Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Zeitgemäße Transformationen und akute Dilemmata 9783495999189, 9783495999196

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Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Zeitgemäße Transformationen und akute Dilemmata
 9783495999189, 9783495999196

Table of contents :
Cover
1 Intro
2 Vorläufige Definition
2.1 Geschichtliche Entstehung
2.2 Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
2.3 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Abgrenzung zu anderen Psychotherapieverfahren
3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen und die akuten Dilemmata der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
4 Zentrale Inhalte
4.1 Bestandsaufnahme zu dem, was unter tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie verstanden wird
4.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse
4.3 Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft? Freud und Jung
4.4 Die Geschichte der Seele und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
4.5 Bilanz und Zukunftsausblick
4.6 Schreibweise
4.7 Psychotherapie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – vorläufige Bündelung mit praktischen Beispielen
5.1 Moderne und Psychotherapie
5.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Konflikt mit der Psychoanalyse
5.3 Beispiele aus der Praxis
5.4 Kulturelle Determinanten der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
5.5 Beispiele aus der Praxis
5.6 Zusammenfassung
6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – veranschaulicht über Sichtung einiger Standardwerke und eigener Kasuistiken
6.1 Übersicht
6.2 Standardwerke – das Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
6.3 Sich schlechter fühlen: die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
6.4 Weiter zu den Standardwerken
6.5 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei ich-strukturellen Defiziten – aus der Praxis
6.6 Noch ein Blick auf ein Standardwerk und Bezug zur Praxis
6.7 Beispiele aus der Praxis zu ich-strukturellen Defiziten
6.8 Weiter zu den Standardwerken – weiter zu dem Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
6.9 Zusammenfassung
7 Die Inhalte der Standardwerke
7.1 Zusammenfassung
8 Zwei exemplarische tiefenpsychologische Fälle – aus der Literatur
9 Ein Fall Freuds
9.1 Warum Freud?
9.2 Miss Lucy R.
9.3 Miss Lucy R. in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
9.4 Zusammenfassung
10 Psychosexuelle Phasen
10.1 Anale Phase
10.2 Sex heute – Beispiele aus der Praxis
10.3 Anale Phase nach Freud – und heute
10.4 Zusammenfassung
11 Blicke in Freuds Vorlesungen
11.1 Direkte Kommunikation
11.2 Das Unbewusste
11.3 Ein Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?
11.4 Weltzugewandheit – Weltabgewandheit
11.5 Nochmals der Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?
11.6 Übertragung – Gegenübertragung
11.7 Die drei Kränkungen der menschlichen Seele
11.8 Sex – Nicht-Sex
11.9 Die Zerlegung der Seele
11.10 Zusammenfassung
12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie
12.1 Anna Freud
12.2 Hartmann
12.3 Melanie Klein
12.4 Erikson
12.5 Schultz-Hencke
12.5.1 Der formale Bezug der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu Freud und der Neo-Psychoanalyse
12.6 Zusammenfassung
13 Exkurs: Die jüdischen Wurzeln Freuds?
13.1 Zusammenfassung
14 Freud – Jung
14.1 Übersicht
14.2 Briefwechsel Freud – Jung
14.3 Psychoanalyse – geschaffen von Freud und Jung
14.4 Drei zentrale Begriffe bei Freud und Jung: das Unbewusste, Ich und Neurose
14.4.1 Psychologische Grandiosität
14.4.2 Ein Beispiel grandiosen psychologischen Denkens
14.4.3 Konsequenzen für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
14.5 Zusammenfassung
15 Moderne Seelenvorstellungen
15.1 »Geschichte des privaten Lebens« und ihre Auswirkungen auf Psychotherapie
15.1.1 Das autobiographische Schreiben Casanovas
15.2 Die große Seele der Moderne
15.3 Historische Psychologie und ihre Seelen
15.3.1 Romantik bei Novalis
15.4 Zusammenfassung
16 Ein Blick zurück: frühere Seelenvorstellungen
16.1 Platon
16.2 Augustinus
16.3 Gnosis
16.4 Modelle der Psyche in der Neuzeit
16.5 Die Seele der Renaissance
16.6 Pietismus
16.7 Zusammenfassung
17 Bilanz
18 Die Zukunft der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Ein kleiner Ausblick
Literatur

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Seele, Existenz, Leben

| 38

Christoph Klotter

Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Zeitgemäße Transformationen und akute Dilemmata

https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

Seele, Existenz, Leben Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Band 38

https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

Christoph Klotter

Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Zeitgemäße Transformationen und akute Dilemmata

https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99919-6 (Print) ISBN 978-3-495-99918-9 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

Inhaltsverzeichnis

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Intro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2

Vorläufige Definition . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Geschichtliche Entstehung . . . . . . . . . . . . .

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2.2 Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.3 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Abgrenzung zu anderen Psychotherapieverfahren

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Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen und die akuten Dilemmata der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . .

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Zentrale Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Bestandsaufnahme zu dem, was unter tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie verstanden wird . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.3 Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft? Freud und Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.4 Die Geschichte der Seele und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie . . . . . . . . . . . . .

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4.5 Bilanz und Zukunftsausblick . . . . . . . . . . . .

32

4.6 Schreibweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.7 Psychotherapie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

Inhaltsverzeichnis

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Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – vorläufige Bündelung mit praktischen Beispielen

41

5.1 Moderne und Psychotherapie . . . . . . . . . . .

41

5.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Konflikt mit der Psychoanalyse . . . . . . . . . .

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5.3 Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . .

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5.4 Kulturelle Determinanten der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . .

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5.5 Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . .

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5.6 Zusammenfassung

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Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – veranschaulicht über Sichtung einiger Standardwerke und eigener Kasuistiken . . . . . .

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6.1 Übersicht

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.2 Standardwerke – das Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

. .

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6.3 Sich schlechter fühlen: die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie . . . . . . . . . . . . .

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6.4 Weiter zu den Standardwerken

. . . . . . . . . .

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6.5 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei ich-strukturellen Defiziten – aus der Praxis . . . .

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6.6 Noch ein Blick auf ein Standardwerk und Bezug zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.7 Beispiele aus der Praxis zu ich-strukturellen Defiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.8 Weiter zu den Standardwerken – weiter zu dem Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . .

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6.9 Zusammenfassung

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Die Inhalte der Standardwerke . . . . . . . . . . . . 7.1 Zusammenfassung

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Zwei exemplarische tiefenpsychologische Fälle – aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Fall Freuds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.1 Warum Freud? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

9.2 Miss Lucy R. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.3 Miss Lucy R. in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.4 Zusammenfassung

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10 Psychosexuelle Phasen . . . . . . . . . . . . . . . .

117

10.1 Anale Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

10.2 Sex heute – Beispiele aus der Praxis . . . . . . . .

118

10.3 Anale Phase nach Freud – und heute

. . . . . . .

121

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen . . . . . . . . . . . . .

125

11.1 Direkte Kommunikation . . . . . . . . . . . . . .

125

11.2 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11.3 Ein Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . .

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11.4 Weltzugewandheit – Weltabgewandheit . . . . . .

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11.5 Nochmals der Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? . . .

132

11.6 Übertragung – Gegenübertragung . . . . . . . . .

135

11.7 Die drei Kränkungen der menschlichen Seele

. . .

137

11.8 Sex – Nicht-Sex . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

11.9 Die Zerlegung der Seele . . . . . . . . . . . . . .

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10.4 Zusammenfassung

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11.1 Zusammenfassung 0

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

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12.2 Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12.3 Melanie Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12.4 Erikson

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12.5 Schultz-Hencke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.1 Der formale Bezug der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu Freud und der Neo-Psychoanalyse . . . . . . . . . . . .

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12.6 Zusammenfassung

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13 Exkurs: Die jüdischen Wurzeln Freuds? . . . . . . .

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12.1 Anna Freud

13.1 Zusammenfassung

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14 Freud – Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14.1 Übersicht

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14.2 Briefwechsel Freud – Jung . . . . . . . . . . . . .

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14.3 Psychoanalyse – geschaffen von Freud und Jung . .

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14.4 Drei zentrale Begriffe bei Freud und Jung: das Unbewusste, Ich und Neurose . . . . . . . . . . 14.4.1 Psychologische Grandiosität . . . . . . . 14.4.2 Ein Beispiel grandiosen psychologischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.3 Konsequenzen für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie . . . . . . . . . 14.5 Zusammenfassung

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Inhaltsverzeichnis

15 Moderne Seelenvorstellungen . . . . . . . . . . . .

209

15.1 »Geschichte des privaten Lebens« und ihre Auswirkungen auf Psychotherapie . . . . . . . . . 15.1.1 Das autobiographische Schreiben Casanovas

209 218

15.2 Die große Seele der Moderne . . . . . . . . . . .

223

15.3 Historische Psychologie und ihre Seelen . . . . . . 15.3.1 Romantik bei Novalis . . . . . . . . . . .

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15.4 Zusammenfassung

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16 Ein Blick zurück: frühere Seelenvorstellungen . . .

241

16.1 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

16.2 Augustinus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

16.3 Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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16.4 Modelle der Psyche in der Neuzeit . . . . . . . . .

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16.5 Die Seele der Renaissance . . . . . . . . . . . . .

254

16.6 Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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16.7 Zusammenfassung

. . . . . . . . . . . . . . . .

262

17 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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18 Die Zukunft der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Ein kleiner Ausblick . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Intro

Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Verwaltung einer Universität oder einer Hochschule tätig. In einer Sitzung dieser Verwaltung wird beschlossen, dass das Studium der Medizin ein neues Fach werden soll. Allerdings sollte dieses Studium nicht so lange dauern wie das übliche Medizinstudium, und es sollte auch nicht so personalinten­ siv bezüglich der Lehre sein. Im Vordergrund sollte eine erfolgrei­ che Behandlung stehen und weniger die Ursachenerforschung der Krankheiten. Und die Behandlung sollte kurz und effektiv sein. Ein Aufenthalt der Patientinnen und Patienten in einer Klinik sollte maximal eine Woche dauern. Im Grunde sollte es eine ganz andere Medizin sein, aber diese sollte sich durchaus auch auf die traditionelle Medizin beziehen. So in etwa ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ins Leben gerufen worden – in einem Verwaltungsakt. Nun wundert sich dann niemand darüber, dass es recht unter­ schiedliche Anschauungen darüber gibt, was denn die neue tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie ausmacht, ausmachen soll. Schließlich wurde sie nur recht vage definiert ins Leben gerufen. Klar war nur, dass sie etwas zu tun haben soll mit der Tiefenpsychologie und damit auch mit der Psychoanalyse. Wenn diese neue Psychotherapieform etwas mit der Psychoana­ lyse zu tun hat, muss im Folgenden erarbeitet werden, was denn die zentralen Merkmale der traditionellen Psychoanalyse sind. Und es stellt sich die Frage, was hat denn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie von der traditionellen Psychoanalyse übernommen und was nicht. Und es stellt sich eine weitere Frage: Begreift sich die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie als deutsche Psychoanalyse? Ist sie damit tendenziell und zu Anteilen antisemitisch? Oder lässt sie zumindest dafür Platz? Dann muss geschaut werden, welchen kulturell-gesellschaftli­ chen Rahmen hat die Psychoanalyse, hat die tiefenpsychologisch

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1 Intro

fundierte Psychotherapie. Wissenschaftliche Disziplinen fallen nicht vom Himmel, sondern sind mitbestimmt von einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur, ohne die sie nicht zu verstehen sind. Und zugleich formen sie eine gesellschaftliche Struktur mit. Psychotherapie gibt es nicht, seitdem es Menschen gibt. Im europäischen Mittelalter ist Psychotherapie undenkbar. Sie gehört zu den letzten 200 Jahren, zu der Zeit der Moderne. Nicht zu vergessen: Es gibt nicht die menschliche Seele, diese ist vielmehr mitgeformt von der jeweiligen Epoche, der jeweiligen Gesellschaft, der jeweiligen Kultur. Die menschliche Seele ist nur zu Anteilen eine historische Invariante. Wissenschaft ist nach dem Wissenschaftstheoretiker Popper ein kritischer unabschließbarer Prozess (Klotter 2020). Daher ist mit das wichtigste an diesem Werk, dass die Aufgaben umrissen werden, die auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie noch zukom­ men.

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2 Vorläufige Definition

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist kein Kind einer wissenschaftlichen Ableitung, sondern wurde pragmatisch als Psy­ chotherapie-Angebot der gesetzlichen Krankenversicherungen ins Leben gerufen, und zwar nur in Deutschland. So nimmt es nicht Wunder, dass in den bisherigen Standard­ werken zu diesem Psychotherapieverfahren recht unterschiedliche Vorstellungen darüber herrschen, was sie denn ausmacht. Diese Standardwerke stimmen im Wesentlichen nur darüber ein, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowohl aus der Psycho­ analyse abgeleitet ist, aber eben auch ganz anders ist.

2.1 Geschichtliche Entstehung Zunächst sollen zur historischen Entstehung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zwei prägnante Zitate von Wöller und Kruse (2020) vorgestellt werden: »Der Begriff ›tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie‹ ist erst 1967 mit der Einführung der Richtlinien-Psychotherapie als Oberbe­ griff für die neben der ›analytischen Psychotherapie‹ in die kassenärzt­ liche Versorgung aufgenommenen psychodynamischen Behandlungs­ verfahren geschaffen worden.« (S. 9)

Dieses Psychotherapieverfahren ist also relativ neu, im Vergleich etwa zur Psychoanalyse. Wir werden an vielen Stellen des vorliegenden Buches sehen, dass mit der Etablierung dieser Psychotherapieme­ thode nicht alleine auf Versorgungsdefizite bei der psychotherapeuti­ schen Behandlung reagiert worden ist, und mit einer niederfrequenten Psychotherapie lassen sich einfach mehr Patientinnen und Patienten behandeln, sondern auch auf die Zeitumstände und historisch-kultu­ rellen Veränderungen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also viel­ fach zeitgemäßer als die Psychoanalyse.

13 https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

2 Vorläufige Definition

Wöller und Kruse (ebd.) zitieren aus aktuellen PsychotherapieRichtlinien, um zu veranschaulichen, wozu dieses Psychotherapiever­ fahren dienlich sein soll: „›Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie umfasst ätiolo­ gisch orientierte Therapieformen, mit welchen die unbewusste Psy­ chodynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte und strukturel­ ler Störungen unter Beachtung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand behandelt werden‹ (Psychotherapie-Richtlinien 2009/2017, $ 14a, 1).« (ebd., S. 10)

Diese Psychotherapie-Richtlinien definieren die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als Modifikation der Psychoanalyse wie zugleich als Kind der Psychoanalyse. Wir werden fast im gesamten vorliegenden Buch sehen, mit welchen Schwierigkeiten diese Defini­ tion zu kämpfen hat. Dies kann nur ersichtlich werden, wenn wir die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit der Psychoanalyse zunächst kontrastieren und zwar möglichst differenziert. Ansonsten bleiben die Besonderheiten der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie auf der Strecke.

2.2 Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Mit einigen Schlagworten lässt sich nun im Einzelnen die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie von der Psychoanalyse abgren­ zen. Mit diesen Schlagworten kann ein vorläufiges Bild dieser Psycho­ therapieform erstellt werden: – – – – –

Sie ist niederfrequent, sprich: nur eine Stunde pro Woche. Sie fokussiert aktuelle Probleme und Konflikte der Klienten, bearbeitet die Biographie nur eingeschränkt. Die Regression des Patienten, das gedankliche und emotionale Zurückwandern in die eigene Vergangenheit, wird so nicht geför­ dert. Die Psychotherapeutin lehnt sich nicht nur zurück, um zur Über­ tragung einzuladen, sondern sie ist präsenter und strukturiert die Behandlungsstunden aktiver. Die Bearbeitung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand spielt so eine geringere Rolle.

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2.2 Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

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Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie arbeitet nicht nur mit der rationalen Deutung des Zusammenhangs zwischen Biographie, aktueller Lebenssituation und aktuellen Konflikten. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist indiziert bei ich-strukturellen Defiziten. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht multime­ thodal vor. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist ressourcen­ orientiert.

Diese Schlagworte sollen nun näher ausgeführt werden, damit klar wird, was in etwa unter einer tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie zu verstehen ist. Etliche Vertreterinnen und Vertreter dieser Psychotherapieform können sich auf diese Schlagworte einigen. Zugleich gibt es erhebliche Divergenzen unter diesen, was denn diese Psychotherapieform besonders ausmacht. Diese Divergenzen werden dann weiter unten thematisiert. Zu den Schlagworten: Niederfrequent bedeutet, eine Psychotherapie-Stunde pro Woche, bedeutet also, dass nicht zu viel Zeit für die Psychotherapie aufgewendet werden soll. Sie soll nicht im Mittelpunkt eines Lebens­ abschnitts stehen, sondern die bessere Bewältigung des aktuellen Lebens soll ihr Zentrum bilden. Wir müssen uns das so vorstellen: Drei Psychotherapiestunden pro Woche sind verbunden mit Fahrtzeiten zum Psychotherapeuten, zur Psychotherapeutin. Aus drei Stunden werden dann leicht neun Stunden, da nicht davon auszugehen ist, dass die Psychotherapie-Pra­ xis um die Ecke liegt. Wie sollen diese neun Stunden vereinbar sein mit einer Berufs­ tätigkeit, mit Familie? Die neun Stunden bedeuten, dass vieles nicht mehr leistbar ist, dass ein wesentlicher Fokus in der Wochengestal­ tung auf der Psychotherapie liegt. Die traditionelle Psychoanalyse hat das Ziel, die aktuelle Lebens­ situation und das aktuelle Leiden mit der Biographie zu begründen. Um die aktuelle Lebenssituation und das aktuelle Leiden verstehen zu können, muss die Biographie durchgearbeitet werden – bis zur frühen Kindheit. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lehnt dies ab. Für sie stehen im Vordergrund die derzeitigen Probleme und Kon­ flikte, die so aufgearbeitet werden sollen, dass sich die Lebensqualität der Patienten erhöht.

15 https://doi.org/10.5771/9783495999189 .

2 Vorläufige Definition

Diese Psychotherapiemethode macht gleichsam eine Rechnung auf: Lohnt sich eine hochfrequente Psychotherapie – für was? Wird damit die aktuelle Lebensqualität verbessert? Oder geht es nur um die Aufarbeitung der jeweiligen Lebensgeschichte? Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht also prag­ matisch vor: Arbeit am Aktuellen, um ein besseres Leben zu ermög­ lichen. Die biographische Arbeit wird nicht ausgeschlossen, aber sie steht nicht im Vordergrund. Regression bedeutet das Zurückschreiten in der eigenen Lebens­ geschichte. Das betrifft das gedankliche, aber vor allem das emotio­ nale Zurückgehen: sich fühlend erinnern, was früher passiert ist, bis hinein in die früheste Kindheit, um damalige Erfahrungen und Probleme zu spüren und zu verstehen, wie sie das eigene Leben bestimmt haben. In der Regression wird der Patient, die Patientin gleichsam wieder zum kleinen Kind, das vom Psychoanalytiker, von der Psycho­ analytikerin begleitet wird. Ziele dabei sind: sich besser verstehen lernen, das eigene Leben besser annehmen können, die derzeitige Lebenssituation und die aktuellen Konflikte vor dem Hintergrund der Biographie besser begreifen können, dadurch die derzeitige Lebenssi­ tuation verbessern zu können. Es geht also auch um die Optimierung des aktuellen Lebens, aber über den großen Umweg der eigenen Lebensgeschichte. Diesen Umweg erachtet die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als entweder überflüssig oder als zu aufwendig. Die traditionelle Psychoanalytikerin begreift sich im Wesentli­ chen als Projektionsfläche, auf die frühere Erfahrungen und Bezie­ hungsmuster des Patienten vom Patienten übertragen werden. Ein Beispiel: Hat der Patient seine Mutter als relativ unempa­ thisch erlebt, so kann er dies unbewusst auf die Psychoanalytikerin übertragen. Er erlebt sie als so unempathisch wie seine Mutter. Wozu soll der Psychoanalytiker Projektionsfläche sein? Damit werden Konflikte und Erfahrungen aus der Vergangenheit reaktuali­ siert und können bearbeitet werden. Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut macht dies anders. Er strukturiert das Gespräch mehr, ist als Person präsenter, er unterstützt den Heilungsprozess aktiv und lädt so zur Übertragung weniger ein. Seine potenzielle Reaktion auf die Übertragung mit einer Gegenübertragung, also mit einer Reaktion auf die Übertragung, spielt damit auch eine geringe bis gar keine Rolle.

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2.2 Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Zum klassischen Konzept der Psychoanalyse gehört auch der Begriff Widerstand. Er ist dafür reserviert, dass der Psychoanalytiker eine Deutung gibt: Er stellt einen Zusammenhang her zwischen der Lebensgeschichte, der aktuellen Lebenssituation und dem aktuellen Leiden. Der Psychoanalytiker geht nicht davon aus, dass die Patientin über die Deutung begeistert ist, weil ja etwas Unbewusstes bei ihr bewusst gemacht wird, was sie jedoch nicht wissen will und daher mit Widerstand reagiert. Und der Psychoanalytiker hat jetzt die Aufgabe, am Widerstand zu arbeiten. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gibt es derartige Deutungen nicht oder nur am Rande, weil eben auch die Bio­ graphie der Patientin, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle spielt. Zudem kann diese Psychotherapieform als vorsichtiger Verste­ hensprozess begriffen werden. Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut ist nicht davon überzeugt, die Wahrheit gepachtet zu haben. Er weiß, dass er sich genauso irren kann wie die Patientin. Er weiß, dass er nur mit ihr zusammen Lösungen für Lebensprobleme entwickeln kann. Ich-strukturelle Defizite können verstanden werden als Män­ gel in der Ich-Integration. Bestimmte Aspekte des Ichs werden quasi unterschlagen. Ein Beispiel: Ein Mädchen, das in einer Familie gleichsam von Anfang die Aufgabe hatte, für alle anderen da zu sein, sich um die anderen zu kümmern, muss mit dieser Aufgabe ihre eigenen bedürftigen Anteile quasi vergessen. Wäre ihr bewusst, wie bedürftig sie ist, dass sie ganz viel an emotionaler Zuwendung haben möchte, könnte sie diese Aufgabe nicht mehr bewältigen. Sie muss daher ihr bedürftiges Ich im Keller verschließen oder gar vergraben. Der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin kann es in diesem Falle gelingen, durch ihre strukturierende und haltgebende Art dieser Patientin klar zu machen, dass sie bislang ihr bedürftiges Ich weggeschoben hat. Ihr gelingt dies auch, weil sie der Patientin emotionale Zuwen­ dung gibt, die sie bisher in ihrer Herkunftsfamilie noch nicht hinrei­ chend erfahren hat. Diese Patientin hat zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass sie ihr bedürftiges Ich nicht nur zeigen kann, sondern dass es zu Anteilen auch befriedigt werden kann. So ist eine Ich-Integration möglich. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie versteht sich als offenes Verfahren, offen auch für die Methoden anderer Psycho­

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2 Vorläufige Definition

therapien. Mit ihr wird also nicht davon ausgegangen, dass es nur ein einzig richtiges Psychotherapieverfahren gibt und alles andere nicht oder wenig gilt. Vielmehr ist sie quasi auf der permanenten Suche nach Impulsen aus anderen Vorgehensweisen. Damit kehrt auch eine gewisse Bescheidenheit ein. Die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie reklamiert nicht für sich, das einzig richtige Psychotherapieverfahren zu sein und auch nicht das einzig richtige für alle Patienten; es kann für bestimmte Patienten­ gruppen passend sein, für andere weniger oder gar nicht. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht nicht davon aus, dass in ihr per Deutungen ewige Wahrheiten über das Unbewusste der Patientin verkündet werden, die sie entweder anneh­ men kann, oder auf die sie mit Widerstand reagiert. Vielmehr geht es ihr darum, die Ressourcen des Patienten zu aktivieren, eine kleine Hilfe dafür zu geben, damit die Patientin schauen kann, wie sie ihr Leben ändern kann. Diese Psychotherapieform geht also davon aus, dass die Patienten in der Lage sind, ihr Leben zu meistern. Sie brauchen nur einen Anstoß, um sich klar zu machen, dass sie das können. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also in diesem Punkt mit einer gewissen Bescheidenheit verbunden. Es liegt in dieser Sicht nicht in der Hand des Psychotherapeuten, ob dem Pati­ enten etwas gelingt, vielmehr liegt dies in den Händen des Patienten.

2.3 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Abgrenzung zu anderen Psychotherapieverfahren Wir haben bisher die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie überwiegend in Abgrenzung zur Psychoanalyse gekennzeichnet. Um die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie besser einord­ nen zu können, können kurz andere Psychotherapieverfahren vorge­ stellt werden. Die Verhaltenstherapie bietet Techniken an, wie unerwünschtes Verhalten verändert werden kann. Es geht ihr also nicht im Allgemei­ nen um eine bessere Bewältigung aktueller Konflikte, sondern um konkrete Verhaltensänderung. Jemand hat Flugangst und muss wegen einer Konferenz weit weg fliegen. In diesem Fall ist Verhaltenstherapie indiziert. Schließlich geht es um ein sehr konkretes unerwünschtes Verhalten. Und es wird konkret geschaut: Welche Reize lösen die

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2.3 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Abgrenzung

Flugangst aus? Das sind Turbulenzen. Dann würde der Verhaltens­ therapeut etwa vorschlagen, dass die Person, die Flugangst hat, sich im Flugzeug selbst instruieren soll: »Das Fliegen ist die sicherste Form der Mobilität. Wenn ich mein Auto am Flughafen geparkt habe, bin ich in Sicherheit.« Diese Selbstinstruktionen können, so der Verhaltenstherapeut, mit Entspannungsübungen verbunden werden. Die Technik der Selbstinstruktion basiert auf der Überzeugung, dass Gedanken den Körper beeinflussen können, zum Beispiel das Herzra­ sen oder den Bluthochdruck verhindern können. Wenn jemand dagegen mit seinem Arbeitsplatz unzufrieden ist, und er nicht weiß, was ihn stört und was er überhaupt beruf­ lich machen will, dann geht er eher zur tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie. Die wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie nach Rogers arbeitet nicht mit Techniken, sondern mit drei therapeutischen Basisvariablen: unbedingte Wertschätzung, Empathie und Kongru­ enz (Echtheit), die die Gesprächspsychotherapeutin dem Klienten entgegenbringen sollte. Unbedingte Wertschätzung meint, dass die Wertschätzung an keine Bedingungen geknüpft ist, dass der Klient so angenommen wird, wie er ist. Das kann zur Folge haben, dass der Klient lernt, sich selbst mehr wertzuschätzen, ein besseres Selbst­ wertgefühl zu bekommen und so mehr Gutes für sich tun kann. Empathie erleben, kann dazu führen, dass der Klient sich selbst besser verstehen lernt, sowie lernt, sich langfristig auch ohne Psychotherapie intensiver mit sich zu beschäftigen. Ist die Gesprächspsychotherapeu­ tin kongruent, teilt sie dem Klienten verbal und nonverbal mit, was er in ihr auslöst, dann bekommt der Klient ein Feedback, wie er auf andere wirkt, was er in ihnen auslöst. Auch so kann er sich besser verstehen lernen. Rogers wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie lässt sich als Urmodell der Ressourcenorientierung verstehen, die eine der Schlagworte der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist. Die drei psychotherapeutischen Basisvariablen sollen dazu dienen, dass sich die Klienten selbst aktivieren, eigene Lösungen für ihre Lebensprobleme entwickeln. Der eben beschriebene Mensch, der mit seinem Arbeitsplatz unzufrieden ist, könnte auch zu einer Gesprächspsychotherapeutin gehen. Dort wäre er vermutlich genauso gut aufgehoben wie in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Angenommen dieser Mensch hätte den Eindruck, dass er gewiss nicht der einzige ist, der mit seinem derzeitigen Arbeitsplatz unzu­

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2 Vorläufige Definition

frieden ist, dass dies eigentlich fast alle in seinem Betrieb, in seiner Abteilung sind, dann könnte er die Vermutung hegen, dass mit dem Unternehmen insgesamt etwas nicht stimmt. Würde er sich in den unterschiedlichen Psychotherapien etwas auskennen, dann würde er zu einer systemischen Psychotherapie gehen beziehungsweise veran­ lassen, dass ein systemischer Psychotherapeut sein Unternehmen unter die Lupe nimmt. Mit der systemischen Psychotherapie wird davon ausgegangen, dass ein System, die Kommunikation des Sys­ tems etwa, gestört sein kann, und der Einzelne nur ein Symptomträger des gestörten Systems ist. Dann müsste demnach das gesamte System behandelt werden. So kann in einer Familie, die auch als System begriffen werden kann, die anorektische Tochter die Symptomträgerin sein, mit der ihre Eltern von ihren eigenen massiven Paarkonflikten ablenken wollen. Die systemische Psychotherapeutin würde dann nicht die anorektische Tochter behandeln, sondern die gesamte Fami­ lie.

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen und die akuten Dilemmata der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Was lässt sich unter zeitgemäßen Transformationen der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie verstehen? Transformationen beziehen sich hier selbstredend auf die Psychoanalyse, die transfor­ miert wird; die Psychoanalyse ist quasi der Mutter dieser relativ neuen Psychotherapieform. Um diese Transformationen vorzustellen, ist eine Schnittmenge mit Kapitel 2.2 (Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie) unumgänglich. Die Wiederholungen können aber auch dazu dienen, tiefer in die Materie einzusteigen. Wie lassen sich diese Transformationen bündeln: –



Die traditionelle Psychoanalyse arbeitet in der Regel mit drei Behandlungsstunden pro Woche. Die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie reduziert diese auf eine Stunde. Sie macht damit klar, dass das Leben gewissermaßen nicht dafür da ist, zur Psychotherapie zu gehen. Zur psychoanalytischen Praxis gibt es ja auch einen Fahrweg. So können aus drei Stunden leicht neun werden. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie berücksichtigt hingegen, dass wir in der Welt der flexibilisier­ ten Arbeit Leben, in einer Welt, in der die Arbeit das Leben bestimmt, und kaum einer, eine die Zeit findet, dreimal pro Woche zur Psychotherapie zu gehen. Mit einer verringerten Frequenz macht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie klar, dass ihr Fokus darauf liegt, dass der Patient, die Patientin besser mit ihrem Leben zurecht kom­ men soll. Und ein bisschen philosophisch formuliert: Es geht ihr um die individuell passende Lebenskunst, und sehr viel weniger um die Aufarbeitung der Vergangenheit.

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen











Sie rückt von einer stark asymmetrischen Beziehung zwischen Psychoanalytiker und dem Patienten ab, in der dann der Psycho­ analytiker rational das aktuelle Leiden der Patientin deutet, und, falls sie damit nicht einverstanden ist, dies als Widerstand inter­ pretiert, also tendenziell imperial interpretiert. Er hat einfach immer recht! Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie präferiert hingegen eine Begegnung tendenziell auf Augenhöhe. Sie versteht Psychotherapie als einen gemeinsamen Verstehens­ prozess zwischen Psychotherapeutin und Klient. Damit wird dem Klienten Anerkennung entgegengebracht. Er wird als aktiver Problemlöser begriffen. Er kann etwas. Er kann etwas für sich tun. Die Psychotherapeutin arbeitet nicht nur rational, sondern gibt dem Klienten emotionalen Halt, damit dieser nachreifen kann. Freud hat dies abgelehnt, seine Nachfolgerinnen und Nachfol­ ger nicht. Damit verbunden: Die Psychotherapeutin ist nicht oder wenig Projektionsfläche für Übertragungen, sondern sie ist menschlich präsent und strukturiert das Gespräch. Sie bildet so eine emotionale Unterstützung, eine tatkräftige Unterstützung. Der Klient fühlt sich bei ihr aufgehoben. Heute ist dies nahezu eine Selbstverständlichkeit. Es ist gleichsam der Rede nicht wert. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin arbeitet nicht durchgängig mit einer bestimmten Methode, etwa der rationalen Deutung, sondern passt ihre Methoden der jeweiligen Klientin an. Sie arbeitet also mit einer differentiellen Indikation. In unserer Alltagssprache nennt sich das dann Flexibilität. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist anders als zu Zeiten von Freud das Thema Sexualität nicht das primäre, weil sich die Sexualität liberalisiert hat. So muss etwa homosexu­ elles Verlangen nicht mehr verdrängt werden. Hieraus bilden sich keine neurotischen Symptome. Dieses Verlangen wird einfach gelebt. Ein Bundesminister kann seine Ehe mit einem Mann öffentlich machen, ohne fürchten zu müssen, sich darüber die eigene berufliche Karriere zu verbauen. In Freuds Zeit hätte dieser Minister eine Frau geheiratet, hätte dieser Minister eine Frau heiraten müssen, um als respektabler Minister anerkannt sein zu können. Womöglich wäre ihm sein homosexuelles Begehren gar nicht bewusst gewesen. Freud hätte dem Minister in einer Psychoanalyse dieses Begehren bewusst machen müssen. Für Freud war also das Unbewusste und die Sexualität eng miteinander verwoben, und diese Verwobenheit

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen

war das Leitthema seiner psychotherapeutischen Arbeit. Wenn sich heute die Sexualität liberalisiert hat, dann ist somit das Unbewusste nur in geringem Maße Thema der Psychotherapie. Dies hat, wie eben erwähnt, den großen Vorteil, aktuelle Pro­ bleme und Konflikte angehen zu können. Der Untertitel dieses Buches weist auch auf die akuten Dilemmata der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie hin. Bevor diese jetzt über viele Seiten ausgebreitet werden, sollen sie kurz gebündelt wer­ den. Diese Dilemmata wurden eruiert auf der Basis ausgewählter Standardwerke und Lehrbücher zu dieser Psychotherapieform, also mit Hilfe ihres öffentlichen Erscheinungsbildes, so wie sie sich insze­ niert: Da die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eher büro­ kratisch ins Leben gerufen worden ist, existieren heute unterschiedli­ che Vorstellungen darüber, etwa wie ihre wissenschaftliche Definition aussieht, mit welchen Methoden sie vorgehen will, welche Diagnosen mit ihr bearbeitet werden sollen, also welche Patientengruppen the­ rapiert werden sollen. Das bedeutet, dass unter einem Label recht unterschiedliche Modelle fungieren, die jeweils für sich reklamieren, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu sein. Und dieje­ nigen, die an einer Weiterbildung zu diesem Psychotherapieverfahren teilnehmen, oder die als Patientin, als Patient dieses in Anspruch nehmen, wissen dann eigentlich gar nicht genau, wo sie gelandet sind. Sie nehmen implizit an, dass es die eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gibt. Es ist so, als sei eine Reise nach Griechenland gebucht worden, aber die einen landen in Italien, die anderen in Ägypten. Und selbst der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut weiß im Grunde nicht genau, was er macht, und was seine Kolleginnen machen. Seltsamerweise wird dieser Sachverhalt von den Vertreterin­ nen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wenig thematisiert. Sie tun so, als gebe es in Griechenland halt eben unterschiedliche Regionen und Zielorte. Aber all das sei gewiss Grie­ chenland. Laut ihrer bürokratischen Definition ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie an die Psychoanalyse angelegt. Aber was heißt das genau? Was übernimmt sie von der Psychoanalyse, was nicht? Genauer: Was übernehmen die unterschiedlichen Varianten

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen

der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie von der Psycho­ analyse, was nicht? Auch darüber gibt es im Rahmen der tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie keine öffentliche kritische Diskussion. Es wer­ den nur unterschiedliche Lehrbücher und Standardwerke geschrieben. Es ist so, als ob in einer politischen Partei in Deutschland die im Süden ein anderes Parteiprogramm haben als die im Norden und im Westen. Aber niemand tauscht sich darüber öffentlich aus. Was verstehen die unterschiedlichen Varianten der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie unter Psychoanalyse? Warum beziehen sie sich zuweilen etwa auf Freud, aber nicht auf seinen Schüler Jung, der die Psychoanalyse entscheidend mit geprägt und mit etabliert hat? Warum wird auch darüber kein Wort verloren? Diese Nichtberücksichtigung Jungs erscheint als selbstverständlich. Eine rationale wissenschaftliche Diskussion ist damit suspendiert. Was übernehmen die Varianten der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie warum von anderen Psychotherapieverfahren? Könnte es etwa sein, dass der Begründer der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie, Rogers, implizit der Pate der psychothera­ peutischen Beziehung in dieser Psychotherapieform ist, aber nicht einmal erwähnt wird? Mit welcher offenkundig systematischen Igno­ ranz wird in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gear­ beitet? Indem die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien ihren Fokus auf das multimethodale Vorgehen legen, übersehen sie ein wesentliches Ergebnis der aktuellen Psychotherapieforschung, näm­ lich, dass der erfolgsentscheidende Faktor in der Psychotherapie nicht die eingesetzte Methode ist, sondern die psychotherapeutische Kom­ petenz der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten. Der gesamte Methodenstreit auf dem gesamten Gebiet der Psychotherapie ist damit relativ überflüssig. Aber dessen ungeachtet, tobt der Metho­ denstreit weiter. Wie sehen die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie ihre Beziehung zur Psychoanalyse? Oft erleben sie sich als die quasi dummen Kinder der Psychoanalyse und ärgern sich mächtig darüber und geben dem auch in den Standard­ werken Ausdruck. Sie fühlen sich von der Psychoanalyse missachtet. Dies Erleben wird vermutlich Auswirkungen auf die durchgeführten Psychotherapien haben. Die »kleinen dummen Kinder der Psycho­ analyse« übersehen hierbei, dass die Psychoanalyse als Kassenleis­

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen

tung so gut wie keine Rolle mehr spielt, ganz im Gegenteil zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Aber warum müssen deren Vertreterinnen und Vertreter darauf beharren, klein und dumm zu sein? Warum tun sie das? Wie sehr stellt sich die tiefenpsychologisch fundierte in die Tradition der deutschen, der arischen Psychoanalyse? Wie sehr sind in ihr antisemitische Tendenzen vorhanden? Etliche Varianten die­ ser Psychotherapieform lassen Freud außen vor und beziehen sich wie selbstverständlich auf Schultz-Hencke, der im Dritten Reich für ein kampfbereites deutsches Volk plädiert hat, und auf seine Schü­ lerin, Dührssen, der antisemitische Tendenzen unterstellt werden. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gibt es ja nur in Deutschland, und es ist nicht auszuschließen, dass sie es indirekt zulässt, als arische Psychoanalyse begriffen zu werden. Sie lässt diesen Möglichkeitsraum offen. Wie stark und wie sehr ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ein Kind unserer Kultur? Und wird dies überhaupt von ihr reflektiert? Die Antwort lautet »Nein«. Sie ist weder in der Lage, sich psychotherapiegeschichtlich einzuordnen (siehe etwa Nichtberücksichtigung von Jung), noch zu reflektieren, was sie mit der Kultur der Moderne zu tun hat. Sie übernimmt aber, ohne dies zu wissen, das Modell einer besonderen persönlichen Freundschaft, das in den letzten 200 Jahren entstanden ist. Sie übernimmt die Idee des empfindsamen Herzens, das überaus gütig mit anderen empfindsamen Herzen verkehren will. Mit dieser Idee einer gütigen, herzlichen und intensiven Bezie­ hung zwischen Psychotherapeutin und Patient kann übersehen wer­ den, dass die Psychotherapeutin heimlich ein Interesse daran haben könnte, dass es dem Patienten nicht gut geht, dass sich sein psychi­ sches Befinden nicht ändert. Im Sinne Melanie Kleins könnte sie ihre negativen Selbstanteile auf den Patienten übertragen (projektive Identifizierung). Dann kann sie sicher sein, dass sie die Gesunde ist und er für immer der Kranke. Die Psychotherapeutin könnte dann die Psychotherapie als Schutzraum verstehen, in dem sie sich verstecken kann. Sie kommt ja persönlich nur bedingt vor, eher als eine durch und durch gesunde Beraterin. In diesem Sinne wäre diese Psychotherapie alles andere als eine lebendige Begegnung gütiger und zugewandter Herzen. Wie stark und wie sehr wähnt sich die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie gleichsam als fertiges Produkt, wie übersieht

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3 Kurzübersicht über die zeitgemäßen Transformationen

sie dabei ihre dringend zu bearbeitende Zukunftsaufgaben? Es ist nahezu absurd, dass sie in diesbezüglichen Standardwerken und Lehrbüchern als eben fertiges Produkt vorgestellt wird, auf die nichts mehr zukommt – wie ein neues Auto auf der Auto-Show. Freud ging davon aus, dass seine Nachfolgerinnen und Nachfolger aus seiner Psychoanalyse etwas ganz anderes, etwas besseres machen werden. Davon ist in diesen Standardwerken nichts mehr zu spüren.

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4 Zentrale Inhalte

Bisher wurden die zentralen Definitionsmerkmale der tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie vorgestellt. Aber die Vertreterin­ nen und Vertreter dieser Psychotherapieform legen diesbezüglich unterschiedliche Schwerpunkte. Zudem wurde kurz umrissen, was die zentralen zeitgemäßen Transformationen und die akuten Dilemmata dieser Psychotherapie­ form sind. Mit dem Begriff Dilemma soll benannt werden, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie selbst nicht genau weiß, was sie eigentlich ist. Aber sie tut so, als sei dies nicht der Fall. Die Psychoanalyse zerfällt in verschiedene Schulen, in unter­ schiedliche Richtungen, aber diese sind explizit genannt. Es gibt die Psychoanalyse nach Freud und zahlreiche Psychoanalysen seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger. Ähnlich ist es bei der Verhaltens­ therapie. Dilemmata entstehen, wenn unter einem Label »tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie« ganz Unterschiedliches läuft, und sehr vieles nicht geklärt ist und unter den Tisch gekehrt wird. Das vorliegende Buch soll dazu verhelfen, das anzuschauen, was unter dem Tisch liegt.

4.1 Bestandsaufnahme zu dem, was unter tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie verstanden wird Es besteht, wie des Öfteren bereits erwähnt, Uneinigkeit unter den Vertreterinnen und Vertretern der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, was diese ausmacht. Es müssen also die aktuellen Kontroversen um diese Therapieform anhand einiger Standardwerke vorgestellt werden. Und es muss ansatzweise geklärt werden, wie diese Unterschiede zustande gekommen sind. Ich hätte es mir einfach machen können, indem ich meine tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie in diesem Buch skizziert

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4 Zentrale Inhalte

hätte. Dann hätte ich den Strauß der unterschiedlichen Konzepte zu dieser Psychotherapieform einfach vergrößert, ebenso die Verwir­ rung, was diese denn nun ausmacht. Es macht also überhaupt keinen Sinn, einfach nur eine neue und andere Version der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vorzustellen, ohne die anderen auch nur zu erwähnen oder am Rande zu erwähnen. Vielmehr ist es an der Zeit, den Stand der Dinge bezüglich dieser Psychotherapieform vorzustellen. Die Standardwerke zu dieser Psychotherapieform werden nicht nur dahingehend angeschaut, wie homogen und wie heterogen in die­ sen Werken diese Psychotherapieform definiert wird, sondern auch, welche Themen überhaupt bearbeitet werden, welche Psychothera­ piemethoden vorgeschlagen werden, welche ätiologischen Annah­ men getätigt werden, welche Patientengruppen avisiert werden, etc. Diese Werke werden also kursorisch dahingehend sondiert, mit welcher inhaltlichen Struktur die jeweiligen tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapien ausstaffiert werden – nur kursorisch, weil andernfalls dieses Buch einen dreifachen Umfang hätte. Um die Theorie und Praxis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu veranschaulichen, habe ich diverse eigene Fälle dieser Psychotherapieform mit eingebaut. Damit soll nicht nur theo­ retisch klar werden, was tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie sein kann. Mit diesen Kasuistiken wird die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nachvollziehbarer und gleichsam lebendig. Auch etliche Stundenprotokolle von Psychotherapien werden vorge­ stellt.

4.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lässt sich nur ein­ ordnen und verstehen, wenn klarer wird, was die Freudsche Psy­ choanalyse als Theorie und Psychotherapie ist. Daher muss diese ausführlicher vorgestellt werden. Die entscheidende Frage hierbei ist: Was übernimmt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie von der Psychoanalyse und was nicht? Eine weitere Frage muss lauten: Sind sich die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie darin einig, was und wie viel von der Psychoanalyse übernommen wird?

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4.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse

In der Geschichte der Psychoanalyse wurde diese erheblich modi­ fiziert. Aus ihr wurde eine Tiefenpsychologie, in der zum Beispiel die Sexualität eine deutlich geringere Rolle spielt als in der Psychoanalyse Freuds. Dasselbe betrifft das Unbewusste. Dagegen wurde die Anpas­ sung an die Umwelt und damit die Ich-Funktionen stärker fokussiert. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie schließt sich der Tiefenpsychologie diesbezüglich weitgehend an. Es muss also die Geschichte der Psychoanalyse und die der Tie­ fenpsychologie bezüglich bestimmter Dimensionen umrissen wer­ den, um nachvollziehen zu können, was die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie ausmacht. Und auch in diesem Zusammenhang muss die Frage geklärt werden, ob es diesbezüglich Unterschiede bei den verschiedenen Varianten dieser Psychotherapieform gibt. In der Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie haben sich nicht nur die Inhalte wie etwa die Sexualität geändert, sondern auch die Psychotherapiemethoden. Für Freud stand im Vor­ dergrund, das Leiden der Patientin rational zu deuten, also einen Zusammenhang herzustellen zwischen Biographie, aktueller Lebens­ situation und aktuellem Leiden, und so das Unbewusste bewusst zu machen. Seine Nachfolger erweiterten die Psychoanalyse um das Containing (Bion) beziehungsweise um die Holding Function (Win­ nicott). Der Psychotherapeut, die Psychotherapeutin soll die Klienten halten wie die Mutter ihr Baby, also emotionale Zuwendung geben, Sicherheit geben, Geborgenheit geben. Mit diesem Halt können die Klienten emotional nachreifen. Freud hielt davon nichts. Ihm war das zu emotional, zu mütterlich, zu wenig rational. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie besteht aus einem Kompromiss zwischen dem rationalen Freud und seinen emo­ tionalen Nachfolgern. Selbstredend sollen in und mit ihr Lebenspro­ bleme rational geklärt werden, zugleich ist die emotionale Begleitung sehr wichtig. In dieser Psychotherapieform wird nicht von dem Containing gesprochen, sondern von einer strukturierenden Psycho­ therapeutin, die dazu beiträgt, das aktuelle Leben der Patienten zu optimieren. Diese Psychotherapeutin ist also auch Mutter, aber eher eine tatkräftige, denn nur fürsorgliche.

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4.3 Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft? Freud und Jung Die Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft zu bezeichnen, kann kontrovers interpretiert werden. Es kann sich einerseits um eine anti­ semitische Etikettierung handeln, es kann andererseits im Versuch bestehen, mögliche jüdische Wurzeln dieser Theorie und Psychothe­ rapie zu identifizieren. Für Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland ist dies kein marginales Thema, da mit dem Jahr 1933 die Psychoanalyse gleichsam verbannt worden ist, und zahlreiche jüdische Psychoana­ lytikerinnen und Psychoanalytiker entweder emigrieren mussten oder umgebracht wurden. Mit dem Jahr 1945 ist dieses Kapitel keineswegs abgeschlossen. Die deutsche Psychoanalyse eines SchultzHenckes oder seiner Schülerin, Dührssen, die stark die gesamte Nachkriegs-Psychoanalyse beeinflusst hat, steht durchaus unter dem Verdacht, antisemitisch fundiert zu sein, zumindest den Antisemitis­ mus nicht auszuschließen. Und es stellt sich die Frage, wie sich diesbezüglich die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie verortet. Zentral in der Geschichte der Psychoanalyse, der Tiefenpsy­ chologie ist die Kontroverse zwischen Freud und Jung. Nach dem Historiker Kerr, dessen Argumente noch ausführlich vorgestellt wer­ den, ist die Psychoanalyse ein gemeinsames Produkt von Freud und Jung. Wenn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sich eine psychoanalytische Herkunft zuschreibt, dann muss sie sich also auch mit Jung auseinandersetzen. Dies gehört zum Pflichtenheft dieser Psychotherapieform. Freud und Jung haben nicht nur eng kooperiert, sie waren bezie­ hungsweise wurden auch erbitterte Feinde. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Freud strikt rational sein wollte und Jung Magie und esoterische Praktiken nicht nur nicht ausschloss, sondern sie selbst erprobte. Und es stellt sich die Frage, ob Jung etwa eine arische Psychoanalyse kreieren wollte und Freuds Vorgehen als jüdisches begriff. Zu fragen ist also auch, ob Jung antisemitisch ausgerichtet war. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist die Aus­ einandersetzung mit dieser – vorsichtig formuliert – Kontroverse elementar. Schließlich muss sie den Verdacht ausräumen, implizit antisemitisch zu sein, etwa indem sie sich entschieden von Freud

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4.4 Die Geschichte der Seele und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

absetzt oder sich schlicht in die Tradition von Schultz-Hencke und Dührssen stellt.

4.4 Die Geschichte der Seele und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Psychoanalyse und Tiefenpsychologie fallen nicht vom Himmel. Sie sind eingebettet in die Seelenvorstellungen der Moderne. Dieses Zeitalter, vor allem deren Philosophen (Descartes, Kant), haben die große Seele geschaffen. Die deutsche Früh-Romantik auf der Achse Jena-Berlin kreiert um 1800 die tiefe Seele. Mit diesen historischen Einordnungen ist es möglich, das relative Chaos zu lichten, was heute unter tiefenpsychologisch fundierter Psy­ chotherapie verstanden wird. Historische Analysen können also mit dazu beitragen, dies zu klären. Ebenso helfen sie dabei zu verstehen, mit welcher Seelenvorstellung diese Psychotherapieform arbeitet. Die Seelenvorstellung der Moderne kann besser eingeordnet werden, wenn geschichtlich davorliegende skizziert werden. Damit wird auch klarer, dass eine Kultur ihre eigenen Seelenvorstellun­ gen formt. Und mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird ein Kompromiss bei den modernen Seelenvorstellungen gefunden, ein Kompromiss zwischen dem Menschenbild der Aufklärung (Der Mensch ist bestimmt von seiner Vernunft und seinem Willen) und der Freudschen (Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus). Ja, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss im Anschluss an Freud anerkennen, dass das Unbewusste eine Rolle spielt, zugleich setzt sie auf den Machbarkeitsmythos der Moderne: Alles ist möglich! Wir können alles schaffen! Daher können mit dieser Psychotherapieform aktuelle Lebensprobleme gemeistert werden. Zumindest sollen sie gemeistert werden. In und mit dem vorliegenden Buch wird also herausgestrichen, dass eine historische Psychologie unverzichtbar ist, um zu verste­ hen, dass – –

es zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Seelenvorstel­ lungen gibt die jeweilige Kultur die jeweilige Seele mit bestimmt, mit formt; es gibt nicht die menschliche Seele zu allen Zeiten, sondern

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verschiedene Seelen zu verschiedenen Zeiten; in der Moderne, also in unserer Zeit wird die tiefe Seele gleichsam erfunden, eine Seele, die sich selbst ergründen will, die den Blick ganz tief auf sich richtet diese moderne Seele Voraussetzung dafür ist, dass Psychothe­ rapie überhaupt erfunden wird, dass Psychotherapie also ein historisches Produkt ist, die von einer bestimmten Epoche auch benötigt wird die Geschichte der Psychoanalyse, der Tiefenpsychologie, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie selbst nicht ein rein wissenschaftsimmanenter Prozess gewesen ist, sondern beeinflusst worden ist von historischen Prozessen, etwa der Entstehung einer arischen Tiefenpsychologie im Dritten Reich.

4.5 Bilanz und Zukunftsausblick In einer Bilanz wird resümiert, welche Aufgaben aus dem bisher Diskutierten auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zukommen, Aufgaben, die dringend angegangen werden müssen. Der expliziten Reflexion bedarf etwa der Umstand, dass sich, wie erwähnt, seit Freud die kulturelle Bedeutung der Sexualität geändert hat. Sie hat sich liberalisiert und ist vermutlich deshalb weit weniger Thema in der Psychotherapie. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie antwortet implizit auf diesen historischen Wandel, indem das Thema Sex keines oder nur ein geringes in dieser Psychotherapieform ist. Sie bedarf also Ansätze einer Kulturtheorie, auch um verste­ hen zu können, wie kultureller Wandel den Wandel psychischer Symptomatik mitbedingt. So ist etwa die Freudsche Hysterie fast vollständig ausgestorben. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bedarf einer Zukunftsvision, um unverrückbar klar zu machen, was alles auf sie als zu klärende Dinge noch zukommt. Sie ist keine fertige Psychothe­ rapie, vielmehr steckt sie in den Kinderschuhen. Um zu bündeln: In dem vorliegenden Buch geht es darum, die aktuelle Debatte nachzuzeichnen, was unter der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie verstanden werden kann, die Abgrenzung der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie von der Psychoanalyse zu klä­

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4.6 Schreibweise

ren, sie kulturgeschichtlich einzuordnen, sowie festzuhalten, welche wissenschaftlichen Aufgaben unausweichlich auf sie zukommen. Die mögliche Zukunft der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist so zu umreißen. Damit ist mitgeteilt, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie noch stark überarbeitet werden muss. In diesem Buch wird hierzu eine »to do«-Liste erstellt. Die weiter oben genannten Dilemmata dieser Psychotherapie­ form können zwar damit nicht geklärt werden, aber sie können als ernsthafte Probleme näher benannt werden. Zu hoffen ist, dass damit ein Beitrag dafür geleistet ist, sie zu lösen.

4.6 Schreibweise Zuweilen wird in dem vorliegenden Buch Psychotherapie mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie betrieben, etwa wenn es um das implizite Selbstverständnis dieser Psychotherapieform geht. Dann fallen klinische Begriffe wie Narzissmus. Diese beziehen sich nie auf einzelne Menschen, sondern immer etwa auf die Gruppe der Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Es geht also nie um individuelle Psychopathologie! Diese aus Texten abzuleiten, wäre mehr als unpassend. Noch ein Wort zu einem bestimmten Stilmittel: Um nicht immer schreiben zu müssen, etwa: »Die Vertreterinnen und Vertreter der tie­ fenpsychologisch fundierten Psychotherapie behaupten …« schreibe ich häufig verkürzter: »Die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie behauptet …«, ich personalisiere sie also, um ein paar Seiten Text zu ersparen. Eine kurze Begriffsklärung: Von Psychoanalyse wird geschrie­ ben, wenn Freuds Werk benannt werden soll. Tiefenpsychologie steht für die Arbeit seiner Nachfolger, seiner Nachfolgerinnen. Tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie meint die nur in Deutschland so benannte niederfrequente Psychotherapie. In diesem Buch wird mit Wiederholungen gearbeitet. So wird an unterschiedlichen Stellen erläutert, was Freud etwa unter Deutung verstand. Dies dient nicht nur dazu, relativ schwierige Sachverhalte der Möglichkeit des verständlich-werdens zuzuführen, sondern auch der Möglichkeit, sich aus diesem Buch einzelne Kapitel herauszupi­ cken und diese hoffentlich verstehen zu können, ohne das Buch von

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A bis Z durchlesen zu müssen. So muss dann etwa die Deutung in diversen Kapiteln diskutiert werden. In diesem Buch wird ausführlich zitiert. Und dies hat seine guten Gründe. Zum Beispiel ist Freud wesentlich besser zu rezipieren und zu verstehen, wenn sein Schreibstil ersichtlich wird. Der wortwörtli­ che Freud und der zusammengefasste Freud haben sozusagen nur wenig miteinander zu tun. Der Leser und die Leserin dieses Buches müssen sich also der Mühe unterziehen, etliche Zitate zu rezipieren. Diese Mühe soll hoffentlich kompensiert werden durch ein größeres Verständnis für die Zitierten. Und nur, wenn ersichtlich wird, was Freud genau meinte, kann ein Bild davon bekommen werden, was die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie von ihm übernimmt und wie sie sich von ihm absetzt. Die wörtlichen Zitate dienen einem weiteren Zweck: Wenn Psychotherapie im Allgemeinen nicht nur Theorie ist, sondern etwas sehr Individuelles und Lebendiges, sollen deren Vertreterinnen und Vertreter auch lebendig rüberkommen, eben mit den Zitaten. So ist es denn sehr aufschlussreich, wie sich in den unterschiedlichen Schreibstilen von Freud und Jung deren spezifische Persönlichkei­ ten offenbaren. Darüber hinaus kann in den Zitaten quasi eine bestimmte Kultur sprechen, bei Freud etwa die europäische Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, die in vielerlei Hinsicht anders ist als die in der Jetztzeit. So würde Freuds und Jungs gegenseitige immense Höflichkeit in ihrem Briefwechsel heute als latent feindselig interpretiert werden. Sie würde quasi freudianisch interpretiert werden. Wenn ich davon schreiben würde, dass dieser Briefwechsel sehr höflich gehalten war, und ich wörtliche Zitate hierzu nicht überneh­ men würde, dann wäre die Anschaulichkeit nicht gegeben, dann wären Freud und Jung quasi steril verpackt, dann würde von ihnen emotional zu wenig rüberkommen. Und diese Lebendigkeit braucht es in einem Buch über tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Es ist ja keines der Mathematik. Also: Und in einem Werk über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sollte das Persönliche genau nicht ausgelöscht werden. Gut veranschaulichen lässt sich dies an der vehementen Kritik der Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie an der Psychoanalyse. Würde ich nur schreiben und zusammenfassen, dass sie Kritik üben, dann wären die damit verbun­

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4.6 Schreibweise

denen Emotionen unter den Tisch gekehrt, und das Selbstverständnis und eine implizite Selbstdefinition dieser Psychotherapieform wären nur unzureichend ersichtlich. Um die Emotionen zu veranschaulichen, die von einem wörtli­ chen Zitat ausgelöst werden können, soll nun eines von C. G. Jung aus einem Radio-Interview vorgestellt werden: »Hat Sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Natio­ nalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel uner­ füllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments. Eine Bewegung, die ein ganzes Volk ergreift …« (Jung in Lockot 2002, S. 95)

Diese überschwängliche Lobrede auf den Nationalsozialismus von Jung könnte ohne Zitat zusammengefasst werden: Jung sympathi­ sierte mit dem Nationalsozialismus und verdammte den Juden Freud. Aber damit bleibt vom von Jung ausgesprochenen Hass auf Freud wenig Greifbares übrig. Das Nicht-wörtlich-Zitieren würde zu einer Affektisolation füh­ ren: »Ich will davon nichts wissen, deshalb bitte keine Zitate!« »Ich will auch nichts Genaues wissen über Jungs Begeisterung für den Nationalsozialismus!« Der »Kehrichtkübel« ist eine noch relativ höfliche Beschreibung des Scheißhaufens. Davon würde der Bildungsbürger Jung natürlich niemals sprechen, aber alle wissen, dass der Scheißhaufen gemeint ist. Und Jung unterstellt Freud die Produktion dieses Haufens. Wenn das kein Antisemitismus in Reinform ist: Der Jude Freud hat doch nur Scheiße gebaut! Nieder mit ihm! Raus mit ihm aus dem herrlichen deutschen Nationalsozialismus! Wenn in diesem Buch zu lesen wäre: »Jung war Antisemit«, besser noch: »Jung hatte antisemitische Tendenzen«, dann bleibt die Seele der Leserin, des Lesers, tendenziell gelassen. Sie wird nicht in Aufruhr versetzt. Schließlich kann die Leserin, der Leser nicht ausschließen, dass sie, er damals eventuell auch diese Tendenzen gehabt hätte. Dagegen dreht sich beim Lesen des wörtlichen Zitats von Jung der Magen um. Aber wir dürfen nicht vergessen: Jung war damals kein Außen­ seiter, kein Schreiberling im darknet, sondern auf der Seite der Mehr­ heit, ein Vertreter der Mehrheit. Sehr viele Deutsche und deutschspra­

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chige Menschen dachten und sprachen so im Dritten Reich, wenn sie nicht gerade von der Diktatur des Proletariats träumten. Das, was für uns heute unvorstellbar ist, war damals Normalität. Und aus und mit dieser Normalität hat C. G. Jung im Radio gesprochen. Wir sollten uns heute hüten, Jung einfach nur zu verurteilen. Vermutlich hätten wir damals nicht anders gesprochen. Jung wäre, wenn er heute leben würde, ein Politiker der Ampelkoalition (SPD, FDP, Grüne) der Bundesregierung, also einfach ein Vertreter der Mehrheit, des Mainstreams, und kein »Querdenker«. Es muss in diesem Zusammenhang an Foucault (1974) erinnert werden, der davon ausging, dass eine bestimmte Zeit einen bestimm­ ten Zeitgeist produziert, aus dem es gleichsam kein Entkommen gibt. Der einzelne Mensch wird vom Zeitgeist gedacht. Für C. G. Jung war es dann eine Selbstverständlichkeit, antise­ mitisch zu denken. Der bekannte und sehr einflussreiche deutsche Philosoph, Martin Heidegger, war wie selbstverständlich von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP (Brumlik 1992). Mit diesem Zitat von Jung ist hoffentlich deutlich geworden, welche Funktion wörtliche Zitate haben können, und wie viel an Emotionen weggedrückt werden kann, wenn etwa Jung nur zusam­ mengefasst wird. So weit also zu den potentiellen Emotionen bei der Leserin und dem Leser, die durch wörtliche Zitate ausgelöst werden können. Und meine Emotionen, meine Persönlichkeit kommen auch zu Anteilen unausweichlich ins Spiel, etwa, wenn ich die Beziehung zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psycho­ therapie tiefenpsychologisch interpretiere; ebenso, wenn ich meine Psychotherapien vorstelle, wenn ich hiervon Stundenprotokolle refe­ riere, dann fällt ja unzweifelhaft auch ein Licht auf mich. Das ist in einem Werk über eine bestimmte Psychotherapieform weder zu umgehen, noch sinnlos. Ein Buch zu schreiben, ein Buch zu lesen, ist in gewisser Weise eine einmalige Begegnung zweier Menschen, zweier Psychen, hier des Autors und des Lesers, der Leserin, eine emotionale Begegnung. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es um Psychotherapie geht. Einige Leserinnen und einige Leser sind etwa eben in Psychotherapie und sind dann natürlich mit und in ihr emotional verwickelt und lesen dann auf affektiv besondere Weise ein Buch über Psychotherapie. Dasselbe gilt für die, die vorhaben, in Psychotherapie zu gehen, oder die sie hinter sich haben.

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4.7 Psychotherapie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Für viele Menschen kommt es gar nicht in Frage, eine Psychothe­ rapie in Anspruch zu nehmen. Auch diese werden mit besonderen Affekten ein Buch über Psychotherapie lesen. Ironie des Schicksals: In den hier vorgestellten Standardwerken zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist der sachliche Ton, der nicht emotionale Ton quasi selbstverständlich. Und zugleich wird dieses Gebot vollkommen außer Kraft gesetzt, etwa wenn die Beziehung zwischen der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie und der Psychoanalyse thematisiert wird. Dann springen einem zuweilen etwa die Gefühle des gekränkt-seins förmlich an (siehe weiter unten). Dieses Buch versteht sich nicht als blinde Lobrede auf die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie, sondern als kritische Diskus­ sion. Allerdings wird, wie eben kurz gebündelt, auch ersichtlich wer­ den, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in vielerlei Hinsicht zeitgemäßer und flexibler ist als die Psychoanalyse. Etwas schlagwortartig formuliert: Sie setzt nicht nur auf das eine Thema: Sexualität. Sie hat nicht nur eine Technik: Deutung. Sie fokussiert im Wesentlichen nicht nur die eine Patientengruppe: die Neurotiker. Dessen ungeachtet, wird mit diesem Werk kein Frontenkrieg gegen die Psychoanalyse aufgemacht. Die Fallbeispiele aus den tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapien, die im Folgenden noch vorgestellt werden, veranschauli­ chen in aller Deutlichkeit, dass viele Methoden der Psychoanalyse in sie Eingang finden, und um dieses vorweg zu nehmen: Die Pati­ entinnen und Patienten dieser Psychotherapieform erzählen etwa unaufgefordert ihre Träume. Es ist also nicht der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut, der die Regieanweisung gibt: »Erzählen Sie doch mal Ihre Träume!« Es macht die Stärke der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie aus, dass so viele Methoden mit ihr umgesetzt werden können – entsprechend den Bedürfnissen der Patienten.

4.7 Psychotherapie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Es soll im Folgenden nicht nur umrissen werden, was unter tiefenpsy­ chologisch fundierter Psychotherapie verstanden wird, sondern es soll auch geschaut werden, aus welcher Position mit welchen Motiven

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deren Vertreterinnen und Vertreter schreiben, und wie sie sich damit selbst definieren. Sie sollen also verstanden werden. Zum Verstehen schreibt einer der namhaftesten Tiefenpsychologen, Gerd Rudolf: »Ein traditionell wichtiger Ansatz zielt darauf ab, Menschen auf der Grundlage eigener Erfahrung einfühlend verstehen zu wollen. Es geht darum, das nachzuvollziehen, was der andere denkt, fühlt und tut und worüber er sich sprachlich und nonverbal mitteilt. Das Ergebnis dieses Nacherlebens ist eine persönliche, subjektive Einschätzung, ein her­ meneutisches Verstehen.« (2020, S. 5)

So wird auch ein bisschen Psychotherapie mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie betrieben. Nur darüber wird zum Beispiel klar, in welchen Krieg die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie und Psychoanalyse verwickelt sind, in welchen Krieg sie glauben, verwickelt zu sein. In der Praxis ist diese Schlacht jedoch schon längst entschieden. Psychoanalyse wird kaum noch in Anspruch genommen, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie macht fast die Hälfte aller Kassenleistungen für Psychotherapie aus. Aber deren Vertreterinnen und Vertreter fühlen sich immer noch als quasi uneheliches Kind der Psychoanalyse. Sie erscheint als die echte Psy­ chotherapie; die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie erlebt sich zu Anteilen als Psychoanalyseersatz und begehrt vermutlich deshalb so auf. Das Verfolgen dieser hitzig geführten Debatte ist insofern auch sehr wichtig, als sie eine implizite Definition dessen liefert, was die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie unter ihrer eigenen Psychotherapieform verstehen. So bilden die weiter oben skizzierten Kriterien wie niederfre­ quente Psychotherapie dagegen einen expliziten Rahmen dieser Psy­ chotherapieform. Mit dieser Debatte offenbart sich dann das Selbstverständnis dieser Psychotherapiemethode. Und dieses Selbstverständnis wird die Praxis dieser Psychotherapie mit beeinflussen. Wenn ich mich als Psychoanalyseersatz fühle, dann könnte ich doch in meinen Psy­ chotherapien zu Anteilen an mir zweifeln. Und auf der unbewussten Ebene bekommen das die Patientinnen und Patienten mit. Um das eben Diskutierte zusammenzufassen: Dieses Buch über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kommt nicht umhin, etwa die vorgestellten Standardwerke zu dieser Psychothe­ rapieform genauer anzuschauen, in gewisser Weise mit dieser Psy­

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4.7 Psychotherapie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

chotherapieform selbst Psychotherapie zu machen. Nur so wird ihr Selbstverständnis deutlich. Nur so kann sie verbessert werden. Und sie muss verbessert werden. Psychotherapie mit Psychotherapie zu machen, kann als über­ triebener Zugriff verstanden werden. Aber dieses Vorgehen hat auch den unschätzbaren Vorteil, das tiefenpsychologisch fundierte psycho­ therapeutische Vorgehen mit der Psychotherapie der Psychotherapie unmittelbar kennenzulernen. Es wird zu sehen sein: Die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie dieser Psychotherapieform hangelt sich von Ast zu Ast, muss diverse Möglichkeiten durchspielen und ist nie im Hafen der letzten Gewissheiten. So ist dann also das vorliegende Werk über die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie zu Anteilen selbst tiefenpsychologisch strukturiert. Es wird nie das erste und letzte Werk der Mathema­ tik sein. Ich habe mich beim Schreiben dieses Buchs zuweilen so gefühlt wie ein Detektiv, der den Tatort »tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie« immer wieder absucht und der diverse Zeugen befragt. Und zur Dokumentation der Zeugenaussagen werden diese schriftlich festgehalten. Schließlich sollen sie gerichtsverwertbar sein. Und sie werden in diesem Buch in Zitatform wiedergegeben, damit die Leserin und der Leser genau mit bekommt, wer was am Tatort gemacht hat und macht und möglicherweise machen wird. Das detektivische Vorgehen ist keine Erfindung von mir. Es geht auf den italienischen Historiker, Carlo Ginzburg, zurück, der dazu zum Beispiel das Buch geschrieben hat »Spurensicherung« (1988). Das Alltägliche und vermeintlich Nebensächliche wird durchforstet und wird auf einmal ganz wichtig. »… stellt Ginzburg seine Forschungsmethode als ›Indizienwissen­ schaft‹ und ihre Vorläufer Giovanni Morelli, Sigmund Freud und Sherlock Holmes vor. Morelli entwickelte 1874 eine neue Methode zur Identifizierung alter Bilder: Indem er sich auf scheinbar nebensächliche Details wie Ohrläppchen oder Fingernägel konzentrierte, in denen ein Künstler sich verrät wie ein Verbrecher durch seine Fingerabdrü­ cke, revidierte er die Zuordnung zahlreicher Gemälde aus einigen der wichtigsten Museen Europas. Sigmund Freud, von den Arbeiten Morellis beeindruckt, machte diese Methode des versteckten Details für die Psychoanalyse nutzbar. Und Sherlock Holmes entlarvte den Täter, den alle übersehen, an einem halbverdeckten Ohr.« (1988, ohne Seitenzahl, Einführungstext)

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Das bedeutet, dass im Folgenden mit detektivischen Mitteln (Sherlock Holmes), mit psychoanalytischen Methoden (Sigmund Freud) die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie näher angeschaut wird. Hätte ich das nicht getan, würde ich im Folgenden nur meine, eventuell neue Version der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie vorstellen, dann hätte ich zwar ein kompaktes klassisches Standardwerk geschrieben, aber ich hätte damit nur den »Tatort«, die »Baustelle« erweitert.

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – vorläufige Bündelung mit praktischen Beispielen

Das vorliegende Werk ist mit dem besonderen Anspruch verbunden, Psychotherapie im Allgemeinen, aber speziell die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, kulturhistorisch einzuordnen, um so zu verstehen, dass sie ein Kind unserer Zeit ist, dass es sie etwa im Mittelalter nicht gegeben hätte. Bevor gesichtet wird, was die Selbstdefinition dieser Psychotherapieform ist, muss dafür der Blick geschärft werden. Zugleich soll vorab umrissen werden, in welcher Beziehung sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit der Psychoana­ lyse sieht. Erstere wähnt sich mit der Psychoanalyse nahezu im Krieg. Und dieser konstatierte und zugleich ausgerufene Krieg gehört zu ihrem Selbstverständnis. Die Definition der tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie lässt sich also nicht auf bestimmte Merkmale reduzieren (siehe 2.2). Und die nun aufgeführten Fälle tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie sollen dazu dienen, diese beiden Aspekte näher zu veranschaulichen.

5.1 Moderne und Psychotherapie Zunächst soll nun kurz umrissen werden, in welcher Zeit wir leben, und welches Seelenbild mit dieser Zeit verbunden ist. Die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie ist ein Teil dieser Zeit sowie ein Produkt dieser Zeit. Ohne diese Zeit zu verstehen, lässt sich auch diese Psychotherapieform nicht begreifen. Die Moderne, also die letzten 200 Jahre, haben uns die Demo­ kratie, die Gewaltenteilung, die Unantastbarkeit der Menschenrechte,

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte

soziale Sicherung wie Arbeitslosengeld, Rentenversicherung, gesetz­ liche Krankenversicherung geschenkt. Wir sind es zwar gewohnt, über dieses und jenes zu klagen, aber tatsächlich leben wir im Vergleich zur restlichen Menschheits­ geschichte im Paradies. Wenn wir die Arbeit verlieren, dann ist das ungut, aber es gibt eben Arbeitslosengeld. Wenn wir krank werden, kann das schlimm sein, aber die Krankenversicherung übernimmt ja die Krankenhauskosten. Das gab es noch nie. Wir können auch nicht willkürlich verhaftet werden. Auch das ist einmalig. Und die Moderne hat eine große und tiefe Psyche geschaffen. Diese beginnt mit Descartes »cogito ergo sum«, »ich denke also bin ich«, mit Kants Begriff von Aufklärung »Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, mit dem klar wird, dass ein denkendes und unabhängiges Wesen Mensch der Welt gegenübertritt. Die Romantik erfindet gleichsam die tiefe Seele, auch mit ihren Abgründen. Freuds Begriff des Unbewussten steht unter anderem in die­ ser Tradition. Mit ihm soll verständlich werden, dass vieles in der menschlichen Seele unbewusst abläuft, dass es unbewusste Konflikte gibt, die zu Symptomen führen können, dass der Mensch also nicht Herr im eigenen Haus ist. Zugleich fordert Freud dazu auf, das Unbewusste wie die gesamte Psyche zu erkunden, sich auf diese Reise zu begeben – ein Leben lang. Die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie und die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie sollen helfen, diese Reise unbeschadet und gesünder werdend zu durchlaufen, wobei die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aus der Reise eher einen Kurztrip macht. Aber ohne große Reise hätte es keinen Kurztrip gegeben. Und beide hätte es nicht gegeben, wenn es nicht die Idee der großen und tiefen Seele gegeben hätte. Und diese Idee ist ein Kind der Moderne.

5.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Konflikt mit der Psychoanalyse Zwischen den »Reisenden« gibt es offensichtlich Auseinandersetzun­ gen. Jaeggi und Riegels berichten von einem Konflikt zwischen ihnen und der Zunft der Psychoanalytiker, die es sich verbeten hätte, dass in die von den beiden konzipierte tiefenpsychologisch fundierte Psycho­

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5.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Konflikt mit der Psychoana­ lyse

therapie Techniken anderer Psychotherapien mit integriert werden. »Dass viele dieser Therapierichtungen nun auf einmal disqualifiziert wurden, empfanden wir als Ungerechtigkeit.« (ebd., 2018, S., 9) Dort also die alte ausgrenzende Autorität der Psychoanalyse, die den neuen Konkurrenten niederringen will, da die innovative Erfindung einer integrativen neuen Psychotherapie. Dort der strenge Vater, da die Kreativen. Und im Grunde kann mit dem skizzierten »dort« letztlich nur einer gemeint sein, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Für mich ist dieses Bild eines Konfliktes zwischen diesen Psycho­ therapien mehr als befremdlich, hängt die Wahl einer der beiden Psychotherapien doch von dem ab, was differentielle Indikation genannt wird, das heißt die Wahl einer bestimmten Therapiemethode entsprechend des vorliegenden Leidens und der leidenden Person. Wer zum Beispiel drängende aktuelle Konflikte hat, muss diese fokussieren und kann nicht in die Rekonstruktion seiner Biographie abtauchen. Geeignet wäre hierfür die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Wer dagegen sein Leben aufarbeiten will und aufar­ beiten kann, ist mit einer Psychoanalyse potenziell besser bedient. Expertinnen und Experten wie Jaeggi und Riegels wollen die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie anhand bestimmter Kriterien (siehe »Vorläufige Definition«) zu guten Anteilen klar und kategorisch von der Psychoanalyse abgrenzen. Diejenigen, die die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie in Anspruch nehmen, sehen das anders. Selbstredend erzählen Patientinnen und Patienten in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auch Träume und bearbeiten ihre Biographie. Und selbstredend können in diese Therapieform auch verhaltenstherapeu­ tische Elemente mit einfließen. Eine klare und unumstößliche Abgrenzung in der psychothera­ peutischen Praxis von Verhaltenstherapie, von tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Psychoanalyse ist also prinzipiell nicht möglich und überhaupt nicht sinnvoll. In diesem Punkt haben also Jaeggi und Riegels vollkommen recht: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist multime­ thodal, muss multimethodal sein. Idealerweise sollte dies auch die Psychoanalyse sein.

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte

5.3 Beispiele aus der Praxis Beispiele aus tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien sol­ len nun veranschaulichen, was konkret multimethodales Vorge­ hen bedeutet: So frage ich eine Patientin, die in einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist und die eine Binge Eating Disorder hat, welche Reize dem Verhalten vorausgehen. Ich schlage ihr auch vor, wenn sie den Impuls zu einem Essanfall verspürt, ein »Stopp­ schild« aufzubauen und übliche Verhaltenssequenzen zu unterbre­ chen. Anstatt in die Küche zu rennen, soll sie rausgehen und einen Spaziergang zu machen. Derselben Patientin, die einmal in der Woche kommt, biete ich auch Deutungen an, also eine rationale Interpretation des Zusam­ menhangs zwischen Biographie, aktueller Lebenssituation und aktu­ ellem Leiden, eine psychoanalytische Technik, die, wie erwähnt, von Freud stammt. Diese Patientin leidet sehr darunter, dass ihr Partner psychisch eher ein kleines Kind ist und sie nicht versteht, sie nicht verstehen will. Das macht sie sehr unglücklich. Und die früheren Partner waren nicht anders. Als sie einmal mit dem Rettungswagen in eine Klinik gefahren wird, gefahren werden muss, und sie ihn dann anruft, fragt er nicht, was sie hat, sondern tut überrascht, dass sie nicht in die Klinik, die in der Nähe ihres Arbeitsplatzes ist, gebracht wird. Meine Deutung ist: »Sie spielen ihm gegenüber die Mutter, die Sie nicht gehabt haben.« Sie kann die Deutung annehmen. Ihre Mutter hat sie in der Tat gequält, auch körperlich, und war emotional nicht / wenig für sie da. In ihrer Phantasie denkt sich die Patientin aus, wie eine gute Mutter sein müsste, und diese spielt sie dann ihrem Partner vor und bekommt selbstredend wieder nicht das, was sie haben wollte, will: emotionale Zuwendung. Nicht anders war es bei ihrem Ex-Freund. Auch er war für sie emotional nicht da. Sie offenbarte ihm, dass sie sexuell missbraucht worden ist, und er antwortete: »Jetzt muss ich darunter leiden, was Dir widerfahren ist.« Mehr Empathiefreiheit ist schlecht vorstellbar. In einer anderen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie erzählt die Patientin unaufgefordert einen Traum: »Ich mache Urlaub In Spanien. Ich liege am Strand. Ein furchtbarer Sturm kommt auf. Ich muss um mein Leben fürchten. Da fragt mich eine mir unbekannte Familie, ob ich mit ihr in ihr Auto einsteigen will, um dem Sturm

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5.3 Beispiele aus der Praxis

zu entkommen.« Dieser Traum lässt etliche Deutungen zu, aber eine entscheidende ist die, dass ihr von einer ihr unbekannten Familie geholfen wird. Ihre eigene Familie hat dies nur sehr mäßig bis gar nicht getan. Im Sinne Freuds kann also festgehalten werden, dass ein Traum eine Wunscherfüllung sein kann. Und zugleich stellt die Patientin über diesen Traum möglicher­ weise ein Bezug zu ihrer Psychotherapie her. Sie teilt implizit mit, dass ihr damit geholfen wird. In ihrer Phantasie wäre ich eventuell diese Familie samt Auto. Der Ausflug in die Welt der Träume hat nicht zur Folge, dass nun in den nächsten Stunden vorwiegend biographisch gearbeitet wird. Vielmehr berichtet sie, dass sie sich überhaupt nicht traut, ihrem Chef mitzuteilen, dass sie kündigen will. Es dauert Stunden, dies zu klären. Und sie muss dann vollkommen verblüfft feststellen, dass ihr Chef ihr Anliegen gut verstehen kann. Ein weiteres Beispiel: Ein ehemaliger Student, der vor mehr als 10 Jahren bei mir in der Beratungsstelle an der Hochschule war, und der mich immer noch in unregelmäßigen Abständen anruft, und wir seine aktuellen Konflikte anschauen, hat so gut wie nie biographisches Material berichtet. Vor Geburt seines ersten Kindes teilt er mir jedoch in einem Nebensatz mit, dass sein Vater nach seiner Geburt einen Suizidver­ such unternommen hat. Sein Großvater hat sich bei der Geburt seines Vaters erfolgreich das Leben genommen. Der ehemalige Student kann das aktuell nicht bearbeiten, aber er kann es bei mir, indem er dies kurz anspricht, quasi deponieren. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also offen für Methoden anderer Psychotherapieverfahren. Sie hat dennoch ein sehr eigenständiges Profil. Sie fokussiert in der Regel nicht Reizkopp­ lung, Verstärkung und Kognitionen wie die Verhaltenstherapie. Sie hat zudem ein anderes Setting als die Psychoanalyse. Freud ließ seine Patienten auf die Couch liegen. Er saß dahinter. Also Blickkontakt war nicht möglich. Freud begründete das unter anderem damit, dass es für die Patientinnen so am Einfachsten ist, sich ihrem eigenen Unbewussten zuzuwenden. In der tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie sitzen sich dagegen Psychotherapeutin und Patient gegenüber. Sie haben Blickkontakt und sehen den Körper des anderen, können so mutmaßen, ob der andere etwa angespannt ist oder entspannt.

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte

In den Augen des anderen glaube ich zu erkennen, wie ich auf ihn wirke, ob er etwa innerlich erschrickt, ob er ein bisschen lacht oder lächelt. Ich habe also permanentes Feedback zu meinen Aussagen, zu meinem Erleben. Und vielleicht bin ich auch etwas höflicher, achte mehr auf Konventionen, weil der Blickkontakt da ist. Und selbstredend bildet mit diesem Setting das Bearbeiten aktueller Konflikte den Schwerpunkt dieser Psychotherapieform. Eine Regres­ sion auf frühkindliche Erfahrungen steht so nicht im Vordergrund, auch wenn diese gestreift werden können. Selbstverständlich werden biographische Bezüge hergestellt, aber sie bilden nicht das Zentrum. Denn nach Freud ist das auf der Couch Liegen und der Nicht-Blick­ kontakt die Voraussetzung dafür, in sein Unbewusstes abtauchen und biographische Erinnerungen abrufen zu können.

5.4 Kulturelle Determinanten der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Es sind nicht nur bürokratische Entscheidungen, die zu einer tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie geführt haben; es sind nicht nur interne Entwicklungen, die aus einer Psychoanalyse, aus einer Tiefenpsychologie eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gemacht haben; es sind auch Zeitumstände, die zur tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie geführt haben. In gewisser Weise ließe sich sagen: Zur Psychoanalyse fehlt uns heute in der Regel die Zeit. In der Zeit der flexibilisierten Arbeit, in der die Arbeit das Leben bestimmt, in der nach dem Abendessen noch ein digitales Meeting stattfindet und die Mails noch gecheckt werden müssen, sind drei Stunden Psychoanalyse pro Woche einfach nicht denkbar. Und in einer Gesellschaft der Individualisierung, in der es für alle selbstverständlich geworden ist, sich selbst zu verwirklichen und einzigartig sein zu wollen, ist die Arbeit an der eigenen Biographie ebenfalls zu einer Selbstverständlichkeit geronnen. Dazu bedarf es in der Regel also nicht mehr einer Psychoanalyse. Ich kann mich doch nur selbst verwirklichen, wenn ich weiß, woher ich komme und wie stark mich das geprägt hat und wie sehr ich mich davon entfernen will. Wenn also biographische Arbeit an sich tendenziell zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, bedarf

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5.4 Kulturelle Determinanten der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

es dazu keiner Psychotherapie mehr. Die Psychoanalyse wird gleich­ sam überflüssig. Ein bestimmtes Thema, das für Freud sehr wichtig war, und das werden wir gleich deutlicher sehen, und die Stunden der Psycho­ analyse füllte, ist heute für den psychotherapeutischen Prozess eher unwichtig geworden: die Sexualität. War sie in den Zeiten Freuds noch ein großes aufregendes Geheimnis, das es zu entdecken und zu enthüllen galt, ist sie heute tendenziell eine Trivialität: Alles ist erlaubt, sofern mit der Partnerin, mit dem Partner abgesprochen. Warum sollte in einer Psychotherapie überhaupt darüber gesprochen werden? Also: Der Stundenfüller Sex ist weggebrochen. Auch das spricht für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. So ver­ wundert es nicht, dass etwa in dem Werk von Jaeggi und Riegels (2018) im Register die Sexualität nicht einmal mehr auftaucht. Die Psychoanalyse mit drei Stunden in der Woche mit dem Settings des auf der Couch Liegens kann assoziiert werden mit einer gewissen Vorstellung vom Paradies: sich zurückziehen zu können, an einen sicheren Ort, in verlässlicher Begleitung, keinem Zwang ausgesetzt zu sein, zum Beispiel reden zu müssen. Dazu ein Beispiel: Vor vielen Jahren begann eine Patientin von mir nach den obliga­ torischen probatorischen Sitzungen ihre Psychoanalyse damit, dass sie duzende von Stunden schwieg. Sie kam pünktlich, legte sich auf die Couch, sagte kein Wort, stand nach 50 min auf und verabschiedete sich. Sie hatte und fühlte die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollte. Und natürlich hatte ihr Schweigen einen Grund. Sie war in einer Diktatur groß geworden und wurde mehrfach verhört. Sie genoss es also zu schweigen, weil das ihre neue Freiheit war, die es zu erleben und zu demonstrieren galt. Zurück zur Psychoanalyse als Paradies: Eine neue Zeiterfahrung kann in der Psychoanalyse entstehen, die der tendenziellen Unendlichkeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann gehen sie immer noch in Psychoanalyse. Und eine gewisse souveräne Deregulation kann zur Psychoanalyse dazu gehören: Ich mache, was ich will, gleichsam auf Kosten anderer gesetzlich Versi­ cherter. Ich entziehe mich damit dem sich bewähren Müssens. Der französische Philosoph, Denis Diderot, schrieb im 18. Jahr­ hundert, dass in unserer Demokratie nicht mehr die Geburt über das soziale Ansehen bestimmt, also als Adliger geboren sein und als

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte

Adliger anerkannt zu sein, sondern vom dem sich für eine Gesellschaft Bewähren die soziale Anerkennung abhängt (Diderot 2013). Wir müssen also quasi permanent in Alarm- und Leistungsbereitschaft sein, von der Wiege bis zur Bahre, um soziale Anerkennung zu erfahren und dem Gemeinwohl nützlich zu sein. Die traditionelle Psychoanalyse ist somit eine Fluchtlinie aus dem nur nützlich sein müssen, eine Kompensation. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie macht tenden­ ziell Schluss mit dieser Kompensation. Mit ihr sollen aktuelle Pro­ bleme zielgerichtet angegangen werden. Muße und Regression waren quasi gestern. Und dies erzeugt potenziell einen nicht unerheblichen Schmerz bei denjenigen, die die Luft von drei Stunden wöchentlich Psycho­ analyse nicht mehr atmen dürfen. Die tiefe Seele der Moderne, die gemächlich erkundet werden kann, steckt dann im Effizienz-Denken der Moderne fest. Dies hat Auswirkungen auf das Erleben der Patientinnen und Patienten. Sie fühlen sich permanent gestresst, und die eine Stunde pro Woche Psychotherapie stellt nicht mehr das Gegengift zum anstrengenden Alltag dar, wie es die Psychoanalyse sein könnte.

5.5 Beispiele aus der Praxis Eine Patientin, die einmal in der Woche kommt, beginnt die Stunde damit, dass sie berichtet, dass sie eine Panikattacke gehabt hätte, einen Nervenzusammenbruch aus dem Nichts, einen Bandscheibenvorfall, seit zwei Tagen sei sie krankgemeldet. In der nächsten Stunde teilt sie mit, ihr Gehirn sei eingefro­ ren, wegen ihrer Migräne sei sie ins Krankenhaus gekommen, auch starke Medikamente nützten nicht, sie fühle sich, als habe sie PseudoDemenz, sie könne nicht einmal mehr fernsehen, dies sei zu anstren­ gend. Und es ist nicht auszuschließen, dass sie sich mit diesen Klagen indirekt beim Psychotherapeuten beschwert, dass er einfach nicht genug Zeit und Aufmerksamkeit für sie hat. Dann ist es kein Wunder, dass es ihr so schlecht geht. Eine andere Patientin, die ebenfalls einmal pro Woche kommt, berichtet: Es ginge ihr nicht gut. Sie habe Panikattacken, Herzschmer­ zen, einen verdickten Kiefer, sie sei zerstreut, sie habe vergessen, wo

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5.6 Zusammenfassung

ein Paket lag, sie habe zu viel im Kopf. Sie habe Angst gehabt, zur Therapie zu spät zu kommen, sei deshalb gerannt. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kann so selbst zum Stressor werden. Sie verspricht in den Augen der Patienten Regression und Entspannung, kann dies aber nicht einhalten. Selbstredend profitierten die beiden eben erwähnten Patientin­ nen von ihrer Psychotherapie. Aber die Atemlosigkeit hielt in gewis­ ser Weise an. Es darf nun hier nicht unerwähnt bleiben, dass beide Patientin­ nen niemals die Zeit gefunden hätten, dreimal in der Woche zur Psy­ chotherapie zu kommen. Dazu arbeiten sie viel zu viel. Und dafür sind sie nur am Rande an der Aufarbeitung ihrer Biographie interessiert. Ohne die Option der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie hätten sie also keine angemessene Möglichkeit zum Durcharbeiten ihrer Konflikte gehabt. Das darf auf keinen Fall vergessen werden. So lässt sich sagen, dass die Zeiterfahrung in der Psychoanalyse zwar paradiesisch sein kann. Aber drei Stunden Psychotherapie pro Woche sind für die meisten Menschen nicht praktikabel. Die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie stellt so einen zeitgemäßen Kompromiss dar. Sie ist auf die Jetztzeit ausgerichtet und bezieht sich zugleich ansatzweise auf die Biographie. Und wir dürfen nicht vergessen, dass das zeitliche Paradies der Psychoanalyse auch peinigend sein kann, wenn etwa ein halbes Jahr eine schlimme Kindheitserfahrung aufgearbeitet wird.

5.6 Zusammenfassung Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist bei ihrer Ent­ stehung nicht wissenschaftlich abgeleitet worden, sondern wurde pragmatisch als Leistung gesetzlich Krankenversicherungen definiert. Daher nimmt es nicht wunder, dass es kein einheitliches Verständ­ nis davon gibt, was diese Psychotherapiemethode ausmacht. Von fast allen Autorinnen und Autoren, die sich dazu äußern, werden bestimmte Merkmale dieses Verfahrens beschrieben wie: niederfre­ quentes Vorgehen (1x pro Woche), Arbeit an aktuellen Konflikten, Hintanstellung der Arbeit an der Biographie, stärkere Strukturierung durch den Psychotherapeuten, die Psychotherapeutin, die sich in ihren Persönlichkeiten mehr zeigen als in der Psychoanalyse, also nicht reine Projektionsfläche von Übertragung sind.

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5 Kulturhistorische und psychotherapiegeschichtliche Kontexte

All das wurde im Kapitel »Vorläufige Definition« ausführlicher vorgestellt und hier nochmals erwähnt, um den Zusammenhang her­ zustellen. Weder die Psychoanalyse noch die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sind denkbar ohne die große tiefe moderne Seele, die von Philosophen wie Descartes oder Kant oder von der Romantik konzipiert worden ist. Erst mit dieser Vorstellung von Seele ist die Arbeit an der Seele vorstellbar. Es ist nicht möglich zu sagen, dass die Psychoanalyse oder die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie das bessere Verfahren ist. Vielmehr gilt das Prinzip der differentiellen Indikation. Für Patient A stellt das eine Verfahren das bessere dar, für Patientin B das andere. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist bedeutsa­ mer geworden, weil sich unsere Gesellschaft, unsere Kultur gewandelt hat. Nicht mehr der Mahlzeitenrhythmus bestimmt den Tagesablauf (Frühstück, Mittagessen, Abendessen, und mit dem Abendessen ist Schluss mit Arbeit), vielmehr die flexibilisierte Arbeit (nach dem Abendessen noch schnell die Mails checken, paar Stunden in den sozialen Medien sein). Die Arbeit dominiert also unser Leben. Für drei Stunden Psychoanalyse fehlt einfach die Zeit. Wir leben in der Gesellschaft der Individualisierung, der Selbst­ verwirklichung und dem Wunsch nach Einzigartigkeit. Dies gelingt nur, wenn wir uns reflektieren, wenn wir ausgiebig über uns nach­ denken, wenn wir unsere Biographie näher anschauen, am besten mit einem Freund oder Freundin. Arbeit an der Biographie in der Psychoanalyse ist da gar nicht mehr nötig – so sehr nötig. Das Hauptthema der Psychoanalyse, die Sexualität als Tabu und Sensation, hat sich heute normalisiert bis trivialisiert. Wer geht wegen des Sexes in die Psychoanalyse? Niemand. Fast niemand. Im Zeitalter der flexibilisierten Arbeit stellt also die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie einen idealen Kompromiss zwischen Arbeit an aktuellen Konflikten und Einbezug der Biogra­ phie dar. So lässt sich sagen: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie ist also die zeitgemäßere Psychotherapie.

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – veranschaulicht über Sichtung einiger Standardwerke und eigener Kasuistiken

6.1 Übersicht Wir werden im Folgenden nochmals sehen, dass der Begriff der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie bürokratisch kreiert worden ist, und daher naheliegenderweise unterschiedliche Autoren­ gruppen diese Psychotherapieform recht unterschiedlich definieren. Diese Definitionen wollen wir im Folgenden mit Hilfe von Standard­ werken exemplarisch vorstellen. Zur Veranschaulichung, was die Definitionen in der psychothe­ rapeutischen Praxis konkret bedeuten können, werden eigene Kasuis­ tiken tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie mit einbezogen. Erst im nächsten Kapitel werden kursorisch zentrale Inhalte der Standardwerke über tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ausführlicher vorgestellt. Dabei geht es unter anderem um die Ziele der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, um die Zielgrup­ pen, um die Methoden, um die Effekte. Und wie schon erwähnt, soll auch ansatzweise psychotherapeu­ tisch verstanden werden, aus welchen Gründen die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie argumentieren, zum Beispiel gegen die Psychoanalyse, wofür und wogegen sie Position beziehen, also auch, wie sie sich selbst erleben und damit auch implizit definieren. Im Folgenden wird also von zwei Möglichkeiten der Definition der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ausgegangen: Es werden Kriterien benannt, die typisch für diese Psychotherapieform sein sollen, und es wird ein Selbstverständnis offenbart, wie sich Men­

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

schen als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeuten erleben, vor allem im Hinblick auf die Psychoanalyse.

6.2 Standardwerke – das Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie 2000 erscheint in der ersten Auflage »Psychodynamische Psychothe­ rapien – Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pieverfahren« von Reimer und Rüger (Hg.), das 2012 bereits in der vierten Auflage erschienen ist. Wir stolpern ein wenig über den Plural der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren, gingen wir bislang doch davon aus, dass es nur eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gibt. Aber offenbar wollen die beiden Herausgeber damit darauf hin­ weisen, dass es verschiedene Varianten tiefenpsychologisch fundier­ ter Psychotherapie gibt. Diese fangen nach ihnen bereits mit Freud an, der davon ausging, dass bei Patienten, ›die so haltlos und existenzunfähig sind, dass man bei ihnen die analytische Beeinflussung mit erzieherischen vereinigen muss‹ (Rüger und Reimer, ebd., S. 4). Dessen ungeachtet, hätte sich eine orthodoxe Psychoanalyse eta­ bliert, die ihr Vorgehen als »wertvoller« einschätze als die der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapien (ebd., S. 4). »In diesen oft mit starker Polemik geführten Kämpfen wurde viel Energie gebunden …« (ebd., S. 6). Reimer und Rüger führen den Niedergang der Psy­ choanalyse in den USA auch darauf zurück (ebd.). Und in Deutschland habe faktisch die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als Kassenleistung der Psychoanalyse längst den Rang abgelaufen. Letz­ tere sei nahezu bedeutungslos geworden. Angenommen, wir wollten mit diesen Aussagen zur Psychothe­ rapie Psychotherapie machen, dann fällt auf, dass Reimer und Rüger erwähnen müssen, auch wenn es sich nur quasi um eine Fußnote handelt, dass die orthodoxe Psychoanalyse sich als »wertvoller« betrachtet, was womöglich für die beiden Autoren und Herausgeber kränkend sein könnte, was womöglich aber auch als berechtigt einge­ stuft wird, zumindest anteilig. Dann erlebten sich diese Vertreter als potenziell minderwertig. Dann hätte aber letztlich das Fußvolk – tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie – den Krieg gegen die Herren – Psychoanalyse – faktisch gewonnen, zumindest ein Trost.

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6.2 Das Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Und angenommen, es stimmt, dass der Niedergang der Psycho­ analyse etwas zu tun hat mit dieser eben zitierten kraftraubenden »starken Polemik«, dann bedürfte diese einer ausführlichen Erläute­ rung und nicht nur einer beiläufigen Erwähnung im Nebensatz. Und es stellen sich zu Reimers und Rügers Ausführungen spon­ tan Fragen, die vergleichbar unausweichlich auch in jeder psychothe­ rapeutischen Stunde auftauchen, quasi als wildes Denken, sozusagen als freie Assoziation, die weiß, dass sie nicht die Wahrheit denkt, sondern die Möglichkeiten: Warum wurde die Psychoanalyse nach Freud orthodox? Warum hat sie sich in einem Krieg mit den Psychodynamischen Psychothe­ rapien, einschließlich der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie, verloren? Welche potenziell autodestruktiven Motive spielten hierbei eine Rolle? War die Psychoanalyse und ihre Ableger quasi von Anfang an ein Kriegsschauplatz? War der Krieg zwischen Freud und Jung prototypisch für die gesamte Tiefenpsychologie? Warum hat ein autoritärer Duktus ihre gesamte Geschichte bestimmt? Ist der Konflikt zwischen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Psychoanalyse gleichsam so fundamentalistisch wie ein realer Krieg? Passen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie dann perfekt ins 20. Jahrhundert, in das Jahrhundert der martialischen Ideologien wie Nationalsozialismus und realisierter Sozialismus / Kommunismus? Dieser Kriegsschauplatz ist also kein kleiner, geringfügiger, sondern ein großer und eigentlich strahlender, glänzender. Dann erinnert er im Grunde an den von vielen Psychoanalytikern konzipier­ ten pathologischen Narzissmus, der gekennzeichnet ist von einem Gegensatzpaar, bestehend aus Größenphantasien und Inferioritäts­ gefühlen. Ich trachte danach, ganz groß und großartig zu sein, und zugleich fühle ich mich so unendlich minderwertig. Meine Größenphantasien sollen das Gegengift zu meinen Minderwertigkeitsgefühlen sein, aber das Gegengift wirkt einfach nicht immer, und ich falle auf den tiefen und unendlichen Boden meiner Minderwertigkeitsgefühle. Dabei bin ich doch eigentlich ein Genie, ein Star, ein ganz außergewöhnlicher Mensch, wenn ich nicht gerade auf dem Boden liege. Wenn also die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie ein Schauplatz einer narzisstischen Show war und ist, in der alle alle widerlegen und übertrumpfen wollen, dann gehört, psychoanalytisch gedacht, zum Jahrmarkt der Eitelkeiten

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

auch der der sorgfältig versteckten Inferioritätsgefühle, die dazu füh­ ren, dass sich etwa die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gegenüber der Psychoanalyse als letztlich relativ wertlos betrachtet. Umgekehrt kann, so kann gedacht werden, die große Psycho­ analyse nicht darüber hinwegkommen, dass sie bei der psychothe­ rapeutischen Versorgung so gut wie keine Rolle mehr spielt. Das wäre dann ihr Inferioritätsgefühl, das sie zu kompensieren versucht mit der vermeintlich einzig wahren psychotherapeutischen Theorie und Praxis. Was könnte an diesem möglichen Kriegsschauplatz zusätzlich irritieren? Dass es ein Streit um die einzig richtigen Psychotherapieme­ thoden ist. Mehr als erstaunlich hierbei ist also, dass Methodenvielfalt und ein Abstimmen der eingesetzten Methoden auf die Nöte und Bedürfnisse der Patienten doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Die Psychiaterin verschreibt ihren Patienten doch nicht immer und stets Anti-Depressiva. Und bei dem einen Patienten denkt sie, dass ein Gespräch sinnvoll ist, bei der anderen Patientin sieht sie hierzu derzeit keinen Bedarf. Sie überweist sie aber zur Ernährungs­ beraterin. In dieser Perspektive erweist sich der Krieg zwischen der Psycho­ analyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als vollständig absurd. Rüger und Reimer lassen sich gut einordnen in den Schlagwort­ katalog zur Definition der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie (vgl. »Vorläufige Definition« weiter oben). Diese hat nach ihnen – – – – – – –

ein anderes »Behandlungssetting«: »Gegenübersitzen« (ebd., S. 7), eine deutlich reduzierte »Behandlungsdauer« (ebd.), 25 Stunden werden als Kassenleistung bezahlt, weniger Arbeit an Übertragung, Gegenübertragung, geringere Regression, einen Fokus auf der Arbeit an aktuellen Konflikten, eine geringere Bedeutung der Deutung, eine stärkere Strukturierung der Gespräche durch den Psycho­ therapeuten, »dialogische Gestalt der Gespräche« (ebd., S. 11).

Eines der ersten Standardwerke zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist das von Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller »Tiefen­ psychologisch lehren – Tiefenpsychologie lernen« aus dem Jahr 2003.

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6.2 Das Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Ähnlich wie bei Jaeggi und Riegels (2018) (siehe weiter oben) gibt es bereits im Vorwort einen Angriff auf die Psychoanalyse. Sie – oder zumindest einige ihrer Vertreterinnen und Vertreter – wehre sich gegen die Zusammenführung verschiedener Therapieverfahren, genau das, was das Psychotherapeutengesetz eigentlich wünsche. Die zentrale Definition der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie besteht also für diese Autorengruppe darin, dass unter­ schiedliche Psychotherapiemethoden verbunden werden, dass etwa verhaltenstherapeutische Elemente in die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie einfließen. Und selbstredend ist diese Definition mehr als berechtigt. In den noch vorzustellenden Kasuistiken tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie wird ersichtlich, dass Patienten etwa verhaltensthera­ peutische Methoden einfach einfordern, als Selbstverständlichkeit. Oder der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut greift auf die Verhaltenstherapie zurück, wenn es gerade passt. Wenig verständlich, zumindest aus heutiger Sicht, ca. 20 Jahre später, ist der vehemente Angriff der eben genannten Autorengruppe auf die Psychoanalyse. Dieser Angriff muss hier vorgestellt werden, weil er eine implizite Selbstdefinition der tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie enthält, also zur Überschrift »Die unterschied­ lichen Definitionen der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie …« unbedingt gehört: »Die Psychoanalyse, die dem Zeitgeist immer widerstehen muss und ›unzeitgemäß‹ bleiben muss, sollte sich dennoch aus dem Korsett sek­ tenhafter Abschottung befreien. Gerade an dem Ort, wo die Befreiung des Menschen im Sinne der Aufklärung theoretisch gedacht und prak­ tisch anvisiert worden ist, ist durch vorschnelle Festlegungen, festge­ fahrene Hierarchien und arrogante Abgrenzungen viel Porzellan zer­ schlagen worden. Bei manchen Fachgesellschaften oder Instituten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, es handle sich um einen Her­ renreiter-Club.« (ebd., S. 8)

Wir wissen nicht, was damals geschehen ist. Klar jedoch wird, dass sich diese tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie entschieden und aggressiv von der Psychoanalyse absetzt: Sie sei sektenhaft, desinteressiert am »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündig­ keit« (Kant, ausführlicher weiter unten), arrogant, Herrenreiter-Club. Wir können das als eine Art Kriegserklärung lesen. Besonders schön ist, dass Psychotherapie als Ort der Befreiung des Menschen im Sinne der Aufklärung konzipiert wird. Freud hätte

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

nicht im Traum daran gedacht, die Psychoanalyse als Befreiung zu begreifen. Und es ist vollständig unverständlich, was diejenigen, die das geschrieben haben, darunter verstehen. Dieses Ressentiment gegen die Psychoanalyse wird im Weiteren damit begründet, dass die Psychoanalyse davon ausgeht: Wer sie beherrscht, der kann auch tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie. Letztere muss deshalb gar nicht gesondert vermittelt werden. Der Angriff gegen die Psychoanalyse könnte psychoanalytisch gedeutet werden als Spaltung im Sinne der englischen Psychoanalyti­ kerin Melanie Klein: »Nach 1946 begann Klein, sich stärker für die Spaltung des Ichs zu interessieren. Insbesondere beschrieb sie die Abspaltung von Aspekten des Selbst, die als böse Anteile gefürchtet werden; für gewöhnlich ist diese Abspaltung mit dem projektiven Eindringen dieser Aspekte in ein Objekt verbunden.« (Hinshelwood 1993, S. 613)

Also: Ich will mit meinen negativen Anteilen nichts zu tun haben und verlagere diese in eine andere Person, die nun als böse etc. wahr­ genommen wird. Dann gibt es die gute Tiefenpsychologie, die gute tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die »sektenhafte« Psychoanalyse, die als arrogant, als von oben herab beschrieben wird: »Wir da unten, Ihr da oben« Das werdet Ihr noch büßen!« Fast wird ein Revolutionsmodell zu Hilfe genommen: »Wir die ausgebeu­ tete Arbeiterklasse, Ihr die Bonzen!« und selbstredend ist klar, worauf das hinausläuft: auf die Vernichtung der Bonzen. »Der Sieg ist unser!« Gut möglich, dass damals in diesem Konflikt zwischen tiefen­ psychologisch fundierter Psychotherapie und Psychoanalyse letztere ähnlich verfahren hat. Aber das macht die Sache nicht besser. Wenn Hooligans verfeindeter Fußball-Clubs aufeinander ein­ kloppen, dann hat es häufig noch zu kleinen Anteilen etwas Witziges, weil alle Beteiligten wissen, dass sie nur ein Vorwand dafür suchen, sich zu prügeln, aber im Grunde alle Fußball-Fans sind. Das ist im Konflikt zwischen Tiefenpsychologie und Psychoana­ lyse anders. Das erscheint als echter Krieg. Es muss nicht betont werden, dass dieser angezettelte Krieg beiden Seiten schadet. Um eine mildere Interpretation heranzuziehen: Trennungen erfolgen häufig in einer Art Kriegszustand. Sie gehen gar nicht anders als im tosenden Gefecht. Und wir dürfen Heraklit zitieren: polemos pater panton: Der Krieg ist der Vater aller Dinge.

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6.3 Sich schlechter fühlen: die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

6.3 Sich schlechter fühlen: die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Warum wird auf diesen Krieg in diesem Werk überhaupt näher eingegangen? Mit seiner Thematisierung soll, wie erwähnt, die Frage verbunden werden, wie sich heutzutage die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie versteht. Fühlt sie sich noch immer von einem Herrenreiter-Club verachtet? Muss sie sich noch immer gegen die Psychoanalyse wehren und absetzen? Wäre dem so: Fließt das etwas in diese Psychotherapie mit ein, eine anteilig unbewusste Trotzhaltung? »Von dem doofen Herrenreiter-Club lassen wir uns nicht in die Ecke stellen!« Wie reagiert etwa die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ peutin auf die Aussage eines Patienten, er habe eine Psychoanalyse abgebrochen? Gibt sie ihm emotional und über ihre Körperhaltung zu verstehen: »Na kein Wunder«? Oder fühlt sie sich als schlechtere Psy­ chotherapeutin, weil sie eine kürzere Weiterbildung hatte, weil sie nur niederfrequente Psychotherapien durchführen darf? Angenommen, es wäre so: Beeinflusst dies das therapeutische Geschehen? Wir können festhalten: Das eigene Rollenverständnis kann Ein­ fluss nehmen auf den psychotherapeutischen Prozess und muss daher dringend reflektiert und nicht nur agiert werden. Denjenigen Psychotherapeuten, die mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie arbeiten, ist dringend zu empfehlen, sich nicht als schlechtere Psychotherapeuten als die Psychoanalytikerin­ nen zu begreifen, sondern als andere. Und: Der gegenseitige Respekt ist elementar. Somit kommt auf die »to do«-Liste für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Aufgabe, das eigene Selbstverständnis, das eigene Rollenverständnis mit zu berücksichtigen. Wie sitze ich als tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapeut in den Gesprächen? Fühle ich mich kompetent? Oder komme ich von der Ersatzbank ins Spiel, weil eine Psychoanalytikerin verletzungsbe­ dingt vom Platz musste? Der eben beschriebene Kriegsschauplatz und das eben skizzierte implizite Selbstverständnis von Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller wäre weniger der Rede wert, wenn er nur von diesen skizziert worden wäre. Aber auch andere Autoren ziehen in den Krieg (siehe weiter unten). Daher muss er ausführlicher vorgestellt und die Konsequenzen für

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

die berufliche Identität der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie gründlich bedacht werden. Zu vergleichen wäre etwa dieser Konflikt zwischen diesen beiden Psychotherapien mit dem Ringen zwischen der echten Bäckerei, in der noch nachts gebacken wird, und der Filiale einer Kette, in die kurz vor 7.00 das Brot gebracht wird. Der echte Bäcker ist quasi der Psychoanalytiker, der sich furchtbar darüber aufregt, dass er so früh aufstehen muss, und der sich schrecklich darüber ärgert, dass die Filiale der Kette ökonomisch viel erfolgreicher ist als er, dass er vermutlich bald den Laden dichtmachen muss. Die Leiterin der Filiale einer Kette ist zwar zufrieden mit dem vielen Geld, das sie verdient, und zugleich fühlt sie sich dem Bäcker massiv unterlegen, weil sie nun einmal gar nicht backen kann. Und es ist keine Frage, dass dieser Konflikt Einfluss nimmt auf den Verkauf des Brotes. Der echte Bäcker wird etwa innerlich, aber auch zunehmend äußerlich, immer ärgerlicher auf die blöden Kunden, die immer mehr zur Filiale abwandern. Die Filialleiterin wird hin­ gegen tendenziell überfreundlich zu ihren Kunden und Kundinnen. Diese sind aber von ihrer Überfreundlichkeit befremdet und fühlen sich ein wenig seltsam. Wir fassen zusammen: Das eigene psychotherapeutische Selbst­ verständnis ist nicht nur dringend zu reflektieren. Es ist auch eine implizite Definition des eigenen Tuns und beeinflusst das eigene psychotherapeutische Arbeiten.

6.4 Weiter zu den Standardwerken Und wie wird nun tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie von Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller (2003) weiter definiert? »Regressionstiefe, Übertragungsneurose, Frequenz, Unterschiede in der Direktivität und Fokusbildung sowie natürlich Zielsetzung gelten meist als Unterscheidungskriterien. Dass diese Unterschiede von AutorIn zu AutorIn verschieden angesetzt werden und außerdem im anglo-amerikanischen Sprachraum wiederum andere Regelungen gel­ ten (z. B. eine dreistündige Analyse als Psychotherapie und nicht als Analyse gewertet wird), sagt deutlich, wie es sich hier um recht will­ kürliche Abgrenzungen handelt. … All dies zeigt, dass man patientenund prozessgerecht arbeiten muss und sowohl Frequenz als auch Regressionstiefe, Arbeit an der Übertragung etc. sich nicht von vorn­ herein qua Definition festlegen lassen. « (ebd., S. 220f)

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6.4 Weiter zu den Standardwerken

Wir arbeiten das Zitat durch und wiederholen und veranschaulichen einiges, was bereits im Kapitel »Vorläufige Definition« skizziert wor­ den ist. Dann haben wir erst einmal das Kriterien der Unterscheidung bezüglich der »Regressionstiefe«. Dies meint vermutlich, dass in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie diese nicht so tief sein soll, die Patientin also nicht in die Gefühlslagen des Kleinkindes abdriften soll, weil primär Alltagstauglichkeit im Vordergrund steht. »Übertragungsneurose« kann so verstanden werden, dass die unbe­ wussten Bilder, die auf die Psychotherapeutin übertragen werden, in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie weniger bearbeitet werden, oder gar nicht. Somit entstünde keine Übertragungsneurose. »Frequenz« ist klar: drei oder eine Stunde pro Woche. »Unterschiede in der Direktivität …« ist ebenfalls klar: Der Psychoanalytiker begrüßt den Patienten, lehnt sich dann zurück und sagt gegebenenfalls gar nichts weiter. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie kann der Psychotherapeut dagegen sagen: »Sie haben letztes Mal über Ihren Arbeitgeber berichtet, dass …« Er strukturiert also mehr das Gespräch, arbeitet aktiv an Lösungen für aktuelle Probleme. »Zielsetzung« meint vermutlich, dass es in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie nicht um die Aufarbeitung der Geschichte, der Lebensgeschichte, geht, sondern um die Arbeit an aktuellen Pro­ blemen. Wie im Zitat zu erkennen ist, werden jedoch nach dem Auf­ listen der Kriterien diese in gewisser Weise zurückgezogen. Diese seien »patienten- und prozessgerecht« einzusetzen. Dann können wir schlussfolgern, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zwar ein bestimmtes Konzept darstellt, das aber an den jeweiligen Fall angepasst werden muss. Implizit wird damit mitgeteilt, dass die Psychoanalyse dies eher nicht macht. Dann können wir gemäß Jaeggi et al. einen zentralen Unter­ schied zwischen diesen beiden Verfahren festhalten: den Einsatz weiterer psychotherapeutischer Methoden in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, zum Beispiel der Hereinnahme verhal­ tenstherapeutischer Techniken. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ließe sich demnach als flexible und adaptive Psycho­ therapiemethode verstehen, um spezifisch und differentiell auf die Nöte der Patienten eingehen zu können. Wir halten fest, dass neben dem Merkmal der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie des Methodenpluralismus das Merk­

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

mal der Anpassung der Psychotherapie entsprechend dem, was die Patientin, der Patient braucht. Das adaptiv-prozessuale ist womöglich das wichtigste Kennzeichen der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie. In den weiter unten vorgestellten Kasuistiken der von mir durch­ geführten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien war das Entscheidende, dass die Patientinnen spezifische Methoden bei mir spontan einforderten, dass es also genau nicht die eine Methode gab. Die eingesetzten Methoden sollten aber nicht nur zu den Bedürf­ nissen der Patientinnen passen, sie sollten auch vereinbar sein mit den Präferenzen des Psychotherapeuten. Wenn er eine Abneigung gegen Verhaltenstherapie hat, dann sollte er damit nicht arbeiten. Zum Beispiel: Mein persönliches Naturell erlaubt es nicht, dass ich mich als Psychotherapeut zurücklehne, schweige und eine Pro­ jektionsfläche für Übertragung darstelle. Das passt nicht zu mir. Das will ich auch nicht. Daher findet in meinen Psychotherapien relativ wenig Übertragung statt. Ich bin gleichsam von Natur aus der stützende, direktive Psychotherapeut der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, auch wenn ich Psychoanalysen machte, und ein Patient dreimal in der Woche auf der Couch lag. Dem Erscheinungsjahr folgend, sollen nun weitere Standard­ werke zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vorge­ stellt werden. Das bereits erwähnte Buch von Jaeggi / Riegels »Techniken und Theorie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (2008, 3. Auflage 2018) beinhaltet ein wissenschaftstheoretisches Missver­ ständnis bezüglich der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie: »Anders als die meisten Naturwissenschaften ist sie als ein geis­ tes- und sozialwissenschaftliches Denkgebäude nicht in einer steten Entwicklung begriffen, sondern wechselt ihre Blickrichtung im Zusammenhang mit den jeweiligen historischen und kulturellen Gegebenheiten.« (S. 14) Kuhn und Foucault haben mit sehr unter­ schiedlichen Werken unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass jegliche Wissenschaftsgeschichte voller Diskontinui­ täten und Brüche ist, also bei keiner Wissenschaft von einer »steten Entwicklung« zu sprechen ist (vgl. Klotter 2020). Jaeggi und Riegels liefern dann eine klare Eingrenzung dessen, was eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie leistet, auf was sie fokussiert, im Unterschied zur Psychoanalyse.

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6.4 Weiter zu den Standardwerken

»… wird die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie häufig als bevorzugtes Verfahren bei Patienten genannt, die spezifische Defizite im Bereich ihrer Ich-Funktionen aufweisen. Für die therapeutische Zielsetzung bedeutet das, dass zuallererst der Erwerb elementarer IchFunktionen das Ziel der therapeutischen Arbeit sein muss, wie z. B. die Fähigkeit zur Selbststeuerung, zur Affektregulierung und -differen­ zierung, zur Selbstwahrnehmung und Empathie entwickeln zu helfen. Das bedarf einer viel aktiveren Haltung des Therapeuten als sie in ana­ lytischen Psychotherapien oder gar in Psychoanalysen praktiziert wird.« (ebd., S. 23)

Aus dem Zitat ist zu entnehmen, dass die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie eine andere Zielgruppe hat als die Psychoana­ lyse: Menschen mit Ich-Defiziten, die quasi besser an die Hand genommen werden müssen. Der Psychotherapeut kann sich dann nicht einfach zurücklehnen und warten, was von der Patientin kommt. Wenn wir Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller (2003) mit Jaeggi und Riegels (2018) vergleichen, dann haben wir zwei unterschiedliche Schwerpunkte. Einmal geht es um Frequenz etc., nun um unterschied­ liche Patientengruppen. Dies belegt nochmals, dass eine bürokratisch etablierte Psychotherapieform wie die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie erhebliche Definitionsspielräume belässt, die unter­ schiedlich angefüllt werden. Und es bleibt völlig unverständlich, warum Jaeggi und Riegels nicht klären, warum sie unter tiefenpsychologisch fundierter Psycho­ therapie etwas vollkommen anderes verstehen als Jaeggi et al. (2003). Zu der »to do«-Liste der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie muss also gehören, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter dieser Psychotherapieform zu einem Workshop zusammenfinden, um einen Konsens darüber zu finden, was diese Psychotherapieform denn ausmacht. Und dann könnten die unterschiedlichen Vorstell­ ungen genannt und gesammelt werden. Dann gäbe es eventuell einen gemeinsam getragenen Status quo der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, zumindest ansatzweise. Ich möchte ein Beispiel einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie aus eigener Praxis zu den von Jaeggi und Riegels genannten ich-strukturellen Defiziten geben, wobei ich betonen muss, dass aufgrund meiner Erfahrung ich-strukturelle Defizite auch psychoanalytisch bearbeitet werden können, so zum Beispiel bei einer Patientin, die emotional extrem bedürftig ist, aber diesen Ich-Anteil massiv abspaltet. Im Verlauf der Psychoanalyse kann sie diese Abspal­

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

tung erfolgreich überwinden, schon alleine darüber, dass sie dreimal in der Woche ihre Bedürftigkeit in den Psychotherapiestunden ent­ decken kann, und dass sie jemand, der Psychotherapeut, mit ihrer Bedürftigkeit annimmt. Das bedeutet, dass es meines Erachtens keine eindeutige Zuordnung von einer bestimmten Diagnose zu einem bestimmten Psychotherapieverfahren gibt.

6.5 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei ichstrukturellen Defiziten – aus der Praxis Nun zu dem Beispiel einer tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie zu ich-strukturellen Defiziten: Ein ehemaliger Teilnehmer einer Weiterbildung empfiehlt mich einer Frau, die unkontrollierbare Essanfälle (Binge Eating Disorder) hat und sich vor zehn Jahren einer bariatrischen Operation unterzogen hat. Sie wurde weiter oben bereits kurz vorgestellt. Sie arbeitet als Krankenschwester im Krankenaus. Ihre Partner sind, wie erwähnt, psychisch kleine Buben, die sie betreuen muss. Sie muss also auf der Arbeit wie im privaten Leben für andere da sein. Und ihre eigene Bedürftigkeit, dieser Ich-Anteil scheint wie ausradiert zu sein, etwa in Partnerschaften. Meine oben schon genannte Deutung lautet: »Sie spielen die Mutter, die Sie nie kennengelernt haben.« Sie kann die Deutung annehmen. Hilfreich ist ihr also eine zentrale psychoanalytische Behandlungstechnik. Wichtig in dieser Psychotherapie ist, dass sie versteht, wer sie ist, dass das Essen für sie die einzige Belohnung ist, dass sie sich nicht dafür verdammen muss, wenn sie Essanfälle hat, dass das viel besser ist, als etwa Drogen zu nehmen. Und mit diesen Erkenntnissen verschwinden die Essattacken allmählich. Sie kann sich annehmen, sich verstehen, sich verzeihen. Wenn sie sich davor für die Essanfälle verdammte, führte das eben nicht dazu, dass sie weniger Essdurchbrüche hatte, sondern im Gegen­ teil zu mehr Essdurchbrüchen. Sie schwankte also zwischen der Selbstverdammnis und dem Impulsdurchbruch. Als sie sich nicht mehr verdammte, reduzierten sich die Durchbrüche deutlich. Sie versteht nun zunehmend, wie wütend sie auf die anderen ist, wenn weder auf Arbeit noch zu Hause sich jemand um sie kümmert, für sie da ist. Sie arbeitet im Krankenhaus wie eine HochleistungsMaschine. Sie bekommt mit, dass sie das tut, um Anerkennung zu

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6.5 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei ich-strukturellen Defiziten

bekommen, da sie in ihrer Kindheit diese nur erfahren hat, wenn sie Leistung erbrachte. In dieser ehrenamtlichen Psychotherapie – sie kommt einmal in der Woche – wird konkret durchgearbeitet, wie sie Konflikte auf der Arbeit und mit ihrem Partner ansprechen kann. Und sie setzt das um. Sie ist vollkommen erstaunt, dass das geht, dass sie mal »auf den Putz hauen kann«, dass sie ihre Partnerschaft in einem Gespräch mit dem Partner infrage stellen kann. Und sie sucht sich einen neuen Arbeitsplatz, in dem das Team viel besser zusammenarbeitet. Sie erlebt zum ersten Mal, dass sie nach einem langen Arbeitstag nicht verpflichtet ist, die gesamte Wohnung aufzuräumen, ja, dass sie sich mal entspannen darf. Als sie eine neue Stelle antritt, wird sie gleich nach paar Tagen krank. Sie wird krankgeschrieben. Und sie hat ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ihr das passiert. Sie findet das unverzeihlich. Ich sage ihr dann, dass Infektionen besonders in dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich sind, und dass es gut ist, dass sie zu Hause bleibt. Sie könnte ja sonst die halbe Station anstecken. Derartige Aussagen entspannen sie. Wir klären zusammen, wie sie ihren neuen Kolleginnen und Kollegen mitteilen kann, dass sie sich freut, auf dieser Station arbeiten zu können, und dass das Kranksein keine indirekte Kündigung ist. Mit ihr wird Satz für Satz durchgearbeitet, was sie wem sagen kann. Und es ist ganz wichtig, ihr zu sagen, dass sie Fortschritte macht, dass sie sich in Konflikten nun behaupten kann. Das ist für sie ganz neu. Sie erzählt, dass ihr Partner der Meinung ist, dass eine Freundin sie ausbeutet. Und in der Tat hat die Patientin zweimal 45 Minuten in der U-Bahn verbracht, um ihr etwas zu bringen, das sie angeblich braucht. Ihre Freundin hat ihr erklärt, dass sie keine Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel hat, und daher die Patientin ihr das bringen muss. Ich teile ihr dann mit, dass sie ihren Teil dazu beigetragen hat, »ausgebeutet« zu werden. Sie hätte ja ihr dies nicht bringen müssen. Diese kleine Episode mit der Freundin steht für sie dann paradigmatisch dafür, dass sie wie selbstverständlich für andere da ist, ohne dass es umgekehrt so wäre. Diese Episode ist so ein Ankerbeispiel für ihr früheres »Maschinen«-Dasein. Ich-Integration bedeutet für diese Patientin, dass sie ihre bedürf­ tige Seite wahrnimmt und bedürftig wird. Sie sucht sich zum Beispiel

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einen neuen Partner, der ihr doch tatsächlich zuhört, der doch tatsäch­ lich für sie da ist. Zumindest zu Anteilen. Und Ironie entspannt sie sehr. In der Zeit, in der sie als Hoch­ leistungsmaschine im alten Krankenhaus gearbeitet hat, und dies als Selbstverständlichkeit angesehen hat, als das Mindeste, was sie zu leisten hat, sage ich ihr, sie müsse nach der Stunde die Praxis putzen. Die Putzfrau sei ausgefallen. Sie lacht dann laut. Soweit zu einem Überblick über diese Fallgeschichte. Um näher zu beleuchten, was tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist, sollen nun zwei Stundenprotokolle mit dieser Patientin vorge­ stellt werden: Sie kommt rein und sagt: »Bin gestresst!« »Aber Ihr Tipp beim letzten Mal, pro Arbeitsstunde 5 min Pause zu machen, war sehr gut. Mache das jetzt, wenn es geht.« Sie: »Habe letzte Woche doch den Ex-Freund getroffen, der mich zu einem billigen Fertiggericht eingeladen hatte. Ich habe ihm das vorgehalten, und er hat sich tatsächlich entschuldigt. War nicht so schlimm, wie gedacht!« Sie: »Das Probegespräch mit Chefin verlief gut.« (es ging um Entfris­ tung) Sie: »Am nächsten Montag habe ich ein MRT wegen Migräne. Ich hatte ein gutes Wochenende, keine Aggressionen, habe mir nicht zu viel vorgenommen, das aber umgesetzt, (Ich denke: Sie hat sich zum ersten Mal nicht zu viel vorgenommen), »entspannt«! Sie: »Ich hatte ein gutes Gespräch mit Chefin, gutes Feedback, sie hat sich sehr positiv geäußert, war konstruktiv.« Sie: »Meine Migräne ist weg.« Sie: »Ich hatte eine Panikattacke auf dem Weg zur Arbeit, als ich aus dem Bus ausstieg, 2 min noch zur Arbeit, es war alles schrecklich, ich hatte Angst vor einem Kreislaufzusammenbruch, habe aber gut durchgeatmet, ging schnell weg.« Ich: »Das könnte eine verschobene Panik wegen des Gesprächs mit der Chefin gewesen sein, gut, dass die Panik verschoben war, und nicht das Gespräch mit Chefin beeinträchtigt hat, eventuell fühlten Sie sich bedroht: keine Entfristung, kein Geld, ab ins Obdachlosenheim, wer würde Ihnen Geld ausleihen?« Sie: »Niemand; bevor sich meine Eltern vor zwanzig Jahren trennten, hat Vater zu mir, meiner Schwester und der Mutter gesagt: ›Ihr landet alle in der Gosse!‹“

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(hierzu notwendige Informationen: Mutter macht seit 20 Jahren massive Schulden, ihre Schwester, die bei ihr wohnt, zahlt Schulden zurück, nur Patientin überlebt finanziell relativ gut). Ich: »Sie sind alleine auf weiter Flur!« Sie: »Der Ex-Freund würde evt. helfen.« Sie: »Ich habe Träume mit Männern, in der Realität bin ich diesbezüg­ lich antriebslos. Ein Traum: Ich fahre zu meiner Familie, der Tramfah­ rer ist attraktiv, er spricht mich an, er wohnt aber in Griechenland, ich will keine Fernbeziehung. Letzte Nacht hatte ich einen anderen Traum: vom allerersten Freund geträumt, wir haben uns unterhalten.« Ich: »Der Traum, das Unbewusste, bereitet das Leben vor.« Sie: »Da gibt es ein ›Gleichklang-Portal‹, zum Kennenlernen, ist aber derzeit zu teuer, ich habe 600€ weniger diesen Monat bekommen wegen Krankengeld.« Ich: »Sie werden sich sicherer fühlen nach der Entfristung.« Sie: »Mutter wollte vor 12 Jahren 1000€ von mir, das tat ich auch, sie hat es nicht zurückgegeben, meiner Schwester hat sie 7000€ geklaut.« Ich: »Ihre Mutter ist kriminell und boshaft.« Sie: »Mutter hat meine Schwester krankgemacht (Anorexia nervosa), in meinem Grundschulalter hat sie meine Fußnägel so geschnitten, dass ich öfters zum Chirurgen musste.« Ich: »Ihre Mutter ist gewalttätig.« Sie: »Als Kind hatte ich oft Mittelohrentzündungen, sehr schmerzhaft, wurden nur homöopathisch behandelt, hat überhaupt nicht gehol­ fen.« Ich: »Sie sind dem Sturm gerade nochmals entkommen!« Was sagt uns diese Stunde? Sie hat sich einen neuen Arbeitsplatz gesucht, der für sie wesent­ lich besser ist als die anderen. Davor hatte sie nur üble Arbeits­ plätze, mit schrecklichen Chefinnen, mit denen die Gespräche fast immer schlecht verliefen. Sie suchte sich also Arbeitsplätze, die ihrem schlechten Selbstwertgefühl entsprachen. Sie hatte quasi nichts Besseres verdient. Der neue Arbeitsplatz ist ein Beweis dafür, dass sich ihr Selbstwertgefühl deutlich verbessert hat, und dass sie ihr Bedürfnis nach einem guten Arbeitsplatz umsetzen kann. Sie kann damit ihre bedürftige Seite deutlich besser integrieren. Die Gesprächssequenzen über ihren Arbeitsplatz wären also der tiefenpsychologisch fundierte Teil dieser Stunde. Der andere Teil ist der psychoanalytische: Aufarbeitung der Biographie. Die Patientin

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kann zum ersten Mal bewusst realisieren, dass ihre Mutter gewalttätig war und ist. Das führt wiederum dazu, dass die Patientin nicht mehr denkt, immer für Mutter da sein zu müssen. So verbessert sich auch ihre Lebensqualität. Und sie erzählt sogar einen Traum, der in der Tat zukunftswei­ send war. Ein paar Wochen später geht sie eine neue Partnerschaft ein. Die nächste Stunde: Ich stelle immer ein Glas Wasser für die Patientinnen und Patienten auf den Tisch. Sie sieht sehr mitgenommen aus. Ich sage, um sie ein wenig aufzuheitern, zu dem Glas Wasser: »Glas Gin?« Sie lächelt ein wenig: »Könnte ich gebrauchen.« (Ich weiß, dass sie so gut wie nie Alkohol trinkt, sonst hätte ich den Scherz nicht gemacht) Sie: »Wie anfangen?« Sie: »Ich habe eine wichtige Frage, mein Essverhalten, nach der Arbeit fühle ich mich ausgehungert, was soll ich essen? Meine derzeitige Arbeit ist harte körperliche Arbeit.« Ich: »Was nehmen Sie denn zur Arbeit mit?« Sie: »Vier Scheiben Brot, aber das reicht nicht.« Ich: »Warum kaufen Sie nach der Arbeit nicht etwas ein? Ein Joghurt? Sie können ja einen Löffel mitnehmen.« Sie: »Oder einen Salat.« Ich: »Es sollte etwas besonders Schönes sein, internationale Küche, auf jeden Fall mit einer Pause verbinden, sich auf eine Parkbank set­ zen, Sie sollten ein Tagebuch darüber schreiben, was Ihnen besonders gut schmeckt und besonders bekömmlich ist. Es ist schön, das Essen zu zelebrieren.« Sie: »Gute Ideen, werde schauen, was sich machen lässt.« Sie: »Die Arbeit ist stressig, aber gut, nach der Arbeit bin ich total erschöpft … letztes Wochenende am Sonnabend war ich bei meiner Familie (Mutter, Schwester), am Sonntag bin ich dann nur rumgele­ gen, so halbwegs zufrieden … zum Fotografieren, zum Lesen, zum Schreiben habe ich keine Lust mehr.« Ich: »Es klingt nach einer Trotzphase, zu nichts mehr Lust haben, so ein Protest einer Vierjährigen, ›Sage nein zu dieser Welt!‹“ Sie: »Versage Dir alles, was Spaß macht, meine Oma (gestorben mit über 90) war auch so, sie hatte zu allem keine Lust mehr, sie war sehr wichtig für mich, sie hatte 15–20 Jahre Alzheimer, sie hat an nichts mehr teilgenommen.«

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Ich: »Sie war eine gute Schauspielerin.« (intuitive Vermutung von mir) Sie: »Ja, eine sehr gute! Sie hat sich um mich gekümmert, hat mich verwöhnt, ich war Ihre Prinzessin.« Ich: »Sie wollen jetzt einfach nicht mehr brav sein.« Sie: »Ich bin unzufrieden mit meinem Leben, habe keine Lust mehr.« Ich: »Die Bilanz stimmt nicht.« Sie: »Ich wollte schreiben, aber ich hatte Widerstände.« Ich: »Einfach drauf losschreiben, entspannt schreiben!« Sie: »Habe am Samstag mit meiner Schwester ein Buch über Binge Eating gelesen und einen Fragebogen dazu ausgefüllt, da gab es eine Frage zum Soundtrack des Lebens, meiner Schwester sind tausend Titel eingefallen, mir kein einziger Song, ich sabotiere mich die ganze Zeit.« Ich: »Sie führen einen Krieg gegen sich selbst, wenn es niemand anderes macht. Für was bestrafen Sie sich?« Sie: »Ich habe nichts anderes verdient.« Ich: »So eine blöde Kuh wie Sie.« Sie: »Mutter sagte, dass ich böse bin.« Ich: »Wenn Sie sich von dieser Zuschreibung lösen würden, dann würden Sie sich von Mutter lösen.« Sie: »Bin mit Mutter verstrickt, bei meiner Schwester ist es offensicht­ lich.« (Schwester wohnt, wie erwähnt, bei Mutter) Ich: »Ein gutes Leben dürfen Sie nicht haben.« Sie: »Wenn ich auf meine Mutter wütend werden würde, dann könnte ich keinen Dienst mehr für sie erbringen.« Ich: »Sie haben ja vor paar Wochen davon geträumt, wie Sie Mutter und Schwester ohrfeigen würden.« Sie: »Mutter ist nicht unfreundlich, aber eifersüchtig auf Beziehung zwischen mir und meiner Schwester. Mutter wirft uns vor, wir hätten Spaß zusammen, und sie sei alleine. Aber mit mir alleine will Mutter nichts machen. Sie erzählt ohne Ende und dabei wird meine Schwester immer kleiner.« Sie: »Am letzten Samstag bin ich bis 1.00 geblieben, ich fühle mich dazu verpflichtet, das zu machen; wenn ich um 21.00 gegangen wäre, hätten das Schwester und Mutter gar nicht verstanden.« Ich: »Es ist doch Ihre Entscheidung und Freiheit, wann Sie gehen.« In dieser Stunde ist quasi wieder alles drin, was die verschiedenen psy­ chotherapeutischen Methoden zu bieten haben. Die Stunde beginnt

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mit einer verhaltenstherapeutischen Sequenz zum Essverhalten. Es folgt eine Regression auf die Trotzphase, die aber sehr wichtig ist, weil sie damit aufhört, das ewig nette und brave Mädchen zu sein. Sie reflektiert ihr aktuelles Verhältnis zu ihrer Mutter, weiß nun, dass, wenn sie auf ihre Mutter wütend werden würde, ihre Wut also zeigen würde, sie nicht mehr Dienstleisterin für die Mutter sein könnte. Sie fühlt sich ihrer Mutter und ihrer Schwester so verpflichtet, dass sie sie zeitlich nicht dann verlassen kann, wenn sie möchte, sondern dann, wenn die beiden das wollen. Um dies zu wiederholen: Entscheidend in dieser tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie ist, dass Psychotherapiemethoden variabel eingesetzt werden: konkrete Vorschläge, wenn es um ihr Essverhalten geht, psychoanalytische Arbeit an Träumen, an der eigenen Biographie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei aktuellen Konflikten – sich verpflichtet fühlen, bei Mutter und Schwester zu bleiben. Doch diese Methoden habe ich als Psychotherapeut nicht vorge­ schlagen, sie werden von der Patientin eingebracht. Sie gestaltet den Psychotherapieprozess. Ich begleite sie. Sie weiß aber, dass ich flexibel bin. Diese tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie verdankt sich so auch der Kreativität der Patientin. Die eben vorgestellten Behandlungsstunden sind übrigens zufäl­ lig ausgesucht worden. In fast allen meiner Behandlungsstunden gab und gibt es auch diesen Methodenmix der Psychotherapieverfahren.

6.6 Noch ein Blick auf ein Standardwerk und Bezug zur Praxis Zurück zu Jaeggi und Riegels, zu dem, was sie zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mitteilen: »Dabei scheint zunächst ein veränderter diagnostischer Blick notwen­ dig. Im Vordergrund muss die Analyse des Ich-Mangels stehen und nicht die Aufdeckung unbewusster Prozesse, die für Übertragung und Widerstand verantwortlich sind. Ein Ich-Mangel zeigt sich z. B. an der Schwierigkeit, zu sich selbst und zu anderen ein konstruktives Muster einer Beziehung aufbauen zu können.« (ebd., S. 23)

Die Patienten und Patientinnen würden diese einseitige Ausrichtung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auf die »Aufde­

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ckung unbewusster Prozesse« vermutlich nicht begrüßen. Aber diese »Aufdeckung« kann dennoch Teil dieser Psychotherapie sein. Die eben näher vorgestellte Patientin stößt zum Beispiel das Nachdenken über ihr Unbewusstes selbst an. Sie berichtet unaufge­ fordert nicht nur Träume, sondern von einer Selbsthilfegruppe, an der sie wegen ihrer (ehemaligen) Essstörung teilnimmt. Sie haben zusammen eine Übung gemacht, welches Tier sie mit ihrem Körper in Verbindung bringen. Sie erlebt sich als Wal, als großen und schwammigen Wal. Ich teile ihr hierzu mit, dass in der Zeit, in der sie in positiv verlaufende Konflikte auf Arbeit wie im Privatleben gegangen ist, sich ihr Gesicht verändert hat. Es sei deutlich konturierter geworden. Der schwammige Wal hat sich gleichsam verabschiedet. Und ich erinnere sie daran, dass sie ihren wohlbeleibten Körper selbst einmal als Schutzpanzer bezeichnet hat, weil sie sich sonst nicht schützen könne. Zu schlussfolgern ist, dass sie aufgrund der neu gewonnenen IchGrenzen, die sich in den ausgetragenen Konflikten mit Kolleginnen auf der Arbeit und mit dem Partner zeigen, des Wal-Körpers nicht mehr bedarf. Und trotz des Bearbeitens des Unbewussten ist diese Psychothe­ rapie im Wesentlichen eine tiefenpsychologisch fundierte: Arbeit an aktuellen Konflikten. Und über ihre mögliche Übertragung auf mich habe ich nicht allzu lange nachgedacht. Sie findet nicht statt. Ich habe einfach eine klare Funktion: sie zu begleiten, sie zu unterstützen, etwas, das niemand anderes gemacht hat. Wir bündeln: Ja, Schwerpunkt dieser tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie ist die Arbeit an aktuellen Konflikten und gar nicht an der Übertragung. Und es kommen auf Ersuchen der Patientin andere Psychotherapiemethoden mit rein: verhaltenstherapeutische und psychoanalytische. Zurück zum eben vorgestellten Standardwerk: Jaeggi und Riegels schreiben zur Aufgabe des tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapeuten: »Das bedeutet unter anderem, dass der Therapeut sich gewissermaßen zur Verfügung stellt, er muss vom Patienten gebraucht werden dürfen zur Entwicklung altersadäquater Ich-Funktionen. Damit ist gemeint, dass der Therapeut aktiv Beziehungsstrukturen zwischen sich und dem Patienten entwickeln hilft … Das bedeutet natürlich ein aktiveres Vor­ gehen, als es in der Psychoanalyse üblich ist. Der Therapeut struktu­

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riert stärker die Situation, und er hält von sich aus den Kontakt zum Patienten aufrecht.« (ebd., S. 24)

Das eben vorgestellte Fallbeispiel veranschaulicht dies sehr gut, was mit diesem Zitat mitgeteilt werden soll. Von meinem Eindruck her bin ich für diese Patientin der aktive, strukturierende, sich kümmernde Psychotherapeut, der mit anpackt, und das mit einer großen Selbst­ verständlichkeit tut. Auf mich ist Verlass. So hoffe ich zumindest. Es wäre schwierig, dies als Gegenübertragung zu interpretieren. Möglicherweise hat sie auf mich ein bisschen eine positive Vaterüber­ tragung, aber ich reagiere in dieser Hinsicht nicht einfach auf sie, sondern habe quasi vor ihr diese Rolle eingenommen. Und der Begriff Rolle sagt noch zu wenig. Ich bin ihr guter Vater aus Überzeugung. Besser formuliert: Ich bin ihr guter Begleiter aus Überzeugung. Vater klingt noch zu sehr nach Asymmetrie, nach unterschiedlichen Welten. Und das Begleiten fällt mir nicht schwer, ist nicht anstrengend.

6.7 Beispiele aus der Praxis zu ich-strukturellen Defiziten Weitere Beispiele für Menschen mit Ich-Defizite, mit einem desinte­ grierten Ich, das ja in der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie im Zentrum stehen soll: Der Freund einer Studentin begeht Suizid. Es ist gleichsam ein Wunder, dass er älter als 20 Jahre geworden ist, weil er in seiner Her­ kunftsfamilie kaum vorstellbare Gewalt erfahren hat. Nach seinem erfolgreichen Selbstmord begeht sie einen Selbstmordversuch, den sie überlebt. Sie kommt in die Psychiatrie. Danach zu mir. Sie fühlt sich schuldig, dass er sich umgebracht hat. Denn sie hat sich vor seinem Suizid von ihm getrennt. In seinem Abschiedsbrief hat er beteuert, dass sie nicht schuld an seinem Tod ist. Das ficht sie aber nicht an. Sie ist eben schuld. Davon ist sie lange Zeit überzeugt. Auch ein Jahr nach seinem Selbstmord denkt sie über einen weiteren Suizidversuch nach, vor allem, wenn sie an ihn denkt, seine Briefe liest, seine Lieblings-Musik hört. Sie sind eben ein Herz und eine Seele gewesen. Er ist die Liebe ihres Lebens. Nach ihm kommt nichts mehr. So denkt sie das. Wenn ich ihr sage, dass sie eine Göttin hätte sein müssen, um ihn zu retten, dann stimmt sie dem zu und lacht ein bisschen.

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Und sie bekommt allmählich mit, dass er sie überhaupt nicht verstehen wollte, verstehen konnte. Er presste sie in ein Bild, das er von ihr haben wollte. Und der Sex hat überwiegend gefehlt. Darunter litt sie sehr. So hat sie gleichsam zwei Ichs. Das eine liebt ihn immer noch und will sich für ihn umbringen, damit sie im Himmel wieder vereint sind. Das andere Ich nimmt wahr, wie unfassbar enttäuscht sie von dieser Partnerschaft ist. Und sie schwankt von einem Ich zum anderen und kriegt sie erst nach vielen Therapiestunden ein wenig zusammen. Und es schmerzt sie, dass sie auf die tröstliche Idee des Selbst­ mordes nicht mehr einfach zurückgreifen kann. Und zugleich ist sie unendlich erleichtert, jetzt ein eigenes Leben leben zu können. Sie nutzt mich, wie von der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie eingefordert, multimethodal. Etliche Wochen erzählt sie mir unaufgefordert viele Träume, die ich ihr deute. Dann will sie von mir wissen, was sie in ihrer Freizeit tun soll, wie sie mit ihrer Mutter umgehen soll. Wir gehen nun davon aus: Lange, bevor es den Begriff der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie gab, gab es diese faktisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein gestandener Psychoanalyti­ ker auf die Frage einer Patientin, wie sie konkret mit ihrer Mutter bestimmte Konflikte klären soll, gar nichts geantwortet hätte oder nur den Ball zurückgegeben hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass es Psychoanalytiker, Psycho­ analytikerinnen gegeben hat, die stur nur auf Deutung gesetzt haben, aber sie bildeten, sie bilden vermutlich die Minderheit. Die Psy­ choanalyse hat so wahrscheinlich Elemente der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie eingesetzt, lange bevor diese ins Leben gerufen worden ist. Zurück zur eben vorgestellten Patientin: Bei dieser Patientin wird klar, welchen Nutzen ich-strukturelle Defizite, eine Ich-Spaltung, haben kann. Diese ermöglichten ihr, mit diesem Mann, der sich dann umbrachte, zusammen sein zu können, bis sie ausrastete und die Beziehung beendete. Sie glaubte an die große Liebe, sie glaubte daran, dass sie ihn retten könne, und sie konnte überhören, dass er zu ihr sagte, dass die Brüste ihrer Schwester einfach schöner wären, und der Hintern einer Freundin ebenso, dass er ihr solange eine Essstörung unterstellte, bis sie eine bekam.

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Ein anderes Beispiel: Eine Studentin begeht mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch und kommt in die Psychiatrie. Dort, aber auch in einer folgenden Psychotherapie, wird ihr geraten, auf das Abitur zu verzichten. Das würde sie überfordern. Aber sie macht das Abitur. Und studiert das, was sie immer studieren wollte. In Seminaren traut sie sich nicht, sich zu Wort zu melden. Sie hat Angst, dummes Zeug zu reden. Doch dann stellt sie immer wieder fest, dass sie das Richtige gesagt hätte. Aber das ändert nichts daran, dass sie an sich nicht glaubt. Sie schreibt sehr gute Klausuren, geht aber davon aus, dass sie das Studium nicht schafft. Daher muss sie unablässig für die Hochschule arbeiten, wenn sie nicht gerade ihrem Nebenjob nachgeht oder ein Baby betreut. Sie bekommt Panik, wenn sie Uni-Texte nicht richtig lesen kann, und einen Satz dreimal lesen muss. Sie hat eine Karte für ein Konzert gekauft, geht aber nicht hin, weil sie ja noch für ein Seminar lesen und schreiben muss. Sie weiß, dass sie kompetent ist, aber es kommt bei ihr emotional nicht an. In diesem zweiten Ich ist sie eine doofe faule Nuss. In ihrem Fall hilft eine Deutung, um die beiden Ichs näher zusammenzubringen: »Sie haben sich immer für Ihre Herkunftsfami­ lie aufgeopfert, waren, seitdem Sie denken können, für die leidende Mama da. Diese vermittelte Ihnen indirekt, dass Sie mit ihrer Geburt den Familienfrieden angekratzt haben, dass Sie eine Störquelle sind. Und Ihr Vater war und ist nur mit sich beschäftigt.« Sie fasst zusammen: »Ich habe es nicht verdient zu leben«. Wenn sie in ihrer Pubertät gelobt wurde, dann hat sie nur gedacht: »Ich bin dumm und hässlich.« Mit ihrer Arbeitswut versucht sie gegen diese Selbsteinschätzung vorzugehen. Vergeblich. Aber nun versteht sie, dass ihr rationales Ich (Ich kann was) und das emotionale (Ich bin eine doofe Nuss) getrennt sind und zusammenkommen sollten. Ein Stundenprotokoll mit dieser Patientin: Sie: »Wie letztes Mal weiß ich nicht, was ich sagen soll…« Sie: »Aber heute bin ich depressiv, traurig, weinerlich.« (Ich denke: Erlaubt sie sich in der Stunde zu weinen, vermeintlich mir auf die Nerven gehen?) Sie: »Nach dem Frühstück war mir schlecht…« Sie: »Für das Arbeiten für die Klausur in meinem Studium bin ich nicht motiviert.« (Ich denke: Das ist eine Revolution, sie ist im Sinkflug, die Luft ist raus, sie will ihre Existenz nicht darüber retten und rechtfertigen, dass

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sie unendlich viel arbeitet, ohne dass ihr Selbstwertgefühl darüber besser werden würde) Sie: »Soll ich das Praxissemester verschieben?« (Ich denke: Die Revolution geht weiter) Sie: »Seit ein paar Tagen fühle ich mich schlecht. Ich habe Ruhe und Langeweile.« Ich: »Das Schlechtfühlen gehört zum Leben dazu.« Sie »Ich mache mir Vorwürfe, dass ich so untätig bin.« Ich: »Statt das zu akzeptieren, Vorwürfe bringen nichts, sich ver­ urteilen auch nicht, das ist doch verständlich nach all den Jahren des Marathons, mal nichts zu machen, runterzukommen, eine Ver­ schnaufpause zu machen.« Sie: »Derzeit macht nichts Spaß.« (In einem Nebensatz erwähnt sie: dass sie viel mit ihrem Freund zusammen ist, und, das sagt sie nicht, vermutlich Spaß mit ihm hat.) Ich: »Das klagende massiv bedürftige kleine Kind in Ihnen rührt sich, das Kind klagt und brüllt und tritt mit einem Bein auf den Boden, endlich ist dieses Kind da, darf da sein, und nicht nur das Sondereinsatzkommando, die ganze Zeit.« Ich: »Also vom permanenten Sondereinsatzkommando wegkommen. Das Kind annehmen, keine Ohrfeigen ihm geben.« Sie: »Ich habe das kleine Kind mit dem permanenten Arbeiten wegge­ schoben.« Ich: »Genießen Sie die Langeweile, das nannte sich früher Muße.« Sie: »Ich fühle mich so wertlos, wenn ich nicht arbeite. Wenn ich plane, die Klausur jetzt doch nicht zu schreiben, muss ich mir die ganze Zeit sagen, wie ich das wem gegenüber erklären kann.« Sie: »Ich kann es gar nicht fassen, dass mein Freund mich liebt, warum erst jetzt? Ich habe der Liebe nie getraut, wenn jemand sagte, er liebe mich, dachte ich, das kann doch gar nicht sein, es gibt derzeit Augenblicke, in denen ich diese Realität massiv anzweifle.« Ich: »Es ist traurig, so lange auf die Liebe gewartet zu haben, vielleicht wird aus dieser Trauer das Gefühl der Langeweile.« Sie weint und streckt sich: »Bin total verspannt, ich schlafe derzeit ganz tief.« Die Stunde ist vorüber. Ich sage ihr beim Hinausgehen als Witz: »Also nächste Stunde bitte nicht weinen!« Sie lacht. In dieser Stunde wird ihr klar, dass sie nicht nur Arbeits-Ich, Mara­ thon-Ich, Sondereinsatzkommando-Ich ist. Sie kriegt ihr anderes Ich,

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das bedürftige, allmählich in den Blick. Ihr wird klar, dass sie so viel gearbeitet hat, weil sie sich im Grunde wertlos fühlt, weil sie in ihrer Herkunftsfamilie nur – sehr geringe – Anerkennung bekommen hat, wenn sie für die anderen da war. In dem Augenblick, in dem sie Zugang zu ihrem bedürftigen Ich findet, kann sie sich auf das Wagnis der Liebe einlassen. Ihr wird klar, dass sie Zuwendung braucht, dass der andere nicht automatisch ein Betrüger ist, der nur deshalb sagt, dass er sie liebt, weil er mit ihr ins Bett will. Mit der Dominanz ihres Leistungs-Ichs war untrennbar verbun­ den, dass sie nichts wert ist, dass sie niemand lieben kann. Das Protokoll der nächsten Stunde mit dieser Patientin: Sie: »Danke für das Wasser!« (ich stelle ihr immer ein Glas Was­ ser hin) Ich: »Ist doch selbstverständlich.« Sie: »Ich weiß.« (Sie lacht) Sie: »Wie letzte Woche bin ich lustlos, ein ständiges auf und ab. Leere, Langeweile, ich habe Gedanken wie, als ich 17 Jahre alt war (Jahr des Suizidversuchs), ich habe ein schlechtes Selbstwertgefühl, habe viel geweint, das war aber gut, habe an meiner Beziehung gezweifelt …« Sie: »Habe vor paar Monaten die Pille abgesetzt, vielleicht bin ich über die Hormone deshalb leicht depressiv …« Sie: »Ich spüre die Angriffe der Eltern.« Ich: »Ihre Eltern sind wie Dampfwalzen.« Sie: »Habe mit Vater telefoniert, 5 Minuten, er hat nur Zeit für seine neue Freundin…« Sie: »Er ist wie ein pubertierender Junge, dabei ist er Ende 40…« Sie: »Mutter ruft nicht mehr so oft an.« Sie: »Mein Freund ist das komplette Gegenteil, ich denke ab und zu, das kann doch gar nicht wahr sein, so irreal, wir reden aber darüber, das ist so irreal.« Ich: »Als ob Sie aufwachen würden, auf dem Mond aufwachen wür­ den.« Sie: »Dann wird die Vergangenheit noch viel schlimmer. Früher habe ich meine Eltern verteidigt. Sie würden mich lieben.« Ich: (ironisch): »Dann war das ja ein schlimmer Fehler mit Ihrem jetzigen Freund.« Sie: »Ich habe Angst vor dem Essen, wenn ich schlechte Tage habe.« Sie: »Ich esse schlechte Sachen wie Schokolade. Wenn ich dies mir verbieten will, entsteht ein Teufelskreis, ich esse dann noch viel mehr

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Schokolade, früher hatte ich Angst, zu dick zu sein, das ist jetzt wieder da.« Ich: »Sie sind einfach nicht gut gefüttert worden, als hätten Sie giftige Milch bekommen.« Sie: »Ich bin ja Baby-Sitter bei einem 12 Monate alten Kind, das freut sich sooo, wenn es gefüttert wird, für mich ist das ganz verrückt.« Ich: »Es ist doch kein Wunder, wenn Sie sich nach dem Essen eklig füh­ len.« Sie: »Im Sommer habe ich einen Termin in einem Allergiezentrum, um genauer untersuchen zu können, auf welche Lebensmittel ich allergisch reagiere.« Sie: »Ich habe nach dem Essen keine Panikattacken mehr (wegen unklarem Allergieverdacht hatte sie Panikattacken), ich fühle mich einfach nur schlecht.« »Sie: »Ich habe noch immer Angst, meine Eltern zu verraten. Meine Eltern sind Monster; wenn ich meine Eltern verrate, dann fühlt sich das so an, als ob ich lügen würde.« Ich: »Die Eltern haben Loyalität eingefordert … Mit was drohen die Eltern?« Sie: »Ich bin so unfassbar enttäuscht, die Beziehung ist kaputt, die sind weg, für Kinder sind die eine Bedrohung.« Sie: »Als ich ankündigte, von Zuhause auszuziehen, war meine Mutter entsetzt, sie hat mich überhaupt nicht unterstützt, hat mir beim Umzug nicht geholfen.« Sie: »Ich verstehe erst jetzt, dass meine Eltern mir beim Umzug nicht geholfen haben.« Ich: »Das ist so, als ob ich, wenn Sie hier sitzen, die Zeitung lesen würde.« Sie: »Ich rede darüber nicht gerne mit meinem Freund, der hat nie alles alleine machen müssen. Mein Freund sagt dann über meine Mutter: ›Was ist das für eine?‹ Ich schäme mich dann und habe Angst, dass ich meine Mutter verrate.« Ich: »Es ist ein Wunder, dass Sie bei Mutter ausgezogen sind.« Sie: »Ich dachte damals, wenn ich leben will, muss ich raus.« Ich: »Sie hätten Familiensoldatin bleiben können.« Sie: »Ich fühle mich schuldig, dass ich ausgezogen bin. Meine Mutter macht mir immer noch indirekte Vorwürfe.« In dieser tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird in dieser Stunde Psychoanalyse betrieben: Aufarbeitung der Vergangenheit, aktuelle Lebenssituation mit der Biographie in Beziehung setzen. Es

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ist allerdings weniger der Psychotherapeut, der dies leistet, indem er etwa deutet. Die Patientin lenkt das Gespräch in diese Richtung. Der Psychotherapeut ist ganz im Sinne der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie im Wesentlichen der Begleiter. Aufgrund dieser Begleitung kann sie Dinge aussprechen, die sie noch nie denken und sagen konnte (die Mutter hat bei ihrem Auszug nicht geholfen, symptomatisch für die gesamte Geschichte der Patientin, oder: »Wenn ich leben will, muss ich raus.«). Damit versteht sie ihre Lebensgeschichte auf einmal viel besser. Ihr Leben macht damit Sinn. Sie kann sich aus einer verhängnisvollen Loyalität ihren Eltern gegenüber befreien. Sie muss diese nicht mehr schützen, sondern sie kann beginnen, sich selbst zu schützen. Und andeutungsweise wird klar, wie wütend sie auf ihre Eltern ist. Allerdings weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie sie mit dieser Wut umgehen soll. Aber sie traut sich langsam an heftige Gefühle wie Enttäuschung und Wut heran. Im Sinne Freuds reduziert sie also ihre Verdrängungen und macht ihr Unbewusstes bewusst. Im Sinne Rogers, dem Begründer der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie, ist sie auf dem Weg zur psychischen Gesundheit, weil sie schmerzvolle Erfahrungen integrie­ ren, versprachlichen kann (Klotter 2020). Und das kann sie vermutlich nur, weil sie aufgrund der Beglei­ tung durch den Psychotherapeuten keine Angst oder weniger Angst hat, mit diesen schmerzlichen Gefühlen in ein schwarzes Loch zu fal­ len. Ihr bisheriges Motto für ihr Leben bestand darin, sich zu sagen: »Versuche einfach zu überleben.« Dies hat sich nun geändert. Aus diesem Motto wird ein Lebensentwurf: »Ich will jetzt mein Leben und mich besser verstehen. Ich möchte begreifen, was ich mache, warum ich so geworden bin, wie ich bin. Und damit stoße ich mich nicht mehr weg. Damit verbanne ich nicht mehr Teile von mir – das kleine bedürftige Kind – in den Keller. Ich muss den Keller nicht mehr zehnmal abschließen. Und ich habe keine Angst mehr davor, dass, wenn das kleine Kind dem Keller entkommt, es mich auffrisst.« Wir sehen also, dass eine tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie psychoanalytische Elemente überhaupt nicht ausschließt. Und es war dann so, dass sie nach dem Ausflug in die Psychoanalyse in vielen Psychotherapiestunden wieder der Frage nachging, wie sie studieren soll, warum die Projektgruppe in ihrem Studium so negativ auf sie reagiert, etc.

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6.8 Weiter zu den Standardwerken – weiter zu dem Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Nun soll der Frage nachgegangen werden, wie andere Standardwerke der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie diese definieren und umreißen, etwa das von Wöller und Kruse herausgegebene: »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – Basisbuch und Pra­ xisleitfaden« (2018, Nachdruck 2020). In einem »Geleitwort« zu diesem Buch beschreibt Gerd Rudolf die traditionelle Psychoanalyse mit einem Bild: mit einer quasi zeitlich unbegrenzten Reise ins Unbewusste, zu den Triebwünschen. Die Psychoanalytikerin ist die Reisebegleiterin, wohin es auch immer gehen mag. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist dagegen seiner Meinung nach wissenschaftliches Handwerk, ist neben der Verhaltenstherapie die wichtigste Psychotherapie; im Gegensatz zu einer Reise irgendwohin werden Ziele definiert, die für die Zielerrei­ chung notwendigen Methoden bestimmt, die für den jeweiligen Pati­ enten passende therapeutische Beziehung gewählt, und es gibt eine wissenschaftlich fundierte Diagnostik. Es gibt nicht nur eine Behand­ lungsform, sondern mehrere Behandlungsformen, um passend für unterschiedliche Patienten die richtige zu wählen. Wissen anderer Disziplinen wie die der Entwicklungspsychologie wird integriert. Diese Skizzierung dessen, was tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ausmacht, kommt nahezu einem Todesurteil gegen­ über der Psychoanalyse gleich. Sie ist starr, stur, unwissenschaftlich. Und Rudolf ergänzt: Für die tiefenpsychologische fundierte Psychotherapie spricht nicht nur »Effektivität (Wirksamkeit) und Effizienz (Kosten-Nutzen-Abwägungen)« (ebd., S. VI), sondern auch: »Das Anliegen ist, den Patienten nicht jahrelang in eine letztlich artifizielle Beziehung einzubinden, sondern ihn mithilfe einer mög­ lichst begrenzten effektiven Behandlung mehr Zeit und Raum für ein lebenswertes Leben zur Verfügung zu stellen.« (ebd.) Falls das erste Todesurteil noch nicht seine erwünschte Wirkung hat, kann nun das zweite eingesetzt werden: Psychoanalyse, das ist unnütze Verschwendung von Lebenszeit. Besonders schön ist das Adjektiv »artifiziell«, wird mit ihm doch unterstellt, dass die Beziehung in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie nicht artifiziell wäre. Erzählt in ihr der Psychothera­

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peut, was er gestern gegessen hat, dass er Kopfschmerzen hat, welchen Sex er letzte Nacht hatte? Also: Auch diese Beziehung hat gewisse Regeln, ist so artifiziell. Mit meiner Kritik an Gerhard sollen nicht die spezifischen Qua­ litäten der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie in Frage gestellt werden, vielmehr soll nochmals ein Problem angesprochen werden: Muss zur eigenen Definition der tiefenpsychologisch fun­ dierten Psychotherapie, zum eigenen Selbstverständnis, ein Feind­ bild her, das der traditionellen Psychoanalyse? Ist nur mit diesem die Abgrenzung möglich? Und warum ist diese Abgrenzung nötig? Ist diese Abgrenzung freudianisch zu interpretieren, nämlich, dass Rudolf einen Vatermord begeht, begehen will? Wenn dem so wäre, dann wäre Rudolf die Abgrenzung genau nicht gelungen. Dann wäre er quasi heimlich zu Freud zurückgekehrt. Und zu diesem Geleitwort von Rudolf stellen sich einige weitere Fragen: Was ist wissenschaftliches Handwerk, was ist wissenschaftli­ che Diagnostik? Müssen vorab Ziele definiert werden und die dazu passenden Methoden? Bei der zuletzt vorgestellten Patientin habe ich keine Ziele for­ muliert, geschweige denn entsprechende Methoden. Sie kam zur Psychotherapie wegen der durch allergische Reaktionen ausgelösten Angst vor dem Essen, wegen des Gefühls des überfordert seins durch das Studium, wegen eines mangelnden Selbstwertgefühls und wegen depressiver Verstimmungen. Aber die genannten Aspekte bilden zusammen ja keine »wis­ senschaftliche Diagnostik«, es sind deskriptive Merkmale. Erst im Verlauf zahlreicher Gespräche ließ sich eine vorläufige Diagnose bündeln, dass sie ich-strukturelle Defizite hat, dass sie das bedürftige kleine Kind in sich nicht integrieren kann. Aber die gesamte Psychotherapie bildete einen Suchprozess, in dem nicht klar war, was im nächsten Schritt passieren könnte. Ich hätte nicht voraussagen können, dass sie mir Träume erzählt. Und wie bei den davor erwähnten Autorengruppen haben wir es bei Rudolf mit einer Kriegserklärung zu tun. Der Feind, das ist die Psychoanalyse, unzweifelhaft. Sie darf an die Wand gestellt und standrechtlich erschossen werden. Und schon wieder wird dem Verdacht Nahrung gegeben, dass nur über diese Kriegserklärung die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ihre Identität bekommt, ihre Gestalt bekommt.

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Rudolfs Argumentation erinnert an den päpstlichen Anspruch auf Unfehlbarkeit, der auch psychoanalytisch interpretiert werden kann. Er ist eine Seite eines narzisstischen Konflikts zwischen Größenphantasien (Unfehlbarkeit) und Inferioritätsgefühlen (nichts zu sein, nichts wert zu sein). Die klassische Schizophrenie-Forschung hätte bei diesen Argu­ mentationsfiguren möglicherweise von einem double bind gespro­ chen. Die Psychoanalyse wird in einem Atemzug abgestoßen und heimlich angehimmelt. Zurück zu dem Standardwerk, zu dem Rudolf ein Geleitwort geschrieben hat: In der »Einleitung« umreißen Wöller und Kruse, was das Spezi­ fische an der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie sein könnte – der Einbezug systemischer und lösungsorientierter Ansätze sowie eine Ressourcenorientierung, das Nutzen praxisorientierter »Interventionsempfehlungen, Nutzen von Manualen (ebd., S. 3). Die von Wöller und Kruse genannten Merkmale haben dem Anschein nach mit denen von Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller und Jaeggi und Riegels nur eine sehr kleine Schnittmenge. Das Label tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wird also, wie mehrfach schon erwähnt, recht unterschiedlichen Konzepten von Psychothera­ pie verliehen. Das bedeutet auch, dass die Menschen, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Anspruch nehmen wollen, eigentlich gar nicht genau wissen, wohin sie gehen. Und eigentlich macht dann Evaluationsforschung zur Wirksam­ keit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie keinen Sinn, weil die Inhalte völlig unterschiedlich sind, weil die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie nicht untersucht werden kann. Es ist so, als ginge ich zum Händler einer gewissen Automarke, finde aber dort gänzlich unterschiedliche Produkte der verschiedens­ ten Firmen, nur eventuell die Autos der Automarke, die ich anschauen und Probe fahren will, nicht. Noch problematischer könnte sein, dass ich glaube, dass alle dort verfügbaren Autos genau von dieser Marke stammen, die ich näher anschauen wollte. Jetzt wird, um dies nochmals ausdrücklich festzuhalten, das Gütesiegel der Wissenschaftlichkeit, das Rudolf der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie verleihen wollte, noch problemati­ scher. Wir wissen doch nicht einmal, was sie ausmacht. Wenn sie

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erforscht wird, wenn sie evaluiert wird, dann werden unterschiedliche Verfahren evaluiert. Ich möchte den Vitamin C Gehalt von Äpfeln untersuchen. Hierbei untersuche ich auch Birnen, Möhren, Gurken. Am Schluss verkünde ich, dass in Äpfeln so und so viel Vitamin C drin ist. Aber wir sollten nicht übersehen, dass die auf den ersten Blick geringe Schnittmenge bei der Definition der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auch strategisch sein kann: sich erst einmal abzugrenzen, um das besondere und quasi einzige Standardwerk zu sein. Wöller und Kruse stellen fest, dass Psychotherapie wissenschaft­ lich noch wenig fundiert ist, dass es quasi ein Handwerk ist, das von der jeweiligen Persönlichkeit der Psychotherapeutin abhängt. Schrieb Rudolf im »Geleitwort« zu diesem Buch nicht davon, wie wissenschaftlich fundiert die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie sei? Dagegen schreiben Wöller und Kruse: »Jeder Therapeut hat das Bedürfnis, seine Arbeit so zu tun, wie es seiner Persönlichkeit entspricht, und das Recht, eine ganz individuelle, unver­ wechselbare Atmosphäre zu schaffen …, was sich in einer individuellen Art des Intervenierens niederschlagen muss. Wir können das nicht genug betonen. Denn es wäre vermessen zu behaupten, wir wüssten, wie Psychotherapie genau zu funktionieren hat. Die Psychotherapie­ forschung kann uns bei konkreten Interventionsfragen nur wenig wei­ terhelfen.« (ebd., S. 4)

Die Psychotherapieforschung könne nur aufzeigen, dass ein kompe­ tenter Psychotherapeut, eine kompetente Psychotherapeutin wichtig sei und zusätzlich eine gute tragfähige Beziehung zur Patientin, zum Patienten. Quasi im Nebensatz präsentieren die beiden Autoren eine revolutionäre Erkenntnis. Weniger die eingesetzten Methoden sind entscheidend für den Therapieerfolg als die eben genannten zwei Faktoren. So kann eine Verhaltenstherapie genauso erfolgreich sein wie eine Psychoanalyse, erfolgreich, wenn sie jeweils zu der Persön­ lichkeit des Therapeuten passt. »Dabei unterscheiden sich Psychotherapeuten sehr hinsichtlich der Effektivität der von ihnen durchgeführten Behandlungen. Die Unter­ schiede sind dramatisch ... Drei Faktoren scheinen aufseiten der Thera­ peuten vor allem zum Erfolg beizutragen: ihre Fähigkeit, ein Arbeits­

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bündnis herzustellen, ihr Wunsch, den Patienten wirksam zu helfen und ihre eigene psychosoziale Anpassung.« (ebd.)

Noch in der Einleitung präzisieren Wöller und Kruse das, was sie unter tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie verstehen: »Die Aktivierung der persönlichen Ressourcen gilt inzwischen als ein zentraler Wirkfaktor allen psychotherapeutischen Handelns … Dies anzuerkennen heißt nicht nur Abschied nehmen von einem traditio­ nellen Modell des Heilens, das unseren Anteil am Behandlungserfolg übermäßig gewichtet und den der Patienten unterschätzt. Es eröffnet auch neue Möglichkeiten gezielter Interventionen, die eine Bereiche­ rung für unser behandlungstechnisches Repertoire darstellen können. Es ist das Verdienst systemischer, lösungsorientierter und hypnothe­ rapeutischer Ansätze, die Möglichkeiten der gezielten therapeutischen Nutzung der Ressourcenaktivierung entdeckt zu haben.« (2020, S. 5)

Wenn dem so wäre, wie es die beiden Autoren eben schildern, dann wäre die Ressourcenaktivierung nicht das Spezifische der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie. Schließlich soll sie allen Psychotherapien zugrunde liegen. Das Neue liegt für Wöller und Kruse eventuell darin, dass es möglich ist, sich mit dem Ressourcenansatz von der traditionellen Psychoanalyse abzugrenzen, die anders vorgegangen ist, vorgeht: »… Einsicht zu vermitteln, negative Beziehungserfahrungen durchzuar­ beiten und positive Beziehungserfahrungen zu ermöglichen.« (ebd.) Es ist mehr als fraglich, ob Freud seine Psychoanalyse so beschrieben hätte. Statt Einsicht hätte er von Deutung gesprochen, die der Psychoanalytiker vornimmt. Ob der Patient / die Patientin der Deutung zustimmt, also so etwas wie einsichtig wäre, steht auf einem anderen Blatt. Freud hätte auch nicht von negativen Beziehungser­ fahrungen gesprochen, sondern davon, dass in der Psychoanalyse unbewusste intrapsychische Konflikte bearbeitet werden. Vermutlich ermöglicht auch Freuds Psychoanalyse die Ressour­ cenaktivierung. Sie wird nur nicht so benannt. Freuds weiter unten beschriebene Gouvernante ändert ihr Leben. Sie ist in den Hausherrn verliebt, kann dieses Gefühl in keiner Weise akzeptieren und ent­ wickelt neurotische Symptome. Freud deutet diese. Anschließend kann sie in den Hausherrn verliebt sein, ohne dieses Gefühl zurück­ weisen zu müssen, sie muss auch keinen Sex mit ihm haben. Auf einmal ist sie wieder heiter. All das hat ihr Freud nicht vorgeschrieben,

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vielmehr hat sie ihr Leben selbst neu erfunden. Das nennt sich Res­ sourcenaktivierung. Aber Freud war mit seinem Menschenbild (der Mensch ist vom Liebes- aber auch vom Todestrieb) viel zu skeptisch, um Psychothe­ rapie nur so positiv zu sehen: als Ressourcenaktivierung. Nach ihm schlummert ja der Todestrieb sowohl in der Patientin als auch in dem Psychoanalytiker. Beide Todestriebe können dazu beitragen, dass die Psychoanalyse nicht nur zum Gelingenden beiträgt. Eines spricht für das Ressourcenmodell. Es wird damit explizit anerkannt, dass der Psychotherapeut kein Zauberer ist, der das Leben seiner Patienten auf den Kopf stellen kann. Das können, wenn über­ haupt, die Patienten in der Begleitung der Psychotherapeutin. Diese Überzeugung könnte bei der Psychotherapeutin zu mehr Bescheidenheit führen und damit unter Umständen auch zu einer Erleichterung. Sie ist nicht die Regisseurin des Theaterstücks, das sich das Leben des Patienten nennt. Das, was Wöller und Kruse mit Jaeggi und Riegels verbindet, ist die Annahme, dass tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie multimethodal vorgehen kann, also Elemente anderer Psychothera­ pien integrieren kann. »Der Begriff ›tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie‹ ist erst 1967 mit der Einführung der Richtlinien-Psychotherapie als Oberbe­ griff für die neben der ›analytischen Psychotherapie‹ in die kassenärzt­ liche Versorgung aufgenommenen psychodynamischen Behandlungs­ verfahren geschaffen worden …« (Wöller und Kruse 2020, S. 9)

Das bedeutet, dass es sich bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie um eine Restkategorie handelt, die gleichsam admi­ nistrativ entwickelt worden ist. Daher kann diese Kategorie mit den unterschiedlichsten Inhalten gefüllt werden. Jedes Buch zu diesem Thema, jede Weiterbildung kann anders sein als ein anderes Werk, als eine andere Weiterbildung. Die Offenheit und Unbestimmtheit ist daher Programm. Dennoch gibt es eine Definition in den »Psychothe­ rapie-Richtlinien«: »Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie umfasst ätiologisch orientierte Therapieformen, mit welchen die unbewusste Psychody­ namik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte und struktureller Stö­ rungen unter Beachtung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand behandelt werden.« (in Wöller und Kruse, ebd., S. 10)

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Gefordert wird also hier, dass Ätiologie-Modelle vorliegen, vermut­ lich psychoanalytische. Es soll aber nur das aufgearbeitet werden, was aktuell an neurotischen Konflikten vorliegt. So wird nicht die gesamte Lebensgeschichte aufgearbeitet, die Regression ist daher einzugren­ zen. Und die Behandlungsziele werden vermutlich aus zeitlichen Gründen eingeschränkt. Verschiedene Krankheitsbilder können behandelt werden: Neurosen und ich-strukturelle Defizite. Und es sollen neue Techniken integriert werden: »kognitive, systemische, edukative, suggestive, störungsspezifische« (ebd., S. 15) Aber Ele­ mente der alten Psychoanalyse bleiben erhalten: »Beachtung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand«, aber eben nur Beachtung und nicht Arbeit an …, Arbeit mit … Auch wenn Wöller und Kruse ein Lehrbuch der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie herausgegeben haben, so warnen sie doch ausdrücklich davor, die Psychoanalyse durch diese Psychothe­ rapie zu ersetzen. Schließlich hat sie, empirisch abgesichert, große Erfolge vorzuweisen (ebd., S. 17). Bei diesem Friedensangebot an die Psychoanalyse darf nicht vergessen werden, dass Wöller und Kruse Rudolf das Geleitwort zu ihrem Werk schreiben ließen, also möglicherweise auch erheblich ambivalent der Psychoanalyse gegenüberstehen. Wir können zusammenfassen: Es machte zunächst den Eindruck, als präsentiere Wöller und Kruse eine völlig andere tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie als die Arbeitsgruppen um Jaeggi. Jetzt ist deutlicher geworden, dass es auch Schnittmenge gibt: multimetho­ dales Vorgehen, Anlehnung an, aber auch Modifikation der Psycho­ analyse. Ein anderes Standardwerk zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie von Boll-Klatt und Kohrs (2018): »Tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie«. Sie beginnen ihr Werk quasi mit einem Verzweiflungsschrei, »… als sie versuchten, das Objekt dieses Buches zu definieren oder auch nur einzugrenzen.« (s. 11). Dieses Verfahren gebe es nur in Deutsch­ land, werde von Krankenversicherungen finanziert, mache ca. 47 % der »krankenkassenfinanzierten psychotherapeutischen Behandlun­ gen« (ebd.) aus, die Psychoanalyse nur 6 %, der Rest sei Verhaltens­ therapie (ebd.). Offensichtlich besteht ein Widerspruch zwischen der faktischen Inanspruchnahme und der theoretischen Fundierung der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie. Psychoanalyse spielt in der

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Versorgung nur noch eine geringe Rolle, aber sie soll die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie theoretisch fundieren. Und Boll-Klatt und Kohrs versuchen historisch zu belegen, wie dies zustande gekommen ist. Zunächst skizzieren sie, was Tiefenpsy­ chologie überhaupt ist: »Die zentrale Vorstellung der Tiefenpsychologie bezieht sich auf unbe­ wusste Prozesse, die unter der Oberfläche des Bewusstseins in tieferen Schichten der Psyche ablaufen und menschliches Erleben, Denken und Verhalten maßgeblich beeinflussen.« (ebd., S. 14)

Und sie heben hervor, dass die Tiefenpsychologie auf Freuds Psycho­ analyse zurückgeht. Der Unterschied zwischen der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besteht nach ihnen darin, dass in letzterer die »strengen Regeln« (ebd.) der psy­ choanalytischen Behandlungstechniken nicht gelten: »Liegen auf der Couch, freie Assoziation und Beschäftigung mit Träumen auf Seiten des Patienten und Abstinenz, Neutralität und Anonymität auf Seiten des Therapeuten.« (ebd.) Zugleich räumen sie ein, dass Freud selbst von diesen strengen Regeln abwich, wenn sie für bestimmte Patientengruppen nicht pas­ send waren. Und sie zeichnen nach, dass lange vor der tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie innerhalb der Geschichte der Psy­ choanalyse die strengen Regeln kritisiert und überwunden worden sind, zum Beispiel die »starke Intellektualisierung« (ebd., S. 15) durch die Konzentration auf die Deutung. »Die Anerkennung der TP (tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie; A. d. A.) als eigenständiger Therapieform, die gleichzeitig die Nähe zur Psychoanalyse behielt, sollte es ermöglichen, dass psycho­ therapeutisch ausgebildete Ärzte, die nicht die Anforderungen einer klassischen großen psychoanalytischen Ausbildung erfüllten, aber einen wesentlichen Teil der Patientenversorgung abdeckten, in die Behandlung psychisch Kranker mit einbezogen werden konnten.« (ebd., S. 16)

Also auch in diesem Zusammenhang entspringt die »TP« purem Pragmatismus. 1998 kamen dann nach den Ärzten noch die Psycholo­ gischen Psychotherapeuten dazu (ebd.) Mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird also fast die Hälfte aller Psychothera­ pien in Deutschland abgedeckt! Sie wurde also aus pragmatischen Gründen gleichsam erfunden, um die Versorgungsnot zu lindern.

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Damit wird, um dies nochmals zu wiederholen, verständlich, dass erhebliche Divergenzen darüber bestehen, wie die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie zu definieren ist. Jeder Autor, jede Autorin darf sich seine, ihre eigene tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie basteln. Boll-Klatt und Kohrs (2018) machen das dann so, dass sie sich in ihrer Version der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auf psychoanalytische Grundbegriffe beziehen (das Unbewusste, Übertragung, Gegenübertragung) und zugleich betonen, dass die Regression eingeschränkt sein sollte und eine »hilfreiche Beziehung« (S. 18) zwischen Psychotherapeutin und Klient wichtig ist. Sie bezie­ hen sich auf Hoffmann (2000), der die stärkere Symptomzentrierung hervorgehoben hat (ebd.). Festzuhalten ist bei Boll-Klatt und Kohrs, dass sie die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie als Variante der Psychoanalyse begreifen und gegen diese nicht zu Felde ziehen. Und festzuhalten ist auch, dass sie die pragmatische, bürokratische Entstehungsgeschichte dieser Psychotherapieform herausstreichen. Dies hat den unschätzba­ ren Vorteil, dass sie nicht übertheoretisiert werden muss. Sie muss kein theoretisches Bollwerk sein, das sich entschieden von der Psy­ choanalyse absetzt. Das Vorgehen von Boll-Klatt und Kohrs kann demnach als konstruktiv gekennzeichnet werden. Aber es ist noch viel mehr als das. Es unterstützt ein Selbstverständnis, mit dem sich die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie nicht als die beste aller Psychotherapien beweisen muss. Und in der psychotherapeutischen Praxis wird, um dies zu wie­ derholen, damit Demut und Bescheidenheit gelehrt. Es wird damit anerkannt, dass für bestimmte Patientinnen und Patienten eher eine Verhaltenstherapie indiziert scheint oder eben auch eine Psychoana­ lyse. Und es wird damit indirekt anerkannt, dass bei bestimmten Patienten in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mehr Arbeit an der eigenen Biographie sinnvoll ist. Der quasi Verzweiflungsschrei von Boll-Klatt und Kohrs, was denn nun tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sei, hat also erhebliche, nicht zu unterschätzende Konsequenzen für diese psycho­ therapeutische Praxis. Sie wähnt sich nicht besser oder schlechter als andere Psychotherapieverfahren. Sie muss sich nicht als Objekt des Angriffs vonseiten der Psychoanalyse fühlen. Sie muss dann

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auch nicht Gegenangriffe starten. Dieser energiezehrende Krieg ist einfach vorbei. Noch ein persönliches Wort zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Arbeit an der Biographie: Ich überlasse es den Patientinnen und Patienten, wann und wie stark sie an ihrer Biographie arbeiten wollen. Ich käme nie auf den Gedanken, dies steuern zu wollen. Ein weiteres Standardwerk ist das von Rudolf (2019, 3. Auflage 2020): »Psychodynamisch denken – tiefenpsychologisch handeln«. Wir haben den Autor bereits ein wenig kennengelernt. In diesem Buch gibt es ein Geleitwort von Hauten, der den Ansatz Rudolfs so zu umreißen versucht: »Sondern es ging ihm darum, das psychodynamische therapeutische Handeln so zu erneuern, dass damit auch bislang als nicht behandelbar geltenden Patienten geholfen werden kann. Dazu musste das psycho­ dynamische Störungsverständnis quergedacht und immer auch an der Empirie abgeglichen werden.« (S. VII)

Jetzt sind wir mit einer weiteren Zielsetzung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie konfrontiert, nicht mehr multimethodales Vorgehen, nicht mehr Arbeit an akuten Lebensproblemen, sondern psychotherapeutisches Arbeiten mit bisher als nicht behandelbar kategorisierten Patientinnen und Patienten, die eine ›strukturelle Störung‹ (ebd.) aufweisen sollen (vgl. auch Jaeggi und Riegels weiter oben). Diese werden vorläufig definiert als »grundlegende struktu­ relle Entwicklungsdefizite« (ebd.). Im Zentrum steht für Hauten bei Rudolf weniger die psychothe­ rapeutische Technik, sondern die »therapeutische Haltung« (ebd., S. IX). Wir werden noch sehen, was das heißen könnte. Wenn Hauten schreibt, dass aus dem Paradigma von Rudolf kein Dogma werden soll (ebd., S. X), so macht er deutlich, dass er den Begriff Paradigma, der von Kuhn für die Wissenschaftstheorie geschaffen worden ist (1976), nicht verstanden hat. Paradigma bedeu­ tet für Kuhn, dass eine bestimmte Epoche und nicht ein einzelner Autor sich darauf einigt, was zu einer bestimmten Zeit unter Wissen­ schaft verstanden wird (Klotter 2020). Ein mögliches Dogma wird so von einer bestimmten Epoche geschaffen und potentiell in der nächsten abgeschafft. Und Hauten schreibt: »Ich stelle mir vor, dass diese Worte bei Rudolf Skepsis auslösen werden – wie oben beschrieben ist er kein ›Kirchengründer‹.« (Hauten 2020, S. X)

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Auch wenn die Metapher des Kirchengründers als Idee abge­ lehnt wird, schwingt doch mit, dass er es sein könnte oder sein wollte, dass er ein Petrus oder Augustinus oder Luther sein könnte und sein wollte. Möglicherweise verleitet Psychoanalyse, aber eben auch die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu Phantasien der Grandiosität. Die massive Polemik zwischen den Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern in der Geschichte der Psychoanalyse (siehe weiter unten), aber auch der Krieg zwischen ihr und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie lassen sich von diesen Größen-Phantasien eventuell ableiten. Jeder möchte König, jede möchte Königin sein. Und mit der Metapher des Kirchengründers ließe sich interpre­ tieren: Jeder möchte eine eigene Kirche gründen, jede möchte eine eigene Kirche gründen, eine Glaubensgemeinschaft, die eventuell mit der Absicht formiert worden ist, die andere Glaubensgemeinschaft zu vernichten, auszuradieren, von der Erde verschwinden zu lassen. Derartige Kriege sind von anderen Psychotherapiemethoden nicht bekannt. Es gibt zwar unterschiedliche Lerntheorien und daraus zu Anteilen abgeleitete verhaltenstherapeutische Techniken, aber ihre Gründer und Vertreter lieferten sich keine Schlachten. Es muss zukünftig noch mehr untersucht werden, warum die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie deutlich stärker als andere Psychotherapieformen zum Krieg einlädt. Dass sie mehr mit der menschlichen Sinnfrage verbunden ist (Warum lebe ich? Will ich nur meine Triebe befriedigen? Welche geis­ tigen Interessen habe ich?), und so mehr emotionalen, existentiellen Horizont aufweist als die Verhaltenstherapie, kann diesen Krieg nicht erklären, da etwa die humanistische Psychologie nach Rogers und seine wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie mit der Sinnfrage ebenfalls eng verflochten sind. Aber Rogers und etwa Maslow haben sich nicht die Köpfe eingeschlagen. Eine gewagte, aber auch schlichte Hypothese: Denkbar wäre, dass die Psychoanalyse und die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie andere Köpfe anzieht als andere Psy­ chotherapieverfahren, dass sich aggressionsbereite Menschen eher dafür entscheiden, Menschen also, die gerne in die Schlacht ziehen. Wie dem auch immer sein mag. Fest steht, dass eine KriegsAtmosphäre Auswirkungen auf die Psychotherapie hat, haben kann. Die Patientinnen und Patienten werden dann zum Beispiel mehr oder weniger unbewusst spüren, dass ihre Psychotherapeutin, dass

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ihr Psychotherapeut tendenziell kriegsbereit ist, dass eine Deutung dann eine Waffe sein kann, und der damit verbundene potenzielle Widerstand auf Patientenseite bei dem Behandler, bei der Behandlerin ein heimliches Triumphgefühl auslösen kann: »Wie recht hatte ich mit meiner Deutung!« Die Kriegs-Atmosphäre bestimmt eventuell mit das Selbstver­ ständnis der Kriegerinnen und Krieger. Sie fühlen sich im Krieg. Das ist ein Teil ihrer Selbstdefinition. Der Krieg wird vermutlich nicht haltmachen vor den Toren der Klinik, vor der Tür der psychotherapeu­ tischen Praxis. Er bleibt nicht draußen, sondern ist immer mittendrin. Der Kampf gegen die feindliche andere Psychotherapieform kippt potenziell um in episodische Konflikte mit den Patienten. Es handelt sich also möglicherweise um einen Zwei-Fronten-Krieg: gegen die feindliche andere Psychotherapieform und gegen die eigenen Patien­ tinnen. Und es stellt sich die Frage, ob sich als Sieger oder Verlierer im Kampf gegen andere Psychotherapieformen zu fühlen, Auswirkungen auf die selbst durchgeführten Psychotherapien hat. Vielleicht ist die­ jenige Psychotherapeutin, die sich als Verliererin wähnt, tendenziell depressiv. Die Psychotherapien sind dann für sie sehr anstrengend. Zurück zu dem Werk von Rudolf: Es ist hinreichend bekannt, wie eng verbunden Grandiositäts­ phantasien mit Inferioritätsgefühlen sein können. Hierzu muss Rudolf ausführlich zitiert werden: »Für angehende Psychoanalytiker ist das Thema der therapeutischen Technik und speziell die Deutung unbewusster Prozesse ein zentraler Gegenstand der meist langen Ausbildung. Die tiefenpsychologischen Ausbildungsgänge sind in der Regel deutlich kürzer ausgelegt, d.h., es muss viel Stoff in relativ kurzer Zeit erarbeitet werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich unter den tiefenpsychologischen Ausbildern teilweise solche mit analytischer Herkunft befinden, aber auch Vertre­ ter anderer Schulrichtungen, die ursprünglich eine Identität als Gesprächspsychotherapeuten, humanistische Therapeuten, Systemi­ ker etc. besitzen. Nicht wenige Tiefenpsychologen betonen, dass sie lieber einen integrativen und individuellen Ansatz verwenden und weniger eine bestimmte Psychotherapiemethode folgen möchten. So kann es sein, dass unter der Bezeichnung Tiefenpsychologie mit recht unterschiedlichen Therapien von Therapeuten mit unterschiedlichen Grundüberzeugungen durchgeführt werden.« (Rudolf 2020, S. 4)

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Das von Rudolf Mitgeteilte deckt sich mit dem, was in diesem Werk auch schon bedacht worden ist: Tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie kann ein Label sein, unter dem sich potenziell vollkom­ men unterschiedliche Psychotherapien gleichsam verstecken können. Und bei der Inanspruchsnahme dieser Psychotherapieform ist dann für die Patienten vollkommen unklar, wo sie landen. Wir schlussfolgern also aus diesem Zitat, dass das Label tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie einem Warenkorb gleicht, in den je nach Käuferin und Käufer ganz unterschiedliche Dinge hineingelegt werden können. So ließe sich auch sagen: Diese Psycho­ therapiemethode gibt es eigentlich nicht. Wir halten mit diesem Zitat von Rudolf auch fest: lange Aus­ bildung: Psychoanalyse, kurze, stressige Ausbildung: tiefenpsycholo­ gisch fundierte. Diese Psychoanalytiker haben es einfach besser, oder? Und damit ist die Psychoanalyse der anderen Psychotherapieform überlegen, diese, wie heißt sie noch einmal, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Als heimliches Paradies (siehe weiter oben) wird von Rudolf noch immer die Psychoanalyse begriffen. Um das zu überspitzen: Die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutinnen sind eigentlich nur ungelernte Fließbandarbeiterinnen, die aus Zeitgründen von ihren Meisterinnen, den Psychoanalytikerinnen, nur unzureichend eingearbeitet werden konnten. Wir konstatieren eine unüberbrückbare Ambivalenz bei Rudolf. Mit der Psychoanalyse wird den Patienten wertvolle Lebenszeit geklaut, aber der Psychoanalytiker hat eine bessere Weiterbildung und weiß, was er macht: Psychoanalyse. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin ist nicht nur schlechter weitergebildet. Sie weiß auch nicht einmal präzise, was sie macht. Und ihr Patient weiß das auch nicht. Nichts ist richtig, nichts ist recht, so lässt sich Rudolf zusammenfassen. Es ist davon auszugehen, dass diese Haltung in die Behandlungen als Stimmung mit einfließt. Schauen wir uns den Warenkorb von Rudolf näher an. Da schreibt er zur Psychotherapie im Allgemeinen: »Ein traditionell wichtiger Ansatz zielt darauf ab, Menschen auf der Grundlage eigener Erfahrung einfühlend verstehen zu wollen. Es geht darum, das nachzuvollziehen, was der andere denkt, fühlt und tut und worüber er sich sprachlich und nonverbal mitteilt. Das Ergebnis dieses Nacherlebens ist eine persönliche, subjektive Einschätzung, ein her­ meneutisches Verstehen.« (ebd., S. 5)

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Aber warum ist einfühlendes Verstehen für den psychotherapeuti­ schen Prozess wichtig? Dazu sagt Rudolf nichts, zumindest nicht an dieser Stelle. Und er bezieht sich seltsamerweise nicht auf Rogers, für den Empathie eine der drei Basisvariablen von Psychotherapie und Beratung ist, und der erklärt, warum Empathie wichtig ist (vgl. Klotter 2020). Es war ja in dem Kapitel »Zentrale Inhalte« dieses Buches angekündigt, ein wenig Psychotherapie der Psychotherapie machen zu wollen. Zu diesem Behufe müssen wir Rudolf nochmals ausführ­ lich zitieren: »Es wäre nun zu fragen, wie das Selbstverständnis der Tiefenpsycho­ logie heute aussieht. Die meisten tiefenpsychologischen Weiterbil­ dungseinrichtungen sind im Gefolge des Psychotherapeutengesetzes entstanden, d. h. sie bilden überwiegend jüngere Psychologinnen und Psychologen (keine Ärzte) aus. Diese jungen Leute sind verständli­ cherweise beruflich und finanziell noch nicht stabilisiert und bemühen sich mit Praktikumsstellen und Jobs einigermaßen über die Runden zu kommen. Sie sind daran interessiert, die Ausbildung in relativ kurzer Zeit abzuschließen. So wird verständlicherweise alles kompakter und in einem kürzeren Zeitraum als in der analytischen Ausbildung ver­ mittelt: die Theorie- und Praxisseminare, vor allem aber auch die Selbsterfahrung. Daraus erklärt es sich, dass dort, wo die Psychoana­ lytiker Wert darauf legen, eine ›psychoanalytische Identität‹ zu entwi­ ckeln, bei den Tiefenpsychologen eher ein nüchterneres Berufsver­ ständnis mit relativ wenig Selbstidealisierung spürbar wird.« (Rudolf 2020, S. 8)

Da die goldenen Meister, die Olympia-Sieger im Fechten, die Psycho­ analytiker, dort die Leiharbeiter aus dem Ausland, die tiefenpsycholo­ gisch vorgehenden Psychologen, die bald in ihre Heimat zurückgehen können, aber in welche Heimat? Rudolf, der auf empirische Forschung setzt, zumindest tut er dies kund, referiert hier nun offensichtlich seine Erfahrungen und stellt der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ein relativ schlechtes Attest aus. Und schon wieder wird die Psychoanalyse in gewisser Weise idealisiert. Sie ist irgendwie das Wahre und Echte. Und eigentlich teilt Rudolf mit, dass tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu machen, nicht attraktiv ist und es nie sein wird. Warum wird Rudolf hier so ausführlich zitiert und diskutiert?

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6.8 Weiter zu den Standardwerken

Zur Ausübung jedweder Art von Psychotherapie bedarf es eines beruflichen Selbstverständnisses. Sie ist zudem ein impliziter Teil der Definition einer bestimmten Psychotherapierichtung. Und diese implizite Definition fällt bei Rudolf negativ aus. Hätte er Recht, dann besteht dringender Handlungsbedarf, die Weiterbildungen in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie schnell zu verbessern, und speziell am Selbstverständnis der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapeuten und Psychotherapeutin­ nen zu arbeiten. Dies gehört offenbar dringend zur »to do«-Liste dieser Psycho­ therapierichtung. Zurück zum Buch von Rudolf: Eine Annäherung an das, was tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für Rudolf sein könnte, erfolgt bei ihm über das Werk von Dührssen: »In diesem Manual des tiefenpsychologischen Vorgehens beschreibt sie den dialogischen Charakter dieses Verfahrens, das sich einerseits um ein vertieftes biografisches Selbstverständnis der Patienten bemüht, andererseits dem Hier und Jetzt der aktuellen Beziehungs­ konflikte und psychosozialen Probleme des Patienten besondere Auf­ merksamkeit schenkt.« (ebd., S. 10)

Wir stoßen auf »dialogisch«, was bedeuten soll, dass tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie nicht von einer Deutungshoheit der Psychotherapeutin ausgeht, nicht von einer starken Asymmetrie zwischen Psychotherapeut und Klienten, sondern das gemeinsame Erarbeiten in den Vordergrund rückt. In und mit dem vorliegenden Werk kann dem dialogischen Vorgehen weitgehend zugestimmt werden, und dies wurde bereits mehrfach erwähnt. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wurde als gemeinsamer Verstehensprozess zwischen Patient und Psychotherapeutin begriffen. Es wurde hier aber auch mitgeteilt, dass Deutungen nicht obsolet geworden sind. Sie gehören zur Methodenvielfalt der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie mit dazu. Anstelle von Regression, die auf frühe Kindheitserfahrungen zurückgreifen soll, wird von Rudolf vom »biographischen Selbstver­ ständnis« geschrieben, also einer Erarbeitung, wie jemand sich mit seiner Biographie erlebt, was sie ihm sagt für die Jetztzeit. Das wäre also ein bisschen Psychoanalyse.

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6 Die unterschiedlichen Definitionen der tiefenpsychologischen Psychotherapie

Das wohl sehr Neue an dieser Psychotherapieform ist nach Rudolf die Zentrierung auf aktuelle Konflikte und Probleme. Dies ist das, was andere Autorinnen und Autoren auch als zentrales Kennzeichen dieser Psychotherapiemethode beschrieben haben. Wir haben also zumindest ein gemeinsames Merkmal. Aber nicht doch, es gibt noch weitere gemeinsame Merkmale. Mit diesem Verfahren sollen insbesondere vergleichsweise schwere psychische Störungen wie ich-strukturelle Defizite behandelt werden. Damit sind die Gemeinsamkeiten noch nicht erschöpft. Rudolf ver­ weist auf die Psychotherapie-Richtlinien: »Die Indikation des Verfahrens wird vom Nachweis aktuell relevanter und eingegrenzter neurotischer intrapsychischer Konfliktdynamik oder strukturell bedingter interpersoneller Konflikte und deren Sym­ ptombildung bestimmt.« (nach Rudolf, ebd., S. 18)

Die neurotischen Konflikte sollen also eingrenzbar sein und zu aktuell relevanten Problemlagen führen. Das Verfahren ist aber auch indiziert bei ich-strukturellen Defiziten, die zu aktuellem Leiden führen. In den Fallbeispielen und Stundenprotokollen haben wir diese ich-strukturellen Defizite ja schon ausführlich kennengelernt (siehe weiter oben). Besonders wichtig ist es für Rudolf in diesem Zusammenhang, dass bei ich-strukturellen Defiziten die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie erfolgreicher ist als die Psychoanalyse (ebd.). Ein weiteres Werk nennt sich »Analytische und tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie« von Elzer und Gerlach (Hg.) (2019). Der Untertitel lautet »Theorie und Praxis der psychoanalytisch begründeten Verfahren«. Die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie wird hier also als eine Variante der Psychoanalyse begriffen, ihr also subsummiert, ohne dass sie als eigenständige Psychotherapie­ form aufgeführt wird. In den bisher vorgestellten Standardwerken war das Bemühen sichtbar geworden, das Spezifische dieser Psychotherapieform darzu­ stellen. Es wurde stets mitgeteilt: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat einen Bezug zur Psychoanalyse, sie ist aber auch das ganz andere. Dieses Vorgehen von Elzer und Gerlach wäre genau das, was die zuvor genannten Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie kritisieren würden: die Leugnung der Eigenständigkeit dieser Psychotherapieform.

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6.9 Zusammenfassung

Wir können also hier jetzt nicht ausführen, was Elzer und Gerlach unter tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie verstehen. Wir können das nicht leisten, weil Elzer und Gerlach dazu nichts sagen, um genau damit mitzuteilen, dass sie keine spezifische Psychothera­ pieform ist.

6.9 Zusammenfassung Wir können festhalten, dass unter dem Label tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie ganz unterschiedliches firmiert. Die Autoren­ gruppen zu dieser Psychotherapieform operieren nicht mit derselben Definition, nicht mit denselben Definitionsmerkmalen. So wird zum Beispiel einmal auf diverse Psychotherapiemetho­ den rekurriert, das andere Mal auf unterschiedliche Patientengrup­ pen, die behandelt werden sollen. So sollen ich-strukturelle Defizite besonders gut mit tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie zu bearbeiten sein. So weiß in etwa eine tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapeutin, was sie macht, aber nicht, wie der Kollege psychotherapeu­ tisch vorgeht. Und die Klientinnen und Klienten machen zwar alle tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie, aber wissen nicht, dass sie recht unterschiedliche Psychotherapieformen in Anspruch nehmen. Die meisten Autorengruppen über diese Psychotherapieform wettern gegen die Psychoanalyse, gehen davon aus, dass deren Ver­ treterinnen und Vertreter die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie gering schätzen. Diese Konfliktlinie kann als Stellungskrieg begriffen werden.

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7 Die Inhalte der Standardwerke

Wir haben nun die unterschiedlichen Definitionen tiefenpsycholo­ gisch fundierter Psychotherapie kennengelernt. Wir haben hierzu zur Veranschaulichung Kasuistiken vorgestellt. Sehr wichtig war, auch das eher implizit vorgetragene Selbstverständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien zu ermitteln. Nun soll geschaut werden, was die zentralen Inhalte der unter­ schiedlichen Konzipierungen tiefenpsychologisch fundierter Psycho­ therapie sind. Wie weiter oben bereits erwähnt, soll dieses Vorhaben darüber nachvollziehbarer werden, indem der Kontrast zur klassischen Psy­ choanalyse erkennbar wird. Bei einem Werk ist dieses Vorgehen, diese Kontrastierung, nicht möglich, da die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie der Psy­ choanalyse einfach subsummiert und nicht speziell thematisiert wird, so geschehen im Werk von Elzer und Gerlach (Hg.): »Analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« (2019). Sie haben also einfach ein Lehrbuch über die Psychoanalyse geschrieben und einen anderen Titel gewählt. Im Sachregister taucht der Term »tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie« nicht auf. Im Kapitel »Psycho­ therapeutische Aus- und Weiterbildung« (S. 347ff) ist von dieser Psy­ chotherapieform ebenfalls nicht die Rede. Mehr an Ausklammern ist nicht möglich. Und wir verstehen nun Jaeggi et al. besser, wenn sie sich bitterlich über einige Vertreterinnen und Vertreter der Psychoanalyse beklagen. Aber dieses Lehrbuch kann dazu verwandt werden, einige Fragen für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aufzuwerfen. Auf dem Klappentext zu diesem Buch sind die Essentials der Psychoanalyse gebündelt: »1. Theoretische Grundlagen: psychoanalytische Modelle der Seele, psychische Entwicklung, ätiologische Konzepte, psychische Phäno­ mene wie Regression, Abwehr etc., 2. Zentrale technische Aspekte: therapeutische Beziehung, Setting, Diagnose und Indikationsstellung, Technik, therapeutischer Prozess, 3. Krankheitslehre: Patienten mit

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7 Die Inhalte der Standardwerke

Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, psychosomatische Störungen, Psychosen, Umgang mit Psychopharmaka, Suchterkrankung, suizida­ les Verhalten, 4. Therapeutisches Umfeld: Falldarstellung und Super­ vision, Ethik, psychotherapeutische Versorgung, Aus- und Weiterbil­ dung, Therapieforschung und interkulturelle Psychotherapie.«

Wir haben von einem eigentlich klassischen Lehrbuch zur Psycho­ analyse eigentlich nichts anderes erwartet, als das, was Elzer und Gerlach vorstellen. Aber für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lässt sich hieraus etwas gewinnen. Nämlich: Welche Fragen stellen sich aufgrund dieser Inhaltsübersicht an die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie? – – – – – – – – – –

Welches Seelenbild hat die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie? Wie konzipiert sie psychische Entwicklung? Welche ätiologischen Konzepte hat sie? Wie begreift sie etwa Regression, Abwehr? Wie wird in ihr die psychotherapeutische Beziehung definiert, wie das Setting? Wie ist in ihr die Handhabung von Diagnose und Setting? Welche psychotherapeutischen Techniken reklamiert sie für sich? Wie wird in ihr der psychotherapeutische Prozess beschrieben? Nimmt sie Stellung zu den unter »Therapeutisches Umfeld« genannten Punkten? Gibt es in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Themen, die bei Elzer und Gerlach nicht auftauchen?

Ich vermute, dass etliche Fragen in den Werken zur tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie noch gar nicht beantwortet worden sind, etwa zum Seelenbild, zur psychischen Entwicklung. Übernimmt diese Psychotherapieform einfach das Seelenbild der Psychoanalyse? Aber gibt es überhaupt das Seelenbild der Psychoanalyse? Oder gibt es nicht mehrere? Trifft dies nicht auch auf die psychische Entwicklung zu? Eigent­ lich gibt es hierzu diverse psychoanalytische Modelle. Welches über­ nimmt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? Oder kre­ iert sie ein ganz eigenes, oder ein zur Hälfte eigenes, zu einem viertel eigenes? Wir müssen bereits jetzt konstatieren: Viele Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie lehnen

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7 Die Inhalte der Standardwerke

sich mehr oder weniger explizit an die Psychoanalyse an, ohne diese Fragen zu stellen und zu beantworten. Sie bleiben also auf eine beeindruckende Weise vage. Nun zu den Inhalten der Standardwerke der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: In Reimer und Rüger (Hg.) (Erstauflage 2000, vierte 2012) werden zunächst die Merkmale der psychodynamischen Psychothe­ rapieverfahren vorgestellt (von Rüger und Reimer, siehe vorheriges Kapitel). Es folgt ein Kapitel zur Frage der Integration anderer Psy­ chotherapieverfahren in psychodynamische (von Rudolf und Rüger). Naheliegenderweise ist dies ein Kapitel, was in Standardwerken zur Psychoanalyse nicht vorkommt, da die Frage nach der Integration anderer Verfahren eine typische der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist. Die beiden Autoren gehen hierbei auch auf humanistische Ansätze ein, verzichten jedoch darauf, die wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie nach Rogers mit den drei bekannten Basis­ variablen (unbedingte Wertschätzung, Empathie und Kongruenz) vorzustellen. Dieses Vorgehen ist einigermaßen erstaunlich, ist doch der Ansatz von Rogers neben dem von Maslow das bekann­ teste humanistische Konzept. Und im Unterschied zu Maslow hat Rogers die Psychotherapie- und Beratungspraxis nahezu weltweit zentral mitbestimmt. Es folgt ein Kapitel zur »Psychodynamische Diagnostik« von Rudolf und Rüger. Diverse psychodynamische Psychotherapiever­ fahren werden skizziert, darunter die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (Reimer und Rüger). Einen breiten Raum nimmt das Vorstellen unterschiedlicher Störungsbilder ein. Summa summarum, abgesehen von der Vorstellung neuerer psychodynamischer Psychotherapien, unterscheidet sich das Werk nicht von einem psychoanalytischen. Dies wird damit begründet, dass sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie theoretisch weitgehend auf die Psychoanalyse bezieht, psychotherapeutisch nur anders vorgeht (Reimer und Rüger 2012, S. 60f). Zunächst wird in dem Buch von Jaeggi et al. (2003) auf die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie eingegangen (siehe weiter oben). Dann werden die »Theoretische Grundlagen der Tiefenpsy­ chologie«, also die Psychoanalyse, referiert. Es folgen die Neurosen­ lehre, psychische Störungen, »Behandlungstheorie und -technik« und

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»Übergreifende Perspektiven« wie etwa die Freudsche Kulturtheorie. Abgesehen von der »Kulturtheorie« ist diese Inhaltsübersicht nicht weit von der von Elzer und Gerlach entfernt. Nach dem weiter oben skizzierten Angriffskrieg gegen die Psy­ choanalyse wird das genannte Buch also so fortgesetzt, indem die Freudsche Psychoanalyse umfangreich vorgestellt wird, ohne dass ersichtlich wird, ob die gesamte Psychoanalyse von der tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie übernommen wird oder nur teil­ weise. Auf Seite 220 ist dann zu lesen: »… kann man mit Hilfe der Skizzen über die historische Entwicklung erkennen, dass die Abgrenzung über das Setting und die Interventionsformen eher politisch-strategische Funktion haben, als dass sie in der Theorie der Psychoanalyse selbst begründet wären.« Nun sind wir verwirrt. Die Abgrenzung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie von der Psychoanalyse hat eher eine »politisch-strategische Funktion«? Aber welche? Und diese Abgrenzung lasse sich nicht aus der Theorie der Psychoanalyse begründen. Aber muss sie das? Wir fassen zusammen: Dieses Buch ist im Wesentlichen ein Lehrbuch der Psychoanalyse. Über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist wenig zu erfahren. Langsam können wir verstehen, welche Schwierigkeiten teil­ weise die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit der Psy­ choanalyse hat. Erstere, das ist zumindest eine Zwischenbilanz dieses Kapitels, ist von der Theorie her im Wesentlichen Psychoanalyse, also diesbezüglich gar nicht eigenständig. Sie ist nicht einmal ein Kind der Psychoanalyse, sondern im Wesentlichen Psychoanalyse. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie der Psychoanalyse ansatzweise den Krieg erklärt (siehe weiter oben). Umgekehrt wird verständlich, dass die Psychoanalyse die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie nicht leiden kann, weil letztere ersterer einfach das Wasser abgegraben hat, was das Inan­ spruchsnahmeverhalten betrifft. Psychoanalyse als Kassenleistung der Krankenversicherungen wird kaum noch in Anspruch genommen. Anders sieht es aus im dem Werk »Techniken und Theorie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie« von Jaeggi und Riegels (2008, dritte Auflage 2018). In ihm wird nicht die Psycho­ analyse referiert, sondern eine tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie theoretisch fundiert, vor allem, was die Psychotherapieme­

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thoden betrifft. Und es werden zahlreiche Techniken vorgestellt, die in dieser Psychotherapieform mit eingesetzt werden können wie »Rollentausch«, »Malen«, »Der Einbezug des Körpers«, etc. Dem gestandenen Psychoanalytiker stehen vermutlich die Haare zu Berge, wenn er nur daran denken würde, derartige Methoden einzusetzen. Eine zentrale Aussage von Jaeggi und Riegels lautet: »Wir gehen … davon aus, dass es unmöglich ist, als Therapeut eine neutrale Posi­ tion im therapeutischen Prozess einzunehmen. In keiner Situation ist der Therapeut eine leere Leinewand für die Übertragungen des Pati­ enten …« (ebd., S. 37) Meine Kasuistiken (siehe weiter oben) belegen diese Annahme. Die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patientin wird von bei­ den hergestellt. Wenn es gut geht, ist dies eine enge, lebendige, inten­ sive Beziehung, in der die Psychotherapeutin für den Patienten da ist, ihm Halt gibt und so dem Patienten die Chance gibt, relativ gesichert sich mit sich auseinandersetzen zu können. Die Psychotherapeutin muss nach Jaeggi und Riegels so ihre Subjektivität nicht verbergen. Im Gegenteil (ebd., S. 38). Selbstredend lässt sich nun fragen, was diese Art der psychothe­ rapeutischen Beziehung noch mit Psychoanalyse zu tun hat. Übertra­ gung, Gegenübertragung, Deutung, Widerstand sind in diese Konzi­ pierung der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patientin nicht oder kaum unterzubringen. Und die eben kurz erwähnten Techniken wie »Malen« haben mit der Psychoanalyse auch nichts zu tun. Es könnte höchstens einen Bezug zur Psychoanalyse geben über die Krankheitslehre. Ich-strukturelle Defizite sind sicherlich nicht in der Verhaltenstherapie diagnostiziert worden. Aber bei Jaeggi und Riegels ist wenig zur Krankheitslehre zu lesen. So hat die von den beiden Autoren konzipierte tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie mit der ursprünglich administrativ definierten wenig zu tun. Diese sollte ja psychoanalytisch begründet sein. Und so ist es eher seltsam, wenn Jaeggi und Riegels über sich schreiben: »Wir fühlen uns als Psychoanalytiker …« (ebd., S. 11) Wir können mutmaßend resümieren: Jaeggi und Riegels wollen in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie die Psychoana­ lyse nicht einfach reproduzieren. Sie haben es quasi satt, eine Variante der Psychoanalyse zu sein. Damit werfen sie aber die ursprüngliche Definition der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie über Bord: dass sie psychoanalytisch begründet sein soll.

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Zu einem weiteren Standardwerk: Wöller und Kruse (2020) betonen in ihrer Einleitung, dass nur ein »Bruchteil« (S. 4) dessen, was in Psychotherapie geschieht, wis­ senschaftlich erforscht und abgesichert ist. Dies trifft meines Erachtens insbesondere auf ein Psychothe­ rapieverfahren zu, das unter einer Flagge – tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – zahlreiche Psychotherapiemethoden lau­ fen lässt. Auf die »to do«-Liste dieser Psychotherapiemethode, und zwar ganz weit oben, steht also die Psychotherapieforschung, mit der ermittelt werden muss, welche Psychotherapietechniken im Einzel­ nen unter dieser Flagge eingesetzt werden, und welche Erfolge sie bei welchen Patientengruppen zeitigen. Das, was nach den beiden Autoren sicher ist, ist, dass die behand­ lerische Kompetenz des Psychotherapeuten hochgradig relevant für den Behandlungserfolg ist, sowie seine Fähigkeit, eine gute thera­ peutische Beziehung herzustellen. Die eingesetzten psychotherapeu­ tischen Methoden sind dagegen nachrangig bedeutsam. Ohne Zweifel muss diese Bündelung der empirischen Befunde Auswirkung auf die Weiterbildung zur tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapeutin haben. Sie muss ganz klar fokussiert sein auf die menschliche Kompetenz der Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Die Methoden sind dagegen eindeutig sekundär und damit eigentlich auch der Methodenstreit. Es könnte dann ein Weiterbil­ dungsinstitut geben, in dem diese Kompetenz im Mittelpunkt steht, in dem Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zusammen vermittelt werden. Der teilweise heftige Streit zwischen den Psychotherapieverfahren wäre so Schnee von gestern, von vorgestern. Eine persönliche Notiz: Ich habe drei Weiterbildungen durchlau­ fen: Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie nach Rogers und Psychoanalyse. Ich selbst musste mir die behandlerische Kompetenz mühsamst erarbeiten. Da ging es mir wie den meisten. Aber es gab auch Naturtalente, die das einfach von Anfang an konnten. Ich will damit sagen: Es ist möglich, diese Kompetenz zu erwerben. Wöller und Kruse (2020) beziehen sich bezüglich der psycho­ therapeutischen Kompetenz auf empirische Studien, etwa: »Okiishi et al. (2006) verglichen die Extremgruppe der erfolgreichsten und diejenige der am wenigsten erfolgreichen Psychotherapeuten und

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fanden, dass die Erfolgreichsten unter ihnen bis zu zehnmal effektiver waren als ihre am wenigsten erfolgreichen Kollegen.« (ebd., S. 4) Wenn das keine erstaunlichen, wenn das keine erschütternden Befunde sind. Im Interesse der Patientinnen und Patienten muss also in allen psychotherapeutischen Weiterbildungen diese Kompetenz im Vordergrund stehen – ohne Wenn und Aber. Und es bleibt rätselhaft, warum dies nicht schon längst passiert ist. Und es bleibt rätselhaft, warum noch nicht erforscht worden ist, wie diese Kompetenz zu vermitteln und zu erwerben ist. Offenbar spielt das relative Bekenntnis zur Psychoanalyse in den bisher vorgestellten Standardwerken eine gewichtige Rolle. Jaeggi und Riegels fühlen sich als Psychoanalytiker. Wöller und Kruse wollen zwar in die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie andere Ansätze integrieren wie den ressourcenorientierten, systemische, sogar verhaltenstherapeutische (ebd., S. 6), zugleich bekennen sie sich: »… ohne dabei auf die Essentials psychoanalytisch orientierten Arbeitens zu verzichten …« (ebd.) Zu den Essentials zählen sie die »Reflexion« (ebd.) von Übertragung, Gegenübertragung, Abwehr und Widerstand. Was aber passiert mit den Essentials, wenn Übertragung und Gegenübertragung durch den aktiven und strukturierenden Psycho­ therapeuten keine oder eine sehr geringe Rolle spielen (siehe Kasu­ istiken weiter oben)? Was passiert mit den Essentials, wenn die Psychotherapeutin wenig deutet, und nur dann deutet, wenn sie davon ausgeht, dass sie keinen oder wenig Widerstand auslöst? Bei meiner Deutung in einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie bei einer Patientin, deren Partner sich ob kurz oder lang als bedürftige Babys herausstellten, sie spiele eine Mutter, die sie selbst nicht gehabt hätte, dachte ich zwei Wochen lang darüber nach, ob ich diese Deutung geben soll, ob sie also für die Patientin annehmbar und damit hilfreich ist. Ich zögerte deshalb so lange, weil ich erstens nicht wusste, ob diese Deutung zutraf, weil ich zweitens nicht sicher war, ob die Patientin die Deutung, falls richtig, annehmen könnte. Ob nicht zutreffend oder nicht annehmbar – meine Befürchtung bestand darin, dass sie die Deutung als Angriff erleben könnte, als Angriff gegen sie, wo sie doch in dieser Zeit von allen Seiten Angriffen ausgesetzt war, auf der Arbeit, von ihrer Herkunftsfamilie, von ihrem damaligen Freund. Ich wollte also keine weitere Front gegen sie aufmachen. Ich fürchtete, dass ich mit dieser Deutung meine ihr

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haltgebende Funktion einschränken könnte, einen Halt, den sie so dringend brauchte. Eine Deutung ist also nicht richtig, wenn sie richtig ist, sondern wenn die richtige Deutung zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen wird, zum kairos, wie dies im Griechischen heißt; und wenn sie die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patientin nicht gefährdet. Ich bin zudem mit Deutungen vorsichtig, weil ich weder Alles­ wisser bin, noch als Besserwisser erscheinen will. Der psychothe­ rapeutischen Asymmetrie möchte ich aus dem Wege gehen. Eine Deutung ist für mich immer eine vorsichtige Suchbewegung. Die Patienten wissen, dass ich mit einer Deutung eher vorsichtig frage. Sie wissen, dass ich weiß, dass ich mich irren kann. Die imperiale Deutung gehört nicht zu meinem Wesen. Damit in Verbindung steht, dass ich um meine eigene Anfällig­ keit, um meine eigenen psychischen Konflikte weiß. Ich wähne mich nicht psychisch gesünder als meine Patientinnen. Ich kann vermutlich nur besser helfen. Ich würde es als entsetzlich anstrengend erleben, wenn ich in Psychotherapien unter Beweis stellen muss, dass ich der psychisch gesunde Psychotherapeut bin. So kann ich ganz entspannt in den Psychotherapien sitzen. Für die Patientinnen und Patienten besitzt das den Vorteil, sich nicht als pathologisiert zu begreifen: da der gesunde Psychotherapeut, dort die psychisch schwer kranken Patienten. Und sie können dann ihr Leiden besser annehmen und sich verzeihen. Sie müssen sich nicht mehr selbst vor Gericht stellen und verurteilen zu lebenslänglicher Haft, wenn es gut geht. Zurück zu Wöller und Kruse: Sie weisen darauf hin, dass es diverse »Sonderformen tiefenpsy­ chologisch fundierter Psychotherapie gibt«, die so auch in den Psy­ chotherapie-Richtlinien aufgeführt worden sind (ebd., S. 12). Von besonderem Interesse ist hier die »Niederfrequente Therapie in einer längerfristigen, Halt gewährenden therapeutischen Beziehung« (ebd., S. 12). Diese Sonderform trägt dem Umstand Rechnung, dass bestimmte Menschen längerfristig der Unterstützung bedürfen. Tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie bedeutet damit nicht automatisch, dass sie nach 25 Stunden beendet ist. Die bisher von mir vorgestellten Kasuistiken fallen alle in diese Rubrik. Sie brauchten alle »längerfristigen Halt«. Das, was das Werk von Wöller und Kruse auszeichnet, ist, dass der Psychotherapieverlauf verfolgt wird, etwa »Bevor die The­ rapie beginnt«, »Die Anfangsphase: Beziehungsaufbau und Problem­

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exposition«, etc. Zugleich wird auf diverse Patientengruppen, auf »Störungsspezifische Aspekte«, »Besondere Therapieformen« einge­ gangen. Summa summarum lässt sich sagen, dass für Wöller und Kruse die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eine Modifikation der Psychoanalyse darstellt, aber die Psychoanalyse die theoretischen und technischen Mittel für die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie bereitstellt. Diese lässt sich jedoch erweitern um andere Psy­ chotherapieverfahren. Ein weiteres Standardwerk: Boll-Klatt und Kohrs (2018) waren diejenigen, die ihrer Ver­ zweiflung Ausdruck verliehen, dass es keine klare Definition von tie­ fenpsychologisch fundierter Psychotherapie gab und gibt (S. 11). Und sie sprechen gar von einem »Geburtsfehler« (ebd., S. 12), von einem von der Psychoanalyse als ungeliebtes Kind empfundenem Psycho­ therapieverfahren, das dann nach etlichen Jahrzehnten »durchaus rebellisch« (ebd.) wurde und sich von der Psychoanalyse abzusetzen versuchte. Das, was Boll-Klatt und Kohrs hier beschreiben, kann als gute Zusammenfassung dessen verstanden werden, was in diesem Buch bisher über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und ihre Beziehung zur Psychoanalyse formuliert wurde: – – –

keine ausreichende wissenschaftliche Definition bei ihrer Grün­ dung, daher ein relativer Wildwuchs diverser Konzepte zu dieser Psy­ chotherapieform, Krieg zwischen diesen beiden Psychotherapieformen.

Im Großen und Ganzen bleiben Boll-Klatt und Kohrs auf dem Boden der Psychoanalyse. Zugleich gelingt es ihnen, in einigen Punkten die Eigenständigkeit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie herauszuarbeiten, etwa bei der Frage der Abstinenz des Psychothera­ peuten. Die traditionelle Psychoanalytikerin versteht darunter die Verde­ ckung der eigenen Persönlichkeit, auf dass sie reine Projektionsfläche für Übertragungen sein kann. Und sie versteht darunter eine nicht strukturierende Gesprächsform. Wenn der Patient hereinkommt, begrüßt sie ihn und verschwindet dann quasi hinter ihrem Sessel. Es bleibt dem Patienten überlassen, ob und was er erzählen will oder eben auch.

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Die beiden Autoren betonen dagegen, dass heute unter Absti­ nenz etwas anderes verstanden wird: »… der Verzicht auf die Verfol­ gung eigener bewusster oder unbewusster Bedürfnisse zu Lasten des Patienten ...« (ebd., S. 129) Mit dieser neuen Definition von Abstinenz kann der Psychotherapeut durchaus stärker das Gespräch strukturie­ ren. Dieses Standardwerk lässt sich so zusammenfassen, dass BollKlatt und Kohrs an einer Konfrontation zwischen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Psychoanalyse kein Interesse haben. Sie können eine relativ eigenständige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beschreiben, ohne massiver Kritik an der Psychoana­ lyse. Rudolf (2019) möchte mit seinem Buch »Psychodynamisch den­ ken – tiefenpsychologisch handeln« den »oft noch sehr jungen Thera­ peuten in Ausbildung« (S. XI) helfen, ihren Beruf besser ausüben zu können. Sie hätten oft geringe Erfahrungen mit Patienten und wenig Selbsterfahrung (ebd.). Rudolf zeichnet kein positives Bild von der Praxis der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie. Er hätte auch schreiben kön­ nen: »Diese jungen Psychotherapeuten haben einfach keine Ahnung. Zu denen würde ich niemals gehen.« Und in einem weiteren Manöver werden Vertreterinnen und Vertreter der Psychoanalyse kritisiert: »Manche sehen in der TP (tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie; A. d. A.) eine ›Psycho­ analyse light‹-Variante, für die man weniger profunde Kenntnisse benötigt und von der man weniger Effizienz erwartet.« (ebd., S. 4) Und schon wieder liegt die Vermutung nahe, dass sich zu Antei­ len die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie selbst so sieht, also eine negative Selbsteinschätzung vorliegt, die wiederum den Psychotherapieverlauf mitbestimmen kann, mitbestimmen wird. »In der Therapie sollte der Patient, unterstützt durch die Therapeutin - eigene Erfahrungen, Erinnerungen und Überzeugungen wahrneh­ men, - sich damit auseinandersetzen, - sie zukünftig in seinen Beziehungen berücksichtigen und verantwor­ ten.« (ebd., S. 49)

Von Deutung, Unbewusstem, Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand ist nicht mehr die Rede. Und die Psychotherapeutin unterstützt den Patienten nur noch. Sie steht ihm bei. Aber die genannten drei Punkte muss der Patient sich selbst erarbeiten.

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7.1 Zusammenfassung

7.1 Zusammenfassung Die Inhalte der Standardwerke machen klar, wie unterschiedlich sich die einzelnen Schulen der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie auf die Psychoanalyse beziehen. Einige sehen sich ganz klar in ihrem Fahrwasser. Andere beziehen sich so gut wie gar nicht mehr auf sie. Wir können damit eine Schlagzeile wiederholen: Die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie gibt es nicht! Unter diesem Label verbergen sich sehr unterschiedliche Konzepte. Wenn ein zentraler Befund der aktuellen Psychotherapiefor­ schung ist, dass nicht die Psychotherapiemethoden über den Erfolg / Misserfolg entscheiden, sondern die Kompetenz des Psychotherapeu­ ten, der Psychotherapeutin, dann ist der gesamte Methodenstreit im Grunde obsolet geworden. So hätten viele Standardwerke zu dieser Psychotherapieform quasi nicht geschrieben werden müssen. Und zentrale Fragen bleiben ausgeklammert, unbeantwortet: Hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie dasselbe See­ lenbild wie die Psychoanalyse? Oder unterscheidet es sich? Wenn ja, wie? Wie begreift diese Psychotherapieform psychische Entwick­ lung? Etc.

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8 Zwei exemplarische tiefenpsychologische Fälle – aus der Literatur

In dem genannten Lehrbuch von Jaeggi und Riegels (2018, S. 209ff) lernen wir eine Magdalena kennen. Sie ist 24 Jahre alt und anorek­ tisch. Zur ihrer Biographie wird berichtet, dass ihr Vater von ihr bewundert wird, im Mittelpunkt der Familie steht, die Mutter eher im Hintergrund, und ihr Bruder ein erfolgreicher Schüler war und nun in den USA studiert. Es wird beschrieben, dass sie strenge Essrituale entwickelt hat, aber auch: »Zum Beispiel war ihr aktives Erbrechen ritualisiert. Es durfte nur an einem bestimmten Ort ausgeführt werden und hatte eine bestimmte Abfolge. Am Ende stand eine Reinigung des ganzen Körpers mittels Duschgängen bis zu einer halben Stunde. In gewissen Abständen fand eine anale Reinigung mittels eines Klistiers bzw. mit Abführmitteln statt.« (ebd., S. 210)

Wir ahnen, was Freud dazu gesagt hätte: Magdalena lebt ihre Anale­ rotik, ein bisschen verdeckt über Säuberungen. Doch im Jahr 2018 ist dies kein Thema mehr, keine Sensation mehr, nichts, über das ausführlich zu reflektieren wäre. Nur der darauffolgende Absatz ließe sich als eine sehr indirekte Anerkennung des Freudschen Denkens interpretieren: »Ihre Sexualität lebte sie in gelegentlichen Masturba­ tionen.« (ebd.) Es gibt sie also noch: die Sexualität – ein bisschen. Und das Bisschen wird erzählt. Vermutlich wäre Freuds Gouvernante nicht einmal auf die Idee gekommen, dies zu tun, geschweige denn darüber zu berichten. Und die Person, die von diesem Fall erzählt, normalisiert dieses Tun. Masturbation ist heute selbstverständlich. Diese Falldarstellung ist insofern auch aufschlussreich, als keine Versuche gemacht werden, die Ursachen von Magdalenas Magersucht zu erklären. Die Falldarstellung erschöpft sich in Deskription. Ist das ein wichtiges Merkmal der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie?

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8 Zwei exemplarische tiefenpsychologische Fälle – aus der Literatur

Für mich persönlich ist das so: Wenn ich mir keine wie auch immer vorläufigen Gedanken zur Ätiologie mache, kann ich mit Pati­ enten nicht arbeiten. Ich versuche ja nicht einmal, sie zu verstehen. Ein weiterer Fall aus diesem Buch: »Bettina, eine 35-jährige verheiratete Betriebswirtin … kam wegen multipler Ängste, Schlafstörungen und wechselnder psychosomati­ scher Beschwerden … in die Therapie. Als ihr größtes Problem aber bezeichnete sie ihre Angst vor dem Abteilungsleiter ihrer Firma … (ebd., S. 219)

Und die Person, die diesen Fall darstellt, weiß zu berichten: »Die Patientin, eine attraktive, lebendige und liebenswürdige Frau, war mir sofort sympathisch.« (ebd.) Das passt perfekt zu dem, was weiter unten ausführlicher ausgeführt wird: Heutige Psychotherapie basiert auf einem Freundschaftsmodell. Diese Freundschaft könnte nahezu auf eine Partnerschaft hinauslaufen. Wichtig ist, dass die Patientin etwas Besonderes ist, eine besondere Freundin. Zu ihren Ängsten und Beschwerden werden »psychodynamische Überlegungen« geliefert: »Vermutlich handelt es sich um ein ödipal getöntes Problem: Die Patientin ›darf‹ nicht erfolgreich sein, um die Mutter nicht zu überflügeln. Der schwache Vater enttäuscht die Pati­ entin, Neid und Konkurrenzgefühle der Mutter erzeugen Schuldge­ fühle in ihr.« (ebd., S. 222) Schön ist die Beschreibung, dass das Prob­ lem »ödipal getönt« ist, also ein bisschen ödipal ist. Und was ist das andere, das Ungetönte? Nach Freud können Frauen keinen ÖdipusKomplex haben, nur einen elektralen. Aber das ist ja auch nicht so wichtig, oder? Ihr Sexleben wird deskriptiv skizziert: »mit 18 Jahren erster Geschlechtsverkehr« (ebd., S. 221) Was sollen wir mit dieser Infor­ mation anfangen? Ist das nun früh oder spät? War er schön? Zu dem Sex mit ihrem Ehemann berichtet sie: „›Wir sind oft sehr glücklich miteinander‹; ›Na ja, dass es nicht immer gleich schön ist, weiß man ja‹ …« Genauer daraufhin befragt meint sie, dass sie Sex ›nicht immer genießen‹ kann.« (ebd., S. 221f) Auch hier wären psychodynamische Überlegungen angebracht, warum dem so ist. Aber davon ist nichts geschrieben, als ob das der übliche Sex-Alltag ist. Heute. Es wird nur ein Punkt erläutert: Sie fände ihn erotisch nicht so attraktiv (ebd., S. 229). Wir dürfen uns dann fragen, warum sie ihn gewählt hat. Um ihn entwerten zu können? Um sich von ihm distanzieren zu können? Um von der körperlichen Nähe nicht allzu bedroht zu sein?

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8 Zwei exemplarische tiefenpsychologische Fälle – aus der Literatur

Und die Person, die den Fall vorstellt, schreibt: »Ich werde mehr und mehr hineingezogen in eine etwas süßlich anmutende Welt, in der es möglichst wenig Unangenehmes und Böses gibt. Das Vertrauen der Patientin in mich scheint groß, einige Male während der zwei Anamnesestunden sowie in den Probesitzungen sagt sie, wie glücklich sie sei, mich gefunden zu haben.« (ebd., S. 222) Wir wissen jetzt nur nicht, warum sich die behandelnde Person in eine süßliche Welt hin­ eingezogen fühlt. Ist das eine Manipulation von Seiten der Patientin, eine projektive Identifizierung im Sinne Melanie Klein? Und was bedeutet es, dass die Patientin von ihrem diesbezüglichen Glück spre­ chen muss? Glaubt sie, dass die behandelnde Person das braucht? Muss sie das Selbstwertgefühl der behandelnden Person stärken? Glaubt sie das tun zu müssen? Wir haben also einen Fall vor Augen, der Reste von Freud bewahrt (Ödipus, Sex), aber die freundschaftliche Beziehung in den Vordergrund rückt, ohne genauer zu klären, wie diese zustande kommt.

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9 Ein Fall Freuds

9.1 Warum Freud? Freud, dessen Anhänger Jaeggi und Riegels (2018) angeblich vorwer­ fen, nicht tolerieren zu wollen, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit Techniken aus anderen Psychotherapieverfahren nachgerüstet wird, muss vorgestellt werden, damit ersichtlich wird, wie sich das tiefenpsychologische fundierte Vorgehen von der tradi­ tionellen Psychoanalyse absetzen will – oder eben auch nicht abset­ zen will. Nur über Freud ist zu verstehen, was die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ausmacht. Das gilt selbst für einen Rudolf, der, wie eben gesehen, ein Psychotherapiekonzept vorstellt, das mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun hat. Aber genau dieses lässt sich als Absetzbewegung von der Psychoanalyse verstehen. Also auch für Rudolf muss die Psychoanalyse vorgestellt werden. In dem Kapitel »Die Inhalte der Standardwerke« wurde ja auch klar, dass sich die meisten Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie explizit auf die Psychoanalyse beziehen und von ihr viel an Theorie übernehmen, ohne sich speziell auf Freud zu beziehen. Es ist möglicherweise heute nicht mehr so bekannt, dass Freud der Sexualität eine große Bedeutung zumaß. Auch deshalb stand er in seiner Zeit im Zwielicht der Öffentlichkeit. Mit Darwin unterstrich Freud, dass der Mensch vom Tier abstammt und dass die Triebe Hunger, Sexualität und Aggression sein Leben stark beherrschen. So demontierte Freud die Idee des Menschen als überwiegend geisti­ gem Wesens. Heute dagegen: Im Register des Werkes von Jaeggi und Riegel taucht Sexualität nicht einmal mehr auf. Das kann daran liegen, dass die Sexualität insgesamt weniger Interesse hervorruft. Wer geht heute wegen seiner Sexualität zur Psychotherapie? Quasi niemand (siehe weiter oben).

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9 Ein Fall Freuds

Es könnte aber auch sein, dass sich über dieses Aussparen die tie­ fenpsychologische fundierte Psychotherapie von der Psychoanalyse abgrenzt. Sexualität – das war gestern. Psychoanalyse – das war gestern. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beweist letztlich mit ihrem Hintanstellen der Sexualität, dass sie auf der Höhe der Zeit ist.

9.2 Miss Lucy R. Um Freud besser zu verstehen, ist es sinnvoll, eine Fallgeschichte von ihm kennenzulernen. Wir nehmen »Miss Lucy R., dreißig Jahr« (Freud 1999, S. 163). »Sie hatte die Geruchswahrnehmung völlig eingebüßt und wurde von ein oder zwei subjektiven Geruchsempfindungen fast unausgesetzt verfolgt. Sie empfand diesselben sehr peinlich, war außerdem in ihrer Stimmung gedrückt, müde, klagte über schweren Kopf, verminderte Esslust und Leistungsfähigkeit.« (ebd.)

Das Einzige, was hier an sexuelle Konflikte erinnern könnte, wäre das Adjektiv »peinlich«. Abgesehen von den seltsamen »Geruchs­ empfindungen«, könnten wir noch auf eine depressive, somatisierte Verstimmung tippen. »Die junge Dame, die als Gouvernante im Hause eines Fabrik­ direktors im erweiterten Wien lebte, besuchte mich von Zeit zu Zeit in meiner Ordinationsstunde. Sie war Engländerin, von zarter Konstitution …« (ebd.) Gleich fünf Polarisierungen stecken in diesem Satz: Frau – Mann, jung – alt, arm – reich, zart – robust, Engländerin – Österreicher. Freud beschreibt so die junge Gouvernante als das ganz andere, ganz anders als der Fabrikdirektor und ganz anders als Freud selbst. Eigentlich ist es gar nicht möglich, dass Freud sie versteht, weil sie so anders ist. Aber mit der Psychoanalyse wird das ganz Fremde verständlich. Das will Freud eigentlich mitteilen. Freud gibt nach langem Hin und Her eine Deutung: »… ich ver­ mute vielmehr, dass Sie in Ihren Herrn, den Direktor verliebt sind, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, dass Sie die Hoffnung in sich nähren, tatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen …« (ebd., S. 175) Ihre Antwort: »Ja, ich glaube, es ist so.« (ebd.) Für Freud hat sie eine Hysterie. Sie muss ihre Liebesgefühle verdrängen, weil es in ihren Augen nicht statthaft ist, in den Hausher­

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9.3 Miss Lucy R. in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

ren verliebt zu sein. Ihr Über-Ich lässt ihre Es-Impulse nicht zu. Die Liebesgefühle verwandeln sich in neurotische Symptome (Ausfall der Geruchswahrnehmung), als ein bestimmter Geruch in der Luft liegt (der Hausherr raucht), und sie in diesem Augenblick mitbekommt, dass sie in ihn verliebt ist, was sie nicht tolerieren kann. Einige Stunden nach Freuds Deutung ist sie wie verwandelt. Es hat ihr enorm geholfen herauszufinden, was bei ihr los ist. Wichtig ist: Sie muss keinen Sex mit dem Hausherrn haben, um heiter zu sein. »Gewiss, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will.« (ebd., S. 180)

9.3 Miss Lucy R. in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Angenommen, die Gouvernante wäre heute ein Au-pair-Mädchen, dann bekäme sie gewiss keine hysterischen Symptome, wenn sie in den Fabrikdirektor verliebt wäre. Sie kann sich diese Impulse ohne weiteres zugestehen. Sex hat sich ja heute im Vergleich zur Zeit Freuds liberalisiert. Jeder darf mit jeder, außer selbstverständlich mit Kindern und Jugendlichen. So müsste das Über-Ich des Au-pairMädchens nichts gegen ihre Sex-Impulse haben. Sie könnte sich eventuell darüber nur sehr ärgern, dass er nicht will. Das würde sie gar nicht einsehen. Sie ginge zu einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und würde ihrem Unmut Luft machen. Der Psychotherapeut würde dann vielleicht zu ihr sagen: »Sie können Recht haben, dass er Sie sehr mag. Aber Sie müssen auch verstehen, dass es für ihn nicht geht, etwas mit dem Kindermädchen anzustellen. Was würden die Kinder denken? Und Sie sagen ja auch, dass er seine Frau liebt. Und: Falls Sie eine Nacht zusammen verbrin­ gen, dann wäre es vermutlich die erste und die letzte Nacht gewesen. Und dann würden Sie noch mehr leiden.«

In der darauf folgenden Stunde würde sie sagen: »Sie hatten Recht. Das war eine Schnapsidee von mir. Ich muss nur an den Altersun­ terschied denken …« Als sie das sagt, lächelt sie ein wenig schuldbe­ wusst. Aber die Erleichterung überwiegt. Die Behandlung von Hysterie, die bei Freud quasi Ewigkeiten dauert, ist also bei diesem Beispiel auf 55 Minuten reduziert: In

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9 Ein Fall Freuds

einer Behandlungsstunde wird darüber gesprochen, in der nächsten braucht die junge Frau nur noch 5 Minuten, um anzusprechen, wie es ausgegangen ist. Die Sexualität hat sich also entdramatisiert. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie findet darauf die passende Antwort. Sie spielt in dieser Psychotherapieform gewiss nicht mehr die Hauptrolle. Aber andere Interpretationen können auch genannt werden. Vincent (1993) liefert eine historische Einordnung, warum das eben erwähnte Kindermädchen heute keine Skrupel haben würde, das Bett mit dem Fabrikbesitzer zu teilen, dies dann aber aus pragmatischen Gründen unterlässt: »Das wichtigste Ereignis der letzten Jahrzehnte im privaten Leben der Westeuropäer war vermutlich die Entfaltung einer Erotik, die mit dem jüdisch-christlichen Kultursystem nichts mehr gemeinsam hatte – ein Vorgang, der sich in jenem Dunstkreis des Zotigen und Jauchigen abspielte …« (S. 307)

Dieses von ihm genannte »Kultursystem« trachtete stets danach, die Sexualität zu reglementieren. Körperliche Lust wurde nicht primär als wünschenswert angesehen. Heute ist es im Sinne Vincents genau umgekehrt: Wir sind gleichsam verpflichtet, unsere sexuelle Lust zu maximalisieren, je mehr, umso besser. Mit der Zeit Freuds hat das nichts mehr zu tun. Das eben erwähnte Au-Pair-Mädchen heutiger Zeit würde also von ihrem tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten dazu angeregt werden, ein bisschen zum alten Kultursystem im Sinne Vincents zurückzukehren, nicht in den »Dunstkreis des Zotigen und Jauchigen« einzutreten. Der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie käme in die­ ser Perspektive die Aufgabe zu, dem Au-Pair-Mädchen zu helfen, nicht aus dieser Familie herausgeschmissen zu werden – wegen des potenziellen Sexes mit dem Vater des Kindes, das sie betreut. Dieser Psychotherapieform wäre so gemeinschafts- und kulturstiftend, im guten Sinne konservativ. Diese Psychotherapieform bleibt in dieser Hinsicht im Fahrwasser der Psychoanalyse. Freud hätte die Gouver­ nante niemals gedrängt, Sex mit dem Fabrikbesitzer zu haben. Freud bestand darauf, die Kraft der Triebe anzuerkennen, aber nicht darauf, sie schlicht umzusetzen. Und diese Schlussfolgerung ist auch dann gültig, wenn wir nicht vom »Zotigen und Jauchigen« ausgehen, sondern einfach von einer liberalisierten Sexualität, der es guttut, nicht stets gelebt zu werden.

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9.4 Zusammenfassung

9.4 Zusammenfassung Miss Lucy R. gibt es heute nicht mehr, so gut wie nicht mehr. Ein kultureller Wandel hat stattgefunden. Die Sexualität hat sich liberalisiert, weswegen sie kein oder ein geringes Thema in der Psychotherapie ist, weswegen die gute alte Psychoanalyse heute kaum noch in Anspruch genommen wird. Das bedeutet nicht, dass sie die schlechtere Psychotherapie ist, sondern einfach weniger gefragt ist. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie berücksichtigt die Liberalisierung der Sexualität dergestalt, dass das Thema Sex bei ihr kein zentrales ist. Zugleich kann sie wie bei dem Au-Pair-Mädchen gemeinschaftskulturstiftend wirken. Mit ihrer Unterstützung kann abgewogen werden, ob es besser ist, einfach Sex zu haben, mit wem auch immer, oder ob es perspektivisch einfacher ist, auf ihn zu verzichten und so etwa die eigene Arbeit zu erhalten.

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10 Psychosexuelle Phasen

Freud hat die wissenschaftliche Öffentlichkeit erschüttert, als er darüber sprach und schrieb, dass das Kleinkind psychosexuelle Phasen durchläuft: die orale, die anale, die phallisch-genitale. Dieses Modell der Phasenlehre wurde als schiere Provokation begriffen, machte sie doch aus dem geistigen Wesen Mensch ein zumindest zu Anteilen ekelerregendes Tier. Das betrifft zuvörderst die anale Phase. Wir wollen diesbezüglich Freud nun auch ausführlicher vorstel­ len, um den Kontrast darzustellen, der zwischen der Freudschen Psy­ choanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besteht, die mit dem Sex, insbesondere mit der analen Phase, nichts am Hut hat, haben will.

10.1 Anale Phase In der Veröffentlichung »Charakter und Analerotik« (1999, Band 7) skizziert Freud die Charaktereigenschaften »ordentlich, sparsam und eigensinnig« (S. 203). „›Ordentlich‹ begreift sowohl die körperliche Sauberkeit als auch Gewissenhaftigkeit in kleinen Pflichterfüllungen und Verlässlichkeit; das Gegenteil davon wäre: unordentlich, nachlässig. Die Sparsamkeit kann bis zum Geize gesteigert erscheinen; der Eigensinn geht in Trotz über, an den sich leicht Neigung zur Wut und Rachsucht knüpfen.« (ebd., S. 203)

Und auf was führt Freud diese Persönlichkeitseigenschaften zurück? Auf die anale Phase! Diese Persönlichkeitseigenschaften entstehen seiner Meinung nach durch Sublimierung, durch Umwandlung sexu­ eller Impulse, hier analer Impulse, in Geistiges. »Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten des Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung und im Sinne unserer heutigen Kulturerzie­ hung für sexuelle Zwecke unverwendbar werden, läge es nahe, in den bei ehemaligen Analerotikern so häufig hervortretenden Charakterei­

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10 Psychosexuelle Phasen

genschaften – Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn – die nächs­ ten und konstantesten Ergebnisse der Sublimierung der Analerotik zu erkennen.« (ebd., S. 205)

Wir halten fest: Freud führt Persönlichkeitseigenschaften auf Triebe zurück, auf deren Umwandlung durch Sublimierung. Und nach ihm muss die Analerotik umgewandelt werden, weil unsere Gesellschaft ihr Ausleben nicht duldet. Und was ist für ihn Analerotik? »Sie scheinen zu jenen Säuglingen gehört zu haben, die sich weigern, den Darm zu entleeren, wenn sie auf den Topf gesetzt werden, weil sie aus der Defäkation einen Lustnebengewinn beziehen; denn sie geben an, dass es ihnen noch in etwas späteren Jahren Vergnügen bereitet hat, den Stuhl zurückzuhalten …« (ebd., S. 204)

10.2 Sex heute – Beispiele aus der Praxis Jetzt wissen wir genau, was tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie nicht ist. Sie fokussiert nicht die Triebe, schon gar nicht die Analerotik im Sinne Freuds. Sie will genau das nicht. In Zeiten der immer zugänglichen digitalen Pornographie schiebt sie der liberalisierten Sexualität einen Riegel vor und gibt damit unmissverständlich zum Ausdruck: Der Mensch ist mehr als ein Tier. In einer anderen Perspektive, der der Patientinnen und Patienten, ließe sich sagen: In einer Gesellschaft der liberalisierten Sexualität ist sie in der Psychotherapie kein oder kaum Thema. Die Patientinnen und Patienten sind froh, nicht mehr auf Sex-Affen reduziert zu werden, und die traditionelle Psychoanalyse eines Freuds könnte ja dem Verdacht ausgesetzt werden, zu sehr auf die Sex-Affen fokussiert zu haben. Aus meiner persönlichen Erfahrung als Psychotherapeut kann ich das vollkommen bestätigen. Der Sex ist, wenn überhaupt, Thema in einem Nebensatz. Wenn er auftaucht, dann in der Regel im Kontext einer erfahrenen sexuellen Grenzverletzung, die benannt, aber in der Regel nicht näher ausgeführt wird. Diese Benennung kann bedeuten, dass mir als Psychotherapeuten zugetraut wird, von diesen Grenzver­ letzungen hören zu können, ohne davon laufen zu müssen. Zugleich können diese sexuellen Grenzverletzungen dann ein Stück weit bei mir deponiert werden, was für Patientinnen und Patienten entlastend sein kann. Entscheidend bei dieser Thematisierung der Sexualität und

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10.2 Sex heute – Beispiele aus der Praxis

den sexuellen Grenzverletzungen ist, dass ich nicht näher frage, was passiert ist. Dies könnte mir als Voyeurismus ausgelegt werden, dass es mir Spaß macht, Einzelheiten detailliert zu erfahren. Aber ich muss nicht so tun, als wolle ich die Details nicht wissen. Mein Taktgefühl verbietet es mir nachzuhaken. Zudem können mit den eben erwähnten Nebensätzen zur Sexua­ lität alltagstaugliche Lösungen entwickelt werden. Hierzu ein Beispiel: Ein Arzt als Patient erzählt mir in den probatorischen Sitzungen, dass er in seinem Urlaub vielfach ungeschützten Sex gehabt habe. Ich brauche ihm, dem Arzt, in Zeiten der HIV-Infektion nicht erklären, dass das sehr riskant ist. Hätte ich darauf hingewiesen, dann hätte er gedacht, dass ich ihn für dumm erkläre. Er hätte sich über mich sehr geärgert. Was bewirkt seine Mitteilung? Ihm wird ganz im Sinne Freuds bewusst, dass er so nicht mehr handeln kann. Und er wird so nicht mehr handeln. Auch das versichert er mir in einem Nebensatz Stun­ den später. Ein anderes Beispiel: Eine Patientin ist als Schülerin im Bus auf dem Weg zur Schule immer wieder von einem Mitfahrer unsittlich berührt worden. Sie steigt weinend aus, erzählt es der Mutter, die sich dafür nicht interes­ siert, weswegen sich dieser Missbrauch mehrfach wiederholt. Die Patientin berichtete mir davon, um mir mitzuteilen, wie wenig ihre Mutter für sie da war. Sie beginnt nach der Erwähnung des Missbrauchs bei mir, sich Freunde zu suchen, die einfach für sie da sind. Das ist für diese Patientin eine Revolution. Sie sucht sich nicht mehr Freunde aus, die ähnlich wie Mutter sind, sondern eben anders. Noch ein Beispiel: In einem Auslandssemester wird eine Studentin vergewaltigt. Sie erzählt mir dies, um mir klar zu machen, wie wenig sie früher sich schützen konnte. Sie hätte, um die Vergewaltigung verhindern zu kön­ nen, laut schreien können; die Vergewaltigung fand in der Wohnung ihrer Gasteltern statt, aber sie traute sich nicht, diese aufzuwecken. Sie berichtet davon, um sich klar zu machen, wie wenig sie sich früher um sich kümmern konnte. Sie lernt aus ihrer Geschichte. Sie würde heute sehr laut schreien und keine Rücksicht mehr nehmen. Was gewinnen wir aus diesen kleinen Kasuistiken? Der Arzt erzählt nicht von den Freuden des anonymen Sexes, auch nicht davon, dass er dies unbewusst sich wünscht, sondern von

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10 Psychosexuelle Phasen

einem sehr geringen Selbstwertgefühl, das ihn daran hindert, sich zu schützen. Die Patientin, die im Bus unsittlich berührt wird, teilt mir mit, wie entsetzlich das für sie war. Vor allem weiß sie zu berichten, dass Mutter das überhaupt nicht interessierte. Die andere Patientin bekommt mit, dass sie früher alles mit sich machen ließ, weil sie eben rücksichtsvoll sein wollte, weil sie es gewohnt war, sich zur Verfügung zu stellen. Wir lernen also, dass die Berichte über Sex im Nebensatz die Pati­ entinnen und Patienten dazu veranlasst, sich besser wahrzunehmen und Gutes für sich zu lernen. Und der Sex ist, wie vielfach erwähnt, gewiss nicht mehr das große Theater wie zu Freuds Zeiten. Ein weiteres Beispiel zur Rolle der Sexualität in der tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie: Eine Patientin hat ungewöhnlich wenig Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung als Kind von ihren Eltern bekommen. Statt­ dessen musste sie unentwegt quasi als Mutter für ihre Mutter da sein. Wie kompensiert sie die fehlende Aufmerksamkeit in ihrer Kindheit? Sie glaubt, mit Sex Anerkennung zu bekommen. Mit ihrem Reitlehrer fängt sie Sex an, als sie zwölf Jahre alt ist. Danach hat sie zahllose sexuelle Geschichten. Irgendwann im Verlauf der Psychotherapie fordert sie von mir Sex ein. Bedingungslos! Ich denke nicht daran, dies zu tun. Und sie kann es auch nur einfordern, weil sie weiß, dass ich das niemals tun würde. Als ihre Wut über ihr vergebliches Einfordern vorbei ist, weiß sie, dass sie mir vertrauen kann. Sie beginnt, sich auf eine wunderbare Weise zu entwickeln. Mit Freuds Vorstellungen vom Sex hat diese letzte kleine Kasu­ istik wenig zu tun. Sie hat keine unbewussten sexuellen Wünsche, die bewusst werden müssen, um sich nicht in neurotische Symptome zu verwandeln. Ihr vermeintliches Begehren mir gegenüber ist ein Psychotest mit mir. Erst wenn ich ihn bestehe, vertraut sie mir. Die Sexualität wird also von ihr instrumentalisiert, bei mir für den Psychotest, bei den Sexualpartnern, um einen Hauch von emotionaler Anerkennung zu bekommen. In dieser Perspektive hätte sie keinen traditionellen neurotischen Konflikt im Sinne Freuds, vielmehr führen ihre strukturellen Ich-Defi­ zite zu dieser Praxis der Sexualität. Sie hat nur eine dunkle Ahnung davon, dass ihr bedürftiges Ich von ihr sehr ungern gesehen wird, also

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10.3 Anale Phase nach Freud – und heute

abgespalten wird, und mit der vermeintlichen Anerkennung qua Sex abgespeist wird. So hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zumin­ dest zu Anteilen ein vollkommen anderes Verhältnis zur Sexualität als Freud. Aber nur zu Anteilen! Die Freudsche Sexualität ist nicht ganz tot. Dazu eine Fallgeschichte: Über den Freundeskreis kommt eine Gymnasial-Lehrerin zu mir in die Beratung. Sie ist vollkommen verzweifelt und ratlos, weil sie in einer bestimmten Schulklasse seit ein paar Wochen sofort panisch wird, wenn sie reinkommt, mit den Händen zittert, abgehackt spricht. Ich frage sie, was das Besondere an dieser Schulklasse ist. Sie überlegt hin und her, bis ihr klar wird, dass sie als lesbische Frau in eine Schülerin verliebt ist, das aber für sie unannehmbar ist, vollkommen unannehmbar. Ich sage ihr, dass die Liebe auch dorthin fallen kann, wo sie nicht hinfallen soll. Das erleichtert sie sehr. Schon im nächsten Gespräch kann sie mir berichten, dass die Panik weg ist. Sie hat akzeptiert, dass sie verliebt ist. Und selbstverständlich muss sie dies nicht ausleben. Das ist also ein ähnlicher Fall wie der der Gouvernante von Freud. Und diese Beratung dauerte nur drei Stunden.

10.3 Anale Phase nach Freud – und heute Zurück zu Freud und seine Sicht auf die psychosexuellen Phasen, zur analen Phase: »In Wahrheit ist überall, wo die archaische Denkweise herrschend war oder geblieben ist, in den alten Kulturen, im Mythos, Märchen, Aber­ glauben, im unbewussten Denken, im Träume und in der Neurose das Geld in innigste Beziehungen zum Drecke gebracht.« (ebd., S. 207)

In der Begierde nach Geld und Gold bahnt sich die Analerotik ihre verdeckte Umsetzung. Und Freud entwickelt hier möglicherweise eine latente Kapitalismus-Kritik, die von der 68er Generation gerne aufgegriffen worden ist: Das Verlangen nach Geld ist das nach dem Spiel mit dem Kot. Die Analerotik schafft im Sinne Freuds nicht nur bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, sondern begünstigt auch die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Wirtschaftssystems. Auch wenn Freud betont, dass diese Gleichsetzung von Geld und Kot schon immer in der Menschheitsgeschichte vorhanden war, so

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10 Psychosexuelle Phasen

ist dennoch nicht zu übersehen, dass im Kapitalismus die Warenpro­ duktion und der Gelderwerb eine besondere Rolle spielt, etwa im Vergleich mit dem Feudalismus (Ständegesellschaft). Um den Vergleich zwischen der Zeit Freuds und der von heute zu ermöglichen, kann und soll Sigusch, »einer der angesehensten Sexualwissenschaftler weltweit« (Klappentext) zitiert werden. Wir lesen unter der Überschrift »Analerotik«: »Während früher analerotische Praktiken der Erwachsenen, insbeson­ dere der Analkuss … und der anale Geschlechtsverkehr zu den soge­ nannten sexuellen Perversionen zählten, gehören sie heute in den westlichen Ländern zum normalen Sexualleben. Insbesondere hetero­ sexuelle Männer sind nach Erfahrungen von Experten sehr erstaunt und berührt, wenn sie eher zufällig erstmalig erleben, wie angenehm und erregend de Stimulation der Analregion sein kann.« (2016, S. 22)

Wenn das keinen Aufforderungscharakter hat: Heterosexuelle Män­ ner! Überwindet endlich Eure Vorurteile bezüglich dieser Erregung! Ihr geltet nicht als latent schwul, wenn Ihr es macht. Es ist einfach so normal wie zum Frühstück Kaffee oder Tee trinken. Dieses Zitat macht besonders deutlich, wie sich die Sexualität liberalisiert, normalisiert, aber auch banalisiert hat. Sie könnte so auch ein gewisses Gähnen auslösen. Die Hintanstellung der Sexualität in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie soll genau dieses Gähnen verhindern.

10.4 Zusammenfassung Zu Freuds Zeiten waren sexuelle Triebe etwas Ungeheuerliches. Dann reklamiert Freud auch noch eine anale Phase, eine anale Lust, und leitet daraus Persönlichkeitseigenschaften ab. Keine andere Persönlichkeitspsychologie hätte gewagt, dies zu tun. Daher sind heute fast alle eher glücklich darüber, dass die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie der Psychoanalyse den Rang abgelaufen hat. Das Anale hat sich so aus der Geschichte tendenziell verabschiedet. Wir Menschen sind wieder überwiegend geistige Wesen, die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben, mit dem Chef, mit der Chefin nicht zurechtkommen, die traurig darüber sind, dass die Partnerin, der Partner so wenig Zeit für die Partnerschaft

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10.4 Zusammenfassung

hat, was allerdings auch verständlich ist, weil seine, ihre Arbeit so unendlich stressig ist. Aber das lässt sich gut in einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie klären. Wenn ein Patient in einer tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie mitteilen würde, dass er mit bestimmten sexuellen Prak­ tiken Schwierigkeiten hat, dann würde ihm die Psychotherapeutin sagen, dass es seine Freiheit sei, das im Bett zu tun, was ihm gefällt und nicht etwas zu machen, was er im Grunde gar nicht will. Damit wäre das Thema erledigt.

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

In einer »Editorische Vorbemerkung« zur »Studienausgabe« von Freuds Werken in Band 1 »Vorlesungen zur Einführung in die Psy­ choanalyse Und Neue Folge« (1999) wird festgehalten, dass diese Vorlesungen »das gesamte Gebiet seiner Beobachtungen und Theo­ rien in Abriss enthalten.« (S. 34) So können wir von Glück reden, dass wir mit dem Rezipieren der Vorlesungen quasi den ganzen Freud haben. Dann können wir weiter klären, was von diesem Freud in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie heutiger Tage übrig­ geblieben ist oder eben auch nicht.

11.1 Direkte Kommunikation Gleich einer Revolution spricht Freud zu Beginn seiner Vorlesungen die Hörerinnen und Hörer direkt an und skizziert ein Bild, wie diese wohl auf seine Vorlesung reagieren könnten. Er geht also sofort in Kontakt. Er bedenkt eine Beziehung, die seiner Meinung nach die Aufnahme seiner Worte mitbestimmt. Damit nimmt er vorweg, was Watzlawick, Beavin, Jackson (1973) Jahrzehnte später als neue Erkenntnis ausgeben, als zweites Axiom ihrer systemischen Kommu­ nikationstheorie: Die Beziehung geht vor dem Inhalt. Die Beziehung bestimmt, welche Inhalte kommuniziert und rezipiert werden. Ironie der Geschichte hierbei. Watzlawick war zuerst Psychoana­ lytiker, bevor er sich entschieden davon abgesetzt hat (Köhler-Lude­ scher 2014). Was teilt Freud in freier Rede seinen Studierenden mit? »Ich werde ihnen zeigen, wie die ganze Richtung Ihrer Vorbildung und alle Ihre Denkgewohnheiten Sie unvermeidlich zu Gegnern der Psy­ choanalyse machen müssten und wie viel Sie an sich zu überwinden hätten, um dieser instinktiven Gegnerschaft Herr zu werden.« (1999, S. 41)

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

Freud demonstriert hier Verständnis für die, die ihm zuhören, nimmt ihre potenzielle Gegnerschaft vorweg und provoziert sie zugleich ein wenig, indem er ihnen indirekt sagt: »Rückt doch ein wenig ab von Eurem gewohnten Denken!« All diejenigen, die in sich diese »instinktive Gegnerschaft« zur Psychoanalyse haben, könnten jetzt ein wenig aufhorchen und darüber nachdenken, ob Freud doch ein wenig Recht hat. Freud arbeitet also mit dieser Kontaktaufnahme therapeutisch mit den Studierenden. Er ist darum bemüht, ihre festgefrorenen Denkschablonen zu überwinden. Er tut etwas, was in der Verhaltenstherapie als kognitive Umstrukturierung bezeichnet wird. Er tut also etwas, das seine Nach­ folger in den Augen der Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ablehnen: Integration anderer Psychotherapiemetho­ den. Zugestanden: Zu Freuds Zeiten gab es noch keine kognitive Verhaltenstherapie. Freud offenbart eine spielerische Intelligenz und operiert mit einer spielerischen Intelligenz. Er rückt vom traditionel­ len Kommunikationsmodell ab, das davon ausgeht, dass ein Sender eine Information an den Empfänger schickt, ein unilineares Kommu­ nikationsmodell. Das ist auch das traditionelle Vorlesungsmodell: Der Professor handelt ein bestimmtes Thema ab; er fragt nicht, was wie ankommt, vielmehr reißt er seinen Stoff runter; und die Studierenden haben das zu kapieren; falls nicht, fallen sie in den Augen des Professors zu Recht in der Prüfung durch. Punkt! Ganz anders Freud. Er begreift Kommunikation als gemeinsame Aushandlung, als gemeinsame Sinnkonstruktion, und ist damit auf der Höhe aktueller Kommunikationstheorie, ca. 100 Jahre vor ihr. »Wenn Menschen miteinander kommunizieren, so regen sie sich (intendiert oder unreflektiert) wechselseitig an, Vorstellungen, Bilder, Konstruktionen über die Wirklichkeit zu produzieren. Nicht immer decken sich Vorstellungen, Bilder und Konstruktionen der beteiligten Kommunikationspartner. Oftmals scheint es eher so zu sein, als rede­ ten die Beteiligten aneinander vorbei. Dennoch, auch in diesem Falle haben wir es mit Kommunikation zu tun.« Frindte und Geschke 2019, S. 28)

Und genau dieses potenzielle Aneinander-Vorbeireden greift Freud explizit auf. Er unterstellt denjenigen, die ihm in der Vorlesung lauschen oder eben auch nicht lauschen können, dass es ihnen schwer­

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11.2 Das Unbewusste

fallen dürfte, die Psychoanalyse zu verstehen – weil sie einfach nicht in deren Zeit passt, und es sogar für sie gefährlich sein könnte, die Psychoanalyse für gut zu befinden oder sie als Beruf zu wählen. »Wie die Dinge derzeit stehen, würde er sich durch eine solche Berufs­ wahl jede Möglichkeit eines Erfolges an einer Universität zerstören, und wenn er als ausübender Arzt ins Leben geht, wird er sich in einer Gesellschaft finden, welche seine Bestrebungen nicht versteht, ihn misstrauisch und feindselig betrachtet und alle bösen, in ihr lauernden Geister gegen ihn loslässt.« (Freud 1999, S. 42)

Nach Freud passt die Psychoanalyse nicht in seine Zeit. Daher ist es für ihn auch nicht denkbar, dass die große Mehrheit seiner Zuhörenden die Psychoanalyse als interessant und gut befindet, dass sie ihn versteht oder zumindest zu verstehen versucht. Wir sehen damit, dass eine bestimmte Epoche, eine bestimmte Kultur die Kommunika­ tion bestimmt. Deshalb kann Freud niemand verstehen, darf Freud niemand verstehen. An dieser Zeitdiagnose hat sich diesbezüglich übrigens nicht viel geändert. Wer weltweit in den Disziplinen Psychologie oder Medizin auf dem Gebiet der Psychotherapie universitär etwas werden will, sollte sich eher für Verhaltenstherapie entscheiden und weniger für die Psychoanalyse – oder eher auch für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Wir sehen damit, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie insgesamt vorsichtiger und weniger provokant als die Psychoanalyse ist und damit gesellschaftlich akzeptabler ist. Daher ist es unter anderem nicht verwunderlich, wenn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als Kassenleistung viel stärker in Anspruch genommen wird als die Psychoanalyse. »Vorsichtiger« lässt sich auch übersetzen als offener, etwa offener bezüglich der Methoden anderer Psychotherapieverfahren. »Vorsich­ tiger« meint insbesondere, den Menschen nicht mit dem Tier gleich­ zusetzen, den Sex nicht in den Vordergrund rücken, das Unbewusste nicht so stark zu fokussieren, die Patientin nicht zum Kleinkind werden zu lassen (Regression).

11.2 Das Unbewusste Wir werden nun exemplarisch über seine Vorlesungen schauen, warum Freud so viel Gegnerschaft auslöst. Bis heute. Noch in der

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

Einleitung zu den Vorlesungen kommt er auf etwas zu sprechen, was die Psychoanalyse zum Feind gemacht hat: »Die erste dieser unliebsamen Behauptungen der Psychoanalyse besagt, dass die seelischen Vorgänge an und für sich unbewusst sind und die bewussten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelen­ lebens. Erinnern Sie sich, dass wir im Gegenteile gewöhnt sind, Psy­ chisches und Bewusstes zu identifizieren. Das Bewusstsein gilt uns geradezu als der definierende Charakter des Psychischen, Psychologie als die Lehre von den Inhalten des Bewusstseins.« (ebd., S. 47)

Freuds Vorstellung von Psychologie stürzt das menschliche Subjekt der Aufklärung vom Thron. Nach Kant, und nicht nur für ihn, ist der Mensch von Verstand und Wille bestimmt. Damit ist die menschliche Psyche theoretisch grandios leistungsfähig. Ihren Körper und ihre Lei­ denschaften hat sie voll im Griff (vgl. Klotter 2021). Für Freud dagegen ist der Mensch nicht Herr im eigenen Haus. Wie schrecklich! Wie demütigend! Wie klar, dass die Psychoanalyse der Feind schlechthin war und ist! Das aufgeklärte Subjekt will etwas, was auch sehr vernünftig ist, und tut dies auch. Das Freudsche Subjekt will auch etwas. Von der Realisierung des Wollens ist es aber zuweilen meilenweit entfernt. Und auch mit dieser Vorstellung vom Menschen ist Freud seiner Zeit in gewisser Weise weit voraus. Jahrzehnte später können die Neurowissenschaften, mit denen etwa das Gehirn gescannt wird, empirisch bestätigen, dass der Mensch stark vom unbewussten Vor­ gängen bestimmt wird (Roth 2001, Roth und Strüber 2014). Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie als angemessener Kompromiss: Sie verneint das Unbewusste nicht, setzt aber darauf, dass Menschen mit der Unterstützung in der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie ihr Leben meistern können. Diese Psychotherapie integriert also Freud und Kant. Jetzt wissen wir, warum sie so erfolgreich ist. Sie denkt quasi nie nur das eine, sondern fast immer das eine und das andere.

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11.3 Ein Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?

11.3 Ein Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? Zurück zu den Vorlesungen Freuds: Und Freuds Vorlesungen setzen sich fort mit relativ harmlosen, wenig provozierenden Themen: Fehlleistungen und dem Traum. Und sie werden auf mehr als 200 Seiten ausgeführt. Zu vermuten ist, dass sie beim Leser eine somnambule Wirkung zeitigen. Dann erzählt Freud eine Fallgeschichte, die heute auch eine aus einer traditionellen Frauenzeitschrift sein könnte. Eine 53jährige, glücklich verheiratete, wohlhabende Frau erhält einen anonymen Brief, in dem behauptet wird, ihr Mann habe ein Verhältnis zu einer jungen Frau. Sie glaubt das zwar zum einen nicht, zum anderen entwickelt sie einen Eifersuchtswahn, dem sie nicht beikommen kann. In den Leserbriefen einer Frauenzeitschrift von heute würde dieser Frau Mitgefühl entgegengebracht werden. Mit dem ist bei Freud nicht zu rechnen: »Das ist ja wirklich schlimm. Das ist ja mehr als verständlich, dass Du leidest und wie sehr Du leidest!« Die Patientin Freuds will, so die weitere Falldarstellung, von Psychoanalyse nichts wissen, weil sie etwas von sich nicht wissen will: »Es bestand bei ihr selbst eine intensive Verliebtheit in einen jungen Mann … Von dieser Verliebtheit wusste sie nichts oder vielleicht nur sehr wenig … Eine solche Verliebtheit konnte als etwas Ungeheuerli­ ches, Unmögliches nicht bewusst werden.« (Freud 1999, S. 253)

So greift sie zu einem »Verschiebungsmechanismus« (ebd.), um sich zu entlasten, um weiter verdrängen zu können. Sie unterstellt ihrem Mann das Begehren, das das ihre ist. Und selbstredend lässt sich diese Verschiebung mit dem Instan­ zenmodell der Psyche nach Freud erklären. Die Frau begehrt einen jungen Mann. Und dieses Begehren gestattet sie sich nicht. Ihr ÜberIch, das aus einer Verinnerlichung gesellschaftlicher moralischer Gebote besteht, duldet in keiner Weise, dass ihr Es am Ende gar Sex mit dem jungen Mann haben will. Heute hat sich die Sexualität, wie des Öfteren erwähnt, liberali­ siert. Damit ist das Über-Ich weniger streng und hat eventuell weniger oder keine Bedenken wegen des möglichen Sexes. Und vielleicht wäre eine 53jährige Frau unserer Tage darauf stolz, einen jungen Mann als Bettpartner gewonnen zu haben – als Indiz ihrer nicht verblassten Attraktivität.

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

Und der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut würde diese Frau eventuell dazu ermutigen, mit dem jungen Mann etwas anzustellen. Schließlich könnte das ein spannendes Abenteuer wer­ den, etwas, was die Lebensqualität erhöht. Und vielleicht könnte dieses Abenteuer dazu führen, dass sie ihrem Mann wieder näher­ kommen will. Freuds Denken und Behandeln zerstört auch heute noch übliche Narrationen, etwa: »Die arme Frau, sie wird von ihrem Mann betro­ gen. Das muss ja furchtbar sein.« Mit dieser Narration wird im Sinne Freuds ihre Abwehr des eigenen sexuellen Begehrens gestärkt. Ob das letztlich hilfreich ist, würde Freud bestreiten, weil diese Frau keinen Zugang zu sich findet, weil sie nicht lernt, sich zu verstehen, weil sie quasi zum Feind ihres eigenen Unbewussten wird. Die Schlagzeile zur Psychoanalyse, aber auch zur tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie lautet daher, Zugang zu sich, zur eigenen tiefen Seele zu finden, es zumindest zu versuchen. Und nur die tiefe Seele ist die große Seele. Die aufklärerische Seele ist eher nach außen gerichtet, möchte Herrscherin der Welt sein, über die Welt sein, möchte sie erkennen und erfolgreich manipulieren. Die Freudsche Psyche ist eher nach innen gerichtet, möchte Herrscherin über sich selbst sein. Und schon wieder erweist sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als Kompromiss. Sie fokussiert die Psyche im Wesent­ lichen nur, um den Alltag besser bewältigen zu können. Denn in gewisser Weise macht doch die große Psyche Angst. Ist es nicht möglich, sich in seinem Unbewussten zu verlie­ ren? Wie die Schizophrenen? Wie alle Verrückte? Und die implizite Annahme ist hierbei, dass, wer den Alltag bewältigt, wer arbeiten geht und eine gute Familie hat, nicht verrückt werden kann. Dagegen lässt sich die Psychoanalyse in gewisser Weise als Rückzug aus der Welt interpretieren. Das richtige Zuhause ist die eigene Seele und nicht das Einfamilienhaus, nicht der Arbeitsplatz, nicht der Golfplatz. Weltzugewandheit kann so interpretiert werden als oberflächliches Verhalten.

11.4 Weltzugewandheit – Weltabgewandheit Und es ist nicht schwierig, hierzu geschichtliche Bezüge zu finden.

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11.4 Weltzugewandheit – Weltabgewandheit

Platon unterscheidet zwischen der unsterblichen menschlichen Seele und dem sterblichen Körper, der das Gefängnis der Seele ist. Die Materie gilt insgesamt wenig. Die Seele ist zu nähren, nicht der Körper. Ist das nicht eine der philosophischen Grundlagen der Psycho­ analyse, die 2500 Jahre zurückreicht? Und genau das macht die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie nicht mit. Sie will die nicht allzu große Psyche auf dem Golf­ platz. Sie verachtet also den Golfplatz nicht. Und für viele Menschen ist der Golfplatz das Symbol von Wohlstand. Schon wieder erweist sich diese Psychotherapieform als kompromissbereit, als flexibel, als vorsichtig. Sie stellt die Menschen, die den Golfplatz lieben, nicht in die Ecke. Auch die Gnosis, eine Unterströmung des christlichen Glaubens seit tausenden von Jahren, unterstützt die Zuwendung zu sich selbst. Sie operiert mit einem radikalen Leib-Seele-Dualismus, MaterieGeist-Dualismus. Die vorfindbare Welt ist von Grund auf böse, von einem bösen Gott, dem Demiurgen, geschaffen. Der satte, zufriedene Körper führt dazu, dass die Botschaft des fernen Gottes in der eigenen Psyche vergessen wird, und so keine Möglichkeit besteht, zum fernen Gott emporzusteigen. Weltliche Askese und Zugang zur eigenen Psyche sind so angesagt (Brum­ lik 1992). Und die Gnosis ist im 20. Jahrhundert in gewisser Weise aktu­ eller denn je. Philosophen wie die Vertreter der Kritischen Theorie der Gesellschaft (Horkheimer, Adorno) sind von ihr stark beeinflusst. Der als Schüler Freuds gehandelte C. G. Jung (siehe weiter unten) war Gnostiker, nicht minder Rudolf Steiner (Anthroposoph). Und so könnte eine Mutmaßung darin bestehen, dass auch die Psychoanalyse Freuds gnostisch inspiriert ist, da sie von der großen Psyche ausgeht und die Psyche über die Welt stellt – wenn sie da nicht zugleich die Annahme hätte, dass die Triebe das menschliche Leben bestimmen, mitbestimmen. Aber diese Triebe ändern letztlich nichts an der großen Seele. Und die Triebe sollen ja im Sinne Freuds gezügelt werden. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat dagegen ein anderes Programm: besserer Umgang mit Welt, sich optimieren in Welt. Sie ist damit anti-platonisch, anti-gnostisch. Sie sagt »Ja« zu dieser Welt! Mit dieser Psychotherapieform wird also das tenden­ ziell gnostische 20. Jahrhundert verabschiedet. Es handelt sich bei

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie um eine liberale Psychotherapie. Weltzugewandheit wird etwa nicht potenziell dämo­ nisiert, aber auch nicht ihr Gegenteil, die Einkehr in die eigene Psyche. Mit dieser Psychotherapieform kann nicht polarisiert werden, kann die Welt nicht reduziert werden auf ein Freund-Feind-Schema. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wendet das Freund-Feind-Schema auch bezüglich von Psychotherapie nicht an. Zum Ausdruck kommt dies etwa auch dadurch, dass sie offen ist für Methoden anderer Psychotherapien. Damit ist die Haltung verbun­ den, sich selbst nicht als die einzig wahre Psychotherapie zu sehen.

11.5 Nochmals der Fall Freuds – ein Fall für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? Zurück zu Freuds Vorlesungen, zurück zu der Frau mit dem Eifer­ suchtswahn: »Nehmen Sie nun weiter hinzu, was nur zwei Stunden Analyse an weiteren kleinen Anzeichen ergeben haben. Die Patientin verhielt sich zwar sehr ablehnend, als sie aufgefordert wurde, nach der Erzählung ihrer Geschichte ihre weiteren Gedanken, Einfälle und Erinnerungen mitzuteilen. Sie behauptete, es fiele ihr nichts ein, sie habe schon alles gesagt …« (Freud 1999, S. 253)

Jetzt wissen wir, wie Freud therapeutisch vorgegangen ist. Die Patien­ tin solle also einfach erzählen, plaudern und plappern, um durch freie Assoziation Zugang zu ihrem Unbewussten zu bekommen. Das ist genau das, was die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie überwiegend ablehnt: den das Gespräch kaum strukturieren­ den Psychoanalytiker, der sich zurücklehnt und nur auffordert, dass die Patientin einfach das erzählen soll, was ihr zufällig einfällt, auf dass sich ihr Unbewusstes öffnet. Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut würde bei dieser Frau, von der Freud berichtet, hingegen mit Sätzen eingreifen wie »Das, was Sie Ihrem Mann zu Anteilen unterstellen, eine Affäre, ist Ihnen vielleicht gar nicht so fremd.« Oder: »Sich verlieben, auch in einer sehr guten Ehe, gehört ja zum Menschlichen dazu. Das kann ja passieren. Davor sind wir nicht gefeit.« Dieser Psychotherapeut will also die Patientin entlasten, ihr die subjektiv wahrgenommene schwere Schuld abnehmen, mit ihrem Verliebtsein etwas Furchtbares getan zu haben.

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11.5 Nochmals der Fall Freuds

Dieses Vorgehen war Freud fremd. Er wollte zu seinen Patienten nicht nett sein, er wollte sie nicht entlasten. Freud arbeitete eher wie ein Richter, wie ein Staatsanwalt, der einen Fall aufdecken wollte, gerade wenn die Angeklagte etwas verschweigen wollte, von etwas ablenken wollte. Für Freud ging es darum, die Wahrheit aufzudecken, koste es, was es wolle. Damit ist die Asymmetrie zwischen Therapeut und Patient unmissverständlich festgeschrieben. Dass gerade diese Asymmetrie Einfluss auf den Therapieverlauf haben kann, wurde von Freud wenig berücksichtigt, etwa, dass sie Angst im Patienten provozieren kann, Angst vor einer Autorität, Angst vor dem Psychoanalytiker, der doch im Prinzip jemanden zum Tode verurteilen kann. Oder nicht? Genau dieser Asymmetrie will die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aus dem Weg gehen. Sie strebt eine Begegnung auf Augenhöhe an, auch wenn die Rollen selbstredend klar verteilt sind, und der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut dem Klienten nichts von seinen Kopfschmerzen erzählt oder vom gestrigen Ehe­ krach. Aber er will auf keinen Fall in die Rolle des Richters schlüpfen. Er will nicht Pächter der einzigen Wahrheit sein. Ein wichtiger psychoanalytischer Begriff steckt noch in dem eben vorgestellten Zitat Freuds. Diese Frau entwickelt Widerstand. Sie will nicht wissen, was in ihr vorgeht, warum sie einen Eifersuchtswahn entwickelt hat. Das weiß wiederum genau der Psychoanalytiker. Er ist Herr der Wahrheit. Deshalb kann er ihren Widerstand erkennen und ihren Widerstand analysieren: »Sie kommen von Ihrer Eifersucht nicht los, weil Sie in ihr ein eigenes Verliebtsein verstecken und dies nicht wahrhaben wollen.« Genau das soll es in der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie nicht geben. Darauf haben sich deren Vertreterinnen und Vertreter eher implizit geeinigt. Die imperiale Deutung ist deren Feind. Sie wollen in gebotener Vorsicht einen Verstehensprozess initiieren, einen gemeinsamen Verstehensprozess, zwischen Psycho­ therapeutin und Klient, auf Augenhöhe. Sie haben also den Respekt gleichsam gepachtet. Sie sind dann auch die Netten. Das kann aber im negativen Falle dazu führen, dass sie zu nett sind. Die Klientin erzählt dann ihrer besten Freundin, dass sie sich so gut mit ihrer Psychotherapeutin versteht. Aber in diesem Fall ist etwas schiefgelaufen. Psychotherapie muss zu guten Anteilen auch immer schmerzlich sein, weil unangenehme Dinge zur Sprache

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

kommen. Wenn sie nur nett ist, dann ist sie höchst wahrscheinlich nicht wirksam. Wir brauchen also beides: die Deutung – im vorsich­ tigen Verstehensprozess. Bezogen auf die Patientin Freuds könnte dies dann so aussehen: »Könnte es sein, dass Sie trotz besseren Wissens immer wieder in die Eifersucht zurückfallen, weil etwas bei Ihnen selbst jemand anderen eifersüchtig machen könnte?« Das wäre eine vorsichtige Deutung, die darauf angewiesen ist, dass in diesem Falle die Patientin von Freud diese Deutung annehmen und damit weiterarbeiten könnte. Eine andere Deutung bietet sich ebenfalls an. Im Strukturmodell der Psyche gibt es nach Freud zwischen Über-Ich und Es das Ich. Es muss in der Lage sein, die Es-Impulse zu kontrollieren, nach Mög­ lichkeiten zu suchen, wie unter welchen Bedingungen bestimmte EsImpulse in der Umwelt unproblematisch umgesetzt werden können, zu prüfen, ob die Über-Ich-Gebote annehmbar oder nicht annehmbar sind und sie dann gegebenenfalls zurückzuweisen. Die 53jährige Frau könnte dann denken: »In der Welt, in der ich lebe, sind Liebschaften verboten, insbesondere die zwischen einer älteren Frau und einem jungen Mann. Aber ich finde das mehr als doof. Die Hälfte der Männer meines Alters macht sich an junge Frauen ran. Und warum sollte das eine Frau nicht machen wollen? In 30 Jahren Ehe ist doch mal eine Abwechslung nicht das Übelste.« Mit diesem Denken könnte sie Ich-Stärke beweisen. Ihr Ich prüft ÜberIch-Gebote. Sie könnte aber auch Ich-Stärke beweisen, wenn sie ihre Verliebt­ heitsgefühle anerkennt, ohne sie umsetzen zu müssen. Schließlich ist sie stolz auf 30 Jahre Ehe und will diese nicht gefährden. Ich-Stärke ist für Freud mit psychischer Gesundheit gleichzuset­ zen. Freuds Deutung als Psychotherapiemethode ist, wie erwähnt, eine rationale Vorgehensweise: einen Zusammenhang herstellen zwi­ schen Biographie, aktueller Lebenssituation und aktuellem Leiden. Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger hatten, um dies nochmals zu wiederholen, andere Vorstellungen. Für sie war die emotionale Beziehung zwischen Psychoanalytikerin und Patienten bedeutsam. Für Bion war es wichtig, dass die Psychoanalytikerin den Patienten hält, quasi wie eine Mutter ihr Baby auf dem Arm hat und es beschützt. In dieser Geborgenheit und Sicherheit kann sich das Baby, der Patient positiv entwickeln. Bion nannte das containing. Winnicott hat eine

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11.6 Übertragung – Gegenübertragung

ähnliche Vorstellung von der therapeutischen Beziehung und nannte das holding function. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin macht bei­ des: vorsichtige Deutungen und Halten. Das Halten ist für sie eine Selbstverständlichkeit, die fast der Rede nicht mehr wert ist. Aber das Halten muss der Rede wert sein, weil es ein Kernelement der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist. In der Literatur zu dieser Psychotherapieform wird das Halten häufig umschrieben als Strukturieren. Aber genau in dem Moment, in dem die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin die Alltags­ probleme der Klienten zu ordnen versucht, gibt sie ihnen Halt, gibt sie ihnen Unterstützung. Die Klienten wissen dann, dass es ihr am Herzen liegt, dass sie ihre Probleme besser in den Griff bekommen. Sie wissen, sie ist auf ihrer Seite. Die Patientinnen des traditionellen Psychoanalytikers wissen das eher nicht.

11.6 Übertragung – Gegenübertragung Zurück zu Freud: Wir dürfen nicht vergessen, dass Freud der therapeutischen Beziehung eine weitere besondere Rolle zuwies. Der Patient überträgt auf seine Psychoanalytikerin unbewusst Bilder und Phantasmen aus seiner Vergangenheit. So kann er sie als strenge Mutter wahrnehmen, so wie er seine Mutter erlebt hat. Mit dieser Übertragung werden vergangene Erfahrungen und Konflikte reaktualisiert und können so bearbeitet werden. Die Psychoanalytikerin kann dann sagen: »Sie sehen mich mit den Augen, mit denen Sie Ihre Mutter wahrgenom­ men haben, als strenge und unerbittliche Frau.« Er nach ein bisschen Zögern: »Ja, das könnte sein, sie war wirklich sehr streng.« Auf diese Weise kann seine Vergangenheit bearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Psychoana­ lytikerin mitbekommt, was auf sie übertragen wird, und dass sie das trennt von ihrer Selbstwahrnehmung, mit der ihr klar wird, dass sie eigentlich alles andere als streng und unerbittlich ist. Mit dieser Differenzierung kann sie eine blinde Gegenübertra­ gung verhindern, mit der sie etwa auf den Patienten wütend werden würde und sich darüber ärgert, wie falsch er sie einschätzt. Und dieser Ärger fließt selbstredend in die Behandlung ein.

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

Eine Übertragung kann, muss aber nicht angesprochen werden. Entscheidend ist, dass die Psychoanalytikerin die Übertragung mitbe­ kommt und sich nicht in das Bild pressen lässt, was der Patient von seiner Mutter hat. Übertragung kommt nicht nur in Psychotherapien vor. Auch auf die Hausärztin kann eine Übertragung erfolgen, oder auf die Ernäh­ rungsberaterin. Dazu ein Beispiel: In einer Klinik kommt eine 50jährige adipöse Patientin zu einer 25jährigen dünnen Ernährungsberaterin. Ohne dass diese ein Wort gesagt hätte, denkt die Patientin, dass die Ernährungsberaterin doch keine Ahnung von Gewichtsproblemen haben. Dazu ist sie viel zu jung, dünn und unerfahren. Die Patientin überträgt also das Bild, das sie von ihrer Tochter hat, auf die Ernährungsberaterin. Diese kann verstehen, was eine derartige Übertragung ist, und kann ruhig und gelassen bleiben. Mit einer falschen Gegenübertragungsreaktion würde sie sich hinge­ gen bemüßigt fühlen, ihr Wissen unter Beweis zu stellen und aus aus­ tralischen Studien zitieren, die in zwei Jahren veröffentlicht werden. Übertragung kann also in Behandlungen sinnvoll genutzt werden. Die Ernährungsberaterin kann vermuten, dass eine Übertragung stattfin­ det und diese verbalisieren: »Bei meinem Alter können Sie sich gar nicht vorstellen, dass ich Sie verstehen und beraten kann.« Die Patien­ tin könnte dann zögernd antworten: »Das stimmt ein bisschen. Wie sollten Sie verstehen, was es für mich bedeutet, übergewichtig zu sein, und das seit 20 Jahren.« Die Patientin bekommt dann ein schlechtes Gewissen, weil sie so schlecht über die Ernährungsberaterin gedacht hat, und bringt zum nächsten Termin ein Strauß Blumen mit. Wir fassen erst einmal zusammen: Was macht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit den genannten psychoanalytischen Methoden? Die Deutung wird abgemildert zu einem vorsichtigen verstehenden Fragen. Damit ist Widerstand vonseiten des Patienten quasi eliminiert. Der tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapeut denkt ja nicht einmal daran, dass er im Besitz der unumstößlichen Wahrheit ist, mit dem er den Patienten konfrontieren muss. Er ist doch nur ein Fragender und Suchender. Anders als der Psychoanalytiker bietet er sich nicht beziehungs­ weise weniger als Projektionsfläche für die Übertragung an, sondern

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11.7 Die drei Kränkungen der menschlichen Seele

ist präsent, auch mit seiner Persönlichkeit, mit seinen Gefühlen, mit seinen Stimmungen, mit seinen ausgesprochenen Gedanken. Psychotherapie in diesem Sinne wäre eine echte Begegnung. Und ohne dass der tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ peut jemals die Namen Bion oder Winnicott vernommen hat, agiert er tendenziell in ihrem Sinne. Er ist das fürsorgliche Elternpaar, das dafür sorgt, dass der Klient in seinem Leben gut zurechtkommt.

11.7 Die drei Kränkungen der menschlichen Seele Freud macht die menschliche Psyche sowohl groß als auch klein; groß, indem die Tiefe des Unbewussten berücksichtigt wird, klein, indem die Bedeutung des Bewussten und des Ichs relativiert wird. Doch vor dieser Relativierung der Bedeutung des Bewusstseins habe es bereits zwei schwere »Kränkungen« für die menschliche Psy­ che gegeben. »Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müs­ sen.« (Freud 1999, S. 203) Freud meint damit die kopernikanische Wende: Die Erde ist nicht Mittelpunkt eines unermesslich großen Weltalls. Gott schaut nicht mehr auf jeden einzelnen Menschen. Die Menschen werden damit zu Staubkörnern degradiert. Die zweite Kränkung stammt von Darwin, der nachwies, dass der Mensch von den Tieren abstammt. »Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eige­ nen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht.« (ebd., S. 284)

Mit der psychologischen Forschung meint Freud sich selbst. Er stellt sich damit in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin. Das nennt sich ein gutes bis sehr gutes Selbstwertgefühl. Ja, im Sinne Freuds hat das Bewusstsein eine geringere Bedeu­ tung als das Unbewusste, ist das Bewusstsein ein Derivat des Unbe­ wussten. Aber das Bewusstsein wird von ihm zugleich zum großen Helden, zum großen Abenteurer ernannt, der auf Entdeckungsreise durch das Weltall des Unbewussten geschickt wird. Es ist unübersehbar, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie mit diesem Gegensatz zwischen großem Unbewussten

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

und kleinem Bewusstsein Schluss macht. Der Klient, die Klientin soll sich nicht auf die große Reise ins Unbewusste begeben, und die Handlungsfähigkeit des Ichs im Alltag soll gestärkt werden. So ist dieser Therapieansatz sehr pragmatisch orientiert. Das Ich ist dann, so die implizite Hypothese, im Vergleich zum Unbewussten gar nicht mehr so klein, weil das Unbewusste bezüglich der angenommenen Handlungsfähigkeit im Alltag eine deutlich geringere Rolle spielt als bei Freud. Und das Ich kann mit sich zufrieden sein, wenn es in seinem Alltag die Dinge gut bewältigt. Aber die von Freud genannten drei Kränkungen können auch anders gedeutet werden. Mit Kopernikus steht die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Weltalls, und Gottes Blick fällt nicht auf das Antlitz jedes Menschen, zumindest lässt sich das so interpretieren. So kann jeder Mensch glauben, dass er der gütigen Kontrolle Gottes entzogen ist. So kann er einfach machen, was er will. Er kann seinen eigenen Weg finden. Er kann sich selbst verwirklichen. Er kann denken, was er will. Er ist frei. Und die mögliche Kränkung Darwins – der Mensch stammt vom Tier ab – lässt sich umdeuten, dass der Mensch nun eine Tradition hat, dass er eine Geschichte hat, dass es vor ihm etwas gab, von dem er herkommt: dem Tier. Das kann ihm Sicherheit geben. Und er darf auch Tier sein. Er darf beißen und töten. Tiere machen das. Zumindest könnte der Mensch beißen und töten. Auch die dritte Kränkung, die Freud für sich reklamiert, der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus, kann in einem anderen Licht betrachtet werden. Der kleine Soldat Mensch, der den Anspruch hat, sich mit Verstand und Wille durchs Leben zu beißen, kann nun einen riesigen Blick werfen, eine lange Reise antreten in die eigene Unermesslichkeit, in das eigene Unbewusste. Er ist nicht der Imperator des Unbewussten, aber der große, zuweilen verzweifelte Abenteurer im Unbewussten. Und welchen Mut muss er dabei haben? Na, sagen wir es einfach so: Er muss einfach wahnsinnig mutig sein. Ein Marco Polo ist dagegen nichts. Fast nichts. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie will mit diesen drei Kränkungen oder Nicht-Kränkungen wenig zu tun haben. Für sie ist der Mensch gleichsam ein neugieriger, heiterer vor sich hin tap­ sender Vierjähriger, der auf einmal nicht weiterweiß und der milden und nachsichtigen, unaufdringlichen Begleitung bedarf, um mit dem Leben zurechtzukommen. Vorübergehend. Bis auf Weiteres. Diese Begleitung wäre die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.

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11.8 Sex – Nicht-Sex

Frei ist der Mensch schon – als Suchender, als Suchender seines Weges in seinem Leben. Und er bleibt ein Suchender, ein Leben lang. Und er kann immer auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie zurückgreifen, auch das ein Leben lang. Das Bild vom vor sich hin tapsenden Vierjährigen ist also gar nicht mit Spott verbunden. Es zeichnet eine positive Version des Möglichkeitsraumes des Menschen und seiner Geschwindigkeit, mit der er sich vorwärts bewegt. Ein bisschen Tier im Sinne Darwins ist der Mensch auch, aber letztlich kein böses – so konzipiert die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie implizit den Menschen. Gut, der vor sich hin tapsende Vierjährige schlägt schon ab und zu andere Kinder. Aber Kinder sind halt einmal so. Und andere Kinder machen das mit ihm auch so. Wir sehen so: Mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie verliert der Mensch seine potenzielle Grandiosität., die ihm Freud noch verliehen hat. Er wird nicht mehr wahrgenommen als der große Abenteurer, der seine große Reise in das unermessliche Unbewusste antritt. Und wir können sagen: Das ist gut so. Der Grandiosität korre­ spondiert generell das Inferioritätsgefühl. Das sind die zwei Seiten der narzisstischen Persönlichkeitsstruktur.

11.8 Sex – Nicht-Sex Zurück zu Freuds Vorlesungen: Bei einigen Zitaten Freuds wird der Zweifel deutlich verstärkt, ob die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie überhaupt noch etwas mit der Psychoanalyse zu tun hat. »Die psychoanalytische Forschung ist nämlich genötigt worden, sich auch um das Sexualleben des Kindes zu bekümmern, und zwar dadurch, dass die Erinnerungen und Einfälle bei der Analyse der Symp­ tome [von Erwachsenen] regelmäßig bis in die frühen Jahre der Kind­ heit zurückführen.« (Freud 1999, S. 307)

Also, das Unbewusste wird nach Freud erkundet, bis in die frühe Kind­ heit, das frühe »Sexualleben« soll angeschaut werden. Das für Freud Typische, die Verknüpfung unbewusster Prozess mit der Sexualität, ist hier auf den Punkt gebracht. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin kommt bei diesem Zitat aus dem Schütteln nicht heraus, will sie doch

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11 Blicke in Freuds Vorlesungen

vom Sex wenig wissen, schon gar nicht von dem frühkindlichen. Und außerdem will sie die Biographie nur sehr beschränkt aufarbeiten. Und außerdem ist diese Art von Symptomen, die auf die frühkindli­ che Sexualität zurückgeführt werden kann, möglicherweise nahezu ausgestorben, weil sich die Sexualität liberalisiert hat. So ist nicht auszuschließen, dass sich das Panorama psychisch mitbedingter Störungen verändert hat – und das in hundert Jahren. Freud hielt die Vorlesungen, aus denen hier zitiert wird, 1916/17. Damals gab es die klassische Hysterie noch – als Massenphänomen, siehe Miss Lucy R. Wir leben also in einer Zeit mit möglicherweise dramatischen Veränderungen und Brüchen. Zugleich ist die Zeit auch stehengeblieben, in gewisser Weise. Wir wollen heute ähnlich wie Freuds Zeitgenossen, Freud selbst natürlich nicht, nicht alles mit Sex in Verbindung bringen oder auf Sex reduzieren: »Die ersten Regungen der Sexualität zeigen sich beim Säugling in Anlehnung an andere lebenswichtige Funktionen. Sein Hauptinteresse ist, wie Sie wissen, auf die Nahrungsaufnahme gerichtet; wenn er an der Brust gesättigt einschläft, zeigt er den Ausdruck einer seligen Befriedigung, der sich später nach dem Erleben des sexuellen Orgas­ mus wiederholen wird.« (ebd., S. 309)

Wollen wir heute das Gestilltwerden als sexuellen Akt einordnen? Nicht unbedingt. Dann hätte ja das Baby gleichsam Sex mit der Mutter. Lieber begreifen wir das Gestilltwerden als Urerfahrung des Kleinkindes: Es genießt das Sattwerden in Verbindung mit der Erfahrung, geliebt zu werden, Zuwendung, Geborgenheit, Wärme und Sicherheit zu erleben. Mit dieser Formulierung kann die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gut leben. Und so könnte eine Hypothese lauten, dass mit dieser Psychotherapie die Freudsche Psychoanalyse, was die Bedeutung der Sexualität betrifft, abgemildert wird, aber eben auch erweitert wird um zentrale Emotionen wie Liebe und Geborgenheit. Na klar erlebt das Baby Lust beim Gestilltwerden, sonst würde es dies gar nicht wollen, aber es geht eben nicht nur um Lust. Die Lust ist eine Teilerfahrung, mehr auch nicht. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie passt also bes­ ser zum derzeitigen Zeitgeist, mit dem das Gestilltwerden nicht auf die Lust reduziert wird.

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11.8 Sex – Nicht-Sex

»Warum sollen Sie nicht wissen, dass der After bei einer großen Anzahl von Erwachsenen, Homosexuellen wie Heterosexuellen, wirklich im Geschlechtsverkehr die Rolle der Scheide übernimmt?« (ebd., S. 311)

In Zeiten zahlloser stets verfügbarer Pornostreifen ist Analsex eine sexuelle Spielart unter vielen. Ob praktiziert oder nicht, er ist akzep­ tiert. Im Unterschied zu Freuds Zeit hat er die Aura des Sensationellen und des streng Verbotenen sowie der triumphatorischen Verbotsüber­ tretung verloren. Der Sex insgesamt hat sich banalisiert. Und so ist, wie schon mehrfach ausgeführt, der Sex eben auch kein oder ein geringes Thema in der Psychotherapie. Die Psychoana­ lyse, die die Fahne der Sexualität noch hochhält, hat damit quasi abge­ dankt. Ihr Reich hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie übernommen. Der dazu weitergebildete Psychotherapeut gähnt heimlich, sollten seine Klienten das Thema Sexualität anschneiden. Aber sie tun das ja nicht besonders häufig. Glücklicherweise! Und kein Klient in der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie bestätigt vermutlich das, was Freud formuliert: »Und dass es viele Individuen gibt, welche die Wolllustempfindung bei der Stuh­ lentleerung durch ihr ganzes Leben behalten und sie als gar nicht so gering beschreiben?« (ebd., S. 311f) Heute ist dagegen auf die Toilette gehen auf die Toilette gehen. Eine Notwendigkeit. Punkt! Eine andere Interpretation ist auch möglich. Da der Sex wie in Zeiten Freuds nicht mehr sensationell ist, ist er keiner Rede mehr und kann dann einfach neu verdrängt werden, unter der Decke gehalten werden. So gingen Normalisierung und Neuverdrängung Hand in Hand. Auch für diesen Vorgang böte sich die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie an. Sie vergisst den Sex zwar nicht, aber er steht auch nicht mehr wie bei Freud ganz oben, sondern eher beiläu­ fig nebenan. Dies veranschaulicht eine Fallgeschichte von Jaeggi und Riegels: »Auch die Sexualität mit dem Ehemann wird in dieser beschönigenden Weise beschrieben. ›Wir sind oft sehr glücklich miteinander‹, ›Na ja, dass es nicht immer gleich schön ist, weiß man ja< etc. Genauer dar­ aufhin befragt, meint sie, dass sie Sex nicht immer genießen kann‹. Aber es sei eben auch schön, so nahe zusammen zu sein.« (2008, S. 221f)

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Das ist Sex heute, in der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie. Was genau im Bett passiert, ist eher irrelevant. Kinsey hätte nachgehakt, ob sie einen Orgasmus bekommt. Aber das ist auch out. Es wird auch nicht gefragt, warum sie den Sex nicht immer genießen kann, und was das genau heißt, ob sie sich ihrem Mann einfach zur Verfügung stellt. Der Sex wird also abgehandelt auf einer vagen emotionalen Ebene. Wir müssen festhalten, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bezüglich des Themas des Sexes derzeit auf der Höhe der Zeit ist. Sie produziert und spiegelt zugleich die aktuelle Zeiterfah­ rung, dass Sex wichtig aber keine zu enthüllende Sensation ist. Und wir können schlussfolgern, dass Psychotherapie, dass Psy­ chotherapien von Zeitumständen mitgeformt sind, dass sie kulturell geprägt werden, wie sie die Kultur selbst prägen.

11.9 Die Zerlegung der Seele Wir bleiben bei den Vorlesungen Freuds und werfen einen weiteren Blick auf diese. Mit diesem Blick soll klar werden, mit welcher Akribie und Unerbittlichkeit Freud die menschliche Seele vermessen und gleichsam unter das Mikroskop gelegt hat. Um es vornweg zu sagen: Das wollen wir heute tendenziell gar nicht. Wir wollen ein Leben lang anmutige und rätselhafte Kinder bleiben, vor sich hin tapsende Vierjährige, die vielleicht über eine eigene Fehlleistung lachen können und wissen, was eine Fehlleistung ist, so ein bisschen. Das reicht aber dann schon. Mehr muss nun wirk­ lich nicht sein. Die rationale Zergliederung der Seele, ob angemessen oder falsch, ist einfach ein Übergriff. Ein Angriff auf die Intimität, auf das Persönliche. Das ist ja schlimmer als bei der STASI. Mit dieser eben skizzierten Haltung wird auch von Freuds potenzieller Arroganz Abstand genommen, die menschliche Seele vollständig vermessen zu können. »Wir haben wiederholt und erst vor kurzem wieder … mit der Sonde­ rung der Ichtriebe und der Sexualtriebe zu tun gehabt. Zuerst hat uns die Verdrängung gezeigt, dass die beiden in Gegensatz zueinander tre­ ten können, dass dann die Sexualtriebe formell unterliegen und genö­ tigt sind, sich auf regressiven Umwegen Befriedigung zu holen, wobei sie dann in ihrer Unbezwingbarkeit eine Entschädigung für ihre Nie­ derlage finden. Sodann haben wir gelernt, dass die beiden von Anfang

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11.9 Die Zerlegung der Seele

an ein verschiedenes Verhältnis zur Erzieherin Not haben … so dass sie nicht dieselbe Entwicklung durchmachen und nicht in die nämliche Beziehung zum Realitätsprinzip geraten.« (Freud 1999, S. 398)

Es gibt also nach Freud Ichtriebe und Sexualtriebe. Sie können zuwei­ len in Konkurrenz stehen. Die Ichtriebe siegen. Die Sexualtriebe gehen den Weg der Regression und rächen sich erfolgreich wegen ihrer Niederlage. Ichtriebe und Sexualtriebe haben eine unterschied­ liche Beziehung zum Realitätsprinzip. Es ist zu vermuten, dass ein derartiger Blick auf die menschliche Seele wie der von Freud auch heute noch Ambivalenz hervorruft. Er ist hilfreich, weil mit ihm psychische Störungen verstanden werden können, aber diese rationale naturwissenschaftliche Vorgehensweise löst auch negative Gefühle aus, soll doch die schöne menschliche Seele nicht total zergliedert werden. Genau diese Ambivalenz greift die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auf. Ja, sie arbeitet mit ätiologischen Modellen zur Psychopathologie, aber diese stehen nicht im Vordergrund, sondern die Psychotherapiemethoden. Und diese ätiologischen Modelle sind ja der Psychoanalyse weitgehend entlehnt. Und Leihgaben sind ja nicht wirklich das Eigene. Und sie können zurückgegeben werden. Möglicherweise lehnt sich diese Psychotherapieform implizit an Rogers, dem Begründer der wissenschaftlichen Gesprächspsychothe­ rapie, an, der das psychopathologische Denken insgesamt abgelehnt hat, der die Einordnung eines klinischen Falles unter eine psychopa­ thologische Diagnose als Schubladendenken begriff, das dem Einzel­ nen nie gerecht wird. Und möglicherweise greift die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie implizit die seit den 50er Jahren des letzten Jahr­ hunderts entstandene Psychiatriekritik auf, die die Psychiatrie einschließlich des psychiatrischen Denkens als gesellschaftlichen Machtmissbrauch begreift, indem diese Psychotherapiemethode die Psychopathologie nicht in den Vordergrund rückt. So wäre nicht aus­ zuschließen, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wie so oft im Vagen bleibt. Ja, sie greift eventuell die Kritik an der Psychiatrie auf, aber eben nur implizit. Wir lernen damit, dass die unterschiedlichen Psychotherapien auch Kinder ihrer Zeit sind. Die Vertreter und der Vertreterinnen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie müssen sich nicht unbedingt mit den Psychiatriekritikern auseinandergesetzt haben, aber sie bewegen sich in einem Zeitgeist, der der Psychiatrie kritisch

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gegenübersteht. Daraus mag der Abstand zum akribischen psychopa­ thologischen Denken rühren. Zurück zu Freud: Wir machen nun Freud zu einem Fall für eine Detektei. Der Detektiv findet bereits auf der nächsten Seite wichtige Spu­ ren (S. 399). Ichtriebe werden hier als Selbsterhaltungstriebe über­ setzt. Und die Sexualtriebe setzen den sie betätigenden Menschen Gefahren aus. Eine höchst lustvolle geheime Liebschaft kann durch den Betrogenen, durch die Betrogene zu Mord führen. Die Selbster­ haltungstriebe berücksichtigen die Gefahren, nicht so die Sexual­ triebe. Denen ist das Risiko egal. Vielleicht erhöht es auch noch die Lust. Unterwerfen die Selbsterhaltungstriebe die Sexualtriebe, dann führt dies zu einer Regression. Die genitale Befriedigung wird ersetzt etwa durch eine orale. Anstatt heimlich beim Nachbarn, bei der Nachbarin anzuklopfen, wird der Kühlschrank geöffnet. Dagegen haben die Ichtriebe keine Chancen. Sie können zehnmal die Kühlschranktür zuknallen. Hilft gar nichts. Die Sexualtriebe sie­ gen. »… dass die Sexualtriebe in Zwist mit den Erhaltungstrieben geraten oder biologisch – wenn auch etwas ungenauer ausgedrückt -, dass die eine Position des Ichs als selbstständiges Einzelwesen mit der anderen als Glied einer Generationsreihe in Widerstreit tritt. Zu solcher Ent­ zweiung kommt es vielleicht nur beim Menschen, und darum mag im ganzen und großen die Neurose sein Vorrecht vor den Tieren sein. Die überstarke Entwicklung seiner Libidio und die vielleicht gerade dadurch ermöglichte Ausbildung eines reich gegliederten Seelenlebens scheinen die Bedingungen für die Entstehung eines solchen Konflikts geschaffen zu haben.« (ebd., S. 400)

Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Da nach Freud die Sexualtriebe beim Menschen so stark ausgebildet sind, kommt es zum Konflikt zwischen diesen Trieben und den Erhaltungstrieben. Letztere verbieten den Gang ins Nachbarhaus. Selbst die potenziell bewusst werdenden Impulse hierzu müssen verdrängt werden. Es kommt, wie es kommen muss, neurotische Symptome entstehen (die Geruchslosigkeit der Gouvernante etwa, siehe weiter oben). Nach Freud ist also die Neurose unausweichlich menschlich. Sie ist sein Privileg. Der Neurose ist ein Nebeneffekt des Überlebensdran­ ges der Spezies Mensch.

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Haben wir die Neurose jemals so definiert gesehen? Sie ist keine Pathologie, sondern unausweichlich. So ist der Mensch. Sagt Freud. Mit Freud beginnt also die Relativierung psychopathologischem Denkens, lange vor der Kritik an der Psychiatrie. Für Freud gibt es in dieser Hinsicht keine Dichotomie von psychisch gesund und psychisch krank. Dennoch hätte Freud in einer Psychoanalyse den unbewussten Konflikt zwischen Sexual- und Selbsterhaltungstrieb gedeutet. Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut würde die Frau, die ihren Nachbarn mehr als attraktiv findet, dagegen so beraten: »Jetzt sind Sie ja erst mit Ihrem Mann in Ihr Haus eingezogen. Sie wollen sich doch erst einmal da einrichten. Und Sie sagen doch, dass Sie Ihren Mann lieben. Ist es da nicht der falsche Zeitpunkt, mit dem Nachbarn anzubändeln? Ich denke, Sie sollten sich das noch mal durch den Kopf gehen lassen. Ein kleiner unbedachter Schritt kann eine große Reise gefährden.« Der weniger gutmeinende tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapeut würde sagen: »Das ungewohnte Zusammenleben mit Ihrem Mann in dem neuen Haus könnte Ihnen Angst machen, zu viel Abhängigkeit, zu viel Zweisamkeit. Da kommt der Nachbar ja wie gerufen.« Eine Psychoanalytikerin, die nicht direkt in die Fußstapfen Freuds treten möchte, würde eventuell auch so intervenieren und auf den Machtaspekt fokussieren: »In Ihrer Phantasie hätten Sie am liebstem Sex mit allen Männern Ihrer Straße.« Patientin: »Aber viele sind schon alt und hässlich.« Sie gibt also indirekt zu, dass sie diese Phantasie hat. Psychoanalytikerin: »Dann wären Sie die Herrscherin der Straße, alleine mit Ihrem Körper!« Die Patientin nickt. Das, was die Psychoanalytikerin nicht zu sagen wagt, ist, dass sie nicht genau weiß, ob die Patientin dann Herrscherin oder Dienstleis­ terin wäre. Als ob sich dies nicht trennen ließe. Bevor wir ein bestimmtes von Freuds Narzissmus-Konzepten kennen lernen, wollen wir konstatieren: Der Narzissmus-Verdacht fällt auf Freud selbst zurück. Seine Art zu schreiben, ließe sich als selbstgefällig und narzisstisch etikettieren. Er ist der einzige, der alles oder viel über die Psyche weiß. Er intellektualisiert die Psyche wie ein Naturwissenschaftler. Diese naturwissenschaftliche Herangehensweise finden wir heute möglicherweise zu Anteilen unbekömmlich und imperial. In unseren Augen soll die Seele so natürlich und anmutig sein, so

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empfindsam, so tief. Die wollen wir ganz sicher nicht vollständig analysieren lassen. Sonst verliert die Seele ihren ganzen Zauber, ihre ganze Magie. Sie ist so weit und tief, so unbestimmt, so romantischdunkel. Sie will gewiss nicht vollständig aufgeklärt werden. Sie soll nicht vernünftelt werden. Dieser Haltung trägt die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie anteilig Rechnung, wie das eben genannte Beispiel einer Frau, die mit dem Nachbar anbandeln will, zeigt. Ihre Gefühle bezüg­ lich der Sexualität werden gar nicht angesprochen. Der tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapeut möchte ihr nur zu bedenken geben, welche Folgen eine Affäre mit dem Nachbarn haben könnte. Er fragt nicht, was sie an dem Nachbarn attraktiv findet, wie ihr Begehren gegenüber ihm aussieht. Und er will nicht wissen, was sie eventuell an ihrem Mann vermisst. Dieser Psychotherapeut steht aber insofern in der Tradition Freuds, als er ihre Selbsterhaltungstriebe fokussiert. Wenn sie etwas mit ihrem Nachbarn anfangen würde, dann wäre das Leben mit ihrem Mann im neuen Haus gefährdet. Auch der weniger gut meinende tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut thematisiert nicht ihr sexuelles Begehren, sondern ihre Angst vor Abhängigkeit. Der Sex mit dem Nachbarn wäre dann ein Mittel, diese Angst zu reduzieren. Angenommen, Freuds Denken und Schreiben ließe sich eventu­ ell als Ausdruck seiner narzisstischen Persönlichkeit verstehen, dann ist auch zu schlussfolgern, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie deutlich weniger narzisstisch ist. Das mutmaßende, suchende Denken in dieser Psychotherapieform eignet sich nicht zum großen narzisstischen Denksprung. Noch ein Wort zu Freuds Analysieren der Sexualität. Er deutet zwar bei der Gouvernante, dass sie in den Hausherrn verliebt ist, aber er fragt sie nicht, welche sexuelle Praktiken mit ihr haben will. Er ist also in dieser Hinsicht taktvoll. Und er kennt Kinsey, einer der führen­ den Sexualwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, selbstredend nicht. Zurück zu den Vorlesungen Freuds und dessen Konzeption des Narzissmus: »Man sagt sich dann alsbald, wenn es eine solche Fixierung der Libido an den eigenen Leib und die eigene Person anstatt an ein Objekt gibt, so kann dies kein ausnahmsweises und kein geringfügiges Vorkomm­ nis sein. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass dieser Narzissmus der allgemeine und ursprüngliche Zustand ist, aus welchem sich erst später

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11.9 Die Zerlegung der Seele

die Objektliebe herausbildete, ohne dass darum der Narzissmus zu verschwinden brauchte. Man musste sich ja aus der Entwicklungsge­ schichte der Objektlibido daran erinnern, dass viele Sexualtriebe sich anfänglich am eigenen Körper, wie wir sagen … autoerotisch befriedi­ gen …« (Freud 1999, S. 401)

Wir halten fest: Freud führt deviante Sexpraktiken wie Analsex auf Triebregression zurück, Neurosen sind seines Erachtens Ergebnis des Kampfes zwischen Sexualtrieben und Selbsterhaltungstrieben; und nun wird auch noch der Narzissmus normalisiert. Er ist einfach ein frühes Stadium der Sexualentwicklung. Freud versteht sich darauf, nicht zu pathologisieren, oder wenig zu pathologisieren. Wir können bereits jetzt bilanzieren, dass die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie häufig die Krankheitslehre der Psy­ choanalyse übernimmt, ohne allerdings von Freud diesen Aspekt zu übernehmen, dass wir alle quasi natürlich pathologisch sind und damit letztlich nicht pathologisch. Noch ein letzter Blick auf Freuds Vorlesungen, nun auf die neuen Vorlesungen, gehalten zu Beginn der 30er Jahre in Wien. Eine Überschrift lautet: »Die Zerlegung der psychischen Persön­ lichkeit« (1999, S. 496). Alleine diese Überschrift würde es heute nicht mehr geben. Wer möchte schon die Psyche zerlegen? Es klingt, als würde ein Kind das Lego-Auto, das es gerade zusammengesetzt hat, mit Freude wieder auseinandernehmen. Zerlegung klingt in unseren Ohren heute aggressiv. Das, was dann Freud tut, ist die differenzierte Betrachtung der Psyche, ihrer unterschiedlichen Funktionen. »Dabei stellt sich ein Teil des Ichs dem übrigen gegenüber. Das Ich ist also spaltbar, es spaltet sich während mancher seiner Funktionen, wenigstens vorüberge­ hend.« (1999, S. 497). So kann sich das Ich selbst beobachten, ein Teil des Ichs sieht das andere des Ichs: »… dass die Sonderung einer beobachtenden Instanz vom übrigen Ich ein regelmäßiger Zug in der Struktur des Ichs sein könnte …« (ebd., S. 498) Das Ich ist also strukturell gespalten. Freud benennt das ganz nüchtern. Wir dagegen würden heute von der Fähigkeit zur Reflexion sprechen. In der kognitiven Verhaltenstherapie ist von der Selbstbe­ obachtung die Rede. Das klingt einfach netter als Spaltung. Und Freud sieht weitere Spaltungen der Psyche.

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»Schon der Inhalt des Beobachtungswahns legt es nahe, dass das Beob­ achten nur eine Vorbereitung ist für das Richten und Strafen, und somit erraten wir, dass eine andere Funktion dieser Instanz das sein muss, was wir unser Gewissen nennen. Es gibt kaum etwas anderes in uns, was wir so regelmäßig von unserem Ich sondern und so leicht ihm entgegenstellen wie gerade das Gewissen. Ich verspüre die Neigung, etwas zu tun, wovon ich mir Lust verspreche, aber ich unterlasse es mit der Begründung: mein Gewissen erlaubt es nicht. Oder ich habe mich von der übergroßen Lusterwartung bewegen lassen, etwas zu tun, wogegen die Stimme des Gewissens Einspruch erhob, und nach der Tat straft mich mein Gewissen mit peinlichen Vorwürfen, lässt mich Reue ob der Tat empfinden.« (ebd., S. 498)

Freud beschreibt hier also das Über-Ich, die nach dem Es und Ich dritte Instanz des psychischen Apparats. Er beschreibt damit die Psyche als eine ewige Kampfarena, als einen permanenten Krieg. Uns ist heute die Existenz des Über-Ichs wohl bewusst, wir würden aber eher von Ambivalenzen sprechen als von einem ewigen heftigen Konflikt zwischen den Instanzen. Wir haben also vieles abgeschwächt. Unsere Psyche ist also einfach netter als die vor 100 Jahren, zumindest netter als die von Freud beschriebene. Deshalb kann der tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ peut so vorsichtig und freundlich nachfragen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also zeitge­ mäßer als die Psychoanalyse nach Freud. Sie hat nicht vor, die Seele zu zerlegen, sie begreift die Seele nicht als Kampfarena. Die Seele ist netter geworden, so auch die der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin. Zu ihr passt keine Deutungshoheit mehr. Sie weiß, dass sie die Wahrheit nicht gepachtet hat. Sie hasst letztlich die Asymmetrie zwischen Behandlerin und Patient. In ihren Augen könnten sie und der Patient eigentlich Freunde sein, das müssen aber beide ein wenig verbergen. Schließlich haben sie ein psychotherapeutisches Arbeitsbündnis. Sympathisch finden sie sich aber dennoch.

11.10 Zusammenfassung Das Erstaunliche an Freuds Vorlesungen ist, dass er mit den Stu­ dierenden in Kontakt tritt, die Beziehung zwischen sich und ihnen thematisiert, daher davon ausgeht, dass die Beziehung vor dem Inhalt

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11.10 Zusammenfassung

steht. Er begreift Kommunikation wie die derzeitige Kommunikati­ onswissenschaft als gemeinsame Sinnsuche. Mit der Bedeutung des Unbewussten für die menschliche Psyche demontiert Freud das Menschenbild der Aufklärung, mit dem davon ausgegangen worden ist, dass die menschliche Vernunft und der menschliche Wille verhaltensbestimmend ist und die Psyche Herr­ scherin der äußeren Welt ist. Freud dagegen meint: Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus. Aber er soll Zugang zu sich finden, Zugang zum Unbewussten. Freuds Vision ist, möglichst viel des eigenen Unbewussten zu ergrün­ den, eine große Reise in die eigene große Seele zu unternehmen. Mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie soll auch der Zugang zu sich gefunden werden, aber sicherlich nicht so tiefgrei­ fend, wie dies die Psychoanalyse konzipiert. Schließlich geht es bei ihr um die Lösung aktueller Probleme. Eine psychotherapeutische Technik Freuds nennt sich die freie Assoziation. Die Patientin soll spontan das erzählen, was ihr gerade einfällt, um so Zugang zum eigenen Unbewussten zu bekommen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin wartet die freie Assoziation nicht ab, sie ist weniger zurückhaltend, sondern ist präsenter, strukturiert das Gespräch mehr und schränkt damit den Zugang zum Unbewussten ein. Eine andere psychoanalytische Technik ist die Deutung: einen rationalen Zusammenhang herstellen zwischen Biographie, aktueller Lebenssituation und aktuellem Leiden. Freud setzte diese Technik tendenziell imperial ein. Er ging davon aus, dass seine Deutung richtig ist, und der Patient Widerstand dagegen entwickelt, weil er etwas nicht wissen will. Mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird dagegen ein gemeinsamer Verstehensprozess auf relativer Augen­ höhe eingeläutet. Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut weiß, dass er sich irren kann oder noch nicht alles begreift. Freud arbeitete mit der Übertragung: Der Psychoanalytiker bietet sich als Projektionsfläche an, und der Patient überträgt auf ihn unbe­ wusste Phantasien und Bilder, womit Konflikte aus der Vergangenheit sich reaktualisieren und bearbeitbar werden können. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin stellt keine Projektionsfläche dar. Sie ist präsenter und strukturiert das Gespräch und gibt der Klientin ein Feedback, wie sie sie erlebt. Sie ist fürsorglich und macht das, was Bion Containing genannt hat.

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Freud hat die Seele seziert wie der Chemiker seine Materialien. Es ist zu vermuten, dass dies unserer heutigen Mentalität nicht mehr entspricht. Wir gehen heute vermutlich davon aus, dass die Seele nur eine solche ist, wenn sie ein Stück weit geheimnisumwoben bleibt. Weiter unten wird noch genauer zu klären sein, ob die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie das nicht Sezierende unterstützt und befördert. Eine andere Interpretation zur geheimnisumwobenen Seele der Jetztzeit ist auch möglich. Der heutige Alltagsverstand hat Freuds Denken assimiliert. Es ist zum einen gleichsam selbstverständlich, Freudianisch zu denken: Ja, die Sexualität muss gelebt werden, sonst gibt es Probleme. Zum anderen denken wir quasi tiefenpsychologisch fundiert: Aber mit der Frau des Kollegen sollte ich nichts anstellen, auch wenn wir uns sehr gut verstehen, aber dann knallt es an meinem Arbeitsplatz. Und meinen Job möchte ich auf keinen Fall verlieren. Wenn wir Freudianisch denken, dann ist das Geheimnis der Seele sowieso mit an Bord: das Unbewusste. Und zugleich verlangen wir heute einen weiteren Aspekt für die Seele: Ja, sie denkt Freudianisch, aber eben nicht nur, da gib es auch gleichsam tiefenpsychologische Teile. Und dann gibt es also eine geheimnisvolle Seele, die es nur dann ist, wenn kein Versuch unternommen wird, sie gänzlich aufzudecken. Eine weitere Aneignung des Denken Freud lässt sich so formulie­ ren: Na klar sind wie zu guten Anteilen auch Narzissten, aber das ist ja nicht weiter schlimm. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Freuds Denken, dass Narzissmus nicht automatisch pathologisch ist, ist also uns zur Selbstverständlichkeiten geronnen. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie schwimmt womöglich genau in diesem Fahrwasser, die Selbstverständlichkeiten der Psychoanalyse zu übernehmen – etwa die Idee des Unbewussten – und: das Seele Sezieren nicht so vehement fortsetzen. Diese Psy­ chotherapieform hegt also eine heimliche Liebe zur geheimnisvollen Seele, die gar nicht so fürchterlich ist, die gar nicht fürchterlich ist. Diese Psychotherapieform passt also besser in unsere Zeit. So reproduziert die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Idee der einigermaßen netten Seele unserer Tage.

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

Wie beziehen uns im Wesentlichen auf ein Standardwerk: »Tiefen­ psychologie«, »Band 3: Die Nachfolger Freuds«, herausgeben von Dieter Eicke (1982). Die entscheidenden Fragen bei dieser Rekonstruktion sind, wie sich die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie seit Freud verändert haben, und wie aufgrund dieser Änderungen eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie entwickelt werden konnte. Aber eventuell passt hier das Verbum »entwickeln« nicht ganz. Es könnten ja auch Diskontinuitäten festgestellt werden. Die Frage bleibt also noch offen, was die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie mit der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie zu tun hat. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, die angenommenen großen Transformationen hin zur tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie aufzuzeigen (geringere Frequenz, weniger Arbeit an Übertragung / Gegenübertragung, etc.), sondern die kleinen Schritte nachzuzeichnen, eben über die Werke der Nachfolgerinnen und Nach­ folgern Freuds. Wenn wir das eben genannte Standardwerk nutzen, um die Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie zu rekon­ struieren, dann geht es auch darum zu schauen, wie diese Geschichte nacherzählt wird. Ist etwa die Nacherzählung in sich stimmig? Und: Wird die Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie als Siegeszug oder als Untergang begriffen? Die Beantwortung dieser Fragen hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Positionierung der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie. Wird sie als Abfall vom (psychoanalytischen) Glauben begriffen? Erscheint sie als Fortsetzung des Siegeszuges der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie oder als Ausdruck des Unterganges?

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

12.1 Anna Freud Fangen wir mit seiner Tochter, Anna Freud, an. Vor allem sie hat ihn in seinen letzten Lebensjahren gepflegt. Aber das ist nicht das, weswegen sie einen großen Platz in der Geschichte der Psychoanalyse hat, vielmehr deswegen, weil sie exzellente Texte verfasst und den Aktionsradius der Psychoanalyse deutlich erweitert hat (Besser 1982). Im Konflikt zwischen der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie und der Psychoanalyse erscheint aus Sicht der ersteren die zweite wie ein Dogma, wie ein Manifest, wie ein Parteibuch, in Eis erstarrt. Aber gerade an Anna Freuds Werk ist zu erkennen, wie lebendig und vielfältig die Psychoanalyse ist und gewesen ist. Anna Freud war bei der Entwicklung der Kinderanalyse mit dabei, »… die Analyse von der Neurosenbehandlung Erwachsener sowohl auf verschiedene Störungen als auch auf verschiedene Alters­ stufen auszudehnen. In jener Zeit begannen Sigfried Bernfeld sich mit verwahrlosten Jugendlichen, Aichhorn mit eigensinnigen Jugendli­ chen zu beschäftigen. Sadger wandte sich den Perversionen zu, und Federn begann schließlich auf dem Gebiet der Psychosen analytisch zu arbeiten.« (ebd., S. 9) Die damalige Psychoanalyse vor ca. 100 Jahren war also extrem adaptiv, flexibel und praxisorientiert. Sie war weit davon entfernt, nur im Psychoanalytiker-Sessel in der Praxis festzukleben. Das typische Bild des Psychoanalytikers also – er sitzt in seiner eigenen Praxis auf einem Sessel gegenüber der Couch – ist damit stark relativiert. Anna Freud und ihre Kollegen versteckten sich nicht gleichsam in der eigenen Praxis, sondern gingen hinaus ins Feld. Sie leiteten Kin­ derheime, arbeiteten mit jüdischen Kriegswaisen (ebd.). Mit diesen wurde gewiss nicht an Übertragung und Gegenübertragung gearbei­ tet. Und die damalige Psychoanalyse bekriegte sich intern, so zum Beispiel Anna Freud mit Melanie Klein wegen der Kindertherapie, »eine unüberwindbare Kluft entstand« (ebd., S. 12). Mit »teilweise unsachlicher Schärfe« (ebd.) seien die Konflikte ausgetragen worden. Jetzt verstehen wir die Angriffe Jaeggis und Riegels und anderer Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auf die Psychoanalyse eventuell besser (siehe weiter oben). Sie gehören offenbar zur kriegerischen Tradition der Psychoanalyse. Das wäre zumindest eine Interpretation. Träfe sie zu, dann würde sich die

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12.1 Anna Freud

tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie damit indirekt zur Psy­ choanalyse bekennen. Und: Wenn wir die Vielfalt, die Flexibilität und Adaptivität der traditionellen Psychoanalyse anerkennen, dann können wir nicht mehr polarisieren zwischen einer dogmatischen Psychoanalyse und einer beweglichen multimethodalen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Vielmehr können wir behaupten, dass die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie, was den Krieg betrifft, die traditionelle Psychoanalyse einfach fortsetzt. Und dieser Krieg ist nur möglich, wenn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Psychoanalyse in die Ecke stellt: Sie sei unflexibel, dogmatisch und verstecke sich in der psychotherapeutischen Praxis. Um ein Beispiel für den Streit zwischen Melanie Klein und Anna Freud zu geben: »Zunächst greifen Melanie Klein und auch ihre Anhänger die von Anna Freud durchgeführte Einleitungszeit mit dem Argument an, wenn man schon die Differenzen zwischen Erwachsenen und Kindern im Hinblick auf die Technik herausstreiche, dann sei es inkonsequent, beim Kinde eine ähnlich bewusste Einstellung zur Analyse erzielen zu wollen wie beim Erwachsenen. Eine bewusste Einstellung des Kindes zur Analyse sei gar nicht nötig, da das kindliche Ich noch stark unter der Herrschaft des Unbewussten stehe.« (ebd., S. 27)

Aus dieser Thematik einen polarisierenden Konflikt zu machen, ist doch sehr beeindruckend. Es hätte ja vollkommen ausgereicht, diese Thematik als noch nicht abschließbare Debatte zu sehen. Anna Freud und ihre Kolleginnen entwickelten eine neue For­ schungsmethode: das Beobachten von Kindern (ebd., S. 15), etwas, das heute noch umfangreich betrieben wird (Dornes 1994). Die Gruppe um Anna Freud begreift die Psychoanalyse als etwas, das sich in ständiger Veränderung befindet. Vom starren Dogma kann nicht die Rede sein. »Eine weitere Gruppe ist mit der historischen Entwicklung und gegen­ wärtigen Brauchbarkeit psychoanalytischer Konzepte und Vorstell­ ungen befasst, eine andere wiederum beschäftigt sich systematisch mit den auftretenden klinischen Bildern, wie etwa Esssucht, Medikamen­ tenabhängigkeit und deren Vorstufen in der Kindheit. Ebenfalls sind Probleme der Pubertät, Grenzfälle zu Psychosen und Simultananalyse von Kind und Eltern Themen von Forschungsprojekten.« (Besser 1982, S. 20)

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

Wir fassen vorläufig zusammen: Kaum zu glauben, wie innovativ und beweglich die Psychoana­ lyse damals war. Nein, sie konzentrierte sich nicht nur auf Neurosen. Und sie ging multimethodal vor. Mit der von Jaeggi und Riegels et al. als Feindbild skizzierten Psychoanalyse hatte sie nichts zu tun. Sie war so offen und experimentell, wie sich Jaeggi und Riegels et al. vermut­ lich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wünschen. Und wir müssen uns dann auch fragen, warum in heutiger Zeit die Psychoanalyse, zumindest in Deutschland, nicht mehr so innovativ und experimentell ist wie vor 100 Jahren. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Aber es wäre sicherlich sehr spannend und notwendig, dieser Frage nachzugehen. Von Fortschritt ist in diesem Zusammenhang offenbar nichts zu spüren.

12.2 Hartmann Wir fahren fort mit dem Werk des Psychoanalytikers, Heinz Hart­ mann (Waldhorn 1982), dem das nächste Kapitel in »Tiefenpsycholo­ gie Band 3« gewidmet ist. Bereits in der Einleitung des Kapitels wird darauf hingewiesen, dass Hartmann versucht hat, die Psychoanalyse mit »dem Anliegen der Soziologie in Einklang zu bringen« (ebd., S. 53). Um der weiteren Vorstellung Hartmanns vorwegzugreifen, bedeutet dies pragmatisch, dass die Umwelt und die Anpassung an die Umwelt durch Ich-Leis­ tungen fokussiert werden. So unzweifelhaft relevant dies auch sein mag, es bedeutet auch, dass das Unbewusste und die Sexualität in die zweite Reihe gerückt werden und damit auch Freud. Reduziert wird damit das Provokante von Freud. Die Psychoanalyse normalisiert sich. Der Bezug zu KulturAvantgarden geht damit verloren. Der Begründer des Surrealismus, Breton, hätte Hartmann niemals besucht. Bei Freud ist er gewesen. In gewisser Weise bedeutet dies eine Rückkehr zum Menschenbild der Aufklärung. Nach Kant ist der Mensch durch Vernunft und Wille bestimmt. Er soll nach diesen handeln. Nach Hartmann ist das Ich dafür zuständig, die Realitätsanpassung zu gewähren. Zwischen Kant und Hartmann ist die Differenz nicht groß, der Begründungszusammenhang ist zwar unterschiedlich, aber die Fokussierung auf Vernunft und Ich ist das Verbindende.

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12.2 Hartmann

In gewisser Weise überwindet sich die Psychoanalyse damit selbst. Und der Weg zur tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie ist damit vortrefflich geebnet, geht es der doch im Wesentlichen darum, den Patienten, die Patientin dazu befähigen, besser mit seinem Leben fertig zu werden, das Ich dabei zu unterstützen, sich der Realität besser anpassen zu können. Die Psychoanalyse schafft sich also in gewisser Weise selbst ab, aber nur in gewisser Weise. Sie gewinnt auch enorm hinzu: dazu beitragen zu können, dass Klientinnen und Klienten das eigene Leben besser meistern lernen. Die Psychoanalyse entwickelt damit gewissermaßen eine Lebenskunst, sie unterstützt die Patienten und Patientinnen dabei, sich um sich sorgen zu können. Das kann sie nur, wenn sie weiß, was ein gutes Leben ist. Für Freud war dies Arbeitsund Liebesfähigkeit. Aber dieses eher vage Ziel bedarf durchaus einer Aktualisierung. Was bedeutet heute etwa Arbeitsfähigkeit? Meint dies, dass ich genug verdiene? Meint dies, dass ich mit meiner Arbeit zufrieden bin? Meint dies, dass ich mich in meiner Arbeit weiter qualifizieren kann? Meint dies, dass ich trotz Arbeit genug Freizeit für mich habe, oder Zeit für meinen Freundeskreis, meine Familie? Und: Wie definiert die derzeitige Arbeitswissen­ schaft Arbeitsfähigkeit? Die eben erwähnte Sorge um sich ist eine der wichtigsten Tugen­ den des Abendlandes (Foucault et al. 1993). Das Leben kann in dieser Perspektive gestaltet werden, es kann gut gestaltet werden. Diese Idee von Lebenskunst widersetzt sich zu Anteilen unserem Alltagsverstand. Nach ihm wird unser Leben von sozialen Anforde­ rungen bestimmt: Kindergarten, Schulpflicht, Ausbildung oder Stu­ dium, Beruf, Haus bauen, Kinder bekommen, Rente, Tod. Das war es. Die Idee von Lebenskunst will genau mit diesem Alltagsverstand nichts zu tun. Wir können entscheiden, welches Leben wir leben wollen, welches Leben für uns ein gutes ist. Wir können also unser Leben gestalten. Zurück zu Hartmann: Hartmann hat in der Geschichte der Psychoanalyse in gewisser Weise diese Idee der Lebenskunst eingeführt, zumindest Anstöße dazu geliefert, indem er sich auf die Ich-Leistungen konzentrierte, die ja so verstanden werden können, dass sie das gute Leben ermöglichen. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie setzt Hartmann fort: mit der impliziten Idee der Möglichkeit der guten Gestaltung des eigenen Lebens. Dazu bedarf es nur ein paar Behand­

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lungsstunden in dieser Psychotherapie. Dazu bedarf es nur eines klei­ nen Anstoßes mittels einer einstündigen Psychotherapie pro Woche in einem begrenzten Zeitraum. Mit dieser Psychotherapieform ist also ein Glaube verbunden, eine Überzeugung: In der Regel brauchen Menschen nur eines gewissen Anstoßes vonseiten des Psychothera­ peuten, um selbst gut laufen zu können – im eigenen Leben. Ein Antippen reicht quasi aus. In der Literatur zur tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie wird dies zuweilen als Ressourcenorientierung bezeichnet. Die Klientinnen und Klienten haben Lebenskompetenzen, auf die die Psychotherapeutin quasi nur hinweisen muss, die sie nur antippen muss. Dann ist sie nicht mehr die Heilende, sondern die Antippende. Die Macht, das Leben besser gestalten zu können, liegt dann weniger in ihren Händen, sondern in denen des Klienten. Festzuhalten bleibt, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie mit einem ungemein optimistischen Menschenbild arbei­ tet. Eigentlich könnten so Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als zwei gute und unterschiedliche Optionen der psychotherapeutischen Arbeit begriffen werden, die sich nicht bekriegen müssen. Mit der Psychoanalyse wird, wie ausgeführt, die Biographie aufgearbeitet, um so besser aktuelles Leiden verstehen und eventuell ändern zu können. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie konzentriert sich auf aktuelle Lebensprobleme. Eigentlich sind beide Psychotherapieverfahren einfach nur unter­ schiedliche Möglichkeiten, an sich zu arbeiten. Die eine muss nicht begriffen werden als die bessere, die andere nicht als die schlech­ tere. Dennoch geschieht genau dieses. Wie wir gesehen haben, wäh­ nen sich die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als weniger qualifiziert als ihre psycho­ analytischen Kollegen und Kollegen. Und erstere fürchten, von der Psychoanalyse nicht anerkannt zu sein. Die Geschichte der Psychoanalyse ist auch in dieser Hinsicht voll von Polarisierungen. Dieser Geschichte schließt sich, wie erwähnt, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie implizit an. Auch sie ruft zum Krieg auf. Damit wird sie implizit Teil der Psychoanalyse und ihrer Geschichte. Diese Polarisierungen haben vermutlich insgesamt katastro­ phale Folgen für die Psychoanalyse. Sie erscheint potenziell als ein Schauplatz, auf dem sich Hooligan-Gruppen -die unterschiedlichen

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psychoanalytischen Theorien, die unterschiedlichen Sekten – quasi totschlagen dürfen. So ist die Reputation der Psychoanalyse dahin. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie läuft Gefahr, dass mit ihr perspektivisch dasselbe passiert. Es muss ja nicht heute passieren, aber in paar Jahrzehnten? Innerhalb der nächs­ ten Jahrzehnte? Interessanterweise streiten sich die Vertreterinnen und Vertre­ ter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit der Psy­ choanalyse, aber so gut wie nicht untereinander, auch wenn ihre unterschiedlichen Konzepte ins Auge springen und die Kontroversen mehr als offenkundig vorhanden sind. Vielleicht wird diesbezüglicher potentieller Streit vermieden, um so nicht die Geschichte der Psycho­ analyse fortzusetzen mit ihren quasi unendlichen Polarisierungen und Kriegen. Wir verfolgen die Polarisierungen auf dem Feld der Psychoana­ lyse weiter, nun im Falle zwischen Freud und Hartmann. Die Demontage Freuds beginnt bei Waldhorn (1982), der über Hartmann geschrieben hat, damit, dass Freud von ihm falsch gewür­ digt wird. »Man darf wohl die Kenntnis der Tatsachen voraussetzen, dass die Entwicklung der Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts in den Arbeiten von Sigmund Freud Ende der neunziger Jahre des neunzehn­ ten Jahrhunderts in Wien ihren Anfang nahm …« (ebd., S. 53)

Hat es da nicht auch einen Pawlow gegeben, der etwa im gleichen Zeitraum wie Freud das klassische Konditionieren zufällig entdeckte, aus dem dann Watson die Theorie des Behaviorismus entwickelte (Klotter 2020)? Also: Es gab mehrere Anfänge. Es gab auch eine expe­ rimentelle Psychologie eines Wundts und Fechners (Schmidt 1995). Diese experimentelle Psychologie ist in Deutschland entstanden und wanderte dann in die USA. Mit dem Satzende von Waldhorn Statements, das gerade zitiert wurde, »ihren Anfang nahm« ist ausgesagt, dass es weiterging. Freud war eben nur der Anfang. Der Urgroßvater, an dem sich niemand mehr richtig erinnert. Klar ist nur, dass es ihn gegeben hat. Vor Urzei­ ten. Waldhorn führt dann weiter aus, dass Freuds wissenschaftlicher Werdegang von der Beschäftigung mit dem Traum, dem Unbewussten also, über die Thematisierung der Sexualität zur Strukturtheorie der Psyche führte, also geradewegs zum Ich. Und genau diesen Freud habe Hartmann fortgesetzt und eben auch überwunden.

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»… und ihre (Hartmann und Kollegen wie Kris etwa; A. d. A.) gemein­ samen Anstrengungen stellten einen beachtenswerten Fortschritt dar in der Richtung auf Freuds ursprüngliches Ziel hin, Psychoanalyse als allgemeine Psychologie zu formulieren.« (ebd., S. 56)

Nun beschäftigt sich die sogenannte Allgemeine Psychologie der üblichen wissenschaftlichen Psychologie mit dem experimentell zu erforschenden menschlichen Erleben und Verhalten. Sie würde nicht im Traum darauf kommen, einen Traum zu deuten. Schon wieder wird Freud in eine falsche Ecke gerückt. »Schon von Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn an setzte Hart­ mann, der auf empirisch und wissenschaftlich erfassbaren Daten bestand, einen Akzent auf methodische Probleme, was zu seinem Ent­ wurf der Psychoanalyse als Wissenschaft führte.« (ebd., S. 56)

Wir können wiederholen: Mit dieser Aussage wird Freud indirekt als Nicht-Wissenschaftler etikettiert. Und was sind »empirisch und wis­ senschaftlich erfassbare Daten«? Sind das die handschriftlichen Auf­ zeichnungen einer Psychotherapiestunde durch die Psychotherapeu­ tin? Wir sehen also, dass etliche Nachfolger Freuds den Versuch unternommen haben, seine Psychoanalyse zu demontieren. Zumin­ dest beabsichtigt das Waldhorn. Zumindest ist ihm das zu unterstel­ len. Freud sei ja nicht einmal Wissenschaft gewesen dagegen die Psy­ choanalyse Hartmanns schon: »Ihr Ansatz ist empirisch erarbeitet und muss empirisch verifiziert werden.« (ebd., S. 57) Wer heute, aber auch vor 40 Jahren, von verifizieren spricht, belegt, dass sie oder er von Wissenschaftstheorie keine Ahnung hat. Popper hat sehr triftig belegt, dass empirische Daten nicht zu verifizieren, sondern nur zu falsifizieren sind (Klotter 2020). »Weitere Schwierigkeiten wurden im Rahmen der Kritik an der Schule der ›Verstehenden Psychologie‹ untersucht …« (ebd., S. 57) Nun ist die Psychoanalyse im Wesentlichen eine verstehende und keine erklärende Psychologie. Sie ist Hermeneutik. Sie erklärt nicht naturwissenschaftlich Ursache-Wirkung, unabhängige Variableabhängige Variable, sondern versucht, ein vielfältiges interaktives Faktorengemisch der Psyche zu verstehen, das zudem von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, unterschiedlich sein kann. Hermeneutik ist nicht schlechter als das naturwissenschaftliche Vorgehen. Sie ist nur anders, weil sie sich mit einem extrem kom­ plexen Gegenstand befasst, der menschlichen Psyche, der jeweils einzigartigen menschlichen Subjektivität. Sie ist damit beim Ver­

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such, das komplexe psychotherapeutische Geschehen zu erfassen, gegenstandsangemessener (Klotter 2001). Dass Erklären von einem Psychoanalytiker höher bewertet wird als Verstehen, grenzt an das Groteske. Festzuhalten bleibt, dass mit der Präferierung des Erklärens die Psychoanalyse entwertet wird. »Er (Hartmann, A. d. A.) meinte, man könne sagen, dass sich sein Ansatzpunkt bei den verschiedenen Problemen und Hypothesen auf den entwicklungsmäßigen, den adaptiven und den ökonomischen Aspekt des Ichs konzentrieren, und zwar auf eine Weise, die … den Austausch zwischen Wissen, das in der Analyse und dem, das durch andere Methoden der Psychologie gewonnen wurde‘, erleichtern konnte.« (ebd., S. 61)

Jahrzehnte später wird psychotherapiebezogen Vergleichbares von Jaeggi und Riegels et al. (siehe weiter oben) ebenso eingefordert – für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie! Wir sehen also, wie überaus deutlich in dieser Hinsicht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie der Geschichte der Psy­ choanalyse und der Tiefenpsychologie entspringt, sich zumindest in diese einordnen lässt. Aber die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wissen das vermutlich nicht, oder wollen das nicht wissen. Wir sehen also, wie wichtig der Blick in die Geschichte der Psychoanalyse, der Tiefenpsychologie und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist. Nur so können wir versuchen zu verstehen, wie letztere Psychotherapieform entstanden ist und was sie ausmacht. Diejenigen, die die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie so benannt haben und auf den Markt gebracht haben, kannten ver­ mutlich Hartmann nicht. Sie haben ihn nicht rezipiert. Sie haben vermutlich einfach den Geist der Zeit geatmet, der eine pragmati­ schere Psychoanalyse einforderte, die zum Beispiel auch dazu bereit ist, andere Psychotherapiemethoden zu integrieren. Zu Hartmanns Vorstellung vom Ich: »Hartmann betonte nicht nur den Einfluss äußerer Realität, sondern auch den Einfluss ererbter Ich-Merkmale auf die Ausdifferenzierung (des Ichs, A. d. A.). Weil sich die konstitutionellen Faktoren, wie sie der Wahrnehmung, der Bewegungskontrolle, der Erfahrung, der Gedächtnisbildung und dem Lernen zur Verfügung stehen, in teilweise Übereinstimmung mit ihrer eigenen physiologischen Reifungsabfolge entwickeln, wies Hartmann hier auf eine ›primäre Autonomie des Ichs‹

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hin. Diese Funktionen sind auf die Interaktion mit der Umgebung aus­ gerichtet und für die Entwicklung der hauptsächlichen Ich-Funktionen der Anpassung, der Integration, der Synthese und der Selbsterhaltung wesentlich.« (ebd., S. 61)

Wir sehen, hier wird das Ich wieder auf den Thron gesetzt. Ohne Zweifel hat Freud das Strukturmodell der Psyche entwickelt mit den Instanzen des Es, Ich und Über-Ich, aber da gab es bei ihm noch das große Unbewusste und die Sexualität. Hartmann hingegen stattet das Ich mit vielen Funktionen aus, mit so vielen positiven Funktionen wie Anpassung etc. Die Psyche eines Menschen mit diesem Ich scheint kaum noch Konflikte zu haben. Bei Freud liegen die Instanzen des psychischen Apparats im ständigen Kampf. Bei Hartmann ist Psyche und Welt quasi einfach gut, ja, es gelingt dem Menschen, sich mit seiner Umwelt erfolgreich auseinanderzusetzen und sich ihr anzupassen. Es liegt für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nahe, sowohl Freud als auch Hartmann zu berücksichtigen: also die konflikthafte Psyche und die der Umwelt anpassungsfähige Psyche zu verbinden. Das macht sie aber nur implizit, nicht explizit. Die kon­ flikthafte Seele wird mit dem Begriff des Unbewussten angedeutet, mehr auch nicht. Und der nie endende Konflikt etwa zwischen den Instanzen des Strukturmodells nach Freud wird eher unauffällig hin­ ter die Kulissen gelegt. Das Drama der Seele ohne richtiges Happyend passt einfach nicht zur netten tiefenpsychologischen Seele. Dabei wäre es so wichtig, quasi die Dialektik zwischen der kon­ flikthaften und der netten Seele zu begreifen. Solange wir leben, haben wir Menschen intrapsychische Konflikte. Und wir haben zugleich die Möglichkeit, unser Leben einigermaßen gut zu leben. Beides gehört zum Leben. In diesem Spannungsverhältnis leben wir. Das bedeutet, dass sich die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie dem Menschenbild Freuds nicht anschließt. Aber dies wird in keinem der Standardwerken explizit genannt, wo es doch für jede Psychotherapie elementar ist, welches Menschenbild ihr zugrunde liegt. Für den traditionellen Psychoanalytiker ist die konflikthafte Seele eine unveränderbare Selbstverständlichkeit. Die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapeutin würde die Psyche als aktuell problematisch begreifen und würde versuchen, diese zu optimieren – etwa mit der Ressourcenorientierung.

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Ein fiktives Beispiel zur konflikthaften Seele: Wenn ich diese Sätze schreibe, muss ich darauf verzichten, etwas zu essen oder zu schlafen. Und eigentlich habe ich furchtbaren Hunger. Und eigentlich bin ich sehr müde, weil ich schlecht geschlafen habe. Aber ich muss dieses Buch bis zu einem bestimmten Termin fertig gestellt haben. Das ist vertraglich so geregelt. Ich kann aber den Vertrag nur erfüllen, weil ich meinen Hunger und meine Müdigkeit zurückstellen kann. Ich bin also auch anpassungsfähig. Und trotzdem rumort mein Magen. Und ich ärgere mich furchtbar, dass ich jetzt nicht in Ruhe essen kann. Dann bin ich vielleicht auf den Verlag wütend, dass er mir eine deadline gestellt hat. Oder ich ärgere mich über mich selbst, dass ich den Vertrag unterschrieben habe, ohne auf den Abgabetermin geachtet zu haben. Um dies zusammenzufassen: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist ja dazu auserkoren, das aktuelle Leben besser bewältigen zu können, damit sich der Mensch besser an seine Umwelt anpassen kann, besser integrieren kann, besser synthetisieren kann, besser sich erhalten kann. Und zugleich darf sie nicht vergessen, dass der Mensch konflikthaft ist, dass er stets unschlüssig ist, ob er jetzt etwas essen soll oder schlafen soll oder schreiben soll. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss wis­ sen, dass sich nicht wenige Menschen für das Essen oder den Schlaf entscheiden. Vermutlich sind es diejenigen, die Psychotherapie nicht in Anspruch nehmen. Aber auch bei denjenigen, die dies tun, gibt es Ambivalenzen. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss anerkennen, dass zum Leben das Scheitern mit dazu gehört. Für den einen ist das Schulfach Mathematik kaum zu meistern, für den anderen das Fach Chemie. Die eine Person hält Partnerschaften nicht aus, die andere kann wegen des Numerus clausus das Studium, das sie unbedingt machen wollte, nicht studieren. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss also die konflikthafte Psyche mit berücksichtigen wie das potenzielle Scheitern. Sie darf nicht dem Mythos verfallen »Alles ist möglich!«. Zugleich hält sie daran fest, dass Menschen approximativ ihr Leben besser in den Griff bekommen wollen und können. Wenn die Realität des potenziellen Scheiterns mit an Bord sein darf, dann sind die Erfolgskriterien nicht so unerbittlich, dann kann in

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einer Psychotherapie auch einmal festgehalten werden, dass das und das nicht oder weniger gelungen ist. Und die jeweilige Patientin, der jeweilige Patient muss sich deshalb nicht verurteilen, sich nicht an die Wand stellen, um sich gleich zu erschießen. Die Selbstverurteilung bringt gar nichts und verschlimmert die Problemlage eher, weil dann auch das Selbstwert­ gefühl beschädigt wird, wenn irgendetwas im Leben nicht so klappt, wie es klappen soll. Und mit der Anerkennung der Realität des potenziellen Schei­ terns ist dann die Freude umso größer, wenn etwas gelingt, was jemand erreichen wollte. Wir bündeln: Hartmann ohne Freud erliegt zu leicht dem Machbarkeitsmythos unserer Zeit: »Alles ist möglich!« »Alles muss möglich sein!« Dieser Machbarkeitsmythos ist unter anderem entstanden über den rasanten technischen Fortschritt in den letzten Jahrhunderten. Vor 200 Jahren konnte sich niemand vorstellen, dass es Autos gibt, dass es Raumfahrt gibt, dass wir SMS verschicken können, usw. In einem Analogieschluss zum technischen Fortschritt erwarten wir dann von uns selbst, dass wir alles hinkriegen, was wir wollen. Dem ist aber nicht so. Und das muss in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit anerkannt werden. Zurück zu Hartmann: »Aus diesen Ich-Kernen im frühen Ich entwickeln sich Funktionen wie Objekt-Verständnis, Planung, Produktivität, Greifen, Krabbeln, Gehen, Denken, Sprechen und anderes, weitgehend abseits von Kon­ flikten, und sie müssen nicht in Konflikte einbezogen werden.« (ebd., S. 61)

Um diesen Zitat etwas zu ironisieren: Endlich sind wir wieder auf der sicheren Seite, auf der guten Seite, auf der entspannten Seite. Fast hätte es Freud geschafft, diese zu abzuschaffen. Aber dank Hartmann … So kann Waldhorn jubilieren: »Durch seine Lehren sind die moderne Entwicklung der Psychoanalyse und die Ausbildung der Ich-Psychologie … in enormen Umfang beein­ flusst worden. Die Anerkennung seiner Position in der Psychoanalyse wurde durch die Veröffentlichung zweier bemerkenswerten Festschrif­ ten …« (ebd., S. 77)

Das Groteske an diesem Jubilieren ist, dass eine quasi normale konfliktfreie Psyche auf den Thron gesetzt wird – in einer Zeit zweier

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Weltkriege. Mit dem Denken von Hartmann können die Weltkriege verleugnet werden. Der Mensch ist ja ein Guter. Vom Todestrieb wollen wir auch nichts wissen. Am besten ist, diesen Freud schnell zu vergessen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also zu Anteilen ein Kind Hartmanns. Das weiß sie aber nicht. Zumindest tut sie das nicht kund. Und diese Psychotherapie muss daher unausweichlich ein ambi­ valentes Verhältnis zu Freud haben: von ihm abstammend und sich von ihm getrennt habend. Erst die Trennung gibt ihr Identität und Daseinsberechtigung. Die heutige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sollte sich aus diesem Dilemma lösen. Sie muss weder Freud noch Freudia­ ner angreifen. Sie kann das nutzen, was sie aus der Psychoanalyse übernehmen will, sie kann aber auch offen für andere Verfahren sein. Sie sollte sich kritisch fragen, ob mit Hartmanns positiven Menschen­ bild die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu erklären sind. Dazu zählen nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch der Holo­ caust, die Diktaturen Stalins und Maos, die Millionen von Menschen das Leben gekostet haben. Das, was hier eingefordert wird, ist eine kulturwissenschaftliche und historiographische Erweiterung der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie. Sie muss sich historisch verorten: – – – – – –

Wie viel hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie von Hartmann übernommen? Hat die Theorie Hartmanns etwas mit seiner Zeit zu tun? Welches Menschenbild ist mit der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie verbunden? Folgt sie zu stark dem Machbar­ keitsmythos der Moderne? Haben die Zeitumstände (Erster Weltkrieg) dazu geführt, dass Freud den Todestrieb mit eingeführt hat, neben dem Liebestrieb? Und wie steht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zum Todestrieb? Gibt es für sie menschliche Destruktivität? Und sollte sie es geben: Wie beeinflusst sie den psychotherapeu­ tischen Prozess? Wie kann sie ihn beeinflussen?

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12.3 Melanie Klein Das nächste Kapitel in »Tiefenpsychologie Band 3« aus dem Jahre 1982 zu Melanie Klein könnten wir im Prinzip überspringen, da sie zwar sehr eigenständig gedacht, geforscht und publiziert hat, aber eher der Tradition Freuds zuzurechnen ist als der Hartmanns, da sie die Psyche des Kindes und des Erwachsenen als konflikthaft begreift (Riesenberg 1982). Sie ist also eher der Psychoanalyse zuzurechnen als der Tiefenpsychologie. Aber Melanie Klein hat Konzepte entwickelt, die für die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie sehr hilfreich sein können. Dies gilt für ihre Konzipierung der paranoid-schizoiden Position sowie der depressiven Position. Veranschaulicht werden soll dies über ein Fallbeispiel von Riesenberg aus einer Psychotherapie: »Nachdem ich mich etwas in sie hineinversetzt hatte, sagte ich Sheila bei meiner Deutung, dass es den Anschein habe, als sei ihr an dem, was ich sagte, nicht viel gelegen, da sie mit der ganzen Sache ja nichts zu tun haben wollte; mit ihrer Teilnahmslosigkeit beabsichtigte sie, dass ich mich hilflos und nutzlos fühlen sollte und total blockiert, vielleicht genauso, wie sie sich gefühlt hatte, als sie die Flasche in das Schau­ fenster warf.« (ebd., S. 98)

Das nennt sich projektive Identifizierung: unbewusste Auslagerung eigener unangenehmer Gefühle und negativer Selbstanteile in einen anderen, um dann diese im anderen steuern zu können. Dieser Psy­ choanalytiker soll sich so schlecht und hilflos fühlen wie Sheila selbst. Die paranoid-schizoide Position basiert also auf der projektiven Identifizierung, auf einer Spaltung in Gut und Böse, wobei ich dann in der Regel der gute und der andere der böse ist. Aber der andere kann an einem Tag der gute, am nächsten Tag der böse sein, am übernächsten Tag wieder der gute. Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: Ein maligner Narzisst, der auch Gewalt gegen andere ausgeübt hat, kommt zur Stunde, und ich fühle mich von einer Sekunde auf die andere völlig hilflos und überfordert. Ich wundere mich, dass ich überhaupt noch Sätze sagen kann: Subjekt, Prädikat, Objekt. Er verlagert also so seine schlechten Anteile in mich, um zumindest vorübergehend von ihnen befreit zu sein. Und ich bekomme mit seiner projektiven Identifizierung mit, wie schrecklich er sich fühlt. Psychotherapeutisch, für das Verstehen des Patienten, ist die projek­ tive Identifizierung hilfreich.

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12.3 Melanie Klein

Der gravierende Nachteil in der paranoid-schizoiden Position ist, dass ich meine eigenen negativen Selbstanteile nicht integrieren, nicht verarbeiten kann. Ich kann mich nicht weiter entwickeln. Ich weiß nur: Schuld ist immer der andere. Die depressive Position bedeutet dagegen, die eigenen negativen Selbstanteile anerkennen und integrieren zu können. »Kann ein Kind auf das Gute in einem Objekt vertrauen, so kann es auch aus dem Inneren aufsteigende schlechte Gefühle und Schmerzen leichter ertragen, ohne sie sofort nach außen projizieren zu müssen. Umgekehrt können durch eine Verminderung des massiven Projekti­ onszwangs die äußeren Objekte viel eher als gut empfunden und als solche verinnerlicht werden. Gleichzeitig wird das Ich durch seine grö­ ßere Fähigkeit, die Gefühle zu bewahren, daran gehindert, sich ständig in die Spaltung zu flüchten.« (ebd., S. 101)

Die depressive Position darf nicht verwechselt werden mit einer Depression. Mit dieser depressiven Position ist definitiv verbunden die Integration negativer Selbstanteile, auch der eigenen Schuld, etwa einem Objekt etwas angetan zu haben. Daraus erwächst im Sinne Melanie Kleins ein Bemühen um Wiedergutmachung. Derjenige, dem es nicht gelingt, die depressive Position zu erreichen, bleibt dagegen persekutorisch. So ist also die depressive Position mit psychischer Gesundheit gleichzusetzen. Und ein gutes menschliches Miteinander setzt das Bemühen um Wiedergutmachung voraus. So ist die depressive Posi­ tion gemeinschaftsstiftend. Eine fundierte tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kommt daher an Melanie Klein nicht vorbei. Mit ihrem Ansatz kann verstanden werden, wie Ich-Spaltung entstehen kann: durch die Auslagerung negativer Selbstanteile. Ziel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie muss es daher sein, behutsam sich den negativen Selbstanteilen zu nähern, um sie so nicht mehr auf andere projizieren zu müssen. Voraussetzung hierbei ist, dass der Psychotherapeut sich als gutes Objekt zur Verfügung stellen kann. Der Klient, die Klientin muss wissen, dass der Psychotherapeut ihm, ihr zugewandt bleibt, auch wenn er, sie Negatives bei sich entdeckt und die negativen Selbstanteile zuerst wahrnimmt und dann ansatzweise integriert. Balint ist das nächste Kapitel gewidmet. Er hat Freuds Werk um die Dimension der Objektbeziehung deutlich erweitert, aber er hat nicht den Weg zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

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gebahnt (Hoffmeister 1982). Daher muss er hier nicht weiter vorge­ stellt werden.

12.4 Erikson Anders sieht es mit Erikson aus. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist mit seinem Werk nicht zu fundieren, aber sie könnte sehr viel von ihm lernen, und zwar den eigenen Horizont zu erweitern, die Gesellschaft und die Kultur mit zu berücksichtigen, zu begreifen, dass eine bestimmte Gesellschaft die Psyche mit formt, dass letztere nur verständlich wird, wenn die Gesellschaft gleich mit analysiert wird. Zumindest meinem Eindruck nach passiert das heute so gut wie gar nicht mehr. Die aktuellen Psychotherapien haben sich anders als Freud von einem kulturwissenschaftlichen Blick verabschiedet. Die psychotherapeutische Praxis, unabhängig von der jeweiligen Methode, gleicht so einem Bunker. Alleine wie Erikson die Figur Hitlers herausarbeitet und ver­ ständlich macht, dass es eines besonderen Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg bedurfte, um ihm massenhaft Anhänger zu geben, ist zutiefst beeindruckend (Adams 1982). Ein einfaches Beispiel aus unserer Zeit: Würde der Psychothe­ rapeut, die Psychotherapeutin heutiger Tage die Kultur mitberück­ sichtigen, so würden sie sich fragen, warum Depressionen so stark zugenommen haben: – – –

Liegt es an einer Gesellschaft, die depressiv macht? Und was könnte an unserer Gesellschaft depressiv machen? Oder trauen sich mehr Menschen, offiziell an einer psychischen Störung zu leiden, und müssen sie diese nicht mehr verstecken unter einer somatischen Diagnose?

Wenn depressive Störungen häufiger diagnostiziert werden, könnte auch überlegt werden, wie unsere Gesellschaft funktioniert? Akzep­ tieren wir nicht, dass zum Leben die Depressionen dazu gehören? Fühlen wir uns gleichsam verpflichtet, immer glücklich zu sein? Der kultursensible Blick wäre zum Beispiel auch nötig, um zu begreifen, dass unsere Gesellschaft Essstörungen mit produziert, dass unser radikales Schlankheitsideal etwa dazu führt, dass Anorexia

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12.5 Schultz-Hencke

nervosa nur als eine kleine, letztlich vernachlässigbare Überspitzung des Heroin-Schicks auf den Laufstegen begriffen wird. Bulimia nervosa, die Ess-Brech-Sucht, ist historisch erst entstan­ den, als die Frauen mit dem Diäten anfingen, also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um der Schlankheitsnorm gerecht zu werden. Das Diäten kann dazu führen, dass Essdurchbrüche dadurch ver­ ursacht werden, die wiederum etwa mit selbst induziertem Erbrechen beantwortet werden, um der Schlankheitsnorm weiterhin zu genügen, um nach außen als selbstdiszipliniert zu erscheinen. Ohne diesen historischen Kontext des rigiden Schlankheitsideals und des Diätens gäbe es keine Bulimia nervosa nicht (Klotter 2015). Dieser kulturkritische Blick führt zu einer tendenziellen Entpa­ thologisierung der von Essproblemen Betroffenen. Es wird ihnen mehr Verständnis entgegengebracht, da davon ausgegangen wird, dass Essprobleme kulturell mit verursacht sind. Diese Sicht kann zudem die Betroffenen entlasten, sie können sich die eigenen Symp­ tome mehr verzeihen. Zurück zu den Nachfolgerinnen und Nachfolgern Freuds: Das Werk von Winnicott ist ohne Zweifel für die Geschichte der Psychoanalyse höchst bedeutsam, für das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie jedoch weniger relevant (Khan 1982). Die von Reich geschaffene Verbindung von Psychoanalyse und Politik ist analog zu verstehen (Büntig 1982).

12.5 Schultz-Hencke Fahren wir fort mit der Neo-Psychoanalyse von Schultz-Hencke (Zander 1982). Um seine zentrale Abgrenzung zu Freud zu skizzieren, zitieren Zander Schwidder, einen Schüler Schultz-Henckes: „›Schultz-Hencke erkannte die Richtigkeit der Erkenntnisse und klini­ schen Beobachtungen von Freud, wandte sich aber bereits in seinem ersten Buch 1947 gegen die Erweiterung des Begriffes Sexualität, indem er neben sexueller andere primäre Kinderwünsche stellte, die er zwar als triebhaft, aber nicht im engeren Sinne als sexuell beschrieb‹“. (ebd., S. 298)

Jetzt haben wir den großen Bruch: Sex ist nicht alles, sagt SchultzHencke, und es ließe sich interpretieren: Dies ist eine Abkehr von der

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jüdischen Psychoanalyse. Und Neo-Psychoanalyse, das ist deutsch, das ist arisch. Bei den Deutschen steht nicht der Sex, sondern die Tapferkeit im Vordergrund. Er ließe sich auch so verstehen, dass durch Schultz-Hencke Freud in die Verbannung gebracht worden ist. Was ist bei Zander dazu zu lesen? Vergleichbare Interpretationen seien offenbar bereits getätigt worden, sie träfen aber nicht zu: »Immerhin scheint die lange aufrechterhaltene ungerechtfertigte Behauptung, Schultz-Hencke sei ›ein Nationalsozialist‹ gewesen und habe aus opportunistischen Gründen die Freudsche Terminologie und Libidotheorie ›verraten‹, in fast allen Veröffentlichungen verstummt zu sein.« (ebd., S. 299)

Lassen wir Schultz-Hencke selbst zu Wort kommen. 1997 erscheint eine Broschüre von einem Berliner psychoana­ lytischen Institut »Über die Schwierigkeit, die eigene Geschichte zu schreiben« und es hat zum Inhalt »Daten-Dokumente-Texte zur Geschichte des Instituts für Psychotherapie e.V. Berlin«. Es handelt sich hierbei um eine »Arbeitskopie zum Selbstkostenpreis – Nicht für den Handel bestimmt«. Hierin ist eine Abschrift eines Vortrages von Schultz-Hencke »Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel« (aus: Zentralblatt für Psychotherapie, 7, 1934, 84–97). Er führt aus, dass Psychotherapie nicht reine Wissenschaft ist: »In der Psychotherapie bestimmen Wertgefühl, Wille, Blut, Leben das Ziel und nicht die Wissenschaft. Auch die Gesundheit ist nicht etwa Wert an sich. Sie ist nicht unter allen Umständen ein Wert, der ver­ wirklicht werden muss. Sie hat sich der Welt der Werte überhaupt ein­ zufügen … Von dieser Seite hat also ein Volk einen Anspruch darauf, dass auch die psychotherapeutischen Wertsetzungen der Gesamtheit der Werte eingeordnet werden.« (ebd., S. 40)

Also: Psychotherapie ist ein Mittel zu einem bestimmten Zweck, zur Erhöhung der Tüchtigkeit des Individuums, um damit die Tüchtigkeit des Volkes zu erhöhen. Und das hat einen Konnex mit »Wille, Blut, Leben«. Das klingt nicht so, als habe es mit der nationalsozialistischen Ideologie nichts zu tun. Ganz im Gegenteil! Die Gesundheit ist nicht Wert an sich, weil ja die jungen Männer in den Krieg ziehen sollen, für die Ehre Deutschlands. Dann ist der folgende Satz vollkommen logisch: »Wer gesunde Kraft beieinander hat, geht nicht seinen eigenen Weg. Er ist der Gemeinschaft, in der

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12.5 Schultz-Hencke

er lebt, verpflichtet und verbunden.« (ebd.) Der arische Soldat soll für sein arisches Volk sterben, auf dem Schlachtfeld! Und Schultz-Hencke nimmt Stellung, ob die Psychoanalyse die sexuelle Hemmungslosigkeit zum Ziel habe: »Dieses Missverständnis, es handele sich um Herstellung von Hem­ mungslosigkeit, konnte sich erhalten, weil zu viel Spekulation, Begriffsschiefheit und theoretische Abwegigkeit in das Lehrgebäude von ihm selbst und seinen Schülern hineingebracht wurde. So beson­ ders die Libidotheorie, der ›Pansexualismus‹.« (ebd., S. 46)

Wer Freud gelesen hat, weiß, dass er »Hemmungslosigkeit«, das vollständige Ausleben aller Triebe vollständig ablehnte. Denn er ging davon aus, dass menschliche Kultur erst entsteht, wenn Triebe unterdrückt werden, die Triebenergie sublimiert wird und diese dafür sorgt, dass Menschen arbeiten. So ist der Vorwurf Schultz-Henckes vollkommen abwegig und selbstredend, Freud angreifend, antisemi­ tisch. Besonders erschreckend dabei ist, dass es Schultz-Hencke voll­ kommen egal ist, ob er Freud angemessen versteht. Hauptsache ist der vernichtende Angriff auf ihn. Und er muss davon ausgehen, dass seine Leserinnen und Leser keine Ahnung von Freud haben oder sich einfach nur über die Vernichtung Freuds freuen. Es ist offenkundig, dass heutige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit der Neo-Psychoanalyse eines Schultz-Henckes zumindest auf den ersten Blick nichts zu tun hat. In ihrer historischen bürokratischen Definition ist sie psychoanalytisch gegründet. In und mit ihr geht es um die Gesundheit und Lebensbewältigung des Einzelnen und nicht um die Aufopferung des Individuums für Volk und Rasse. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie heutiger Tage muss dennoch explizit klarmachen, dass dem so ist. Das gehört zum Aufgabenheft der jetzigen und zukünftigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, zumal gewisse Parallelen zwischen der Neo-Psychoanalyse und dieser neuen Psychotherapieform vorhan­ den sein könnten, etwa die geringere Gewichtung der Sexualität als bei Freud. Es könnte sich also insgesamt der Verdacht regen, dass eine Neo-Psychoanalyse à la Schultz-Hencke antisemitisch inspiriert ist, schließlich war Freud Jude, und die Psychoanalyse wird von einigen als jüdische Wissenschaft betrachtet.

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

Dazu nun auch einiges mehr: Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist diese Recherche wichtig, weil mit ihr geklärt werden kann, was sie von dem Juden Freud übernommen hat und was nicht. Und überhaupt muss die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie gründlich ihre Geschichte rekonstruieren, um zu wissen, wer sie ist.

12.5.1 Der formale Bezug der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu Freud und der Neo-Psychoanalyse Bevor nun darauf eingegangen wird, ob es sich bei der Psychoanalyse um eine jüdische Wissenschaft handelt oder ob diese Etikettierung selbst antisemitisch ist, sein kann, soll diesbezüglich nochmals ein Blick in die Standardwerke der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie geworfen werden – um verstehen zu können, wie diese Psychotherapieform mit formalen Mitteln ihren Bezug / Nichtbezug zur Psychoanalyse herstellt. Taucht etwa in den Sachregistern die Sexualität überhaupt noch auf? Und mit Hilfe der Literaturverzeichnisse kann ermittelt werden, ob sich die Autorinnen und Autoren der tiefenpsychologisch fundier­ ten Psychotherapie mehr auf Freud oder mehr auf Schultz-Hencke und seine Schülerin Annemarie Dührssen beziehen, die in nationalsozia­ listischen Verbänden tätig war. Im Standardwerk von Reimer und Rüger (Hg.) (2000, 2012) taucht im Stichwortverzeichnis nicht mehr Sexualität auf, sondern »sexueller Missbrauch« (S. 310). Die Sexualität an sich ist offenbar der Rede nicht wert. In dem Buch von Reimer und Rüger ist die Literatur kapitelweise aufgeführt, weswegen die Recherche in dem Literaturverzeichnis nur exemplarisch vorgestellt werden soll. In einem Kapitel »Dynamische Psychotherapie« (Rüger und Rei­ mer), ein Begriff, der von Dührssen geprägt worden ist, sind sechs Texte von ihr genannt, zwei von Schultz-Hencke und keiner von Freud (S. 112). Das liegt sicherlich an diesem Thema, aber eben nicht nur. In dem Kapitel »Grundlagen« desselben Werkes gibt es neun Verweise auf Freud, sieben auf Dührssen und zwei auf Schultz-Hencke

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12.5 Schultz-Hencke

(S. 24). Es ließe sich dies so interpretieren, dass für Reimer und Rüger, die Letztgenannten genauso wichtig sind wie Freud selbst. In Jaeggi, Gödde, Hegener, Möller (2003) gibt es kein Stichwort­ verzeichnis. In der Bibliographie werden quasi zahllose Werke von Freud aufgelistet. Es taucht hier nur einmal Dührssen und einmal Schultz-Hencke auf. Und es gibt gar ein Kapitel zur Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Aber auch hier wird vermieden, explizit Schultz-Henckes Affi­ nität zum Nationalsozialismus zu erwähnen. Von Dührssens Mit­ gliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen ist auch nicht die Rede. Bei Jaeggi und Riegels (2008) erscheint im Stichwortverzeichnis, wie gesagt, die Sexualität gar nicht mehr. Im Literaturverzeichnis taucht Dührssen einmal auf, Freud sechsmal. Bei Wöller und Kruse (Hg.) (2018) gibt es im Sachverzeichnis diverse Hinweise auf die Sexualität (S. 572). Im Literaturverzeichnis werden 24 Texte von Freud erwähnt, drei von Dührssen und drei von Schultz-Hencke. Die Psychoanalyse-Affinität ist hier also formal sichtbar. Boll-Klatt und Kohrs (2018) gibt es im »Sachwortregister« kei­ nen Hinweis auf Sexualität. Im Literaturverzeichnis wird Freud 23mal erwähnt, Dührssen viermal, Schultz-Hencke einmal. Also auch hier ist formal ein klarer Bezug zu Freud feststellbar. Aber die Neo-Psycho­ analyse bleibt nicht unerwähnt. Bei Rudolf (2019) findet die Sexualität im Sachwortregister keine Erwähnung. Dührssen taucht im Literaturverzeichnis zehnmal auf, Schultz-Hencke einmal. Von Sigmund Freud ist nicht die Rede. Es gibt hier formal also ein klares Votum für die Erstgenannten. Rudolf weist auch darauf hin, dass er und Rüger zum 100. Geburtstag von Dührssen ein Buch für sie geschrieben haben (S. 10). Von einem kritischen Abstand zu ihr kann also nicht die Rede sein. Um dies zu bündeln: Die Sexualität scheint bei den vorgestellten Autorinnen und Autoren der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mehr­ heitlich nicht mehr der Rede wert zu sein. Freud hätte sich das nicht einmal vorstellen können. Das, was hier schon vielfach hervorgehoben worden ist, findet sich nun so bestätigt: Der Sex, der ist eher Vergangenheit oder nicht mehr der Rede wert zu sein.

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12 Die Nachfolge Freuds – Geschichte der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie

Der Verdacht, der sich hierbei einstellt, ist, dass damit Freud quasi abgeschafft ist. Damit ist ein potenzieller Ort des Antisemitis­ mus geschaffen. Der muss nicht sein, kann aber sein. Damit ist ein potenzielles Flüchtlings-Camp für Antisemiten geschaffen. Auch in diesen zu Anteilen formalen Zusammenhängen von Zitierweise und Aufbau des Sachwortregisters wird ersichtlich, dass die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ein heterogenes Feld aufgebaut haben: da die ten­ denziellen Fans der traditionellen Psychoanalyse, dort die stillen Revolutionäre, die Freud in den Keller gestellt und die Tür zum Keller gut abgeschlossen haben.

12.6 Zusammenfassung Das flexible multimethodale Vorgehen ist nicht von der tiefenpsy­ chologisch fundierten Psychotherapie erfunden worden. Die Tochter Freuds, Anna Freud, und ihre Kollegen haben dies bereits umfassend umgesetzt, vermutlich viel umfassender, als dies die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie jemals tun könnte. Das Werk Hartmanns veranschaulicht, wie die Psychoanalyse selbst den Weg zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ebnet. Er fokussiert auf Ich-Leistungen, auf Realitätsanpassung. Das Provokante Freuds wie die Sexualität ist damit relativiert bis getilgt. Geht Freud davon aus, dass der Mensch prinzipiell im Konflikt lebt, etwa im Konflikt der Instanzen des psychischen Apparats: Es, Ich, Über-Ich, so konzipiert Hartmann den Menschen als tendenziell konfliktfrei. Hartmann ist so für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie implizit anschlussfähiger als Freud. Das ist potentiell problematisch. In dieser Psychotherapieform müsste diskutiert werden, wie konflikthaft der Mensch ist. Die Psychotherapeutin, der Psychotherapeut, sitzt in dem Gespräch mit dem Klienten vollkommen anders da, wenn Freudia­ nisch oder mit der Haltung Hartmanns gearbeitet wird. Mit Freud endet der intrapsychische Konflikt mit dem Tod, und davor ist das Leben ein ständiges Ringen, ein stets anfälliger Kompromiss. Mit Hartmann ist im Prinzip immer alles gut. Die Psychotherapeutin, die mit Freud arbeitet, ist also skeptisch, was den Psychotherapieerfolg betrifft, schließlich ist der Mensch im Sinne der Psychoanalyse vom Scheitern immer bedroht. Sie ist

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12.6 Zusammenfassung

sich auch nicht sicher, ob er alle Probleme seines Lebens in den Griff bekommt. Der Psychotherapeut, der quasi bei Hartmann in die Lehre gegangen ist, ist da viel optimistischer. Er muss nur ein bisschen die Ich-Funktionen seines Patienten adjustieren, und schon läuft alles rund im Leben, zumindest vieles rund. Im Sinne Melanie Kleins ist zu lernen, dass, wenn sich die Psychotherapeutin als gutes Objekt zur Verfügung stellt, der Klient in die Lage versetzt wird, negative Selbstanteile wahrzunehmen und zu integrieren und nicht mehr zu projizieren. Ich-strukturelle Defizite können so reduziert werden. Erikson hat herausgearbeitet, dass eine bestimmte Kultur eine bestimmte Psyche schafft, mit schafft, dass die Psyche also kulturab­ hängig ist. Diese Annahme müsste dringend von der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie übernommen werden: In welcher Kultur leben wir und wie formt sie die Psyche der Menschen, die in Behand­ lung kommen? Und wie bestimmt die Kultur mit, was unter Psycho­ therapie verstanden wird? Von Schultz-Hencke muss sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie explizit distanzieren. Er stand der Nazi-Ideologie sehr nahe und hat Freud attackiert, etwa Freuds Vorstellung über die Rolle der Sexualität nahezu aufgehoben. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat zu überlegen, ob ihre relative Ignorierung der Sexualität etwas mit Schultz-Hencke zu tun hat. Eine mögliche Antwort lautet: Nein, nicht unbedingt! Die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie steht mit dieser Überlegung nicht in der Tradition Schultz-Henckes, sondern reagiert mit dem Zurückstellen der Sexualität auf eine veränderte kulturelle Bedeutung derselben. Sie ist keine theatralische Sensation mehr wie noch zu Freuds Zeiten, vielmehr hat sie sich normalisiert und trivialisiert. Dessen ungeachtet, ist nicht auszuschließen, dass sich die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie zugleich quasi heimlich auf die Seite von Schultz-Hencke stellt, wenn ihr die Sexualität anscheinend nicht mehr so wichtig ist.

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13 Exkurs: Die jüdischen Wurzeln Freuds?

In einem Vorwort aus dem Periodikum »Luzifer-Amor – Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse« zu dem Thema »Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse« aus dem Jahre 1997 verneinen die Herausgeber, dass die Psychoanalyse eine jüdische Wissenschaft ist: »Dass sich Entsprechungen zwischen der Psychoanalyse und jüdischen Denkformen und Auslegungsweisen aufweisen lassen, die als Traditi­ onslinien gedeutet werden können, darf allerdings nicht darüber hin­ wegtäuschen, dass sie damit nicht als jüdische Wissenschaft dechif­ friert ist. Dagegen hat sich Freud stets verwahrt. Er weiß sich dem methodologischen Atheismus der neuzeitlichen Wissenschaft ver­ pflichtet, der solches verbietet.« (1997, S. 5)

Aber gleich der zweite Aufsatz in diesem Periodikum von Yigal Blumenberg relativiert diese Aussage. Wir werden diesen Aufsatz nun breiter vorstellen, um vertieft zu verstehen, was die Psychoanalyse ausmacht, wie sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie davon absetzt und wie letztere zugleich unausweichlich zu Anteilen Psychoanalyse ist und bleibt und sich genau damit stärker auseinan­ dersetzen muss. Setzt sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie über­ wiegend nur von der Psychoanalyse Freuds ab, so bleibt die Gefahr bestehen, dass sie im Fahrwasser der deutschen Psychoanalyse (Schultz-Hencke) verortet werden kann. Diese Kontrastierung zwischen Psychoanalyse und tiefenpsy­ chologisch fundierter Psychotherapie bietet auch die Chance, die einzelnen psychotherapeutischen Techniken nochmals näher anzu­ schauen und, falls nötig, mit Beispielen zu versehen. Der Artikel Blumenbergs ist aus unterschiedlichen Perspektiven interessant. Er zeigt auf, dass die Psychoanalyse nicht in toto als jüdisch inspiriert begriffen werden kann. Zugleich ist eine Denkfigur der jüdischen Kultur zentral für die Psychoanalyse, nämlich, dass durch die menschliche Psyche immer Risse gehen.

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Paradoxerweise offenbart sich auch, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in gewisser Weise jüdischer ist als die traditionelle Psychoanalyse. Blumenberg geht zunächst auf das historisch gravierende Prob­ lem ein, wie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus die Psy­ choanalyse quasi überlebensfähig gemacht werden kann: »Wie kann mit dem Wissen, dass die mit dem Nationalsozialismus identifizierten deutschen Psychoanalytiker die Diffamierung der ›Psy­ choanalyse als jüdische Wissenschaft‹ mitgetragen, die jüdische Psy­ choanalytiker ausgeschlossen und vertrieben haben, viele umgebracht wurden – wie kann mit diesem Wissen um die Liquidation der Psy­ choanalyse in den Jahren 1933–45 in Deutschland nach 1945 die Psy­ choanalyse erneut angeeignet und lebendig weiterentwickelt werden?« (Blumenberg 1997, S. 34)

Diese Frage Blumenbergs betrifft eben nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie muss ein explizites Verhältnis finden zur Geschichte der Psychoana­ lyse in Deutschland. Vergangenheitsbewältigung nennt sich das. Und sie muss explizit klären, ob die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie mit der deutschen Psychoanalyse aus der Nazi-Zeit etwas zu tun hat oder eben auch nicht. Das muss sie auch explizit sagen. Blumenberg zitiert aus Lockot (1995) die deutschen Psychoana­ lytiker, E. Boehm und C. Müller-Braunschweig, aus dem Jahr 1933 zu ihrer Sicht auf die Psychoanalyse. »Es ist zugegeben, dass sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und dass es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt.« (Blumenberg 1997, S. 38) Es darf doch nur eine deutsche Hand sein. Oder? Die jüdische Psychoanalyse wird von Boehm und MüllerBraunschweig zumindest kaserniert, wenn nicht liquidiert. Blumenberg zitiert auch C.G. Jung, den Schüler Freuds. »Solche Menschen reduktiv zu behandeln, ihnen hinterhältige Motive unterzuschieben und ihre natürliche Reinlichkeit auf unnatürlichen Schmutz zu verdächtigen, ist nicht nur sündhaft dumm, sondern gera­ dezu verbrecherisch … Technik ist immer ein seelenloses Schema … Schema aber bedeutet Borniertheit und Unmenschlichkeit.« (ebd., S. 38)

Es ist nahezu unfassbar, wie vehement Jung über Freud herzieht. Da wird Freud unterstellt, reduktiv zu arbeiten. Reduktiv meint hier vermutlich, dass Freud angeblich die Psyche des Menschen auf

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Triebe zurückgeführt hat. Aber wer Freud kennt, weiß, dass er die menschliche Psyche aufs Vielfältigste konzipiert hat. Menschen hätten eine »natürliche Reinlichkeit«, meint Jung, und vermutlich richtet sich sein diesbezüglicher Angriff gegen Freud auf die anale Phase. Aber vermutlich lieben wir Menschen beides: den Schmutz und ontogenetisch später die Reinlichkeit. Aber die Liebe zum Schmutz geht wahrscheinlich nicht verloren. Jungs Polarisierung in »natürliche Reinlichkeit« und »unnatür­ lichen Schmutz« ist besonders absurd. Reinlichkeit ist doch eher anerzogen, und Schmutz eher natürlich, zumindest für das Kleinkind. »Sündhaft dumm«, »geradezu verbrecherisch«: Wer das schreibt, ist das tendenziell selbst. Freud Dummheit zu unterstellen – das haben selbst seine fundamentalsten Gegner nicht angenommen. Und Freud war vom Verbrecherischen Lichtjahre entfernt. Und wenn wir psychotherapeutisch arbeiten, setzen wir immer Techniken ein, gewiss adaptiv, aber es bleiben Techniken. Und ohne Schemata können wir nicht denken. Und selbstredend hat er mit diesen Sätzen dazu beigetragen, dass die Psychoanalyse im deutschsprachigen Raum von Freud berei­ nigt worden ist und dass jüdische Psychoanalytiker im und vom Nazi-Deutschland ermordet worden sind. Jung ist dafür eindeutig mit verantwortlich. Dem hat er sich zeitlebens nie gestellt. Zurück zu Blumenberg: Und Jung ist nicht der einzige Sympathisant von Nazi-Deutschland. »Schon sieben Monate nach der ›Machtverleihung‹ im Januar 1933 hatten sich die deutschen Psychoanalytiker fast bruchlos einer mythi­ schen ›Volksreligion‹ angepasst, einer totalisierenden Idolatrie, die einem tyrannischen Götzen zu opfern befahl.« (ebd., S. 39)

Wir stehen heute in der Pflicht, dass sich Vergleichbares nicht wieder­ holt. Der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie kommt so unausweichlich die Aufgabe zu, sich von dieser deutschen Psychoana­ lyse explizit zu distanzieren. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie heutiger Tage hat, wie ausgeführt, insofern bereits einen anderen Schwerpunkt als Freud gesetzt, als sie dem Ich, dem Bewusstsein, der Vernunft einen weit größeren psychischen Raum zuordnet, als dies Freud getan hat. Wer aktuelle Krisen und Probleme bearbeiten will, setzt auf die Kraft der Vernunft. Weiter oben wurde dies beschrieben als Kompromiss zwischen Kant und Freud. Letzterer sah dies anders:

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»J. Canestri (1993) weist auf den Dreh- und Angelpunkt in Freuds For­ schungslogik hin, der in der unlöslichen Verbindung zwischen der Identität Freuds, jenen ›dunklen Gefühlsmächten, um so gewaltiger, je weniger sie sich in Worte fassen ließen‹ und der Fähigkeit, sich diesen ›Mächten‹ in Worten anzunähern, bestehe; eine Logik, die sich deutlich von der Aufklärung und dem Positivismus unterscheidet: Die Vernunft entstammt dem Unbewussten, dessen Status als ›Exil‹ erkannt werden muss, damit ein Fortschritt der Geistigkeit erzielt werden kann.« (ebd., S. 41)

Die Vernunft ist Resultat der Verarbeitung des gewaltigen, nur ansatzweise verständlichen Unbewussten. Und die Vernunft muss dies wissen. Sonst wird sie so anmaßend und blind, wie Kant den Menschen beschrieben hat: gesteuert von Vernunft und Wille (Klotter 2021). Sie wird auch zur absoluten Herrscherin über die Welt erklärt. Wenn Freud von der tendenziellen Unverständlichkeit des Unbe­ wussten ausgeht, wenn es hierbei nur vorläufige Annäherungsver­ suche gibt, mit denen nie alles – das Unbewusste – erfasst wird, dann kehrt Vorsicht und Bescheidenheit ein, dann ist die Psycho­ analytikerin dankbar, dass eine Übersetzung eines Traums in einen halbwegs vernünftigen Sinn gelingt, sie weiß aber auch, dass vieles nicht verständlich wird. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin hat in der Regel ein etwas anderes Menschenbild. Sie unterstützt ihren Patien­ ten dabei, sein Leben besser zu meistern. Gemeinsam denken sie darüber nach, was er mit seiner Frau besser klären soll, dass er endlich einmal mit seinem Chef auf der Arbeit ein Gespräch führen soll, dass er mehr Zeit für seine Kinder braucht. So geht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin davon aus, dass im Prinzip alles gut zu regeln ist, falls nicht, muss eben etwas geändert werden: Ende der Ehe, ein neuer Arbeitsplatz, usw. Sie setzt stärker auf die Vernunft. Sie ist zu Anteilen dem optimistischen Machbarkeitsmythos der Moderne verschrieben. Sie hat das Zepter in der Hand. Aber genau mit der Freudschen Sicht wird aus diesem tiefen­ psychologisch fundierten Zepter ein vorsichtiges und demütiges. Die Vernunft entspringt dem Unbewussten, sie hat ihren Ursprung darin. Genau deshalb ist das Zepter immer auch ein vorläufiges Fragezeichen. Deshalb besteht die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie aus einem vorsichtigen Verstehensprozess, aus einem

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gemeinsamen Tasten, ob etwa der Arbeitsplatz gewechselt werden soll. Für beide Optionen gibt es viele bis unendlich viele Argumente. Die Psychoanalyse Freuds besteht dagegen diesbezüglich aus einem Paradox. Sie nimmt an, dass die Vernunft eine Ableitung des Unbewussten ist, und zugleich wird in ihr rational-imperial gedeutet. Der Psychoanalytiker hat immer recht. Und der Patient entwickelt diesbezüglich Widerstand. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nimmt also Freuds Annahme, dass die Vernunft aus dem Unbewussten stammt, in gewisser Weise sehr viel ernster als die Psychoanalyse selbst. Denn in ihr wird nicht imperial rational gedeutet, sondern es werden vorsich­ tige Fragen gestellt, immer wissend, dass es die letzte Wahrheit, die letzte Gewissheit nicht gibt. Und Blumenberg geht davon aus, dass genau diese Sichtweise Freuds bezüglich der Ableitung der Vernunft aus dem Unbewussten vom rabbinischen Judentum übernommen ist »… dass uns im rabbi­ nischen Judentum ein Denken entgegentritt, dessen Identität gerade aus der ›Annahme der Konflikte, der Widersprüche und Risse‹ … entspringt …« (ebd., S. 42). Und diese Risse sind nicht zu glätten. Sie gehören zum Menschen dazu. Sie konstituieren ihn. Damit sind alle naiven heiteren Glücksvorstellungen vom menschlichen Leben obso­ let geworden. Die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssten vermutlich das noch stärker akzeptieren und annehmen, dass menschliche Risse nicht zu glätten sind. Dann spricht vieles für einen Arbeitsplatzwechsel, vieles aber auch dagegen. Es gibt nie die perfekte Lösung. Es gibt auch kein total heiteres Leben mehr. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben gilt nur bis auf Weiteres. Wenn ich von diesen Rissen ausgehe, erwarte ich von mir etwas ganz anderes, als wenn ich der Idee des total glücklichen Lebens anhänge. Ich akzeptiere dann, dass ich krisenanfällig bin, ein Leben lang. Ich werde dann viel bescheidener und verzeihe mir meine Krisen. Sie gehören einfach zum Leben dazu. Um über Blumenberg dazu nochmals Freud zu Wort kommen zu lassen: »Die Wissenschaft macht das Individuum demütig, vor den Schwie­ rigkeiten des realen Erkennens schrumpfen die individuellen Größen ein, jeder kann nur ein Stückchen bewältigen, jeder muss von einem

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gewissen Punkt an irren; nur die aufeinanderfolgenden Generationen können es ordentlich machen.« (ebd., S. 43)

Damit sagt Freud auch, dass die auf ihn folgenden Generationen von Psychoanalytikern es besser wissen werden als er. Und der Prozess der Wissenschaft ist nie abgeschlossen. So viel Bescheidenheit hätten wir Freud nicht zugetraut. Wenn nun im Folgenden mit Blumenberg die zentralen Denk­ muster der Psychoanalyse vorgestellt werden, dann kann anschlie­ ßend veranschaulicht werden, wie sich die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie hiervon absetzt. »… gilt es als unstrittig, dass die Psychoanalyse auf der Deutung der unbewussten Beziehungsdynamik zwischen Analytiker und Analy­ sand basiert. Von Psychoanalyse zu sprechen heißt nichts anderes als von einem nichtreduzierbaren (›gleichschenkligen‹) Dreieck von Deu­ ten, vom Unbewussten und der (Gegen-)Übertragungsbeziehung zu sprechen; keiner dieser drei Eckpunkte kann ohne die beiden anderen eingenommen werden, wenn wir vom psychoanalytischen Denken, Handeln und Forschen sprechen wollen.« (ebd., S. 44f)

Genau dieses Dreieck spielt in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie keine oder eine geringe Rolle. Dies soll nun näher erläutert werden, nochmals wiederholt wer­ den, um die wesentlichen Unterschiede zwischen der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie bezüglich der Behandlungsmethode zu benennen: Wenn Deuten bedeutet, rational einen Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte, aktueller Lebenssituation und aktuellem Leiden herzustellen, dann würden vermutlich die Vertreterinnen und Vertre­ ter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie sagen, dass das in ihrer Psychotherapie durchaus vorkommen kann, aber nicht im Zentrum steht. Schließlich spielt hier die Lebensgeschichte keine tragende Rolle. Und es wird eher gemeinsam an Problemen gearbeitet und nicht asymmetrisch gedeutet. Vergleichbares würden sie über das Unbewusste mitteilen. Es ist vorhanden, wird aber nicht intensiv bearbeitet. Die aktuellen Lebenskonflikte stehen für sie also im Fokus. Mit der (Gegen-)Übertragungsbeziehung könnten sie auch nicht so viel anfangen. Die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeu­ ten und Psychotherapeutinnen beabsichtigen nicht, als Projektions­

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fläche für Übertragungen zu dienen. Vielmehr strukturieren sie das Gespräch mit und sind als Personen präsent. Freud ging davon aus, dass mit der Übertragung unbewusster Bil­ der und Phantasien vonseiten des Patienten auf den Psychoanalytiker projiziert werden. Biographische Konflikte können so reaktualisiert werden und sie können so bearbeitbar werden. Ein Beispiel hierzu aus einer psychotherapeutischen Intervisi­ onsgruppe: Ein Kollege von mir und ich diskutieren. Im Verlauf des Gesprächs wird er immer lauter, bis er mich zum Schluss anbrüllt. Ich frage ihn, warum er das tut. Er wird nachdenklich und sagt, dass sein Vater schwerhörig gewesen ist. Er hatte also eine Vaterübertragung auf mich, und sein Konflikt mit dem Vater wurde überdeutlich. In einer Psychoanalyse hätte dieser Konflikt nun bearbeitet werden können. Der Kollege war übrigens nicht jünger als ich. Also: Der reale Altersunterschied war demnach nicht die Basis für die Übertragung. Um das nochmals zu bündeln: Warum spielt in der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie die Übertragung also eine geringe Rolle? Mit dieser Psychothe­ rapieform wird erwartet, dass eine echte, gute Beziehung zwischen Psychotherapeutin und Klientin besteht, dass diese der Klientin Halt gibt, dass sie sich deshalb gut entwickeln kann. Die Arbeit an der Übertragung ist in einer Stunde pro Woche zudem nicht oder wenig zu leisten. Viele Jahre arbeitete ich an einer Beratungsstelle für Studierende an einer Hochschule. Die Studierenden kamen einmal pro Woche. Da ging es dann um Angst vor Prüfungen, um Lernschwierigkeiten, um problematische Beziehungen zu Kommilitonen, etc. Mit Deutungen wartete ich da nicht auf, das Unbewusste wurde nicht thematisiert. Übertragung und Gegenübertragung spielten keine Rolle. Es ging einfach um die Bearbeitung drängender aktu­ eller Probleme. Ein Beispiel: Ein Student war unter anderem wegen Panikattacken viele Monate in der Klinik. Dann war er über lange Zeit bei mir in der Beratung. Noch heute zehn Jahre später ruft er mich an, wenn er in Not ist. In einem Nebensatz erfahre ich, dass sich sein Vater nach seiner Geburt umbringen wollte. Vermutlich hat ihn das bis heute schwer getroffen. Aber diesen gravierenden Einschnitt im Leben des

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Studenten – womöglich gab er sich für den Suizidversuch die Schuld – erzählt er leise in einem Nebensatz. Soweit zur Bedeutung biographischer Arbeit in der tiefenpsycho­ logisch fundierten Psychotherapie. Festzuhalten ist, dass ich vermutete, dass seine psychischen Probleme etwas mit seiner Herkunftsfamilie zu tun haben. Aber in der Kürze der Zeit, der Student kam eine Stunde pro Woche zur Beratung, schien es mir nicht möglich, seine Familiengeschichte zu bearbeiten. Und ich wollte nichts ansprechen, was dann nicht zu bearbeiten ist. Zurück zu Blumenberg: Das, was Blumenberg als weiteres Kernstück der Psychoanalyse begreift, ist das, wovon sich die Vertreterinnen und Vertreter der tie­ fenpsychologisch fundierten Psychotherapie eher abwenden: »… for­ muliert Freud jene fundamentale ›gleichschwebende Aufmerksam­ keit‹ … ›als notwendiges Gegenstück zu der Anforderung an den Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was ihm einfällt‹.« (ebd., S. 50) Das Unbewusste des Patienten soll sprechen – zum Unbewussten des Psychoanalytikers. »Diese ›Technik‹ … will auf alle intentionale Aktivität verzichten; alles, was dazu führe, geistig-seelisch aus sich herauszugehen, aktive Entscheidungen herbeizuführen, bedeute lediglich, seinen eigenen Erwartungen und Neigungen zu folgen und schließlich nur das zu entdecken, ›was man bereits weiß‹… Ein solches a priori-Wissen steht der Psychoanalyse völlig quer.« (ebd.)

Das ist möglicherweise genau das, was die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapeutin nicht will. Sie will mit den Klienten konkrete Lösungen für Lebensprobleme erarbeiten. Aber: Dieses anteilige Hervorsprudeln des Unbewussten in der Behandlung wird auch ihr widerfahren, wie mir auch: Mein eben erwähnter Klient – der Ex-Student mit Panikattacken -, der nun selbst bald Vater wird und dessen Vater sich nach seiner Geburt umbringen wollte, hatte vermutlich nicht geplant, mir dieses in einem Nebensatz zu erzählen, und es kann gut sein, dass er dies selbst vergessen hatte, verdrängt hatte, von den Folgen dieser Erfahrung ganz zu schweigen. So hat also sein Unbewusstes ganz im Sinne Freuds spontan kurz gesprochen. Seine freie Assoziation funktioniert in diesem Falle aber nur im Rahmen einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Er kann mir dies nur erzählen, weil er davon ausgeht, dass ich das aushalte, dass ich selbst keine Selbstmordabsichten hege, dass ich

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13.1 Zusammenfassung

nicht in Depressionen versinke, dass ich mich aufgrund des von ihm Berichteten nicht abwenden werde. Ich kann ihn also halten, ich kann für ihn da sein. Hätte er auf mich eine Vaterübertragung, so könnte ja sein Unbewusstes den Verdacht hegen, dass ich einen Selbstmordversuch unternehmen könnte, wenn er Vater wird. Und nicht zuletzt könnte er befürchten, dass er sich nach Geburt seines Kindes umbringen könnte, dass er dem nicht gewachsen ist. Wenn er mir den Selbstmordversuch seines Vaters anvertraut, dann hofft er, dass, wenn er in psychische Schwierigkeiten nach der Geburt seines Kindes kommen wird, ich für ihn da sein werde. Dieser Klient hat also eine realistische Einschätzung von mir und überträgt auf mich nichts oder zumindest wenig, so wenig, dass in dieser Beratung damit nicht zu arbeiten ist. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist also grund­ legend anders als die von Blumenberg beschriebene Psychoanalyse. Sie beschränkt sich nicht auf das Dreieck: Deuten, Unbewusstes, Übertragung und auf die ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹. Und dennoch kann sich das Unbewusste des Klienten, wie eben beschrie­ ben, zuweilen in ihr öffnen. So habe ich bei dem eben genannten Klienten niemals den Versuch einer Deutung gemacht. Ich hätte niemals zu ihm vor der Geburt seines Kindes gesagt: »Jetzt haben Sie selbst Angst, dass Sie der Geburt Ihres Kindes nicht gewachsen sind, und dass Sie Angst haben, sich umzubringen.« Diese Deutung seines Unbewussten wäre in einem Telefonge­ spräch ein Unding, weil keine Zeit dafür da ist, es aufzuarbeiten. Aber der Klient weiß, dass er diese Angst haben könnte, und er weiß, dass ich weiß, dass es so sein könnte. Aber er weiß genau, dass, wenn dem so wäre, er sich sofort an mich wenden könnte.

13.1 Zusammenfassung Aus diesem Kapitel ergibt sich eine große »to do«-Liste für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss sich deutlich stärker auseinandersetzen mit der Geschichte der Psychoana­ lyse, die ja zu Anteilen auch die ihre ist, und sie muss sich explizit absetzen von der deutschen Psychoanalyse der Nazi-Zeit. Und sie

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13 Exkurs: Die jüdischen Wurzeln Freuds?

muss genauer erarbeiten, welches Verhältnis sie zu der Theorie und Psychotherapie Freuds hat, insbesondere zu den anteiligen jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse. Ist für sie wie für Freud, das Unbewusste unergründlich, unein­ holbar, oder ist sie dem Machbarkeitsmythos der Aufklärung und der Moderne verpflichtet? Welchen Stellenwert hat für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie das Deuten, die Übertragung? Macht man das in dieser Psychotherapiemethode? Wenn ja, mit welcher Relevanz und Bedeutung? Wie hält sie es mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit als Gegenstück zur freien Assoziation? Und was macht der tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ peut, der der Klientin Halt geben will, der präsent sein will, wenn auf ihn eine Übertragung stattfindet? Auch wenn er kein Psychoanalyti­ ker als schiere Projektionsfläche sein will, so kann er doch zuweilen so genutzt werden. Festzuhalten ist, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie in einem Punkt jüdischer ist als die Psychoanalyse. Sie geht zwar nicht explizit davon aus, dass die Vernunft dem Unbewussten entstammt, aber sie geht methodisch so vor – in einem vorsichtigen, abwägenden Verstehensprozess. Und in ihr wird also nicht rationalimperial gedeutet. Festzuhalten ist auch, dass das von Blumenberg beschriebene zentrale Dreieck der Psychoanalyse: Deutung, Unbewusstes, Über­ tragung in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie keine oder eine deutlich geringere Rolle spielt. Die Deutung wird, wie eben erwähnt, im Wesentlichen ersetzt durch einen Verstehenspro­ zess. Das Unbewusste wird dann berücksichtigt, wenn es für die Bewältigung aktueller Probleme notwendig ist. Der haltgebende und strukturierende tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut lädt zur Übertragung deutlich weniger ein als der Psychoanalytiker. Dessen ungeachtet, kann es in dieser Psychotherapieform selbst­ redend auch Deutungen geben, kann das Unbewusste bearbeitet werden, kann es Übertragungen geben.

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14.1 Übersicht Es ist schwierig zu entscheiden, wer der wichtigste, wer die wich­ tigste Nachfolgerin von Freud ist. Einer gehört zumindest zu diesem Kreis: C. G. Jung. Und dieser hat den Weg zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie geebnet. Dies betrifft etwa die mindere Bedeutung, die für Jung die Sexualität hat. Vergleichbares gilt für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Und besonders aufschlussreich ist die Beziehung zwischen Freud und Jung. Der Briefwechsel zwischen den beiden lässt vieles von ihrer Beziehung ahnen und veranschaulicht, was für unterschiedliche Denker und Charaktere sie gewesen sind. Von Anfang an ist bei diesem Briefwechsel die Überhöflichkeit, die Überfreundlichkeit ins Auge stechend, und eine psychoanalytische Interpretation könnte darin bestehen zu vermuten, dass die Über­ freundlichkeit nur die Feindseligkeit verdecken soll, die die beiden gegeneinander hegen. Klar ist, dass dieser Stil heute nicht mehr möglich wäre. Er würde sofort Befremden und Misstrauen auslösen. Das bedeutet, dass wir mit unserem Alltagsverstand bereits psy­ choanalytisch infiziert sind. Wir wissen irgendwie, was Verdrängung ist. Wir wissen, dass Überfreundlichkeit die Feindseligkeit verbergen kann, verbergen soll. Angenommen, wir sind heute fast alle ein bisschen psychoana­ lytisch infiziert, dann wäre dies ein bis dato wenig anerkannter Erfolg Freuds. Er ist einfach ein gutes Stück weit massentauglich geworden. Als Theorie und Psychotherapie hat die Psychoanalyse also abnehmenden Erfolg, als allgemeines kulturelles Gut hat sie sich zu Anteilen kulturell durchgesetzt. Wir wissen heute auch, dass das, was früher zu Zeiten Freuds als sexuelle Perversion gekennzeichnet worden ist, einfach zum Sex dazu gehört, dazu gehören kann, einfach Normalität ist. Ohne Freuds mas­ sive Fokussierung auf den Sex, auf ihre umfangreiche Publizierung,

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wäre sie in der Öffentlichkeit seit mehr als hundert Jahren viel weniger Thema. Der Schritt zur Normalisierung wäre so weniger möglich gewesen. Normalisieren kann sich nur, was versprachlicht ist. Ein ehemaliger Bundesminister kann, wie bereits erwähnt, heute ohne Probleme öffentlich machen, dass er mit einem Mann verheira­ tet ist. Er muss seine Homosexualität nicht verdrängen, er muss keine Frau heiraten, um untadelig da zu stehen. Das früher eher Unbewusste und Verheimlichte, das Verdrängte ist heute relativ unproblematisch bewusst und bewusste Realität. Das betrifft zumindest die Sexualität. Und wenn wir feindselig sind, dann sind wir es offen, vielleicht nicht aggressiv, aber doch deutlich. Das bedeutet, überspitzt formuliert, dass wir die Psychoanalyse nicht mehr brauchen; wir analysieren uns und diejenigen, die wir kennen, ein bisschen mehr oder weniger. Wir sind sozusagen alle kleine Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker. Freud brauchen wir schon lange nicht mehr. Dazu hat wesentlich das psychoanalytische Denken beigetra­ gen, das sich in unserer Kultur ein bisschen durchgesetzt hat, das dann auch dazu führt, dass dieses Denken die Psychoanalyse als Psychotherapie quasi mit abgeschafft hat. Wer braucht schon eine Psychotherapieform, die den Alltagsverstand durchdringt und mit bestimmt? Faktisch in der psychotherapeutischen Versorgung ist die Psychoanalyse ja in der Tat nahezu bedeutungslos geworden. Das Denken in der tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie wird hingegen möglicherweise als nicht vorhersehbar, als ungewöhnlich wahrgenommen: Der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut schlägt ja immer überraschende Haken, ist immer für eine Überraschung gut – so die mutmaßliche Einschätzung. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat quasi auf­ grund dieser geschichtlichen Transformation die unaufschiebbare Aufgabe, sich von diesem psychoanalytischen Denken, das eben auch unser Alltagsdenken mitbestimmt, abzusetzen. Mit dieser relativ neuen Psychotherapieform soll nicht mehr gemutmaßt werden: »Dieser Bundesminister hat eventuell homose­ xuelle Neigungen!« Um nicht als veraltet zu erscheinen, muss sie gewiss nicht in erster Linie darauf setzen, das Unbewusste bewusst zu machen, schon gar nicht unbewusste sexuelle Wünsche. Sie musste und muss sich neuen Aufgaben stellen, etwa die Klienten dabei zu unterstützen, aktuelle Lebensprobleme besser

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bewältigen zu können – und das auf eine sehr originelle Art, eben multimethodal, mit Malen, Rollenspielen etc. Und: In Zeiten massenhaft verbreiteter Pornographie, mit der vermutlich alle früher geheimen und unbewussten sexuelle Wünsche präsentiert werden, ist es sozusagen ein Witz, von unbewussten sexuellen Wünschen zu sprechen. Und genau diesen Witz verkneift sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie verabschiedet sich von der Detektei, die unbewussten sexuel­ len Wünschen nachgeht und eindeutige Belege dafür liefert, wer unter homosexuellem Verlangen leidet. Stattdessen ersetzt sie die Detektei mit denkerischer Innovati­ onskraft und mit einem Freundschaftsmodell (mehr dazu weiter unten). Psychotherapeutin und Klientin sitzen sich gegenüber, lächeln sich zu, lachen zusammen, denken gemeinsam nach, entwickeln gemeinsam Lösungen für die Lebensprobleme der Klientin. Nach 25 Stunden geht die Klientin zufrieden und glücklich lächelnd aus der Praxis. Sie ist der Psychotherapeutin, die sie auch sehr sympathisch findet, sehr dankbar. Sie hat aus diesen Stunden so viel mitgenommen. Die Psychotherapeutin hatte so tolle Ideen! Um es vorweg zu nehmen: Dieses Freundschaftsmodell ist ein Teil der Kultur der Moderne Die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie hat sich dieses gleichsam ausgeliehen.

14.2 Briefwechsel Freud – Jung Zum Briefwechsel von Freud und Jung: »Wärmsten Dank« (1991, S. 3) bringt Freud Jung in einem Brief vom 11.4.1906 entgegen. Mit »Hochgeehrter Herr Professor« tituliert Jung Freud (ebd.). Der Titel ist so bedeutsam, dass der Name einfach fehlen darf. »Empfangen Sie meinen ergebensten Dank« (ebd.) schreibt Jung und beendet den Brief mit »Mit vorzüglicher Hochach­ tung Ihr dankbar ergebener C. G. Jung« (ebd., S. 4). Da schüttelt es uns heute – vor lauter falscher Freundlichkeit und vermeintlichen Unterwerfungsgelüsten. Und von Anfang an werden die Differenzen zwischen den beiden klar. Jung: »… und die Hysteriegenese scheint mir zwar eine überwie­ gend, aber nicht ausschließlich sexuale zu sein.« (ebd.) Damit ist das Tor zur tiefenpsychologisch fundierten Psychothe­ rapie aufgestoßen. Ja, ja, es gibt die Sexualität, aber so wichtig ist sie

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auch nicht. Jung kann so als Wegbereiter dieser Psychotherapieform angesehen werden. Sicherlich ironisch, aber eben nicht nur ironisch, verwenden beide eine religiöse Metapher. Jung: »Wie Sie wissen, ist aber jetzt Bleuler völlig bekehrt.« (ebd.) Freud: »… und die Mitteilung, dass Sie Bleuler bekehrt haben, lässt mich Ihnen besonderen Dank sagen.« (ebd.) So scheint nahezu von Anfang an die Psychoanalyse auch eine Glaubensfrage zu sein. Entweder man glaubt an sie oder nicht. Und unter Religionen ist es schon vielfach zu Kriegen gekommen. Der aggressive Ton der Vertreterinnen und Vertreter der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie gegenüber der Psychoana­ lyse wird damit verständlicher. Und in gewisser Weise lässt sich dann die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als Abfall vom alten Glauben und als neuer Glaube verstehen. Die Geschichte der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie ließe sich so verstehen als hektischer und verbitterter Kampf zahlreicher Sekten, die alle die allein seligmachende Kirche sein wollen. Diese Sekten sind der Überzeugung, erst dann diese Kirche sein zu können, wenn alle anderen Sekten vernichtet sind. Um von diesem überwiegend sinnlosen, sich gegenseitig scha­ denden Kampf abzulassen, ist es für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie unbedingt notwendig, diesem ewigen Gemetzel eine Absage zu erteilen – mit der Gewissheit, dass andere Psychothera­ pieverfahren anders sind, aber nicht schlechter, auch nicht besser, einfach anders. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kann von den anderen viel lernen, wie umgekehrt auch. Aus Kriegsgegnern werden so Mitstreiter, wird eine Gemeinschaft, die die kritische Diskussion untereinander liebt. Zurück zu Jung im Briefverkehr mit Freud: »Vor allem muss ich Ihnen meinen aufrichtigen Dank dafür ausspre­ chen, dass Sie mir verschiedene Stellen meiner ›Apologie‹ nicht übel­ genommen haben. Wenn ich mir gewisse Einschränkungen zu machen erlaubte, so geschah es nicht etwa, um Kritik an Ihrer Lehre zu üben, sondern aus Politik, wie Sie ja jedenfalls bemerkt haben werden. Wie Sie richtig sagen, lasse ich den Gegnern den Rückzug offen, mit der bewussten Absicht, die Revokation nicht allzusehr zu erschweren … Wenn man den Gegner so angriffe, wie er es eigentlich verdiente, so würde daraus nur ein unheilvoller Zwiespalt entstehen …« (ebd., S. 8)

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Freud schreibt abwägend, aber letztlich kämpferisch, Jung taktiert, ist diplomatisch, bleibt in gewisser Weise vage, bleibt für mehr Möglich­ keiten offen, als über die er schreibt. Bei ihm huschen Ahnungen durch weite Räume. Damit öffnet er in gewisser Weise auch den Raum zur tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie, die sich, wie wir weiter oben gesehen haben, in einem nicht klar definierten Raum befindet und damit ganz unterschiedliche Bestimmungen annehmen kann. So arbeitet sie ein bisschen wie Jung – mit Ahnungen in weiten Räumen. Aber wir müssen klar sehen: Die Ahnungen, die Jung hat, sind eines seiner Stilmittel. Die relative Unbestimmtheit oder die Vielfalt der Bedeutungen, die die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat, verdankt sich dagegen einem Verwaltungsakt. Sie wurde ins Leben gerufen, ohne klare Bestimmung ihrer Methoden und Inhalte. Dennoch ist hierbei auffällig, dass offenkundig bei den Vertrete­ rinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie offenbar ein geringes Interesse daran vorhanden ist, gemeinsam die eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu umreißen. So bleibt sie das Ahnungsvolle, Mutmaßliche. Und Jung verwendet hier in diesem Zitat einen Fachterminus, der mit ihm eigentlich wenig zu tun hat. Die bekannteste Apologie stammt von Platon, in der Sokrates sein Denken und Handeln ent­ schlossen verteidigt und bereit ist, dafür zu sterben. Sokrates war ganz sicher eines nicht: ein höflicher Diplomat. Jung bleibt vielfach vage, Freud ist dagegen der knallharte Pro­ vokateur: »… während ich den Eigensinnigen und Rechthaber weiter spiele und der Mitwelt auch ferner zumute, die unschmackhaften Bis­ sen unverdünnt herunterzuwürgen.« (ebd., S. 13) Freud geht davon aus, dass seine Theorie eigentlich unbekömmlich ist, dass sie deshalb letztlich niemand zur Kenntnis nehmen will. Wir spielen den Satz nochmals durch: Seine Theorie schmeckt nicht, ist eigentlich unbekömmlich. Er zwingt seine Leserinnen und Leser dazu, die nicht schmeckenden »Bisse« »unverdünnt herunterzu­ würgen«. Es ist hierbei nicht auszuschließen, dass jemand erstickt, oder dies gar vielen widerfährt. Wir können mit diesem Satz nicht aus­ schließen, dass Freud dies sogar wollte, dass er Gewalt ausüben wollte.

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Jung wird dagegen nicht müde, in zartester Diplomatie etwa die Sexualitätsvorstellungen Freuds anzugreifen: »Bei meinen häufigen Diskussionen mit Bleuler ist mir übrigens recht deutlich geworden, dass der Ausdruck ›Libido‹ überhaupt alle von der Sexualität auf ihr erweitertes Begriffsgebiet übertragenen Termini (die zweifellos ihre Berechtigung haben) missverständlich, zum mindesten nicht didaktisch sind. Man ruft damit sogar direkt Gefühlshemmungen hervor, welche die ganze Belehrung verunmöglichen.« (ebd., S. 17)

Wie empathisch Jung sein kann! Er nimmt »Gefühlshemmungen« wahr, schlüpft in die Rolle des guten Lehrers und muss Freud lei­ der mitteilen, dass so seine Theorie nicht zu vermitteln ist. Das gesunde Volksempfinden verbittet sich so eine ordinäre Begrifflich­ keit. Schließlich sind wir Menschen viel mehr als nur Trieb und Sex. Und schon wieder ebnet Jung, was die Sexualität betrifft, den Weg zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die ja, wie ausgeführt, dem Sexuellen keine große Bedeutung zumisst. Jahre später, kurz vor dem Ende des Briefwechsels schreibt Jung: »Ich bin sehr froh über unsere Münchner Zusammenkunft, denn ich habe bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal Sie eigentlich verstanden. Ich bin mir bewusst geworden, wie verschieden ich von Ihnen bin.« (ebd., S. 241) Das hat lange gedauert, um dies zu erkennen, so an die sechs Jahre.

Doch diese Erkenntnis ist nichts im Vergleich zu den Vorwürfen, die Jung Freud noch machen wird. Nach der Anrede »Lieber Herr Professor!« legt er los: »Darf ich Ihnen einige ernsthafte Worte sagen? Ich anerkenne meine Unsicherheit Ihnen gegenüber, habe aber die Tendenz, die Situation in ehrlicher und absolut anständiger Weise zu halten. Wenn Sie daran zweifeln, so fällt das Ihnen zur Last. Ich möchte Sie aber darauf auf­ merksam machen, dass Ihre Technik, Ihre Schüler wie Patienten zu behandeln, ein Missgriff ist. Damit erzeugen Sie sklavische Söhne oder freche Schlingel.« (ebd., S. 250)

Der Sohn oder der zum Sohn Gemachte rebelliert heftig gegen die Vaterfigur und inszeniert sich zugleich als Über-Vater. Er deutet Freuds Verhalten von oben herab. An dieser Deutung können keine Zweifel bestehen. Sie ist die reine Gewissheit. Jung wird damit zu Allem, Freud zum kleinen Wurm. Das, was er Freud unterstellt, macht Jung in perfekter Form.

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Dann kommt die Ankündigung der Beendigung der Zusammen­ arbeit. Jung ist wieder beim »Sehr geehrter Herr Professor!« gelandet: »Ich habe durch Herrn Dr. Maeder erfahren, dass Sie mein ›bona fides‹ bezweifeln. Ich hätte erwartet, dass Sie mir etwas derart Schwerwie­ gendes direkt mitteilen würden. Da dies der schwerste Vorwurf ist, den man gegen einen Menschen erheben kann, … so machen Sie mir damit die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen unmöglich.« (ebd., S. 257)

Selbstredend ist Freud schuld. Jung kann einfach nicht anders, als … Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lernen wir daraus, dass sie eventuell etwas von Jung übernimmt. Für Jung ist Freud der Vater, und zugleich macht er sich zu dem Vater, der sich über den Sohn namens Freud erhebt. Jung wie möglicherweise die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie müssen nun permanent demonstrieren, wie sehr sie unter Freud gelitten haben und leiden und wie viel besser sie als Freud sind. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sollte aner­ kennen, dass sie zu guten Anteilen ein Kind Freuds ist, sie sollte ihm dankbar sein, wie viel er ihr geschenkt hat. Und selbstredend darf sie ihn weiterentwickeln, muss sie ihn weiterentwickeln. Es wäre schön, wenn diese Psychotherapiemethode die depres­ sive Position, so wie sie Melanie Klein beschrieben hat, übernehmen könnte (siehe weiter oben). Dann bräuchte sie kein tendenzielles Feindbild, das sich Psychoanalyse nennt. Dann könnte sie dafür dankbar sein, was Freud alles entwickelt hat. Sie könnte Freuds Lehre weiter entwickeln, so wie sich das Freud gewünscht hat. Und sie wäre bemüht um Wiedergutmachung des Schadens, den sie mit der partiellen Verdammung Freuds angerichtet hat. Dis kann aber nicht die einzige Interpretation zum Konflikt zwischen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Psycho­ analyse sein. Es ließe sich auch vermuten, dass Angriffe auf den anderen ein Teil einer produktiven Konkurrenz sein können, dass sie daher zur Entwicklung einer eigenen Position unverzichtbar sind. Und zudem muss ein grundlegender Unterschied zwischen Jung und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie festgehalten werden. Jung griff Freud persönlich an, letztere tat das nie.

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14.3 Psychoanalyse – geschaffen von Freud und Jung Ein bedeutsames Werk beleuchtet die Beziehung Freud-Jung, auch über ihre Verbindung über Sabina Spielrein, die zuerst Patientin von Jung war, seine Geliebte wurde und sich dann Freud anvertraute: »Eine höchst gefährliche Methode – Freud, Jung und Sabina Spielrein« von Kerr (1994). Dergleichen, also sexueller Missbrauch in Psychotherapie, pas­ siert heute leider auch noch, aber Jung würde heute, falls es publik werden würde, aus einer psychoanalytischen Gesellschaft ausge­ schlossen werden. Damals passierte nichts dergleichen. Und das ist aus heutiger Sicht das Unfassbare! Kerr betont, dass Freuds und Jungs Zusammenarbeit die Psy­ choanalyse entstehen ließ, die wir heute kennen (ebd., S. 13). Psy­ choanalyse ist also nicht Freud oder Jung, sondern beide zusammen. Das sollte zu denken geben. Dann wäre die erste wichtige Frage, was sind die Gemeinsamkeiten zwischen Freud und Jung? Wer hat was zur Entstehung der Psychoanalyse beigetragen? Oder war Jung nur insti­ tutionell beteiligt? Es macht also in gewisser Weise keinen Sinn, nur für den einen oder anderen Partei zu ergreifen. Beide sind die Väter der Psychoana­ lyse. Beide bieten Möglichkeiten, psychotherapeutisch zu denken und zu arbeiten. Das gilt selbstredend auch für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie bietet dann eine weitere Denk- und Arbeitsmög­ lichkeit. Wenn diese Psychotherapieform sowie die Denkgebäude von Freud und Jung nicht mehr mit richtig und falsch bewertet werden, bilden sie produktive Möglichkeitsräume und Denkhorizonte. Und eines ist bereits festzuhalten. Wenn Kerr recht hat, dass die Psychoanalyse ein Kind von Freud und Jung ist, dann muss sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie stärker mit Jung auseinandersetzen und nicht nur mit Freud. Damit ist nicht ausgesagt, dass sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hinreichend mit Freud auseinandersetzt. Freud hat ein Menschenbild, das besagt, dass der Mensch vom Liebesund vom Todestrieb bestimmt ist. Sieht das die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auch so? Wenn nicht, welches Menschenbild hat sie?

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Doch einen großen Unterschied hebt Kerr zwischen Freud und Jung hervor. Jungs »System ließ Raum für die religiösen und mysti­ schen Empfindungen, die Freud ein Greuel waren.« (ebd., S. 18) In dieser Perspektive wäre die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie auf der Seite Freuds. Religiöse oder mystische Themen gehören nicht zu ihrer Programmatik. Wichtig für die Verortung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist nach Kerr noch, dass nicht Wien das Zentrum der frühen Psychoanalyse war, sondern Zürich. Es gibt also nicht die echte Wienerische Psychoanalyse Freuds und dann ihre Modifikationen / Verwerfungen in der Schweiz. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist bezüglich ihrer bürokratisch-organisatorischen Etablierung keine Novität, son­ dern quasi das Duplikat der institutionellen Entstehung der Psycho­ analyse in Zürich. »Kurz gesagt waren es Jung und Bleuler, die über die institutionellen Mittel verfügten, die man brauchte, um die Psychoanalyse in eine wis­ senschaftliche Bewegung zu verwandeln. Der Aufstieg der Psychoana­ lyse spiegelt die institutionellen Gegebenheiten unmittelbar wider. Erst ab dem Zeitpunkt, als Jung und Bleuler berichteten, sie könnten einige von Freuds Theorien anhand der Arbeit mit ihren eigenen Pati­ enten bestätigen, begannen die ernsthaften Diskussionen. Fast alle bedeutenden frühen Anhänger Freuds erhielten in Zürich ihre Ausbil­ dung in der neuen Methode. Und Zürich stellte der Psychoanalyse auch ihre ersten offiziellen Institutionen bereit: Der erste Kongress, die erste Zeitschrift, die Gründung der internationalen Vereinigung … Jung und Bleuler machten Freud in der Wissenschaft bekannt, nicht umgekehrt.« (ebd., S. 20)

Wir sind gewohnt, familial ursprünglich zu denken: Freud ist natürlich der Vater der Psychoanalyse, vom ihm ging alles aus. Mit Kerr ist mit diesem Denken Schluss. Damit ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kein wie auch immer geartetes Derivat mehr von der großen Psychoanalyse Freuds, sondern zu Anteilen eine Weiter­ entwicklung des Denkens Freuds und Jungs. Dann muss sich diese Psychotherapieform die Frage stellen, ob und was sie sich von Jung angeeignet hat. So ließe sich, wie bereits erwähnt, denken, dass im Vergleich zu Freud Jungs relative Geringschätzung der Sexualität von der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie übernommen worden ist. Für diese Geringschätzung wäre dann nicht nur verantwortlich ein

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gesellschaftlicher Wandel – Liberalisierung der Sexualität -, sondern auch die implizite Anlehnung an Jung. Kerr nimmt eine historische Zwischenbilanz vor: Die Psycho­ analyse sei in einer »Phase des institutionellen Niedergangs« (ebd., S. 25). Sein Buch ist 1994 auf den Markt gekommen. Heute lässt sich diese These für Deutschland bestätigen. Kaum ein Patient einer gesetzlichen Krankenversicherung nimmt noch Psychoanalyse in Anspruch (siehe weiter oben). Kerr: Die »theoretische Fruchtbarkeit« (ebd.) sei zwar vorhan­ den, aber »der wissenschaftliche Status des psychoanalytischen Lehr­ gebäudes« (ebd.) sei mehr als mangelhaft. Und die Psychoanalyse kümmere sich sehr wenig um ihre eigene Geschichte (ebd.). Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wird heute dagegen sehr viel umfangreicher erforscht als die Psychoanalyse. In den diesbezüglichen Standardwerken (siehe weiter oben) wird dies offenkundig. Als Einschränkung muss aber hierzu nochmals formuliert wer­ den: Wenn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hin­ sichtlich ihrer Effekte evaluiert wird, dann werden ja verschiedene Psychotherapiemethoden erforscht. Sie tragen ja denselben Titel – tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – sind aber, wie gese­ hen, unterschiedliche Ansätze. So wird nicht klar, was erforscht worden ist, welche Methode welche Effekte zeitigt. Kerr dagegen wendet sich der Geschichte der Psychoanalyse gründlich zu und kann grundlegende Unterschiede zwischen Freud und Jung herausarbeiten. »Besonders vehement widersetzte sich Jung dem reduktionistischen Materialismus seines Zeitalters – der ›Juda­ isierung der Naturwissenschaft‹.« (ebd., S. 65f) »Spiritismus, Telepa­ thie und Hellsehen« (ebd., S. 66) waren für ihn Selbstverständlich­ keiten. Er selbst führte derartige Sitzungen durch. Es ist so in gewisser Weise unverständlich, wie Jung auf Freud zugehen konnte, waren sie doch so grundlegend unterschiedlich – in vielen Punkten. Und es wäre doch bitte zu klären, was reduktionistischer Mate­ rialismus im Sinne Jungs ist. Ist damit gemeint, dass Freud die körperlichen Triebe mit einbezogen hat? Und was ist daran reduk­ tionistisch? Freud reduzierte die menschliche Psyche niemals nur auf den Körper. Und Materialismus ist das auch nicht, weil Freud etwa die körperlichen Triebe um die psychischen Triebrepräsentanzen ergänzte. Und Freuds Instanzenmodell der Psyche ist viel mehr als bloßer Körper.

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Und ›Judaisierung der Naturwissenschaft‹, ein Term offenkundig von Jung, – das klingt nicht nur nach Antisemitismus, das ist antise­ mitisch. Hierzu wird weiter unten noch Etliches mitgeteilt. Um weiter bei den Unterschieden zwischen Freud und Jung zu bleiben. Es gibt den spirituellen Jung, aber auch den judaisierten Naturwissenschaftler Jung, der Laborexperimente durchführte (S. 76). Von Laborexperimenten war Freud sehr weit entfernt, abgesehen vom Beginn seiner beruflichen Karriere. So ist denn Jung viel umfangrei­ cher judaisierter Naturwissenschaftler als Freud gewesen. Jung greift sich mit dieser Kennzeichnung selbst an. Dann übernimmt Jung nach Kerr psychotherapeutische Techni­ ken von Freud, wenn auch auf indirektem Wege: »Interessanter als der Fall selbst ist jedoch Jungs Methode des ›zwang­ losen Assoziierens‹. Er fordert die Patientin auf, ihm ruhig alles zu erzählen, was ihr gerade einfalle, gleichgültig um was es sich dabei handele … Wahrscheinlich hatte Jung von Bleuler von der Methode gehört, den Verlauf der Sitzung bewusst nicht festzulegen oder zu steuern, und Bleulers diesbezügliche Informationen stammten ver­ mutlich direkt von Freud.« (ebd., S. 118f)

Die freie Assoziation verbindet Freud und Jung, weil beide an die Macht des Unbewussten glauben, das sich mit dieser Technik offenba­ ren soll. Jung fügt dem Unbewussten noch ein paar Geister hinzu wie etwa das kollektive Unbewusste. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie baut hier ein relativ großes Stoppschild auf. Das Unbewusste soll eher aufgehalten werden. Schließlich geht es ihr darum, den Klienten, die Klientin zu befähigen, sein, ihr Leben besser zu bewältigen. Festzuhalten ist also, dass diese Psychotherapieart sowohl mit Freud als auch mit Jung diesbezüglich ziemlich Schluss macht. »Ziem­ lich« meint hier, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie die Existenz des Unbewussten nicht leugnet, aber die Arbeit an ihm zurückschraubt. Kerr skizziert die Dramatik der Trennung der drei, Freud, Jung, Spielrein. »Auf seine Weise zog ein jeder die Gefühle von Liebe und Idealisierung, die den anderen gegolten hatten, zurück und richtete sie auf sich selbst.« (ebd., S. 518) Die Trennung der drei, Jung wandte sich auch von Spielrein ab, fand kurz vor dem ersten Weltkrieg statt. Und die Hypothese sei erlaubt, dass der damalige Zeitgeist – des nahenden Krieges – mit dazu beitrug, dass dieses fundamentale Zerwürfnis für alle

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drei katastrophale Züge hatte. Der drohende Weltkrieg begünstigte möglicherweise den Krieg zwischen den dreien. Und letzterer hatte bedeutsame Folgen für die Geschichte der Psychoanalyse: »Von nun an war die Psychoanalyse das, was Freud als Psychoanalyse erklärte. Ein bedauerliches, aber unvermeidliches Ergebnis dieser Ent­ wicklung war, dass die Psychoanalyse sich nicht mehr über ihre Metho­ den oder objektive Kriterien für die Gültigkeit von Aussagen definierte, sondern über die Mitgliedschaft in elitären Organisationen mit Zunft­ charakter. Das Privileg der Mitgliedschaft wurde nur denen zuteil, die sich den bestehenden Machtstrukturen und den vorherrschenden Ansichten beugen konnten.« (ebd., S. 551)

Hier eine andere Interpretation als die von Kerr: Nur indem Freud autoritär regierte, konnte er verhindern, dass die Psychoanalyse arisch und antisemitisch wurde. Zumindest hätte dies Freud befürchten müssen. Die »Zunft«, die hat also die Geschichte der Psychoanalyse, so wie sie sich im letzten Jahrhundert ereignet hat, vermutlich ermög­ licht. Es ist nicht davon auszugehen, dass Freud mit Schultz-Hencke eine plurale Psychoanalyse schaffen wollte, schon gar keine arische.

14.4 Drei zentrale Begriffe bei Freud und Jung: das Unbewusste, Ich und Neurose Wir wollen nun theoretisch bündeln: Was unterscheidet Jung von Freud, was unterscheidet die beiden Väter der Psychoanalyse, und wie verortet sich hierbei die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie? Hierzu sollen Standardwerke, nicht zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, sondern zu Freud und Jung genutzt wer­ den. Wir beginnen mit einem Klassiker »Schlüsselbegriffe der Psy­ choanalyse« (Mertens 1993, Hg.). Das vierte Kapitel hat die Über­ schrift »Psychoanalytische Grundbegriffe«. Diese sollen sein: »Das Unbewusste, Das Ich, Trauma und Traumatisierung, Neurotischer Konflikt, Der Traum, Abwehr, ›Frühe‹ Triangulierung, Ödipuskom­ plex«. Wir greifen drei Begriffe heraus: das Unbewusste, das Ich und die Neurose, weil über sie klar wird, wie fragil für Freud und Jung die menschliche Psyche ist, und wie leicht wir neurotisch werden oder sind. Wir sind in ihrem Sinne vom psychischen Scheitern geradezu ständig bedroht.

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14.4 Drei zentrale Begriffe bei Freud und Jung: das Unbewusste, Ich und Neurose

Ohne dies explizit zu benennen, setzt sich die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie hiervon entschieden ab. Sie erweist sich in ihrem Kern als optimistische Psychotherapie. Diese Psychotherapieform hätte die Aufgabe zu reflektieren, welches Menschenbild angemessener ist, und welche Auswirkun­ gen Menschenbilder für die unterschiedlichen Psychotherapiemetho­ den haben. Schöpf (in Mertens ebd., S. 154ff) nähert sich dem Thema, wie das Unbewusste definiert werden kann. Er hebt hervor, dass es lange vor Freud in der Philosophie Gegenstand war. »Im Strukturmodell mit seinen Funktionen Es, Ich, Überich … ver­ schwindet die ältere Auffassung zugunsten der Annahme seelischer Funktionen, denen Eigenschaften im Sinne von bewusst, vorbewusst oder unbewusst zugeschrieben werden kann. Der theoretische Grund liegt in der Konzeption des Ichs, weil Freud bemerkte, dass ihm, je nach der Funktion, die es ausübt, einmal das Adjektiv bewusst, ein andermal das Adjektiv vorbewusst oder unbewusst zugeschrieben werden kann.« (ebd., S. 154)

Mit dem Ich wird gedacht und geschrieben, aber es wehrt auf der unbe­ wussten Ebene Es-Impulse ab. Freuds »ältere Auffassung« bestand darin, Bewusstsein und Unbewusstes zu verräumlichen, ihnen also einen bestimmten Platz, eine bestimmte Instanz wie dem Ich zuzu­ ordnen. In gewisser Weise wird so das Ich entmächtigt. Es besteht nicht nur aus dem klaren Verstand, das dem Es gegenübertritt und auch der Welt mit ihrer Moral gegenübertritt. Einen guten Teil von seiner Herrscherrolle als reines Bewusstsein muss nun das Ich abtre­ ten. Schöpf vergleicht das Freudsche Unbewusste mit dem von Jung. Jung kritisierte den frühen Freud, der annahm, dass das Unbe­ wusste nur aus dem Verdrängten besteht. Diese Position übernahm dann Freud, nicht aber die weitere Bestimmung des Unbewussten durch Jung, »… sondern ein seinshafter Seelengrund, der sich in Form einer ange­ borenen, sinn- und zielgerichteten Tätigkeit … entwickelt, welcher Selbst genannt wird. Während Freuds unbewusstes Es für das bewusste Ich der Möglichkeit nach aufklärbar ist, behält bei Jung das unbewusste Selbst eine unergründliche Tiefe gegenüber dem bewussten Ich.« ( Schöpf, ebd., S. 155)

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Das Jungsche Unbewusste ist also zu guten Anteilen unfassbar, gestaltet aber zielgerichtet das jeweilige Leben. Dieses Unbewusste lässt einen ehrfurchtsvoll erschauern, und die Grenzen der bewussten Lebensgestaltung werden in dieser Perspektive sichtbar. Zugleich kann so die bewusste Verantwortung für das eigene Leben relativiert werden. Wenn ich jemanden umbringe, dann war das doch mein Unbewusstes gewesen, das dies wollte. Wenn Jung deutliche Affinitäten zum Nationalsozialismus hatte (Lockot 2002), dann ist das mit seinem Konzept des Unbewussten quasi entschuldbar. Diese Affinität hat dann nicht sein Ich, sondern sein unergründliches, aber zielgerichtet arbeitendes Unbewusste. Dafür kann doch Jung nichts. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie macht, wie bereits ausgeführt, Schluss mit den Unbewussten von Freud und Jung, zumindest relativ Schluss. Für das Unbewusste Freuds fehlt in dieser Psychotherapie die Zeit. Drei Psychotherapiestunden pro Woche sind ja nicht drin. Und das Unbewusste Jungs ist einfach unheimlich und es trachtet danach, die bewusste Lebensgestaltung zu relativieren. Das Bewusstsein soll in der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie doch als Souverän alleine regieren, fast alleine. Ein bisschen Unbewusstes gibt es auch. Aber wenn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie anteilig als Kind der Psychoanalyse begriffen werden kann, als Kind von Freud und Jung (siehe die Position von Kerr weiter oben), dann muss sie sich mit dieser Traditionslinie, mit ihrer Familiengeschichte intensiver auseinandersetzen. Was übernimmt sie von den Konzepten des Unbewussten von Freud und Jung und was nicht? Weitere zentrale Begriffe der Psychoanalyse: »Der Begriff ›Ich‹ wird von Freud in einem doppelten Sinne verwendet: zum einen für die ganze Person, das Individuum als Subjekt; zum anderen in einer spezifisch tiefenpsychologischen Bedeutung … als ›psychische Instanz‹ mit bestimmten Funktionen und in Abgrenzung von den anderen Instanzen (›Es‹ und ›Überich‹).« (Jeron in Mertens 1993, S. 160)

Wichtig ist in diesem Zusammenhang ist, dass Freud davon ausgeht, dass das Ich überwiegend unbewusst arbeitet. Ich und Bewusstsein sind, wie eben bereits erwähnt, also keineswegs identisch. Das Ich hat die zentralen Funktionen der »… Selbsterhaltung: Steuerung und Motorik; Abwehr; Angst; Affekt(steuerung); Wahrnehmung; und andere kognitive Funktionen wie Gedächtnis, Symbolisierungsfähig­

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keit, Denken; Realitätsprüfung; Anpassung; Konfliktlösung und Syn­ thetisierung.« (ebd., S. 162) Das Ich ist also der verantwortliche Chef eines Unternehmens mit einem riesigen Arbeitspensum. Es kann stark sein (Ich-Stärke), aber auch schwach (Ich-Schwäche) und ist »ständig vom Scheitern bedroht« (ebd., S. 163). Das müssen wir uns unbedingt vor Augen führen. Im Sinne dieses psychoanalytischen Denkens können wir eigentlich nie unsere Seele baumeln lassen, sind wir nie auf Dauer glücklich. Das Leben ist ein permanenter Kampf, ein Krieg, der immer verloren werden kann. Wir dürfen uns nicht wundern, dass die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie sich von diesem Bild der menschlichen Psyche heimlich verabschieden will. Diese Psychotherapiemethode soll zwar dazu dienen, etwa ich-strukturelle Defizite zu behandeln (siehe weiter oben), aber die haben ja nur die Klientinnen und Klienten. Aber für die traditionelle Psychoanalyse droht dieses Scheitern permanent auch der Psychoanalytikerin, dem Psychoanalytiker. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie legt dagegen vermutlich implizit nahe: Die Psychotherapeuten sind psychisch gesund. Schließlich haben sie eine Lehrtherapie gemacht und einen Abschluss in Psychotherapie. Noch Fragen? Diese implizite Annahme begünstigt möglicherweise eine Asymmetrie in der Psychotherapie: Die Person, die behandelt, wird als psychisch gesund definiert, die zu beratende Person als psychisch krank. Dann muss der Psychotherapeut ständig sich und den Klienten beweisen, wie gesund er ist. Und eigentlich kann er psychisch Kranke doch gar nicht verstehen, weil er einfach so gesund ist. Vermag das nicht unglaublich anstrengend sein, seine psychische Gesundheit ständig unter Beweis stellen zu müssen? Ist dann nicht jede Stunde Psychotherapie für die Behandlerin ein überwiegend anstrengendes Schauspiel? Wir sehen also, welche potentiell gravierende Auswirkungen die unterschiedlichen Menschenbilder für Psychotherapie haben. Und es muss nochmals herausgestrichen werden: Die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie kann sich diesbezüglich nicht einfach halb an die Psychoanalyse anlehnen: Ja, es gibt ein Unbe­ wusstes, aber Menschen schaffen es, durch Psychotherapie ihr Leben besser in den Griff zu bekommen. Und das Scheitern ist nahezu ausgeschlossen, auf jeden Fall bei der Psychotherapeutin selbst, in der Regel auch bei den Klienten.

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Dieses Scheitern des Ichs kann nach Jeron unterschiedliche Aus­ maße annehmen: Psychosen, nach Bion definierbar als »Zerstörung des Denkens und ›Zerstückelung des Ichs‹“ (ebd., S. 163), »psycho­ somatische Störungen … und Charakter- und Persönlichkeitsstörun­ gen (in denen ›ichstrukturelle Defizite‹ eine zentrale Rolle spielen) bis zu (Symptom-)Neurosen (in denen ein scheiternder Konfliktlö­ sungsversuch zur Symptombildung führt).« (ebd.) Bisher haben wir die Freudschen Begriffe Unbewusstes und Ich nach dem psychoanalytischen Standardwerk von Mertens näher vorgestellt und teilweise mit Jung kontrastiert, wenn die Autoren dieses Herausgeberbandes auf letzteren eingegangen sind. Nun soll es um die Neurose gehen. Der neurotische Konflikt ist ein intrapsychischer unbewuss­ ter Konflikt »… um einen Konflikt zwischen verschiedenen Instanzen (Ich/ÜberIch versus Es) … Der Prototyp des neurotischen Konflikts ist der Gegensatz von naturnahen, sexuellen bzw. aggressiven Bedürfnissen und sozialen Ge- und Verboten …er ist vielmehr der ubiquitäre Aus­ druck des Widerspruchs von Individuum und Gesellschaft …« (Hohl in Mertens 1993, S. 177)

Also: Individuum und Gesellschaft stehen potenziell immer im Widerspruch. Und Freud hat ja dies damit begründet, dass ohne Triebunterdrückung, ohne Umwandlung von Triebenergie in Arbeits­ fähigkeit (Sublimierung) keine menschliche Kultur entstanden wäre, keine vorhanden wäre. Dieser Widerspruch macht uns Menschen so anfällig, so permanent konflikthaft. Nun zu den Autoren, die Jung speziell rezipieren: Wir haben eben bereits erfahren, wie sich das Jungsche Unbe­ wusste verstehen lässt. Es besteht eben nicht nur aus dem Verdräng­ ten. Zum Ich nach Jung. Er »sah das Ich als Zentrum des Bewusstseins …, unterstrich aber auch die Beschränkungen und die Unvollständigkeiten des Ich, das weniger sei als die ganze Persönlichkeit.« (»Wörterbuch Jungscher Psychologie« von Samuels, Shorter, Plaut 1989, S. 100f) Es hat zwar in etwa die Funktionen, die es auch in der Freudschen Psychoanalyse hat, »man muss es aber auch als Instanz begreifen, die auf die Forde­ rungen von etwas ihm Überlegenen reagiert. Dabei handelt es sich um das Selbst, das anordnende Prinzip der gesamten Persönlichkeit.« (ebd., S. 101) Zu diesem Selbst gehört dann auch das dem Bewusstsein

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nie ganz zugängliche Unbewusste, das dennoch die Persönlichkeit organisiert. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat, um es umgangssprachlich zu formulieren, diesbezüglich mit Jung nichts am Hut. Ihr Ich ist im Wesentlichen das von Hartmann. Es organisiert die gute Anpassung an die Umwelt. Und auch das Freudsche Ich, das unter anderem konzipiert ist als Vermittler zwischen Triebimpul­ sen (Es) und verinnerlichten gesellschaftlichen Geboten (Über-Ich) könnte für diese Psychotherapieform noch zu komplex sein, noch zu konflikthaft sein. Mit Freuds Modell des Ichs ist die menschliche Psyche in einem permanenten Konflikt zwischen den Instanzen Es und Über-Ich. Das passt nicht in die im Grunde optimistische tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Zwar rekurrieren die meisten Vertreterinnen und Vertreter dieser Psychotherapieform bezüglich der Ätiologie psychischer Störungen auf Freud und die Psychoanalyse, in der Zielsetzung der Behandlung, Lösung aktueller Probleme, taucht Freud nicht mehr auf. Gäbe es einmal Autorinnen und Autoren, die die Absicht hegen, ein Wörterbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu schreiben, sie wüssten daher letztlich nicht, was sie zum Stichwort »Ich« schreiben sollten. Weiter zum »Wörterbuch Jungscher Psychologie«: »Jung widerstand der Tendenz der Psychiatrie seiner Zeit, enorme Anstrengungen auf eine korrekte Klassifizierung der Geisteskrankhei­ ten zu verwenden.« (ebd., S. 147) Und: »… gibt es daher in seinen Schriften auch keine gut entwickelte Systematik.« (ebd.) Das bedeutet, dass wir nicht vergleichen können, wie Jung im Gegensatz zu Freud Neurose definiert. Jung bleibe einfach vage. »Wo er Neurose definierte, sprach Jung von einseitiger oder unausgewogener Entwicklung.« (ebd., S. 148)

Wir müssen zum einen festhalten: Die Krankheitslehre der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie heutiger Tage folgt über­ wiegend der Psychoanalyse Freuds. In den oben kurz vorgestellten derzeitigen Standardwerken zu dieser Psychotherapieform wird diese Krankheitslehre oft umfassend aufgegriffen. Ein Bezug zu Jung findet diesbezüglich nicht statt. Zum anderen bleibt, was das Ziel der psy­ chotherapeutischen Behandlung betrifft, diese Psychotherapieform vergleichbar vage wie Jung bei seiner Bestimmung der Neurose: besserer Umgang mit aktuellen Problemen. So ließe sich ein Verdacht

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äußern, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie indi­ rekt doch Einiges von Jung übernommen hat, etwa seine Vagheit bei bestimmten Themen. Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie müsste sich fragen, ob es angemessen ist, sich bei der in etlichen Standard­ werken vorgestellten Ätiologie psychischer Störungen auf Freud und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger fast ausschließlich zu beziehen, ob es keine Krankheitslehre gibt, die vollkommen anders gestrickt ist als die von Freud, ob es überhaupt einer Krankheits­ lehre bedarf. Rogers, der Begründer der wissenschaftlichen Gesprächspsycho­ therapie, hat dies zum Beispiel abgelehnt. Er ging davon aus, dass das Verwenden einer Psychopathologie die Asymmetrie in einer Psychotherapie zementiere und Begegnung auf relativer Augenhöhe ausschlösse (Klotter 2020).

14.4.1 Psychologische Grandiosität Aus den Theorien Freuds und Jungs wurden eben nur kleine, aber wichtige Teile vorgestellt. Aber beide entwickelten nicht nur in ihrem eigenen Leben ganz unterschiedliche Modelle, ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger taten es ihnen gleich. Die implizite Hoffnung / Gewissheit hierbei war und ist, dass die Psyche des Menschen letztlich vollkommen durchschau­ bar ist, durchschaubar sein soll. Das ist quasi das Forschungsziel. Nur Jung hat diesem Ziel eine Absage erteilt, aber er hat trotzdem auch Aussagen zu dem Unbewussten gemacht habe, dass es etwa das Leben des Einzelnen mit Zielvorgaben bestimmt. Die Idee des approximativ zu durchschauenden Unbewussten ließe sich als Utopie verstehen. So wie in der Moderne die Vorstellung vorherrscht, dass die Natur, die Welt der Dinge vollkommen durch­ schaubar ist, nichts entkommt der menschlichen Wahrnehmung, dem menschlichen Verstand, so soll Vergleichbares für die menschliche Psyche gelten. Ihr soll es gelingen, sich selbst vollkommen zu durch­ schauen. Das könnte verstanden werden als menschliche Anmaßung, als eine implizite Grandiositätsphantasie. Zu Anteilen hat Jung das Unbewusste noch grandioser kon­ zipiert: Ich weiß, dass es etwas Unverfügbares gibt, ein großes Geheimnis, ich bleibe vage und damit noch viel größer. Mit dem

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Unbestimmten, Numinosem werde ich selbst zu Anteilen zu einem großen Geheimnis. Nur die Kleinen müssen alles rational erklären. Wir können festhalten, dass sich die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie von dieser Idee des totalen Zugriffs auf das Unbewusste implizit verabschiedet, insbesondere von der Jungschen Grandiositätsphantasie. Seine Idee, dass das Unbewusste das indivi­ duelle Leben mit Zielen mitbestimmt, kollidiert mit dem Konzept der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, weil mit dieser ein relativ konfliktfreieres, unproblematischeres Leben angestrebt wird. Und dieses wird erarbeitet im Gespräch zwischen Psychotherapeutin und Klienten. Unbewusste Zielsetzungen des Unbewussten im Sinne Jungs sind da nicht existent. Selbstredend gibt es für diese Psychotherapieform ein Unbe­ wusstes, das etwa bei der Entstehung psychischer Störungen eine Rolle spielt. Aber mit ihr wird das diesbezügliche psychoanalytische Wissen rezipiert und keine neue bahnbrechende Idee zur Funktions­ weise des Unbewussten aufgestellt. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie begibt sich hier also nicht in den Wettstreit der noch viel besseren Erklärung unbewusster Prozesse. Diese Psychotherapieform verzichtet also auf einen totalisieren­ den Zugriff auf die menschliche Psyche! Der Versuch, den letzten Winkel der Seele zu erfassen, lässt sich also zu Anteilen als totalitär und maßlos überheblich-arrogant begreifen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie findet zur neuen Bescheidenheit – eine beeindruckende Entwicklung! Sie ver­ zichtet auf totalisierendes großes Denken der menschlichen Psyche. Dann ist es zu verkraften, dass mit dieser Bescheidenheit zuweilen auch vages Denken verbunden sein kann, etwa bei der klareren Bestimmung dessen, was das Ich ist, sein könnte. Und wenn wir andere Schulen der Psychologie anschauen, dann wird ersichtlich, wie bescheiden diese diesbezüglich auch sind. Die traditionellen Lerntheorien (Pawlow, Skinner) erklären schlicht die Seele zu einer Blackbox. Sie wollen sie eben nicht ergründen. Und ihre Vertreter haben sich nie so erbarmungslos bekämpft, wie es in der Geschichte der Psychoanalyse üblich war und üblich ist. Es ist nicht auszuschließen, dass in die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapiephantasie, wie schon erwähnt, eine andere Größenphantasie hineingreift: der Machbarkeitsmythos der Moderne: Das Leben ist so zu ändern, wie es die Klientin, wie es der Klient will. Ihr Leben liegt in ihren Händen.

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14.4.2 Ein Beispiel grandiosen psychologischen Denkens Das vorliegende Buch ist ja quellenorientiert geschrieben. Zur Ver­ anschaulichung der Grandiosität von Ärzten und Psychologinnen soll nun der Psychoanalytiker Heyer zitiert werden. Heyer war Deutscher, war ein Nationalsozialist (Lockot 1994, S. 63), war einer der am meis­ ten gelesenen Psychoanalytiker in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Kindler 1982)! Seiner Reputation war seine Par­ teizugehörigkeit in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht abträglich, Möglicherweis war das Gegenteil der Fall. Er veröffentlichte etliche Bücher, so 1966 »Aus meiner Werk­ statt«. Von Vergangenheitsbewältigung konnte so nur sehr bedingt die Rede sein. Was ist bei Heyer grandios? Seine zur Schau gestellte Belesenheit zum Beispiel. Ein gebildeter Mensch kann doch nicht böse und grau­ sam sein. Oder? »Jede Bewegung muss sich erfüllen; nur in ihrer ›VollEndung‹ kommt es zur Wendung, zur Wandlung. Dieser ›Umschlag‹ war bekanntlich Rilke in seinem Spätwerk immer bedeutsamer geworden, wie E. Jünger in seinem Pariser Tagebuch (1941) notiert.« (Heyer 1966, S. 10) Heyer kennt sie alle, auch den ehemaligen lei­ denschaftlichen Soldaten Jünger, der über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Und mit diesem ›Umschlag‹ ist ja auch die arische Psychoanalyse legitimiert. Aus einer jüdischen Psychoanalyse wird eine arische. So einfach ist das. »Die Psychoanalyse von Freud war – für uns Heutige völlig durchsichtig – nur wenig verhüllter Materialismus und Biologismus.« (ebd.) Na klar doch, das Instanzenmodell der Psyche oder psychothe­ rapeutische Gespräche sind reiner Materialismus oder eben Biologis­ mus. Auch Freuds Kulturtheorie gehört in dieselbe Kategorie.Das wissen wir doch schon längst! Auf Seite 165 desselben Buches aber auf einmal nicht mehr: »Freud bedeute den ersten entscheidenden Ausbruch aus dieser materialistischen Anschauung.« Letztere wird von Heyer dem tradi­ tionellen Nervenarzt zugeschrieben. Also: Heyer möchte den braven Bildungsbürger spielen, ist aber vollkommen inkonsistent. Einmal ist Freud ein Materialist, das andere Mal der Ausbruch hieraus. Also: was nun? Und Heyer schreibt auch über Jung, seinem Lehrer: »Von großer Bedeutung war ihm namentlich früher die Gnosis. In mancher Hin­

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sicht könnte Jung ein Gnostiker genannt werden.« (ebd., S. 182) Die Gnosis war und ist eine Unterströmung des christlichen Glaubens seit Beginn des Christentums. Sie besteht aus einem radikalen Leib-SeeleDualismus. Eine weitere gnostische Annahme: Die Erde wurde von einem bösen Gott geschaffen, dem Demiurgen, meistens identifiziert mit dem Gott des Alten Testamentes; daher sind die Materie und der Körper böse. Wer satt und zufrieden lebt, vergisst die Botschaft des fernen Gottes und kann daher nicht zu ihm aufsteigen. Die meisten gnostischen Sekten waren und sind antisemitisch (Brumlik 1992). Jungs Sympathie für den und Unterstützung des Nationalsozia­ lismus ließe sich auch so verstehen, dass dies gnostisch-antisemitisch mit inspiriert war.

14.4.3 Konsequenzen für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Um bezüglich der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vorläufig zusammenzufassen: Sie hat bislang noch nicht ausreichend Stellung dazu genommen, in welcher Traditionslinie sie sich sieht – in der der Freudschen Psychoanalyse oder in der der arischen Tiefenpsy­ chologie. Von ihrer Entstehungsgeschichte her wird sie als Kind der Psychoanalyse begriffen. Aber mit der Hintanstellung des Unbewuss­ ten und der Sexualität passt sie auch gut zu Schultz-Henckes Ansatz. In seinem Lehrbuch zur tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie (2019) zitiert Rudolf Freud nur einmal, Schultz-Hencke auch nur einmal, aber Schultz-Henckes Schülerin, Dührssen, zehnmal. Dies könnte so interpretiert werden, dass diese Psychotherapieform sich eher in der Tradition der deutschen Tiefenpsychologie sieht. Auch wenn sie sich als quasi nicht ideologische, empirische Wissenschaft begreift, könnte dieser Bezug zu Schultz-Hencke und Dührssen als gravierendes Problem begriffen werden. Die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie könnte so als antisemitisch begriffen werden, zumindest als eine Psychotherapiemethode, die den Antisemitismus nicht ausschließt. Zynisch formuliert, könnte die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als perfekte Integration von Freud und SchultzHencke begriffen werden, Freud nicht ausschließend, aber den Schwerpunkt auf Schultz-Hencke und Dührssen legend, so wie dies Rudolf nahelegt.

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Diese Psychotherapieform kann sich so als gänzlich apolitisch und unschuldig begreifen. Sie kann dann einfach vergessen / ver­ drängen, dass Schultz-Hencke mit Psychotherapie tüchtige deutsche Soldaten produzieren wollte, die bereit sind, für Nazi-Deutschland zu sterben. Schultz-Hencke hat nichts dagegen getan, dass jüdische Psychoanalytiker emigrieren mussten oder umgebracht wurden. Glei­ ches gilt für Jung und Heyer. Der praktizierte Antisemitismus ist also Kennzeichen einiger deutscher und deutschsprachiger Psychoanalyti­ ker im Dritten Reich. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Psychotherapie müssen also dringend zu dieser Problemlage Stellung nehmen. Wenn nicht, übersehen sie, intendiert oder nicht intendiert, dass der Antisemi­ tismus ein Dispositiv in der deutschen Tiefenpsychologie war und eventuell noch ist, also eine Möglichkeit, die nicht ausgeschlossen werden soll. Ein vorläufig letztes Wort zu Jung und Heyer. Kindler (1982) schreibt: »Hier ist einzufügen: Heyer wurde Parteimitglied der Natio­ nalsozialisten. Er hat seinen Irrtum später bereut und darin nicht nur wie Jung einen ›Ausrutscher‹ gesehen.« (S. 313). In der Tat, es war kein Ausrutscher, sondern quasi logisch geschlussfolgert. Jungs Begriff des Unbewussten, den Heyer zu guten Anteilen übernommen hat, impliziert, dass das unzugängliche Unbewusste das menschliche Leben zielgerichtet mitbestimmt (siehe weiter oben). Damit wird klargemacht, dass das Ich, das Über-Ich, das Bewusstsein nur eingeschränkt das individuelle Leben bestimmen. Es wird so implizit konzediert, dass ein Mensch auch andere umbringen darf. Schließlich wolle sein Unbewusstes dies. Das Unbewusste und der Mythos sind so legitimiert als Sieger über Vernunft, über das Recht. Wie sollte daher Jung oder Heyer etwas gegen die Nationalsozialisten haben? Diese haben doch nur ihren arischen Mythos realisiert. Die Jungsche Tiefenpsychologie ist also strukturell anti-rechtsstaatlich, antidemokratisch und antisemitisch.

14.5 Zusammenfassung Nach Kerr ist die Psychoanalyse ein Kind von Freud und Jung. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bedeutet das, über sich zu reflektieren, was bei ihr von Freud und was von Jung herrührt. Und sie kann Jung auch gerne kritisch rezipieren. Sie muss

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14.5 Zusammenfassung

anerkennen, dass sie von Freud und von Jung inspiriert ist, und sie sollte daher nicht Freud quasi kastrieren und Jung einfach vergessen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist, was den Begriff des Unbewussten betrifft, sehr viel stärker auf der Seite Freuds. Das religiöse und mystische Unbewusste nach Jung lehnt sie implizit, aber unmissverständlich ab. Sie hofiert dann nicht eine grandiose Seele, um selbst grandios zu sein, sondern ist bescheiden. Aber die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie friert, wie ausgeführt, auch das Unbewusste Freuds ein. Für die Psychoanalyse ist das Scheitern des Ichs immer möglich. Das ganze Leben besteht aus dem Ringen um Ich-Stärke, aber es ist eben möglicherweise nur ein vergebliches Ringen. Davon will die tie­ fenpsychologisch fundierte Psychotherapie nichts wissen. Sie ist dem Machbarkeitsmythos der Aufklärung und der Moderne verschrieben. Wir haben es hier also mit gänzlich unterschiedlichen Auffassun­ gen über die menschliche Psyche zu tun, und überhaupt über das gesamte menschliche Leben. Wenn ich das potenzielle Scheitern mit­ denke, dann bin ich dankbar für jeden gelingenden Schritt, wissend, dass es auch anders hätte ausgehen können. Das Denken des nicht Scheiterns erhöht den Erwartungsdruck in der Psychotherapie. Der Klient, die Klientin muss es schaffen, falls nicht, werden sie potenziell als schwer psychisch krank etikettiert. Schuld am Scheitern können doch nur sie haben, und nicht die vollständig psychisch gesunden Psychotherapeuten! Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat sich nur sehr unzureichend mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt. In ihrer Definition basiert sie auf der Psychoanalyse Freuds. In Rudolfs Stan­ dardwerk erscheint sie eher als Kind von Schultz-Hencke: Zurückstel­ lung der Sexualität und des Unbewussten. Aber ganz so einfach geht das nicht. Schultz-Hencke war nicht Mitglied der NSDAP, aber sein Psychotherapieverständnis bestand darin, tapfere Soldaten psychotherapeutisch zu schaffen, die bereit sind, für das deutsche Vaterland zu sterben. Also: Seine Nationalso­ zialismus-Affinität ist in keiner Weise zu übersehen. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie kritisch mit Schultz-Hencke umgeht, ebenso mit seiner Schülerin Dührssen, der durchaus antise­ mitische Tendenzen unterstellt werden können (Benz 2005). Zum Aufgabenheft der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie gehört auch eine klarere Bestimmung der Psychotherapie­

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ziele. Das eigene Leben besser zu bewältigen, das könnte auch für den KZ-Kommandanten gelten. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss sich auch damit befassen, was (Auto-)-destruktion ist und wie sie zu bearbeiten ist. Sie braucht eine Theorie, um erklären zu können, warum SchultzHencke mit Psychotherapie tapfere Soldaten schaffen wollte, die bereit sind, für das Vaterland zu sterben. Das leidenschaftliche Morden der Nazis müsste mit dieser Theorie fassbarer werden. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss, um dies auf ein Banner zu schreiben, dringend klären, ob sie den Antisemitis­ mus als Dispositiv in sich trägt, in sich tragen will.

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Die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie und die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie fallen nicht per Zufall vom Himmel, sondern sie sind fundiert und eingebettet in eine spezifische gesell­ schaftliche und kulturelle Epoche. Im Mittelalter hätte es also keine Psychoanalyse gegeben. Wir versuchen nun also, den geschichtlichen Rahmen abzuste­ cken, in denen diese Theorien und Psychotherapien entstehen konn­ ten und in dem diese Psychotherapien bestimmte gesellschaftliche Funktionen haben.

15.1 »Geschichte des privaten Lebens« und ihre Auswirkungen auf Psychotherapie Wir beginnen, um diesen Rahmen sinnvoll abstecken zu können, mit dem fünfbändigen Werk »Geschichte des privaten Lebens« (1991), einem Meilenstein der französischen Mentalitätsgeschichtsschrei­ bung. Vergleichbares gab es und gibt es in Deutschland nicht. Aber gewiss lassen sich die meisten historiographischen Rekonstruktio­ nen der französischen Mentalitätsgeschichtsschreibung auf Deutsch­ land übertragen. Wir steigen ein mit Band 3 »Von der Renaissance zur Aufklä­ rung«. Ariès beschreibt in der Einleitung, dass es im Spätmittelalter unsere Aufteilung von öffentlich und privat noch gar nicht richtig gegeben hat (ebd., S. 7). Dann wird der Unterschied zu heute schon deutlich klar. Unsere tiefen Seelen sind das Ankerbeispiel für das Pri­ vate. Sie gehören ganz uns. Nur wenn es uns beliebt, zeigen wir ein wenig von ihnen den anderen. In der Psychoanalyse und in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird dies Belieben ein wenig reduziert. Wir gehen zwar aus freien Stücken in Psychotherapie. Aber unsere Psychothera­ peuten erwarten durchaus, dass wir unser Seelenleben offenbaren. Ansonsten habe das keinen Sinn, meinen sie.

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Aber diesbezüglich ist die Psychoanalyse ein wenig radikaler. Sie erwartet, dass wir so viel wie möglich Unbewusstes bewusst machen, auch wenn wir dies nicht mögen, und dass wir möglichst umfassend von unserer Biographie berichten. Die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutinnen sind da vorsichtiger. Ihnen reicht ein kleiner Blick ins Unbewusste und in die Biographie. Dann kommt nach Ariès der Bruch im 19. Jahrhundert: »Aus der Gemeinschaft ist eine riesige, anonyme Menschenmenge geworden, in der keiner keinen mehr kennt. Arbeit, Freizeit und Familie sind nun unterschiedliche, gegeneinander abgegrenzte Lebens- und Tätigkeitssphären. Man will sich vor den Blicken der anderen schützen, und zwar auf zweierlei Weise. - Durch das Recht (oder zumindest das Bewusstsein), sein Dasein frei gestalten zu können, und - durch den Rückzug in die zum Refugium und Angelpunkt des Privaten gewordene Familie.« (ebd., S. 7f)

Damit wird die eigene große Seele zum Schutzraum gegen die anonyme Menschenmenge. Wenn schon fast niemand mich kennt, wenn ich schon fast niemanden kenne, dann weiß ich doch von meiner Seele. Mit dieser kann ich kognitiv und emotional die unterschiedli­ chen Lebensräume verbinden. Ich wundere mich dann, dass ich am Arbeitsplatz als mutiger Gewerkschaftler angesehen bin, meine Frau mich jedoch als friedlich-ängstliches Wesen einschätzt. In der Massengesellschaft können mich täglich tausend Augen­ paare beobachten, mustern und taxieren. Ich wende mich ab, und tue das, was ich will. Das ist meine neue individuelle Freiheit. Meine große Seele lechzt nach dieser Freiheit. Und dennoch braucht diese Seele neben sich selbst als Heimat eine ein bisschen größere Heimat: die Familie. Aber auch meine Familie darf nicht alles über mich wissen. Deshalb verstecke ich mich in meiner großen Seele, ich finde dort Unterschlupf. Und sie findet Unterschlupf zum Beispiel in der Praxis von Professor Freud. So kann es vorkommen, dass in der Psychoanalyse und in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie die Heimat Familie reflektiert werden kann. Ist sie die richtige Heimat? Will ich dort bleiben? Was kann ich dort an mir ändern? Der Unterschlupf Psy­ chotherapie kann so zu einer Basis des Stellungskrieges gegen die familiäre Heimat werden.

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15.1 »Geschichte des privaten Lebens« und ihre Auswirkungen auf Psychotherapie

Und es soll ja Menschen geben, die lieber zur Psychotherapie gehen, als ein Abendessen mit der Familie einzunehmen, die dem Psychotherapeuten mehr vertrauen als dem eigenen Ehepartner. So nimmt es nicht Wunder, dass die Familie immer ein wenig misstrau­ isch wird und ist, wenn einer von ihnen zur Psychotherapeutin geht. Dieser hat dann zwei Häfen, zwischen denen er sich entscheiden kann. Und die Familie geht vermutlich zurecht davon aus, dass im Hafen Psychotherapie mehr Vertrauen herrscht, die Selbstoffenbarung leich­ ter fällt, weil das Anvertraute nicht strategisch genutzt werden kann. Wenn in der Psychotherapie die Klientin dem Psychotherapeuten anvertraut, dass sie sich unsterblich in einen Arbeitskollegen verliebt hat, dann wird sich dieser nicht mit einer Affäre prophylaktisch rächen, der Ehemann dagegen potenziell schon. So ist dann die Psychotherapie der heilige, sichere Hafen. Die Psychotherapie ist der echte Hafen, die Heimat der Offenba­ rung und Wahrheit. Sie basiert auf einer freien Entscheidung zwischen zwei Menschen, zusammenarbeiten zu wollen. Kein Hausbau, keine Schulden, keine Kinder sind dafür verantwortlich, dass die beiden zusammenbleiben wollen / müssen. Basiert so das Eheleben etwa auf Zugeständnissen und Kompro­ missen, kann das idealtypisch niemals für die psychotherapeutische Beziehung gelten. Insofern ist sie das Vorbild für eine gute Ehe. Sie ist der Prototyp einer guten zwischenmenschlichen Beziehung. Misstraut die Familie des Patienten, der Patientin, wie eben angedeutet, der Psychotherapie, so lässt sich Analoges auch über die Psychotherapeutin sagen. Sie muss der Familie des Patienten grundsätzlich misstrauen, schließlich haben doch die Probleme der Familie dazu geführt, dass er zur Psychotherapie kommt. Zumindest ist das nie auszuschließen. Dieses Misstrauen der Psychotherapeutin, ihre kritischen Fra­ gen, können dazu führen, dass der Patient sich in der Psychotherapie so fühlt, als ginge er fremd. Wenn er ein wenig über seine Frau lästert, und die Psychotherapeutin ein zustimmendes Lächeln nicht verber­ gen kann, dann haben sich die beiden gegen seine Frau verbündet. Psychoanalyse bedeutet dann langjähriges Fremdgehen, tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie ist dann eher eine vorrüber­ gehende Affäre. Zurück zu Ariès: Ariès beschreibt, wie die zunehmende Selbstinszenierung der Menschen in der europäischen Neuzeit etwas zu tun hat mit dem

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verstärkten Eingreifen des Staates in das soziale Miteinander. Im Mittelalter kannte im Dorf jede jeden. Ein Leben lang von morgens bis abends waren die Menschen zusammen. Schauspielerei wäre absurd gewesen. Dann aber entwickelten sich die Städte. Es wurde zuneh­ mend weniger landwirtschaftlich gearbeitet. Es wurde zur Arbeit gegangen, etwa in eine Manufaktur. Die Massengesellschaft stand in den Startlöchern und damit ein anderer Umgang untereinander: »Eine der Hauptaufgaben des Individuums bestand nach wie vor darin, soziale Rollen zu erwerben, zu behaupten oder zu verfeinern, die all­ gemeine Anerkennung genossen. Denn vor allem seit dem 15./16. Jahrhundert gab es mehr Spielraum in einer Gemeinschaft, die durch wachsenden Reichtum und Vielfalt der Berufe ersichtlich Ungleichheit erzeugte. Es galt, den Schein, d. h. die Ehre, also das Gesicht zu wahren. Man wollte gebilligt oder beneidet, jedenfalls toleriert werden. Das Individuum war nicht, was es war, sondern was es zu sein schien, oder vielmehr: was es zu scheinen wusste.« (ebd., S. 9)

In dem Augenblick, in dem ich mich nach außen inszeniere, in dem ich ein Schein aufbaue, beginne ich zu trennen zwischen meiner Erschei­ nung und meinem Inneren, das versucht, mich so in der Öffentlichkeit auftreten zu lassen, dass ich erfolgreich und anerkannt bin; genau in diesem Augenblick entwickle ich die abgeschirmte innere Seele, die das Zeug hat, sehr tief zu werden, vielleicht nicht sofort, aber dann, wenn im Zeitalter der Romantik, die soziale Inszenierung in Verruf gerät und nach dem echten Menschen verlangt wird. Und dieser echte Mensch muss eine richtig tiefe Seele haben (Klotter und Beckenbach 2012). Und diese tiefe Seele hat der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie den Namen gegeben. Ohne diese Seele gäbe es diese Psychotherapie nicht, mit der der psychische Binnenraum erkundet werden soll. Dann können Fragen beantwortet werden. Warum findet ein Mensch einen anderen besonders sympathisch, warum einen anderen besonders unsympathisch, so unsympathisch, dass er ihn am liebsten anbrüllen würde, ihn eigentlich am liebsten schlagen würde? Und wir müssen uns fragen, welche Form der Selbstinszenierung wird in der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie praktiziert? Hierzu eine kleine Überspitzung: Der Patient muss auf jeden Fall nachdenklich wirken, bemüht um die Selbsterkundung, bemüht um die bessere Gestaltung seines Lebens. Er muss ernst wirken, akzeptierend seine negativen Gefühle. Ja, er

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ist traurig wegen … Und das ist schwer zu verkraften. Aber dann gibt es wieder gute Momente. Zu dieser Erkenntnis gibt es ein mildes zuversichtliches Lächeln. Und mit der Psychotherapeutin gibt es eine fast freundschaftliche Verständigung. Fast immer sind sie einer Meinung. Und der Patient ist so dankbar, dass sie sich so viel Zeit für ihn nimmt. Zurück zu Ariès: Was führt nach Ariès noch zu der historisch neuen tiefen Seele? »… war die Alphabetisierung und die Verbreitung des Lesens, vor allem dank dem Buchdruck … Das stille Lesen hatte zur Folge, dass mancher sich sein eigenes Bild von der Welt und empirische Kenntnisse erwerben konnte … Es erlaubte die einsame Reflexion, die sonst nur dem frommen Mann im Kloster oder in der Einsiedelei möglich war, an Orten also, die zum Alleinsein bestimmt waren.« (1991, S. 10)

Eine technische Innovation, die Erfindung der Buchdruckkunst, schafft die moderne Seele – mit. Lesen bedeutet, ein »eigenes Bild« von der Welt und in der Folge von sich selbst zu bekommen. Denn wer über Welt nachdenkt, bedenkt auch, wie er in der Welt steht, und wie er dazu kommt, die Welt so zu sehen. Und das ist besonders gut möglich beim Alleinsein, beim Zeit für sich haben. Das eigene Bild von der großen Welt korrespondiert mit der eigenen großen Seele. Schließlich muss sie in der Lage sein, die Welt genau zu beobachten und zu bewerten. Unausweichlich rückt dann das erkennende Subjekt ins Visier von sich selbst: Wer ist der, der die Welt so sieht und einordnet? Welche Seele braucht er dazu? Wie funktioniert diese Seele? Und Ariès benennt noch eine andere geschichtliche Tradition, die zu einer neuen Innerlichkeit geführt hat: »neue Praktiken der Religiosität im 16. und 17. Jahrhundert.« (ebd.) »Sie führten zu einer Verinnerlichung der Frömmigkeit … nämlich zur Erforschung des Gewissens: bei den Katholiken im Medium der Beichte, bei den Puritanern in Gestalt des intimen Tagebuchs.« (ebd.) Diese Praktiken der Religiosität führen zu einem neuen Verhält­ nis zu sich selbst. Ich prüfe, was in meinem Innern vor sich geht. Ich verhöre mich gleichsam: Zu welcher Sünde hast Du eben Lust gehabt? Was ist Dir durch den Kopf gegangen? Es geht dann nicht nur um die getane Sünde, sondern um das Verlangen nach ihr. Aber auch das ist bereits Sünde, fast genauso Sünde wie das Faktum. Ich lege mich auf den Horchposten -zu mir selber. Ich werde meine eigene Inquisition. Ich stelle mich unter Polizeigewalt. Und ich

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erkunde damit ein ganzes Meer an Verlangen, Gedanken, Wünschen. Und ich weiß, ich werde über mich nie alles erfahren, auch wenn ich ein noch so guter Forscher bin. Aber ich weiß zumindest, dass meine Seele riesig ist. Ich kleiner Mensch habe eine Universum-Seele. Sie macht mich dann zu Anteilen auch grandios. Ein kleiner, aber passender Ausflug: Hahn, Willems und Winter haben in ihrem Beitrag in dem Herausgeberband »Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland« (Jüttemann, Sonntag, Wulf 1991), auf den wir noch ausführlicher eingehen werden, »Beichte und Therapie als Formen der Sinngebung« die Beichte und die Psychotherapie in Beziehung gesetzt. Die Beichte ist gleichsam der Vorläufer und das Urmodell der Psychotherapie. Es ist unwahrscheinlich, dass heute praktizierende Psychothera­ peuten davon etwas wissen wollen. Sie wollen doch nur helfen. Hahn et al. streichen heraus, dass sowohl Beichte als auch Psychotherapie Sinnstiftungsverfahren sind, dass aber das menschliche Leben nicht automatisch nach Sinn verlangt, und dass das Suchen von Sinn etwas typisch Europäisches ist. »Es ist also durchaus denkbar, sein Leben ›vor sich hin‹ zu leben, ohne ein Sinndefizit zu erfahren, solange man mit den konkreten Situatio­ nen zurechtkommt. Sinndefizite stellen sich hier erst ein (und zwar für einen selbst oder andere), wenn im jeweiligen Moment die normale Handlungskompetenz verlorengeht, ohne dass dafür typisierte Erklä­ rungen vorliegen.« (ebd., S. 496)

Jetzt haben wir eine perfekte Terminierung vorliegen, wann eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eingreifen kann, ein­ greifen sollte. Sie soll klären, warum das übliche Leben jetzt nicht mehr möglich ist, und wohin der Lebensweg jetzt führen soll. Sinnund Handlungsdefizite sind zu beseitigen, sollen beseitigt werden. Die Psychoanalyse kann sich diesem Modell anschließen. Sie wäre nur biographischer orientiert und würde das Unbewusste stärker fokussieren. Aber in diesem Sinne wäre die Psychoanalyse nur eine Variante der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die ja erklärtermaßen an aktuellen Sinn- und Handlungsdefiziten ansetzt. Wenn das keine neue Perspektive ist! »Wenn auch die Beichte die historisch am meisten verbreitete Form institutioneller Bekenntnisse darstellt, so ist sie aus der Sicht der Soziologen dennoch nur ein freilich wichtiger Spezialfall von Selbst­ thematisierung. Institutionelle Bekenntnisse haben nicht nur im Kon­

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text religiöser sozialer Kontrolle eine große Rolle gespielt. Sie sind auch in rechtlichen Verfahren von zentraler Bedeutung. Schließlich ist gerade die allerjüngste Moderne – etwa seit dem 19. Jhd. – durch eine Säkularisierung und gleichzeitig den gesteigerten Einsatz von Bekenntnisritualen charakterisierbar. Man denke an die Verwendung von biographischen Bekenntnissen in der Psychoanalyse, in der medi­ zinischen Anamnese und nicht zuletzt in der Sozialforschung.« (ebd., S. 498)

Entscheidend an dem hier Mitgeteilten ist, dass die Psychoanalyse nicht als etwas bahnbrechend Neues vorgestellt werden kann, sondern sie wird als eine besondere Form der Selbstthematisierung begriffen, als eine spezifische Ausprägung derselben. Hahn et al. betonen hierbei, dass nicht die Thematisierung der Sexualität oder des Unbewussten die Revolution bei Freud darstellt, sondern deren spezifische Verknüpfung. Die subjektiv sexuelle Sinn­ struktur wird in der Psychoanalyse gedeutet, also gleichsam dem Unbewussten entrissen. So kann der Patient, die Patientin für sich eine neue Lebensgeschichte entwerfen, eine neue Interpretationsfolie. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie würde dies bedeuten: Ja, sie unterstützt dabei, eine neue Lebensgeschichte zu entwerfen – soweit sie benötigt wird, um mit der aktuellen Lebens­ situation zurechtzukommen. Die Sexualität spielt hierbei nicht die erste Geige, sondern ist eine unter vielen. Dies betrifft auch das Unbe­ wusste. So wäre die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie quasi säkularisierte Psychoanalyse, indem sie das aktuell Weltliche – aktu­ elle Lebenskonflikte – in den Vordergrund rückt und nicht das Verbor­ gene – das Sexuelle, das Unbewusste. Mit Hahn et al. wird demnach deutlich, dass die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie nicht nur dazu dienen soll, aktu­ elle Probleme und Konflikte besser zu lösen, sondern dass dies unausweichlich damit verknüpft ist, die eigene Lebensgeschichte umzuschreiben, neue Narrationen zu erfinden, aus sich ein anderes Lesebuch zu machen. Und diese neuen Narrationen verdanken ihre Entstehung den Bekenntnissen, den »confessiones« (Kirchenvater Augustinus), die ihre Wurzeln haben in dem sich selbst zwingen, sich zu erkunden, auch das Unangenehme in sich, und mit einem gewissen Zwang von außen, vom Psychoanalytiker, von der Psychotherapeutin, endlich einmal die Dinge auszusprechen, die in einem vorgehen. Und mit

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der freien Assoziation purzeln einem Dinge aus dem Mund, die doch besser drin geblieben wären, denkt die Patientin bedauernd und erleichtert. Die Psychoanalyse ist so mit einem gewissen Zwang verbunden. Sie hat durchaus etwas von einem Polizeiverhör. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist wie üblich tendenziell milder und liberaler als die Psychoanalyse. In ihr muss der Klient keine Geständnisse machen. Er muss auch nicht frei assoziie­ ren. Aber ein gewisser Zwang bleibt. Der Klient soll doch bitte auch unangenehme Dinge berichten. Es ist doch nur in seinem Interesse. Diese implizite Verpflichtung zum Gespräch in der Psychothera­ pie hat ein Analogon in der Ehe. Das von Paulus formulierte »debi­ tum« des Ehepaars, die gegenseitige Pflicht zum sexuellen Vollzug (Klotter 1999), hat womöglich eine heutige Entsprechung in der Pflicht des Ehepaares, miteinander zu reden, sich zu öffnen, gerade die unangenehmen Dinge anzusprechen. So ist das eheliche Gespräch stets eine Mischung aus Freiheit und Pflicht. Wir fassen zusammen: Psychoanalyse und die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie sind auf unterschiedliche Weise mit einem gewissen Zwang verknüpft, sein Innerstes nach außen zu kehren. Die Inquisition ist nicht vollständig abgeschafft. Auch nicht in der Ehe. Auch nicht in der Psychotherapie. Zurück zu Ariès: Weiter oben haben wir gesehen, dass die Entstehung des moder­ nen, privaten und individuellen Menschen zunächst auf drei histo­ rische Veränderungen zurückführen ist: auf das verstärkte Eingreifen des Staates in »Sozialzusammenhänge« (1991, S. 9). Damit wird die traditionelle Gemeinschaft von Menschen etwa in einem Dorf relati­ viert, und die Menschen beginnen, sich zu inszenieren. Wer ein Mensch in seinem Innern glaubt zu sein, und wie er sich nach außen darstellt, werden unterschiedliche Welten; zweitens auf die Alphabe­ tisierung, drittens auf verinnerlichte Religiosität. »Wir fragen uns, wie diese Ereignisse (die drei eben genannten, A. d. A.) auf die Mentalitäten eingewirkt haben. Ich unterscheide sechs Gruppen von wichtigen Gegebenheiten, die sich konkreten Gegen­ ständen zuordnen lassen und eine elementare Klassifizierung erlau­ ben.« (ebd., S. 10)

Diese sollen nun vorgestellt werden. »Die Anstandsbücher und die Art, mit dem eigenen und dem fremden Körper umzugehen, signalisieren eine neuartige Scham, eine bislang

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unbekannte Neigung, bestimmte Körperteile und Körperfunktionen zu verbergen … Vorbei waren die Zeiten, da die Männer, wie im 16. Jahr­ hundert, ihr Geschlechtsteil mit einem Futteral umhüllten, das eine Erektion simulierte.« (ebd., S. 11)

Wenn der Abstand zum eigenen und vor allem zum fremden Körper wächst, dann ist es vorstellbar, dass eine Kompensation stattfinden muss: die eigene Seele auszubauen, sie intensiv erkunden zu wollen. Heimat ist quasi nicht mehr der Körper, sondern die Seele. Der Mensch wird so zum geistigen Wesen. Der Körper hat dann vorwie­ gend die Funktion, ein Gefäß des Geistes zu sein. Freud hat mit seiner Betonung der Triebe, mit seiner Annahme, dass der Umgang mit den Trieben die jeweilige Seele fundiert, gegen diese Vorstellung des Körpers als Gefäß der Seele massiv rebelliert. Und er war damit erfolgreich. Er wurde darüber bekannt. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat keine explizite Körpertheorie, aber sie begreift den Menschen als über­ wiegend geistiges Wesen, sie stellt sich also überwiegend in die europäische Tradition der letzten Jahrhunderte. Schon wieder ist sie milder als die Psychoanalyse, massentauglicher, akzeptabler. Und es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen oder ange­ deutet. In der Zeit der Liberalisierung der Sexualität, der Pornogra­ phisierung, die es fast allen Menschen ermöglicht, Sexbilder und Sexfilme mit allen Varianten der sexuellen Spielarten anzuschauen, könnte die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ein Teil einer Gegenbewegung hierzu sein. In den Sachregistern der Standardwerke zu dieser Psychotherapieform taucht der Sex einfach nicht mehr auf, fast nicht mehr auf. Und der Sex ist fast niemals mehr Hauptthema in dieser Psychotherapie. Unsere Gesellschaft hat den Sex in gewisser Weise satt, allen voran die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie. Der Mensch ist wieder überwiegend Geist. Lang lebe Europa! Lang lebe Kant! Praktischerweise macht dies auch eine Absetzung von der Psy­ choanalyse möglich, und damit eine relativ eigenständige Identität möglich. Und in der Absetzung von der Psychoanalyse ist das Dispo­ sitiv des Antisemitismus nicht ausgeschlossen. Zurück zu Ariès: »Das Tagebuch, der Brief, das Bekenntnis, also generell die autobiogra­ phische Literatur war ein weiteres Indiz für den mehr oder minder bewussten, bisweilen verbissenen Willen des Individuums, sich von den anderen zu distanzieren und sich selbst kennenzulernen … Diese

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autobiographische Literatur zeugt von der Verbreitung der Alphabe­ tisierung und dem Zusammenhang zwischen Lesen, Schreiben und Selbsterkenntnis.« (ebd.)

Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, sich bilden zu können, verändert die menschliche Psyche. Sie ist auf einmal der Rede und des Schreibens wert. Sie wird im Schreiben aufgewertet. Sie wird durchleuchtet, sie wird durchdekliniert. Und eines ist klar: Sie wird niemals vollständig durchleuchtbar sein. Sie bleibt zu Anteilen unergründlich, unaufschreibbar. Freud musste also nur noch auf diesen Zug aufspringen. Und dieser Zug ist so langsam, dass dies ihm gleichsam mühelos gelang. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist da, wie üblich, pragmatischer und bescheidener. Das Unergründliche der Seele, des Unbewussten suspendiert sie einfach – mehr oder weni­ ger – im Umfang unbestimmbar. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie folgt auch hier quasi dem Verbot, sich genauer zu definieren. Sie setzt sich auch in diesem Punkt von der Psychoanalyse ab, die relativ einfach mit ein paar Begriffen relativ klar zu definieren ist: Unbewusstes, Sexualität, Deutung. Diese Psychotherapieform liebt eventuell, das Vage, den offenen leeren Raum, mit ein paar alten Möbelstücken (Elemente der Psycho­ analyse) zu füllen, aber auch mit ganz neuen (andere Psychotherapie­ methoden). Sie bleibt so disparat und irgendwie unbestimmbar. Sie gleicht damit einem Einrichtungshaus, das ganz auf Tradition und ganz auf Innovation setzt. Schon wieder ist sie ganz massenkompatibel. Der eine kommt zu ihr, weil er sich gerne auf alte Sessel setzt, die andere kommt, weil sie den hochmodernen Schrank kaufen will.

15.1.1 Das autobiographische Schreiben Casanovas Zur Veranschaulichung, was für Ariès das autobiographische Schrei­ ben bedeutet, soll nun ein historisches Beispiel für die autobiographi­ sche Literatur kurz umrissen werden: Der als Frauenheld bekannt gewordene Giacomo Casanova, er lebte im 18. Jahrhundert, schreibt am Ende seines Lebens ein zwölfbändiges Werk »Geschichte meines Lebens« (1985). Er fand sich und sein Leben so ungemein interessant, dass er mit dem Schreiben sozusagen nicht aufhören konnte.

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Und er differenziert im Sinne Ariès ganz klar zwischen dem, wie er nach außen auftritt und wie er im Innern denkt und fühlt. Er präsentiert uns also ein »Wir spielen alle Theater« (Goffman 1983) sowie sein seelisches Innenleben, die er seinen Geliebten zu guten Anteilen vorenthalten hat. Und er genießt das Schreiben unendlich, weil er seine ganzen Vergnügungen und Abenteuer nochmals nacherleben kann. Und es scheint so, als geht er davon aus, sein Leben vollständig nacherzählen zu können. Das unergründliche Unbewusste ist ihm also noch fremd. Dies unterscheidet ihn von Freud und Jung. Mit dem Schreiben erfindet er sein Leben neu. Das, was er erlebt hat, und das, was er aufschreibt, sind unterschiedliche Dinge. Im Schreiben ordnet sich sein Leben neu, bekommen seine Erinnerungen eine neue Schminke, eine neue Maske. Entscheidend ist, dass er beim Schreiben eine, seine konsistente Psyche gleichsam erfindet. Und ersetzt die Liebesabenteuer, von denen er zahlreiche gehabt hat, durch das Abenteuer des Schreibens und durch den unfassbaren Genuss, ganz über seine Seele zu ver­ fügen, zumindest daran zu glauben. Und als ein Mensch, der den Anspruch hat, sein Leben vollkommen zu beherrschen, muss für Casanova das undenkbare Unbewusste undenkbar sein. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie schlägt sich diesbezüglich eher auf die Seite Casanovas: Das Leben ist in den Griff zu bekommen. Und: Die Psyche ist in den Griff zu bekommen. Sie ist eine Insel der Seligen, ein riesiges Geschenk. Mit dem abgründigen Unbewussten will diese Psychotherapieform, wie schon öfters ausge­ führt, nun wirklich nichts oder nicht allzu viel zu tun haben. Zur Orientierung: Bereits Casanova denkt und schreibt biogra­ phisch, quasi psychotherapeutisch. Er schreibt, wie seine Eltern ihn verlassen, als er ein Jahr alt ist, wie er seiner Großmutter übergeben wird. Seine Nase blutet häufig. »Meine Krankheit machte mich sau­ ertöpfisch und ganz ungesellig. Jedermann bedauerte und mied mich zugleich; man glaubte, ich würde nicht lange leben. Mein Vater und meine Mutter sprachen nie mit mir.« (zitiert nach Klotter 1993, S. 61) Die selbstverständliche Liebe der Eltern, vor allem der Mutter war noch nicht kulturell erfunden. Dies blieb dem 19. Jahrhundert vorbe­ halten. Casanova kann ganz nüchtern über sich schreiben, ohne etwas schön zu reden. Freud wäre von ihm sehr angetan gewesen.

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Und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin würde zu ihm sagen: »Das Schicksal hat es ja erstmal nicht gut mit Ihnen gemeint. Ich finde es ungemein erstaunlich, und das freut mich auch sehr, wie Sie in Ihrem Leben das Ruder rumreißen konnten. Ich kann Ihnen nicht einmal ansatzweise erklären, wie Sie das geschafft haben.« Diese Psychotherapeutin zollt ihm also ein hohes Maß an Anerkennung. Sie sagt ihm, wie erstaunlich es ist, dass er sein Leben so großartig in den Griff bekommen hat. Und sie ist offen und ehrlich genug, ihm mitzuteilen, dass sie das nicht ganz versteht, wie er das geschafft hat. Mit dieser Form der Anerkennung versucht sie, sein Selbstwertgefühl zu steigern. Er soll realisieren, dass er ein ganz ungewöhnlicher Mensch ist. Er soll stolz auf sich sein. Wir halten mit Casanova fest: Freud hat die Arbeit an der Biographie nicht erfunden. Das haben in der Moderne, also in den letzten 200 Jahren, die Romanschreiber, die Autorinnen geschaffen, etwa Goethe. Zurück zu den Kriterien von Ariès. Wir hatten bislang als Kennzeichen der Neuzeit die neue Körper­ scham und die autobiographische Literatur. Nun geht es weiter. »Geschmack der Einsamkeit. Vormals ziemte es sich für eine Standesperson, niemals alleine zu sein, es sei denn beim Gebet, und lange Zeit änderte sich daran nichts. Die einfachen Leute bedurften der Geselligkeit ebenso wie die vornehmen, das größte Elend war die Isolierung, und der Einsiedler suchte sie gerade deshalb auf, weil sie Entbehrung und Askese bedeutete. Einsamkeit gebar Langeweile; sie war ein Zustand, der dem Menschen fremd war.« (ebd.) Und dann ändert sich das am Ende des 17. Jahrhunderts. Es wurde aufregend und spannend, alleine Spaziergänge zu machen. Diese wurden ein neuer Erfahrungshorizont und eine Manifestation des neuen menschlichen Selbstbewusstseins, es nicht nur aushalten zu können, sondern es genießen zu können, sich der Natur, sich der Welt insgesamt, aber auch seiner inneren Natur stellen zu können. Implizit geht die Psychoanalyse, aber auch die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie davon aus, dass dies die Grundlage für eine gelingende Psychotherapie ist, dass Patientinnen und Klienten sich Zeit für sich nehmen, um über sich nachdenken zu können, um reflektieren zu können, was in ihnen vorgeht, was ihnen guttut, was für sie nicht gut ist, wie sie ihre Partnerschaft sehen, wie sie in Zukunft leben wollen, usw. Wer dies nicht kann, hat gleichsam keinen Platz in Psychotherapie.

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Zurück zu Ariès und weiter zu den Kennzeichen der neuzeitli­ chen europäischen Mentalität: »Freundschaft. Die Lust an der Einsamkeit lud dazu ein, sie mit einem Freund aus der gewohnten Umgebung zu teilen … jedenfalls mit einer auserwählten und den anderen vorgezogenen Person: einem anderen Ich … Es war eine domestizierte, gesittete Empfindung: sanfter Aus­ tausch, friedvolle Treue …« (ebd., S. 12)

Es klingt ein bisschen nach einem narzisstischen Spiegel; der andere spiegelt mir, wie einfühlsam, klug und verständnisvoll ich bin. Ich bin das auch für den anderen. Wir beide fühlen uns privilegiert, weil wir so toll sind und uns so gut verstehen. Er ist mein Sonderbotschafter. Ich bin sein Sonderbotschafter. Und ist das nicht die Definition der Beziehung in der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie? Die Klientin hat sich ihre Psychotherapeutin richtig ausgesucht. Sie ging nicht zu irgendeiner, zur nächstbesten. Nachdenklicher »sanfter Austausch« – wenn das keine perfekte Kennzeichnung dieser Psychotherapieform ist. Die Psychoanalyse ist ja genau das nicht, denkt die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapeutin. Da wäre die Psychoanalytikerin ja nur Projektionsfläche für die Übertragungen der Patientin. Und die Psychoanalytikerin würde mit Deutungen bei der Patientin Wider­ stand auslösen. Konflikte sind so vorprogrammiert. Von sanftem Austausch kann da nicht die Rede sein. Und dann ist die Idee der tiefempfundenen Freundschaft futsch. Weiter zu den Kennzeichen der Mentalität in der Neuzeit nach Ariès: »All diese und viele andere Veränderungen mündeten in eine neuartige Konzeption des Alltagslebens und seiner Gestaltung. Den Alltag prägte nicht länger der zufällige Schauplatz, die platte Nützlichkeitserwägung oder, bestenfalls, der Zusammenklang von Architektur und Kunst; er wurde zum Ausdrucksfeld des Selbst und der von ihm kultivierten inneren Haltungen.« (ebd.)

Sich in der Welt wiederfinden, sich im Alltag wiedererkennen, das eigene Umfeld formend gestalten, gemäß des eigenen Selbst. Das ist der neuzeitliche europäische Anspruch. Die Welt muss mir gleichen, sonst fühle ich mich von ihr entfremdet. Auf das sechste Kennzeichen müssen wir hier nicht eingehen. Es ist die Geschichte des Hauses.

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Um die Kennzeichnungen der Mentalität in der Neuzeit, wie sie Ariès herausgearbeitet hat, für die Psychoanalyse und tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie zu bündeln: In beiden ist das kultivierte nachdenkliche Gespräch dominant. Mit ihm wird demonstriert, wie klug und reflektiert beide sind – Psychoanalytikerin und Patient -, sie lesen sich quasi gegenseitig die Messe. Sie versichern sich zwischen den Zeilen, wie großartig sie sind. In der Praxis der Psychoanalytikerin hängen tolle Bilder, am bes­ ten Originale. Sie hat ihre Praxis wunderschön eingerichtet, ganz in ihrem Stil. Sie ist nicht supermodisch gekleidet, aber immer elegant, unauffällig elegant. Die Regale sind voller zahlloser interessanter Bücher. Der Patient erzählt ihr nebenbei, dass seine Promotion nun als Buch veröffentlicht wird. Wir fassen zusammen: Nach Ariès ist die Neuzeit gekennzeichnet durch eine neue Scham. Ich bedecke meinen Körper, ich distanziere mich vom anderen Körper und schaffe damit eine Abgrenzung nach außen und eine Einkehr in mich und meine Seele. Das, was mich beschämt, muss ich jedoch einem speziellen Menschen mitteilen, dem Psychotherapeu­ ten. Mit der autobiographischen Literatur werde ich zu jemandem, der so bedeutsam ist, dass von »Ich« die Rede sein muss. Mit dieser autobiographischen Literatur muss ich mich selbst ausgiebig erkunden, um Wertvolles von mir mitteilen zu können. Ich entziehe mich der selbstverständlichen Gemeinschaft mit den anderen etwa in einem Dorf und lerne die Einsamkeit zu lieben, die mich auf mich zurückwirft. Ich bin dann ganz bei mir. Bestimmten, besonderen Menschen verleihe ich das Privileg, Freunde von mir zu sein. Zu ihnen entwickle ich tiefe und intensive Beziehungen. Mein Alltag, meine Bekleidung, die Einrichtung meiner Wohnung, der Kauf bestimmter Bücher wird zum Ausdruck meiner Persönlichkeit. Das, was ich durch meine Scham bedecke, was ich verberge, ist dennoch ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit. Dies muss ich jemanden mitteilen, sonst sieht mich niemand ganz, und ich gehe mir verloren. Deshalb gehe ich zur Psychoanalytikerin, zum Psychothera­ peuten. Ich offenbare denen Dinge, die ich meiner Ehefrau, meinem Ehemann niemals mitteilen würde. Die Psychoanalyse ist eine Variante der autobiographischen Lite­ ratur. Ich erkunde meine Biographie jedoch nicht alleine. Vielmehr werde ich begleitet, weswegen ich noch viel mehr über mich erfahre,

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15.2 Die große Seele der Moderne

mich viel besser verstehe. Die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sind so seltsame Mischungen zwischen Zweisamkeit und Einsamkeit. Fest steht, dass niemals jemand Drittes dazu kommen kann. Die Zweisamkeit ist exklusiv, fast exklusiver als die Ehe oder Partner­ schaft. Vom Phantasma ist sie dies auf jeden Fall. Und in meiner echten Einsamkeit reflektiere ich das, was in dieser Zweisamkeit passiert ist und was ich beim nächsten Psychothe­ rapiegespräch ansprechen möchte. Und mit jeder Stunde Psychothe­ rapie beweise ich, dass ich diese einsame Zweisamkeit aushalte und sogar genieße. Mit meiner Frau oder mit meinem Mann habe ich Kinder und besuche Freunde. In der Psychoanalyse, in der Psychotherapie ist das nie der Fall. Das ist ein gleichsam für immer abgeschlossener Raum, eine einsame Festung. Mehr als die Psychoanalyse ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eine echte intensive Freundschaft. So manifestiert sie sich. Sie basiert auf dem Freundschaftsmodell der Neuzeit. Aber vielleicht verheimlicht dies die Psychoanalyse nur stärker. Die Begriffe wie Projektionsfläche, Deutung, Wiederstand, Regres­ sion sollen vielleicht nur dazu dienen, den eigentlichen Freund­ schaftscharakter zu verdecken. Wenn mein Alltag nicht Ausdruck meiner ureigenen Persönlich­ keit ist, dann habe ich in der Psychotherapie wenig zu sagen. Ich kann doch dort nur reden, wenn ich von etwas Besonderem zu berichten weiß, von meiner einmaligen Persönlichkeit, die meinen einmaligen Alltag bestimmt. Somit wird unabweisbar klar, dass die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Mentalitäten der Moderne übernehmen und quasi »klinifizieren«. Diese Mentalitäten werden umgewandelt in psychische Hilfestellungen. Nicht mehr und nicht weniger.

15.2 Die große Seele der Moderne Wir wollen uns nun weitere historische Zugänge zur modernen Seele anschauen und bedenken, welche Rolle sie in der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie spielen. Wir

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beleuchten zuerst die Relevanz der Philosophie für die Konstruktion der modernen Seele. Schnädelbach schreibt zu Descartes (zitiert nach Schmidt 1995, S. 16): »Die cartesianische Reflexion … orientiert sich nicht primär am Ideal intersubjektiven vernünftigen Verständigtsein, sondern am Ziel individueller Gewissheit von Wahrheit und Vernünftigkeit, das zugleich der Ort individueller Autonomieerfahrung sein soll.« Der Einzelne ist für Descartes ein Monolith, eine abgeschlossene Wesenheit. Er orientiert sich dabei am klassischen Gottesbild. Der Einzelne ist dann nicht ein zoon politicon (Aristoteles), ein Wesen in der Gemeinschaft, sondern zuerst allein, mit der Gewissheit, die reine Wahrheit gewinnen zu können. Die kopernikanische Wende muss womöglich so kränkend gewe­ sen sein, dass Descartes dies kompensieren wollte mit der Idee eines gottähnlichen Menschen. Und wir können nochmals erkennen, dass die Konzeption der menschlichen Seele prinzipiell zumindest zu Anteilen kulturabhängig ist, weil sie zum Beispiel in einer bestimmten Kultur eine bestimmte Funktion erfüllt, bei Descartes etwa die der Kompensation der immen­ sen Kränkung durch die kopernikanische Wende. Und Descartes entwirft mit diesem Kompensationsversuch ein Bild einer nahezu allmächtigen menschlichen Seele. Ganz alleine findet sie zur Wahrheit, zur absoluten Wahrheit. Sie ist dazu einfach in der Lage. Punkt! Jeder Zweifel an der Fähigkeit der menschlichen Seele zur Wahrheitsfindung ist damit ausgeschlossen. Was aber, wenn die Wahrheitsfindung nicht ganz so richtig gelingt, wenn Zweifel an der menschlichen Seele entstehen? Dann gibt es doch eine gute Lösung: Diese Seele muss in Psychothera­ pie! Psychotherapie muss erfunden werden, um der armen an sich zweifelnder Seele zu helfen, sie zu stabilisieren. Die Erfindung der Psychotherapie durch Freud ist also die Antwort auf das potenziell überforderte Erkenntnissubjekts eines Descartes. Und Freud hat gar eine Antwort darauf, warum es dem Men­ schen nicht möglich ist, nicht ganz Herr über die Wahrheit zu sein. Schließlich ist er doch sehr stark vom Unbewussten mitbestimmt, was erfolgreich verhindert, dass er dieser Herr vollständig ist und wird. Aber nach Freud ist es ja dem Menschen möglich, zumindest zu Anteilen das Unbewusste bewusst zu machen. Die Gewissheit, im Besitz der Wahrheit sein zu können, ist zwar damit suspendiert, aber eine Annäherung an die Wahrheit ist so doch für Freud möglich. Und

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15.2 Die große Seele der Moderne

die Psychoanalyse als Psychotherapie ist so ein Katalysator bei der nicht endenden Suche nach der Wahrheit. Und im Grunde verpflichtet Freud die Menschen dazu, ein Leben lang auf dieser Suche zu sein. Mit diesem impliziten Anspruch Freuds lässt sich besser ver­ stehen, wie sich Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie heute verstehen, welches Selbstverständnis sie haben. Sie sind Motoren der Wahrheitssuche der Welt gegenüber, aber auch bezüglich der eigenen menschlichen Seele. Jetzt verstehen wir also die Vertreterinnen und Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besser, wenn sie über die Psychoanalyse herziehen. Sie erleben sich ihr gegenüber als inferior, oder befürchten, von dieser so gesehen zu werden. Schließlich hat sich die Psychoanalyse selbst den Orden verliehen, die einzig richtige Methode zur Wahrheitsfindung zu sein, das Unbewusste bewusst machen zu können. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie macht dies nur ein bisschen, wenn dies Sinn macht, um aktuelle Lebensprobleme zu lösen. Und für dieses »Bisschen« bekommt sie bestimmt keinen Orden. Es kann ihr also vorgeworfen werden, sich von Descartes und Freud verabschiedet zu haben. Sie ist so nur ein Tropfen auf den heißen Stein. So erlebt sie sich potenziell, so wird sie potenziell eingestuft. Und es kann weiter gemutmaßt werden: Dass die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie von im Vergleich zur Psychoanalyse so vielen Patientinnen und Patienten in Anspruch genommen wird, spricht aus der Sicht der Psychoanalyse doch nur für die Durchschnitt­ lichkeit der meisten Menschen, die sich zufrieden geben mit einem Bruchteil der großen Wahrheit und satt und zufrieden den Anspruch aufgegeben haben, ein Leben lang der großen Wahrheit auf der Spur sein zu wollen. Die eben getätigten Mutmaßungen könnten erklären, warum die Luft zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie so dick ist, warum letztere von Selbstzweifeln geplagt ist (siehe Rudolf weiter oben). Den mit dieser Psychotherapieform Arbeitenden wurde ja unterstellt, tendenziell identitätslos zu arbei­ ten. So kommt auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eine große Aufgabe zu, sich von der defizitären Identität zu befreien und ein überwiegend positives Selbstbild zu entwickeln. Mit einem defizitären Selbstbild zu arbeiten, tut weder den damit vorgehenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie den Klientinnen

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und Klienten gut. Negative Psychotherapieeffekte sind zu befürchten. Anders formuliert: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wird womöglich noch erfolgreicher sein, wenn sie sich von einem tendenziell negativen Selbstbild löst. Und eine Sache könnte ihr dabei sehr helfen: Hat die Psychoana­ lyse den Anspruch, die Wahrheit des Unbewussten zu ergründen, das Unbewusste bewusst zu machen, so kann die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für sich reklamieren, die Wahrheit der Welt ergründen zu wollen, um damit den Klientinnen und Klienten zu helfen, besser in dieser Welt zurecht zu kommen. Beide Psychothera­ pien richten so ihren Wahrheitsanspruch auf unterschiedliche Gegen­ stände. Zurück zu den großen Philosophen der Neuzeit: Ein nicht allzu großer Bogen kann nun von Descartes zu Kant gespannt werden. Zu Beginn seines Beitrags »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« aus dem Jahr 1783 (1974) schreibt er: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul­ deten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahl­ spruch der Aufklärung. (S. 9)

Descartes schreibt dem individuellen Verstand die Fähigkeit zu, die Wahrheit zu ergründen. Kant fordert, dass Menschen nicht das nach­ plappern sollen, was andere davor gesagt haben, sondern dass jeder Mensch sich seines Verstandes bedienen soll, eines vollkommen unabhängigen Verstandes jenseits von Tradition und Autorität Jeder mündige Mensch hört nicht mehr auf den Priester, den Philosophen. So hat Kant den individuellen Verstand auf den Thron gesetzt. Jeder Mensch hat so seinen eigenen Thron. Die Epoche der Individualisierung, der Selbstverwirklichung und menschlichen Einzigartigkeit ist so eingeleitet, weil jeder und jede einzigartig denken kann, einzigartig denken muss. Und der Historiker Ariès (siehe weiter oben) hat Vergleichbares beschrieben. Und im Grunde wird damit die Epoche der Psychologie eröffnet. Die Frage wird auf einmal spannend, wie der menschliche Geist funktioniert und wie er zu optimieren ist. Und es wird davon ausge­ gangen, dass er zu optimieren ist. Und mit Kant hat dieses Kapitel in

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15.2 Die große Seele der Moderne

der Menschheitsgeschichte begonnen: unabhängig zu denken, besser zu denken. Und dieses denkende Individuum darf nicht der Willkür des Staates ausgesetzt sein. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist gleichsam die logische Konsequenz hieraus. Und der Mensch, der den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen, ist selbstbewusst und stolz auf sich. In der Diskussion der Kantischen Ethik hebt Simmel vor etlichen Jahren das Primat des Psychischen in der Moderne hervor. Descartes und Kant lassen sich so nicht besser bündeln. Aber Simmel ist zu guten Anteilen auch ein kritischer Skeptiker der Aufklärungsphiloso­ phie, so auch von Kant: »In keiner anderen Ethik tritt so energisch wie in dieser haarscharfen Konsequenz die Betonung des innersten, tiefsten Motives der Hand­ lung als ihres alleinigen und ausschließlichen Werthungsgrundes her­ vor … Man könnte sagen, dass das protestantische Prinzip mit seiner Betonung des Glaubens und der Gesinnung gegenüber der äußeren That in dieser Kantischen Theorie seinen höchsten künstlerischen Aus­ druck gewonnen habe … Ein ungeheurer Stolz kommt hier zum Durch­ bruch, der alle Außenwerke der Persönlichkeit, alles bloße Thun als einen zweideutigen und deshalb unechten Schein von sich abweist und das Innerste allein, die letzte Motivierung, die nichts mehr auf ein Außer-sich abschieben kann, zum alleinigen Objekt macht, das über­ haupt eine sittliche Beurtheilung verdient.« (Simmel 1990, S. 39)

Und können wir hier nicht vermuten, dass sich dieser »ungeheure Stolz« in Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psycho­ therapie fortsetzt, dass dieser Stolz das Fundament dieser beiden Psychotherapieverfahren bildet? Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass dieser Stolz in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie schwindet. Schließlich soll in und mit ihr die Seele nur das Werkzeug sein, um mit dem Leben besser zurecht zu kommen. In der Psycho­ analyse geht es jedoch eigentlich nur um diese Seele. Das Leben ist eher nebensächlich. Die Psychoanalyse ist die Möglichkeit in der Moderne, diese gleichsam unendlich große menschliche Psyche näher anschauen zu können, und natürlich will sie quasi nebenbei als Psychotherapie die Patienten alltagspraktisch optimieren. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist es genau umgekehrt. Mit ihr stehen das Leben, die Lebensbewältigung im Zentrum, und weniger die Psyche. Mit ihr wird aus einer großen Seele, ein Seelchen.

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Indirekt ist damit möglicherweise eine Kritik verbunden, eine Kritik an der großen Seele, an ihrer Grandiosität, an der Zurückstel­ lung des Lebens, der Lebensbewältigung. Eventuell reagiert damit die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auf ein gewisses Schei­ tern der Idee der großen Seele in der Moderne. Wenn es der großen Seele nicht gelungen ist, den unerschütterlichen Glauben an Gott, der in der europäischen Neuzeit weggebrochen ist, zu substituieren, dann suspendiert diese Psychotherapieform die Idee der großen Seele. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie setzt auch nicht auf Ersatzreligionen wie Nationalsozialismus (der Endsieg des arischen Volkes) oder Kommunismus (die klassenlose Gesellschaft), sie will mit Mythen nichts zu tun haben, deshalb auch nichts mit C. G. Jung. Sie setzt ganz pragmatisch und bescheiden auf die Verbesserung des alltäglichen Lebens. Dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie so viel stärker von Klientinnen und Klienten in Anspruch genommen wird als die Psychoanalyse, könnte auch damit zusammenhängen, dass diese intuitiv spüren, dass die Zeit der großen Seele vorbei ist. Um zunächst zu bündeln: Wir haben uns angeschaut, wie ein Geschichtswissenschaftler, Ariès, die Entstehung der modernen Seele begreift. Wir haben dann einen kleinen Blick auf die Philosophie geworfen. Als Fazit hieraus lässt sich formulieren, dass in der Moderne, in den letzten 200 Jahren, die große Seele gleichsam erfunden worden ist. Ihr wird mit der Psychoanalyse gehuldigt, mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, wenn überhaupt, ein bisschen. Die Arbeit an der großen Seele in und mit der Psychoanalyse kennt im Grunde kein um-zu. Sicherlich wird bei Freud ein Ziel der Psychoanalyse genannt, die Wiederherstellung der Arbeits- und Liebesfähigkeit, aber dies ist gleichsam ein möglicher Nebeneffekt. Im Grunde geht es nur um die Beschauung der großen Seele. Alles andere ist nachgeordnet. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lässt diese große Seele fallen, sie gibt sie auf. Sie verlässt damit das Projekt der Moderne. Sie resigniert vor einer großen Seele. Sie gibt auf, sie weitgehend durchschauen zu wollen. Das macht womöglich das Resignative der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie aus. So lässt sie sich gut demütigen vom Herrenreiterclub und sie hat so ein negatives Selbstbild (siehe wei­ ter oben).

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15.3 Historische Psychologie und ihre Seelen

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie vergisst damit nicht, wie wichtig Bescheidenheit und Vorsicht sind. Wahrscheinlich ist es ein großer Schritt nach vorne, die große Seele vom Podest zu stoßen. Schließlich ist diese anmaßend, grandios und tendenziell totalitär. Sie lädt zu ihrem eigenen Fall ein. Die große Seele lädt also die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu ihrem Fall ein. Pragmatisch psychotherapeutisch bedeutet das für die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie, dass sie anerkennt, dass nur gewisse Aspekte des Unbewussten zu bearbeiten sind und das auch nur tendenziell, und dass es der großen Seele guttun würde, sich zu bescheiden und die Aura der Grandiosität aufzugeben, die, das wissen wir alle, prinzipiell nur ihre Inferorität kompensieren und verdecken soll. Inferiorität lässt sich in diesem Fall als Gewissheit des Scheiterns übersetzen. Daraus hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ihren Weg gefunden. Wer an die große Seele glaubt, wie die Psychoanalyse, wähnt sich selbst als groß. Wer dies nicht mehr tut, sollte sich aber nicht als klein und mickrig erleben, sondern als bescheiden. Damit ist klar, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Grandiosität ohne Bedauern verabschieden sollte, sondern mit einem stolzen Wohlge­ fühl. Sie sollte diesen selbsttherapeutischen Weg weitergehen.

15.3 Historische Psychologie und ihre Seelen Zur Geschichte der Seele in der Neuzeit und deren Auswirkungen auf Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie haben wir bisher Bezug genommen über die Mentalitätsgeschichts­ schreibung, Ariès, und über die Philosophie, Descartes und Kant. Aber auch die Psychologie hat sich mit dieser Geschichte befasst. Im Folgenden konzentrieren wir uns also auf eine Teildisziplin der Psychologie, der Historischen Psychologie, die eben den Anspruch hegt, die Geschichte der Seele und damit auch der Seele in der Moderne nachzuzeichnen. Im anschließenden Kapitel sollen kontrastiv historisch frühere Konzeptionen der Seele in Europa vorgestellt werden, damit wir bes­ ser wissen, in welcher Zeit mit welcher Seelenvorstellung wir leben, und damit wir besser verstehen, dass unsere Psychotherapie in frühere Zeiten, also vor der europäischen Moderne, niemals reingepasst hätte.

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Wir greifen zurück auf das Standardwerk der historischen Psy­ chologie »Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland«, herausgegeben von Jüttemann, Sonntag, Wulf (1991). In diesem Standardwerk schreibt Mensching über die Seele der Aufklärung. Wir müssen sehr ausführlich zitieren, weil er so präzise alles auf den Punkt bringt: »Die Epoche der Aufklärung lebte von der Idee der Autonomie des Menschen, deren praktischer Verwirklichung alle Wissenschaft dienen sollte. Gegen überlieferte Bevormundung die Regel des Denkens und Handelns selbst zu setzen, ist die durchgängige Absicht einer histori­ schen Bewegung, die im 17. Jahrhundert als theoretische Neuorientie­ rung begann und im 18. Jahrhundert, alle zivilisatorischen Bereiche durchdringend, mit der Herrschaft der Vernunft die fortgeschrittenste Philosophie Wirklichkeit werden zu lassen.« (S. 217)

Mensching formuliert hier einen Triumphzug der Aufklärung und der menschlichen Möglichkeit, sich und die Welt der Dinge beherrschen zu können. Es wäre aber auch denkbar, dies wie Simmel als menschli­ che Anmaßung zu begreifen (vgl. auch Klotter 2021). In diesem Sinne kann der Mensch nicht alles erkennen und begreifen, schon gar nicht seine gesamte eigene Psyche. Und selbstredend hat Freud dieser Aufklärung zu Anteilen miss­ traut, wie genauso er ihr Verfechter war. Das Unbewusste kann bewusstgemacht werden, aber nie voll­ ständig. Er ging wie Descartes und Kant von der großen Seele aus, er setzte diese Idee fort, aber er nahm nicht wie Kant an, dass Vernunft und Wille das Verhalten des Menschen bestimmen, sondern hierbei das Unbewusste auf keinen Fall zu vergessen ist. Und wie schon erwähnt, ging Freud davon aus, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist. Und Freud übersetzte die große Seele nicht als eine, die die Wahr­ heit der Welt mit Gewissheit ergründen kann (Descartes), sondern als eine, in der das Bewusstsein das Unbewusste auf einer unendlichen Reise zu ergründen versucht. Freuds Skepsis bezüglich der Rolle von Vernunft und Wille hat ihn zum heftig attackierten Feind der Aufklärer gemacht. Dabei gibt es doch gute Gründe, Freud zu rezipieren und nicht in den Keller zu sperren. Zum Beispiel: Freud ist doch zu guten Anteilen beizupflichten, wenn er von einem Triebdualismus ausgeht: vom Liebes- und Todestrieb. Mit letzterem ließe sich eventuell verstehen, warum das Zeitalter der Aufklärung auch das der Massenmorde

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gewesen ist (Holocaust, die Blutmeere von Stalin und Mao, deren Dik­ taturen mit dem Deutschen, Marx, legitimiert wurden (Klotter 2018). Freuds Skepsis, was die Rolle von Vernunft und Wille in der menschlichen Psyche betrifft, und gegenüber dem überschäumenden, auch politischen Optimismus der Aufklärung müsste heute auch ernst genommen werden. In einigen Ländern Europas sind etwa antidemokratische Parteien auf dem Vormarsch. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist da, wie schon erwähnt, moderater als die Psychoanalyse Freuds. Sie bezieht sich auf ihn, aber zugleich auch auf den Machbarkeitsmythos der Moderne, auf die Aufklärungsphilosophie. Wenn ich in meinem Leben Probleme habe, dann kann ich die auch lösen – mit Hilfe meines Psychotherapeuten. Also muss ich zu dem hin. Ich spreche mit ihm vernünftig über mein Leben und mit seiner guten Unterstützung kriege ich mein Leben besser hin. Und Freud hat noch einen weiteren, hier schon des Öfteren genannten, Widerhaken gegen die Vision der Aufklärungsphiloso­ phie: den Körper, den sexuellen Körper, das Inkommensurable für die Psyche. Der Körper entzieht sich der Herrschaft der Vernunft, will Dinge, die der Verstand in keiner Weise befürwortet, so wie bei der Gouvernante Freuds (siehe weiter oben). Dann wird der Körper auch noch unvorhergesehen krank. Und er besitzt die Frechheit, zu sterben oder gar einfach sterben zu wollen. Und diesen Körper kriegt die Psyche einfach nicht unter Kontrolle. Er ist nicht bereit, ihr willenloser Sklave zu sein. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist auch an diesem Punkt vorsichtiger. Sie sagt: Na klar gibt es den Körper, gibt es den Sex. Und ab und zu gibt es da auch Konflikte. Aber die Klienten können doch mit ihren Psychotherapeutinnen an guten Lösungen arbeiten. Dann ist der Körper, dann ist der Sex nicht mehr Widersacher der Seele, sondern Bündnispartner. Dann ist letztlich alles gut. Oder? Mit dieser tiefenpsychologisch fundierten Perspektive ist es gar möglich, glücklich und zufrieden im Tod den Abschied vom Leben zu finden. Zurück zum Sammelband zur historischen Psychologie: Wir springen mit Hörisch zum Gegenspieler der Aufklärungs­ philosophie, zur Romantik, zur deutschen Früh-Romantik auf der Achse Berlin – Jena um 1800: »Unvernünftig ist demnach nicht, wer hellwache Aufmerksamkeit für das kultiviert, was am Leben Traum ist, sondern wer, weil er wach ist,

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nicht zu träumen glaubt. Ihn, der den Traum der Vernunft träumt, die sich als das gänzlich andere des Traumes missversteht, werden ›unge­ heure Vorstellungen‹ ängstigen. Dem ihm, der das andere der Vernunft und damit auch diese selbst ausschließt, ist die ebenso vernünftige wie poetische Grundeinsicht verwehrt, die Goethes Roman später so lako­ nisch wie eindringlich keinen anderen als ›verständigen, geistreichen, lebhaften Menschen‹ zuspricht: dass nämlich ›die Summe unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern dass immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe‹.« (S. 259)

Ähnlich wie beim Skeptiker Simmel wird hier an der Allmacht der Vernunft gezweifelt. Es gibt das Andere der Vernunft, etwas Unver­ fügbares im Menschen, das aber mitgestaltet, mitspielt. Die Neurowissenschaften haben dies mit dem Scannen des Gehirns bestätigt. Unbewusste Prozesse bestimmen menschliches Erleben und Verhalten (Roth 2001, Roth und Strüber 2014). Die deutschen Romantiker, die Goethe bewundert haben, haben dies nicht empirisch erforscht, sondern durchdacht. Sie sind keine Irrationalisten, sondern durch und durch rational erkennen sie die Grenzen des Rationalen (Klotter und Beckenbach 2012). Freud hat die Grenzen der Vernunft ebenfalls bedacht, mit dem Konzept des Unbewussten, die Vertreter und Vertreterinnen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie suspendieren, wie schon oft genannt, das Unbewussten nicht, aber messen ihm weniger Bedeutung bei. Ob ich an die Aufklärungsphilosophie glaube oder ob ich Fan der deutschen Früh-Romantik bin, hat erhebliche Auswirkungen auf mein Selbstverständnis. Mit der Aufklärungsphilosophie erwarte ich von mir, dass mein Verstand und mein Wille mein Verhalten bestimmen, dass ich etwa Gewicht reduzieren kann, wenn ich das muss und will. Gelingt mir das nicht, so zweifle ich an mir, erlebe mich als Scheiternder und verurteile mich dafür. Als Romantiker dagegen akzeptiere ich, dass nicht alles so gelingt, wie ich mir das vorstelle, dass es Kräfte in mir jenseits der Vernunft gibt, dass ich diese Kräfte gar nicht richtig durchschaue, dass es aber Spaß macht zu versuchen, sie zu erkunden. Ich akzeptiere, dass ich ein unvollkommenes Wesen bin und kein Supermann. Ich werde so demütig und bescheiden. Der Aufklärer tendiert zum Narzissmus, der Romantiker zur Akzeptanz des Imperfekten. Jetzt könnten wir eine Vermutung äußern, warum fast die gesamte Psychologie Freud einfach nicht leiden kann. Er greift an

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diesem Punkt den menschlichen Narzissmus an, er demontiert den großen menschlichen Helden und macht ihn zu einem wehleidigen kleinen Tier, das sich ständig darüber beklagt, dass sein Bauch viel zu dick ist, aber nichts ändern kann. Nicht einmal der vierwöchige Klinikaufenthalt hat was gebracht. Aber das Tier weiß nun, dass es depressiv ist. Macht diese Kenntnis irgendetwas besser? Selbstver­ ständlich nicht, denkt das Tier. Wie schon öfters angeführt, stellt die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie einen Kompromiss dar. Ja, es gibt das Unbe­ wusste, ja, es gibt aber auch die Möglichkeit, das eigene Leben umzugestalten. Sie glaubt also an diesem Punkt an die Aufklärungs­ philosophie. Sie hält auch diese Fahne hoch. Und damit ist sie weit gefälliger und annehmbarer als die Theorie Freuds. Wir wundern uns nicht mehr, dass weit mehr Klientinnen und Klienten zu ihr gehen als zur Psychoanalyse. Ohne die moderne, romantische, empfindsame Seele gäbe es weder die Psychoanalyse noch die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie. Und sie würden auch nicht als Behandlung gebraucht werden. Der kollektivistische Mensch geht eventuell in die Kirche, aber nie­ mals zur Psychotherapie. Hierzu bedarf es der empfindsamen Seele. Sie ist die grundlegende Voraussetzung für diese Form der Behand­ lung. Und selbst die französische Aufklärungsphilosophie hat die emp­ findsame Seele als besondere Gabe hervorgehoben. Der Mitheraus­ geber der Enzyklopädie neben Denis Diderot, Michel de Jaucourt, definiert Empfindsamkeit so: „›Empfänglichkeit eines weichen und feinfühligen Herzens, mit dem es sich leicht ergreifen und rühren lässt … Sie verleiht ihren Besitzern eine Art Scharfblick für alles Rechtschaffene und durchdringt die Dinge tiefer, als der Verstand es vermag … Von der Empfindsamkeit rühren die Menschlichkeit und die Großzügigkeit her‹.« (zitiert nach den deutschen Herausgebern der Enzyklopädie, Selg und Wieland, 2001, S. 59, in: Klotter und Beckenbach 2012, S. 28)

Das empfindsame Herz ist besser als der bloße Verstand, es hat die Moral im Blick, es sieht schärfer und »tiefer«, es macht die »Menschlichkeit« aus, und die »Großzügigkeit«. Dagegen ist der reine Verstand stumpf und kalt. Die Empfänglichkeit macht den Menschen zum Menschen. Dies ist über jeden Zweifel erhaben.

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Dieser Blick auf den Menschen ist schwärmerisch und zielt auf den Menschen, der fühlen will und fühlen kann, der auf der Suche nach dem Schönen ist – einem unendlichen und unabschließbarem Prozess; immer auf dem Weg sein. Genau dieser Mensch sucht Psychotherapie auf, weniger wegen eines konkreten Leidens, sondern wegen des Wunsches nach wei­ terer Entwicklung und Wachstum. Das empfindsame Herz bedarf der Begleitung durch ein kundiges und ebenfalls warmes Herz: den Psychotherapeuten. Es wurde bereits über Ariès sichtbar. Die psycho­ therapeutische Beziehung ist eine Art besonderer Freundschaft. Und es wurde ebenfalls angemerkt: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist viel eher als Freundschaft zu verstehen als die asymmetrische Beziehung in der Psychoanalyse, mit der Deutungshoheit durch die Psychoanalytikerin und dem Widerstand des Patienten. Und der tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut ist selbstverständlich mitfühlend, feinsinnig und großzügig. Er schenkt seiner Klientin 50 min uneingeschränkte Aufmerksamkeit pro Woche. Und er denkt über sie nach, reflektiert die Stunden, bespricht sie in der Intervision, überlegt, was er besser machen könnte, was er tun könnte, damit es ihr besser geht. Und er freut sich sehr, wenn sie Fortschritte macht. Das macht ihn richtig glücklich. Und es ist eine besonders edle Freundschaft, weil sie von den Niederungen des Körpers nicht getrübt wird. Sie ist rein geistig und nimmt die Freundschaft nicht als Vorwand, den anderen ins Bett zu kriegen. Die psychotherapeutische Freundschaft beginnt vorsichtig: Pas­ sen wir zusammen? Ihre Dauer wird immer wieder reflektiert. Der Abschied ist ein richtiger Abschied, nicht einfach nur die Tür zuknal­ len, sondern ein nachdenklicher, die Trauer zulassender Akt. Aber alles muss nun einmal ein Ende finden. Die Klientin kann ja in ein paar Jahren einen anderen Psychothe­ rapeuten finden, bei dem sie andere Dinge erfährt und andere Dinge besprechen kann. Aber sie wird gewiss an ihren ersten Psychothera­ peuten zurückdenken und dem neuen erzählen, wie wichtig die erste Psychotherapie für sie gewesen war; dass sie zunächst gar nicht wollte und dann unglaublich überrascht war, wie wertvoll die Gespräche für sie gewesen sind. Ohne diese Gespräche hätte sie ihren Mann einfach verlassen. Jetzt ist sie so froh, dass sie zusammengeblieben sind. Und sie sind

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glücklicher denn je. Ja, wenn sie früher in Psychotherapie gegangen wäre, dann wäre sie vielleicht auch Mutter geworden. Aber so ist es nun einmal im Leben. Es klappt nicht alles, es soll ja auch nicht alles klappen. Und vielleicht ist es für sie so viel besser. Diese Art von Psychotherapie ist also das prototypische Modell aller echten und wertvollen Freundschaften. Und eines ist klar: Sie ist in der Regel viel besser als die Alltags­ freundschaften, die kommen und gehen, die oberflächlich bleiben, in denen wenig Herzblut drinsteckt, die nur darin bestehen, zusammen die Bierchen zu kippen oder zusammen shoppen zu gehen, in denen die Reflexion einfach zu kurz kommt, in denen blind agiert wird, in denen es kein Innehalten gibt, in denen Grobheiten und versteckte Aggressionen selbstverständlich sind, in denen der besten Freundin der Freund ausgespannt wird, in denen nach egoistischem und mate­ riellem Nutzen gesucht wird. Die psychotherapeutische Freundschaft ist also etwas ganz Edles, voller intensiver Geistigkeit und Empfindsamkeit. Freud würde den Verdacht hegen, dass diese implizite Idee der psychotherapeutischen Freundschaft eine Ideologie ist, um erstens vom Nutzen abzusehen – der Psychotherapeut wird zum Beispiel für die Stunden gut bezahlt -, um zweitens sich gegenseitig narzisstisch zu erhöhen, um sich der gegenseitigen Großartigkeit zu versichern. Und indem in ihr das Geistige und Empfindsame so betont wird, ließe sie sich verstehen als eine Art Rückkehr zur Religion, die ja per definitionem dem Weltlichen abgewandt sein muss und insbesondere dem Sex, der alles billig und schmutzig macht. Daher ist der Sex in der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie nur ein Randthema, wenn überhaupt. Heilige haben keinen Sex und können daher nicht darüber sprechen. Ungeachtet dessen, hält diese Form von Psychotherapie die moderne Gesellschaft aufrecht, indem der innigen Freundschaft gehuldigt wird – einem zentralen Merkmal der Kultur der letzten 200 Jahre. Um nochmals zu bündeln: In diesem Kapitel geht es auch um moderne Seelenvorstellungen. Relevant für dieses Buch ist dies des­ halb, weil die menschliche Seele auch von historischen Prozessen mit geprägt ist. Sie ist also nicht nur reine Natur. Auch die Psychotherapie ist ein Element unserer Kultur. Ohne diese spezifische Kultur gäbe es Psychotherapie nicht.

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Dieses Kapitel begann mit der Mentalitätsgeschichtsschreibung (Ariès). Es setzte sich fort mit den großen Philosophen (Descartes und Kant) und deren Schaffung der großen Seele. Jetzt sind wir bei der historischen Psychologie gelandet, die als Teildisziplin der Psychologie untersucht, wie sich die menschliche Seele historisch wandelt. Zu all diesen theoretischen Überlegungen wurde versucht aufzuzeigen, wie sie die Psychotherapie gleichsam erfunden haben und wie sie sie formen.

15.3.1 Romantik bei Novalis Nach dem Text im Sammelband zur historischen Psychologie zur Auf­ klärung sind wir nun bei dem zur Romantik gelandet. Und das Thema Romantik wird nun mit einem Romantiker aufbereitet, mit Novalis: Die empfindsame Seele ist, wie bereits ausgeführt, nicht nur ein Kind der Aufklärung, sondern auch ihrer Gegenspielerin, der Romantik. Zur Veranschaulichung der empfindsamen, leidenschaftli­ chen und edlen romantischen Seele kann ein Zitat Novalis dienen: »Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprüngli­ chen Sinn wieder … Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn gebe, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekann­ ten, dem endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« (zitiert nach Dülmen 2002, S. 177, in Klotter und Beckenbach 2012, S. 52)

Der heute an die Medizin erinnernde Begriff der »Operation« lässt sich dann so verstehen, dass die Welt auf den Operationstisch gelegt wird, und der Arzt oder die Ärztin sie aufschneidet und operiert und aus der alten Welt eine neue, viel schönere macht. Die Romantik könnte so als zutiefst manipulativ begriffen werden. Sie macht aus dem Banalen das Besondere, das Ungewöhnliche. Sie könnte aber auch verstanden werden als Intensivierung der Welterfahrung. Ich mache aus meiner Welt eine leidenschaftliche Welt. Ich kreiere meine Welt, allein meine Welt. Und genau das haben wir von Novalis, von der Romantik, übernommen und zur alltäglichen Gewohnheit gemacht. Dann ist ein Hemd ungewöhnlich schön oder auch ein Rock, der es uns besonders angetan hat, der so gut zu unserer Persönlichkeit passt, zu unserer Seele. Es ist uns dann gleichgültig,

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15.4 Zusammenfassung

wenn wir auf der Straße mit diesem Hemd, mit diesem Rock komisch angeschaut werden und Befremden auslösen. Wir sind eigentlich stolz darauf, dass wir so seltsam von der Seite betrachtet werden. Dann sind wir etwas ganz Besonderes. Dann sind wir hingerissen von der neuen CD der Band x, »als ob sie es für mich aufgenommen hätten«. Und selbstredend findet diese Form des Romantischen auch Eingang in die Psychotherapie. Eine Frau erzählt ihrer Freundin: »Ich habe dann meinem Psycho von der ersten Nacht mit Patrick erzählt. Er hat dazu gar nichts gesagt, nur so komisch an die Decke geschaut.« Also: Alles wird bedeutungs- und geheimnisvoll, voller möglicher Andeutungen und Hinweisen, die wir alle natürlich zu dechiffrieren trachten. Aber wir wissen ja: Das ist nicht durchgängig möglich. Aber genau das macht das Leben so spannend – und uns so groß, so narzisstisch groß. Die Welt ist ein kleiner Spiegel unserer psychischen Größe. Und dies gelingt nur, wenn wir an das Unbewusste glauben, wenn wir an Freud glauben. Nur hat in diesem Fall das Unbewusste etwas Niedlich-Abenteuerliches. Das böse Ungeheuer ist es niemals. Also ist dieses niedliche Unbewusste eher der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zuzurechnen, einem Unbewussten, das Rätsel aufgibt, aber auch als sportliche Herausforderung zu begreifen ist, die einem richtig Spaß machen kann.

15.4 Zusammenfassung Die Vorstellung von der Seele sowie die Versuche, ihr zu helfen, sie zu heilen, sind kulturell mitgeformt. In der Moderne wird die Seele als etwas Privates begriffen, sie ist zugleich das Paradigma der Vorstellung des Privaten. Sie ist verbunden mit der Idee der individuellen Freiheit und dem Konzept des neuen Heimathafens, der eigenen Familie. Und nach außen insze­ nieren sich die modernen Menschen, spielen sie Theater. Psychoanalyse wie tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie werden als Orte wahrgenommen, in denen nicht mehr gespielt wird, in denen die echte Seele auf den Plan tritt. Selbstredend wird bei dieser Annahme übersehen, dass auch in der Psychotherapie sich die Patienten und Klientinnen inszenieren. Sie wird zu einem besonderen Ort, weil die quasi heilige private Seele den Raum betreten darf.

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15 Moderne Seelenvorstellungen

Neue Möglichkeiten wie das Lesen oder neue Formen der Reli­ giosität führen zu der tiefen Seele, die es in der Psychotherapie zu erkunden gilt. Die Psychoanalyse, aber vor allem die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie setzen an aktuellen Sinn- und Handlungsdefi­ ziten an; sie beziehen sich dabei implizit auf die christliche Beichte. In den letzten Jahrhunderten hat die Scham vor dem eigenen, aber insbesondere vor dem fremden Körper erheblich zugenommen. Mit dieser Entwicklung entkörperlicht sich der Mensch in gewisser Weise. Er definiert sich dann als geistiges Wesen. Freud hat dagegen mit dem Fokus auf die Triebe massiv rebelliert. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie überspringt diese Rebellion im Wesentlichen und betrachtet den Menschen wieder als überwiegend vom Geist bestimmt. In der Moderne entsteht eine neue Erfahrung: Zeit für sich zu haben, diese Zeit zu genießen, in Ruhe über sich nachdenken. Die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psy­ chotherapie sind exklusive Orte der Ruhe und der Reflexion – in unterschiedlichem zeitlichen Umfang. Ein weiteres Kind der Moderne ist die innige Freundschaft zu einem ganz besonderen Freund. Dieses Kind steht Pate für die enge und intensive Therapeut-Pati­ ent-Beziehung in der Psychoanalyse und in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Und selbstredend geht die Patientin nicht zu irgendeiner Psy­ chotherapeutin, vielmehr wird sie sorgfältig ausgewählt. Sie ist die besondere Behandlerin. Und es ist ein Privileg, bei ihr die Stunden machen zu können, wie es auch für sie ein Privileg ist, mit dem jeweiligen Klienten arbeiten zu dürfen. Psychotherapie ist der Prototyp der modernen Freundschaft. Die Philosophen der Neuzeit und Moderne, Descartes und Kant, entwerfen den Menschen als ein Wesen, das die Wahrheit ergründen will und kann, das frei und eigenständig denken kann und soll. Exakt das ist das ein Aspekt des Menschenbildes der Psychoana­ lyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Zumin­ dest soll die Behandlung dazu dienen, sich dem anzunähern, wobei die Psychoanalyse mit der Idee des Unbewussten da etwas skeptischer ist. Simmel fasst die Idee der menschlichen Seele in der Moderne so zusammen, dass die äußere Tat, dass die Welt nicht zählen, sondern

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15.4 Zusammenfassung

nur der Geist, die Innenwelt, die mit einem »ungeheuren Stolz« besetzt wird. Und genau darauf singen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ein Hohelied, wobei bei letzterer Psychothe­ rapiemethode dieses Lied etwas abgeschwächt wird, geht es in ihr doch auch, Rüstzeug für die Bewältigung von Welt und Leben zu erwerben. Aber im Zentrum bleibt zu guten Anteilen die große heilige Seele. Wenn Aufklärung zentral auf die Herrschaft der Vernunft setzt, dann lassen sich die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie genau als Fortsetzung der Aufklärung verste­ hen. Die Vernunft soll das Unbewusste erforschen, die Vernunft soll die Lebenskrisen und die aktuellen Lebenskonflikte anschauen, beleuchten, verstehen, durcharbeiten, beheben. Und das geht nur mit einer Seele, die nicht nur auf Vernunft setzt, sondern auf die Empfindsamkeit. Der Vernunft muss das Gefühl hin­ zugefügt werden. Für die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist dies eine unausweichliche Notwendig­ keit. Der reine Verstand kommt im Seelenleben nicht weiter. Novalis plädiert für die Romantisierung der Welt. Alles muss etwas Besonderes haben. Ziel von Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psy­ chotherapie ist es, dem Besonderen im Seelenleben auf der Spur zu sein und aus dem vermeintlich Nebensächlichen etwas ganz Unge­ wöhnliches zu machen. Die Person, die in diese Psychotherapien geht, wird als besonde­ rer Mensch noch mehr besonders.

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16 Ein Blick zurück: frühere Seelenvorstellungen

Wir haben jetzt gesehen, wie die moderne Seele konzipiert worden ist, und wie sich hieraus die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu Anteilen abgeleitet haben. Es sollte ersichtlich geworden sein, dass die Moderne, also die letzten 200 Jahre, eine besondere Seele entworfen hat, auch eine kulturkonstitu­ ierende, etwa mit der Idee der innigen und besonderen Freundschaft. Das Spezifische der modernen Seele soll nun noch deutlicher werden, indem frühere Seelenmodelle kontrastiv vorgestellt werden. Erst darüber können wir verstehen, in welcher Zeit, in welcher Kultur, in welcher Wiege der Psychotherapie wir leben. Und um das zu bewerkstelligen, bleiben wir einfach bei dem Sammelband und Klassiker zur historischen Psychologie »Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland« (1991) von Jüttemann, Sonntag und Wulf.

16.1 Platon Gerburg Treusch-Dieter (1991) umreißt den Seelenbegriff bei Platon und Aristoteles. Ein Seelen-Bild bei Platon ist ein Rossgespann, wobei dem Lenker viel zugemutet wird, weil nur eines der Pferde gut, das andere schlecht ist. Das Gespann zu lenken, ist damit grundsätzlich sehr schwierig. Schließlich traben und schießen die beiden Pferde gleichsam in entgegengesetzte Richtungen. Von glücklicher Seele, von glücksbringender Seele kann also bei Platon nicht die Rede sein. Die menschliche Seele ist im ewigen Kampf – mit sich selbst, in einem eigentlich aussichtslosen Kampf. Am ehesten erinnert uns das noch an Freuds Triebdualismus zwischen Liebes- und Todestrieb. Und vielleicht hat sich Freud an Platon erinnert, etwa auch bei seiner Idee des unabschließbaren permanenten

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intrapsychischen Konflikt zwischen den Instanzen des psychischen Apparates: Es, Ich, Über-Ich. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie möchte dies­ bezüglich weder mit Platon noch mit Freud etwas zu tun haben. Schließlich will sie dabei helfen, dass Menschen, die ihr Leben besser in den Griff bekommen wollen, dies auch hinbekommen. Na klar, ist das nicht immer einfach. Aber mit einem strukturellen psychischen Krieg, wie von Platon konzipiert, will sie nun wirklich nichts wissen. Und auch Freud ist für die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie diesbezüglich viel zu pessimistisch. Und Platon differenziert die menschliche Seele. Es gibt für ihn nicht nur die eine. Die menschlichen Seelen haben sozusagen unter­ schiedliche Kompetenzen, unterschiedliche Qualitäten. »Von diesen unsterblich Genannten sind die ›andern Seelen‹ unter­ schieden: ›einige (von diesen), welche am besten Göttern folgten, (konnten) das Haupt des Führers hinausstrecken in den äußersten Ort und so den Umschwung mitvollenden, geängstigt jedoch von den Ros­ sen und kaum das Seiende erblickend; andere erhoben sich bisweilen und tauchten dann wieder unter, so dass sie im gewaltigen Sträuben der Rosse einiges sahen, anderes aber nicht. Die übrigen allesamt fol­ gen zwar auch dem Droben nachstrebend, sind aber unvermögend und werden unter der Oberfläche mit herunter getrieben, einander tretend und stoßend …‹“ (S. 16)

Platon beschreibt hier eine Bewegung nach oben zu den Göttern. Die menschlichen Seelen entwerfen sich, sind dynamisch. Aber es gibt keine Garantie für nichts. Alles ist ungewiss gleichsam zwischen dem »Nicht-mehr« und dem »Noch-nicht«. Und es ist nicht sicher, alles Seiende zu sehen. Und das Seelenleben ist äußerst anstrengend. Wir müssen uns vorstellen: Wir sitzen auf einem Pferdegespann, und bei den Pferden kann es sich um äußerst wilde handeln, und wir wissen nicht, ob wir sie jemals bändigen können. Eventuell krachen sie an den nächsten Baum. Uns ist die platonische Seelenvorstellung reichlich fremd. Wir sehen uns nicht so ausgeliefert, weder den Mächten noch den Pferden. Unsere Seelenvorstellung ist viel statischer. Wenn wir uns bewegen, dann viel gemächlicher, in kleinen Schritten, etwa in der Psychothera­ pie. Wir können schlussfolgern, dass sich die Menschen in der FrühAntike insgesamt dem Schicksal stark ausgeliefert gesehen haben. Es war kein netter Spaziergang. Es war alles andere als ein netter

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Spaziergang! Das sehen wir heute anders, selbst mit dem Konzept der Psychoanalyse nach Freud. Gewiss geht die Psychoanalyse davon aus, dass es ein Unbewusstes gibt, das nicht vollständig erschließbar ist, aber dann gibt es ja noch ein steuerndes Ich und die Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen im Über-Ich. Im Selbstverständnis der Psychoanalyse und der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie kann es dem Menschen von heute mehr oder weniger gelingen, an sich zu arbeiten, sein psychisches Befinden zu verbessern, sein Leben besser in den Griff zu bekommen. Im Vergleich zu Platon sind wir heute ziemlich optimistisch, selbst ein Freud. Wir gehen davon aus: Wir können uns und unser Leben gestalten. Ja, der von Platon beschriebene Sokrates appellierte an die Bürger von Athen, eine Sorge um sich zu entwickeln (Foucault 1993), aber letztlich nur, um ein besserer Pferde-Gespann-Wagenlen­ ker zu werden. Die unterschiedlichen Zeiten zwischen damals und heute werden klar, wenn uns einfällt, dass Sokrates in Athen zu seinen Lebzeiten einen Prozess bekam, weil er junge Menschen geistig in die falsche Richtung gelenkt haben soll (Platon 1988). Es gab damals noch keine Menschenrechte. An diesem Beispiel wird deutlich, warum der verzweifelte Pferdelenker das Menschenbild von Platon ist. Der Text von Treusch-Dieter ist, wie schon erwähnt, aus einem Sammelband »Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland«. Wir wollen nun einige Texte daraus näher anschauen, um in Erfahrung zu bringen, wie diese Geschichte nachgezeichnet wird und welche Gründe es für die Nachzeichnung gibt. Ins Auge springt zunächst, dass unser gegenwärtiges Bild von der Seele relativiert werden soll. Wenn wir zum Beispiel an die unsterbliche Seele glauben, dann haben wir einen potentiellen Trost und wir leben unser Leben anders, nämlich eher ausgerichtet auf das Jenseits. Und wir haben ein völlig unterschiedliches Gefühl zu unserem gesamten Leben. Das Leben mag anstrengend oder kläglich sein. Aber es gibt ja glücklicherweise ein Jenseits, einen Himmel, ein Paradies. Da muss ich nur aufpassen, dass ich nicht zu sehr sündige. Vor allem die Todsünden sollte ich auslassen. Mit diesem Sammelband zur historischen Psychologie wird die naturwissenschaftliche Psychologie in zweifacher Hinsicht ange­ griffen. Erstens wird vom Begriff der Seele nicht abgerückt. Die naturwissenschaftliche Psychologie hingegen lehnt diesen Term als philosophischen ab. Eine Seele könne zudem nicht wissenschaftlich

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beobachtet und gemessen werden. Diese Psychologie geht weiter davon aus, dass das menschliche Erleben und Verhalten, so die Definition des Gegenstandes, invariant ist, also keinen historischen und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt. In diesem Lehrbuch zur historischen Psychologie wird genau diese Definition mehr als infrage gestellt. Mit dieser Definition wird davon ausgegangen, dass es Psychotherapie auch im Mittelalter gegeben haben könnte. Und es wird implizit angenommen, dass die Menschen im Mittelalter einfach zu blöde waren, um Psychotherapie­ methoden zu konzipieren, aber der wissenschaftliche Fortschritt dazu geführt hat, dass die Psychotherapie im 19. Jahrhundert erfunden worden ist. Wir brauchen uns nur an Ariès zurückzuerinnern, um klar zu sehen, dass Psychotherapie ein Kind der europäischen Neuzeit, dass sie ein Kind dieser Kultur ist und ohne diese Kultur nicht denkbar ist. Der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist anzura­ ten, vertrauter zu werden mit der eigenen kulturellen Zugehörigkeit und Identität. Sie ist dann nicht mehr Anhängsel der Psychoanalyse, sondern Teil einer beeindruckenden kulturellen Entwicklung. Und sie trägt dazu bei, diese Kultur aufrechtzuerhalten, etwa bei der Umsetzung des modernen Konzepts der Freundschaft. Der Krieg zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fun­ dierter Psychotherapie ist damit suspendabel, sind sie doch beide Elemente und Ausdrucksweisen einer bestimmten Kultur. Die Psy­ choanalyse ist damit nicht mehr der ungeliebte Vater der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie, vielmehr sind beide auch unterschiedliche Kinder der europäischen Neuzeit und Moderne. Mit dieser Feststellung wird klar, wie wichtig der Blick in die Geschichte ist, hilft er doch, das eigene Selbstverständnis zu klären, hilft er doch, die Aussage zu erhärten, dass der Krieg zwischen Psycho­ analyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ein erstaunlich überflüssiger ist. Und wir wollen uns gar nicht ausmalen, wie viel an Arbeit, Aufwand und Energie in diesen Krieg eingegangen ist. Ein Bruchteil davon hätte vermutlich ausgereicht, die eigene Geschichte ein bisschen mehr anzuschauen. Damit wäre es auch möglich gewesen, stolz auf sich zu sein, im positiven Sinne stolz, nicht eitel und satt, sondern anzuerkennen, dass wir in einer einmaligen Zeit leben. Sie ist verbunden und hat vor­ gebracht: Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungssysteme wie gesetzlicher Krankenversicherung, Rente, etc. (Klotter 2021),

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nicht zu vergessen, dass wir ebenfalls einmalig in der Geschichte der Spezies Mensch in einer Überflussgesellschaft leben, weswegen sich die Lebenserwartung verdoppelt hat (McKeown 1982). Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie sind Teile und Ausdruck dieser Kultur. Sie zielen unter anderem darauf, das Prinzip der menschlichen Freiheit zu unterstützen, indem etwa ungelöste Probleme zu gelöst werden, und jeder Mensch in die Richtung gehen kann, in die er gehen will. Diese Psychotherapieformen fördern die Freiheit des Denkens und des Seins. Freuds Miss Lucy R. kann sich ihre Liebesgefühle eingestehen. Sie muss nicht nach ihnen handeln. Sie hat diesbezüglich auch die Freiheit. Und sie geht glücklich und erleichtert aus dieser Krise hervor. Zurück zum Sammelband:

16.2 Augustinus In dem genannten Sammelband leitet Kersting seinen Text über Augustinus, einem der Kirchenväter der römisch-katholischen Kir­ che, mit einem Zitat von ihm ein: »Das Forschen der Philosophie teilt sich in zwei Fragen, in eine nach der Seele und eine nach Gott. Die erste bezweckt, dass wir uns selbst, die andere, dass wir unseren Ursprung kennenlernen. Dies ist die Ord­ nung der Bildung, die zur Weisheit führt und durch die jeder fähig ist, die Ordnung des Seins zu erkennen … Wenn die Seele sich an diese Ordnung hält …, betrachtet sie zuerst sich selbst.« (ebd., S. 59)

Was für eine Gewissheit! Was für ein Optimismus! Augustinus liefert ein umfassendes Konzept, das zu intrapsychischem Frieden und Weisheit führen soll. Das gesamte Universum ist transparent. Zwi­ schen Platon und Augustinus liegen gleichsam Welten. Der christliche Glaube hat offenbar eine sedierende Wirkung. Jetzt wissen wir, dass ein Glaube wie eine Droge wirken kann. Es gibt einen Gott und der ist für mich da. Und es gelingt mir, mich selbst zu erkennen, mich selbst zu durchschauen. Mit Augustinus beginnt die Introspektion und auch die Überzeugung, den Weg nach innen antreten zu können und sich selbst erkennen zu können. Augustinus ist der Ur-Vater der modernen Seele und der modernen Psychotherapie.

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Wo wir in einer gottlos gewordenen Welt relativ ratlos umherir­ ren, da war für Augustinus alles sonnenklar. Wenn es bis vor 400 Jahren in Europa nicht möglich war, nicht an Gott zu glauben, so ist es heute schwierig, an ihn zu glauben (Ariès und Duby 1991). Die Augustinische Weltsicht ist also anteilig verschwunden. Geblieben ist jedoch das Forschen nach sich selbst, nach der Selbsterkenntnis. Sie muss heute quasi das Gottvertrauen ersetzen. Und die Frage brennt auf den Nägeln: Schafft sie das? Und die Antwort lautet: annäherungsweise in einer gleichsam unendlichen Suchbewe­ gung. Der Ausbau des psychischen Binnenraums ist potenziell ein Schutzraum, aber kein uneinnehmbares Bollwerk, niemals eine abso­ lute Gewissheit. Wir müssen auf die Welt von Augustinus implizit mächtig neidisch sein. Wir gehen in Psychotherapie. Die versucht also zu retten, was zu retten ist, in einer gottlosen Welt. Die Selbsterkun­ dung soll die Suche nach Gott obsolet machen – soll! Wir haben nun einen weiteren Hinweis darauf, wie die moderne große Seele, etwa die von Descartes und Kant, entstehen konnte. Sie sollte die Lücke schließen, die der nicht mehr Glaube an Gott hinterlassen hat. Wo Gott und ein kleines Ich war, sollte nun eine große und mächtige Seele sein. Und die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sind moderne Lückenschließer, Lückenschließer-Ver­ suche, um die Abwesenheit Gottes zu kompensieren. Sie basteln dabei auf unterschiedliche Weise. Der Psychoanalyse geht es darum, die große Seele zu ergründen und damit zu errichten. Die tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie beabsichtigt eher, das Leben erträg­ licher zu machen und sich so mit dem Tod Gottes besser abfinden zu können. Zurück zum Sammelband: Treusch-Dieter und Kersting eröffnen uns eine andere Welt – mit der Analyse historischer Texte. Sie tun das, um unsere Weltsicht zu relativieren. Denn es gibt auch andere Sichtweisen auf die Welt und sich selbst. Wir wissen dann oder wir können zumindest wissen, was wir alles verloren haben und was wir gewonnen haben und was anders geworden ist. Dieser Schritt, diese Schritte in andere Welten und andere See­ lenkonstruktionen ist, um dies nochmals herauszustreichen, eminent wichtig, um vergleichen zu können: Meine Welt, meine Seele, andere Welten, andere Seelen. Damit bekomme ich einen ganz anderen Blick

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auf mich, auf uns. Dann kann ich eventuell froh sein, nicht zu Zeiten Platons gelebt zu haben, vorausgesetzt, Platon habe in sein Seelenbild Seelenerfahrungen aus seiner Zeit übernommen. Dann bin ich froh, kein heillos überforderter Rosslenker zu sein. Dann bin ich ein wenig neidisch auf die schöne Utopie eines Augustinus. Zugleich wird mir klar, dass die Selbsterfahrung und Selbstreflexion vermutlich heute viel gewichtiger sind als damals und zwar für viele Menschen und nicht nur für einen Augustinus. Dann schätze ich unsere Welt umso mehr, dann vermag ich sie viel mehr zu schätzen. Deshalb schätze ich auch Psychotherapie, weil sie mich dabei unterstützt, mehr über mich zu erfahren, besser mit mir umzugehen. Zurück zum Text über Augustinus: »… dabei erblickt er in der reinen Selbstbeziehung des Geistes aufgrund der hier herrschenden Identität von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt und Erkenntnisbeziehung die reinste Ausprägung der göttlichen Dreipersonalität und bestimmt darum auch den selbst­ transparenten menschlichen Geist als gottnächsten Teil der geschaffe­ nen Welt und das Wertvollste im Menschen.« (ebd.)

Großartig: Die menschliche Seele ist strukturiert wie das göttliche Dreigestirn – Vater, Sohn und der Heilige Geist. Und der menschliche Geist ist selbsttransparent. Er erschließt sich selbst vollkommen. Und er ist das »Wertvollste«. Ja, der Mensch ist fast Gott. Er ist ihm zumindest nahe, solange er im Sinne Gottes handelt. Heute dagegen entwerfen wir uns tendenziell ins Nichts hinein, als etwas Unbestimmtes, als etwas Unbestimmbares in das Unbe­ stimmte, Unbestimmbare. Aber die Seele ist geblieben, die selbstre­ flexive, selbsterkundende Seele. Das ist das Augustinische Erbe. Mit dem Theologen, Augustinus, wird aber auch klar, wie hilf­ reich eine Religion sein kann. Sie ist ein unglaublicher Trost. Sie erschafft Vollkommenheit. Dagegen war bei dem Philosophen, Pla­ ton, die Seele paradox und zerrissen. Nicht so bei Augustinus. So weit weg Augustinus auch ist, so sehr wird er mit seinem Selbstbezug, mit seiner Forderung, seine Seele zu erkunden, als Vor­ denker Descartes (cogito ergo sum) begriffen. »Und es ist zu lesen, dass Augustin durch die ›Entdeckung des Ich‹ die Menschen zu einer ›neuen Selbsterkenntnis‹ geführt habe.« (ebd., S. 60) Kersting warnt allerdings auch davor, Augustinus zum reinen Vordenker moderner Subjektivität zu stilisieren (ebd.). Im Gegensatz zur Moderne suche Augustinus in der Selbstschau nicht sich, sondern Gott in seinem

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Innern. Wie dem auch immer sei, Augustinus eröffnet den Weg nach innen. »In sich findet der Mensch nach Augustin das Bild eines anderen; in seiner Mitte stößt er auf Fremdes. Dort, wo die neuzeitliche Philoso­ phie autonomiestolz ihr reflexionstheoretisches Begründungskonzept lokalisiert, stockt bei Augustin die sich selbst aufhellende Reflexions­ bewegung und verharrt rezeptionsglücklich im Vernehmen des eige­ nen unbegreiflichen Grundes. In seiner ›innersten Innerlichkeit‹ gehen Augustin die Gründe aus.« (ebd., S. 73)

Aber vielleicht hat Augustinus gar keine Gründe gesucht. Er akzep­ tiert die, aus unserer Sicht, Lücke. Totales Denken ist ihm fremd. Er akzeptiert, dass es in uns Menschen etwas Undenkbares gibt. Das erinnert doch sehr an Freuds Idee des Unbewussten. Ja, es ist möglich, Unbewusstes bewusst zu machen, aber gewiss nicht das gesamte Unbewusste. Und diese Idee vermag auch tröstlich zu sein: Es ist nicht schlimm, wenn wir es nicht schaffen, das gesamte Unbewusste bloß­ zulegen. Das ist halt so. So ist der übermäßige Anspruch relativiert, bis zu den Grundfesten unseres Unbewussten vorzudringen, diesen Raum des Unbewussten einfach zu entrümpeln. Und implizit stimmt die tiefenpsychologisch fundierte Psycho­ therapie dem zu: Ja, wenn es zur besseren Lebensbewältigung not­ wendig ist, soll das Unbewusste bearbeitet werden. Aber vom ganzen Unbewussten und dessen Freilegung ist in dieser Psychotherapieform nie die Rede.

16.3 Gnosis Weiter zum Sammelband über die historische Psychologie: Bleibtreu-Ehrenberg schreibt in selbigen Klassiker über die Gno­ sis, die mit einem radikalen Leib-Seele-Dualismus, Materie-GeistDualismus arbeitet. Unaufhebbar böse ist der Leib, böse ist die Mate­ rie. Ziel des Menschen muss es sein, zu dem fernen Gott aufzusteigen. Die Autorin liefert zu diesem Glauben eine interessante Interpre­ tation. Sie führt ihn auf einen gesellschaftlichen Hintergrund zurück. »Insofern substituierte der Gnostizismus eine soziale Revolte, die in der Realität aussichtslos gewesen wäre, wie die zahlreichen Aufstände in der Antike beweisen, die jeweils von den Zentralgewalten bald unterdrückt wurden. Mittels Gnosis aber konnte wenigstens eine geis­

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tige Emigration aus dem sozial aussichtslosen Hier und Jetzt in ein leidloses jenseitiges Dort und Ewig stattfinden.« (ebd., S. 78)

Träfe diese Interpretation zumindest anteilig zutreffend, dann ließe sich die doch auf das sogenannte Geistesleben in nicht unerheblichem Umfang einflussnehmende Strömung der Gnosis im 20. Jahrhundert (Endres und Klotter 2020) auf die Erfahrung von Katastrophen wie den Ersten und den Zweiten Weltkrieg sowie die Shoa zurückführen. Der Ausspruch Adornos »Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, dass es keines mehr gib.« (aus »Minima Moralia« 1997, S. 13) wäre dann zu übersetzen, dass die Welt, die er erfahren hat, die falsche ist und in der Logik der Gnosis Erlösung von ihr nur möglich ist, wenn sie nicht mehr existiert, oder die Seele ihren Weg zu Gott gefunden hat. Für eine historische Psychologie ist die Gnosis von Interesse, weil sie ein Erklärungsmodell für die Erfahrung, in einer durchgängig bösen Welt zu leben, liefert. Nicht ich bin paranoid und / oder depressiv, nein, die Welt ist einfach so. Aber ich brauche die Hoffnung nicht fahren zu lassen, schließlich gibt es das Reich des fernen Gottes, in das ich prinzipiell gelangen kann. Zudem habe ich gute Gründe, meinem Körper zu misstrauen. Seine Verlockungen und seine Lüste können es verunmöglichen, zu Gott aufsteigen zu können. Ist mein Körper satt und zufrieden, schlummere ich ein, dann vergesse ich die Botschaft des fernen Gottes und gelange nicht mehr zu ihm. Ich bin also vom Bösen umzingelt, aber die Gnosis erklärt mir, warum das so ist. Und wir spannen den Bogen von der Gnosis zur Psychoanalyse und zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Sie sind möglicherweise zu denken als Fluchtorte aus der bösen Welt, Refugien, in denen die Patienten und Klientinnen sich den göttlichen Funken wieder aneignen können und so die Chance haben, zum fernen Gott emporsteigen zu können. Die Psychoanalyse wurde ja in einer Zeit von Freud erfunden, die doch in der Tat böse war und böse und grauenerregend wurde, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. An Flucht zu denken, war sozusagen das Denkbarste in dieser Zeit. Die psychotherapeutische Praxis stellt so imaginär eine andere Welt dar. In ihr steht eine unendlich hohe Leiter, die zum fernen Gott führt. So kann vergessen werden, wie schrecklich diese Welt ist. Die Psychoanalytikerin und der Psychotherapeut sind heimliche

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Helfer des fernen Gottes. Und sie sind sehr erfahrene Bergsteiger. Sie besteigen die unendliche Leiter mühelos und helfen anderen, dasselbe zu tun. Dass die psychotherapeutische Praxis ein Ort zu einem anderen Ort ist, ist auch daran zu erkennen, dass an ihr zu klingeln, die Tür sanft und vorsichtig aufzumachen, sie zu betreten, etwas irgendwie Heiliges hat. Wir können schlussfolgern: Psychotherapie lässt sich interpre­ tieren als säkularisierte Religion, als säkularisierte Gnosis. Sie bildet einen Fluchtpunkt aus dieser Welt, und im Sinne einer unbewussten Wunscherfüllung ermöglicht sie den Aufstieg zum fernen Gott.

16.4 Modelle der Psyche in der Neuzeit Zurück zum Sammelband zur historischen Psychologie: In einem weiteren Beitrag befasst sich Treusch-Dieter mit der neuartigen Seelenkonstruktion zwischen dem 15. und 17. Jahrhun­ dert, »… dass an die Stelle der objektiven Vernunft der antiken Philosophie und der christlichen Theologie mit der beginnenden Moderne die sub­ jektive Vernunft der Reformation und der neuzeitlichen Wissenschaft, schließlich aber die der Aufklärung tritt.« (ebd., S. 145)

Treusch-Dieters wesentliche Quelle ist hierbei der Hexenhammer von Sprenger und Institoris, der die theoretische Grundlage der Hexenverfolgung bildete. Hauptthema dieses Werkes ist nicht die Hexe gewesen, sondern die Seele, die Rettung der Seele. Mit dem Hexenhammer werden nicht Heiden verfolgt, sondern Christen, die der römisch-katholischen Kirche abtrünnig werden wollen. Mit der Hexenverfolgung antizipiert diese Kirche gleichsam ihren Zerfall. Bald wird sich die evangelische Kirche abspalten. Das Verbrechen, das den Hexen unterstellt wird, ist das »Schlecht-vom-Glauben-denken« (ebd., S. 147) Dieses basiert auf einem subjektiven Entschluss der Betreffenden. Das freie, zu eigenen Entscheidungen fähige, moderne Subjekt betritt die europäische Bühne, lange vor Kant. Und das Glaubensverbrechen, so die Über­ zeugung, findet in der Seele statt. »Sie nämlich, die ›Hexenketzerei‹, basiert auf dem besonderen, auf dem ausdrücklichen und freiwilligen Pakt mit dem Dämon, in dem sich

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16.4 Modelle der Psyche in der Neuzeit

die subjektive Vernunft der Moderne ankündigt, die die objektive Ver­ nunft der göttlichen Naturordnung durchbricht und in eine ›fremde Natur‹ hineinführt. Denn ›sündigen können heißt, aus Freiheit des Willens von Gott sich entfernen‹ …« (ebd., S. 150)

Wir sehen uns mit einem Paradox konfrontiert: Die Autoren des Hexenhammers, die die Anleitung zum Morden schreiben und die subjektive Vernunft damit bekämpfen wollen, fixieren sie schriftlich, kreieren sie damit mit. In dem Versuch, sie dingfest zu machen, wird sie gleichsam erfunden. »Darum wird das dogmatisch nicht mehr Fassbare dieser natürlichen Willensfreiheit von Sprenger und Institoris als Pakt mit dem Dämon kodiert, dem das male de fide sentire vorausgesetzt ist. In ihm zeichnet sich ein Abfall vom Glauben in dem Sinne ab, dass sich der Mensch nicht mehr als Gottes Geschöpf, sondern als sein eigenes begreift … (da der Mensch) ›eine Kreatur ist, hängt sein Sein ab vom Schöpfer, wie das Verursachte von der Ursache seines Seins; Schaffen (jedoch) ist, etwas aus nichts machen: deshalb, wenn (der Mensch) sich selbst überlassen wird, zerfällt er, bleibt jedoch bewahrt, so lange er den Einfluss der Ursache annimmt‹.« (ebd.)

Die Autoren des Hexenhammers sehen sich am Abgrund der bishe­ rigen Welt, der bisherigen römisch-katholischen Kirche. Sie wissen, dass diese zerfällt. Die Menschen sehen sich nicht mehr als durch Gott geschaffene Wesen, sondern als autonome. Sie leugnen in gewisser Weise ihren Ursprung und »zerfallen«. Dieses »Zerfallen« ist vermutlich die Grunderfahrung des modernen Menschen – sich selbst geschaffen haben und dennoch einen Ursprung zu reklamieren, indem es doch ein nicht sich Schaffen geben muss. In diesem Sinne ist Gott nicht tot. Es ist zu vermuten, dass es keine bessere Definition menschlicher Erfahrung in der europäischen Neuzeit gibt. Diese Erfahrung ist von einem grundlegenden, unauflösbaren Paradoxon gekennzeich­ net: sich geschaffen zu haben und irgendwo herkommen zu müssen, einen Ursprung haben müssen, bei Gott. Einen Ursprung nur in der Natur zu haben – das kann doch gar nicht sein, das macht doch gar keinen Sinn. Wir müssen doch sinnvolle Wesen sein. Sonst sind wir so bedeutungsvoll wie die Fruchtfliege. Und wenn der Mensch sich Sinn verleiht, wenn er davon ausgeht, dass er selbst autonom denken kann, dann muss das jemand intendiert haben. Dafür kommt doch nur Gott infrage. Oder?

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Dieses von Treusch-Dieter beschriebene »Zerfallen« ist eine Voraussetzung für die Erfindung und Institutionalisierung von Psy­ chotherapie. Sie versucht, dieses Zerfallen abzuschwächen, dem Men­ schen einen Halt im Diesseits zu geben. Und zugleich ist sie, wie schon zur Gnosis ausgeführt, eine Art von Rückkehr zu Gott. Es haftet ihr etwas Heiliges an. Die Psychoanalytikerin, der Psychoanalytiker ist die Stellvertreterin, ist der Stellvertreter Gottes auf Erden. Sie stellen eine ganz besondere Beziehung zum Patienten, zur Klientin her. Sie sind die großen Sinngeber. Und in gewisser Weise sind sie allwissend wie Gott. Sie durchschauen alles. Das ist zumindest die unbewusste Phantasie des Patienten, der Klientin. Und witzigerweise reklamiert die Psychoanalyse über den Begriff der Deutung die Allwissenheit für sich. Der Psychoanalytiker weiß immer, wie sich die Biographie der Patientin auf die aktuelle Lebenssi­ tuation und das aktuelle Leiden ausgewirkt hat. Sollte sie der Deutung widersprechen, dann ist sie offenkundig im Widerstand, dann will sie derzeit von der unumstößlichen Wahrheit noch nichts wissen. Die Psychoanalyse reklamiert für sich also die objektive Vernunft, die mit dem Schlecht-vom-Glauben-Denken (siehe Hexenhammer) relativiert worden ist. Wie üblich ist da die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie vorsichtiger. Mit ihr ist die Psychotherapeutin nicht mehr Vertreterin der objektiven Vernunft, vielmehr begegnen sich in dieser Psychotherapieform zwei subjektive Wahrheitssucher, und die Wahr­ heit bleibt immer eine vorläufige. Aber wäre es nicht möglich zu denken, dass sich die tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapeutin im Grunde auch als wahre Vertreterin der objektiven Vernunft sieht, dies aber nicht allzu laut sagen darf? Wenn sie sagt »Ich könnte jetzt den Eindruck bekommen, dass …«, oder »Das klingt jetzt fast so, als …«, dann formuliert sie zwar vorsichtig, aber verbirgt damit potentiell nur ihre unumstößlichen Gewissheiten. Dann hat die objektive Vernunft in dieser Psychothera­ pieform eine andere Rhetorik. Noch kurz zurück zum Text von Treusch-Dieter: Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass mit den Verhören der Hexen die Subjektivierung weiter vorangetrieben wird. Die aus der Folter entstandenen Geständnisse werden aus dem psychischen Bin­ nenraum geboren. Dieser muss jedoch zunächst im Verhör entfal­ tet werden.

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So sind wir mit einem Paradox konfrontiert: Der Hexenhammer ist ein Instrument gegen die subjektive Vernunft und fördert diese zugleich: im Verhör! Und wir ahnen es bereits: Psychotherapie orientiert sich zu Anteilen an diesem Verhör. Unangenehme Dinge werden ans Licht gebracht. Der Klient will eigentlich davon gar nichts wissen. Aber durch die freie Assoziation – Psychoanalyse – stolpert er gleichsam über sich selbst. Es rutschen ihm Sätze raus, die er gar nicht sagen wollte. Er erkennt Zusammenhänge, von denen er wahrlich nichts wissen wollte. Wie üblich geht die tiefenpsychologisch fundierte Psychothera­ pie milder vor. Sie setzt weniger auf freie Assoziation, die sie aber auch nicht verhindern kann, denn auf strukturierende, unterstützende Gesprächsführung. Aber dies ändert nichts daran, dass die Klientin vor einigen Psychotherapiestunden richtig Angst hat, Angst, dass etwas zutage treten könnte, wovor sie eigentlich immer davongelau­ fen ist. Allein schon ihre Phantasie über den wissenden Blick der Psy­ chotherapeutin macht die Psychotherapie zu einer Art von Verhör, aus dem es kein Entrinnen gibt. Also: Psychotherapie jeglicher Art haftet das Konzept des Ver­ hörs an. Schließlich geht es um die Wahrheit, um nichts anderes als die Wahrheit. Und der Klient soll diese gefälligst liefern. Andernfalls … So ist es nicht undenkbar, dass der Klient seinen Psychotherapeu­ ten auch als kleinen Sadisten begreift, als Vertreter des Hexenham­ mers. Festzuhalten ist: Im Denken der Autoren des Hexenhammers können wir uns heute nicht mehr selbstverständlich als Kinder Gottes begreifen, weil wir davon ausgehen, freie und autonome Individuen zu sein. Wir sind darauf stolz, uns so zu definieren, und haben zugleich unendlich viel verloren. Wenn wir die Wahl haben, an Gott zu glauben oder eben nicht, dann ist mit dieser Wahl die Selbstverständlichkeit ausgeschlossen, Kinder Gottes zu sein. Einfach so. Dann haben wir unser emotionales Zuhause verloren. Und es gibt keinen Weg zurück. Nur mit großer Mühsal kompensieren wir dies, indem wir durch Psychotherapie ein reflexives Selbst aufbauen, indem wir dies ver­ suchen, oft auch vergeblich.

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16 Ein Blick zurück: frühere Seelenvorstellungen

16.5 Die Seele der Renaissance Zurück zum Sammelband der historischen Psychologie: In einem weiteren Beitrag des Sammelbandes geht Stadler auf die Seelenkonstruktion in der Renaissance ein. Er streicht heraus, dass es seit der Antike eine Idee von Weltseele gibt, die den gesamten Kosmos formt. »Die Seele … ist im antiken Denken Prinzip der Bewegung. Diese Auffassung ist weit entfernt von dem durch das Christentum geprägten Verständnis einer Individualseele als separater Substanz. Dabei meint der Begriff der Bewegung nicht nur physikalische Bewegung, sondern umfasst auch Veränderungen an den Gegenständen der Wahrneh­ mung, die Wandlung von Erscheinungsformen jeglicher Art, Prozess­ haftigkeit und Tätigkeit. So umfasst sie auch die Tätigkeit des Erken­ nens, des Wahrnehmens, des Denkens, des Schlussfolgerns.« (ebd., S. 180)

Was für eine wunderbare Vorstellung: Dir Weltseele formt alles, auch das Erkenntnisvermögens des Menschen. Damit ist dem Menschen alles intelligibel. Es gibt keinerlei Bruch zwischen dem menschlichen Individuum und der Welt. Kant hatte noch nicht die Bühne der Erkenntnistheorie erobert. Nach ihm ist das Ding an sich nicht zu erkennen (Kant 1995). Und in unseren Tagen geht Popper, der Begründer des Kriti­ schen Rationalismus, davon aus, dass eine Theorie nicht verifizier­ bar, sondern nur falsifizierbar sei. Wir können eine Theorie, eine daraus abgeleitete Hypothese, nicht mehr bestätigen, sondern nur noch widerlegen. Kuhn und auf andere Weise Foucault legen dar, dass bestimmte Epochen eine bestimmte Form von Wahrheit produzieren und aner­ kennen, diese Formen der Wahrheiten mit dem empirischen Feld wenig zu tun haben (vgl. Klotter 2020). Die Einheit von Welt und Erkenntnis ist also zerbrochen. Die Welt ist uns heute prinzipiell unzugänglich. Dieses Zerbrechen ist die Grundvoraussetzung von jeglicher Art von Psychotherapie. Mit dem Glauben an die Weltseele bin ich jeglicher Psychotherapie abhold. Ich brauche sie doch nicht im Geringsten. Mit Psychotherapie versuche ich heute, die Dinge zu kitten: meine Probleme mit den Kindern, mein Streit am Arbeitsplatz. Ich erschaffe mir damit eine brüchige Mini-Weltseele, wissend, dass sie schon am nächsten Tag obsolet sein könnte, anders sein müsste,

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16.5 Die Seele der Renaissance

um mich zu beruhigen, einigermaßen. Psychotherapie ist der Kitt, der von Woche zu Woche mühsam hergestellt werden muss. Freud ist derjenige, der mit seiner eher skeptischen Sicht auf den Menschen – Liebes- und Todestrieb, permanenter Konflikt zwischen den Instanzen des psychischen Apparates, permanente Möglichkeit des Scheiterns – am ehesten den Verlust wahrgenommen hat, der mit dem Untergang der Weltseele verbunden ist. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie überspringt diesen Verlust und setzt auf Optimismus und Machbarkeit. Es wurde bereits erwähnt: Wie werden so die Klientinnen und Klienten dieser Psychotherapieform in dieser wahrgenommen, die es einfach nicht schaffen, die ihr Leben nicht besser hinkriegen? Freud hätte sich über diese nicht gewundert. Aber mit der tiefenpsycholo­ gisch fundierten Psychotherapie müssen diese eigentlich tendenziell pathologisiert werden. Sie sind doch einfach unfähig. Schließlich ist es nicht so schwierig, das eigene Leben besser zu meistern, mit Hilfe einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie! Was wäre dieser Psychotherapieform diesbezüglich anzuemp­ fehlen? Sie müsste das Scheitern als Möglichkeit des Lebens mehr anerkennen. Wir scheitern alle auf die eine oder andere Weise! Zurück zum Sammelband, zurück zur Renaissance: In der Renaissance tritt an die Stelle der antiken Weltseele ein naturwissenschaftliches Verständnis der Welt. Sie soll in Gänze naturwissenschaftlich erklärbar sein. »Prozesse der Veränderung und des Wandels in der Natur werden daher nicht mehr verstanden als ein äußeres Aufprägen von Formen auf die Materie, sondern Veränderung ist nun Entfaltung, explicatio, Entwicklung der in der Materie angelegten Formen.« (ebd., S. 185)

Der Hybris der Moderne ist damit der Weg geebnet, alles wissen­ schaftlich erklären zu können, alles technisch herstellen zu können. Der Machbarkeitsmythos der Moderne ist damit zu guten Antei­ len geboren. Der Hybris folgt mythologisch die Nemesis, die göttli­ che Gerechtigkeit. Sie formuliert sich denkbarerweise in den negativen Effekten des gelebten Machbarkeitsmythos für die Ökologie. Im Klimawandel zeigt sich quasi Gott. Und vielleicht produzieren wir den Klimawan­ del, um Gott nicht ganz verloren zu geben.

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Stadler hebt hervor, dass es einen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen dem modernen Denken und dem der Renais­ sance gibt. Im modernen Denken stehen sich erkennendes Subjekt und die Welt der Objekte getrennt gegenüber; nicht so in der Renais­ sance. »Dieser ›renaissance-typische Gedanke‹ lässt eine, gegenüber dem neuzeitlichen kritischen Philosophieren unterschiedliche Intention deutlich werden: Das sich selbst inspizierende Denken analysiert sich nicht als weltloses Subjekt, sondern als Subjekt, das immer auch schon Welt ist. Die Strukturen des Erkennens werden nicht erschlossen in Abstraktion von Welt, in methodischer Isolierung des Subjekts. Es liegt hier eine Denkform vor, deren Spezifikum gegenüber neuzeitlichem Philosophieren gerade darin besteht, dass sie keine strikte SubjektObjekt-Trennung vollzieht, sondern vielmehr einen ursächlichen Zusammenhang von Denken und Welt zu ihrer erkenntnistheoreti­ schen Voraussetzung erhebt.« (ebd., S. 188)

Das mögliche Gefühl des modernen Menschen, von der Welt abge­ schnitten zu sein, alleine auf einem fiktiven Feldherrenhügel zu stehen und mit einem Fernglas die Welt zu erforschen, dieses einsam machende Gefühl kennt die Renaissance noch nicht. Wir reden gerne als Topos von der Anonymität in der modernen Massengesellschaft und nehmen mit diesem Topos an, dass in der Feudalgesellschaft jeder und jede soziale gut eingebunden war und jede und jeder ihren und seinen Platz in der Gesellschaft hatte. Damals: Alles war noch in Ordnung. Angenommen, dieser Topos hätte eine gewisse Bedeutung, weil Feudalismus für den Großteil der Bevölkerung bedeutete, an die Scholle gebunden zu sein, also das Leben in einer fixen sozialen Struktur zu verbringen, dann wird mit diesem Topos dennoch über­ sehen, dass zwar die sogenannte Massengesellschaft potenziell die Menschen durcheinanderwirbelt und sie zugleich isoliert, aber eine andere Trennung bedeutsamer ist: die zwischen dem Subjekt und der Welt. Wir können uns heute eigentlich nicht mehr vorstellen, was es heißt, umfassend mit der Welt verbunden zu sein, sich zumindest verbunden zu fühlen, und nicht nur ansatzweise beim Sex, in der trauten Familie, beim sonnigen Herbstspaziergang im Herbst mit der Natur. Auch Psychotherapie schafft eine Scholle der Zuflucht angesichts dieser Trennung, vor allem dann, wenn der Sex, die Familie, der

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16.6 Pietismus

Herbstspaziergang zu wenig Verbundenheit erzeugen. Die besondere Verständigungskultur in der Psychotherapie soll dies ermöglichen. Diese Trennung zwischen Subjekt und Welt wird in Psychothe­ rapie eventuell in gewisser Weise gefeiert, weil die Welt endlich weg ist, unverfügbar ist, vernachlässigbar ist, weil nur noch die große Innerlichkeit gefeiert wird. Das beträfe dann allerdings die Psychoanalyse mehr als die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, setzt letztere doch deutlich stärker auf Bewältigung aktueller Probleme, also auf die Verbindung von menschlicher Psyche und Welt.

16.6 Pietismus Weiter mit dem Sammelband zur historischen Psychologie: Reiter erklärt in seinem Beitrag »Pietismus« das 18. Jahrhundert zur Epoche der vielfältigsten Annäherungen an die Psyche. »Man hat dem 18. Jahrhundert verschiedene Signaturen verliehen. So wurde es auch als das Jahrhundert der Seelenforschung gekennzeich­ net. Unzählige Veröffentlichungen zur empirischen und rationellen Psychologie, zur Experimentalseelenlehre, zur Erfahrungsseelenkunde dokumentieren die Versuche, die Seele als wissenschaftliches Erkennt­ nisobjekt zu konstituieren.« (ebd., S. 199)

Die große Seele als Kulturphänomen beginnt sich im 18. Jahrhundert zu etablieren (siehe auch weiter oben: Ariès, Descartes, Kant). Und die Wissenschaft, die Wissenschaften springen auf diesen Zug auf und nähern sich auf unterschiedliche Weise der Seele, dem neu entdeckten Forschungsgegenstand. Der breiten Bevölkerung war sicherlich nicht bekannt, dass die Seele so intensiv erforscht wurde, aber vielleicht bekam sie eine leichte Ahnung hiervon. Und hätte sie lesen können und hätte sie sich damit beschäftigt, dann wäre sie der Verwirrung anheimgefallen, dass es offensichtlich ganz unterschiedliche Zugänge zur Seele gibt. Es sind also zahlreiche Fragen zu beantworten: was die unter­ schiedlichen Seelenkonzepte, wenn sie ein bisschen populär werden, in der Seele der Menschen bewirken. Was bedeutet es für einen Menschen, wenn er erfährt, er sei von Trieben gesteuert, er habe einen Todestrieb (Freud) oder er sei von Grund auf gut (Rogers)? Beeinflusst dieses Wissen sein Seelenleben? Fürchtet er sich dann

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etwa vor sich (Todestrieb)? Geht er sich dann aus dem Weg? Oder übernimmt er, um zu sich selbst nett zu sein, um ein positives Selbstbild zu bekommen, um sich narzisstisch belohnen zu können, das Menschenbild von Rogers? Gibt es eine Entfremdung von der eigenen Seele, wenn andere ihr in der Wissenschaft und Philosophie habhaft werden wollen? Lässt sich diese versuchte Besitzergreifung als gewalttätig begreifen? Bin ich gezwungen, die unterschiedlichen Seelenmodelle zu rezipieren und auf meine eigene Seele zu beziehen? Muss ich meine Seele mit den allgemeinen Seelen konfrontieren? Bin ich als Mitglied dieser Gesellschaft dazu verdonnert, die unterschiedlichen Seelentheorien auf mich anzuwenden, meine Seele mit diesen zu reflektieren? Sind die Seelentheorien Ausdruck kultureller Strömungen, die mir eh vertraut sind? Damit soll gesagt sein: Die Wissenschaften, die sich mit der Seele beschäftigen, produzieren Wirklichkeit: das spezifische Verständnis der eigenen Seele und den Umgang mit ihr. Das Seelenverständnis des Glaubens – ich bin ein Kind Gottes – wird ergänzt und abgelöst durch die wissenschaftliche Blicke, Einblicke in die Seele. Dann weiß ich, dass ich verdränge. Dann weiß ich, dass die Beziehung zu den Eltern meine Partnerwahl mitbestimmt. Dann ist mir klar, dass immer, wenn ich nach Hause komme, der Anblick des Kühlschranks mich dazu veranlasst, im Mantel noch den ganzen 500g-Joghurt zu verspeisen (Reizkopplung nach Pawlow). Und vielleicht wird aber durch die Verwissenschaftlichung der Seele Reaktanz ausgelöst. Dann wendet sich die Bevölkerung von den wissenschaftlichen Perspektiven ab oder reduziert Komplexität. Das könnte dann so aussehen: Dann wissen wir, dass wir einen Körper haben, der Nahrung und eventuell Sex braucht. Dann wissen wir, dass unsere Gesellschaft mit ihren Forderungen und Normen uns einiges abverlangt. Mal sind wir heiter, mal sind wir traurig. Das Leben ist halt so. Einiges kriegen wir nicht gebacken, aber einige Dinge kriegen wir wahnsinnig gut hin. Eine Partnerschaft hat Höhen und Tiefen. Eine vorsichtige und verwegene Interpretation: Psychotherapeuten, Psychotherapeutinnen denken auch so. Ihre Psychotherapieform wäre dann gleichsam genuin: tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie: »Die ist einfach nicht so theorielastig. Die braucht doch keine zehn unterschiedlichen Narzissmustheorien. Wer war schon Kohut oder Kernberg?« Da reicht dann doch der

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Satz am Schluss der Stunde von dem Psychotherapeuten, der dabei nachdenklich lächelt: »Das Leben ist nicht immer einfach.« Und ein weiterer Verdacht ließe sich formulieren: Auch Psycho­ analytikerinnen und Psychoanalytiker operieren eher oder tendenzi­ ell auch mit dem Alltagsverstand. Stimmt, Kohut und Kernberg hatten sie mal in der Weiterbildung. Ist aber Ewigkeiten her. Was waren nochmals die Unterschiede zwischen den beiden? Und angenommen, sie wüssten noch, wie sich die beiden zum Narzissmus geäußert haben, wäre damit therapeutisch zu arbeiten? Wir fassen das Gesagte zusammen: In den letzten zwei Jahr­ hunderten wird die menschliche Seele aus den unterschiedlichsten Richtungen wissenschaftlich erforscht. Was kommt davon an bei der Bevölkerung? Vermutlich ein Halbwissen. Es sickert durch, dass es Fehlleistungen gibt. Es ist einigermaßen klar, dass Reize gekoppelt werden – nach Hause kommen, den Kühlschrank sehen, essen. Und zugleich bleiben wir bei, beharren wir auf unserer Alltagspsychologie: »Mein Nachbar ist einfach doof!«. Die zentrale Frage für tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie und deren Erforschung wie auch für alle anderen Psychothera­ pien ist die, inwieweit sie von Expertenwissen bestimmt sind und inwieweit von einer Alltagspsychologie. Wir versuchen zur historischen Psychologie zurückzufinden, zum Pietismus, und bündeln davor: Die Verwissenschaftlichung der Seele im 18. Jahrhundert hat möglicherweise Widerstand ausgelöst, bei den Laien, aber auch bei den Psychotherapeuten. Eventuell mündet diese Reaktanz in einer pragmatischen, nicht allzu stark theorielastigen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Und diese hat ja zum Beispiel keine eigene Ätiologie entwickelt, lehnt sich da üblicherweise an die Psychoanalyse an. Aber da sie sich ja nur anlehnt, muss sie ja auch möglicherweise nicht so viel diesbezüglich wissen. Im Folgenden wird der Pietismus und seine Relevanz für die historische Psychologie vorgestellt. Damit ist eigentlich kein Blick zurück zu früheren Seelenvorstellungen gewagt, weil der Pietismus zu unserer Zeit, zur Moderne, gehört und die Moderne maßgeb­ lich bestimmt. Reiter, der den Beitrag zum Pietismus geschrieben hat, legt dar und bestätigt den eben formulierten Verdacht, dass diese Intensivie­ rung der Erforschung der Seele im 18. Jahrhundert dazu führte, dass sich eine Gegenbewegung bildete. »Die Seele flieht seitdem vor dem

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operativen, physiologischen Zugriff und hört auf, Objekt von Natur­ wissenschaften zu sein.« (ebd., S. 198) Einer dieser Gegenbewegun­ gen ist der Pietismus, der sich gegen die Bürokratisierung und Öko­ nomisierung der modernen Welt wandte, um zugleich genau diese Welt zu fördern, was nun auszuführen sein wird. »Die individuelle Verfassung der Seele, und nicht die privatwirtschaft­ liche oder herrschaftliche Ordnung kann als ›Quelle des Verderbens‹ ausfindig gemacht werden. Individuellem moralischem Versagen sind fortan alle Konflikte um obrigkeitliche Willkür und privatwirtschaftli­ che Konkurrenzen zuzurechnen. Soziale Konflikte gelten ebenso wie persönliche Zwistigkeiten als Ausdruck unmoralischer Eigenschaften einer nicht bekehrten Seele. Die religiöse Pädagogik der Glaubenser­ neuerung, der Neuordnung der Seele bietet sich hier als Universallö­ sung aller Konflikte an.« (ebd., S. 203)

Der Pietismus ist genial. Er beklagt schlechte Zeitumstände, Bürokra­ tie, ökonomische Konkurrenz, um sie sofort an die Seele zurückzu­ binden: Eine heile Seele verhindert derartige Zeitumstände. Deshalb geht es zuallererst um die Rettung der Seele. Zuständig dafür ist: der Pietismus. Diese Glaubensrichtung ist getragen von einem perfekten Selbst-Marketing: Unsere Gesellschaft braucht uns dringend, und nur uns. Der Pietismus ist so im Kern selbst kapitalistisch, weil er eine gute Seele schaffen will, die gut und effizient arbeiten kann. Aber könnte dieser Pietismus nicht auch die Geburtsstunde aller Psychotherapieverfahren sein? Wenn die individuelle Seele in der Psychotherapie gesundet, dann ist doch ein Beitrag geleistet zur Gesundung der gesamten Gesellschaft. Deshalb zahlt doch die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland Psychotherapie. »Die Referenzerzählung von Stryk stellt die Seele als einen Ort vor, der von fremden Mächten erobert, besetzt und kolonisiert werden kann. Sie ist das Terrain, wo Kämpfe um die innere Herrschaft über den Menschen ausgetragen werden. Im Herrschaftsraum der Seele befin­ den sich zunächst die Naturmächte der Vernunft, des Begehrens und der Aggressivität, die ›Brünstigkeit zum Bösen‹. Diesen drei Natur­ mächten werden drei neue Herren, genauer drei Regentinnen und weibliche Mächte vorgesetzt: Glaube, Liebe und Hoffnung. Sie bringen eine grundsätzliche Umorganisation der Affekte und eine neue Ord­ nung des Willens mit sich. Von nun an beherrscht der christliche Glaube die Vernunft, die christliche Hoffnung ersetzt das Begehren und die christliche Liebe hält die Aggressivität so in Schach, dass sie sich verwandeln muss in die ›Brünstigkeit zum Guten‹.« (ebd., S. 205)

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Der Pietismus beschreibt großartig eine Selbstdomestifikation, sie entwirft das Bild des affektkontrollierten, zivilisierten Menschen (Elias 1978), der sich einfach gut unter Kontrolle hat, mehr als gut. Er zeichnet das ideale Selbstbild des modernen Menschen, der von Vernunft, Disziplin und Liebe getragen wird, der sich von jeglicher Aggression befreit hat. Na klar, wir wollen ab und zu auch ausflippen, Party machen und guten Sex haben. Aber das sind die Ausnahmen, die den vernünftigen Menschen einrahmen. Und der Pietismus erweitert den Machbarkeitsmythos der Moderne: Wir können nicht nur die Natur beherrschen, wir können auch uns beherrschen und unsere eigene Psyche radikal umgestalten. Wir sind Herr und Frau unserer eigenen Seele – mit Gottes Hilfe, dank Gottes Hilfe. Und was sagt dazu die Psychotherapie? Mit Hilfe des Psychothe­ rapeuten, dank der Psychotherapeutin, können wir dieses Wunder bewirken, Herr und Frau unserer eigenen Seele zu werden und zu sein. Das ist die Grundlage der überwiegend optimistischen tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie. Sie ist Pietismus im 20. und 21. Jahrhundert. Wir brauchen keine Gewerkschaften mehr, keine politische Diskussion, sondern nur noch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie! Es folgt nun ein langes Zitat von Reiter, in dem zentrale Inhalte komprimiert werden, die sich nicht mehr zusammenfassen lassen und die nicht besser formuliert werden können: »Man hüte sich, die Seele für eine Illusion zu halten. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit und sie wird ständig produziert. Es verhält sich mit der Seele ähnlich wie mit Gott und Göttern, die zur gesellschaftlich verbindlichen Existenz gebracht werden, indem man von ihnen spricht und ihnen Opfer bringt. Auch die Seele existiert, indem man von ihr spricht und sie zum virtuellen Objekt vielfältiger Praktiken macht. Im 18. Jahrhundert hängt das Wissen um die Seele zusammen mit der Entfaltung neuer Formen der Vergesellschaftung, die für die europäi­ sche Neuzeit kennzeichnend geworden sind. Der Staat strukturiert sich nach und nach als Verwaltungsrationalismus von oben nach unten durch, er behandelt die Individuen der Gesellschaft als seine Unterta­ nen und konstituiert sie als seine ›Subjekte‹. Der Umbau der sozialen Ordnung findet im Gefolge der Durchsetzung von Geldverkehr und Privateigentum, von Justiz und Polizei statt.« (ebd., S. 210)

Das moderne bürgerliche Subjekt braucht also Seele, um die Welt gestalten zu können, um Teil einer neuen nützlichen und produktiven

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Gesellschaft zu werden. Die Moderne kreiert die selbstverantwortli­ che Seele des Individuums, um die Zukunft einer Nation voranbrin­ gen zu können. Und als demokratische und liberale Gesellschaft wartet sie auch auf mit einer Vielzahl an Seelenmodellen, aus denen sich ein jeder seines aussuchen darf. Und selbstredend konkurrieren die Seelenmo­ delle miteinander im herzlichen Wettstreit. Das, was die unterschiedlichen Seelenmodelle eint, ist die Verpflichtung, für die Gesellschaft nützlich zu sein, für die jewei­ lige Nation. Und die Psychoanalyse wurde und wird zur Arena zahlloser Modellierungen der Seele. Quasi jede Psychoanalytikerin, jeder Psy­ choanalytiker entwickelt ein eigenes Konzept von Seele. Jede und jeder will besser und nützlicher sein als die, der andere. Und siehe da: Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie macht es nicht anders: Sie will ganz einfach erfolgreicher sein als die Psychoanalyse. Und untereinander streiten sich die diversen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien, welche Psychotherapiemethoden am besten sind. Das Gemeinsame an ihnen ist: Psychoanalyse und tiefenpsycho­ logisch fundierte Psychotherapie blühen auf im edlen Wettstreit. Es ist so, als ob Automobilunternehmen miteinander konkurrieren, wer wohl erfolgreicher ist als das andere. Aber auch innerhalb eines Unternehmens will die Mittelklasse ertragreicher sein als das SUVSegment. Weiter oben wurde aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage aufgeworfen und bearbeitet, ob die Psychoanalyse Freuds eine jüdi­ sche Wissenschaft ist. Mit dem Thematisieren des Pietismus erscheint diese Frage zweit- bis drittrangig, erweisen sich doch Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in erster Linie als Pietismus-durchdrungen, wollen letztlich beide doch eine möglichst effiziente und damit nützliche Seele herstellen.

16.7 Zusammenfassung Für Platon bestand die Seele aus einem wilden Pferdegespann, das danach trachtete, zu den Göttern zu gelangen. Ob das gelingt, war jedoch in keiner Weise sicher. Die Menschen waren so dem Schicksal ausgeliefert. Dieses Seelenbild ängstigt uns heute.

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16.7 Zusammenfassung

In der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie versuchen wir, diesbezügliche Ängste zu reduzieren, indem wir unsere Seele erkunden, sie zur Heimat erküren. Wer etwas von seiner Seele versteht, ist einfach nicht mehr ausgeliefert. So denken wir implizit. Der christliche Philosoph, Augustinus, beschreibt eine selige Welt, geschaffen von Gott. Diesen zu erkennen, ist ein Ziel mensch­ lichen Lebens. Das andere Ziel ist es, sich selbst zu erkennen. Mit Augustinus beginnt also die Seelenschau. Sie gibt zentralen Halt im Leben. Nicht viel anders denken dies Psychoanalyse und tiefenpsy­ chologisch fundierte Psychotherapie. Von Augustinus stammt auch der Gedanke, dass Teile der Seele einem fremd bleiben, dass dies aber akzeptierbar ist. Genau dieses Modell übernimmt die Psychoanalyse, nicht aber die tiefenpsycholo­ gisch fundierte Psychotherapie. Die Gnosis unterstützt die Abkehr vom an sich bösen Weltlichen und die Konzentration auf das Innere, auf die Seele. Die Psychoana­ lyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie könnten so interpretiert werden als Fluchtlinien aus der bösen Welt. Mit der den Hexen unterstellten Möglichkeit, schlecht vom Glauben zu denken, etabliert sich vom 15. zum 17. Jahrhundert eine subjektive Vernunft. Ich habe die Wahl zu glauben oder eben nicht. Ich kann entscheiden. Damit ist der Weg zu Kant gebahnt. Die selbst verschuldete Unmündigkeit ist Vergangenheit. Heute kann ich mich entscheiden, ob ich Psychotherapie machen will und welche Psychotherapie ich machen will. Und diese beiden Psychotherapiemethoden – Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – dienen dazu, den gedanklichen Horizont und die Handlungsspielräume zu erweitern. Mit dieser Wahloption, mit dieser subjektiven Vernunft, sind wir nicht mehr selbstverständlich Kinder Gottes. Wir büßen etwas ein und ersetzen dies durch die subjektive Vernunft, die so groß konzipiert werden muss, dass sie Gott ansatzweise zu substituieren vermag. Das ist also die große Seele der Moderne, die Simmel so gut beschrieben hat. Das 18. Jahrhundert ist das der Seelenforschung, zahlreiche Zugänge zur Seele wurden entwickelt, viele Vorstellungen über die Seele entstanden, die mehr oder weniger stark auch die Bevölkerung erreichten und dazu beitrugen, dass sich Menschen über ihre eigene

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Seele Gedanken machten, und so die unterschiedlichen Seelenvorstel­ lungen seelische Realität mit produzierten. Bin ich von außen durch Reizkopplung und Verstärkung steuerbar (Lerntheorien)? Sind es die Triebe und die gesellschaftliche Moral (Psychoanalyse)? Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Psy­ choanalyse sind letztlich pietistisch geformt. Beide wollen eine gute, eine gesunde menschliche Seele herstellen, die maximal nützlich für die Gesellschaft ist. Sie liegen im Wettstreit untereinander, wer die erfolgreichere Seele herstellen kann. Aber auch innerhalb der Psycho­ analyse, innerhalb der tiefenpsychologisch fundierten Psychothera­ pie gibt es Streit, welche Theorie, welche Psychotherapiemethoden am erfolgreichsten sind. Sie reproduzieren damit den Wettbewerb im Kapitalismus. Der Blick zurück zu früheren Seelenvorstellungen ist ein sehr sinnvoller, weil wir damit besser verstehen, mit welcher Seelenvor­ stellung wir heute arbeiten, und wie die Seele in der Psychotherapie bearbeitet werden soll.

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Was gewinnen wir aus dem bisher Mitgeteilten für die Positionierung und Weiterentwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psycho­ therapie. Wir fangen an mit Miss Lucy R., von der Freud berichtet. Diese kann wegen ihres Über-Ichs nicht akzeptieren, dass sie in den Hausherrn verliebt ist. Sie muss die Liebesregungen verdrängen und entwickelt daraufhin körperliche Symptome. Heute könnte Miss Lucy R. sich zu ihrem Verlangen bekennen. Liebe und Sexualität haben sich liberalisiert. Freuds Dreieinigkeit von Unbewusstem, Sex und psychotherapeutischer Deutung spielt daher heute in der Psychotherapie keine oder eine geringe Rolle. Zahlreiche sexuellen Phantasien sind toleriert, sind nicht mehr unbewusst, müs­ sen nicht gedeutet werden. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie steht für die­ sen Wandel. Veränderungen in einer bestimmten Kultur wie der unseren, Liberalisierung der Sexualität, führen zum Verschwinden bestimmter Symptome, der hysterischen im Sinne Freuds, führen zu anderen Inhalten in der Psychotherapie. Diese hat es mit anderen Menschen zu tun, die anders denken über Sex, ihn anders praktizie­ ren, anders darüber reden, als zu Freuds Zeiten. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie schwimmt in diesem Fahrwasser, ohne es zu reflektieren. Sie bräuchte eine Kul­ turtheorie oder auch etliche Kulturtheorien, um die Veränderungen zwischen der Zeit von Freud und dem Heute zu erklären, weil diese Veränderungen Auswirkungen auf die Psyche des Menschen haben und auf das Geschehen in der Psychotherapie. Mit diesen Kulturtheorien könnte auch gedacht werden, ob sich die Sexualität nur liberalisiert hat. Es könnte ja sein, dass die von Ariès beschriebene moderne Scham sich latent fortsetzt, dass die aktuelle Sexualität quasi zerrissen ist zwischen »alles ist möglich« und »wie peinlich ist sie nur«.

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Für letzteres spräche, dass in meiner langjährigen Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten und in meiner Tätigkeit als Psychotherapeut das Thema Sex so gut wie nie Thema wurde. Eine Kulturtheorie müsste sich auch damit beschäftigen, ob die anale Phase im Sinne Freuds dieselbe geblieben ist oder sich verändert hat und wie sich dies auswirkt in der Psychotherapie. Dasselbe gilt für die Oralität und ihre gesellschaftlichen Realitä­ ten. Zu Zeiten Freuds war der allgemeine Hunger noch spürbarer, vor allem im Ersten Weltkrieg. In Europa von heute ist der nutritive Überfluss eine Selbstverständlichkeit. Außer während des Schlafens kann immer im potentiellen Übermaß gegessen werden. Essen und Trinken sind zur einfachsten Belohnung geworden. Vielleicht ändert sich damit auch das Verhältnis zur Oralität. Sie ist immer zu befriedigen und damit auch weniger spektakulär, ähnlich wie die gesamte Sexualität. Sie hat das Besondere und Außergewöhn­ liche verloren. Mit einer Kulturtheorie könnte auch angeschaut werden, ob sich insgesamt das Verhältnis Körper – Psyche in den letzten 150 Jahren geändert hat und ob dies Auswirkungen auf Psychotherapie haben kann. Mit einer Kulturtheorie könnte in die Fußstapfen von Erikson getreten werden (vgl. Adams 1982), der davon ausging, dass eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Gesellschaft, die menschliche Psy­ che prägt, in der Psychotherapie von Zeit zu Zeit eine andere Psyche bearbeitet wird, auch von einem anderen Psychotherapeuten, von einer anderen Psychotherapeutin. Wie wirkt sich also die kulturell mitgeformte Persönlichkeit des Psychotherapeuten auf die Behand­ lung aus? Wenn in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie der Sex eine geringere Rolle spielt als zu Freuds Zeiten, bedeutet dies dann, dass das geistige Wesen Mensch wieder die Oberhand behält über den niederen Körper-Menschen? Kehren wir dann zurück zu Des­ cartes und Kant? Gehen wir dann davon aus, dass Denken, Verstand und Wille alles ist, dass wir den inneren Schweinehund besiegen müssen, dass der Geist den Körper unterwerfen muss? Wäre das nicht die alte Arroganz des Geistes, die ja vermutlich scheitern muss? Würde dann die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die große, grandiose, narzisstische Seele der Moderne fortsetzen und damit auch den Machbarkeitsmythos der Moderne: Jedes Lebenspro­

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blem kann bewältigt werden? Die psychoanalytische Vorstellung, dass das Ich ein Leben lang scheitern kann, ist damit ausgelöscht, versuchsweise ausgelöscht. Dieses potenzielle Scheitern könnte auch damit zusammenhän­ gen, dass nach Freud der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist. Es gibt das nie ganz zu erkundende Unbewusste. Der Mensch ist stets mit seinem Nicht-Identischen konfrontiert. Und es wohnt mitten in ihm. Der nach Grandiosität Strebende will das nicht wissen. Er will der perfekte Beherrscher von sich und seinem Leben sein. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss daher darüber befinden, wie sie zum Herr im eigenen Haus steht, wie viel Vorstellung vom Nicht-Herren sie zulässt. Denn dies hat weitrei­ chende Konsequenzen für die Psychotherapie. Wenn ich davon ausgehe, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, dann weiß ich, dass das auch auf mich als Psychotherapeut zutrifft, auf die Patientin selbstredend auch. Vorsichtig, tastend und demütig zu sein, sind dann meine primären Tugenden. Wenn ich als Psychotherapeut vorsichtig, tastend und demütig sein will, kann ich auf die imperiale Deutung und den zu erwartenden Widerstand verzichten und den Psychotherapieprozess als gemeinsa­ mes Tasten begreifen, als gemeinsamen Verstehensprozess. Dann muss ich leider darauf verzichten, allmächtig zu sein. Aber ich bin sehr froh darüber, nicht allmächtig sein zu müssen. Das ist sehr entlastend. Es reicht für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nicht aus, die freie Assoziation einzuschränken und die Reise ins Unbewusste vage zu begrenzen. Wie viel freie Assoziation ist denn möglich? Wie weit soll denn die Reise gehen? Ist das von Psycho­ therapiefall zu Psychotherapiefall unterschiedlich? Richtet sich die Psychotherapeutin nach dem Klienten? Kann er 25 Stunden lang von seinem schlimmen Vater berichten? Hierzu hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie noch keine Antwort gefunden. Thematisiert sie dieses, bleibt sie unbe­ stimmt. Eine Hauptschlagzeile der tiefenpsychologisch fundierten Psy­ chotherapie ist, dass sie multimethodal vorgeht. Sie übersieht dabei höflich, dass es in der Geschichte der Psychoanalyse viele Beispiele multimethodalen Vorgehens gibt. Diese Psychotherapieform sollte sich also nicht ausgeben als die Erfinderin des Multimethodalen. Bereits Freuds Tochter, Anna Freud, verließ sogar ihre Praxis, ging ins Feld, etwa in Erziehungsheime.

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Davon kann die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie über­ wiegend nur träumen. Ihr wäre zu empfehlen, nicht nur die Praxis oder die Klinik als Ort des Arbeitens auszusuchen, sondern in die soziale Realität hineinzugehen, ins Feld, etwa einer Gemeinde, eines Stadtteils, um zu erkunden, welches gemeinsame Leben dort stattfindet, von was dieses bestimmt ist und wie es zu verbessern ist. Auch soziale Prozesse sind vom Unbewussten mitgesteuert. Auch das soziale Feld hat Es-Impulse und Über-Ich-Gebote. Auch das soziale Feld kann konflikthaft sein, aber auch zu Anteilen änderbar. Hier käme es vor allem darauf an, mit sozial Benachteiligten in Kontakt zu kommen, mit denjenigen, die vermutlich niemals eine psychotherapeutische Praxis aufsuchen würden. Der Nachfolger Freuds, Hartmann, fokussiert auf Ich-Leistungen und Realitätsanpassung. Vom Unbewussten und von der prinzipiell konflikthaften Psyche ist bei ihm wenig zu lesen. Insofern ist er der ideale Vorreiter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die ja darauf setzt, den Alltag und die aktuellen Konflikte besser bewältigen zu können. Von der prinzipiell konflikthaften Seele ist auch bei ihr wenig zu vernehmen. Aber so weit ich das überblicke, nimmt diese Psychotherapieform keinen expliziten Bezug zu Hartmann. Es wäre ihr also aufzutragen, dieses nachzuholen. Hartmann schrieb sein Werk im Wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg und nach diesem, also in einer einmalig gewalttätigen Zeit. Es bietet sich eine Interpretation an, dass er gerade wegen dieser ein positives Menschenbild malen musste, um die Hoffnung nicht aufzugeben. Aber er hätte auch zum Schluss kommen können, dass der Mensch massiv konflikthaft ist und dass er böse ist, vom Todestrieb mitbestimmt wird und das nicht zu wenig. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie stellt sich daher die Frage nach dem Menschenbild. Dies muss explizit werden. Es entscheidet über die Behandlungsziele und -erwartungen. Mit Hartmann gehe ich davon aus, dass der Mensch sich gut der Realität anpassen will. Mit Freud bin ich mir nicht sicher, wohin in welchem Ausmaß der Patient, die Patientin tendiert – zum Positiven oder zum Destruktiven. Ist er oder sie eher bestimmt vom Liebes- oder vom Todestrieb? Und wie fügen sich diese beiden im konkreten, alltäglichen Leben?

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Soweit ich dies überblicke, bezieht sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auch nicht auf die Nachfolgerin Freuds, Melanie Klein. Sie geht davon aus, dass sich die Psychotherapeutin, der Psychotherapeut als gutes Objekt zur Verfügung stellen muss, damit der Klient, die Klientin in der Lage ist, negative Selbstanteile zu integrieren. Nur mit dem guten Objekt vor Augen wage ich, mich näher anzuschauen, auch das, was ich bei mir gar nicht sehen will und gerne auf andere Objekt projiziert habe. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat also dieses gute Objekt nicht erfunden. Bereits Melanie Klein hat zum Beispiel herausgearbeitet, dass die psychoanalytische Beziehung nicht nur aus Übertragung, Gegenübertragung und Deutung besteht. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss sich die Frage stellen, inwieweit ihre Verkleinerung der Rolle der Sexualität etwas mit der deutschen Psychoanalyse à la Schultz-Hencke zu tun hat, die die Idee der Freudschen Sexualität fast vollständig vernichtete. Überhaupt muss die tiefenpsychologisch fundierte Psychothe­ rapie klären, wie sie zu den anteilig jüdischen Wurzeln der Psycho­ analyse steht (Blumenberg). Es reicht dann nicht aus zu erklären, dass weniger mit Übertragung, Gegenübertragung gearbeitet wird. Was bedeutet dieses »weniger« konkret? Auf welches Konzept des Unbewussten bezieht sie sich? Auf das Freudianische? Auf das von Jung? Welche Rolle spielt die Sexualität bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen? Wenn Kerr davon ausgeht, dass die Psychoanalyse in Zusam­ menarbeit von Freud und Jung entstanden ist, dann muss die tiefen­ psychologisch fundierte Psychotherapie klären, ob und was sie von Freud, ob und was von Jung hat. Die Moderne schafft den Raum des Privaten. Das, was in einer Psychotherapie besprochen wird, wird vermutlich als das Priva­ teste begriffen. Meiner Psychotherapeutin erzähle ich möglicherweise viel mehr als meiner Frau. Die moderne Seele steht paradigmatisch für das Pri­ vate. Heutige Psychotherapie steht auch paradigmatisch für eine Art besonderer inniger Freundschaft, für die Idee der individuellen Frei­ heit – ich finde in der Psychotherapie heraus, welchen Weg ich gehen will, ich nehme mir dafür Zeit zum Reflektieren, was ich genieße; in

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der Psychotherapie spiele ich nicht Theater, ich bin echt. Zumindest glaube ich das. Alle Arten von Psychotherapien befinden sich im Fahrwasser dieser modernen Seele und deren konstituierende Auswirkungen auf Psychotherapie. Es wäre an der Zeit, dies zu reflektieren und nicht einfach blind fortzusetzen. Diese Idee der modernen Seele und moderner Psychotherapie hat ja eine eindeutig narzisstische Dimension, etwa mit dem gleichsam selbstverliebten Reden und sich Offenbaren in der Psychotherapie vonseiten der Klientin, des Klienten. Und so wäre zu behaupten, dass moderne Psychotherapie nicht nur Narzissmus behandelt, sondern Narzissmus systematisch entstehen lässt. Es wäre an der Zeit, dass sich Psychotherapie ihrer eigenen Geschichte stellt, ihren eigenen Vorläufer, zum Beispiel: – – –

Die Seelenschau Augustinus, aber auch dessen Erkenntnis, dass dem Menschen zu Anteilen seine eigene Seele fremd bleibt. Die Weltfremdheit der Gnosis: Forciert Psychoanalyse und eventuell auch die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Weltfremdheit? Wollen sie das? Die Entstehung der subjektiven Vernunft durch die sogenannten Hexen und den Hexenhammer. Ist das nicht die Basis, ist das nicht eine zentrale Grundlage jeglicher Psychotherapie? Ohne die Idee der subjektiven Vernunft ist Psychotherapie nicht denk­ bar.

Also: Psychotherapie und damit auch die tiefenpsychologisch fun­ dierte Psychotherapie muss sich diese Frage stellen, auf was sie historisch fußt, um besser verstehen zu können, was sie eigentlich ist, und welche Gefahren mit ihr verbunden sein können (Weltfremd­ heit etwa). Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie muss sich fra­ gen, inwiefern sie in einem unübersetzbaren Paradox gefangen ist: ausgerichtet auf aktuelle Probleme und Konflikte, mit dem Ziel, das Leben besser zu meistern, und zugleich eine gnostische Weltfluchtin­ sel sein, um den göttlichen Funken in der Seele wiederzufinden, der es ermöglicht, nur der es ermöglicht, zum fernen Gott aufzusteigen.

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18 Die Zukunft der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Ein kleiner Ausblick

Zu dieser gehört etwa die selbstverständliche Verbindung der tiefen­ psychologisch fundierten Psychotherapie mit der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Seltsamerweise taucht sein Name in den vorzustellenden Standardwerken nicht auf. Seine zweite der drei therapeutischen Basisvariablen, die Empathie, wird zuweilen erwähnt, ohne sie mit ihm in Zusammenhang zu bringen. Es müsste eine Selbstverständlichkeit sein und falls noch nicht, werden, diese Form von Psychotherapie auch mit Rogers zu fundieren. Der systemische Ansatz, etwa im Sinne Watzlawick, Beavin und Jackson, ist nicht minder wertvoll für diese Form von Psychotherapie, weil er eine andere, aber sehr wichtige Perspektive liefert. Nicht mehr das Individuum steht im Mittelpunkt, sondern das System wie zum Beispiel eine Familie. Auch wenn der Patient, die Patientin alleine in Psychotherapie kommt, braucht die Psychotherapeutin, der Psychotherapeut einen Blick dafür, dass ein System gestört sein kann und quasi jemanden als Symptomträger schickt. Die individuelle Verantwortung für ein Leiden relativiert sich damit für ein Leiden. Dies kann für die Patientin, den Patienten sehr entlastend sein. Mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wird eine bessere Bewältigung aktueller Lebensprobleme angestrebt. Warum sollte diese Psychotherapieform nicht einen Blick darauf werfen, wie gesundheitspsychologische Modelle Gesundheit erklären? Eventuell sind sie hilfreich in der strukturierten Behandlung. Selbiges gilt für psychologische Theorien der Verhaltensänderung (Klotter 2020). Wie wir schon erfahren haben, sind die Nachfolgerinnen und Nachfolger Freuds ins soziale Feld hineingegangen, haben sich also nicht hinter Praxis- oder Klinikmauern verschanzt. Selbiges ist der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu empfehlen: das soziale Feld kennenlernen und nicht nur die Menschen, die eine psychotherapeutische Praxis betreten oder in eine Klinik gehen. Es

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18 Die Zukunft der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

gilt vor allem die sozial Benachteiligten kennenzulernen und sie zu unterstützen, auf dass sich die Differenz bezüglich der Lebenserwar­ tung zwischen den sozial besser und den sozial schlechter Gestellten reduziere. Es gilt also soziale Dynamiken kennenzulernen und soziale Strukturen mit zu verändern, gerne auch in der Kooperation mit anderen Disziplinen wie etwa der sozialen Arbeit.

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