsfälschung" oder ihrer Aufrechterhaltung ausschließlich um einen Angriff auf den gesellschaftlichen Anerkennungsanspruch des Kollektivs gehen kann, kämen auch die Bedenken, die nach dem hier zugrunde gelegten Ehrbegriff gegenüber der Zuerkennung der Würde-Dimension der Ehre an eine Institution zu erheben sein würden, nicht zum Tragen. Nur - es wirkte schon vom Ansatz her völlig konstruiert und überzeugte wohl niemanden, wollte man aus der Behauptung der Auschwitz-Leugner, Urheber der „Geschichtslüge" seien „die Juden", die Schlußfolgerung ziehen, damit sei der Zentralrat der Juden gemeint. Mangels einer anderen jüdischen Personengemeinschaft, auf welche die Äußerung abzielen könnte, scheidet daher die Möglichkeit einer Kollektivbeleidigung aus. 192

b) Sammelbeleidigung Damit konzentriert sich die Fragestellung darauf, ob in der Bezugnahme auf „die Juden" eine Beleidigung jedes einzelnen Juden unter einer Kollektivbezeichnung liegen kann. Dabei handelt es sich bildlich gesprochen um ein ganzes Bündel von Individualbeleidigungen, die auf jeden einzelnen als Beleidigungsopfer gemünzt sind, auf den die vom Äußernden gewählte Kollektivbezeichnung zutrifft. Hat man sich das bewußt gemacht, so wird augenblicklich klar, daß die Sammelbeleidigung keineswegs eine derart komplizierte Rechtsfigur ist, wie man bisweilen bei Lektüre mancher juristischer Abhandlung den Eindruck gewinnen könnte. Im Grunde handelt es sich lediglich um ein Problem der zutreffenden Auslegung einer konkreten Äußerung. 193 Die in Rechtsprechung und Literatur immer wieder genannte Voraussetzung, bei der von einer Sammelbeleidigung erfaßten Gruppe müsse es sich um eine solche handeln, die gegenüber der Allgemeinheit deutlich abgegrenzt ist, 1 9 4 fügt sich in diesen Rahmen ohne weiteres ein. Denn würde sich die Gruppe nicht von der Allgemeinheit abheben, verlöre sich die Äußerung von 192 Ebenso Tenckhoff, JuS 1988, 457 (460) m. w. N. Zumindest mißverständlich ist daher der Leitsatz von BGHSt 11, 207 („Die als Juden vom Nationalsozialismus verfolgten Menschen, die jetzt in Deutschland leben, bilden eine Personenmehrheit, die beleidigungsfahig ist."). Ausdrücklich für eine Kollektivbeleidigung „der Juden": Louven, DRiZ 1960, 211

(212).

193 So auch Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 77. 194 RGSt 33,46 (47) [Großgrundbesitzer]; BGHSt 2, 38 (39) [Entnazifizierungsbeteiligte]; 11, 207 (208) [Juden]; 36, 83 (85f.) [Bundeswehrsoldaten]; Arzt, JuS 1982, 717 (719); Küper, StrR BT, 2. Aufl. 1998, S. 70f.; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 185 Rn. 3; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 185 ff. Rn. 7 f.; Maiwald, JR 1989,485; R. Schmitt, JuS 1968,468 (469); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 185 Rn. 22. Krit. Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 22 ff., 33 ff., 43 f., 45 (jeweils m. w. N.).

3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

vorneherein in der Menge - mangels Ermittelbarkeit konkreter Beleidigungsadressaten wäre die herabsetzende Äußerung auf niemanden bezogen.

aa) „Große" Gruppen Bei von ihrer Mitgliederzahl her vergleichsweise großen gesellschaftlichen Gruppen ist es nicht in erster Linie ihre Abgegrenztheit gegenüber der Allgemeinheit, die Schwierigkeiten bereitet. 195 Hier tritt zumeist ein ganz anderes Problem auf. Bei Pauschaläußerungen wie beispielsweise „die Juden", „die Katholiken" oder „die Protestanten" ist wegen der Weite des Personenkreises im Normalfall schon mitgeäußert, daß das herabsetzende Pauschalurteil zwar den „typischen", nicht aber jeden der zahlreichen Gruppenangehörigen treffen soll. 1 9 6 Durch die Gruppenbezeichnung wird in solchen Fällen zwar klar, daß der Äußernde jedenfalls nicht diejenigen meint, die außerhalb der Gruppe stehen. Die innerhalb der Gruppe stehenden Personen sind aber ihrerseits so viele, daß damit für die Bestimmung der konkret gemeinten Individuen noch nicht viel gewonnen ist. Wegen der großen Zahl der durch die Kollektivbezeichnung erfaßten Personen ist nämlich schon die individuelle Ausnahme mitgeäußert, weil man vernünftigerweise nicht annehmen kann, der Äußernde meine ausnahmslos jeden. 197 So verhält es sich jedenfalls im Normalfall.

bb) Gesellschaftliche Minderheiten Ein Sonderfall liegt vor, wenn wegen des Inhalts der Äußerung oder der Umstände, unter denen sie fällt, anzunehmen ist, daß ausnahmslos jeder Angehörige eines im übrigen ausreichend von der Allgemeinheit abgegrenzten Personenkreises gemeint ist. Ein Beispiel für einen solchen Sonderfall ist die diskriminierte Minderheit. 198 Zunächst kann man feststellen, daß sich der formale Gehalt des Begriffs „Minderheit" auf die gegenüber der Mehrheit vergleichsweise geringe Zahl von Gruppenangehörigen bezieht. 199 Dabei kann man aber nicht stehen bleiben, denn der problematische Status einer Personenmehrheit, die als gesellschaftliche Minderheit gilt, ist nichts Gegebenes, sondern entsteht durch einen sozialen Zuschrei195 So auch der Befund von Wehinger, a. a. O., S. 29 ff., 37 f. 196 Wehinger, a.a.O., S. 25 f. 197 Anders könnte es nur bei den Äußerungen eines Fanatikers sein. Diese Einsicht führt zu den folgenden Überlegungen. 198 Der Gedanke, daß der Minderheitenstatus juristisch eine Rolle spielen könnte, klingt an bei Deutsch, Urteilsanm., NJW 1980, 1100. Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 19 leitet aus dem „Pluralismusgebot" des GG sogar ein subjektives Recht von Minderheiten auf (strafrechtlichen) Gruppenschutz ab. 199 Zur diskriminierungsneutralen Definition der Minderheit vgl. nur Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 60 („irgendein Unterscheidungsmerkmal").

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

bungsakt. Als Triebfeder fungieren hergebrachte und nicht weiter hinterfragte gesellschaftliche Annahmen - man kann auch sagen: Vorurteile - , deren objektiver Wahrheitsgehalt für den Fortbestand des problematischen Teils des Minderheitenstatus überhaupt keine, ihre stereotype Tradierung hingegen eine ganz entscheidende Rolle spielt. 200 Bezieht sich die mittels einer Kollektivbezeichnung eindeutig adressierte Äußerung auf eine (angebliche) Eigenschaft der Gruppe, auf die sich zugleich ihr Status als diskriminierte Minderheit gründet, so bezieht sich die Äußerung unausweichlich auf alle Mitglieder der Gruppe. Hinzu kommt, daß die Zugehörigkeit zu einer Minderheit sogar existentiell für die Einzelpersönlichkeit ist, wenn sie vom Betroffenen durch individuelle Verhaltensänderung nicht beeinflußt werden kann. 201 Die Herabsetzung, welche in innerem Zusammenhang mit negativen Vorurteilen steht, welche der diskriminierten Minderheit pauschal zugeschrieben werden und durch ständige Wiederholung gerade für die Aufrechterhaltung des Minderheitenstatus sorgen, ist daher für einen Gruppenangehörigen immer und notwendig individuumsbezogen.202 Werden hingegen Pauschaläußerungen gemacht, die mit dem Minderheitenstatus nichts zu tun haben, so sind die Personenmehrheiten in dieser Hinsicht wie andere „große Gruppen" zu behandeln.203 Bemängelte ζ. B. jemand angeblich unzureichenden Patriotismus „der Juden", so läge beleidigungsrechtlich kein Sonder-, sondern der Normalfall vor. Denn die individuelle Ausnahme wäre schon deswegen mitgeäußert, weil die Beispiele für ausgesprochene Vaterlandsliebe von Angehörigen dieser Gruppe bekanntlich so zahlreich sind, 204 daß dadurch das Pauschalurteil von selbst widerlegt würde. Ersichtlich anders liegt aber der Fall, wenn an angebliche negative Merkmale angeknüpft wird, die als „typische Eigenschaft" einer gesellschaftlichen Minderheit durch stereotype Wiederholung tradiert werden. Wenn beispielsweise inzident oder ausdrücklich zum Ausdruck gebracht wird, das „Er200 Dieser Gedanke findet sich - bezogen auf „Teile der Bevölkerung" i.S. § 130 StGB auch bei Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1170); Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 113. Prägnant Geiss, Geschichte des Rassismus, 1988, S. 323: „Lügen, Verleumdungen und Verdrehungen ... [machen] einen Gutteil der rassistischen Ideologie aus." Speziell zu antisemitischen Vorurteilen in Deutschland vgl. Rosen, Vorurteile im Verborgenen, in: Strauss /Kampe (Hrsg.), Antisemitismus, 1985, S. 256 ff. m. w. N. 201

Diesen Gedanken formuliert - bezogen auf die Volksverhetzung (§ 130 StGB) - bereits Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (507). Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung, 1984, S. 146 f. sieht den Zusammenhang sogar beim religiösen Bekenntnis. 202

Bei Ableitung der „Minderwertigkeit einer ganzen Personengruppe" durch Anknüpfung an „ethnische, rassische, körperliche oder geistige Merkmale" ebenso BVerfGE 93, 266 (304). Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994 erklärt die „Individuumsbezogenheit" zum „Prüfstein" (S. 59), lehnt diese aber bezüglich „der Juden" unterschiedslos ab (S. 61 f.). 203 Insoweit ist Wehinger, a. a. O., S. 61 f. zuzustimmen. 204 N u r z w e i Belege für unzweideutigen Patriotismus deutscher Juden im Ersten Weltkrieg: 12.000 Gefallene, 35.000 Auszeichnungen. Vgl. Selig, Juden in der deutschen Kultur und Gesellschaft, in: Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile, 3. Aufl. 1993, S. 99 ff.

3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

finden von Lügengeschichten zur Erschleichung von Geldleistungen" sei eine „typisch jüdische" Eigenschaft, so wird an diejenigen angeblich ethnischen Merkmale angeknüpft, mit denen die Juden schon im Dritten Reich zu Verfolgungs- und Tötungszwecken ausgegrenzt wurden. 205 Wer vor diesem Hintergrund die Behauptung aufstellt, „die Juden" seien für eine Geschichtsfälschung allergrößten Ausmaßes verantwortlich, behauptet implizit, es gebe Gründe, jüdische Menschen auch heute noch als gegenüber anderen Menschen minderwertig anzusehen. Für jemanden, der in derartigen Kategorien denkt, gibt es gerade keine individuelle Ausnahme, so daß seine herabsetzende Äußerung an jeden Gruppenangehörigen adressiert ist. Die Rechtsprechung kommt also zum richtigen Ergebnis, wenn sie annimmt, die Behauptung einer von „den Juden" inszenierten „Geschichtsfälschung" unterstelle jedem in Deutschland lebenden Juden, sich ungerechtfertigt politisch, moralisch oder finanziell zu bereichern. Die damit verbundenen Ausführungen, „die Juden" seien durch den Holocaust „geprägt" und sie „verkörperten" die deutsche Unrechtsvergangenheit, 206 entstammen freilich einer Ableitung, die - neben ihrer sicherlich unbeabsichtigten Ähnlichkeit mit rassistischen Mustern - nicht überzeugt. Durch eine einfache Überlegung kann nämlich der Befund erhärtet werden, daß der Vorwurf der „verfälschten Geschichte" nicht schon deswegen an jeden Juden adressiert ist, weil der in Rede stehende Ausschnitt der Geschichte für seine Identität eine herausgehobene Bedeutung hat, sondern erst dadurch, daß damit an ein antisemitisches Stereotyp angeknüpft wird. Beispielsweise hat die Zeitgeschichte des Nationalsozialismus auch für jeden einzelnen Angehörigen der alliierten Streitkräfte eine prägende Bedeutung, welcher an der opferreichen Niederkämpfung Nazi-Deutschlands mitgewirkt hat. Behauptete jemand, „die Siegermächte" hätten, in welcher Beziehung auch immer, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu ihren Gunsten „verfälscht", käme man - die ausreichende Abgegrenztheit der in Bezug genommenen Gruppe gegenüber der Allgemeinheit einmal unterstellt schwerlich auf die Idee, diese herabsetzende Tatsachenbehauptung beziehe sich durchgängig auf alle Angehörigen der alliierten Streitkräfte. In Wahrheit stützt daher einzig und allein der von den Propagandisten einer „Auschwitz-Lüge" hergestellte Bezug auf ein bedauerlicherweise noch immer lebendiges antisemitisches Stereotyp oder deren Wiederanknüpfung an das nationalsozialistische Vorbild die Schlußfolgerung, eine solche Äußerung richte sich trotz der verhältnismäßig großen und inhomogenen Gruppe „der Juden" gegen jeden Gruppenangehörigen. 2 °5 Ausführlich zum Inhalt des historischen Antisemitismus: Emmerich/Würkner, NJW 1986, 1195 (1200) m. w. N. Hitler schreibt in „Mein Kampf 4 (Ausg. 1935), 11. Kap. „Volk und Rasse", das „ganze Dasein" der Juden beruhe „auf einer fortlaufenden Lüge" (S. 337), sie seien „Meister im Lügen" (S. 335), „Ausplünderer" (S. 331), »Parasiten" (S. 334), „Schmarotzer" (S. 334) und „Blutsauger" (S. 339 f.). In Alfred Rosenbergs berüchtigtem „Mythus des 20. Jahrhunderts" (1943) heißt es u. a., der Traum, den die Juden träumten, sei „der Traum von Gold [und] von der Kraft der Lüge" (S. 456), „die Triebkraft" der Juden sei „die Gier" (S. 394) und „die Lüge ... das Lebenselement des Judentums" (S. 686 f.). 206 BGHZ 75, 160(166).

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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Insofern läßt sich auch das oben herausgearbeitete Ergebnis, daß nämlich das Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) nicht als Beleidigung strafbar ist, 2 0 7 für den praktisch ganz im Vordergrund stehenden Fall der Inbezugnahme von Personenmehrheiten zusätzlich absichern. Denn selbst wenn die entgegengesetzte Annahme zuträfe, wenn also die radikale Geschichtsrevision grundsätzlich geeignet wäre, die Ehre von NS-Verfolgten zu verletzen, fehlte es in der ganz überwiegenden Zahl der in der Praxis beobachtbaren Fälle an der entsprechenden individuumsbezogenen Adressierung dieser Äußerung als Voraussetzung einer Sammelbeleidigung.208 Denn entscheidend ist nicht, ob einzelne Juden eine solche Äußerung auf sich beziehen, entscheidend ist, ob bereits der Äußernde diesen Bezug hergestellt hat. Wird ohne jeden Personenbezug eine radikale Geschichtsrevision gefordert, kann darin unter normalen Umständen kein Anknüpfen an noch immer lebendige oder dem nationalsozialistischen Vorbild nachgebildete antisemitische Stereotype liegen, so daß eine Sammelbeleidigung von Juden auch aus diesem Grund nicht in Betracht kommt.

4. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) Grundsätzlich kommt bei beleidigungsrechtlich relevanten Äußerungen neben den allgemeinen Rechtfertigungsgriinden eine Rechtfertigung durch Wahrnehmung berechtigter Interessen in Betracht. Die Spezialregelung des § 193 StGB wird allgemein als einfachgesetzliche Ausprägung der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit angesehen.209 Wenn jedoch jemand „die Juden", also ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, welche im nationalsozialistischen Deutschland am meisten gelitten hat, einer „Geschichtsfälschung" bezichtigt, kann er damit unmöglich berechtigte Interessen wahrnehmen. 210 Die Frage, ob sich nicht ein Angehöri207 Siehe oben Dritter Teil, Β. I. 2. a) aa), S. 186 ff., zusf. 194 ff. 208 Für Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 hat Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 61 f. daher recht, wenn er eine Sammelbeleidigung „der Juden" ablehnt. 209 BVerfGE 12, 113 (125 f.); 42, 143 (152); BGHSt 12, 287 (293 f.); BVerwG NJW 1982, 1008 (1010); Arzt, JuS 1982, 717 (722); Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 122; Geppert, Jura 1983, 580 (591); Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 92 ff.; Küpper, ZRP 1991, 249 (250); Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 193 Rn. 1; G. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 54; Otto, GK StrR BT, 4. Aufl. 1995, S. 115; ders., JR 1983, 1 (6); Schmidt-Jortzig, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 (662, Rn. 48); Tenckhoff, JuS 1989, 198 (199 f.); Tettinger, JZ 1983, 317 (320); Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 37; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 193 Rn. 1. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 193 Rn. 1 meint gar, § 193 StGB habe inzwischen „seine Funktion ... an Art. 5 GG abgegeben". Abweichend Timm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 1996, S. 27, die in § 193 StGB eine „Ausprägung des Grundsatzes" sieht, „daß die Anforderungen an die Wahrheits- und Sorgfaltspflichten nicht überspannt werden dürfen". 210 Dieses Ergebnis wird durch die verfassungsrechtliche Betrachtung zusätzlich abgesichert, siehe unten Vierter Teil, B. III., S. 286 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

ger des deutschen Volkes gegen den auch ihn - zumindest moralisch - treffenden Vorwurf, für den Völkermord im Dritten Reich verantwortlich zu sein, in angemessener Weise wehren dürfe, stellt sich in solchen Fällen nicht, weil hier über ein vielleicht noch nachvollziehbares Bedürfnis nach rein verteidigender Schuldabwehr 211 hinaus zu einem außerordentlich aggressiven, die Ehre anderer in massiver Weise verletzenden und durch nichts veranlaßten Angriffsverhalten übergegangen wird. 2 1 2 Nach der hier zugrundegelegten Auffassung, eine sachbezogene Auseinandersetzung mit Geschichte sei bis hin zur Forderung nach einer radikalen Geschichtsrevision nicht ehrrelevant, kann eine bewußte Überschreitung dieses denkbar weit gesteckten strafrechtsfreien Äußerungsrahmens durch nichts gerechtfertigt werden. 213 Wer die Auseinandersetzung mit emotionsgeladener Zeitgeschichte als Vehikel für personenbezogene Angriffe benutzt, kann sich daher auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht berufen.

5. Strafantrag (§ 194 StGB) Werden die tatbestandsmäßigen Äußerungen durch Verbreiten oder öffentliches Zugänglichmachen einer Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB), in einer Versammlung oder durch eine Darbietung im Rundfunk begangen, bedarf es für diejenigen Adressaten der Sammelbeleidigung, welche im Dritten Reich selbst verfolgt wurden, keines Strafantrags (§ 194 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StGB). Bei den Juden handelt es sich um eine Personenmehrheit, die seinerzeit aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit verfolgt wurde und heute Teil der inländischen Bevölkerung ist. Ganz parallel ist die gesetzliche Regelung für die Verunglimpfung des Andenkens solcher Verstorbener (§ 189 StGB), die ihr Leben durch die nationalsozialistische Verfolgung verloren haben (§ 194 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 StGB). Insofern kann das unter den genannten Umständen auftretende Auschwitz-Leugnen in den Erscheinungsformen 2 und 3 derzeit ohne weiteres von Amts wegen verfolgt werden. Die zeitliche Beschränkung ergibt sich daraus, daß nach dem Tod des letzten im Dritten Reich selbst Verfolgten für eine von Amts wegen zu betreibende Strafverfolgung der Auschwitz-Leugner 211 Im fragwürdigen „Decken-Urteil", LG Mannheim NJW 1994, 2494 (2498), heißt es dazu, der Angeklagte sei möglicherweise bestrebt gewesen, „die nach Ablauf fast eines halben Jahrhunderts immer noch aus dem Holocaust gegen Deutschland erhobenen Ansprüche abzuwehren". 212 So auch i.E. LG Mannheim, a. a. O., S. 2498, freilich ergänzt um den fürsorglichen Hinweis, „es hätte zur Verfolgung des [vom Angeklagten] angestrebten Zweckes völlig ausgereicht, auf die lange ... verstrichene Zeit, den Umfang der erbrachten deutschen Sühneleistungen sowie die ungesühnten und unbereuten Massenverbrechen anderer Völker hinzuweisen". 213 Vor einer unbedachten Ausdehnung warnt Arzt, JuS 1982, 717 (722 f., 728), weil man sonst unversehens „von der Rechtfertigung in den Schuldausschluß, d. h. von der Freiheit in die Narrenfreiheit" gerate. Tenckhoff, JuS 1989, 198 (201) hält beleidigende Äußerungen für nicht rechtfertigungsfähig, „wenn ihre Haltlosigkeit erkennbar ist".

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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nur noch § 189 StGB zur Verfügung steht. Eine Verfolgung wegen Übler Nachrede (§ 186 StGB) oder Verleumdung (§ 187 StGB) hinge dann nach geltendem Recht vom Strafantrag eines in den Adressatenkreis der Sammelbeleidigung einbezogenen (nachgeborenen) Juden ab. In diesem Zusammenhang müßte dann möglicherweise die höchst unglückliche Bezugnahme auf die infamen Nürnberger Rassengesetze 214 wieder zu neuem Leben erweckt werden, um in Zweifelsfällen den Kreis der von einer einschlägigen Sammelbeleidigung betroffenen und damit strafantragsberechtigten Personen bestimmen zu können. Man kann sich nur wünschen, daß diese Situation niemals eintreten wird.

6. Ergebnis Das Auschwitz-Leugnen ist im Rahmen der Beleidigungsdelikte nur teilweise strafbar. a) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform selbst liegenden Personenbezugs straflos.

1 ist mangels in der Äußerung

b) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 ist strafbar, wenn „die Juden" ausdrücklich oder konkludent der Urheber- oder Nutznießerschaft einer „Geschichtsfälschung" bezichtigt werden. Diese falsche Tatsachenbehauptung ist trotz der Größe der in Bezug genommenen Gruppe geeignet, jeden einzelnen Juden in seiner Ehre zu verletzen, weil damit implizit an antisemitische Stereotype angeknüpft wird. Handelt es sich beim Tater um einen Geschichtsklitterer, weiß er also um die Unrichtigkeit seiner Behauptung, so ist er wegen Verleumdung (§ 187 StGB) zu bestrafen. Hat er keinen oder lediglich bedingten Vorsatz, so trifft ihn die Strafe wegen Übler Nachrede (§ 186 StGB), wobei im Falle öffentlicher Äußerung oder beim Verbreiten einschlägiger Inhalte in Schriften (§ 11 Abs. 3 StGB) ein erweiterter Strafrahmen Anwendung findet. Die Tat kann ohne Strafantrag von Amts wegen verfolgt werden, solange noch selbst von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffene Juden in Deutschland leben (§ 194 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB). Schließlich kommt eine Strafbarkeit wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) in Betracht. 215 c) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 kann bei Behauptung einer „Geschichtsfälschung" wie Erscheinungsform 2 bestraft werden. Besteht die Hetze ausschließlich in einer persönlichen Herabwürdigung der Angehörigen der angegriffenen Personengruppe, ist § 185 StGB einschlägig. Für eine auf „die Juden" bezogene Sammelbeleidigung ist dann erforderlich, daß sich das negative Wertur214 Vgl. BGHZ 75, 160 (164 ff.). 215 Dazu bedarf es durchgängig eines Strafantrags eines antragsberechtigten Angehörigen (§ 194 Abs. 2 S. 1 i.V. mit § 77 Abs. 2 StGB). Für eine von Amts wegen zu betreibende Verfolgung (§ 194 Abs. 2 S. 2 StGB) wird es stets an dem erforderlichen Zusammenhang zwischen angeblicher „Geschichtsfälschung" und dem Tod durch Verfolgung fehlen. 14 Wandres

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

teil auf ein den Minderheitenstatus der Gruppe begründendes Merkmal bezieht, was bei antisemitischen Äußerungen praktisch immer der Fall sein wird. Theoretisch nicht gänzlich ausgeschlossen ist schließlich der Fall, daß in derart nüchternkalkulierter Weise zum Tätigwerden gegen „die Juden" aufgehetzt wird, daß neben dem primär intendierten Angriff auf andere, höherwertigere Rechtsgüter - wie beispielsweise Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit der Gruppenangehörigen - keine Ehrverletzung festgestellt werden kann.

II. Volksverhetzung (§ 130 StGB) Die Volksverhetzung ist ein Delikt, das eine verborgene dogmatische Wurzel im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs hat. Ein genetischer Verwandter der Volksverhetzung ist die (versuchte) Anstiftung (§§ 26, 30 Abs. 1 StGB), was folgende Überlegung zeigt: Bei Lebenssachverhalten, die juristisch als Anstiftung einzuordnen sind, gibt es stets zwei leicht zu unterscheidende Phasen. In der ersten Phase wirkt der Anstifter auf einen anderen ein, um in diesem den Entschluß hervorzurufen, eine in den wesentlichen Zügen umrissene Tat gegen ein bestimmtes bzw. nach abstrakten Merkmalen bestimmbares Opfer zu begehen.216 In der zweiten Phase führt der Angestiftete die angesonnene Tat aus. 217 Wäre eine Volksverhetzung nach der Zielrichtung des Täters erfolgreich, ließen sich - wenn auch zeitlich weiter gestreckt - zwei ganz parallele Phasen beobachten. Die erste Phase bestünde dann in der gezielten Hetze gegen eine bestimmte Opfergruppe, 218 wodurch der Agitator mehr oder minder offen anstrebte, bei einer Vielzahl potentieller Täter die geistige Bereitschaft zum Tätigwerden gegen die Angehörigen der Gruppe zu wecken. 219 Dabei verfolgte der Hetzende in den meisten Fällen insgeheim das Ziel, eine zweite, von seinem Zutun völlig unabhängige Phase in Gang zu setzen. In dieser zweiten Phase erledigten die Aufgehetzten aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung das schmutzige Geschäft, das der Agitator gerne erledigt hätte. 220 Insofern hat die Volksverhetzung neben der Anstiftung auch mit der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten (§111 StGB) strukturelle Gemeinsamkeiten.221 Aus 216 Handelt es sich bei der auszuführenden Tat um ein Verbrechen, ζ. B. einen Totschlag (§212 StGB), ist schon dieses Verhalten strafbar (§ 30 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB). 217 Was dann, wenn die Tat mindestens das Versuchsstadium erreicht, zur akzessorischen Strafbarkeit des Anstifters führt (§ 26 - im Beispielsfall i.V. mit § 212 [§§ 22, 23 Abs. 1] StGB). 218 Schon diese Handlung erfüllt gewöhnlich eine der Tatbestandsalternativen des § 130 StGB. ™ Brockelmann, DRiZ 1976, 213 (215) („Mobilisierungseffekt"). 22 0 Diese Abfolge legt auch Streng f FS f. Lackner, 1987, S. 501 (512f.) seinen Überlegungen zugrunde, wenn er schreibt, zur Verletzung der Menschenwürde komme es durch „aufgehetzte oder sonst angestiftete Dritte". 221

Bei § 111 StGB ist die dogmatische Verwandtschaft zur Anstiftung ganz h.M.; vgl. nur BGHSt 29, 258 (267); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 111 Rn. 1; Lack-

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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diesem Blickwinkel stehen (1) Anstiftung, (2) öffentliche Aufforderung zu Straftaten und (3) Volksverhetzung zueinander in einem Stufenverhältnis, welches dadurch gekennzeichnet ist, daß der für eine Tatbestandserfüllung erforderliche Konkretisierungsgrad der Aufforderung hinsichtlich Tat, Täter und Opfer in der Reihenfolge der Aufzählung immer weiter abnimmt, 222 um sich schließlich bei der Volksverhetzung auf die Bestimmung der Gruppe zu beschränken, der ein potentielles Opfer aus Sicht des Hetzenden angehören soll. Die Fragen „Was soll dem Opfer angetan werden?" (konkrete Tat) und „Wer soll es tun?" (konkreter Täter) bleiben hingegen, abgesehen von nebulösen Andeutungen, unbeantwortet.

1. Geschütztes Rechtsgut Es sieht so aus, als weise die soeben vorgenommene Verortung der Volksverhetzungsvorschrift (§ 130 StGB) im deutschen Strafrechtssystem einen geraden Weg zum von ihr geschützten Rechtsgut: Geschützte Rechtsgüter scheinen letztlich die Rechtsgüter der potentiellen Opfer zu sein, also ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Bewegungsfreiheit, ihr Eigentum, ihre Ehre usw. 223 So naheliegend diese Überlegung ist, die offensichtliche Schwierigkeit besteht darin, daß bei der Volksverhetzung keineswegs feststeht, welches dieser Rechtsgüter konkret oder wenigstens potentiell betroffen ist, weil unklar bleibt, was dem Opfer nach der Intention des Hetzenden angetan werden soll. 2 2 4 Daher bliebe, stellte man alleine auf die gefährdeten Opfer-Rechtsgüter ab, das durch die Volksverhetzungsvorschrift geschützte Rechtsgut so nebulös und vage wie es in dieser Beziehung volksverhetzende Äußerungen zu sein pflegen. Außerdem sind aller historischen Erfahrung ner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 111 Rn. 1, 6, 10; Rogali , GA 1979, 11 (13f., 18); F.-C. Schweden Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 11, 21; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 111 Rn. 1 (jeweils m. w. N.). Wie hier bezüglich der Ähnlichkeit zwischen § 111 und § 130 StGB v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 111 Rn. 4a; Rogali, a. a. Ο., 24 f. In die Richtung argumentiert auch Fischer, GA 1989,445 (466). 222 Diese Beobachtung haben - unabhängig voneinander - bereits Endemann, Hetze als Gefährdungsproblem, 1924, S. 19 f., 49 ff. u. Weil, Die Aufreizung zum Klassenkampf, 1905, S. 34 f. gemacht. Für die beiden ersten Stufen ebenso Rogali, G A 1979, 11 (26), der freilich auf der dritten Stufe andere (potentielle) Gefährdungsdelikte nennt (§§ 88a, 130a, 140 StGB). Zur Abgrenzung zwischen Anstiftung und § 111 StGB: Bloy, Urteilsanm., JR 1985, 206f. Auch bei Angriffen auf Staat und Verfassung ist ein vergleichbares Stufenverhältnis zu beobachten; vgl. F.-C. Schroeder, Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 321 f. 223 So auch das Konzept von F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 11 f., 21, der u. a. für den in dieser Hinsicht vergleichbaren § 111 StGB annimmt, er schütze kein eigenständiges Rechtsgut, sondern „die durch die sonstigen Tatbestände des Strafrechts geschützten Rechtsgüter". 224 Ware es anders, griffe § 111 StGB ein, in Fällen der Konkretisierung auch des Täterkreises sogar §§ 26, 30 Abs. 1 StGB i.V. mit dem einschlägigen Tatbestand des BT. Abweichend Frommel, KJ 1995, 402 (407 f.), die in einer volksverhetzenden Äußerung eine Verletzung des „Achtungsanspruchs" der Diskriminierten sieht; dieser Aspekt wird freilich durch die Sammelbeleidigung erschöpfend erledigt. 14

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

nach die Rechtsgüter der potentiellen Opfer nicht gleichmäßig, sondern je nach Chronologie der Ereignisse in steigender Intensität betroffen. 225 Die Schreckgespenster der Volksverhetzung heißen „Pogrom" 226 , „Massaker" und „Genozid" 2 2 7 . Der Tatbestand der Volksverhetzung richtet sich daher im Kern gegen Verhaltensweisen, die bei denkbar ungünstigem Verlauf geeignet sein könnten, erneut einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit 228 deutschen Boden zu bereiten.

a) Originäre statt abgeleitete Inhaltsbestimmung Weil sich die Volksverhetzung trotz ihrer Verwandtschaft mit Regelungen des Allgemeinen Teils zu einem eigenständigen Delikt emanzipiert hat, erfordert schon das Bedürfnis nach praktischer Handhabbarkeit der Vorschrift, das von ihr geschützte Rechtsgut originär zu bestimmen, anstatt es lediglich aus den Rechtsgütern des Kernstrafrechts abzuleiten. Zwar ist es richtig, daß im hypothetischen Fall, in dem die Volksverhetzung in ihre zweite Phase träte, mit der Begehung von Delikten des Kernstrafrechts und daher mit der Verletzung klassischer Individualrechtsgüter zu rechnen wäre. 229 Zu erwarten wären u. a. Mord- und Totschlagshandlungen (Leben), Körperverletzungen (körperliche Unversehrtheit), Freiheitsberaubungen (Bewegungsfreiheit), Diebstähle und Sachbeschädigungen (Eigentum) sowie Beleidigungen (Ehre). Da es sich bei diesen Rechtsgütern eindeutig um personale handelt, dürfte auch eine „kritische" Rechtsgutslehre damit keine Probleme haben. Aber unter welchen Haupt- und Begleitumständen wären diese Straftaten zu erwarten? Wie müßte eine volksverhetzende Äußerung beschaffen sein, damit man dem Hetzenden beispielsweise mit Recht vorwerfen könnte, die im Rahmen eines nachfolgenden Pogroms geschehene Tötung sei „sein Werk"? 230 225 Anschaulich Kailitz, Anregung oder Ärgernis?, in: Heydemann/ Jesse (Hrsg.), Diktaturvergleich, 1998, S. 187 (220). Aus sozialpsychologischer Sicht Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 67 m. w. N. 226 Ebenso Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169, 1173); Rühl, NJW 1995, 561 (564); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 86. 227 Für § 130 Abs. 3 ebenso Geilen, a. a. O., S. 1176. 228 Zur Ansicht, bereits § 130 StGB sei ein „Delikt gegen die Menschlichkeit" vgl. OLG Frankfurt NJW 1989, 1367 (1369); LG Frankfurt StV 1990, 73 (77); Giehring, StV 1985, 30 (35); Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 55 ff.; Schafheutie, JZ 1960, 470 (473). Hingegen sehen Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 181 u. Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 7. Aufl. 1991, § 60 V Rn. 56 zutreffend das „Vorfeld" eines Menschlichkeitsverbrechens betroffen. Ostendorf, NJW 1985, 1062 meint, es gehe um den Schutz vor „Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur". 229 Dieser Gedanke findet sich auch bei Fischer, GA 1989, 445 (453, 455) und bei Frommel, KJ 1995,402 (402,408) („personal vermitteltes Universalrechtsgut"). 230 Zu dem Aspekt der hypothetischen objektiven Zurechenbarkeit eines Gefahrerfolgs vgl. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 69 ff.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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Und wie steht es damit in dem für die gesellschaftliche Normallage glücklicherweise häufigsten Fall, daß eine volksverhetzende Äußerung ohne greifbare Folge bleibt? Diese wenigen Fragen, die sich leicht vermehren ließen, zeigen bereits, daß man bei einer unmittelbar aus dem Kernstrafrecht abgeleiteten Rechtsgutsbestimmung Gefahr liefe, sich an den dogmatischen Folgeproblemen die Zähne auszubeißen. b) Öffentlicher

Friede

Die Volksverhetzungsvorschrift, so kann man mit leichten Abwandlungen durchgängig lesen, solle „sozialschädlicher Hetze" entgegenwirken, welche die „Schaffung eines für feindselige Aktionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen gedeihlichen Klimas" begünstige.231 Aus der systematischen Verortung der Volksverhetzung und dem hypothetischen Verletzungsverlauf, den § 130 StGB zu verhindern trachtet, läßt sich daher ableiten, daß das Rechtsgut der Volksverhetzungsvorschrift der „öffentliche Friede" ist. 2 3 2 Schon der Wortlaut des Gesetzes weist eindeutig in diese Richtung. Sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 3 von § 130 StGB werden aus allen der Tatbestandsbeschreibung unterfallenden Handlungen sogleich diejenigen wieder ausgeschieden, die nicht „in einer Weise" begangen werden, durch welche die Annahme gestützt würde, sie seien „geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören". Für ein systemimmanentes Rechtsgutsverständnis wären die Überlegungen damit beendet. Die Suche nach dem Rechtsgut wäre im Vergleich zur Beleidigung denkbar einfach gewesen, weil der Gesetzgeber den Gesetzestext im Falle des § 130 StGB klarer formuliert hat. Man könnte also sogleich zur Anwendung der Norm auf das Auschwitz-Leugnen in seinen drei Erschei231 Einig ist man sich darüber jedenfalls für § 130 I StGB; vgl. statt aller v. Bubnoff, in: LK11. Aufl., § 130 Rn. 4 m. w. N. 232 Ebenso Beisel, NJW 1995, 997 (1000); Brockelmann, DRiZ 1976, 213 (214) (+ Menschenwürde); v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 4, 43 (+ Menschenwürde); Fischer, GA 1989,445; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169) m. w. N. (für Abs. 1 Nr. 2 + Menschenwürde); Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 178, 184; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 1 (+ Menschenwürde); Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. la; Lohse, NJW 1985, 1677 (1678) (+ Menschenwürde); Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, 60 V Rn. 57 (+ Menschenwürde); Römer, NJW 1971, 1735; Schafheutie, JZ 1960, 470 (472); Stein, MichiganLR 85 (1986/87), 277 (283); Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 130 Rn. la, 18 (+ Menschenwürde [u. für Abs. 2 Nr. 1 lit. c) Jugendschutz]); Vogelsang, NJW 1985, 2386 (2387); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 88, 95. Krit. Frommel, KJ 1994, 323 (334); dies. KJ 1995,402 (406) („Antidiskriminierungsrecht"); Müller-Dietz, Funktionen des Strafrechts, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 95 (98, 104) („Topos", der sich „definitorischer und inhaltlicher Bestimmung entzieht"). Ablehnend Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (506, 509 ff.) („ausschließlich Menschenwürdeschutz"). In diese Richtung bereits Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 103, 132, relativierend S. 183. Für § 130 III abweichend Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 261 3 a), S. 259: Diese Vorschrift schütze kein Rechtsgut, sondern „die in der Gesellschaft verwurzelten Wertüberzeugungen".

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nungsformen übergehen, wären nicht die Vertreter der „kritischen" Rechtsgutslehre, die sofort bedenklich die Stirn in Falten legen. Deren Bedenken resultieren schon aus ihrer Prämisse, dem vorhandenen formellen Gesetz als solchem sei bezüglich seiner materiellen Legitimität so gut wie kein Gewicht beizumessen, weil auch ausgesprochene Unrechtsgesetze eine einwandfreie Textform aufweisen könnten. Daher kommt es für die personale Rechtsgutslehre entscheidend darauf an, ob sich das Rechtsgut des „öffentlichen Friedens" auch bei näherer Betrachtung und im Detail als vom materiellen Gehalt her akzeptabel erweisen läßt.

aa) Gesellschaftsorientierter Friedensbegriff Im Vergleich beispielsweise zum Rechtsgut „Leben" erschließt sich der Gehalt des Rechtsguts „öffentlicher Friede" nicht leichthin aus den Anschauungen des täglichen Lebens. Daher ist zunächst die Klärung erforderlich, was unter „öffentlichem Frieden" im einzelnen zu verstehen ist. Herkömmlich werden dem Rechtsgut „öffentlicher Friede" zwei Dimensionen zugeschrieben, eine subjektive und eine objektive. Die subjektive Dimension bestehe, so kann man sinngemäß überall lesen, aus dem ,»Friedensgefühl der Bevölkerung, im Schutz der Rechtsordnung zu leben"; in seiner objektiven Dimension sei öffentlicher Friede nichts anderes als „der Zustand allgemeiner Rechtssicherheit". 233 Insofern orientiert man sich bei Beantwortung der Frage, ob der öffentliche Friede intakt oder gestört sei, sowohl an der objektiven Stabilitäts- als auch der subjektiven Gefühlslage der Gesellschaft. Bei Bestimmung der Stabilitätslage richtet sich der prüfende Blick des Rechtsanwenders auf die potentiellen Täter, bei der Bestimmung der Gefühlslage auf die potentiellen Opfer. 234 Die eingebürgerte Definition der Friedensstörung hat ihren Ursprung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das zunächst die subjektive Dimension des öffentlichen Friedens in die Worte faßte, es handle sich um einen „Zustand des beruhigenden Bewußtseins der Staatsangehörigen, in ihren durch die Rechtsordnung gewährleisteten berechtigten Interessen geschützt zu sein und zu bleiben". 235 Das subjektive „Friedensgefühl", so die überwiegend noch heute 233 V. Bubnoff, L K 11. Aufl., § 130 Rn. 4. Inhaltsgleich ζ. B. BGHSt 16, 49 (56); 29, 26 f.; OLG Celle NJW 1970, 2257; OLG Hamburg NJW 1975, 1088; Fischer, NStZ 1988, 159 (160); Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 28; Herdegen, NJW 1994, 2933 (2934); Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 178; Lohse, NJW 1985, 1677 (1678 f.); Rudolphi, ZRP 1979, 214 (220 f.); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 74, 85; Würtenberger, FS f. Peters, 1974, 209 (215 ff.) (jeweils m. w. N.). Krit. Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 67. Zur Geschichte des strafrechtl. Friedensschutzes Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 6 ff. 234 Prägnant die Formulierung im Urteil des OLG Celle, NJW 1970, 2257, der Blick müsse „auf beide Teile der Bevölkerung" gerichtet werden, so daß „die Störung ... darin bestehen" könne, „daß einerseits ... übel gesonnene Personen aufgehetzt, andererseits die [angegriffenen Personen] im Gefühl der Sicherheit erschüttert werden" (Hervorheb. v. Verf.). 235 RGSt 15, 116 (117) [Klassenkampfparagraph] (Hervorheb. v. Verf.).

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gezogene Schlußfolgerung, könne daher bereits gestört sein, wenn die „Gefahr einer Beunruhigung der Bevölkerung" auftrete, 236 wenn also, wie schon das Reichsgericht unnachahmlich formulierte, „das Vertrauen ... in den Gemütern untergraben" und „Unfrieden ausgesät" werde. 237 In derselben Entscheidung wurde erstmals ein zusätzliches objektives Element des öffentlichen Friedens eingeführt. In den Friedensbegriff integriert wurde das durch die äußeren Stabilitätsfaktoren „Rechtsordnung" und „Gemeinwesen" gewährleistete „befriedete Zusammenleben ... innerhalb derselben rechtlich geschützten staatlichen Ordnung". 238 Auf die Frage, warum man den Friedensbegriff historisch ausgerechnet durch schwer faßbare subjektive Elemente zu konturieren gedachte, kann man am ehesten mit der Vermutung antworten, es sei wohl seinerzeit weniger um Eingrenzung als um Erweiterung des Anwendungsspielraums gegangen.239 Der juristische Effekt ist jedenfalls klar: Das Genügenlassen einer Störung des „Friedensgefühls" einer heterogen zusammengesetzten Bevölkerung führt zu einer erheblichen Absenkung der Schwelle, ab der das Rechtsgut „öffentlicher Friede" als tatsächlich beeinträchtigt angesehen werden kann. 240 Sind Staat und Rechtsordnung objektiv auch noch so stabil, ein nachlassendes Sicherheitsgefühl, eine entstehende öffentliche Empörung oder die aufkeimende „Saat des Unfriedens" genügt, um unter Zugrundelegung des subjektiven Friedensbegriffs den Befund zu stützen, der öffentliche Friede sei gestört. Kehrt man zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück, so schützte die Volksverhetzungsvorschrift bereits vor einer sich in Teilen der Bevölkerung ausbreitenden Befürchtung, für den Fall des Entstehens einer Situation, in welcher pogromartige Ausschreitungen nicht ausgeschlossen wären, reichte die Stabilität der Staats- und Rechtsordnung nicht aus, um potentiellen Opfern den erforderlichen Schutz zu gewähren. Unter solchen Umständen wäre selbst ein als Verletzungsdelikt ausgestalteter Friedensstörungs-Tatbestand relativ leicht zu erfüllen. Nun kommt hinzu, daß es die Absätze 1 und 3 des aktuellen § 130 StGB sogar genügen lassen, wenn die den Tatbestand erfüllende Äußerung „geeignet ist", eine Störung des öffentlichen Friedens hervorzurufen. Das heißt, die sich in der Bevölkerung verbreitende, womöglich völlig irrationale Befürchtung müßte tatsächlich gar nicht entstanden sein, es genügte, wenn man Anhaltspunkte dafür 236 BGHSt 16,49 (56); 29, 26 (26 f.); v. Bubnoff, ZRP 1982,118 (119); Frommel, KJ 1994, 323 (337); Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (775 f.) (Erschütterung von „Normvertrauen"). 237 RGSt 18, 314 (316) [Kanzelparagraph]. 238 RG, a. a. O., S. 316. 239 Rein theoretisch könnte ein subjektiver Friedensbegriff den Anwendungsbereich der Volksverhetzungsvorschrift auch begrenzen, dann nämlich, wenn bereits „bei der Mehrheit der Bevölkerung eine starke Abneigung" gegen den angegriffenen Bevölkerungsteil bestünde; so zutreffend Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 42. 240 Giehring, StV 1985, 30 (32); Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 186 ff. Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 bemerkt süffisant, der Volksverhetzungs-Paragraph könne nach der subjektiven Theorie - vor allem, wenn er von den Gerichten nicht angewendet werde - „paradoxerweise selbst für Friedensstörungen" sorgen.

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hätte, es sei nach den Umständen und dem Inhalt einer auf dem strafrechtlichen Prüfstand stehenden Äußerung denkbar, daß sich eine solche Stimmung als Folge der öffentlichen Kenntnisnahme der Äußerung entwickeln könnte. Es leuchtet ein, daß sich ein solcher Begriff des öffentlichen Friedens nicht mehr praktisch handhaben läßt, 241 weil es ein Ding der Unmöglichkeit ist, eine aus lauter Unbekannten bestehende Gleichung zu lösen. Der Begriff verflüchtigt sich im Nebel, und so ist es kein Wunder, daß man die Frage, ob eine konkrete Äußerung nun geeignet sei, den öffentlichen Frieden zu stören, mit der gleichen zur Schau getragenen Überzeugung mit „Ja" oder mit,,Nein" beantworten, die Entscheidung für die eine oder die andere Antwort aber nicht im eigentlichen Sinne des Wortes begründen könnte. Die Anwendung eines so beschaffenen „Rechtsbegriffs" wäre also weniger juristische Subsumtion als auf Alltagsweisheit gegründete Spekulation.242 Der logische Schluß, wenn eine reale Friedensstörung stattgefunden habe, sei regelmäßig eine Störung des Friedensgefühls der Bevölkerung zu erwarten, 243 ist plausibel; hingegen trägt der Umkehrschluß nicht, wenn das Friedensgefühl gestört sei, habe das auch in jedem Fall objektive Ursachen. 244 Der mit subjektiven Elementen angereicherte Friedensbegriff ist daher für das Strafrecht unbrauchbar.

bb) Gefahrorientierter Friedensbegriff Die konturenscharfe Bestimmung des Rechtsbegriffs „öffentlicher Friede" ist vermutlich deshalb nicht recht gelungen, weil man den Blick stets wie gebannt auf „die Gesellschaft" richtete, also gleichzeitig auf die potentiellen Täter (Stabilitätskriterium), die potentiellen Opfer (Gefühlskriterium) und die zwischen diesen Gesellschaftsgruppen bestehenden Interdependenzen. So kann man selbst in einer ansonsten verdienstvollen Untersuchung lesen, volksverhetzende Äußerungen führten am Ende einer langen Ursachenkette schließlich „zu schwerwiegenden Störungen des friedlichen ... Zusammenlebens der verschiedenen ,Teile der Bevölkerung 4 " 2 4 5 Damit wird das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt! Die „schwerwiegende Störung des Zusammenlebens" steht ganz am Anfang, und sie besteht schlicht darin, daß Teilen der Bevölkerung durch die volksverhetzende Äußerung 241 Fischer, NStZ 1988, 159 (162) („geradezu frappierende sprachliche und begriffliche Ungenauigkeit und Vagheit"); Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 67 („für den Richter außerordentlich schwierig"); Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (514) („hohes Maß an begrifflicher Unschärfe"); Wallrabenstein, KJ 1995, 223 in Fn. 6 („was auch immer darunter fällt"); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 102 („keine handhabbaren Maßstäbe"). 242 Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (516) („pseudo-empirisch"). Krit. auch Voß, Symbolische Gesetzgebung, 1989, S. 147. Endemann, Hetze als Gefährdungsproblem, 1924, S. 97 f. meint sogar, es bedürfe eines „Seherblicks", ein Urteil über die reale „Gefährdung des öffentlichen Friedens" zu fällen.

243 Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (516). 244 So schon Weil, Die Aufreizung zum Klassenkampf, 1905, S. 21. 245 Fischer, GA 1989,445 (463).

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das Recht abgesprochen wird, gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu sein. 246 In der Folge werden dann die Rechtsgüter der „Ausgestoßenen" geringer geachtet als die Rechtsgüter der übrigen Gesellschaftsmitglieder, wodurch wiederum die Gefahr heraufbeschworen wird, daß es zu Angriffen auf die Träger dieser „abgewerteten" Rechtsgüter kommt. Aber selbst wenn man die theoretische Ursachenkette in die richtige Reihenfolge bringt, ist damit noch nicht das eigentliche Beurteilungsproblem gelöst. Zu einem seriösen Urteil über die in einer konkreten Gesellschaft wirkmächtigen Faktoren kann man nämlich unmöglich gelangen, ohne auf eine fundierte sozialwissenschaftliche Untersuchung zurückzugreifen. 247 In der Realität spielen beispielsweise das allgemeine politische Klima, die Wirtschaftslage, die Wohnungs- und Arbeitsmarktsituation, das Maß staatlichen Schutzes, die Integration und das soziale Ansehen des angegriffenen Bevölkerungsteils sowie die kollektiven Vorurteile bzw. Projektionen (,,Sündenbock"-Funktion) je für sich und unter gegenseitiger Beeinflussung eine Rolle. 248 Kaum wäre eine Bestandsaufnahme fertiggestellt, wäre sie angesichts des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels sowie der schwer faßbaren Internationalisierungs- und Globalisierungstendenzen schon wieder überholt. Für juristische Zwecke ist es undenkbar, daß man in jedem Einzelfall eine sozialwissenschaftliche Expertise erstellen ließe. 249 Wenn man das weiß und trotzdem darauf beharrt, es komme für die strafrechtliche Dogmatik maßgeblich auf komplizierte soziologische und sozialpsychologische Zusammenhänge an, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn der überforderte Rechtsanwender in Leerformeln und Scheinbegründungen Zuflucht sucht. 250 Es bleibt daher nur ein Ausweg: Der Blick muß von der Gesamtgesellschaft weg auf die Gefahrensituation 251 gerichtet werden, deren Verhinderung eigentliches Ziel der Volksverhetzungsvorschrift ist. Der Vorteil dieses Perspektivenwechsels liegt vor allem darin, daß die zu erwartende bedrohliche Situation im Gegensatz zur gesamt-gesellschaftlichen Sicherheits- und Gefühlslage mittels einer nach rationalen Kriterien erstellten Gefahrprognose hinreichend zuverlässig eingeschätzt werden kann. 252 246 Ähnlich Frommel, KJ 1995, 402 (407); Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 78 f., 108 ff.; Römer, NJW 1971, 1735 (1736); Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (508). 247 Fischer, NStZ 1988, 159 (162); Geilen, NJW 1976, 279 (280); Giehring, StV 1985, 30 (35); Rudolphi, ZRP 1979, 214 (221); Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (515). 248 Giehring, StV 1985, 30 (32). 249 Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 138 („völlige Wirkungslosigkeit mangels Praktikabilität"). 250 Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (515) konstatiert eine richterliche „Überforderung"; ähnlich Fischer, NStZ 1988, 159 (160f.). 251 In diese Richtung auch Fischer, GA 1989, 445, der die „Eignungsformel" des § 130 StGB dahin deutet, sie diene neben der Bestimmung des geschützten Rechtsguts auch der „Gefahrmaßbestimmung". 252 Damit kann man Fundamentalkritik wie der von Müller-Dietz, Funktionen des Strafrechts, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 95 (104) begegnen, bei Delikten wie der Volksverhetzung gerate der „Rechtsgüterschutz zur potentiellen Gefährdung", die „Wahrscheinlichkeit" zur „Möglichkeit".

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(1) Hypothetischer Polizeibeamter Zu diesem Zweck lohnt es sich, vom Boden des Strafrechts einen orientierenden Blick auf das allgemeine Polizeirecht zu werfen, wobei die Unterschiede stets zu berücksichtigen sind. Die Dienstbarmachung der Denkfigur „Hypothetischer Polizeibeamter" läßt eine strukturierte Durchdringung der strafrechtlichen Problemlage erwarten, wie sie bei der Störung bzw. Gefährdung des öffentlichen Friedens aufzutreten pflegt. Wann wäre, so lautet daher die „Testfrage", jene Schwelle überschritten, die einem Polizeibeamten - gedacht, er befände sich am Ort des Geschehens - von Rechts wegen ein Einschreiten zum Schutz individueller Rechte erlaubte oder ihn sogar dazu verpflichtete? 253 Vereinfacht gesagt sehen die Generalklauseln der Polizeigesetze der Länder vor, daß die Polizei eingreifen darf, um eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit" 254 abzuwehren. 255 Wann aber liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor? Eine Gefahr ist ganz allgemein gegeben, wenn die durch tatsächliche Umstände begründete Besorgnis besteht, es werde zu einer Beeinträchtigung kommen, wenn also der Eintritt eines Schadens wahrscheinlicher ist als sein Ausbleiben. 256 Daher ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit anzunehmen, wenn aufgrund der Sachlage, wie sie sich im Augenblick der Entscheidung zum polizeilichen Tätigwerden aus Sicht des Polizeibeamten darstellt, zu befürchten ist, daß bei ungestörtem weiteren Verlauf ohne polizeiliches Eingreifen mit einer Verletzung rechtlich geschützter Interessen - insbesondere der Erfüllung von Straftatbeständen 257 - in Kürze zu rechnen wäre. Gestört wäre die öffentliche Sicherheit, wäre das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Die Frage, ob das Einschreiten der Polizei rechtmäßig ist, beantwortet sich also auf der Basis einer Gefahrprognose ex ante, d. h. zum Zeitpunkt unmittelbar vor dem polizeilichen Tätigwerden. 258 Daher ist beispiels253 Ausgiebig verwendet von Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 188 f. Die Parallele zum Polizeirecht sehen auch Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 190 ff.; Leggerne /Meier, Republikschutz, 1995, S. 264 ff.; Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 76. 254 Von der in einigen Ländern noch vorhandenen Eingriffsermächtigung zur Abwehr von Gefahren für die „öffentliche Ordnung" kann im hier interessierenden Zusammenhang abgesehen werden. 255 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rn. 140 ff.; Gusy, Polizeirecht, 3. Aufl. 1996, Rn. 80ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 1998, Rn. 55.

256 Götz, a. a. O., Rn. 140; Gusy, a. a. Ο., Rn. 108; Knemeyer, a. a. Ο., Rn. 61 (jeweils m. w. Ν.). Inhaltsgleich die strafgerichtl. Rspr.: RGSt 10, 173 (176); 29, 244 (246); 30, 178 (179); 61, 362 (364); BGHSt 8, 28 (31); 13,66 (70); 18, 271 (272 ff.); 22,67 (74). 251 Für unsere Zwecke sollen Straftatbestände ausgeblendet bleiben, die nicht unmittelbar Rechtsgüter des Individuums schützen. Insbesondere muß im Rahmen des Gedankenexperiments mit dem „hypothetischen Polizeibeamten" die Volksverhetzungsvorschrift ausgespart werden, weil man andernfalls nur zu Zirkelschlüssen käme. 258 Unberücksichtigt soll bleiben, daß für das auf Effektivität angelegte Polizeirecht bereits eine Ansehe insgefahr genügen würde, d. h. eine Sachlagebeurteilung, welche dem

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weise eine polizeirechtliche Gefahrenlage gegeben, wenn sich eine mit Schlagwerkzeugen und Brandflaschen bewaffnete Gruppe grölender junger Männer vor einem Wohnheim für Asylbewerber zusammengerottet hat und alles darauf hindeutet, die Gruppe werde demnächst in das Gebäude eindringen. Denn griffe die Polizei zu diesem Zeitpunkt nicht ein, käme es mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Verletzung bzw. Zerstörung von Leib, Leben und bedeutenden Sachwerten. 259 Ob die Polizei eingreift, ist zwar grundsätzlich eine Frage pflichtgemäßen Ermessens, nicht aber im geschilderten Beispielsfall. Denn wenn elementare Rechtsgüter wie Leib und Leben auf dem Spiel stehen, stellt sich nur eine Ermessensentscheidung als rechtmäßig dar, nämlich die Entscheidung, der Gefahr durch Eingreifen entgegenzutreten; beispielsweise durch Beschlagnahme der gefährlichen Gegenstände und Erteilung von Platzverweisen gegenüber den Versammelten. Die in Gefahr geratenen Rechtsgutsträger - also hier die Bewohner der Asylbewerberunterkunft - hätten sogar einen subjektiven Anspruch auf polizeiliches Einschreiten, 260 und zwar nicht, weil sie sich bedroht fühlen, 261 sondern weil sie objektiv bedroht sind. Ganz parallel kann man in einem Gedankenexperiment 262 die Verletzung 263 des Rechtsguts „öffentlicher Friede" bestimmen. Ein Täter verletzt das Rechtsgut bereits dann, wenn er für die personalen Rechtsgüter einer unbestimmten Zahl von Individuen eine konkrete Gefahrenlage schafft, 264 in der ein hypothetischer Polizeibeamter zum Einschreiten verpflichtet, sein sonst bestehendes Ermessen also auf Null reduziert wäre. Trotzdem ist der „öffentliche Friede" nicht mit dem polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Sicherheit" identisch. 265 Straftatbestände, Maßstab eines ,»fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters" entspricht, selbst wenn sich ex post herausstellen sollte, daß die Einschätzung unzutreffend war; vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 87 f.; Götz, a. a. O., Rn. 161; Gusy, a. a. Ο., Rn. 121; Knemeyer, a. a. Ο., Rn. 69 (jeweils m. w. Ν.). 259 Unabhängig davon ließe sich die Gefahr für die öffentliche Sicherheit polizeirechtlich auch damit begründen, die Begehung einer Straftat nach den §§ 124, 125 StGB stehe unmittelbar bevor. 260 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rn. 357 ff.; Gusy, Polizeirecht, 3. Aufl. 1996, Rn. 309 ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 1998, Rn. 94 ff. 261

Gegen die Berücksichtigung des „Gefühls" auch F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 13. 262 So auch das Vorgehen von Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 139 ff., der aber nach der „Verletzungsfahrlässigkeit" bezüglich einer Friedensstörung fragt.

Abweichend Fischer, NStZ 1988, 159 (161), der annimmt, bei den „RechtsfriedensDelikten" handle es sich durchgängig um „pönalisierte Vorstufen" zur Verletzung, was aber nur zutrifft, wenn man auf den Schutz von Individualrechtsgütern abstellt (siehe sogleich im Text). 264 Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 190: „Pogromgefahr". *>5 So aber Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 530, 600. Der strafrechtliche Begriff „öffentliche Sicherheit" (§ 125 StGB) ist nach h.M. ein „Teilaspekt" des öffentlichen Friedens; vgl. Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 125 Rn. 1.

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welche den öffentlichen Frieden schützen, enthalten nämlich ausformulierte Handlungsbeschreibungen, womit sie sich von einer nach beiden Richtungen (Handlung und Gefahrerfolg) offenen Generalklausel eindeutig unterscheiden. 266 Ferner erschöpft sich das Universalrechtsgut „öffentlicher Friede" nicht lediglich in der Bündelung der dahinterstehenden Rechtsgüter der von der Gefahrenlage Betroffenen, 267 auch wenn diese Individualrechtsgüter ohne Zweifel mittelbaren, ja sogar vorverlagerten Schutz erfahren. Zwar ist es grundsätzlich richtig, daß man auf abstrakte Rechtsgüter nur zurückgreifen sollte, wenn keine konkreten vorhanden sind, 268 doch ist das Interesse der Allgemeinheit an der Vermeidung bereits der beschriebenen Bedrohungslage außerordentlich hoch zu bewerten. 269 Denn selbst wenn durch beherztes polizeiliches oder privates Eingreifen, welches in vielen Fällen mit einer Selbstgefährdung der Retter verbunden sein dürfte, oder durch einen glücklichen Zufall die befürchtete Verletzung der gefährdeten Individualrechtsgüter ausbliebe, wäre alleine die zur „brenzligen Situation" verdichtete Gefahrenlage für eine zumindest partielle Lähmung des gesellschaftlichen Lebens verantwortlich. Denn alle Anstrengungen konzentrierten sich in diesem Augenblick auf die Beherrschung und Abwendung der Gefahrenlage, so daß im Gegenzug andere, sozial nützliche und wertschöpfende Tätigkeiten unterbleiben müßten. Schließlich ist nicht zu unterschätzen, daß derartige Gefährdungs- und Bedrohungslagen selbst dann für das Entstehen sich aufschaukelnden Hasses zwischen den beteiligten Bevölkerungsgruppen sorgen - und damit die Gefahr der Wiederholung und Eskalation erhöhen - , wenn sie im konkreten Fall noch einmal glücklich abgewendet werden können. 270 Diesem zutreffenden Aspekt wird freilich von der Lehre vom „Friedensgefühl" ein zu hohes Gewicht beigemessen, weil die kollektive Gefühlslage innerhalb der potentiellen Opfergruppe nur eine regelmäßige 266 Die Gefahr, daß das Strafrecht „zum Mittel polizeilicher Gestaltung" werden könnte, sehe ich daher im Ergebnis nicht - entgegen Fischer, NStZ 1988, 159 (164); ähnlich bereits ders., in: Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 506,513, 628 f. („generalklauselartige Strafermächtigung"). Zu den historischen Wurzeln eines allgemein gegen Gefährdungsdelikte erhobenen Vorwurfs, „Polizei-Strafgesetzgebung" zu sein, ausführlich F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 7 ff. m. w. N. 267 So aber Fischer, GA 1989, 445 (453); F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 11, 21; Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 80. Vgl. auch die Argumentation von Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (510), der - richtigerweise darauf hinweist, bei jeder Verletzung eines Individualrechtsguts sei zugleich der öffentliche Friede gestört.

268 Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 50 I Rn. 3, § 61 I Rn. 3; F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 310. 269 Ebenso Frommel, KJ 1995, 402 (411); Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (775). Entgegen Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 190 f. ändert sich daran nichts, wenn es sich bei der Zielgruppe des Angriffs um eine Minderheit handelt. 270 Mit diesem Argument hält auch Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1173 f.), ders., NJW 1976, 279 (280) an der „subjektiven Friedensstörung" fest.

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Folge der objektiv zu bestimmenden Störung des öffentlichen Friedens ist, nicht aber ein aussagekräftiger Indikator dafür, daß der öffentliche Friede wirklich gestört ist oder war. Für eine Verletzung des öffentlichen Friedens ist aus Sicht des Hetzenden nämlich nicht das Erregen von Furcht in der anvisierten Opfergruppe, sondern das Hervorrufen einer tatgeneigten Stimmung im Kreise der potentiellen Täter das primär angestrebte Ziel. 2 7 1 Wer durch seine gezielt herabsetzenden Äußerungen über einen Teil der Bevölkerung eine pogromartige Stimmung erzeugt, bahnt dadurch den Weg zur Verletzung elementarer Rechtsgüter von Gruppenangehörigen. Das ist der zutreffende Kern der Redensart von der „geistigen Brandstiftung", und hierauf bezieht sich auch die Forderung des Gesetzes (§ 130 Abs. 1 und 3 StGB), die volksverhetzende Äußerung müsse „geeignet sein", den öffentlichen Frieden zu stören. Die Äußerung muß geeignet sein, die Hemmschwelle potentieller Täter herabzusetzen - ob sie zugleich geeignet ist, die stigmatisierten Opfer in Furcht und Schrecken zu versetzen, ist rechtlich keine maßgebliche Frage, auch wenn es tatsächlich regelmäßig so sein wird, daß das eine das andere nach sich zieht. (2) Doppelter Gefahrbegriff Das Rechtsgut „öffentlicher Friede" kann also kurzgefaßt beschrieben werden als die Abwesenheit von Gefahrenlagen für Individualrechtsgüter, welche einen hypothetischen Polizeibeamten zum Einschreiten verpflichten würden. Hiergegen ist der Einwand zu erwarten, durch die Aufnahme des Gefahrbegriffs schon in die Rechtsgutsdefinition werde der Unterschied zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten im Strafrecht verwischt. Werde ein so konstruiertes Universalrechtsgut „öffentlicher Friede" dann noch durch Straftatbestände geschützt, die - wie § 130 StGB - die Eignung einer Handlung genügen ließen, eine Verletzung des öffentlichen Friedens herbeizuführen, dann werde die „Gefahr einer Gefahr" unter Strafe gestellt. 272 Dieser Einwand entspringt einer durchaus zutreffenden Beobachtung. Ein (abstraktes oder konkretes) Gefährdungsdelikt, 273 dessen geschütztes Rechtsgut der öffentliche Friede ist, enthält in der Tat einen doppelten Gefahrbegriff. Zunächst wird - Gefahr Nr. 1 - vorausgesetzt, daß die der Tatbestandsbeschreibung entsprechende Handlung, welche bei § 130 Abs. 1 und 3 StGB in einer Äußerung besteht, möglicherweise zu einer Störung des öffentlichen Friedens führen könnte. Würde der öffentliche Friede tatsächlich gestört, so wäre hierfür das Entstehen einer Situation erforderlich - aber auch ausreichend - , in der ein 271

So auch Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 79, der schreibt, der „Kern des Volksverhetzungsunrechts" liege „nicht in der Bedrohung anderer", sondern in der „Beeinflussung der Destinatäre" zukünftiger Rechtsguts Verletzungen. Inkonsequent daher Wehingers Schlußfolgerung, die Beeinträchtigung des Friedensgefühls der angegriffenen Gruppe sei ausreichend (S. 118 f.). 272 Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 394, 399, 496; ders., NStZ 1988, 159(162). 27 3 Zur Einordnung des § 130 StGB siehe sogleich unten Dritter Teil, Β. II. 1. d), S. 224 ff.

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hypothetischer Polizeibeamter zum Schutz elementarer Rechtsgüter von Individuen einzugreifen hätte, was bedeutete, daß - Gefahr Nr. 2 - in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die Verletzung von personalen Rechtsgütern drohte. Bezogen auf die letztlich zu schützenden Inidvidualrechtsgüter potentieller Opfer pönalisiert also der Tatbestand der Volksverhetzung tatsächlich die „Gefahr einer Gefahr". Die Analyse zeigt zugleich, daß durch die „Zwischenschaltung"274 des Universalrechtsguts „öffentlicher Friede" bei der Rechtsanwendung regelmäßig nur noch eine Gefahr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, nämlich die hier sogenannte Gefahr Nr. I . 2 7 5 Für die Prognose, ob die in Rede stehende Äußerung „geeignet" ist, den öffentlichen Frieden zu stören, ist es aber keinesfalls bedeutungslos, wie „öffentlicher Friede" definiert ist. Daher ist noch einmal zu betonen: Eine Friedensstörung besteht nicht lediglich darin, daß eine irgendwie geartete gesellschaftliche Unruhe und Unordnung oder ein unspezifisches Unsicherheitsgefühl beobachtbar ist. Eine Störung des öffentlichen Friedens stellt sich vielmehr als Situation dar, in der die Gefahr Nr. 2 droht, nämlich die Gefahr, daß es zur Verletzung von Individualrechtsgütern kommt. In dieser Weise konkretisiert, scheint mir das Rechtsgut „öffentlicher Friede" auch im Hinblick auf ein personales Rechtsgutsverständnis grundsätzlich akzeptabel zu sein. 276

c) Andere Rechtsgüter Nicht ganz selten findet sich die Auffassung, die Volksverhetzungsvorschrift schütze neben oder anstelle des „öffentlichen Friedens" andere Rechtsgüter. Mit Abstand am häufigsten wird in diesem Zusammenhang die „Menschenwürde" genannt. 277 Die Berechtigung dieser Ansicht ist auf dem Boden der hier zugrundegelegten Definition des Rechtsguts „öffentlicher Friede" insofern fragwürdig, als die Verletzung der Menschenwürde konkretisierbarer Personen regelmäßig nur als Folge einer außer Kontrolle geratenen Gefahrsituation vorstellbar ist, in der ein hypothetischer Polizeibeamter zum Einschreiten verpflichtet wäre. Dann wäre aber der öffentliche Friede bereits gestört, während die Verletzung der Menschenwürde, 274 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (774 f.); Schünemann, JA 1975,787 (793) („vergeistigtes Zwischenrechtsgut"). 275 Deren „Gefahrengrenzwert" sollte laut Geilen, NJW 1976, 279 (280) „nicht zu tief angesetzt werden"; ebenso Giehring, StV 1985, 30 (35 f.). 276 Zur Position der personalen Rechtsgutslehre siehe ausführlich oben Dritter Teil, Α. II., S. 167 ff. Ablehnend aber Müller-Dietz, Funktionen des Strafrechts, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 95 (99 ff., 107 f.), der eine Beschränkung auf „elementare Rechtsgüter" fordert. 277 Brockelmann, DRiZ 1976, 213 (214); v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 4; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169) (für Abs. 1 Nr. 2); Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 1; Lohse, NJW 1985, 1677 (1678); Tröndle/ Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 130 Rn. la, 18 (+ für Abs. 2 Nr. 1 lit. c) Jugendschutz); v. Vitzthum, JZ 1985, 201 (205). Ausschließlich die Menschenwürde geschützt sieht Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (506).

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

wenn auch in naher Zukunft, erst drohte. 278 So wie auf abstrakte Rechtsgüter nur zurückgegriffen werden sollte, wenn keine konkreten vorhanden sind, 279 ist die Konzentration auf das verletzte Rechtsgut dem Rückgriff auf ein lediglich gefährdetes vorzuziehen. Sollte hingegen schon die hetzende Äußerung selbst eine derart gravierende persönliche Herabsetzung enthalten, daß damit individualisierbaren Personen der Achtungsanspruch als Mensch abgesprochen wird, 2 8 0 so kann der in einer solchen Äußerung liegende Unrechtsgehalt durch die Bestrafung als Sammelbeleidigung (§ 185 StGB) restlos ausgeschöpft werden. 281 Der Umstand, daß einem Teil der Bevölkerung pauschal die Menschenwürde abgesprochen wird, ist aber unbestreitbar ein wichtiges Indiz dafür, daß die betreffende Äußerung zugleich geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Ansonsten ist die praktische Bedeutung der Frage gering, ob § 130 StGB neben dem öffentlichen Frieden noch andere Rechtsgüter schützt. Bedeutung gewinnt ihre Beantwortung allenfalls im Zusammenhang mit der Bestimmung des „Verletzten", der nach § 172 StPO ein Klageerzwingungsverfahren betreiben kann. 282 Für § 130 Abs. 3 StGB wurde vereinzelt behauptet, beim geschützten Rechtsgut könne es sich um nichts anderes als die „historische Wahrheit" handeln. 283 Inwieweit solche Modifikationen oder Erweiterungen ihre Berechtigung haben, läßt sich am besten in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anwendung der Volksverhetzungsvorschrift auf die drei Erscheinungsformen des Auschwitz-Leugnens klären. Zumindest vorläufig kann aber festgehalten werden, daß man mit dem Rechtsgut „öffentlicher Friede" den Gehalt der Volksverhetzungsvorschrift vollständig erfassen kann. 284

278 Nach dem hier zugrundegelegten Ehrbegriff (siehe oben Dritter Teil, Β. I. 1. b) cc), S. 184) ist die Menschenwürde Kern der Ehre (Achtungsanspruch). Mit der Menschenwürde verhält es sich daher nicht anders als mit den übrigen bedrohten Individualrechtsgütern. Das Vorfeld einer Menschenwürdeverletzung sieht auch betroffen Streng, FS f. Lackner, 1987, S. 501 (508, 512 f.). 279 Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 50 I Rn. 3, § 61 I Rn. 3; F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 310. 280 Zur Unterscheidung zwischen in der hetzenden Äußerung enthaltener („Modalitätentheorie") und durch sie ausgelöster Menschenwürdeverletzung („Erfolgstheorie") vgl. Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 88 f. m. w. N. 281 Ähnlich Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (782 in Fn. 44) mit der Bemerkung, in einem solchen Fall sei § 130 StGB eine ,Ausgliederung" der „Kollektivbeleidigung unter Herabsetzung der Anforderungen an die Bestimmtheit des Kollektivs". 282 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 4 m. w. N. in Fn. 4; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169) m. w. N. 283 So ζ. B. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 182; Leggewie/Meier, Republikschutz, 1995, S. 140; Ostendorf, NJW 1985, 1062 (1063, 1065). Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 188 in Fn. 240 lehnt ein solches „Rechtsgut" als nichtakzeptabel ab. Frommel, KJ 1995,402 (409) hält schon die Idee für „Polemik". 284 Ebenso Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 95.

224

3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

d) Vorverlegung

von Rechtsgüterschutz

Daß es sich bei § 130 Abs. 1 und 3 StGB nicht um ein Verletzungsdelikt handelt, wurde schon gesagt. 285 Der öffentliche Friede muß nicht gestört sein, damit der Tatbestand erfüllt ist. Es ist der Versuchung zu widerstehen, die Vorverlegung von Rechtsgüterschutz in den Gefahrdungsbereich in aller Breite zu thematisieren, auch wenn es sich dabei um eine hochinteressante strafrechtliche Grundsatzfrage handelt. 286 Die wichtigsten Problempunkte werden daher lediglich unter Verweis auf weiterführende Literatur im jeweils passenden Zusammenhang angesprochen. An dieser Stelle wende ich mich sogleich der für die Anwendung der Volksverhetzungsvorschrift auf die drei Erscheinungsformen des Auschwitz-Leugnens im Mittelpunkt des Interesses stehenden Frage zu, ob es sich beim Tatbestand der Volksverhetzung um ein konkretes oder ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt.

aa) Konkretes Gefährdungsdelikt Wäre § 130 StGB ein konkretes Gefährdungsdelikt, so müßte bei jedem Anwendungsfall der Nachweis geführt werden, der öffentliche Friede sei tatsächlich in Gefahr gewesen. Die im übrigen tatbestandsmäßige Äußerung müßte dann eine solche Wirkung hervorgerufen haben, daß man mit Berechtigung davon sprechen könnte, es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, daß es nicht zu einer Friedensstörung gekommen sei. Vereinzelt finden sich Stimmen, welche die „Eignungsdelikte" in dieser Weise einordnen wollen. 287 Wäre diese Einordnung richtig, dann hätte der Gesetzgeber mit der Normierung der Tatbestandsalternativen des § 130 StGB lediglich zum Ausdruck gebracht, es handle sich bei den dort aufgeführten Äußerungsinhalten um solche, bei denen es naheliege, daß dadurch die Gefahr einer Friedensstörung entstehe. Unter Zugrundelegung des Inhalts der Äußerung und der konkreten Umstände, unter denen sie gefallen ist, hätte der Rechtsanwender dann in jedem Einzelfall darzulegen, als Folge der Äußerung sei mit der Entstehung einer Situation zu rechnen gewesen, in der ein hypothetischer Polizeibeamter verpflichtet gewesen wäre, zum Schutz von Individualrechtsgütern einzuschreiten. Nur einer vom Einfluß des Äußernden unabhängigen, rein zufälli285 Laut Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 15 f. trifft das auf alle Tatbestände des StGB zu, „in deren Tatbestand das Merkmal »geeignet'... auftaucht". 286 Vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 38 f., 202 f.; Dencker, StV 1988, 262 (264 f.); F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 70tt.\ Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (773 ff.); Müller-Dietz, Funktionen des Strafrechts, in: Philipps/Scholler, Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 95 (99 ff.); Rudolphi, ZRP 1979, 214; F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 23; Stree, NJW 1976, 1177; U. Weber, Beiheft ZStW 1987, 1; Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 86 f. 287 Frommel, KJ 1995, 402 (409) [§ 130 StGB]; Gallas, FS f. Heinitz, 1972, S. 171 (181 f.); Lohse, NJW 1971, 1245 (1247) (anders: NJW 1985, 1677 [1678]); Rudolphi, in: SK StGB, § 130 Rn. 9; Schröder, ZStW 81 (1969), 7 (18); Zipf, NJW 1969, 1944 [§ 166 StGB].

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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gen Entwicklung sei es zu verdanken gewesen, daß sich die Situation in der Realität dann doch nicht weiter zugespitzt habe. Ganz abgesehen davon, daß das bereits vertraute Problem auftreten würde, wie der Rechtsanwender bei einem Äußerungsdelikt ohne die Unterstützung sozialwissenschaftlichen Sachverstandes zu einer plausiblen Feststellung realitätsnaher Wirkungszusammenhänge im jeweiligen konkreten Einzelfall kommen sollte, 288 deutet bereits die präzise Formulierung der tatbestandsrelevanten Äußerungsinhalte in § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie Abs. 3 StGB darauf hin, daß der Gesetzgeber solche Äußerungen - im Falle des Absatzes 3 jedenfalls dann, wenn sie öffentlich oder in einer Versammlung getan werden als typischerweise gefährlich für den öffentlichen Frieden angesehen hat. Richtig ist zwar, daß es zur Feststellung, eine dem Tatbestand unterfallende Äußerung sei „geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören", der Berücksichtigung aller konkreten Umstände bedarf, unter denen die Äußerung gefallen ist. Damit ist aber keineswegs gesagt, es müßten auch die konkreten Wirkungen der Äußerung berücksichtigt werden. Die gesetzliche Regelung würde überdehnt, forderte man in jedem Einzelfall den Nachweis, durch die Äußerung sei der öffentliche Friede tatsächlich gefährdet worden. Denn die „Eignungsformel" zielt auf eine generalisierend zu bestimmende, nicht auf eine konkrete Rechtsgutsgefährdung. 289 Daher handelt es sich bei § 130 StGB nicht um ein konkretes Gefährdungsdelikt. 290

bb) Abstraktes Gefährdungsdelikt Wenn § 130 StGB kein konkretes Gefährdungsdelikt ist, dann ist es ein abstraktes. Diese Schlußfolgerung löst lediglich bei denen Widerspruch aus, die meinen, es gebe noch eine dritte, deutlich unterscheidbare Kategorie von Gefährdungsdelikten. In diese Kategorie gehörten Strafnormen, welche ausdrücklich die „Eignung" der tatbestandsmäßigen Handlung verlangen, das jeweils geschützte Rechtsgut zu verletzen. In einem solchen Fall handele es sich um ein „potentielles Gefährdungsdelikt", das dogmatisch zwischen konkretem und abstraktem Gefährdungsdelikt stehe. 291 Die folgenden Überlegungen werden zeigen, daß es sich beim potentiellen Gefährdungsdelikt um eine Unterform des abstrakten Gefähr288 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 275 f. 289 Ebenso Gallas, FS f. Heinitz, 1972, S. 171 (181); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 278 f. 290 In diesem Punkt dann trotz des vorangegangenen Postulates abweichend Gallas, a. a. O., S. 181 f., der die Einordnung des § 130 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt damit begründet, der „öffentliche Friede" sei „der Verletzung unmittelbar zugänglich". 291 OLG Hamburg NJW 1975, 1088; OLG Koblenz MDR 1977, 334; OLG Köln NJW 1981, 1281; v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 4; Giehring, StV 1985, 30 (35); Tröndle/ Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 130 Rn. 2; Wagner, Urteilsanm., JR 1980, 120 (121); U. Weber, Beiheft ZStW 1987, 1 (35 f.); Wehinger, Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 106ff., 113; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 15ff., 101 f., 279, 281. Mit anderer Terminologie aber in der Sache ähnlich Fischer, GA 1989, 445 (446); Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 15, 197, zusf. 201; Schröder, JZ 1967, 522 (525).

15 Wandres

3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

dungsdeliktes handelt, 292 so daß die Bildung einer eigenen Kategorie zumindest für den hier in Rede stehenden Anwendungsfall entbehrlich ist. 2 9 3 Ausgangspunkt der Überlegungen ist, daß ein „abstraktes Gefährdungsdelikt" das Vorhandensein einer Gefahr für das geschützte Rechtsgut nicht voraussetzt. 294 Daher ist die Bezeichnung „Gefährdungsdelikt" eigentlich unpräzise, weil der Gesetzgeber auf der Basis erfahrungsgeleiteter Einschätzung abstrakt und für alle Fälle im Vorhinein entschieden hat, daß ein bestimmtes Verhalten als rechtsgutsgefährdend zu gelten habe. 295 Und zwar unabhängig davon, ob ein dem Tatbestand subsumierbares Verhalten in concreto tatsächlich rechtsgutsgefährdend ist. 2 9 6 Die Rechtsgutsgefährdung ist also nichts, was man bei der Rechtsanwendung feststellen müßte, sondern lediglich das gesetzgeberische Motiv für die Schaffung des Straftatbestandes. 297 Ob der Gesetzgeber mit einer derart pauschalierenden Festlegung gegen das Schuldprinzip verstößt, wenn im konkreten Einzelfall atypischerweise einmal keine Gefahr für ein Rechtsgut entstanden ist, bildet den Gegenstand einer lebhaften Diskussion. 298 Diese theoretisch anspruchsvolle Kontroverse ist freilich nur für solche abstrakten Gefährdungsdelikte relevant, in denen die Textfassung des Strafgesetzes keinerlei Restriktionsmöglichkeit im konkreten Einzelfall vorsieht. Nur dann stellt sich die Frage, ob man einen solchen Gefährdungstatbestand in den beschriebenen Ausnahmefällen einschränkend auslegen darf 2 9 9 - oder aufgrund übergeordneter Erwägungen sogar einschränkend auslegen muß. 300 Bei den „Eignungsdelikten" 301 tritt dieses Problem nicht auf. Der Gesetzgeber hat beispielsweise durch die Schaffung von § 130 Abs. 1 und 3 StGB aufgrund 292 Ebenso Gallas, FS f. Heinitz, 1972, S. 171 (175); Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 116 ff.; Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 26 II 2, S. 264; Lohse, NJW 1985, 1677 (1678) („abstrakt potentielles Gefährdungsdelikt"); Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, 1962, S. 133 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 50 V Rn. 38 („abstrakte Gefährdungsdelikte mit Teilkonkretisierung"). 293 Ebenso Gallas, a. a. O., S. 184. 294 Bohnert, JuS 1984, 182 (183); Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 26 II 2, S. 264. Abweichend Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 257, die annimmt, die Gefahr sei durchaus Tatbestandsmerkmal, ihr Vorliegen werde lediglich contra reum vermutet. 295 Ebenso Schröder, JZ 1967,522. 296 Schünemann, JA 1975, 787 (797). 297 So die herrschende „Motivtheorie", vgl. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 144 f., 148 m. w. N. 298 Vgl. Bohnert, JuS 1984, 182 (184 f.); Fischer, GA 1989, 445 (447); Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (772 f.); Schünemann, JA 1975, 787 (797 f.); E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (828 f.); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 383. 299 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, 1991, S. 151 ff., 349ff., 354f., zusf. 362; Schröder, JZ 1967, 522 (525); ders., ZStW 81 (1969), 7 (16f., 22f.); F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 310. 300 Ablehnend Bohnert, JuS 1984, 182 (186 f.). 301

So die Bezeichnung von Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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übergeordneter Erwägungen, welche entscheidend von leidvollen historischen Erfahrungen beeinflußt sind, die Entscheidung getroffen, daß dem Volksverhetzungstatbestand unterfallende Äußerungen grundsätzlich eine Gefahr für den öffentlichen Frieden darstellen. Ob der Gesetzgeber dabei von zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist, kann allenfalls im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der mit § 130 StGB erfolgten Freiheitsbeschränkung eine Rolle spielen. Auf der Ebene des einfachen Rechts gilt jedenfalls, daß die genauen soziologischen und sozialpsychologischen Wirkungszusammenhänge zwischen Äußerung und Friedensstörung einer Erörterung entzogen sind. 302 § 130 StGB trägt daher alle Charakterzüge eines abstrakten Gefährdungsdelikts. Nun gibt es aber Konstellationen, in denen man daran zweifeln oder gar sicher ausschließen kann, daß es zur Auslösung der befürchteten sozialdynamischen Ursachenkette kommt, an deren Ende die Störung des öffentlichen Friedens steht. 303 In einem solchen Fall ist die konkrete Äußerung unter den Umständen, unter denen sie gefallen ist, gerade nicht „geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören". 304 Diese Möglichkeit war dem Gesetzgeber bewußt, weshalb er eine ausdrückliche Restriktionsmöglichkeit vorgesehen hat. Die „Eignungsformel" ist also nichts anderes als die Aufforderung an den Rechtsanwender, sich in jedem Einzelfall zu vergewissern, ob die im Durchschnittsfall bestehende Gefährdungsgeeignetheit tatbestandlicher Äußerungen tatsächlich auch in der abzuurteilenden Konstellation gegeben ist. 3 0 5 Aus diesen Überlegungen folgt: § 130 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt mit ausdrücklicher tatbestandlicher Restriktionsmöglichkeit. 302

Das gälte umso mehr, übertrüge man mit der Begründung, die hetzerischen Äußerungen eines Einzelnen könnten den öffentlichen Frieden zwar nicht ernsthaft gefährden, aber im Zusammenwirken mit gleichartigem Handeln anderer entstehe eine relevante Gefahr, die Konstruktion eines „Kumulationsdelikts" auf § 130 StGB; vgl. Kuhlen, GA 1986, 389 (399). Gegenüber einer solchen Deliktskategorie krit. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 25; Vogel, StV 1996, 110 (114); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 241 ff.; strikt ablehnend F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 146 („Instrumentalisierung des Strafrechts zu Zwecken der Volkspädagogik"). 303 Zur Feststellungskompetenz im Prozeß vgl. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 111 ff. m. w. N. 304 Für Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 96, 105 f. ist dies beim Vorliegen von „Negationsfaktoren" der Fall, welche das Gefahrmaß auf das „erlaubte Risiko" absenken. In die Richtung auch Stree, NJW 1976, 1177 (1182): „Wer in ungeeigneter Weise ans Werk geht, bedarf mangels Gefährdung des geschützten Rechtsguts keiner Strafe." 305 Ebenso Giehring, StV 1985, 30 (35) (Ausklammerung „atypischer Ausnahmefälle"); Kuhlen, GA 1986, 389 (396); Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen, 1970, S. 203 („Gegenbeweis der Ungefährlichkeit im konkreten Fall"). Trotz ungewöhnlicher Terminologie („konkretes Gefähr/ic/tfe/tedelikt") in die gleiche Richtung Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 280, 388 (Ausscheidung des „bloßen Ungehorsams"). Fischer, NStZ 1988, 159 (160 f.) kommt aufgrund einer Rechtsprechungsanalyse zum Ergebnis, die Gerichte machten nur dann Ausführungen zur Friedensstörungseignung, wenn sie nicht vorliege. Daran ist - entgegen Fischer - nichts auszusetzen, weil bei „Eignungsdelikten" die Störungseignung die Regel, ihr Fehlen die Ausnahme ist. Ähnlich Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 210 f.; zusf. 215; rechtspolitische Überlegungen S. 484. 15*

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2. Tatbestandsmäßige Handlung Unter allen denkbaren Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen imstande sind, interessieren hier lediglich diejenigen, welche unter die Rubrik ,Auschwitz-Leugnen" fallen. Daher wird von vorneherein nur ein Ausschnitt aus dem Anwendungsbereich des § 130 StGB behandelt. Die neugefaßte Volksverhetzungsvorschrift differenziert in derart komplizierter Weise zwischen mündlichen Äußerungen und dem Inhalt von Schriften, 306 daß die Besonderheiten der Schriftenverbreitung - sei es in identifizierender oder in „inhaltsneutraler" Weise - aus Gründen der Übersichtlichkeit zunächst ausgespart und später gesondert erörtert werden. 307

a)§ 130 Abs. 3 StGB Es liegt auf der Hand, daß es zweckmäßig ist, die Strafbarkeit des AuschwitzLeugnens zuerst anhand der Vorschrift zu prüfen, die speziell zu seiner Erfassung geschaffen wurde. Dabei soll aber die allgemeiner gefaßte „eigentliche" Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 StGB) stets im Auge behalten werden - sei es auch nur, um die relevanten Unterschiede nicht zu übersehen. Der auf Anhieb auffallende Unterschied ist, daß § 130 Abs. 3 StGB keinen konkreten Bezugspunkt für die tatbestandsmäßige Äußerung nennt, während in Absatz 1 durchgängig von einem „Teil der Bevölkerung" die Rede ist, auf den sich die Äußerung beziehen muß. 308 Die Tatbestandsalternativen des § 130 Abs. 3 StGB sind das „Billigen", das „Leugnen" und das „Verharmlosen". Äußerungen, die sich unter die Tatbestandsalternative „billigen" subsumieren lassen, fallen aus dem hier behandelten Themenkreis „Auschwitz-Leugnen" heraus, weil jemand, der den Holocaust als ganzes - oder auch nur eine einzelne Völkermordhandlung - für moralisch richtig erklärt, zugleich das von ihm Gebilligte als Tatsache anerkennt. 309 Eine konkrete, unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Völkermordtat billigt nämlich, wer die Tat gutheißt, d. h. die Tatsache ihrer Begehung als positiv bezeichnet.310 Insoweit bedient sich § 130 Abs. 3 306 Siehe die Übersicht über den Regelungsgehalt des § 130 StGB, oben Zweiter Teil, B. II. 1., S. 135 ff. (tabellarisch S. 138). 507 Siehe unten Dritter Teil, Β. II. 3., S. 266 ff. 308 Man ist sich einig, daß damit grundsätzlich die im Inland lebende Bevölkerung - unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit - gemeint ist, weil § 130 StGB den inländischen öffentlichen Frieden schützt; vgl. Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169 f.); Uckner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 2; Lenckner, in: Schönke/ Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 3. 3

o Dazu Eschen, ZRP 1983, 10 (11 f.); Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: HdbStR, Bd. I, 1995, S. 143 (151, Rn. 16); Rzepka, Mehr Strafrecht als Antwort auf rechtsextremistische Gewalt?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankf./M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 245 (247) m. w. Ν. 4

» So auch Baumann, Urteilsanm., NStZ 1994, 392; Blau, Urteilsanm., JR 1986, 82 (83); Wassermann, RuP 1993, 181 (183). 4 12 Siehe oben Erster Teil, Β. II. 1. c), S. 92f. 4 13 Ausführlich oben Erster Teil, Β. II. 1. b), S. 83 ff.

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mordes im Dritten Reich hat gegenüber der Totalleugnung aus Sicht der Auschwitz-Leugner mehrere Vorteile: Wenn nur ein historischer Teilbereich der Kritik unterzogen wird, klingen die Ausführungen nicht ganz so abstrus, und es hat nicht auf den allerersten Blick den Anschein, das Vorgetragene könne nur verblendetem Geiste entsprungen sein oder verborgenen politischen Zielen dienen. Desweiteren haben die Propagandisten des Auschwitz-Leugnens hellsichtig erkannt, daß es für ihr selbstgesetztes Ziel, Deutschland von seiner historischen Schuld zu befreien, nicht nötig ist, das deutsche Volk als makelloses Unschuldslamm hinzustellen, sondern daß es für diesen Zweck völlig ausreicht, die Verbrechen des Dritten Reiches nicht schlimmer als die „unbereuten und ungesühnten Massenverbrechen anderer Völker" 4 1 4 erscheinen zu lassen. Die auffallende Konzentration auf die technischen Aspekte der Massenvergasungen hat zudem den taktischen Vorteil, daß sich auf diesem Gebiet auch geschichtswissenschaftlich nicht ausgewiesene Personen tummeln können, und daß das Publikum mit kompliziert aussehenden Berechnungen und chemischen Formeln erfahrungsgemäß leicht zu beeindrucken ist. Schließlich - und das ist wahrscheinlich der ausschlaggebende Punkt - ist es im Zusammenhang mit dem Holocaust am erfolgversprechendsten, gezielt den Teilbereich anzuzweifeln, der wegen seines Charakters als „Gipfel des Vorstellbaren" ganz allgemein besonders schwer zu glauben ist. 4 1 5 Alle diese Beweggründe tragen jedoch nicht das Urteil, beim Bestreiten der Gaskammertötungen habe man es im Gegensatz zum Totalleugnen immer mit Äußerungen zu tun, die einen agitatorischen Gruppenbezug aufwiesen. Ganz im Gegenteil kommt es häufig vor, daß Auschwitz-Leugner, welche die planmäßigen Tötungen von Menschen in Gaskammern in Frage stellen, ausdrücklich darauf hinweisen, sie strebten mit ihren Aktivitäten die „Versöhnung zwischen Juden und Deutschen" an. 4 1 6 - Auch in meinen Ohren klingt ein solches Bekenntnis hohl, doch kann man bei einem Äußerungsdelikt mehr verlangen? Die Volksverhetzungsvorschrift verbietet friedensgefährdende Äußerungen, wenn sie im konkreten Fall störungsgeeignet sind. Entspricht ein Äußerungsinhalt nicht diesen Kriterien, kann er keine Strafbarkeit begründen. Man kommt schließlich auch nicht auf den Gedanken, eine höfliche Ehrbezeugung sei deshalb als Beleidigung anzusehen, weil man dem Äußernden wegen seines Charakters oder seiner Gesinnung nicht abnehmen könne, daß es ihm damit ernst sei. Trotzdem wird man bei denen, welche die Gaskammertötungen bestreiten, besonders genau hinsehen müssen. Sollte sich das Vorgetragene als nur ironisch gemeint entlarven lassen, bleibt davon die Auslegung der in Rede stehenden Äußerung natürlich nicht unberührt. Daher wird beispielsweise ein agitatorischer Gruppenbezug festzustellen sein, wenn sich ein Leugner der Gaskammertötungen augenzwinkernd mit einem „eingeweihten" 414 Die Formulierung stammt aus dem skandalauslösenden „Deckert-Urteil", LG Mannheim NJW 1994, 2494 (2498). 4 »5 Dazu bereits oben Erster Teil, Α. I. 7., S. 46 f. 41 6 Gauss (Pseudonym), Streitpunkt Judenvernichtung, in: ders. (Hrsg.), Grundlagen zur Zeitgeschichte, 1994, S. 15 f.

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Zuhörerkreis über die weitergehenden Ziele seiner Ausführungen verständigt. Freilich wird es in der Praxis außerordentlich schwierig sein, solche weitergehenden Bestrebungen nachzuweisen, wenn sie in der Äußerung nicht zum Ausdruck gekommen sind. Daher gilt auch beim Bestreiten der Gaskammertötungen das gleiche, was bereits für das Totalleugnen herausgearbeitet wurde: Für den Fall, daß ein agitatorischer Gruppenbezug der Äußerung feststellbar ist, wird meist AuschwitzLeugnen in den Erscheinungsformen 2 oder 3 vorliegen. (3) (Zwischen-)Ergebnis Regelmäßig wird dem Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) selbst dann die konkrete Störungseignung fehlen, wenn die eigenwillige Geschichtssicht auf eine Totalleugnung des Holocaust hinausläuft oder die Gaskammertötungen in Abrede gestellt werden. 417 Denn normalerweise wird mit solchen Äußerungen, auch wenn sie öffentlich oder in einer Versammlung fallen, kein agitatorischer Gruppenbezug hergestellt. Die Überlegung, mit der Leugnung der historischen Wahrheit werde zugleich aktuell gegen dieselben Opfergruppen Stimmung gemacht, die im Dritten Reich verfolgt worden sind, ist insofern unlogisch, als es dafür erforderlich wäre, dem Auschwitz-Leugner zum Zwecke des Nachweises seiner Ziele genau die Geschichtssicht unterzuschieben, die er hartnäckig bestreitet. Diese Überlegung trifft daher nur für solche Äußerungen zu, in denen der Holocaust gebilligt wird (§ 130 Abs. 3 Alt. 1 StGB). 418 Hingegen ist beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 die Störungseignung der Äußerung durchgängig gegeben, weil bei dieser Erscheinungsform entweder die Zielgruppe, gegen die sich eine Pogromstimmung nach Vorstellung des Äußernden entwickeln soll, ausdrücklich benannt wird oder sich im Falle des (Wieder-)Anknüpfens an die nationalsozialistische Rassenlehre aus den Inhalten dieser Ideologie ergibt. Beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 liegt der erforderliche Gruppenbezug darin, daß „die Juden" als Urheber oder zumindest Nutznießer einer „Geschichtsfälschung" hingestellt werden. Im Falle der Juden wiegt die bösartige Unterstellung, sie hätten ihr Verfolgungsschicksal nur erfunden, deshalb ganz besonders schwer, weil damit an uralte antisemitische Stereotype 4 1 9 angeknüpft wird. Daher wird durch solche Äußerungen - neben der darin liegenden Ehrverletzung - auch eindeutig ein Teil der Bevölkerung 420 als Ziel-

™ Ebenso Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 250, 262 f. «ι» Ganz parallel Dietz, KJ 1995, 210 (220) für die Frage des „Angriffs auf die Menschenwürde". Die Gleichsetzung von „Leugnen" und „Billigen" problematisiert auch Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1175). siehe dazu oben Dritter Teil, Β. I. 3. b) bb), S. 205 f. mit Fn. 205. Es ist davon auszugehen, daß nur die im Inland lebenden Juden als taugliche Zielgruppe einer Volksverhetzung anzusehen sind. Siehe dazu oben Zweiter Teil, Β. II. 1., S. 137 sowie v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 33; Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1169); Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 130 Rn. 2; Lenckner, 420

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

gruppe für zukünftige pogromartige Angriffe markiert. Schließlich ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, daß dem Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 trotz genereller Störungseignung ausnahmsweise die konkrete fehlt, wofür die relevanten Gesichtspunkte (ζ. B. Fachhistoriker als Zuhörerkreis) bereits genannt wurden. 421 Beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 ist ein solcher Fall allerdings undenkbar.

b) § 130 Abs. 1 StGB aa) Erscheinungsformen 1 und 3 Nach dem bisher Gesagten liegt es auf der Hand, daß sich Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) erst recht nicht unter § 130 Abs. 1 StGB subsumieren läßt, weil dessen Anwendungsbereich erkennbar enger ist als der des Absatzes 3. Ebenso naheliegend ist umgekehrt die Feststellung, daß Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 so gut wie immer Absatz 1 unterfällt. Entweder geht die Instrumentalisierung der Zeitgeschichte des Holocaust so weit, daß eine gezielte und unmißverständliche Aufforderung 422 zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen erfolgt (Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 ) 4 2 3 oder aber - und das dürfte in der Praxis der Hauptanwendungsfall sein - es wird auf Basis des Auschwitz-Leugnens zielgerichtet zum Haß gegen im Inland lebende Juden aufgestachelt (Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1), d. h. „eine gesteigerte, über bloße Verachtung und Ablehnung hinausgehende feindselige Haltung gegen die betreffenden Bevölkerungsteile erzeugt oder verstärkt". 424 In beiden Fällen handelt es sich neben der Vergiftung des öffentlichen Klimas zugleich um eine besonders massive Schmähung, Diffamierung und Diskriminierung, welche auf den Kernbereich der Persönlichkeit zielt und erkennbar von der ideologischen Grundannahme ausgeht, die Angehörigen der in Bezug genommenen Personengruppe hätten nicht das Recht, als Menschen gleichen Ranges in der Gesellschaft zu leben. 425 Die mit dem in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 60. 421 Siehe oben, Dritter Teil, Β. II. 2. a) bb), S. 247 sowie Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 22. 4 22 Die Äußerung muß erkennbar darauf abzielen, die Adressaten unmittelbar zu Gewaltoder Willkürmaßnahmen motivieren zu wollen; vgl. BGHSt 32, 310 (313); v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 111 Rn. 8 ff., § 130 Rn. 19. 423 wird die Art der angesonnenen Gewalt- und Willkürmaßnahmen hinreichend konkretisiert, so kommt eine tatbestandliche Überschneidung mit § 111 StGB in Betracht, vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 19. 424 BGHSt 40, 97 (102). 425 Zu diesen Kriterien vgl. BGHSt 16, 49 (56); 21, 371 (373); 31, 226 (231); 36, 83 (90 f.); 40, 97 (100); BGH NStZ 1981, 258; OLG Hamburg NJW 1975, 1088; OLG Celle NJW 1982, 1545 (1546); OLG Düsseldorf NJW 1986, 2518; OLG Frankfurt NJW 1989, 1367 (1369); OLG Koblenz G A 1984, 575 (576); LG Frankfurt StV 1990, 73 (77); Mau-

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VerbrBekG vorgenommene Streichung des „Angriffs auf die Menschenwürde" als zusätzliches restriktives Merkmal dieser Äußerungsalternative hat also bezüglich des materiellen Gehalts der neuen Vorschrift keine Veränderung gegenüber der bisherigen Rechtslage gebracht, weil eine derart unmißverständlichen Hetze gegen eine Bevölkerungsgruppe in nahezu allen denkbaren Fällen zugleich einen Angriff auf die Menschenwürde der Gruppenangehörigen enthält, ihr ein Menschenwürdeangriff immanent ist. 4 2 6 Sollte Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 ausnahmsweise nur gegenüber dem diffamierten Personenkreis selbst erfolgen, mangelte es der Äußerung wegen des fehlenden Drittbezugs am für Absatz 1 Nr. 1 erforderlichen Aufstachelungs- bzw. Aufforderungscharakter. 427 In einem solchen Fall griffe dann aber Absatz 1 Nr. 2 Alt. 1 (,3eschimpfen") ein, weil ohne Zweifel ein Angriff auf die Menschenwürde vorliegt. Fällt eine dem § 130 Abs. 1 StGB subsumierbare Äußerung, ist es im Gegensatz zu Absatz 3 wegen ihres inhaltlichen Gewichts unerheblich, ob das öffentlich (oder in einer Versammlung) geschieht,428 die Eignung zur Friedensstörung kann allenfalls bei solchen Begleitumständen entfallen, die es ausnahmsweise ausgeschlossen erscheinen lassen, daß die Äußerung auch nur die geringste Außenwirkung erzielt. 429 Als in der Praxis wichtigster Ausnahmefall kommt eine Äußerung unter vier Augen oder im kleinsten Kreis eindeutig nicht tatbereiter Personen in Betracht, wo dem Täter zumindest der Vorsatz fehlt, seine Äußerung könne nach außen getragen werden und dadurch den öffentlichen Frieden stören. 430 bb) Erscheinungsform 2 Nicht ganz so einfach ist die Frage zu beantworten, ob Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 unter § 130 Abs. 1 StGB fällt. Wegen des höchstens subtilen Aufforderungscharakters dieser Erscheinungsform ist ihre Subsumtion unter § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB nahezu ausgeschlossen. Hinsichtlich Nr. 2 ergeben sich insofern Probleme, als dafür ein Angriff auf die Menschenwürde anderer erforderlich wäre. Angesichts dieser Ausgangslage ist es kein Wunder, daß die Rechtsprechung unter Geltung des § 130 a.F. StGB mit der strafrechtlichen Erfassung der ,Auschwitz-Lüge" - verstanden als Behauptung, die etablierte Geschichtsschreibung des Holocaust beruhe auf einer Jüdischen Fälschung" - nicht geringe Probleme hatte. 431 räch/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 59; Schafheutie, JZ 1960,470 (473). 426 So auch die Gesetzesbegründung; vgl. BT-Drucks. 12/6853 v. 18. 02. 1994, S. 24. 427 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 5a. «s BGHSt 34, 329 (332) [§ 126]; v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 14; Schafheutie, YL 1960,470 (472); Streng, FS f. Lackner, 1987,501 (516 f.). 429 Maurach/Schroeder/Maiwald, StrR BT Teil-Bd. 2, 8. Aufl. 1999, § 60 V Rn. 66.; Streng, FS f. Lackner, 1987, 501 (517). 430 v. Bubnoff in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 29 m. w. N. 431 Eine Übersicht gibt BGHSt 40, 97 (101 f.). 17 Wandres

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Am ehesten wird man Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 mit § 130 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 u. 3 StGB erfassen können, indem man es als gebündelte Beschimpfung und/oder Verleumdung aller in Deutschland lebenden Juden einordnet, 4 3 2 die damit der „Geschichtsfälschung" oder ihrer zweckhaften Aufrechterhaltung bezichtigt werden. Ohne Zweifel ist der „Fälschungs"-Vorwurf so absurd wie ehrverletzend 433 - aber werden damit die derart Bezichtigten auch im Kernbereich ihrer Persönlichkeit getroffen, wird ihnen das Lebensrecht als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger abgesprochen? Das Erfordernis der Menschenwürdeverletzung in § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB wurde vom Gesetzgeber als restriktives Tatbestandsmerkmal bewußt beibehalten, um die Anwendung der Vorschrift auf besonders massive Schmähungen, Diffamierungen und Diskriminierungen zu begrenzen. 434 Damit sollte auch die im Vergleich zu den Beleidigungsvorschriften erheblich höhere Strafdrohung gerechtfertigt werden. Die Volksverhetzungsvorschrift bezweckt ja gerade keinen erweiterten Ehrenschutz, 435 sondern dient dem Schutz des öffentlichen Friedens. Die Erfahrung zeigt aber, daß zumindest thematisch „neutraler" gelagerte Beschimpfungen oder Verleumdungen erst dann eine Gefahr für den öffentlichen Frieden darstellen, wenn damit den Betroffenen zugleich der Status als vollwertiger Mensch abgesprochen wird. 4 3 6 Beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 könnte freilich deshalb ein Sonderfall vorliegen, weil in Deutschland eine yWenfeindliche Äußerung stets die Erinnerung an das wachruft, was im Dritten Reich auf Basis einer ungebremsten Rassenideologie geschehen ist, 4 3 7 und sich daher die Schlagkraft einer antisemitischen Beschimpfung bzw. Verleumdung im Vergleich zu anderen herabsetzenden Äußerungsinhalten regelrecht potenzieren kann. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Beleidigungsrecht ausführlich dargelegt, knüpft der Vorwurf der „Lügenhaftigkeit" an ein uraltes antisemitisches Stereotyp an. 4 3 8 Daher ist es je nach der konkreten Fallgestaltung nicht ausgeschlossen, daß beispielsweise hinter der Behauptung einer ,Auschwitz-Lüge" tatsächlich ein nur dürftig getarnter Angriff auf den Persönlichkeitskern - und damit auf die Menschenwürde - von in Deutschland lebenden Juden steckt. Die Schwierigkeiten einer präzisen Einordnung wurzeln darin, daß nicht die allgemeine Gesinnung des Täters zur Grundlage strafrechtlicher Bewertung gemacht werden darf, 439 sondern lediglich das, was der konkreten Äußerung nach Inhalt und 432 Zur Differenzierung vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 5d: Soweit sich die Äußerung an die Betroffenen selbst richtet, ist,»Beschimpfen" einschlägig, „Verleumden" bei Äußerungen gegenüber Dritten. 433 Siehe oben Dritter Teil, Β. I. 2. b) bb), S. 198 f. 434 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 1,6. 435 y. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 21. Abweichend Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (782 in Fn. 44). 436 z. B. Ausländerdiskriminiemng; vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 25. 437 Baumann, MDR 1963, 87 (90). 438 Siehe oben Dritter Teil, Β. I. 3. b) bb), S. 205 f. mit Fn. 205.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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Umständen zu entnehmen ist. Trotzdem bleibt die Auslegung einer Äußerung nicht völlig unberührt davon, für was der Äußernde aufgrund seiner allgemeinen politischen Positionierung steht - man denke nur an „Gallionsfiguren" der rechtsextremistischen Szene. Um ein Beispiel zu geben: Es werden geradezu entgegengesetzte Botschaften verkündet, je nachdem, ob ein kahlgeschorener Neonazi augenzwinkernd antiquarische Exemplare von Hitlers „Mein Kampf 4 anbietet, oder ob das Angebot von einem antifaschistischen Buchhändler kommt, der das Buch seinen Kunden mit dem Hinweis empfiehlt, er setze auf die aufklärerische und damit abschreckende Kraft der Lektüre. 440 Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen es Auschwitz-Leugnern zumindest am Vorsatz fehlt, 441 eine menschenwürdeverletzende Äußerung zu tun. Namentlich bei jungen und politisch unerfahrenen Tätern ist sorgfältig zu prüfen, ob ihnen die historischen und ideologischen Zusammenhänge überhaupt bewußt sind, aus denen wachsame und aufgeklärte Zeitgenossen auf eine Anknüpfung an antisemitische Stereotype schließen. Ist die antisemitische Zielrichtung der Äußerung hingegen unübersehbar, so liegt das in aller Regel daran, daß in offen feindseliger und besonders abfälliger Weise über die angeblichen Urheber oder Nutznießer der „Geschichtsfälschung" gesprochen, möglicherweise sogar „zwischen den Zeilen" an die nationalsozialistische Rassenideologie (wieder-)angeknüpft wird. Solche Äußerungen bewegen sich dann aber bereits im Grenzbereich zum eindeutig unter § 130 Abs. 1 StGB fallenden Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3.

cc) (Zwischen-)Ergebnis Für § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB wäre ein von direktem Vorsatz getragenes, zielgerichtetes Aufstacheln zum Haß bzw. Auffordern Dritter zum pogromartigen Tätigwerden gegen die angeblichen Urheber oder Nutznießer einer „Geschichtsfälschung" erforderlich. 442 An dieser Voraussetzung fehlt es beim AuschwitzLeugnen in der Erscheinungsform 2 - von Ausnahmen im Grenzbereich zur Erscheinungsform 3 abgesehen - so gut wie immer. 443 Und für Absatz 1 Nr. 2 fehlt 439 F.-C. Schroeder, Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 297 („eine Gesinnungsabwehr ... i s t . . . für ein rechtsstaatliches Strafrecht untragbar"). 440 ζ . B. hält Plack, Wie oft wird Hitler noch besiegt?, 1982, S. 333 ff. die Lektüre für „die beste Kur, um von dem gutherzigen Glauben zu heilen, all das Schlimme, das später geschah, habe ,der Führer 4 selber gar nicht gewollt" (S. 336). Zur rechtlichen Bewertung (§§ 86, 86a StGB): BGH NJW 1979, 2216ff.; Bottke, BuB 1980, 254 (259f.); krit. Klug, Tribüne 18 (1979), Heft 72, S. 70 (75 f.). 441 Bezugspunkt: alle Merkmale des obj. Tatbestandes; vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 29. 442 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 5, § 111 Rn. 3, 17. Abweichend v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 29, der bedingten Vorsatz für ausreichend hält. 443 im Ergebnis trotz gleicher Prämissen abweichend Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 5a („eindeutig ein Aufstacheln zum Haß"). 17*

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

es regelmäßig an einem vorsätzlichen Angriff auf die Menschenwürde, auch wenn die Grenzziehung im Einzelfall außerordentlich schwierig sein kann. AuschwitzLeugnen in der Erscheinungsform 2 fällt daher in aller Regel nicht unter § 130 Abs. 1 StGB. Insofern hat die Neufassung der Volksverhetzungsvorschrift durch das VerbrBekG nicht lediglich eine Klarstellung und Bekräftigung, sondern auch eine behutsame Erweiterung der Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens gebracht. Denn aus heutiger Sicht war die Erscheinungsform 2 nach der alten Fassung des §130 StGB nur mit sehr viel Mühe dem Tatbestand subsumierbar - auch wenn sich die Rechtsprechung in den konkret zu entscheidenden Fällen stets der Mühe unterzog, einen vertretbaren Weg zur Überwindung der in der alten Gesetzesfassung angelegten Schwierigkeiten zu finden. 444 Der wichtigste Anwendungsfall, die Behauptung einer ,Auschwitz-Lüge", kann jetzt jedenfalls ohne jeden Kunstgriff nach Absatz 3 erfaßt werden, während der wesentlich enger gefaßte Absatz 1 bei dieser Erscheinungsform nur in besonders gelagerten Fällen einschlägig sein wird.

3. Besonderheiten des Verbreitens von Schriften Die einzelnen Tathandlungen des Verbreitungstatbestandes (§ 130 Abs. 2 u. 4 StGB) einschließlich der im Gesetz angelegten Unstimmigkeiten wurden bereits beschrieben. 445 Einer mündlichen Äußerung ist in aller Regel zu entnehmen, daß sich der Sprecher mit dem Inhalt des von ihm Gesagten identifiziert. Tut er das ausnahmsweise nicht, so wird lediglich eine Fremdäußerung weiterverbreitet, was allenfalls für § 130 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 3 StGB („Verleumden") ausreichend sein kann, weil die Volksverhetzung im übrigen den Charakter eines persönlichen Äußerungsdelikts hat und daher einen eigenen feindseligen Angriff voraussetzt. 446 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Wer sich zwar nicht mündlich, aber als Autor schriftlich äußert, kann selbstverständlich bei entsprechendem Inhalt einer ihm zurechenbaren Schrift etc. ohne weiteres den Äußerungstatbestand (§ 130 Abs. 1 u. 3 StGB) erfüllen. 447 Ebenso verhält es sich mit Personen, die eine aus fremder Feder stammende Schrift unter zustimmender Kommentierung, egal ob mündlich oder schriftlich, verbreiten. 448 In solchen Fällen ist der Äußerungstat444 Hierfür war meist der manifeste rechtsextremistische Hintergrund ausschlaggebend. Daran zeigt sich eindrucksvoll, wie haltlos der pauschale Vorwurf an die deutsche Justiz ist, sie sei „auf dem rechten Auge blind"; siehe oben Zweiter Teil, Α. II. 3., S. 118. Siehe oben Zweiter Teil, Β. II. 1., S. 135 ff. ^ v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 28. 447

Bei Schrifteninhalten, die ausschließlich § 130 III StGB unterfallen, freilich nur, wenn die Schriften etc. an die Öffentlichkeit gelangen oder in einer Versammlung verbreitet werden. 448

Spezialfälle sind die in Zukunft voraussichtlich an Bedeutung gewinnende Verbreitung via Internet, dazu Conradi /Schlömer, NStZ 1996, 366 ff. (1. Teil), 472 ff. (2. Teil); Derksen, NJW 1997, 1878 ff.; Finke, Die strafrechtliche Verantwortung von Internet-Providern, 1998, S. 106 ff., zusf. 140; Sieber, NJW 1999, 2065 ff., und die Weiterverwendung von Sachen, auf

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Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

bestand gegenüber dem Verbreitungstatbestand spezieller, ner deutlich höheren Strafdrohung niederschlägt.

449

was sich auch in sei-

Der Verbreitungstatbestand zielt hingegen auf denjenigen, der unwiderlegbar behauptet, er selbst mache sich den ihm bekannten450 Schrifteninhalt nicht zu eigen. Diese schlichte Tradierung einer fremden Äußerung kann trotz der fehlenden persönlichen Identifikation ein erhebliches friedensstörendes Potential entfalten. Eine schriftlich oder auf andere Weise (§ 11 Abs. 3 StGB) verkörperte Erklärung vermag sowohl langfristiger als auch intensiver zu wirken als das flüchtige Wort. Bei § 130 Abs. 2 StGB handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, dessen gesetzgeberisches Motiv das unkontrollierbare Agitations- und Aufstachelungspotential diskriminierender Schriften ist. 4 5 1 Für die Auslegung einer Schrift ist deren objektiver Sinngehalt, Zweck und Erklärungswert ausschlaggebend, wie er von einem verständigen, unvoreingenommenen Durchschnittsleser verstanden wird. 4 5 2 Im hier interessierenden Anwendungsbereich der Vorschrift sind daher von Absatz 2 auf jeden Fall solche Schriften etc. erfaßt, die Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 enthalten.453 Auch wenn der Verbreitungstatbestand grundsätzlich eine konkrete Prüfung der Störungseignung nicht voraussetzt, weil der Gesetzgeber wegen der Breitenwirkung und der Beständigkeit des geschriebenen Wortes diese Eignung generell für gegeben ansah,454 ist das für Schriften anders, die keinen in Absatz 2 beschriebenen Inhalt haben. Denn § 130 Abs. 4 StGB nimmt auf Absatz 3 Bezug, so daß die Eignung des Sdmitcninhalts, den öffentlichen Frieden zu stören, Tatbestandsmerkmal ist. 4 5 5 Die Bestimmung der Störungseignung erfolgt ganz parallel zu identifizierenden Äußerungen: Schriften etc., welche Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) enthalten, fehlt es so gut wie immer an der Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören. 456 Hingegen fällt Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 wegen seiner Störungseignung unter den Verbreitungstatbestand des die von einem anderen tatbestandsmäßige Erklärungen aufgebracht wurden (ζ. B. „Graffiti"), dazu U. Weber, FS f. Oehler, 1985, S. 83 ff. Zum Problem des Erfolgsortes (§ 9 Abs. 1 StGB) bei im Ausland erfolgender Intemet-Einspeisung tatbestandsmäßiger Inhalte Finke, a. a. Ο., S. 51, 56 (Vorsatz bzgl. inländischer Kennntnisnahme: Absicht); Heinrich, G A 1999, 72 (75 f., 82) (Vorsatz: dolus eventualis). 449 Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer, LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168 (1175). 450 Der Tätervorsatz muß sich auf den Inhalt der Schrift beziehen; vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 40. 451 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 32. 452 y. Bubnoff, a. a. O., Rn. 38. 453 Zur Subsumtion im einzelnen siehe die parallel gelagerte Problematik bei § 1301, oben Dritter Teil, Β. II. 2. b) aa), S. 256 f. 454 Das trifft ζ. B. auch auf tatbestandsmäßige zeitgenössische NS-Schriften wie Hitlers „Mein Kampf 4 zu, deren seriöser Einzelvertrieb freilich von § 86 III StGB gedeckt sein kann; vgl. Bottke, BuB 1980, 254 (259 f.); a. A. Klug, Tribüne 18 (1979), Heft 72, S. 70 (75 f.). 455 So auch Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 23. 456 Siehe oben Dritter Teil, Β. II. 2. a) bb) (2), S. 251 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Absatzes 4. Der wichtigste Fall ist die Behauptung einer, Auschwitz-Lüge" - auch in verklausulierter Form.

4. Anwendung des § 86 Abs. 3 StGB a) Mündliche Äußerungen und identifizierende

schriftliche

Darlegungen

Nach der hier herausgearbeiteten Lösung wird die Anwendungsbreite der über §130 Abs. 5 StGB teilweise in Bezug genommenen „Sozialadäquanzklausel" für mündliche oder identifizierende schriftliche Äußerungen außerordentlich gering bleiben. 457 Für § 130 Abs. 1 StGB ist die Geltung der Klausel gerade nicht angeordnet, so daß es im Falle des Auschwitz-Leugnens in der Erscheinungsform 3 in allen Fällen bei der Strafbarkeit bleibt. In der Praxis ähnlich dürfte die Lage beim Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 sein, auch wenn für den diesbezüglich einschlägigen § 130 Abs. 3 StGB die Geltung der Klausel angeordnet ist. Das Eingreifen des tatbestandsausschließenden458 § 86 Abs. 3 StGB ist nämlich nur in wenigen Fällen denkbar, beispielsweise bei zurückhaltender künstlerischer Darbietung im Rahmen einer Spielhandlung (Film, Theater etc.). Als weiterer Anwendungsfall kommt die Diskussion innerhalb eines geschlossenen Fachpublikums in Betracht. In solchen Fällen wird es jedoch meist schon an der Störungseignung einer Äußerung der Erscheinungsform 2 fehlen. Das könnte nur anders sein, wenn sich jemand bei einer Fachdiskussion als Geschichtsklitterer betätigte, also beispielsweise bewußt gefälschte Dokumente zum „Beweis" einer von anderen begangenen „Geschichtsfälschung" vorlegte. Dann aber wäre nicht ersichtlich, worin das für § 86 Abs. 3 StGB erforderliche berechtigte Interesse an einer solchen Verhaltensweise bestehen sollte. 459 Da schließlich Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) mangels eindeutigen Gruppenbezugs selbst im Falle der Totalleugnung oder des Bestreitens der Gaskammertötungen für sich gesehen in aller Regel nicht die Eignung besitzt, den öffentlichen Frieden zu stören, entfaltet § 86 Abs. 3 StGB in diesem Zusammenhang lediglich eine flankierende Wirkung. Diese Wirkung besteht darin, daß in schwer zu beurteilenden Grenzfällen eine zusätzliche juristische „Rückversicherung" 460 geboten wird, wenn sich jemand beispielsweise im Rahmen einer wissenschaftlichen Fachtagung oder bei einer Veranstaltung zum Zwecke staatsbürgerlicher Aufklärung 457 im gleichen Sinne Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 130 Rn. 25 („Die praktische Bedeutung... dürfte nicht allzu groß sein"). 458 y. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 53. Ähnliche Bedenken hat auch Geilen, Volksverhetzung, in: Ulsamer LdR, 2. Aufl. 1996, S. 1168(1180). 460 Ähnlich v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 53. Zur Bedeutung einer „sicheren Zone" zur Vermeidung von „chilling effect" und sicherheitshalber geübter Selbstzensur vgl. Frowein, AöR 105 (1980), 169 (186 f.); Grimm, NJW 1995, 1697 (1704); Grünwald, KJ 1979, 291 (293).

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

263

dergestalt äußert, daß er nicht sicher ausschließen kann, in den umstrittenen Grenzbereich zur Strafbarkeit zu geraten.

b) Verbreiten

von Schriften etc.

Im Bereich der Verbreitung fremder Äußerungen entfaltet die „Sozialadäquanzklausel" ihre eigentliche Bedeutung. Das öffentliche Interesse an Sammlung und Auswertung von Schriften, die Auschwitz-Leugnen in allen Erscheinungsformen enthalten, sowie die Verwendung solcher Schriften als Grundlage unterrichtender Information oder staatsbürgerlicher Aufklärung ist unübersehbar und von Verfassungs wegen geschützt (Art. 5 Abs. 1, 3 GG). Auch die journalistische Berichterstattung über die Umtriebe rechtsextremistischer Geschichtsklitterer darf nicht behindert werden, auch wenn damit zugleich ein „Verbreiten" der anstößigen Botschaften verbunden ist. 4 6 1 Die Klausel soll allerdings ersichtlich nur eingreifen, wenn mindestens die persönliche Distanz des Verbreitenden gegenüber dem Inhalt, besser seine klare Ablehnung zum Ausdruck kommt, weil er sonst Gefahr läuft, den Boden der Sonderstellung, die ihm als Wissenschaftler, Journalist, Lehrer usw. eingeräumt ist, zu verlassen. Schließlich sorgt der Verweis auf § 86 Abs. 3 Alt. 8 StGB („Geschichte") für eine Klärung der Rechtslage, was die ungehinderte Erörterung aller Einzelaspekte des nationalsozialistischen Völkermordes für Zwecke der historischen Wissenschaft angeht. Das ist deshalb wichtig, weil nicht erst die sichere, sondern bereits die unter nicht eindeutig erkennbaren Umständen drohende Strafverfolgung den unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG stehenden wissenschaftlichen Diskurs behindern würde. Die Bedeutung des in Absatz 5 vorgenommenen Verweises auf § 86 Abs. 3 StGB besteht also überwiegend in der verfassungsrechtlichen Flankierung und Absicherung des § 130 Abs. 2 - 4 StGB. 462

c) Resümee Wegen der beschriebenen Wirkungen, die von der in § 130 Abs. 5 StGB teilweise angeordneten Geltung der „Sozialadäquanzklausel" ausgehen, würde eine empfindliche Schwachstelle im Systemgefüge des Volksverhetzungstatbestandes geschaffen, verstünde man die Absätze 3 und 4 abweichend von der hier vertretenen Ansicht dahin, bereits Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) unterfalle dem Tatbestand. Dieses verfehlte Verständ461 Zweifelhaft ist das jedoch für die unkommentierte Berichterstattung, die Beihilfe zur Verwirklichung des Äußerungstatbestands sein kann; vgl. v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 53. Abweichend EGMR NStZ 1995, 237 m. Anm. Stöker, S. 239f. [Jersild . / . Dänemark], wo in der Bestrafung eines solchen Journalistenverhaltens ein Verstoß gegen Art. 10 II EMRK gesehen wird. 462 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 53; siehe näher unten Vierter Teil, B. u. C., S. 276 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

nis hätte nämlich zur Folge, daß man zwischen dem Tatbestand und der tatbestandsausschließenden Adäquanzklausel prinzipiell unendlich in einem logischen Zirkel umherirrte. Denn die Klausel erlaubte dann das, was der Tatbestand verböte: Die Erörterung der Geschichte zum Zwecke der Geschichte. Protagonisten einer radikalen Geschichtsrevison berufen sich bekanntlich darauf, sie verfolgten lediglich unschuldige Interessen, ihnen gehe es um Erkenntnisgewinn, um „die historische Wahrheit". 463 Die bisherige juristische Linie, mit dieser listig-verschlagenen Taktik radikaler Revisionisten zu verfahren, bestand im Kern darin, solche Positionen aus dem Einzugsbereich des Wissenschaftsprivilegs hinauszuexpedieren, indem man sie als „pseudo-wissenschaftlich" brandmarkte. 464 Ein derartiger Kunstgriff ist aber methodisch außerordentlich riskant, weil es schwerlich gelingen wird, die Grenze zu einer justiziellen Ergebniskontrolle wissenschaftlicher Bemühungen überzeugend abzustecken. Wegen des Fehlens jeden verläßlichen Maßstabes würde man eine Grenzüberschreitung vermutlich gar nicht bemerken. Auch das spricht für die hier herausgearbeitete Lösung: Solange sich Auschwitz-Leugner strikt auf die Erörterung dessen beschränken, was sie in ihrer Verblendung für die historische Wahrheit halten (Erscheinungsform 1), erfüllen sie schon nicht den Tatbestand des § 130 StGB - und zwar ohne daß es eines Rekurses auf § 86 Abs. 3 StGB bedürfte. Sobald jedoch die „Wahrheitssuche" radikaler Revisionisten - welche stets unseren Argwohn wecken sollte 465 - auch nur im geringsten in das Sumpfgebiet angeblicher „Geschichtsfälschungen" abdriftet (Erscheinungsform 2), tritt das Strafrecht auf den Plan. Dann treten die soeben beschriebenen Schwierigkeiten schon deshalb nicht auf, weil wegen des - in der Regel kollektiv vermittelten - Personenbezugs solcher Äußerungen der strafrechtliche Vorwurf gar nicht an die Geschichtserörterung als solche anknüpft, sondern an die gezielte Herabsetzung von Individuen und die davon ausgehende Gefahr für den öffentlichen Frieden. Für dieses eigentlich angestrebte Ziel spielt das Thema „Geschichte" nur die Rolle eines prinzipiell austauschbaren Vehikels. Da § 86 Abs. 3 StGB perfider individuumsbezogener Agitation keinen Freifahrschein ausstellt, bleibt es in solchen Fällen bei der Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 oder 4 StGB.

I I I . Sonderproblem: Der Überzeugungstäter „Psychologisch besteht kein Unterschied zwischen der intensiven Verfolgung einer wahren Idee durch einen Forscher, einer leidenschaftlichen Vertretung einer politischen oder ethischen Überzeugung, und ... überwertigen Ideen." 466 Eine 463 Siehe oben Erster Teil, Β. II. 3. b), S. 96. 464 v. Bubnoff, in: LK 11. Aufl., § 130 Rn. 44 („Pseudosachverständige"); siehe auch unten Vierter Teil, C. I., S. 300 ff. 465 466

v. Bubnoff, a. a. O., Rn. 43 („vordergründige Scheinobjektivität"). Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 1913, S. 89 f.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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„überwertige Idee" dürfte in vielen Fällen die entscheidende innere Triebfeder für Auschwitz-Leugnen sein. 467 Nach dem in dieser Untersuchung herausgearbeiteten Ergebnis wird kein Straftatbestand erfüllt, wenn sich das Ausleben der „überwertigen Idee" auf die Äußerung von Zweifeln an der etablierten Geschichtssicht beschränkt, wenn also der Äußernde davon beherrscht ist, „dem Volk die Wahrheit über die Geschichte des Dritten Reiches ... vermitteln zu müssen". 468 Insofern scheint sich das Problem der Überzeugungstäterschaft gar nicht zu stellen: Das, was von der Überzeugung getragen ist, ist nicht strafbar, und das, was strafbar ist, hängt mit der Überzeugung nicht mehr unmittelbar zusammen. Freilich verwischen sich die theoretisch klar zu ziehenden Grenzen in der Praxis. Denn wer der festen Überzeugung ist, an der Existenz des nationalsozialistischen Völkermordes bestünden weitreichende Zweifel, der wird sich früher oder später mit der bohrenden Frage konfrontiert sehen, wie er sich denn vor dem Hintergrund seiner eigenwilligen Prämisse das Zustandekommen der etablierten historischen Forschungsergebnisse 4 6 9 oder beispielsweise das Urteil im Auschwitz-Prozeß 470 erkläre. Nach einer halbwegs einleuchtenden Antwort ringend, ist es für einen ideologisch motivierten Überzeugungstäter nur ein kleiner Schritt zum Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 und damit zu einer Überschreitung der Strafbarkeitsgrenze. 471

1. Maßgeblicher Personenkreis Nur für den in dieser Weise von einer „überwertigen Idee" beherrschten Personenkreis spielt das Problem der Überzeugungstäterschaft eine Rolle. Die zu beurteilende Tat ist nicht die Überzeugung selbst, 472 sondern eine aus Überzeugung begangene Sammelbeleidigung und/oder Volksverhetzung. Ausschließlich demjenigen, der von der Unwahrheit der etablierten Geschichtssicht des Holocaust subjektiv völlig überzeugt ist, kann man bezüglich der weitergehenden Beschuldigung, „die Juden" hätten die „Geschichte gefälscht", zugestehen, es gebe zwischen seiner Prämisse (falsche Geschichte) und seiner Schlußfolgerung (Juden als Urheber) so etwas wie eine innere Logik, auch wenn sich die logische Beziehung darin erschöpft, einem einmal eingeschlagenen irrationalen Gedankenpfad stur zu folgen, auch wenn er in die Irre führt. Von vorneherein nicht in die Kategorie der Überzeugungstat fällt daher Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3, weil es sich dabei um gezielte Agitation handelt, bei der die „Überzeugung" lediglich 467 468 469 470

Aus psychiatrischer Sicht: de Boor, Wahn und Wirklichkeit, 1997, S. 17 f. de Boor, a. a. O., S. 61. Siehe oben Erster Teil, Α. I., S. 24 ff. Abdruck: Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 92ff.

471 Vgl. die Interviews mit Auschwitz-Leugnern bei de Boor, a. a. O., S. 54ff.; S. 60 (63 f.) [Deckert]', S. 68 (70). 472 Grünwald, Bewertung politischer Straftaten, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 20 (21).

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

darin besteht, den Angehörigen der Gruppe, gegen die gehetzt wird, komme kein gleicher Menschenwert zu. Auch fällt Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 dann nicht in die hier diskutierte Kategorie, wenn es sich um Geschichtsklitterung handelt, d. h. wenn der Äußernde genau weiß, daß er derjenige ist, der das historische Geschehen verfälscht. 473 Solche Fälle sind vor allem bei Strategen der extremen Rechten denkbar, welche anstreben, die propagierte Ideologie von ihrer erdrückenden historischen Bürde zu befreien.

2. Juristische Konsequenzen Mit Einführung der Einheitsstrafe durch das 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969 hat die Diskussion um eine „nicht-entehrende" Strafe für Überzeugungstäter 474 ihren Gegenstand verloren. Heute geht es nicht mehr um die Art der Strafe, sondern um die Frage der Angemessenheit ihrer (uneingeschränkten) Verhängung bei Tätern, die ihre Straftat aus politischer oder moralischer Überzeugung begangen haben. Aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) leitet das BVerfG nämlich ein allgemeines „Wohlwollensgebot" bei der Bestrafung von Gewissenstätern ab, 4 7 5 worüber sich in der strafrechtlichen Literatur „vielfach einige Ratlosigkeit" 476 eingestellt hat. Die spannende Frage lautet nämlich: Ist das Strafrecht verpflichtet, selbst Auschwitz-Leugner „mit Wohlwollen" zu behandeln? a) Tatbestands-, Rechtfertigungs-

oder Schuldlösung

Eine - im weitesten Sinne - politische Überzeugung in der Weise juristisch zu Buche schlagen zu lassen, daß davon bereits die Tatbestandsmäßigkeit berührt würde, wird heute ganz durchgängig mit der Begründung abgelehnt, eine Rechtsnorm sei auch dann bindend, wenn sie vom einzelnen nicht als sittliche Pflicht anerkannt werde 4 7 7 Während im Teilbereich der Unterlassung gesetzlich gebotenen Tuns diskutiert wird, ob ernsthafte Gewissensnöte ausnahmsweise zu einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens führen können, 478 kommt eine solche 473 Zu den Feststellungsproblemen siehe oben Erster Teil, Β. II. 1. a), S. 80 ff. 474 Vgl. Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 10 ff.; Gödan, Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 1975, S. 18 ff. 475 BVerfGE 23, 127(134). 476 So die Einschätzung von Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 389 (390). Krit. Baumann, MDR 1963, 87 (89) („nicht eben erfreulich klar"); Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 24 ff. Von einer noch heute „schwierigen Problematik" sprechen Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 46 Rn. 19a und verweisen auf das Spezialschrifttum (Rn. 19b). 477 Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 44ff.; Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 38 11, S. 418; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 46 Rn. 15. 478 BVerfGE 32, 98; Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 47 III 2 a), S. 505 f. m. w. N.

Β. Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens

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Dispensierung von der Verbotsnorm bei positivem Tun 4 7 9 - also auch bei einer strafbewehrten Äußerung - nach heute herrschender Auffassung schon deshalb nicht in Betracht, weil sonst der Schutz von Rechtsgütern seiner Mitbürger „weitgehend zur Disposition des Gewissenstäters gestellt" wäre 480 und damit „Geltung und Verbindlichkeit der Rechtsordnung für den einzelnen unter dem Vorbehalt seines Gewissens" stünden 4 8 1 Während man dieses Ergebnis für den echten Gewissenstäter, der den Anruf seiner inneren Wertinstanz als unbedingte sittliche Verpflichtung erlebt, durchaus in Zweifel ziehen könnte, ist es für den politischen Überzeugungstäter kaum zu erschüttern 4 8 2 Auch als Rechtfertigungsgrund kann die politische Überzeugung grundsätzlich keine Rolle spielen. 483 Das muß jedenfalls dann gelten, wenn die in Rede stehende Tat - gedacht als staatliche Handlung - nach Maßstäben der Menschenrechte und des Völkerrechts nicht zu rechtfertigen wäre, 484 denn sonst gewährte man dem Einzelnen weitergehende Eingriffsbefugnisse in die Grundrechte anderer als dem Staat. 485 Aus dieser Erwägung ergibt sich auch ein weiteres Argument dafür, daß die dem Antisemitismus und anderen Spielarten des Rassismus zugrundeliegende Auffassung von einem unterschiedlichen Menschenwert für die Bestimmung des Tatunrechts irrelevant ist. Auch am Unrechtsbewußtsein fehlt es einem Überzeugungstäter nicht, wenn er beispielsweise die „Auschwitz-Lüge" propagiert. Denn zweifellos weiß der Propagandist, daß es sich bei den Normbefehlen, die er ignoriert, um formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmende Straftatbestände handelt. 486 Die Schuld des Täters liegt daher in einem solchen Fall darin, „daß er bewußt an die Stelle der Wertordnung 479 Gegen eine Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen: Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 69; Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 389 (394). 4 «o Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 47 III 2 b), S. 506.

481 Struensee, JZ 1984, 645 (647). 482 So auch Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 389 (392), der lediglich eine Berücksichtigung im Bereich der Strafzumessung für angemessen hält. An die Differenzierung knüpft Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 59 ff., 74 ff. unterschiedliche Rechtsfolgen. Die objektive Rechtsgutsverletzung erklärt Schünemann, Politisch motivierte Kriminalität, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 49 (52, 59) im Gegensatz zur subjektiven Tendenz des Täters für entscheidend, steht aber der Differenzierung zwischen Gewissensund Überzeugungstaten mit der Begründung kritisch gegenüber, sie laufe auf eine „verkappte Bewertung des Gewissensinhalts" hinaus (S. 91). 483 Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 46 ff.; Schünemann, Politisch motivierte Kriminalität, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 49 (69); Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 46 Rn. 15. 484 So auch Grünwald, Bewertung politischer Straftaten, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 20 (31). 485 Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 389 (401); Schünemann, Politisch motivierte Kriminalität, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 49 (68). 486 Zu dieser Voraussetzung Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 411 3 a), S. 454; aus rechtsphilosophischer Sicht Gödan, Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 1975, S. 285; aus staatstheoretischer Sicht Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 126; aus kriminologischer Sicht Laubenthal, MSchrKrim 1989, 326 ff. Siehe auch unten Vierter Teil, S. 275 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

der Gemeinschaft seine eigene setzt und von dieser her im Einzelfall falsch wertet". 487 Daß sich die „überwertige Idee", eine Mission in Sachen historischer Wahrheit zu haben, einmal derart wahnhaft verdichtet, daß von verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gesprochen werden müßte, ist zwar nicht völlig ausgeschlossen 4 8 8 wird aber in aller Regel nicht der Fall sein. 489 Schließlich kommt auch kein auf Gewissensgründe (Art. 4 Abs. 1 GG) gestützter Strafbefreiungsgrund 490 in Betracht. b) Strafzumessung Die einschlägige Überzeugung könnte also allenfalls im Bereich der Strafzumessung (§ 46 Abs. 2 StGB, „Gesinnung") eine Rolle spielen. Es fragt sich nur, welche Rolle. Während politisch motivierte Kriminalität am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Verhängung von Festungshaft privilegiert bestraft wurde 4 9 1 geht die Tendenz heute eher dahin, eine manifeste Überzeugung strafschärfend zu bewerten, 492 weil der „sittliche Wert" einer Überzeugungstat zwar prinzipiell einen geringeren Unrechts- und Schuldgehalt begründen könne, dagegen aber abzuwägen sei, „ob dieser Strafminderungsgrund nicht durch die besondere Gefährlichkeit des leidenschaftlich an seinem Glauben festhaltenden und zur jederzeitigen Wiederaufnahme des Kampfes bereiten Fanatikers wieder ausgeglichen wird." 4 9 3 Abweichend von der Ansicht, beim Überzeugungstäter laufe alles auf eine gegenseitige Aufhebung der positiven und negativen Aspekte hinaus, wird vorgeschlagen, weiter zu differenzieren: Eine strafmildernde Berücksichtigung der Tatsache einer Überzeugungstäterschaft komme nur dann in Betracht, wenn beim Täter eine „achtenswerte" Überzeugung vorliege. 494 Sei die Überzeugung „billigenswert", so könne nämlich eine gleichwohl vorgenommene Bestrafung keinem legitimen Strafzweck dienen. 495 An der Voraussetzung einer achtens- und billigenswerten Überzeugung 487 BGHSt 2, 194 (208). Zum Sonderfall der Übereinstimmung zwischen individueller und gesetzlicher Wertung im Unrechtsstaat vgl. Gödan, a. a. O., S. 175. 488 de Boor, Wahn und Wirklichkeit, 1997, S. 74 f. 489

Schünemann, a. a. O., S. 102 f. So die dogmatische Einordnung der Gewissenstat durch Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 38 (409 ff.). Grundsätzlich ablehnend Struensee, JZ 1984, 645 (647). Für die Einordnung als Entschuldigungsgrund Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, Vor § 32 Rn. 32 m. w. N. 491 Grünwald, Bewertung politischer Straftaten, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 20 (36). 4 92 Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975, S. 57, 83 f. m. w. Ν.; H. Jung, Urteilsanm., JuS 1995,462 (463); Roxin, FS f. Maihofer, 1988, S. 389 (392). 490

49

3 BGHSt 8,162(163). BGHSt 8,162 (163); BayObLG NJW 1980,2424; Jescheck/Weigend, StrR AT, 5. Aufl. 1996, § 83 II 2, S. 888; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 46 Rn. 33; Schünemann, Politisch motivierte Kriminalität, in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität, 1978, S. 49 (107 f.) ( „ . . . zum Wohle anderer oder der Allgemeinheit"). 49 5 BVerfGE 32, 98 (108 f.). 494

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fehlt es jedoch beim diskriminierenden Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 und erst recht in der Erscheinungsform 3 ausnahmslos.496 Auch ist die beim Täter vorhandene „Überzeugung" nichts anderes als das typische Motiv für die Begehung diskriminierender Äußerungsdelikte. Daher kann die Tätergesinnung nicht strafmildernd in Ansatz gebracht werden. Aber auch eine Strafschärfung dürfte -jedenfalls für § 130 StGB - durchgängig am Verbot der Doppelverwertung solcher Umstände scheitern, die bereits Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind (§ 46 Abs. 3 StGB). Denn die menschenverachtende antisemitische Tätergesinnung ist zwar keine ausdrückliche Voraussetzung der Tatbestandserfüllung, aber ihre mit Abstand häufigste geistige Ursache und damit ein regelmäßiger Begleitumstand. 497

IV. Zusammenfassung und Konkurrenzen Überblicksartig läßt sich die strafrechtliche Erfassung des Auschwitz-Leugnens, die sich nach dem hier entworfenen Konzept ergibt, wie folgt zusammenfassen: 1. Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision) ist weder als Individual- noch als Sammelbeleidigung strafbar. Was die Volksverhetzung (§ 130 StGB) angeht, scheidet eine Strafbarkeit nach Absatz 1 aus. Eine tatbestandliche Erfassung nach Absatz 3 - bei Schriftenverbreitung nach Absatz 4 - ist grundsätzlich denkbar, wenn eine Äußerung mit besonders hohem Agitationspotential vorliegt, also insbesondere eine Totalleugnung (bzw. eine ihr sehr nahe kommende Verharmlosung) des Holocaust oder die Leugnung der massenhaften Tötung von Menschen in Gaskammern. In der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle wird es jedoch einer solchen Äußerung schon deshalb an der im Einzelfall festzustellenden Eignung fehlen, den öffentlichen Frieden zu stören, weil ein zur finalen Steuerung Tatgeneigter (miß-)brauchbarer Bezug auf einen „Teil der Bevölkerung" nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zum Ausdruck kommt. 2. Das Bild ändert sich schlagartig, sobald Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2, insbesondere die berüchtigte „Auschwitz-Lüge", vorliegt. Das ist der Fall, wenn zusätzlich zur Forderung nach einer radikalen Geschichtsrevision konkludent oder ausdrücklich eine „Geschichtsfälschung" bzw. deren Nutzbarmachung behauptet wird. Diese falsche Tatsachenbehauptung ist beleidigungsrechtlich relevant und im Falle der am häufigsten vorkommenden Bezugnahme auf 496

Siehe bereits oben Dritter Teil, Β. I. 4., S. 207 f. Insbesondere ist die „Weckung und Stärkung von Widerstandskräften im deutschen Volk" kein achtenswerter Beweggrund; vgl. H. Jung, Urteilsanm., JuS 1995,462. 497

Zur Maßgeblichkeit der „regelmäßigen" Begleitumstände und Tatfolgen vgl. S tree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 46 Rn. 45a m. w. N.; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, § 46 Rn. 37. Differenzierend Uckner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 46 Rn. 45 f. m. w. N.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

„die Juden" als angebliche Urheber oder Nutznießer der „Fälschung" auch ohne konkret-individuelle Adressierung als Sammelbeleidigung (§§ 185 ff. StGB) strafbar. Eines Strafantrags bedarf es in der Mehrzahl der aktuell denkbaren öffentlichkeitswirksamen Fälle wegen § 194 StGB nicht. 498 Daneben besteht zumeist eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 StGB, weil bei Äußerungsvarianten mit besonders hohem Agitationspotential, also insbesondere bei einer Totalleugnung oder einer Leugnung der Gaskammertötungen, ohne weiteres der abstrakte Gefährdungstatbestand eingreift und die Eignungsformel aufgrund des personenbezogenen Einschlags der Äußerung so gut wie nie eine Korrektur erforderlich macht. Bei der nicht-identifizierenden Verbreitung von Schriften etc. entsprechenden Inhalts ist § 130 Abs. 4 StGB einschlägig. 499 Beleidigung und Volksverhetzung stehen zueinander im Verhältnis der Idealkonkurrenz; wegen der Verschiedenartigkeit des jeweils geschützten Rechtsguts - bezüglich des Rechtsguts „Ehre" jedenfalls wegen der unterschiedlichen Schutztechnik500 - scheidet Gesetzeskonkurrenz (ζ. B. Spezialität des § 130 Abs. 3 StGB) aus. 3. Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 3 erfüllt grundsätzlich den Tatbestand der Beleidigung, der Schwerpunkt des in einem solchen Verhalten liegenden Unrechts wird jedoch durch eine Bestrafung nach § 130 Abs. 1 StGB erfaßt. Gegenüber dem zugleich erfüllten Absatz 3 ist Absatz 1 spezieller. In Einzelfällen ist es denkbar, daß wegen der in nüchtern-kalkulierter Weise erfolgten Hetze eine Beleidigung ausscheidet, zumeist wird jedoch zwischen (Sammel-)Beleidigung und Volksverhetzung Idealkonkurrenz anzunehmen sein.

C. Strafprozeß: Allgemeinkundigkeit des Holocaust Folgt man der hier vertretenen Lösung zur strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens, so spielt die „historische Wahrheit" in Strafprozessen gegen Auschwitz-Leugner so gut wie keine, nämlich allenfalls eine indirekte Rolle. Sowohl für eine Bestrafung als Beleidigung als auch für eine Bestrafung als Volksverhetzung hat das historische Geschehen keinen höheren Stellenwert als den einer - von den Propagandisten der extremen Rechten allerdings nicht zufällig gewählten - Kulisse, vor der aktuelle Ehrabschneidungen und Hetztiraden zur Aufführung gelangen. Die damit mögliche Schwerpunktverlagerung auf andere Beweisthemen hat eine Reihe praktischer Vorzüge: Das Gericht kann die Aufklärung des Sachverhalts, vor allem die Feststellung von Äußerungsinhalt und -umständen, in den Mittelpunkt seiner Beweisaufnahme stellen, Zeit und Aufwand rücken in ein angemes498 499

Zu den Einzelheiten siehe oben Dritter Teil, Β. I. 5., S. 208 f. Zu den Einzelheiten siehe oben Dritter Teil, Β. II. 3., S. 260 ff.

5 °o Dieses Argument ist erforderlich, wenn man das Rechtsgut der Volksverhetzung als die Summe der durch die anderen Straftatbestände (hier: §§ 185 ff.) geschützten Rechtsgüter auffaßt; siehe oben Dritter Teil, Β. II. 1., S. 211 mit Fn. 223.

C. Strafprozeß: Allgemeinkundigkeit des Holocaust

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senes Verhältnis zum für die Feststellung des Unrechtskerns verwendungsfähigen Ertrag und zugleich entschwindet das Schreckgespenst eines „Historikerstreits im Gerichtssaal". Dem könnte entgegengehalten werden, so sei es auch schon bisher gewesen, und man dürfe davon ausgehen, daß sich durch die Neufassung des § 130 StGB nichts geändert habe. Der erste Teil des Einwands trifft zu, der zweite nur, wenn man der hier vertretenen materiellrechtlichen Lösung folgt. Bekanntlich hat die hergebrachte, nahezu unbestrittene Einordnung der historischen Wahrheit „des Holocaust" als offenkundige - genauer gesagt: allgemeinkundige - Tatsache,501 die prozessuale Konsequenz, daß ein diesbezüglicher (Gegen-)Beweisantrag vom Gericht abgelehnt werden kann (§ 244 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 StPO). 502 Die Systematik des § 244 StPO ist klar und nahezu unumstritten. Ein Beweisantrag muß abgelehnt werden, wenn die Beweiserhebung unzulässig ist (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO). Das sind ζ. B. Fälle, in denen ein Beweisthema- oder -verwertungsverbot eingreift, was für die historische Wahrheit des Holocaust nicht einschlägig ist. Eine diesbezügliche Beweiserhebung ist nicht unzulässig, sondern überflüssig. 503 Die Strafgerichte konnten daher in einem Prozeß gegen Auschwitz-Leugner einen historischen Sachverständigen hören, durften darauf aber verzichten, weil die Tatsache des millionenfachen Judenmordes als offenkundig gilt. Den klugen Verzicht übten die Strafgerichte durchweg, um den Rechtsextremisten kein Propagandaforum zu eröffnen und zugleich eine öffentlichkeitswirksame Wiederholung der verletzenden und hetzerischen Parolen zu verhindern. Verzichten Strafgerichte wegen Offenkundigkeit auf eine Beweisaufnahme über den Holocaust in seinen groben Zügen, so ist daran auch unter der aktuellen Rechtslage nicht das geringste auszusetzen.504 Kritisch würde es jedoch, wenn historische Detailfragen zu verhandeln wären. Folgte man der hier vertretenen Lösung nicht, welche eine ohne jeden Personenbezug vorgetragene radikale Geschichtsrevison generell für straffrei hält, stünde man vor der Frage, ob die Gerichte bei der dann denkbaren Anwendung des abweichend verstandenen § 130 Abs. 3 Alt. 2 StGB („Verharmlosen") auch in Zukunft eine Beweiserhebung über historische Tatsachen rundweg ablehnen dürften. Das ist fraglich, weil ein weit soi BVerfG NJW 1993, 916 (917); BGHSt 31, 226 (231 f.); 40, 97 (99); BGHZ 75, 160 (162); BGH NStZ 1981, 258; 1994, 140; OLG Schleswig MDR 1978, 333; OLG Köln NJW 1981, 1280 (1281); OLG Celle NJW 1982, 1545. 502 Nach dem Wortlaut erlaubt die Vorschrift lediglich die Ablehnung von Beweisanträgen im Hinblick auf eine Tatsache, die wegen Offenkundigkeit positiv feststeht, doch ist man sich weitgehend einig, daß sie auch auf eine Tatsache anwendbar ist, deren Gegenteil feststeht; vgl. BGHSt 6, 292 (296); BayObLG JR 1966, 227; OLG Düsseldorf MDR 1980, 868 (869); OLG Hamburg NJW 1968, 2303 (2304); Sarstedt/Hamm, Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rn. 374f.; a.A. Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 242; Feuerpeil, Der Beweisablehnungsgrund der Offenkundigkeit, 1987, S. 28 f., 64 ff., 106 f., 132 ff. m. w. N. 503 Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 227; vgl. auch die eindeutige Formulierung des § 291 ZPO. 504 A.A. Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 249 ff.

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

verstandenes Verharmlosen des Holocaust in derart subtiler Weise erfolgen kann, 505 daß man die Behauptungen, sobald sie sich auf historische Einzelheiten beziehen, nur um den Preis einer Ausblendung des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes506 mit der angeblichen Allgemeinkundigkeit des Gegenteils widerlegen könnte. „Allgemeinkundigkeit" soll nämlich - so die übereinstimmende Ansicht in der Literatur - als Unterbegriff zur „Offenkundigkeit" auf gleicher Stufe mit der „Gerichtskundigkeit" stehen. 507 Allgemeinkundig sei eine Tatsache dann, wenn sie einem „verständigen und erfahrenen Menschen" entweder schon bekannt sei oder von diesem Menschen aus allgemein zugänglichen Quellen zuverlässig erschlossen werden könne. 508 Allgemeinkundigkeit steht damit im Gegensatz zum sogenannten Expertenwissen. Alle Kommentatoren nennen für Allgemeinkundigkeit unter anderem das Beispiel „örtliche Verhältnisse". Geographische Daten könne man, wenn man mit ihnen nicht ohnehin vertraut sei, in der passenden Landkarte nachschlagen. Auf den ersten Blick überzeugt diese Begründung, und man ist geneigt, lediglich die in der Literatur als problematisch bezeichneten Fallgestaltungen auch für wirklich problematisch zu halten. In die problematische Kategorie sollen beispielsweise aktuelle Tagesereignisse gehören. Zwar könne man sich über solche Ereignisse durch die Lektüre von Presseberichten informieren. Allgemeinkundig werde durch die Presseveröffentlichung freilich nur die Tatsache, daß der Journalist die publizierte Einschätzung der Ereignisse abgegeben habe. Daß die Darstellung des Verfassers der Wahrheit entspreche, sei damit allerdings nicht gesagt. 509 In dieses Schema eingefügt, ist der Holocaust in seinen groben Zügen zweifellos eine allgemeinkundige Tatsache, über die jeder Bescheid weiß oder sich aus allgemein zugänglichen Quellen, ζ. B. einem Lehrbuch für den Geschichtsunterricht, informieren kann. Ebenso wie es allgemeinkundig ist, daß Berlin im Nordosten, Konstanz im Südwesten der Bundesrepublik liegt - oder noch eindeutiger: daß Berlin und Konstanz als deutsche Städte existieren. Problematisch wird es aber, je 505 Siehe oben, Erster Teil, Α. I. 4., S. 37 f. 506 Siehe oben, Erster Teil, Α. I., S. 24 ff. 507 Feuerpeil, Der Beweisablehnungsgrund der Offenkundigkeit, 1987, S. 34f.; Fischer in: Pfeiffer/ders., StPO, 1995, § 244 Rn. 26; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 227; Herdegen in: Karlsruher Kommentar, 3. Aufl. 1993, § 244 Rn. 69; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 244 Rn. 50; Schlächter in: SK StPO, § 244 Rn. 85. 508 BVerfGE 10, 177 (183); BGHSt 6, 292 (293); 26, 56 (59); RGSt 16, 327 (331); Feuerpeil, Der Beweisablehnungsgrund der Offenkundigkeit, 1987, S. 18, 35f., 42ff.; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 228 f.; Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 13, 35 (Fn. 193); Herdegen in: Karlsruher Kommentar, 3. Aufl. 1993, § 244 Rn. 80; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 244 Rn. 51. 509 Herdegen in: Karlsruher Kommentar, 3. Aufl. 1993, § 244 Rn. 69; Sarstedt/Hamm, Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rn. 371; Schlächter in: SK StPO, § 244 Rn. 87 (jeweils m. w. N.).

C. Strafprozeß: Allgemeinkundigkeit des Holocaust

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weiter man ins Detail geht. 510 Das trifft für geographische Verhältnisse in gleicher Weise zu wie für die Einzelheiten des Völkermordes an den europäischen Juden. Ist es wirklich noch allgemeinkundig, daß eine kleine Verbindungsstraße in einem Vorort von Hamburg als Einbahnstraße ausgewiesen ist? Für die Gesamtbevölkerung Deutschlands sicher nicht mehr, für ortsansässige Bürger möglicherweise, soweit man voraussetzen kann, daß sie in räumlicher Nähe der betreffenden Straße wohnen oder die zur Hand liegenden Stadtpläne in diesem Detail zuverlässig sind. Aber kann man das voraussetzen? 511 Wenn durch die Tatbestandsalternative „Verharmlosen" in § 130 Abs. 3 StGB tatsächlich die Tatsachenbehauptung auf den gerichtlichen Prüfstand gelangte, in einem bestimmten Konzentrationslager sei die Zahl der durch Zyklon Β getöteten Juden gegenüber den verhungerten, durch Erhängen oder Erschießen getöteten und der „Vernichtung durch Arbeit" zugeführten „nicht der Rede wert" gewesen, kann man dann noch von „Allgemeinkundigkeit" des Gegenteils sprechen? In welchen allgemein zugänglichen Quellen soll der „verständige und lebenserfahrene Mensch" diese Einzelheiten nachschlagen? Gerade was die genauen Opferzahlen, den Ort und die Art der Massentötungen angeht, sind diese Details durch die seriöse Holocaustforschung in den letzten Jahren immer wieder im Sinne eines möglichst exakten Forschungsstandes korrigiert worden. Sich zu Einzelfragen des Holocaust wirklich treffend zu äußern, gelingt daher nur Experten. 512 Es versteht sich von selbst, daß man der Versuchung, gleichwohl Allgemeinkundigkeit anzunehmen, aus rechtsstaatlichen Gründen nicht erliegen sollte. Die prozessuale Folge ist klar: Ein historischer Sachverständiger müßte ein Gutachten zu den im Einzelfall geleugneten historischen Details erstatten. 513 Allenfalls wäre denkbar, daß sich ein Gericht nach einer Reihe von gleichgelagerten Verfahren gegen „Auschwitz-Verharmloser" auf die Gerichtskundigkeit 514 des Gegenteils der jeweils zu beweisenden Tatsache beriefe. Auch dadurch würde eine Beweisaufnahme überflüssig. Zur Sprache kommen müßten die relevanten historischen Tatsachen aber, das gebietet der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, in der Hauptverhandlung auf jeden Fall. 5 1 5 510 Sarstedt/Hamm, Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rn. 372 f. m. zahlr. Bsp. und dem wichtigen Hinweis, daß Offenkundigkeit nicht unbedingt Wahrheit heiße. 511 Zu den möglichen Fehlerquellen Feuerpeil, Der Beweisablehnungsgrund der Offenkundigkeit, 1987, S. 75 ff. (80). 512 So auch Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 229. Noch deutlicher Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 249 ff., 262 f. 513 Zum Zeitzeugenbeweis Graul, Offenkundigkeit im Strafprozeß, 1996, S. 261 f.; zur Ablehnung eines historischen Sachverständigen wg. Ungeeignetheit S. 248. 514 Vgl. Feuerpeil, a. a. O., S. 36 ff., 44 f.; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 230; Herdegen in: Karlsruher Kommentar, 3. Aufl. 1993, § 244 Rn. 71; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 244 Rn. 52 f.; Schlächter, in: SK StPO, § 244 Rn. 90 f. A.A. Keller, ZStW 101 (1989), 381 (393,406 ff.) („Expertenwissen"). 515 BVerfGE 10, 177 (183); 48, 206 (209); BGHSt 6, 292 (295 f.); Gollwitzer in: Löwe/ Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1987, § 244 Rn. 234; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 244 Rn. 3; Sarstedt/Hamm, Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rn. 380. In einer 18 Wandres

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3. Teil: Neukonzeption der strafrechtlichen Erfassung des Auschwitz-Leugnens

Folgt man der hier vertretenen materiellrechtlichen Lösung, tritt das prozessuale Problem nicht auf. Lediglich bei der entschiedenen Zurückweisung der rechtsextremistischen Behauptung, „die Juden" hätten die Geschichte „verfälscht", um das deutsche Volk ins Unrecht zu setzen, findet selbstverständlich das Offenkundigkeitsprinzip Anwendung. Indirekt spielt zwar auch in diesem Zusammenhang die Offenkundigkeit des Holocaust eine Rolle, doch reicht dafür ohne weiteres die Gewißheit über die großen Linien des Völkermordgeschehens. Aus der offenkundigen Faktizität der Verfolgung und Ermordung von Millionen jüdischer Menschen im Dritten Reich kann man nämlich den Schluß ziehen, daß dem ebenso pauschalen wie grotesken „Geschichtsfälschungs"-Vorwurf von vorneherein jeder logische Anknüpfungspunkt fehlt, weil eine ins Gewicht fallende Diskrepanz zwischen der etablierten Geschichtsdarstellung des jüdischen Verfolgungsschicksals und dem historischen Geschehen nicht festzustellen ist. Die Vorteile, welche sich aus der Entbehrlichkeit einer Beweisaufnahme über das historische Geschehen im Dritten Reich für die Praxis der Strafgerichte ergeben, sollte man nicht unterschätzen. Die prozessuale Perspektive liefert daher ein zusätzliches Argument dafür, daß die Justiz gut daran tut, wenn sie sich im Wege einer restriktiven Auslegung der einschlägigen Strafvorschriften auf den Schutz subjektiver Rechtspositionen beschränkt und sich eines abschließenden Urteils über „die Geschichte" so weit als möglich enthält. Als einzige - wenn auch bedeutsame - Ausnahme kann die konkrete strafrechtliche Ahndung der in Rede stehenden historischen Taten gelten, soweit es darum ging, 5 1 6 über die für diese Taten Verantwortlichen zu Gericht zu sitzen. Es wäre ebenso unklug wie aussichtslos, wollte man die halbherzig betriebene Strafverfolgung der NS-Täter durch blinden Eifer bei der Bestrafung der Geschichtsverfälscher wettmachen, deren Umtriebe durch die Versäumnisse begünstigt wurden, wenn nicht sogar erst möglich geworden sind.

vereinzelt gebliebenen E (Urt. v. 11. 11. 1976, 2 StR 508/76 [unveröffentlicht]) hat der BGH sogar die Einführung durch einen historischen Sachverständigen verlangt. 516 Die Wahl der Vergangenheitsform bringt zum Ausdruck, daß eine auch nur annähernd vollständige Ahndung der NS-Verbrechen heute nicht mehr zu erwarten ist. Zur unvollständigen strafrechtlichen Aufarbeitung vgl. oben Erster Teil, A. II., S. 50 ff.

Vierter Teil

Verfassungsmäßigkeit des Strafrechts gegen das Auschwitz-Leugnen Der Blick auf das Verfassungsrecht muß im Vergleich zum strafrechtlichen Teil dieser Untersuchung aus naheliegenden Gründen knapper ausfallen. Es geht an dieser Stelle nur noch darum, den verfassungsrechtlichen Rahmen zu skizzieren, in den sich die Problematik der Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens einfügt. Man kann die Tendenzaussage formulieren, daß für das im vorausgegangenen Teil vertretene „enge" strafrechtliche Modell kaum gravierende Bedenken bezüglich seiner verfassungsrechtlichen Legitimation aufkommen werden. Angesichts dieses Befundes wäre es sicher reizvoll, die Fragestellung dahin zu erweitern, ob aus verfassungsrechtlicher Sicht zwingende Gründe für die hier entwickelte strafrechtliche Lösung sprechen könnten, sie sich bei genauerer Betrachtung gar als die einzig verfassungskonforme erweisen ließe. Für eine endgültige Antwort wäre die verfassungsrechtliche Thematik aber in einem Umfang zu erörtern, der im Verhältnis zum angestrebten Zweck, ein schon nach strafrechtlichen Kriterien gefundenes Ergebnis verfassungsrechtlich abzusichern, „ausufernd" genannt werden müßte. Es geht lediglich darum, einen weiteren Stützpfeiler in ein Argumentationsgebäude einzuziehen, bei dem der Schlußstein bereits an Ort und Stelle sitzt. Daher soll der Blick im folgenden lediglich auf die gravierendsten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine erweiterte Auslegung des § 130 Abs. 3 StGB gerichtet werden. Schon dadurch werden gewichtige Zusatzargumente für die Vorzugswürdigkeit der hier vertretenen (restriktiven) strafrechtlichen Lösung zu gewinnen sein.

A. Bestimmtheitsgebot, Art. 103 Abs. 2 GG Bei Äußerungsdelikten ist es aus grundrechtlicher Perspektive besonders wichtig, daß der Tatbestand hinreichend bestimmt ist, denn - so die plakative Formulierung von Grünwald - „bei diesen Tatbeständen ist die Grenze des Strafbaren zugleich die Grenze der Grundrechtsausübung". 1 Die wegen mangelnder Bestimmtheit am Tatbestand der Beleidigung i.e.S. (§ 185 StGB) geübte Kritik ist Legion.2 Konturiert man jedoch den Ehrbegriff so, wie das in dieser Untersuchung gesche1 Grünwald, KJ 1979, 291 (293). 2 Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 25, 153, 158 m. w. N. 18*

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4. Teil: Verfassungsmäßigkeit des Strafrechts gegen das Auschwitz-Leugnen

hen ist, so ist mit der erforderlichen Exaktheit voraussehbar, welche Äußerungen wegen ihrer Zielrichtung gegen den Anerkennungs- oder Achtungsanspruch von Individuen strafbar sind. Daher ist der Tatbestand zwar von seiner reinen Textfassung her bedenklich, unter Zugrundelegung seiner über Jahrzehnte betriebenen Konturierung durch Rechtsprechung und Lehre aber zumindest inhaltlich bestimmt/: 3 Beim Volksverhetzungstatbestand (§ 130 StGB) gibt es keine durchgreifenden Bedenken gegen seine ausreichende Bestimmtheit. Zwar findet sich vereinzelt Kritik, die sich auf die relative Unbestimmtheit bezieht, welche durch die Eignungsformel in die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hineingetragen werde.4 Auch ist das Rechtsgut „öffentlicher Friede" nicht einfach konturierbar. Die Kritik mag daher grundsätzlich, bezogen auf das gesamte Spektrum volksverhetzender Äußerungen, ihre hier nicht abschließend zu würdigende Berechtigung haben. Speziell beim Auschwitz-Leugnen schlagen jedoch die Bedenken nicht durch. Das geschützte Rechtsgut kann mit Hilfe eines gefahrorientierten Friedensbegriffs hinreichend präzise bestimmt werden,5 und die Handlungsbeschreibung ist geradezu ein Paradebeispiel gesetzlicher Bestimmtheit, weil der vom Gesetzgeber für maßgeblich gehaltene Äußerungsinhalt mit schwer zu überbietender Deutlichkeit festgeschrieben ist. Die verfassungsrechtliche Problematik der Volksverhetzungsvorschrift wurzelt daher im hier interessierenden Zusammenhang weniger in ihrer mangelnden textlichen Bestimmtheit als in der sachlich zu großen Erfassungsbreite ihres Absatzes 3.

B. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG Eine Bestrafung von Auschwitz-Leugnern könnte gegen deren grundrechtlich verbürgte Freiheit der Meinungsäußerung verstoßen.6 In dieser Richtung begegnet zwar in erster Linie eine - hier abgelehnte - weite Auslegung des § 130 Abs. 3 3 A A . Ignor, a. a. O., S. 158. 4 Kuhlen, GA 1986, 389 (396 in Fn. 41); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 275 m. w. N. 5 Siehe ausführlich oben Dritter Teil, Β. II. 1. b) bb), S. 216 ff. Flankierend kommen die im Grundsatz gleichen Rechte aus Art. 19 IPbpR (vgl. aber Art. 20 II) und Art. 10 EMRK in Betracht. Zu ersterem Klein, Fall Faurisson zur HolocaustLüge, in: Baum/Riedel/Schaefer (Hrsg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, 1998, S. 121 (126 f.). Zu letzterem Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 51, II Rn. 48, 55; G. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 192 ff.; SchmidtJortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 11; Stöcker, Urteilsanm., NStZ 1995,239 f. Hingegen tritt Art. 2 Abs. 1 GG hinter die spezielleren Freiheitsrechte zurück oder geht zumindest nicht über den Gewährleistungsbereich von Art. 5 I GG hinaus, vgl. Grote/Kraus, GrundR-Fälle (Fall 7: Auschwitzlüge), 1997, S. 103 f. A.A. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 193, 198 f., der auf Basis der allg. Handlungsfreiheit das Verbot der radikalen Geschichtsrevision für unverhältnismäßig erklärt und damit zur Verfassungswidrigkeit von § 130 III StGB gelangt (S. 201 ff.). 6

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e n s f r e i h e i t , Art. 5 Abs.

GG

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StGB Bedenken, welche schon die Erscheinungsform 1 (bloße radikale Geschichtsrevision)7 in den Tatbestand einbezieht. Gleichwohl soll bei dieser Gelegenheit auch auf die im Lichte des Grundrechts zu leistende Rechtfertigung einer Bestrafung der weitergehenden Erscheinungsform 2, insbesondere der berüchtigten ,Auschwitz-Lüge", eingegangen werden. Dabei kann ein vergleichender Blick auf die Bestrafung gruppenbezogener Hetze (Erscheinungsform 3), gegen die ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken bisher nicht vorgebracht wurden, zur Abrundung des Bildes hilfreich sein.

I. Schutzbereichsbestimmung Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährt das Recht, sich eine Meinung frei zu bilden (Alt. 2) und zu äußern (Alt. 1), wobei jede Form der Meinungskundgabe geschützt ist, einschließlich der Wahl ihres Ortes und ihrer Zeit. 8 Die Meinungsfreiheit ist nach einer geläufigen Formulierung „für eine freiheitliche Staatsordnung ... schlechthin konstituierend". 9 Meinungen, da ist man sich weitgehend einig, lassen sich in Werturteile und Tatsachenbehauptungen unterteilen. Diese theoretisch klare Unterscheidung kann zwar in Grenzfällen außerordentlich schwierig werden, 10 ist aber für die rechtliche Bewertung deshalb von Gewicht, weil Werturteile, deren unverbindlicher und damit subjektiver Charakter klar auf der Hand liegt, beispielsweise für das Persönlichkeitsrecht anderer mit einem geringeren „Gefährdungspotential" behaftet sind als Tatsachenbehauptungen mit ihrem prinzipiellen Anspruch auf objektive Richtigkeit. 11

1. Werturteile Das Werturteil ist geradezu der Prototyp einer Meinungsäußerung. Ihm gegenüber sind die Kategorien „richtig" oder „falsch" von vorneherein unpassend. Ein Werturteil kann sich auf jeden Gegenstand beziehen und jeden denkbaren Inhalt haben; es kann vernünftig oder unvernünftig, begründet oder unbegründet, emotio7 Zur Terminologie siehe oben Erster Teil, C. II., S. 98 f. » BVerfG NJW 1995, 2303; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 556; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 49,55. 9 BVerfGE 5, 85 (205); 7, 198 (208); 62, 230 (247); 76, 196 (208 f.) st. Rspr.; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60 (77). Aus der Perspektive der EMRK Bullingen HRLJ 6 (1985), 339 (342 f.). Krit. Kiesel, NVwZ 1992,1129 („Überbewertung"). 10 Die Abgrenzung wird teilweise sogar für undurchführbar gehalten: Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 51 ff.; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 47 m. w. N.

» Grimm, NJW 1995, 1697 (1702); Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile, 1998, S. 14; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 180f.; Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95 (96).

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4. Teil: Verfassungsmäßigkeit des Strafrechts gegen das Auschwitz-Leugnen

nal oder rational, als wertvoll oder wertlos, harmlos oder gefährlich einzustufen sein. 12 Wollte man bestimmte Werturteile, egal nach welchen Kriterien, ausgrenzen, so führte das zu einem „staatlichen Meinungsrichtertum", gegen das Art. 5 Abs. 1 GG gerade gerichtet ist. 13 Das Werturteil ist durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage sowie das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt. 14 Daher fällt eine Äußerung auf jeden Fall in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG, wenn sie sich als (reines) Werturteil qualifizieren läßt. 2. Tatsachenbehauptungen Hingegen beziehen sich Tatsachenbehauptungen auf Gegenstände der realen Welt, 15 sie haben einen objektiven Charakter und können folglich als ,»richtig" oder „falsch" erwiesen werden. 16 Sind sie richtig, so besteht grundsätzlich kein Zweifel daran, daß ihre Äußerung oder Verbreitung dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG unterfällt, 17 es sei denn, es handle sich um den seltenen Fall, daß die Aussage weder eine implizite Wertung enthält oder einem subjektiven Mitteilungsbedürfnis entspringt, noch Voraussetzung der Meinungsbildung ist. 18 Schwieriger wird es jedoch, wenn über Tatsachenmitteilungen das Verdikt „falsch" zu sprechen ist. a) Grundsatz der Nichteinbeziehung bewußt oder erwiesen unwahrer Tatsachenbehauptungen Die für unseren Zusammenhang wichtigste Konsequenz der Unterscheidung von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen ist, daß - so jedenfalls die herrschende Meinung - bewußt oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen schon gar nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen sind. 19 Das Hauptargument 12 BVerfGE 61, 1 (8); 65, 1(41); 90, 241 (247); Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 1996, Art. 5 Rn. 25; Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 43, 52; Grimm, NJW 1995, 1697 (1698); Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 223 f., zusf. 270; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 550; Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 22. 13 Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 44. w BVerfGE 7, 198 (210); 33, 1 (14); 61, 1 (8); 90, 241 (247); Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 137; Grimm, NJW 1995, 1697 (1698). 15 BVerfGE 90, 241 (247); 92, 266 (289); 94,1 (8). 16

Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile, 1998, S. 113; Timm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 1996, S. 38, 133. Siehe bereits oben Dritter Teil, Β. I. 2., S. 185, 196 ff. Mißverständlich insofern BVerfGE 90, 241, (247) („Tatsachenbehauptungen sind ... im strengen Sinn keine Meinungsäußerungen"). is Als Beispiel werden Angaben im Rahmen einer statistischen Erhebung genannt; vgl. BVerfGE 65, 1 (41); Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 138.

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e n s f r e i h e i t , Art. 5 Abs.

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lautet, eine unrichtige Tatsachenbehauptung könne zur Meinungsbildung nichts beitragen, weshalb unrichtige Information kein schützenswertes Gut sei. 20 Eine auf geschichtliche Ereignisse bezogene Behauptung hat nach dieser Ansicht schwerpunktmäßig einen objektiven, dem Beweise zugänglichen Charakter und ist entsprechend der herkömmlichen Kriterien nicht lediglich als subjektiv gefärbte Stellungnahme, sondern als Tatsachenbehauptung einzustufen. 21 Daher dürfte, folgte man dieser Linie, das Äußern von Ansichten zur Zeitgeschichte des Holocaust jedenfalls dann nicht grundrechtlich geschützt sein, wenn die zugrundegelegte Schilderung des tatsächlichen Geschehens von den Erkenntnissen der etablierten Zeitgeschichtsforschung und den Feststellungen der Gerichte in NS-Prozessen erheblich abwiche, wodurch der Äußerungsgehalt als objektiv unwahr gelten müßte.22 Die vorstehenden Kriterien erfassen insbesondere die Totalleugnung des Holocaust bzw. die Leugnung der Gaskammertötungen. Über eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung, wie sie für Eingriffe in die Meinungsfreiheit vorrangig anhand der in Axt. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich formulierten Schranken zu leisten ist, müßte daher bei einem strafbewehrten Äußerungsverbot kein Wort verloren werden, weil es mangels Schutzbereichsbetroffenheit bereits an einem Eingriff fehlte. Freilich muß man sich gegenüber dieser leicht verständlichen Grundlinie der Ausnahme bewußt sein, die das BVerfG in ständiger Rechtsprechung macht: Dient die inhaltlich unwahre Tatsachenbehauptung als Basis für ein Werturteil, so soll wegen der unauflösbaren Verbindung der beiden Arten der Meinungsäußerung die gesamte Äußerung dem Schutzbereich des Grundrechts unterfallen, weil die beiden Elemente erst gemeinsam den Sinn der Gesamtaussage ausmachen.23 Folgte man dieser Ansicht, so führte das in unserem Fall zu dem seltsamen Ergebnis, daß Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1, jedenfalls in den Varianten einer 19 BVerfGE 54, 208 (219); 61, 1 (8); 90, 241 (247 f.), st. Rspr.; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 1996, Art. 5 Rn. 28; Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 140; Huster, NJW 1996, 487 (490); Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 169f., zusf. 232 f.; Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95 (97). Vorsichtig Schulze-Fielitz, Urteilsanm., JZ 1994, 902 (903), der die Ausscheidung auf Evidenzi Ile beschränken will. Für eine Einbeziehung ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt: Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 20 f.; Schwark, Der Begriff der »Allgemeinen Gesetze", 1970, S. 95 f.; Thieme, DÖV 1980,149 (150, 152). Gegen jede Ausgrenzung eines Verhaltens aus dem grundrechtlichen Schutzbereich Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 325 f. 20 BVerfGE 54, 208 (219); 61, 1 (7 ff.); 85, 1 (15); 90, 241 (247); Grimm, NJW 1995, 1697 (1699); Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 109; B. Wiegand, NJ 1993, 396 (399 in Fn. 60). Vgl. auch Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 232 ff. mit dem interessanten Argument, auch einem Abgeordneten werde die Privilegierung des Art. 4612 GG nicht gewährt, wenn er wider besseres Wissen unwahre Behauptungen aufstelle (S. 234). Krit. Roellecke, JZ 1981,688 (694); Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (7). 21 BVerfGE 90, 241. Anders bei Aussagen zur „Schuld und Verantwortlichkeit" für diese Ereignisse, wie ζ. B. die Kriegsschuldfrage; vgl. BVerfGE 90,1. 22 BVerfGE 90, 241 (249); Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 113. 23 BVerfGE 61, 1 (8); 85, 1 (15 f.); 90, 1 (15); Grimm, ZRP 1994, 276 (277); ders., NJW 1995, 1697 (1699); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 55a.

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Totalleugnung des Holocaust bzw. einer Leugnung der Gaskammertötungen, wegen seiner inhaltlichen Unrichtigkeit umstandslos aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG herausfiele, während die ungleich anstößigeren Erscheinungsformen 2 und 3 grundsätzlich geschützt wären und ihr strafbewehrtes Verbot nur unter penibler Beachtung der Grundrechtsschranken gerechtfertigt werden könnte. 24 Auch läßt sich gegen das Konzept einwenden, daß bei „verquickten" Äußerungen nur deshalb das Wertende überwiegt, weil die zugrundeliegende Faktenlage zum Beleg der Aussage zumeist denkbar ungeeignet ist. 25 Das zeigt sich eindrucksvoll am Slogan von der angeblichen „politischen Erpreßbarkeit" Deutschlands. Basis dieses randständigen Werturteils ist zumeist eine Tatsachenbehauptung, die bei Zeitgenossen mit klarem Verstand jeglicher Überzeugungskraft entbehrt, nämlich die Behauptung einer Jüdischen Geschichtsfälschung". 26 Es zeigt sich: Die Verquickungs-Rechtsprechung befriedigt in unserem Fall nicht, weil sie nach kaum überzeugenden Kriterien den Weg zu einem nur teilweise richtigen Ergebnis weist. Ob man einer tragfähigen Lösung näher käme, bezöge man als entgegengesetztes Extrem ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt alle Tatsachenbehauptungen in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG ein, 27 kann zunächst offen bleiben; allenfalls im Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Redensart von einer „Geschichtsfälschung" wird darauf zurückzukommen sein.

b) Historische „ Tatsachen

Behauptungen

Für historische „Tatsachen"-Behauptungen gibt es nämlich überzeugende Gründe, sie gegenüber aktuellen Tatsachenbehauptungen abzuschichten und rechtlich abweichend zu behandeln. Sind die Kriterien einer solchen Unterscheidung erst einmal herausgearbeitet, liefern sie zugleich die Begründung dafür, warum auf historische Ereignisse bezogene Äußerungen ohne Rücksicht auf ihre inhaltliche Richtigkeit oder ihre Verknüpfung mit wertenden Schlußfolgerungen konsequenterweise immer in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG einzubeziehen sind. Ein eher formaler Grund ist, daß die inzwischen eingebürgerte Ausgrenzung falscher oder nicht erweislich wahrer Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG erkennbar auf eine rationelle rechtliche Verarbeitung ehrenrühriger, d. h. unmittelbar persönlichkeitsbezogener Tatsachenbehauptungen zugeschnitten und Ergebnis einer vorweggenommenen Interessenabwägung ist. Wer in Bezug auf eine konkrete Person eine Tatsache behaupten will, die dieser Person 24 Ebenso Huster, NJW 1996,487 f. 25 Kiesel, NVwZ 1992, 1129 (1134). Krit. auch Kriele, NJW 1994, 1897 (1900); Sendler, ZRP 1994, 343 (348 f.); Soehring, NJW 1994, 2926 (2928). 26 Huster, a. a. O., S. 488. 27 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 1996, Art. 5 Rn. 3; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 553, 555 („Freiheit zum Irrtum"); Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 47 („Wahrheitspflicht... nur im moralischen Sinn").

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zur Unehre gereicht, muß davon grundsätzlich Abstand nehmen, wenn er die Richtigkeit der Tatsache nicht beweisen kann; etwas anderes kann nur für eine auf Aktualität angelegte Presseberichterstattung unter Einhaltung entsprechender Sorgfaltspflichten gelten. 28 Das Unterlassensgebot gilt natürlich erst recht, wenn dem Äußernden die Unrichtigkeit seiner Behauptung positiv bekannt ist. Insofern ist die Festlegung, daß derartige Äußerungen aus grundrechtlicher Perspektive schon gar nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, nichts anderes als eine demonstrativ vorweggenommene Unbedenklichkeitserklärung der hergebrachten Straftatbestände „Üble Nachrede" und „Verleumdung", wie sie sich in den §§ 186 f. StGB finden. 29 Denn die Verweildauer einer persönlichkeitsbezogenen Äußerung, die diesen Tatbeständen subsumierbar ist, wäre im Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG ohnehin denkbar kurz, weil sie sogleich über die Schranke der „persönlichen Ehre" (Art. 5 Abs. 2 Alt. 3 GG) wieder hinausexpediert werden müßte. Bei Behauptungen, die sich auf historische Ereignisse beziehen, liegt der Fall anders. Zwar scheinen geschichtsbezogene Äußerungen oberflächlich betrachtet nichts anderes als gewöhnliche Tatsachenbehauptungen zu sein, 30 doch erweist sich dieses Bild bei näherem Hinsehen als trügerisch. Das heißt zwar nicht, daß ein Trugbild in dem Sinne vorläge, daß bei der Geschichtsaussage nach Entfernung ihrer objektiv gefärbten Maske ein ganz und gar entgegengesetzter Charakter zum Vorschein käme. Es handelt sich eher um ein Bild, in dem eine entscheidende Dimension fehlt, so daß sich Geschichtsaussage und Tatsachenbehauptung plötzlich zum Verwechseln ähnlich sehen. Das Zeitmoment als solches, das sei vorausgeschickt, kann nicht die fehlende Dimension sein. Auch Alltagstatsachen entstammen stets der Vergangenheit, weil sich über gegenwärtig Geschehendes noch nichts aussagen läßt und die Ereignisse der Zukunft sich zwar prognostizieren lassen, aber eben erst noch geschehen müssen. Auch das Maß der zwischen dem Ereignis und seiner sprachlichen Rezeption verflossenen Zeit ist unerheblich, weil über die Einordnung, ob ein Faktum als historisch oder alltäglich zu gelten habe, ganz andere Aspekte entscheiden. Im Augenblick sich Ereignendes hat möglicherweise einen überragenden historischen Rang, während in weit zurückliegenden Zeiten Geschehenes bedeutungslos sein kann. Damit ist auch schon der ausschlaggebende Faktor benannt: Historischen „Tatsachen" ist eigentümlich, daß ihr Schwerpunkt in einer Bedeutung für die Allgemeinheit liegt - wenn man von der individuellen Bedeutung für denjenigen 28 Vgl. Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 139a f. m. w. N.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 145 ff.; G. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 92 f.; Tettinger, JZ 1983, 317 (322 f.). Besonders streng Kriele, NJW 1994, 1897 (1902 f.). 29 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 239. Genau genommen gilt das für die Üble Nachrede (§ 186 StGB) nur zum Teil, weil dort bereits die Behauptung einer nicht erweislich wahren Tatsache unter Strafe steht. 30 So auch BVerfGE 90, 241.

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absieht, der selbst Person der (Zeit-)Geschichte ist. Als Folge davon tritt der dem Tatsachenbegriff sonst essentielle Objektivitätsanspruch bei der Darstellung historischer Ereignisse in seiner Wichtigkeit zurück. Das dürfte mit der realistischen Einschätzung zusammenhängen, daß sich zeitlich weit Zurückliegendes häufig nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten bis ins Detail aufklären läßt. Auch sind die Einzelheiten meist von geringerem allgemeinen Interesse wie die geschichtsträchtigen „großen Linien". Wegen der immensen Bedeutung beispielsweise der Nationalgeschichte für die kollektive Identität eines Volkes nimmt man für historische Ereignisse gemeinhin in Kauf, daß an die Stelle glasklarer Beweise, welche den Anforderungen einer gerichtlichen Verwertung genügen würden, Einschätzungen von Historikern treten, deren Spektrum von quellengestützten Schlußfolgerungen bis hin zu subjektiv geprägten Deutungen reichen kann. 31 Insofern wohnt dem Begriff der historischen „Tatsache" grundsätzlich nicht der gleiche Objektivitätsanspruch wie dem Tatsachenbegriff des Alltagslebens inne, und man hat sich daran gewöhnt, daß die gängige Geschichtsdarstellung mit Elementen des Wertens und Dafür-Haltens durchwirkt und daher lediglich eine weitestmögliche Annäherung an das tatsächliche, historisch gewordene Geschehen ist. 32 Dem widerspricht nicht, daß das Publikum gewöhnlich die Erwartung hegt, die Geschichtswissenschaft gebe Aufschluß über die eine historische Wahrheit, denn dieser Wunsch wird sich, nüchtern gesehen, allenfalls punktuell und meist nur um den Preis erheblicher Vereinfachung erfüllen lassen. Hinzu kommt, daß es für historische Daten charakteristisch ist, eine Tendenz zur Historisierung aufzuweisen, wodurch sie sukzessive ihre direkte Bedeutung für gegenwärtige Verhältnisse verlieren. Damit ist keineswegs gesagt, daß nicht zugleich ihre mittelbare Bedeutung um so größer werden könnte, denn das geschichtliche Ereignis vollzieht nicht selten die Metamorphose zum aktuellen - und wirkmächtigen - politischen Argument. 33 Bei der Verwendung als politisches Argument tritt dann aber der Tatsachencharakter eindeutig in den Hinter- und der Wertungscharakter in den Vordergrund. Dieser Schwerpunkt läßt sich auch nicht dadurch verschieben, daß man das selbstverständliche Bestreben seriöser Geschichtswissenschaft, „darzustellen, wie es wirklich gewesen ist" (Ranke), argumentativ in Richtung „reine Faktizität" überhöht. 34 Nicht die Ge-

31 Siehe zum Verhältnis von Justiz und Geschichtswissenschaft ausführlich oben, Erster Teil, Α. II., S. 50 ff. 32 Ebenso H. Meier, Merkur 1994, 1128 (1131). Krauß, FS f. Schaffstein, 1975, S. 411 (425, 428 f.) merkt an, daß auch die Wahrheitsfeststellung im Strafprozeß nicht grundlegend anders abläuft; ihm folgt Haffke, Über die (Un-)Möglichkeit, Geschichte in Strafprozessen aufzuarbeiten, in: de Boor /Frisch/Rode, Vergessen - Verdrängen - Verleugnen, 1996, S. 41 ff., 54 f. 33 Siehe ausführlich oben Erster Teil, A. III. 2., S. 63. Besonders konfliktträchtig ist die „Zwischenstellung" der Zeitgeschichte, die „Vergangenheit... behandelt, mit der die Gegenwart noch ringt"; vgl. Werle, »Juristische Zeitgeschichte", in: Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte - Ein neues Fach?, 1993, S. 63. 34 Das geschieht ein Stück weit in BVerfGE 90, 241 (249 f.); gewarnt hat davor - in seinerzeit allerdings nicht passendem Zusammenhang - bereits Forsthoff, NJW 1965,574.

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schichte selbst, aber ihre durch die menschliche Erkenntnisfähigkeit begrenzte Deutung - und erst recht ihre aktuelle Nutzanwendung - ist nämlich »Ansichtssache".35 Echten Tatsachencharakter hat die Geschichte neben ihrer ganz im Vordergrund stehenden kollektiven Bedeutung nur in Bezug auf die lebenden oder bereits verstorbenen Personen, welche in ihr als Handelnde vorkommen. Als Ausgleich für die Laune der Geschichte, einzelne Menschenschicksale dem Rampenlicht öffentlicher Wahrnehmung auszusetzen, kann es zugunsten von Personen der (Zeit-) Geschichte erforderlich sein, der Geschichtsdebatte rechtliche Grenzen zu ziehen; beispielsweise im Falle einer nachweisbaren Verfälschung. Diese Grenzziehung ist dann aber ihrerseits anhand der Grundrechtsschranken des Art. 5 GG zu legitimieren und kann nicht durch generelle Ausscheidung von Äußerungen aus dem Schutzbereich vorentschieden werden, selbst wenn der Äußerungsinhalt von der Mehrheit als anstößig empfunden wird. Nur so kann auch dem Erfordernis Rechnung getragen werden, die Interessen derjenigen, welche seinerzeit auf Täterseite standen, anders zu beurteilen als die Interessen ihrer Opfer. Denn andernfalls nähme der Staat für sich in Anspruch, ein einheitliches, zwangsläufig perspektivenblindes Geschichtsbild für alle verbindlich festzulegen und durchzusetzen. Insofern ist die zunächst plausibel klingende Aussage, Unzutreffendes könne „zur Meinungsbildung nichts beitragen", und daher seien falsche Behauptungen eines grundrechtlichen Schutzes nicht fähig, im Bereich der Geschichte nicht überzeugend. Hinzu kommt nämlich, daß eine im freien „Meinungskampf' bewährte Geschichtssicht um ein vielfaches einleuchtender und damit glaubwürdiger ist als eine, die sich schwerpunktmäßig auf eine nicht hinterfragbare Autorität stützt und damit zwangsläufig in den Verdacht gerät, irgendetwas stimme nicht. 36 Auch die am Ende als völlig falsch zu erweisende Geschichtsdarstellung kann, so paradox es klingt, dem Erkenntnisfortschritt dienen. Dadurch, daß eine verkehrte Ansicht die Wissenschaft zu verstärkter Forschungsanstrengung und zum „Nachlegen" von Argumenten zwingt, kann die Wahrheit auf lange Sicht nur gewinnen; die Kontroverse um den Reichstagsbrand37 ist ein eindrucksvolles Beispiel.

35 Für letzteres räumt das auch BVerfGE 90, 241 (250) ein. 36 Η übe rie, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 79 f. weist zu Recht darauf hin, daß es ein Gütezeichen des freiheitlichen Verfassungsstaates ist, „daß er sich gerade nicht im Besitz ewiger... Wahrheiten wähnt, sondern sich stets auf... der bloßen Wahrheitsswcfe weiß" (Hervorheb. i. Orig.). Mit Blick auf die Staatspraxis der DDR P. Schneider, ROW 1957, 144 (145): „Wer sich im Vollbesitz der Wahrheit wähnt [!], wird Gegenrede nicht dulden können." Sendler, NJW 1998, 2260 meint, es wäre schon „viel gewonnen", wenn sich „eine Art moralischer Ächtung von Lüge und Unwahrhaftigkeit erreichen ließe; mehr zu verlangen, könnte auf ... Heuchelei hinauslaufen". Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, 1994, S. 132 formuliert, es sei jedem zu mißtrauen, „der behauptet, im Besitze der... Wahrheit zu sein". 37 Siehe oben Erster Teil, A. III. 2., S. 64ff.

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3· Resümee a) Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 1 unterfällt dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG, weil Aussagen über historische Sachverhalte unabhängig davon, ob sie sich auf das Ereignis oder seine Bewertung beziehen, geschützt sind und nur unter Beachtung der Grundrechtsschranken untersagt werden können. b) Bei der Erscheinungsform 2 (insbesondere der ,Auschwitz-Lüge") muß man zwei Elemente einschlägiger Äußerungen strikt auseinanderhalten. Die Basisbehauptung, mit der Geschichte des Holocaust stimme etwas nicht, kann nicht anders behandelt werden als die bloße radikale Geschichtsrevision. Hinzu kommt aber die daran anknüpfende weitere Behauptung einer „Geschichtsfälschung" oder ihrer unlauteren Nutzbarmachung, welche durchaus als aktuelle Tatsachenbehauptung eingeordnet werden kann. Deshalb ist zu differenzieren: aa) Es wäre entweder naiv oder unlauter, zu behaupten, eine interpretative Verfälschung von Geschichte im Sinne von Übertreibungen und Verzerrungen, vielleicht sogar einzelner Dokumentenfälschungen, sei im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erforschung des Holocaust gänzlich undenkbar, und daher handle es sich auch ohne Prüfung im Einzelfall stets um eine erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung, die - jedenfalls nach herrschender Meinung - schon aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG herausfalle. Die an der Holocaust-Forschung Beteiligten sind nicht per se unfehlbarer als andere Menschen. Auch der Umstand, daß in diesem sensiblen Bereich jede grobe Ungenauigkeit schon als Skandal zu gelten hätte, ist noch kein zwingendes Argument dafür, daß es diesen Fall unter keinen Umständen geben könnte. Daher kann nicht jeder an die Adresse einzelner Historiker gerichtete Vorwurf, es seien Unregelmäßigkeiten vorgekommen, als unzweifelhaft falsch behandelt werden. 38 bb) Bei Auschwitz-Leugnen in der Erscheinungsform 2 wird der Fälschungsvorwurf aber meistens derart undifferenziert und in grob pauschalierender Weise gegen „die Juden" erhoben, 39 daß die Bedenken gering wiegen, diese offensichtlich falsche Tatsachenbehauptung, die nur blindwütig-fanatischem Antisemitismus entsprungen sein kann, bereits aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG auszuscheiden. Diejenigen Autoren, welche Tatsachenbehauptungen unabhängig vom Wahrheitsgehalt einbeziehen wollen, kämen über die Schranke der „persönlichen Ehre" 40 letztlich zum gleichen Ergebnis, weil eine derart abstruse Behauptung in Abwägung mit 38 Was nicht heißt, daß sich an der Beweislast desjenigen, welcher einen solchen Vorwurf erhebt, das geringste änderte; vgl. oben Dritter Teil, Β. I. 2. b), S. 196 f. 39 Siehe zur Phänomenologie oben Erster Teil, B. II. 2., S. 93 f. 40 Bzgl. der Bestrafung aus § 130 Abs. 3 GG über die Schranke der „allgemeinen Gesetze"; siehe unten Vierter Teil, B. III. 1. b), S. 294 ff.

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den schutzwürdigen Rechtspositionen derer, welche der Lüge bezichtigt werden, kein nennenswertes Gewicht hat. 41 c) Schließlich zeigt sich an der Erscheinungsform 3 einmal mehr, wie fragwürdig eine Differenzierung schon bei der Einbeziehung von Äußerungen in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG ist, auch wenn man damit in manchen Fällen rascher zu einem gleichlautenden Ergebnis kommt. Denn diese antisemitische Hetze, die sich des Themas „Geschichte" nur als Vehikel bedient, hat ihren Schwerpunkt eindeutig im Bereich des subjektiven Dafür-Haltens. Insbesondere beim (Wieder-)Anknüpfen an die menschenverachtende NS-Rassenideologie zuckt man innerlich schon vor dem bloßen Gedanken zurück, ein solcher Inhalt könnte Tatsachencharakter haben. Daher handelt es sich um ein - wenn auch verabscheuungswürdiges - Werturteil, so daß die Äußerung nach allen Ansichten dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt und nur unter Beachtung der Grundrechtsschranken verboten werden kann.

II. Eingriff Strafgesetze wie die hier im Mittelpunkt stehenden §§ 185 ff., 130 StGB drohen eine Strafsanktion für tatbestandsmäßige Äußerungen an. Insofern sind sie bezüglich der angedrohten Rechtsfolge zunächst für denjenigen ein zielgerichteter Grundrechtseingriff, 42 der eine tatbestandsmäßige Äußerung getan hat und daher mit Strafe rechnen muß. Strafgerichtliche Verurteilungen weisen wegen der von ihnen ausgehenden „einschüchternden Wirkung" generell eine besonders hohe Eingriffsintensität auf. 43 Dabei kann man aber nicht stehenbleiben, weil ein Strafgesetz zugleich den Normbefehl an alle Staatsbürger enthält, die tatbestandsmäßige Äußerung zu unterlassen, und seine Befolgung auch präventiv - beispielsweise im Wege polizeirechtlicher Maßnahmen - durchgesetzt werden kann. 44 Insofern erfolgt ein grundrechtsrelevanter Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit schon durch die „Handlungsnorm", d. h. durch das im Strafgesetz enthaltene Gebot zur Unterlassung einschlägiger Äußerungen. 45 Bereits dieser Eingriff bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Daß sekundär auch die 41 Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 20 („gegen Null tendierendes Gewicht"). 42 Zur Eingriffs-Definition: Schulze- F ielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 95 m. w. N.

43 BVerfGE 43, 130 (135 f.); Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 108; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 47d; Tettinger, JZ 1983, 317 (324). 44

Ζ. B. Versammlungsverbot; vgl. den Sachverhalt v. BVerfGE 90, 241. 5 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 79, 163 f., 434; W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 42; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 6, 78, 85, 96ff., zusf. 106; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 51, II Rn. 97. 4

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Verhängung der angedrohten Strafsanktion gerechtfertigt werden muß, 46 kann für unsere Zwecke ausgeblendet bleiben.

I I I . Schranken Der Meinungsfreiheit sind in Art. 5 Abs. 2 GG ausdrückliche Schranken gezogen. Durch allgemeine Gesetze, jugendschützende Gesetze und das Recht der persönlichen Ehre kann das Grundrecht eingeschränkt werden („Schrankentrias"). Manche meinen, damit sei eine abschließende Regelung getroffen, was zur Folge hätte, daß ein Eingriff, welcher sich nicht im Rahmen der Schrankentrias rechtfertigen ließe, als verfassungswidrig anzusehen wäre. 47 Andere wenden ein, dabei dürfe man nicht stehenbleiben, weil sonst schrankenlos formulierte Grundrechte (z. B. Art. 5 Abs. 3 GG) über die für sie einschlägigen verfassungsimmanenten Schranken (unten 2.) zugunsten von Rechtswerten mit Verfassungsrang 48 stärker eingeschränkt werden könnten als ein Grundrecht mit ausdrücklichem Schrankenvorbehalt (z. B. Art. 5 Abs. 1, 2 GG). Daher unterliege auch die Meinungsfreiheit zugleich immanenten Beschränkungen.49 Man sieht sofort, daß diese Meinungsdifferenz für unseren Fall nur eine Rolle spielte, ließen sich die in Rede stehenden Strafandrohungen nicht schon über die in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Schranken rechtfertigen. Deshalb soll zunächst die Antwort auf diese Frage gesucht werden.

1. Art. 5 Abs. 2 GG Unzweifelhaft können staatliche Maßnahmen zur Abschirmung von Kindern und Jugendlichen vor den schädlichen Aktivitäten der Auschwitz-Leugner mit Belangen des Jugendschutzes gerechtfertigt werden, sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen, insbesondere die gewählte Beschränkung verhältnismäßig ist. 50 Diese Schranke spielt aber im Zusammenhang mit dem geltenden Strafrecht keine Rolle, weil die in Rede stehenden Äußerungsdelikte unabhängig vom Alter der Personen, gegenüber denen der Täter sich äußert, Strafe androhen. Daher dienen Appel a. a. O., S. 168 ff., zusf. 558 ; Lagodny, a. a. O., S. 8, 317, 344,437, zusf. 450. 47 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 1996, Art. 5 Rn. 173, 176; Huster, NJW 1996, 487 (489 f.); Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (444). Grundsätzlich auch Lerche, Grundrechtsschranken, in: HdbStR, Bd. V, 1992, S. 775 ff. Rn. 14; Selk, JuS 1990, 895 (898). 48 BVerfGE 28, 243 (260 f.); v. Pollern, JuS 1977,644 (647). 49 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 293; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 (947); Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 5, 46; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 105, 121 ff.; B. Wiegand, NJ 1993, 396 (399). Für „bedeutungslos" hält Thieme, DÖV 1980, 149 (150) die Streitfrage, weil sich das gleiche Ergebnis auch über die „allgemeinen Gesetze" erzielen lasse. so Gornig, JuS 1988, 274 (276).

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die Vorschriften nicht speziell dem Jugendschutz,51 auch wenn dieser Personenkreis notwendig mitgeschützt ist. Hingegen könnte das Recht der persönlichen Ehre (unten b.) die für unser Thema weichenstellende Schranke sein, denn es hat den Anschein, als kämen die „allgemeinen Gesetze" für eine umfassende Rechtfertigung des Strafrechts gegen das Auschwitz-Leugnen nicht in Frage. Denn kann man sich, provozierend gefragt, eine eindeutiger gegen eine bestimmte Meinung gerichtete gesetzliche Regelung vorstellen? - Aus dieser Perspektive scheint § 130 Abs. 3 GG geradezu das Musterbeispiel eines „Sondergesetzes"52 zu sein.

a) „Allgemeine Gesetze " aa) Überblick Es ist von vorneherein unmöglich, die mit den „allgemeinen Gesetzen" verbundenen Schwierigkeiten mit wenigen Worten darzustellen oder gar abschließend zu erledigen - andere haben darüber ganze Monographien verfaßt. 53 Über die treffende Auslegung und Handhabung der für die Meinungsfreiheit wichtigsten Schranke streitet man sich trotz aller Klärungsbemühungen seit der Weimarer Zeit, 54 und auch heute sind noch nicht alle Einzelheiten geklärt. Zwei gegensätzliche Herangehensweisen und eine vermittelnde Lösung können unterschieden werden. (1) Formale Kriterien Die im Grundgesetz verankerte Forderung nach der »Allgemeinheit" der Gesetze läßt sich so verstehen, damit sollten die Meinungsfreiheit beschränkende Regelungen nur solange zulässig sein, als sie sich nicht speziell gegen die geistige Wirkung einer bestimmten Meinung richteten.55 Täten sie das, so wären sie als unzulässiges „Sonderrecht" zu qualifizieren. Der Vorteil der Sonderrechtslehre besteht darin, daß sie Meinungsäußerungen nach formalen, inhaltsneutralen Kriterien schützt und daher aus Sicht des Äußernden denkbar liberal ist. Diese Wirkung zeigt sich eindrucksvoll am hier in Rede stehenden Anwendungsfall: Da § 130 Abs. 3 StGB einen hinlänglich beschriebenen Äußerungsinhalt erfaßt, enthält er « Zu diesem Kriterium F. Bauer, JZ 1965, 41 (44). A.A. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 188. 52 Huster, NJW 1996, 487 (489). 53 Schwark, Der Begriff der »Allgemeinen Gesetze", 1970. 54 Vgl. Art. 118 I 1 WRV. Näher Gornig, JuS 1988, 274 (274 f.); Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 250f.; Hoppe, JuS 1991, 734ff.; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 107 m. w. N. Zu den verfassungsgeschichtlichen Wurzeln der „allgemeinen Gesetze" Starck, FS Weber, 1974, S. 189 ff. 55 Grundlegend Häntzschel, AöR N.F. 10 (1926), 228 (232 f.); ders., Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: HdbDStR II, S. 651 (659 f.); nahestehend Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (20, 42); beipflichtend Anschütz, Diskussionsbeitrag, im selben Band, S. 74 (75); Thoma, FG 50 Jahre pr. OVG, 1925, S. 183 (216) [alle zu Art. 11811 WRV].

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das explizite Verbot einer bestimmten Meinung und wäre aus Sicht der Sonderrechtslehre kein „allgemeines Gesetz".56 Ebenso wäre es mit beleidigenden Äußerungen (§§ 185 ff. StGB), die ja gerade wegen ihres ehrverletzenden Inhalts verboten sind. Für die Rechtfertigung des Ehrenschutzes stünde aber unter dem Grundgesetz - daraus läßt sich ein weiteres Argument für die fortbestehende innere Stimmigkeit der Sonderrechtslehre gewinnen - eine Spezialschranke („persönliche Ehre") zur Verfügung. 57 Die Sonderrechtslehre setzt also weitgehend auf den Prozeß der unbeschränkten Rede und Gegenrede, und sie vertraut darauf, daß dessen Eigengesetzlichkeit schon dafür sorgen werde, daß sich am Ende das bessere Argument durchsetzt und die Wahrheit über die Lüge siegt. Die unübersehbare Schwäche liegt in der Blindheit gegenüber einer ab einem gewissen Punkt nicht mehr tolerierbaren Gefahr, welche aus geistiger Beeinflussung Anderer erwachsen kann. Nach der Sonderrechtslehre wäre, um das prägnanteste Beispiel zu nennen, die Bestrafung der Anstiftung (§ 26 StGB) zu einem bestimmten Delikt nichts anderes als das Verbot einer spezifischen Meinung nur wegen ihrer geistigen Wirkung. Der zur Tötung Anstiftende ist aus dieser Perspektive der Meinung, eine bestimmte Person solle durch die Hand des Angestifteten den Tod finden. Daß das Verbot der Hervorrufung eines derart schädlichen Tatentschlusses aus evidenten Praktikabilitätsgründen im Ergebnis nicht mit der Meinungsfreiheit über Kreuz geraten darf, dürfte klar sein. Will man die Lösung nicht über verfassungsimmanente Schranken suchen (kollidierendes Grundrecht des Opfers, im Beispielsfall Art. 2 Abs. 2 GG), muß die Schranke der „allgemeinen Gesetze" daher anders verstanden werden. (2) Materiale Kriterien Man hat die mit der Sonderrechtslehre verknüpften Probleme durch die Einführung eines materialen Maßstabs zu überwinden versucht. Danach soll jede Regelung dann ein „allgemeines Gesetz" sein, wenn sie einem Interesse dient, das schwerer wiegt als die Meinungsfreiheit. 58 Die Anstiftung zur Tötung bekommt man damit problemlos in den Griff, weil der Schutz des hochwertigen Opferrechtsguts „Leben" wertvoller ist als der Wunsch des Anstifters, seiner verabscheuungswürdigen Meinung Ausdruck zu verleihen. Das ist aber auch ein klarer Fall, zu dessen Lösung man neben gesundem Menschenverstand nicht unbedingt komplizierte Theorien braucht. Wie aber steht es mit den Grenzfällen? Zugespitzt gefragt: Selbst wenn man der hier vertretenen Ansicht folgt, daß die bloße radikale Ge56 Huster, NJW 1996,487. 57 Ebenso v. der Decken, NJW 1983, 1400 (1402); Gornig, JuS 1988, 274 (277); Hoppe, JuS 1991, 734 (736); Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 120f., zusf. 265 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 590; Schlink, EuGRZ 1984, 457 (459); Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (823); W. Weber, FS f. E. R. Huber, 1973, S. 181 (184). 58 Grundlegend Smend, VVDStRL 4 (1928), 44 (52); nahestehend Wendt, in: v. Münch/ Kunig, GG Bd. 1, Art. 5 Rn. 77.

Β. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG

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schichtsrevision (Erscheinungsform 1) grundsätzlich keine Individualrechtsgüter verletzt, wiegt nicht das Interesse an einem Mindestniveau des historisch-politischen Diskurses schwerer als die Meinungsfreiheit einiger Wirrköpfe, die sich jenseits des allgemein Erträglichen und Plausiblen bewegen? Es zeigt sich, daß eine im Rahmen der „allgemeinen Gesetze" vorgenommene werthafte Abwägung je nach Nuancierung zu beiden möglichen Antworten führen kann, die Entscheidung daher nicht in voraussehbarer Weise leitet und einer Erosion der Meinungsfreiheit, wenn es hart auf hart kommt, wenig Handfestes entgegenzusetzen hat. (3) Kombination von formalen und materialen Kriterien An diesem Befund ändert sich auch nichts entscheidendes, wenn man, wie das BVerfG das in ständiger Rechtsprechung tut, 5 9 beide Ansätze kombiniert. 60 Dann ist nämlich ein „allgemeines Gesetz" jedes Gesetz, das entweder (1) nach den Kriterien der Sonderrechtslehre schon kein Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit enthält oder (2) zwar ein Sondergesetz ist, aber dem Schutz eines schlechthin zu schützenden Rechtsguts dient, das schwerer wiegt als die Meinungsfreiheit. Aus dieser Perspektive sind die beiden Schranken „Jugendschutz" und „persönliche Ehre" lediglich von der Verfassung beispielhaft genannte Unterfälle der „allgemeinen Gesetze".61 Ein gegenläufiges Korrektiv kommt dadurch ins Spiel, daß in jedem konkreten Anwendungsfall des auf diesem Wege als „allgemein" eingeordneten Gesetzes die „Wechselwirkung" mit der Meinungsfreiheit zu beachten ist. 62 Es ist zwar keinesfalls so, daß die vom BVerfG in den bekannten Anwendungsfällen vorgenommene, grundsätzlich zweistufige Abwägung oft oder gar stets zu Lasten der Meinungsfreiheit gegangen wäre; nach Meinung zahlreicher Kritiker ist - zumindest bei der Ehrenrechtsprechung - eher das Gegenteil der Fall. 63 Nur ist dieses Ergebnis weniger die Frucht einer verläßlichen Methode als einer richter59 BVerfGE 7, 198 (209 f.); 26, 186 (205); 28, 175 (185); 28, 288 (292); 44, 197 (201 f.); 50, 234 (240); 59, 231 (263); 62, 230 (244). 60 Frowein, AöR 105 (1980), 169 (181 f.); Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 124 f. („methodisch mißglückt"); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 592; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 112; Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 5 Rn. 70.

BVerfGE 43, 130; Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 118. Krit. v. der Decken, NJW 1983, 1400 (1401); Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 5 Rn. 83. 62 Degenhart, in: BK, Art. 5 I u. II, Rn. 104 f.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 258, 261 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 595; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Bd. 1, 1996, Art. 5 I, II Rn. 126 ff. Krit. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 276 (289); Schwark, Der Begriff der Allgemeinen Gesetze", 1970, S. 87 f., 135; Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (821); Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 5 Rn. 75 f. 63 Grasnick, Urteilsanm., JR 1995, 162; Isensee, AfP 1993, 619 (620); Kiesel, NVwZ 1992, 1129 (1133); Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: HdbStR, Bd. V, 1992, S. 101 (133, Rn. 64); ders., NJW 1994, 1897; Redeker, NJW 1993, 1835 (1836); Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873 (876, 878); Sendler, NJW 1993, 2157; ders., ZRP 1994, 343; Stark, JuS 1995,689 (692) (jeweils m. w. N.). 19 Wandres

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liehen Schwerpunktsetzung, die unter geänderten Vorzeichen auch rasch ins Wanken geraten könnte. 64 bb) Eigene Lösung Die Sonderrechtslehre ist als Ausgangspunkt einer sachgerechten und (für alle!) weitestmöglich freiheitssichernden Lösung vorzugswürdig, 65 und ihre Sichtweise entspricht am ehesten den historischen Intentionen des Verfassungsgebers. 66 Ihre Schwächen liegen jedoch da, wo einem der bekenntnishafte Ausruf „in dubio pro liberiate" 67 in der Kehle erstirbt, also dort, wo die Rechte Dritter in einer Weise beeinträchtigt werden, daß ein unbeschränkter Grundrechtsgebrauch nicht mehr tolerierbar erscheint. In der Drittschutz-Konstellation ist für unbeschränkte liberale Großzügigkeit kein Raum, 68 weil sie gänzlich auf Kosten des beeinträchtigten Dritten ginge. Die kollidierenden Rechte müssen grundsätzlich in einer Weise beschränkt werden, daß sie sich nicht gegenseitig über Gebühr beschneiden, gleichwohl aber unter den gegebenen Umständen je für sich zur bestmöglichen Geltung kommen. Das heißt nichts anderes als die Herstellung praktischer, also konkreter Konkordanz. 69 Die Schranke der „allgemeinen Gesetze" muß daher so interpretiert werden, daß die grundrechtliche Abwehrwirkung, welche aus der Meinungsfreiheit fließt, dem Staat nicht ausgerechnet dort Fesseln anlegt, wo ihn das Wertegefüge der Verfassung zum unbeschränkten Tätigwerden verpflichtet, 70 nämlich zum Schutz der Rechtsgüter potentieller Opfer. 64 Das hat bereits Smend, a. a. O., S. 53 gesehen: „Derartige Abwägungsverhältnisse können schwanken . . D r a s t i s c h Roellecke, JZ 1981,688 (694). 65 Ebenso v. der Decken, NJW 1983, 1400 (1401); Hoppe, JuS 1991, 734 (738); Huster, NJW 1996, 487 (489); Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 123 f.; Roellecke, JZ 1981, 688 (693); Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 41; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 276 (287 f.); Schwark, Der Begriff der ,Allgemeinen Gesetze", 1970, S. 130; Stern, FS f. Hübner, 1984, S. 815 (821); W. Weber, FS f. E. R. Huber, 1973, S. 181 (182, 186). Ähnlich Gornig, JuS 1988, 274 (276), der freilich TatsachenäuQcrüngtn ausnehmen will.

66 Vgl. v. Doemming u. a.: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR N.F. 1 (1951), 79ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II Rn. 251. 67 Näher P. Schneider, FS 100 Jahre DJT, 1960, S. 263 ff.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (563). 68 Ebenso Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1538); Isensee, AfP 1993, 619 (628); Rüthers, FS f. Löffler, 1980, 303 (312); Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 55; Würtenberger, FS f. Welzel, 1974, S. 23 (29). 69 v. der Decken, NJW 1983, 1400 (1402); Emmerich/ Würkner, NJW 1986, 1195 (1197); Gornig, JuS 1988, 274 (278); Hesse, VerfR, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 72; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 (948); Lerche, Grundrechtsschranken, HdbStR, Bd. V, 1992, S. 775 ff., Rn. 5 f.; Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat, 1990, S. 136, 138, zusf. 265 f., 269; Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, HdbStR, Bd. VI, 1989, S. 635 ff. Rn. 20. Skeptisch Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 122 f. 70 Näher zu Schutzpflichten des Staates Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 (947) m. w. N.; Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht und staatl. Schutzpflicht, in: HdbStR, Bd. V,

Β. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG

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In der bewußten Betonung „