Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit: Auf Grund autobiographischer Zeugnisse [Reprint 2021 ed.] 9783112491881, 9783112491874

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Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit: Auf Grund autobiographischer Zeugnisse [Reprint 2021 ed.]
 9783112491881, 9783112491874

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Le religiöse Entwicklung der Tugend in der Reifezeit Mus Grund autobiographischer Zeugnisse Von

Dr. Gerhard Dohne Sto-ieoral in flltenbnrg

Leipzig 3. L. Linrichs'sche L«ch-andlung )Srr

Vorwort. So wertvolle Werke über allgemeine Religionspsychologie auch in letzter Zeit erschienen sind, fehlt doch noch eine psychologische Unter­ suchung der religiösen Jugendentwicklung. Die einzige bisher vorhandene Darstellung ist die des Amerikaners Starbuck, die zwar manches wert­ volle Ergebnis gebracht hat, aber für uns Deutsche nur teilweise zu gebrauchen ist. Sie bedient sich einer anfechtbaren Methode sowohl in der Materialbeschaffung (Fragebogen) als auch in der Erarbeitung der Ergebnisse (Statistik). Sie beschränkt sich im allgemeinen auf Feststellung der Tatbestände und versucht nicht, die tieferen treibenden und hemmenden Kräfte zu erfassen. Bei der Untersuchung eines Lebensprozesses — wie es die Entwicklung ist — kommt es aber weniger auf Darstellung der Erscheinungsformen als vielmehr auf Erfassung des Lebensvorganges an. Ich habe infolgedessen auf eine erschöpfende Schilderung der Zustände verzichtet und versucht, in erster Linie den Lebenszusammenhang, den Entwicklungsrhythmus und die großen Grundrichtungen des Wachstums zu verstehen und die tieferen Gründe für die einzelnen Entwicklungs­ erscheinungen aufzudecken. Ich bin mir dabei wohl bewußt, daß die Ergebnisse z. T. noch Hypothese sind und einer Nachprüfung bedürfen. Aber das ist das Schicksal aller Anfangsarbeiten, und ich bekenne mit Lessing, daß ich zufrieden bin, wenn meine Schrift zwar nicht die Wahrheit bringt, aber der Anlaß ist, daß ein anderer sie findet. Man kann im Zweifel sein, ob psychologische Untersuchung über­ haupt das Wesen der Religion erfaßt. Jedenfalls ist die Berührung mit dem lebendigen Gott nicht einseitig vom Menschen aus zu ver­ stehen. Diese Erkenntnis weist einer religionspsychologischen Untersuchung ihre Grenzen an. In diesem Rahmen aber wird die Kenntnis der Entwicklung wertvolle Aufschlüsse auch für die allgemeine Religions­ psychologie geben können, wie sie z. B. im letzten Kapitel angedeutet werden. Endlich aber hoffe ich, daß die Schrift dem Erzieher einen Dienst tut. Er wird weniger leiden unter der religiösen Entfremdung und der anscheinenden Interesselosigkeit seiner Schüler, wenn er die Notwendigkeit dieser Entwicklung einsieht, und wird auch in den anderen Zeiten dem werdenden Menschen dann leichter zu sich selbst und Gott helfen können. Verstehen öffnet den Weg in die Seele des Menschen. Indem das Buch verstehen hilft, darf es vielleicht auch mithelfen, daß lebendige Religion geschaffen wird. Altenburg, den 27. August 1922.

Gerhard Bohne.

Inhaltsverzeichnis.

Sette

Einleitung.................................................................................................

1

I. Kapitel: Die Kindheitsreligion.................................................... 1. Das religiöse Erlebnis der Kindheit.....................................

6 9

2. Kindheitsreligiosität als Phautafietätigkeit.......................... 3. Religionzerstörende Erlebnisse in der Kindheit................... .

15 17

II. Kapitel: Die Übergangsperiode ....................................................

19

III. Kapitel: Der erste Höhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Zeit des Sturms und Drangs....................................................... 1. Entwicklungfördernde Kräfte....................................................

31 34

2. Entwicklungshemmungen............. ............................................. 3. Gesamtcharakter der Periode....................................................

69 82

IV. Kapitel: Die Periode der Entfremdung und der Berührung mit den anderen Wertgebieten .............................................................

88

V. Kapitel: Der zweite Höhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Zeit der strukturellen Klärung....................................................•. 102

Verzeichnis der erwähnten Autobiographien

.................. * . 116

Einleitung. Die Behandlung des Problems der religiösen Jugendentwicklung stößt auf außerordentliche Schwierigkeiten. Die Jugend läßt schon an sich nicht gern in ihr Inneres sehen, am allerwenigsten aber in die Tiefen, in denen die Religion wurzelt. Ottilie Wildermuth übergeht in ihrer Lebensgeschichte gerade die religiöse Entwicklung mit den Worten: „Es ist mir nicht gegeben, den inneren Lebensgang, das Sehnen und Irren, das Suchen und Finden, das schon in der Kindesseele beginnt, zu schildern. Gottes Wege sind stille Wege". Und man schweigt nicht nur über das Innenleben, oft sucht maus geradezu unkenntlich zu machen. Deshalb ist es schwierig, das Material für die Untersuchung der Jugendreligiosität zu gewinnen. Von den drei Möglichkeiten, Verwendung von Autobiographien, Versendung von Fragebogen und eingehende Beobachtung der Kinder durch Eltern und Erzieher, mußte der letzte Weg ausscheiden und gegen die Ver­ wendung von Fragebogen richteten sich schwerwiegende Bedenken. Diese Art des Ausfragens erscheint — uns Deutschen vielleicht besonders — taktlos, wo es sich um die zartesten und feinsten Angelegenheiten der Seele handelt. Dazu kommen eine Anzahl Fehlerquellen. Der Befragte, der sich als Gegenstand einer religionspsychologischen Untersuchung weiß, ist voreingenommen. Er wird bei der Beschreibung seines Lebens den Schwerpunkt ins Religiöse legen, während er vielleicht gar nicht da lag. Manches wird er verschweigen. Es werden begriffliche Unklarheiten ein­ treten und den Wert des Berichtes herabmindern. Der Hauptfehler aber ist, daß man glaubt, den Menschen mit wenigen Fragen so kennen zu lernen, daß man seine innersten Erlebnisse beurteilen kann. So bleibt uns noch die Anwendung von Autobiographien. Hier dürfen wir mit den Menschen gehen, uns in sie hineinversenken und ihr Werden beobachten. Wir bekommen die gewünschten Antworten, ohne mit unzarter Hand in das Heiligste hineinzufassen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die mit klarem Wollen und innerer Sammlung ihr Innerstes vor uns aufschließen. Und wir können erwarten, daß im all­ gemeinen nur der eine Autobiographie schreibt, der von sich weiß, daß Bohne: Religiöse Entwicklung,

1

2 ihm das Wort als Ausdruck seiner Gedanken zur Verfügung steht und der sich einmal in der Stille klar geworden ist über sein Leben und über

das, was er zu sagen hat. Und wenn er auch mit eignen Worten redet, so wird es doch nicht schwer sein, begriffliche Unklarheiten bei der Benutzung solcher Berichte zu vermeiden. Endlich sind die Berichte unbefangener und legen nicht unserm Wunsch entsprechend den Ton auf die religiöse Seite des Lebens, so daß wir auch das Verhältnis der Religiosität zu den anderen Seiten des seelischen Lebens erkennen können.

Freilich liegen auch hier noch eine Reihe von Fehlerquellen, die aber für alle Verwendung von Berichten gelten. Wir bekommen nur ein rückschauendes Bild des Werdens. Die religiösen Erscheinungen werden uns nicht original gegeben, sondern sie sind bereits gedeutet von dem, der sie erlebt hat. Dann ist der Verfasser bestrebt, die großen Zusammenhänge seines Lebens zu geben, er sucht die einzelnen Erlebnis­ ausschnitte sinnvoll zu verknüpfen und Entwicklungen zu schildern, deren er sich damals nicht bewußt war. Damit formt er die Jugenderlebnisse bereits im zukünftigen Lebensstil. Viele bemühen sich auch gar nicht, objektiv zu sein. Aber diese Schwierigkeiten sind nicht zu umgehen. Bei Verwendung von Tagebüchern hat man die Erscheinungen zwar original, muß sie aber dann selbst deuten und verknüpfen. Da ist die Gefahr groß, daß der Untersuchende in alle Berichte seine Anschauung hineindeutet. Wo viele deuten ist weniger Einseitigkeit. Dann hat eine Entwicklungsschilderung ja gerade die Erlebniszusammenhänge im Auge und ist dabei gezwungen, sich auf die Deutung dessen zu stützen, der von innen heraus sein Leben überschaut. Diese muß dann kritisiert werden. Das kann aber nur in verstehender seelischer Nachbildung von religiösen Menschen geschehen. — Da hier die Entwicklungen nicht im Zusammenhang, sondern in einzelnen Erlebnisausschnitten gegeben sind, scheint es, als seien die Zusammenhänge verloren gegangen. Durch ein Register ist die Möglichkeit gegeben, sich ein Gesamtbild der einzelnen Entwicklungen zu verschaffen. Von etwa 100 Autobiographien gaben ungefähr 10 wertvolle Schilderungen der religiösen Entwicklung, etwa 20 andere brachten wenigstens teilweise gute Angaben, ohne ein klares Gesamtbild der Ent­ wicklung zu zeichnen. Vielleicht führen aber wenige tiefe Darstellungen besser in das Verständnis der Entwicklung ein, als viele flache. Deshalb wurde auch auf jede Art von Statistik verzichtet, die für das Verständnis religiöser Erscheinungen besonders wertlos ist. Auch eine Scheidung zwischen männlicher und weiblicher Entwicklung mußte zunächst wegen der

3 geringen Zahl der Berichte unterbleiben.

Ebenso wurde religiöse Typen­

bildung versucht, aber dann grundsätzlich aufgegeben. Die Gründe werden in der Arbeit nachgewiesen. Die Verhaltungsweisen erwachsener Menschen kann man klassifizieren, die in der Entwicklung wirksamen Grundkräste sind nicht so klar voneinander zu scheiden. Um ein einheitliches Material zu gewinnen, haben wir uns aus­ schließlich auf deutsche Autobiographien des 19. Jahrhunderts beschränkt, da die Erscheinungen durch Zeit und Kulturkreis wesentlich beeinflußt werden. Aus diesem Grunde durften die Begriffe wie Religion usw. nicht zu weit gefaßt werden. Sie mußten sich ungefähr nach dem Sprach­ gebrauch der Erzähler richten. Diese stehen aber alle unter dem ent­ scheidenden Einfluß christlich-religiöser Kultur. Auch die nicht christlich

Denkenden befinden sich doch in der religiösen Höhenlage des Christen­ tums — der geistigen Erlösungsreligion —, und nehmen daher ihre Begriffe. Das Wort Religion wird in dreifachem Sinne gebraucht. Erstens bedeutet es die objektive Tatsache der Gottgebundenheit des Menschen, zweitens die subjektive Bejahung dieser Tatsache durch den Menschen, die Anknüpfung der Gottesgemeinschaft, und drittens die Ausdrucksform, die sich der Mensch in Kult, Dogma und Sittlichkeit für sein Verhältnis zu Gott schafft. Die Religion im ersten Sinne kann nicht Gegen­ stand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein, ist aber selbstverständliche Voraussetzung dieser Arbeit. Uns beschäftigt vor allem die Religion im zweiten Sinne. Die subjektive Religion entsteht, vom Menschen aus betrachtet, aus dem Bedürfnis nach Befriedigung der tiefsten Lebenssehnsucht. Das ist nicht aus der gegebenen Welt entstanden, und wird deshalb auch nicht von ihr befriedigt, sondern von einem Höheren, vom Göttlichen aus. Die Seite unseres Wesens, der diese Sehnsucht entspringt, ist die religiöse Anlage. Sie liegt mitten in Zentrum unserer Persönlichkeit, da sie die All-Befriedigung unseres Wesens sucht. „Religion" hat der Mensch, wenn er durch ein lebendiges Verhältnis zum Göttlichen — in der höchsten Form durch volle Gemeinschaft — die gesuchte Lebens­ befriedigung ganz oder teilweise erlangt hat. Unter „Lebensbefriedigung" ist dabei aber nicht „Glück des diesseitigen Lebens" gemeint, sondern Erfassung des Lebens im höheren und höchsten, im ewigen Sinne. Religiöses Leben ist vom Göttlichen durchwaltetes, unter dem Gesichts­ winkel der Ewigkeit gelebtes Leben. Seine Entwicklung hat zwei Seiten: Einmal umfaßt sie die Anknüpfung des Verhältnisses zum Göttlichen,

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da nur dieses uns den ewigen Sinn des Lebens und die höchsten Lebenskräfte zu geben vermag; dann aber ordnet sich in ihr auch das Verhältnis zur umgebenden Welt und die eigene praktische Lebensaufgabe. Und zwar klärt sich das Verhältnis zu beiden, Gott und Welt zugleich, im zentralen religiösen Erlebnis, dem der Gottesgemeinschaft, da sich dadurch der Mensch in den höheren Zusammenhang der ewig-zeitlichen Welt einfügt. „Religiöses Erlebnis "/ist aber auch jedes Erlebnis, das durch einen unmittelbaren Seeleneindruck von der Realität einer ewigen Welt und eines höheren Zusammenhangs überzeugt.

Die seelische Tätigkeit, mit der die Beziehung zum Göttlich-Ewigen hergestellt wird, ist die religiöse Funktion, die also begrifflich von der Anlage unterschieden werden kann. Tatsächlich äußert sich die An­ lage aber nur in der Funktion. Deshalb sind beide im Sprachgebrauch oft nicht voneinander geschieden. Die religiöse Funktion ist eine Tätigkeit oder Verhaltungsweise der Gesamtpersönlichkeit und deshalb komplexer Art. Ihre Grundfunktionen, Denken, Fühlen und Wollen, die ja allen seelischen Anlagen gemeinsam sind, werden dadurch „religiös", daß sie sich — bewußt oder unbewußt — auf ein religiöses Objekt richten und dem aus der religiösen Anlage fließenden inneren Leben entspringen. Ein Ge­ danke oder Gefühl sind also noch nicht dadurch religiös, daß sie sich etwa mit Gott beschäftigen, sondern erst dadurch, daß sie ein Lebensausdruck des gottsuchenden oder gotthabenden Zentrums der Persönlichkeit sind1. Das Gotteserlebnis ist ein unmittelbar mit dem Seelengrund oder dem Zentrum der Persönlichkeit aufgenommener Eindmck, in dem der Mensch der Realität des Göttlichen inne wird. Aktiv ist der Mensch dabei insofern, als er sich dem Eindruck aufschließt, ihn sucht und bewußt

ergreift, und vor allem darin, daß er ihn in Lebensgestaltung umsetzt. Im Gotteserlebnis liegen meist folgenschwere Entscheidungen. Der Be­ wußtseinszustand während des Erlebnisses ist vielleicht am besten mit „gefühlsmäßigem Denken", oder „Schauen" umschrieben, doch kann ihn letzten Endes nur der religiöse Mensch nachfühlen. Dem nichtreligiösen Menschen kann er in seiner vollen Eigenart nicht geschildert werden. Da es sich hier um eine Darstellung der Entwicklung des religiösen Lebens aus seinen letzten, keimhaften Anfängen handelt, gehören hierher auch die leisen Ahnungen, die tastenden Griffe nach dem vielleicht nur

dunkel empfundenen „Höheren", soweit sie erkennen lassen, daß sie An­ fangsstadien sind zum Erfassen Gottes und des Ewigkeitslebens. Da 1 Zur Charakteristik des spezifisch Religiösen vgl. Rudolf Otto: „Das Heilige".

5 Gott der Urgrund allen Seins ist, trägt das Suchen nach ihm oft die Form des Suchens nach einer Lebensgrundlage, nach Lebensinhalt, oder auch nach einem höchsten Lebenswert. Deshalb müssen wir innerhalb der Jugendentwicklung auch das Suchen religiös nennen, das ohne klares Ziel nach einem höchsten Wert schlechthin strebt. Sobald aber der höchste Wert klar nicht im Religiösen, sondern etwa in Geldbesitz, Kunst, Glück erblickt wird, kann das Streben nach dem höchsten Wert nicht mehr religiös heißen. Demnach wandelt sich im Laufe der Arbeit der Begriff des religiösen Menschen. Zu Beginn der Pubertätszeit rechnen alle die zu den religiösen Menschen, die klar das Göttliche oder unklar irgend einen höchsten Lebenswert und -inhalt suchen, während beim Abschluß der Entwicklung nur noch die religiös zu nennen sind, die im Göttlich-Ewigen Lebens­ inhalt und Lebenswert erkannt haben. Die Zeit, in der der Mensch normalerweise seine Persönlichkeit gestaltet und sein Lebensziel erfaßt, ist die Pubertätszeit. Dem Er­ wachen der Zeugungskraft, durch die der Mensch in den höheren Zu­ sammenhang der Natur hineingestellt und der Erhaltung des Geschlechtes dienstbar gemacht wird, entspricht während dieser Zeit ein seelischer Reifungsprozeß. Ohne die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen Körper und Geist lösen zu wollen, untersuchen wir die Ent­ wicklung hier allein von der seelischen Seite aus. Und da hat Spranger mit Recht das „Sich-selbst-erfassen und Nach-Ausdruck-ringen der Seele, die sich losgelöst hat zu Sonderwesen und innerem Sein" als den Mittelpunkt bezeichnet, von dem aus man das Alter der Pubertät allein erfaßt. Wenn auch das Kind schon Ichbewußtsein hatte, so war das doch noch nicht klar vom umgebenden Weltganzen gelöst. Jetzt scheidet der Mensch aber klar zwischen beiden. Dabei wird er sich seiner Individualität bewußt und sucht sie zu behaupten und zu formen. Zu­ gleich sieht er sein Leben als ein zusammenhängendes Ganzes und be­ ginnt es mit Bewußtsein zu bauen. Der eigentliche, seelische Mensch wird geboren. In doppelter Richtung entwickelt sich dieses neue Leben. Der junge Mensch will einmal die Dinge in sich aufnehmen und zum persönlichen Besitz machen, anderseits will er den Dingen seine eigene Individualität aufprägen und sie zum Ausdruck seines inneren Selbst machen; denn nur dadurch gewinnt sein Leben die erstrebte Einheit. Er beginnt zu reflektieren, und indem er so seinen inneren Besitz be­ trachtet, stößt er auf Vieles, das ungeklärt nebeneinander ruht und

6 das er von anderen lediglich auf Autorität hin übernommen hat. Manches kann er nun einfach zu seinem bewußten Besitz machen, so allen reinen Wissensstoff, der auf den allen Menschen gemeinsamen logischen Gesetzen beruht. Aber alle Erlebniswerte, die er von anderen auf Grund ihrer Autorität übernommen hat, verlieren ihren Wert. Nur das eigne Selbst gibt fortan den Dingen ihren Wert, nur das eigne Erlebnis ist maßgebend.

Da sich aber das zur Nachprüfung jener Werte erforderliche Selbst­ erlebnis nicht willkürlich herbeirufen läßt, muß es in der jugendlichen Seele zu mannigfachen Konflikten kommen. Diese Konflikte werden naturgemäß auf dem religiösen Gebiete am stärksten sein. Denn hier ist die eigne Persönlichkeit am meisten an der zu fällenden Entscheidung interessiert, da die Bildung des religiösen höchsten Wertes zugleich die Lebensrichtung entscheidend bestimmt. Ist das aber der Fall, so sollte gerade die religiöse Entwicklung auch im Mittelpunkt des psychologischen Interesses an der Entwicklung

überhaupt stehen. In ihr bildet sich die Persönlichkeit, von ihr aus kann man also einen Gesamtdurchblick durch die menschliche Entwicklung erhalten. Wir wollen im folgenden versuchen, aus dem immerhin mangelhaften Material einen solchen Überblick zu gewinnen.

I. Kapitel.

Die Kindheitsreligion. Bei dem Versuch, die religiöse Entwicklung der Pubertätszeit zu zeichnen, drängt sich als erste Frage die nach dem Anfangspunkt dieser Entwicklung auf. Seit Rousseau ist ja die Ansicht weit verbreitet, daß erst mit dem Beginn der sexuellen Pubertät die religiöse Anlage er­ wache und daß den Äußerungen kindlicher Religiösität jeder Wert ab­ zusprechen sei. Die Beweisgründe dafür scheinen nur allzuklar auf der Hand zu liegen. Das Kind ist in seinem religiösen Besitz, in seinem Erlebnis völlig abhängig von seiner Umgebung. Sind die Eltern religiös, so lernt das Kind beten und den „lieben Gott" lieben. Die Gottesvorstellung richtet sich ebenfalls nach der Belehrung. Wird dem Kind häufig mit dem strafenden Gott gedroht, so erhält er nach und nach ein schreckliches,

furchterregendes Aussehen, wird Gott ihm als der liebende hingestellt, so trägt sein Angesicht für das Kind freundliche Züge. Je nachdem

6 das er von anderen lediglich auf Autorität hin übernommen hat. Manches kann er nun einfach zu seinem bewußten Besitz machen, so allen reinen Wissensstoff, der auf den allen Menschen gemeinsamen logischen Gesetzen beruht. Aber alle Erlebniswerte, die er von anderen auf Grund ihrer Autorität übernommen hat, verlieren ihren Wert. Nur das eigne Selbst gibt fortan den Dingen ihren Wert, nur das eigne Erlebnis ist maßgebend.

Da sich aber das zur Nachprüfung jener Werte erforderliche Selbst­ erlebnis nicht willkürlich herbeirufen läßt, muß es in der jugendlichen Seele zu mannigfachen Konflikten kommen. Diese Konflikte werden naturgemäß auf dem religiösen Gebiete am stärksten sein. Denn hier ist die eigne Persönlichkeit am meisten an der zu fällenden Entscheidung interessiert, da die Bildung des religiösen höchsten Wertes zugleich die Lebensrichtung entscheidend bestimmt. Ist das aber der Fall, so sollte gerade die religiöse Entwicklung auch im Mittelpunkt des psychologischen Interesses an der Entwicklung

überhaupt stehen. In ihr bildet sich die Persönlichkeit, von ihr aus kann man also einen Gesamtdurchblick durch die menschliche Entwicklung erhalten. Wir wollen im folgenden versuchen, aus dem immerhin mangelhaften Material einen solchen Überblick zu gewinnen.

I. Kapitel.

Die Kindheitsreligion. Bei dem Versuch, die religiöse Entwicklung der Pubertätszeit zu zeichnen, drängt sich als erste Frage die nach dem Anfangspunkt dieser Entwicklung auf. Seit Rousseau ist ja die Ansicht weit verbreitet, daß erst mit dem Beginn der sexuellen Pubertät die religiöse Anlage er­ wache und daß den Äußerungen kindlicher Religiösität jeder Wert ab­ zusprechen sei. Die Beweisgründe dafür scheinen nur allzuklar auf der Hand zu liegen. Das Kind ist in seinem religiösen Besitz, in seinem Erlebnis völlig abhängig von seiner Umgebung. Sind die Eltern religiös, so lernt das Kind beten und den „lieben Gott" lieben. Die Gottesvorstellung richtet sich ebenfalls nach der Belehrung. Wird dem Kind häufig mit dem strafenden Gott gedroht, so erhält er nach und nach ein schreckliches,

furchterregendes Aussehen, wird Gott ihm als der liebende hingestellt, so trägt sein Angesicht für das Kind freundliche Züge. Je nachdem

7 empfindet es auch Furcht oder Liebe. Kritiklos und vertrauend scheint es jede ihm übermittelte Idee aufzunehmen. Ja, oft liegen die wider­ sprechendsten Dinge in seinem Inneren friedlich nebeneinander. Es scheint danach berechtigt, das gesamte religiöse Verhalten des Kindes auf Nach­ ahmung oder Belehrung zurückzuführen. Ein oberflächlicher Blick in die Selbstlebensbeschreibungen scheint das zu bestätigen. Eine Charakteristik der Eltern gibt fast immer zugleich ein klares Bild von der Kindheits­ religion des Erzählers. Aber nicht nur jeden Selbstwert spricht man der Kindheitsreligion ab, man bestreitet auch, daß sie irgend einen Wert für die Entwicklung habe. Fallen nicht alle die kindlich-religiösen Vorstellungen wie ein Kleid von dem geistig erwachenden jungen Menschen ab? Was be­ deutet es noch für ihn, daß er sich Gott als ehrwürdigen alten Mann in weißem Barte vorstellte, daß ihm Himmel und Erde bevölkert waren mit geflügelten Engelsgestalten? Er lächelt über all das und kann wie Lilly Braun davon wohl als von der „Märchenwelt der Kindheits­ religion" sprechen. Es scheint keine Brücke von jenem Zustand zu seinem jetzigen hinüberzuführen. Die Sache liegt doch nicht ganz so einfach. Wir dürfen deshalb — wenn wir auch kein abschließendes Bild der Kindheitsreligion geben wollen — an diesen Fragen nicht vorübergehen. Denn es liegt in ihnen die andere Frage nach dem Beginn der religiösen Entwicklung überhaupt. Die Quellen fließen hier zwar ziemlich spärlich, doch ge­ statten sie immerhin einen genügenden Einblick, selbst wenn wir bedenken, daß die Berichte über die eigene Kindheit mit noch größerer Vorsicht aufzunehmen sind, als die über das übrige Leben. Nehmen wir zunächst den ganz allgemeinen Eindruck! Da muß es an der oben skizzierten Anschauung schon irre machen, wenn wir in den Äußerungen kindlicher Religiosität überhaupt Spuren von Selb­ ständigkeit und Selbsttätigkeit begegnen. Davon erzählt Gottfried Keller im „grünen Heinrich". Er zeigt zunächst die ganze Abhängigkeit des Kindes von der Mutter. Sie ist Rationalistin, es fehlt ihr alle religiöse Wärme. Ihrem Sohn flößt sie nur Achtung vor Gott und Vertrauen zu seiner Führung ein und Keller muß zugeben: „Ich kann nicht sagen, daß nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers bekommen hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Emp­ findungen oder tiefgehenden Gemütsfreuden erfüllte". Aber neben dieser Abhängigkeit steht doch eine eigenartige Selbständigkeit, die jener Theorie der Nachahmung widerspricht. „In dem Maße, als ich Gott deutlicher

8 faßte und sein Wesen mir unentbehrlicher wurde, begann sich mein Um­ gang mit Gott verschämt zu verschleiern, und als meine Gebete einen gewissen Sinn erhielten, beschlich mich eine wachsende Scheu, sie laut herzusagen." Eines Tages will die Mutter das bisher nicht geübte Tischgebet einführen. Aber als das Kind das Gebet laut nachsprechen soll, bleibt es stumm, auch als es zur Strafe nicht essen darf. „Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Zeremonie, welche mir unbesieglich widerstand. Es war nicht Scham vor der ,Welt'. Wie sollte ich mich vor der Mutter schämen? Es war Scham vor mir selber. Ich konnte mich nicht sprechen hören und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten." — Er verschleiert also nicht nur sein Innenleben vor anderen, sondern weigert sich bereits als Kind ganz entschieden, eine bestimmte religiöse Handlung der Mutter, die seinem Empfinden widerspricht, nachzuahmen. Diese Tatsache steht keineswegs vereinzelt da. Ähnlich berichtet Karl Gerok von sich, er habe eine Zeitlang alles, was man ihm von Gott und Welt gesagt hatte, für Fabeln gehalten, hinter denen eine ganz andre Wirklichkeit stecke. Religiös toter Katechismusunterricht wird abgelehnt von G. Keller, Fr. Paulsen, Heinrich Dräger, das religiös unechte Ver­ halten einer Religionslehrerin wird abstoßend empfunden von Lilly Braun. Schon diese Selbständigkeit in der Ablehnung ist geeignet, die Theorie der Nachahmung zu erschüttern. Noch mehr geschieht das durch die Erkenntnis, daß die Kindheitsreligion von erheblicher, z. T. sogar von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Menschen ist, denn wenn die Religiosität der Kindheit auf die der späteren Zeit gewisse Wirkungen ausübt, so ist der Beweis der Kontinuität der Entwicklung erbracht. Ja die Kindheitsreligion muß auch einen gewissen Selbstwert besitzen, da sie der Mensch in seinem späteren Leben als Erlebnisfaktor gelten läßt. Es wäre damit erwiesen, daß die religiöse Anlage bereits in der Kindheit, wenn auch in kindlicher Form tätig ist, und nicht erst zur Zeit der sexuellen Pubertät erwacht. Als wichtigstem Einwand wäre dabei immer dem zu begegnen, daß es sich bei diesen Erscheinungen religiösen Eigenlebens um Vorläufer der Pubertät handelt. Bettachten wir die Kindheitsreligion unter den beiden Gesichts­ punkten, welchen Selbstwert und welche Bedeutung für die Entwicklung sie hat, müssen wir drei Gmppen von Erscheinungen unterscheiden.

9 1. Das religiöse Erlebnis der Kindheit. Eine Reihe von Autobiographen berichtet von einem ausgesprochen religiösen Erlebnis, bezw. Leben in ihrer Kindheit, das nur denkbar ist bei der Annahme bereits erwachter Selbsttätigkeit der religiösen Anlage.

Malvida v. Meysenbug erzählt: „Wir erhielten keine sogenannte religiöse Erziehung. Ich erinnere mich nicht, wer mir zuerst von Gott sprach und mich ein kleines Gebet lehrte... Ich für meinen Teil befolgte, ohne es zu wissen, das Gebot Christi, welches besagt, das man allein sein muß, wenn man recht beten will. Jeden Abend, wenn ich im Bett lag und keinen anderen Vertraute» hatte, als mein Kopfkissen, wieder­ holte ich leise für mich mein kleines Gebet mit der Andacht des wahren Glaubens. Niemand wußte etwas davon". Daneben berichtet sie von Regungen des Gefühls, die dem religiösen zum mindesten verwandt sind:

„Das Gefühl der Ehrfurcht war mir eingeboren. Obwohl mich nie jemand zum Kultus anhielt, hatte ich doch fast einen Kult der Verehrung für Mutter und ältere Schwester". Danach scheint ihre religiöse Anlage, vor allem nach der Seite des Gefühls, bereits wach zu sein. Die Kindlichkeit zeigt sich nur darin, daß als religiöse Objekte neben Gott auch Mutter und Schwester und später die Helden des Altertums stehen, daß also die religiöse Anlage sich vornehmlich noch an das Sinnenfällige wendet. Wichtig ist, daß diese Seite der religiösen Anlage, die jetzt wach ist, auch in der späteren Entwicklung ausschlaggebende Bedeutung behält. Der Schwerpunkt ihrer Religiosität liegt auch später ganz auf dem Gefühl, nicht auf dem Verstand. So zeigt die Kindheits­ religion schon im Keim den späteren Menschen. Scheint bei Malvida v. Meysenbug das Erlebnis ganz aus ihrem Inneren zu fließen, so werden die verschiedenen Quellen des Erlebnisses bei Christine Holstein klarer. „Wenn ich hinab lausche in meine Kindheit, wann das große Wort ,Gott' zum ersten Male gewaltig an mein Herz schlug, da sehe ich vor mir unsre Kinderstube. Vor den Fenstern liegt der schwarze Winterabend, und wir lauschen unserer Kinderfrau, die uns mit feierlich erhobener Stimme einen geheimnisvollen Vers vorsagt: „Wenn der jüngste Tag wird werden... da kommt der liebe Gott gezogen auf einem schönen Regenbogen. Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn und vor Gottes Gerichte gehn." — „Noch ein anderes Bild taucht vor mir auf, ein Gewitterbild. Die Mutter hat mich angewiesen, ein Gewitterlied aus dem Gesangbuch zu lesen. Und während ich das Lied drei- und viermal mit Bangigkeit wiederhole, Hagelkörner an das

10 Fenster prasseln und draußen das Unwetter weiter tobt, sehe ich in meinem Geiste Gott, hocherhaben, von Feuerflammen umlodert über den Wolken thronen und mit seinen mächtigen Augen in schrecklicher Majestät auf die zitternden Menschen niederschauen. — Und so hat sich die Gestalt Gottes meiner Kinderseele eingeprägt, als Weltenrichter, Herr des Himmels und der Erde. Nie würde ich gewagt haben, das Walten dieses Gottes zu kritisieren. Selten wählte ich den Ausdruck ,lieber Gott', — »großer Gott, guter Gott, Gott im Himmel', sagte ich in meinen Gebeten. Nie, soviel mir erinnerlich ist, bin ich mit den kleinen Nöten meines Kinder­ alltags zu diesem Gott gekommen." Das erste Erlebnis scheint noch vor der Schulzeit, das zweite nicht allzulange nach Beginn derselben gelegen zu haben. — Die beiden von außen kommenden Anregungen nimmt das Kind mit lebhafter Phantasie auf, der spezifisch religiöse Ton des Erlebnisses aber, daß in ihm „das Wort,Gott' gewaltig an ihr Herz schlägt", beweist, daß die religiöse Anlage bereits wach ist, die im ersten Falle als ehrfürchtiger Schauer, im zweiten als vor dem Göttlichen erzitterndes Kreaturgefühl sich äußert. Auch hier beweisen die späteren Erscheinungen der Pubertätszeit, die diesen ersten Eindrücken vielfach gleichen, die Kontinuität der Entwicklung. Bemerkenswert ist bei Christine Holstein auch das frühe Wachsein des Gewissens. „Ich muß sagen, daß ich in meinem ganzen späteren Leben nie wieder von einer so dumpfen und nagenden, tiefen und leiden­ schaftlichen Reue gepeinigt worden bin, wie über die Vergehen meiner Kinderzeit, mich niemals wieder so lebhaft einem Höheren gegenüber verpflichtet fühlte ,gut' zu sein, niemals wieder so heftige Kämpfe aus­ gefochten habe, wie damals in meiner kindlichen Seele." Die Kämpfe werden nicht von außen, durch eindringliches Vorhalten ihrer Sünden veranlaßt, sondern wachsen ganz aus ihrer Anlage heraus. Das Ge­ wissen wird in ihrer Phantasie zu einer Frauengestalt, die ihr ihre Schuld vorhält und sie mahnt, zu bekennen. — Diese letzte Tatsache zeigt, daß es sich noch um ein frühes, kindliches Stadium ihrer Ent­ wicklung handelt, während anderseits Reue und Gewissenskämpfe ihre Selbständigkeit beweisen. Vielleicht am klarsten wird die Bedeutung der Kindheitsreligion für das ganze spätere Leben bei Otto Funke. Das Kind wächst in lebendig religiöser Umgebung auf. Vor allem die Mutter ist eine Persönlichkeit von starkem religiösen Leben. Der Knabe hat ein fröhliches Gemüt und einen elastischen, nach Selbständigkeit strebenden Geist, ist aber in seiner Jugend viel kränklich. Er steht deshalb ganz unter dem

11 Einfluß seiner Mutter. Von ihr sagt er: „Mein geistiges und geist­ liches Erbteil habe ich durchaus von der Mutter empfangen. Sie hat ihren Geist in einer absonderlichen Weise in den meinen hineingebildet und hineingeprägt. Es ist ein unschätzbares Glück, wenn man an der Seite eines Menschen wandeln darf, der ein wirkliches Leben mit Gott führt und durch solch ein gottinniges Leben glücklich, friedereich und

tugendreich ist. Der fortwährende Anblick eines solchen Menschen, der sich beugt vor einer unsichtbaren Macht und der in Sonnentagen und Sturmestagen aus unsichtbaren Quellen schöpft, — dieser Anblick schafft zunächst ein großes Verwundern, ein unbewußtes Staunen in einer Menschenseele, zumal in einer Kindesseele. Er schafft aber auch allmählich und unmerklich eine tiefe Überzeugung von der Realität einer unsicht­ baren und ewigen Welt. Nichts sonst kann diese Überzeugung schaffen,

keine Theologie, keine Beredsamkeit. Es ist nämlich unmöglich, daß hinter einem solchen Leben ... nicht gewaltige Realitäten und göttliche Urkräfte stehen, die stärker sind als dieses Leben. Natürlich macht sich das Kind das nicht klar, aber dennoch begreift es das, instinktiv, unmittelbar. Jede Kindesseele wird durch einen Anschauungsunterricht, d. h. durch alles, was auf seine Seele einstürmt, bestimmt". Unter dem Einfluß dieserMutter verlebt Funke also seine Jugend. Sie erzählt ihm die biblischen Ge­ schichten, sie betet mit ihm und lehrt ihn in allem Gott erkennen und sich seiner Gegenwart stets bewußt sein. Der Knabe erlebt auch seiner­ seits Kraftwirkungen Gottes in Gebetserhörungen: Er darf wegen seiner Krankheit keinen Pfannkuchen essen und beneidet deshalb seine Geschwister. Da hilft ihm Gott auf sein Gebet hin, den Neid zu überwinden. „Ich gewann", sagt er, „hier zum ersten Male die Überzeugung, daß Gott mich, gerade mich erhört habe." So führt er, allerdings ganz unter Anleitung und Einfluß der Mutter, ein lebendiges religiöses Leben. Daß in dieser starken Ausbildung der religiösen Anlage keine Vergewaltigung liegt, sagt Funke selbst: „Kirchengehen und Langeweile waren aber für mich noch lange Jahre dasselbe". Er sträubt sich dagegen und wird auch nicht dazu gezwungen. Nur das von der Mutter gebotene Christen­ tum wirkt, nur in der von ihr vermittelten Welt lebt er, ein Zeichen, daß sie es verstand, psychologisch auf ihn einzugehen. Gerade hier scheint die Kindheitsreligion zunächst ganz Nachahmung zu sein. Das Erlebnis bewegt sich völlig in den von der Mutter vorgezeichneten Bahnen. Und doch wäre es ganz falsch, es lediglich damit zu erklären. Wo die Grenzlinie läuft zwischen wertloser kindlicher Nachahmung und selbständigem Erleben, ist zwar in diesem Falle, wie

12 in manchem anderen, nicht genau festzustellen, einiges läßt sich aber doch sagen. — „Jede Kindesseele wird durch einen Anschauungsunterricht, d. h. durch alles was auf seine Seele einstürmt, bestimmt" und alles Leben — vor allem das religiöse — entzündet sich nur an anderem Leben. Berücksichtigt man das, dann erscheint das Verhalten Funkes nicht als Nachahmung, sondern als Nacherleben des mütterlichen Lebens. Die Mutter ist ihm nicht Vorbild, sondern geradezu Erlebnis. An ihr entzündet sich seine religiöse Anlage, wird durch sie genährt, gefördert, emporgebildet. Kindlichkeit wäre lediglich darin zu erkennen, daß Funke dem religiösen Einfluß wenig oder gar keinen Widerstand entgegensetzt, und daß seine religiöse Anlage sich sehr eindrucksfähig und bildsam er­ weist. Anderseits ist es kein Beweis gegen den Wert seines religiösen Lebens, daß er fast seine gesamte religiöse Nahrung von der Mutter erhält; denn der bei weitem größere Teil auch der erwachsenen Menschen würde ohne von anderen kommende religiöse Nahrung verkümmern. Nur die religiösen Genien schaffen den größeren Teil ihres religiösen Besitzes unmittelbar aus sich und ihrem Gotteserlebnis. Funkes Anlage ist aber auch bereits im kindlichen Alter einer hohen Emporbildung fähig, bittet er doch Gott in seiner Krankheit nicht um Gesundheit, sondern um Über­ windung des Neides. Ja, er vermag auch unmittelbare Kraftwirkungen Gottes zu erleben, die rein geistiger Art sind. Man mag sich die Wirkungen des Gebets vorstellen wie man will, so muß man doch zugeben, daß ein hohes Maß von Selbsttätigkeit vorliegt, wenn ein Mensch durch Gebet innere Hemmungen (Neid) überwindet. Das Wichttgste ist aber, daß er bereits als Kind in der Lage ist, in der Persönlichkeit der Mutter das unverlierbare, für sein Leben entscheidende Erlebnis der Realität des Transzendenten, Göttlichen zu machen. Er kann sagen: „Meine

Theologie und meine Weltanschauung sind weniger auf den Universitäten als in der Kinderstube gebildet". Es sind durch sein Kindheitserlebnis die liefen Bahnen in seine Seele eingefahren worden, in denen auch später noch sein religiöses Leben verläuft. In den Zweifeln seiner Studentenzeit hält ihn der Gedanke: „Ist dein Zweifel berechtigt, dann war deine Mutter die größte Närrin, die jemals auf zwei Füßen ging." Gegen diesen Ge­ danken empörte sich aber sofort nicht nur „jeder Blutstropfen", sondern auch „sein Verstand". Der schlagendste Beweis für den Lebenswert der Kindheitsreligion Funkes liegt aber darin, daß bei ihm gar kein eigent­ liches Erwachen zu selbständiger Religiosität zu bemerken ist, so daß man annehmen muß, daß durch die hochgespannte Kindheitsreligiosität gewisse Erscheinungen der Pubertätszeit bereits vorweggenommen sind.

13 Anders liegen die Dinge bei Felix Dahn. Er erzählt: „Ich war ein tief religiöses, schwärmerisch frommes Kind gewesen. Ohne Zwang zu häufigem Kirchenbesuch hatten die Eltern die gesühlsinnige Gläubig­ keit des Knaben geweckt und gefördert. Die Natur zuerst hatte die Ahnung, die Verehrung des Göttlichen in mir erweckt: Die Pracht des winterlichen Sternenhimmels, das Erwachen des Frühlings, die Groß­ artigkeit unserer Gebirgswelt. — Ich weiß, daß ich im hohen Grase meines Gartens stundenlang in den blauen Sommerhimmel hinauf­ schaute, immer heißer steigernd die Sehnsucht, Gott von Angesicht zu sehen, bis ich endlich glaubte, nun müsse sich der Himmel öffnen. — Mein Vertrauen auf die Kraft des Gebets war so stark, daß ich außer dem täglichen dreimaligen Gebet bei jedem mich stärker bewegenden Anlaß, bei leichtem Unwohlsein der Eltern oder vor einer schweren Mathematikskription ohne weiteres mit meinem Gebet auf den lieben Gott eindrang". — Auch bei ihm ist, ähnlich wie bei Funke, die religiöse Anlage zunächst von den Eltern gebildet. Aber sie ist noch wesentlich stärker als bei jenem; denn sie wird in steigendem Maße bei ihm wach, trotzdem der elterliche Einfluß — wegen Ehezwistigkeiten, die zur Scheidung führen — bald aufhört. Es ist bemerkenswert, daß sich bei ihm schon vor der Pubertätszeit starke religiöse Sehnsucht zeigt, was sonst erst viel später der Fall ist. Es handelt sich dabei nicht um die Pubertätszeit einleitende Erscheinungen; denn einmal tritt diese Sehnsucht in ganz kindlicher Form auf (Gott von Angesicht zu sehen) und dann ist sie schon um das zehnte Jahr anzusetzen, da im elften bis zwölften Jahre bei ihm bereits schwere innere Kämpfe beginnen. — Und doch fällt bei einem Vergleich mit Funke auf, daß Dahns Erleben gar keine nachhaltige Wirkung hat. Es fehlt ihm das Erlebnis der Realität der religiösen Objekte. Religion ist ihm als Kind subjektiver Zustand, der seine Berechtigung nicht erwiesen hat. Ersehnt sich nach dem Göttlichen, aber Gott begegnet ihm nicht. Das stellt sich in den späteren Jahren als schwerer Mangel heraus. Es ist wichtig, daß ein mangelhaftes Jugenderlebnis auch eine mangelhafte Entwicklung bedeutet, da man daraus einen Schluß auf die Notwendigkeit eines Jugend­ erlebnisses ziehen kann. Es scheint, als setze die Natur voraus, daß bereits in der Kindheit die religiöse Anlage genährt wird. — Trotzdem es Dahn an einem Erlebnis der Realität Gottes fehlt, wird es ihm später bitter schwer, auf Befriedigung seines religiösen Bedürfnisses zu verzichten, da ihm die Seligkeit seines Kindheitserlebens immer vor Augen steht. Das Erlebnis der Kindheit behält also für ihn seinen Eigenwert.

14 Wie leicht empfänglich und seelisch wach Kinder gerade für religiöse Eindrücke sind, beweisen noch zwei Berichte: Luise Herberg wächst in sehr gedrückten Verhältnissen ohne besondere religiöse Anregung auf. Der Vater ist Katholik, die Mutter zwar christlich denkende, aber un­ getaufte Jüdin. Einmal ist das Kind krank, da nimmt es die Mutter mit ins Bett und hier hört es die Mutter zum erstenmal beten. „Dies Gebet", sagt sie, „machte einen so tiefen Eindruck auf die junge Seele, daß ich wohl sagen kann, es weckte meine Religiosität fürs ganze Leben Von der Zeit an schlief ich keinen Abend ohne Gebet ein und begann es stets mit denselben Worten Allmächtiger Gott', die ich von meiner Mutter gehört hatte." Neben der ausgesprochen kindlichen Nachahmung der Form des mütterlichen Gebets beweist hier doch die Tatsache, daß das kleine Erlebnis in ihrem Inneren einen so starken und bleibenden Widerhall findet, daß es von einem empfangsbereiten Organ aus­ genommen und festgehalten wird. Dies Organ kann nur die religiöse Anlage sein. In ähnlicher Lage befindet sich Karl Fischer. Sein Vater ist Arbeiter, durch Trunk und Spekulation gesunken, ist roh und brutal zu seinen Angehörigen und verlangt dabei doch Anerkennung von Gottes Wort. In wahrhaft mittelalterlicher „Zucht des Herrn" wächst das Kind auf. Im Winter ist der Knabe meist kränklich und muß im Bett liegen. Da erzählt er nun, daß sein Vater sich am Abend zu ihm setzt, ihm ein Stück vorliest und befiehlt, bis zum nächsten Abend darüber nachzudenken. Dann fährt er fort: „Schon vordem hatte ich mir die Bibel einmal hergenommen, um darin zu lesen. Als ich aber die große gedruckte Überschrift gelesen hatte: „Heilige Schrift" und „Gott sprach", da war ich ängstlich geworden und legte sie wieder fort. Aber nun war das ganz anders. Ganz von vorn fing mein Vater zu lesen an, und als er mir das nun so ernst und freundlich vorlas, da ging mir alle Bangigkeit weg und mit großem Erstaunen und Bewunderung hörte ich zu. Ei war das schön und großartig. Viel schöner als alle Geschichten, die mir mein Vater schon erzählt hatte. Des Morgens Wenns Tag war, las ich das immer wieder nach, aber nie über die Stelle hinaus, die mir mein Vater bezeichnet hatte. Und ungeduldig wartete ich nachmittags auf die Zeit, wo er weiter las. Aber was waren da auch für schöne Geschichten dazwischen. Zuerst von Adam und Eva, von Kain und Abel, von der Sündflut und dem Regenbogen, von dem Turm zu Babel und dann von Abraham und von Abrahams Knecht. Ei der Knecht, so ein Knecht, war das aber ein Knecht. Von Abraham

15 verstand ich nicht alles, Abraham nicht, aber Abrahams Knecht, von dem verstand ich alles. Da konnte sich Abraham darauf verlassen. Wie aufrichtig, wie rechtschaffen, wie ehrlich war dieser Knecht. Und wie­ wohl er die weite Reise gemacht hatte, wollte er doch nichts essen, bis er alles genau so bestellt und ausgerichtet hatte, wie ihm von Abraham war gesägt worden. Und wie klug hatte er doch alles angefangen und wie er alles hatte in Ordnung gebracht, da hat er erst etwas gegessen. Und als sie den Knecht eingeladen haben, er sollte zehn Tage dableiben und sich ausruhen, da hat er gesagt: „Laßt mich, daß ich zu meinem Herrn ziehe. Und am andern Tage ist er wieder weggemacht". Dieser köstliche Bericht zeigt, daß trotz einer Erziehung, die geeignet war, alles Edle und Hohe zu ertöten, die religiöse Anlage des Knaben doch stets frisch und aufnahmefähig geblieben ist. Das Erleben ist noch kindlich. Es erfolgt nur auf Anregung hin, wobei die ungewohnte Freundlichkeit des Vaters besonderen Eindruck gemacht haben mag. Dann richtet sich das Interesse nicht auf Gott, sondern auf sichtbare und vorstellbare Gestalten. Daß die religiöse Anlage bereits lebendig ist, beweist aber das Erschauern vor der „Heiligen Schrift" und die Tatsache, daß an den Gestalten die sittlich-religiösen Qualitäten besonderen Gndruck machen.

2. Kindheitsreligiosität als Phantasietätigkeit. Neben der ersten Gruppe von Erzählern, die von mehr oder weniger bedeutendem religiösen Kindheitserleben zu berichten wissen, steht eine zweite Gruppe. Diese ist geneigt, ihr gesamtes religiöses Kindheits­ erleben als eine Tätigkeit der Phantasie zu betrachten, die sich außer den Gestalten der Volksmärchen eben auch mit religiösen Objekten be­ schäftigt habe. Natürlich sind beide Gruppen nicht scharf voneinander zu scheiden. Auch bei Kindern, die eindrucksvolle Erlebnisse in ihrer Kindheit machen, fehlt die Betätigung der Phantasie nicht und ihre religiösen Vorstellungen mögen sich oft mit denen der Märchen aufs

engste berühren. Umgekehrt fehlen bei dieser zweiten Gruppe begleitende Gefühlserlebnisse nicht, die man aber nicht höher einschätzt, als die, die sich bei Märchenerzählungen wohl einstellen. Diese Gruppe mag zahlenmäßig sogar erheblich größer sein als die erste. Wenn sie in den uns vorliegenden Autobiographien nicht allzu zahl­

reich vertreten ist, so mag das daran liegen, daß solche Phatasieerlebnisse meist weniger eindrucksvoll sind, als die oben erzählten und deshalb entweder dem Gedächtnis entschwanden oder des Erzählens nicht für

16 wert gehalten wurden. Für uns ist dieser Mangel nicht weiter bedauer­ lich, da uns nicht daran liegt, die Mannigfaltigkeit dieser Phantasiegebilde kennen zu lernen. Wir haben lediglich zu untersuchen, welcher Wert ihnen zukommt, in welcher Beziehung sie zur Entwicklung stehen und welche Ur­ sachen oder psychischen Zusammenhänge für diese Erscheinung erkennbar sind. Da gibt der Bericht von Lilly Braun Klarheit. Das Kind ist fast ganz ohne religiösen Einfluß, für die Eltern ist die Religion nur Firniß. Allein die Großmutter gibt dem Kind einige religiöse Anregung, die sich aber fast ganz auf das Erzählen biblischer Geschichten beschränkt. Lilly Braun redet von der „Märchenwelt ihrer Kindheitsreligion, und sagt: „Ich war ein frommes Kind mit jener Frömmigkeit, die an den lieben Gott und die Engel glaubt wie an die sieben Zwerge und die Knusperhexe... Auf meine religiösen Empfindungen blieben die Sprüche und Gesangbuchverse, die ich in der Schule gelernt hatte, so einflußlos wie die nüchterne Öde der protestantischen Kirche. Die Heiligenbilder, das geweihte Wasser, die durch rotes Glas mystisch schimmerde ewige Lampe unter dem geheimnisvollen Bilde der schwarzen Madonna von Czenstochau, die die Wände in der Kammer unserer polnischen Köchin schmückten, zogen mich weit mehr an". Hier dürsten die Gründe für Lilly Brauns Urteil klar sein. Die Religion ist ihr nie in einer Persönlichkeit oder sonst einem starken Eindruck begegnet, so daß ihre religiöse Anlage das Erlebnis hätte aufnehmen können. Vielmehr besteht die gesamte religiöse Anregung in Übermittelung religiöser Inhalte in Form von Geschichten, die sich naturgemäß in erster Linie an die Phantasie als Aufnahme­ organ wenden. Die religiöse Anlage ist dabei eigentlich gar nicht be­ teiligt, da sie vor allem beim Kind nicht durch Gedanken, sondern allein durch Lebensberührung genährt wird. — Ein zweiter Grund kommt vielleicht hinzu. Die starke Betätigung der Phantasie im religiösen Kindheitserlebnis — bei Zurücktreten des Gefühls — scheint auf eine vorzugsweise intellektuelle Anlage des betreffenden Menschen zu deuten. Lilly Braun sagt: „Bei mir wie bei jedem Kinde wiederholte sich, was die Kindheit der Völker auszeichnet: Ihre Phantasie ist das Mittel, durch das sie sich mit dem ungeheuren Geheimnis des Lebens auseinander­ setzen. Sie überwinden die Furcht vor dem Unbegreiflichen durch den Glauben an die vollendeten Wesen über ihnen. Danach scheint es, als benutze das Kind, wenn auch unbewußt, die Phantasie, um Fragen zu lösen, an die es später mit dem Verstände herantritt". Wenn das bei Lilly Braun auch tatsächlich zutrifft, so reicht das Material doch nicht

zu, um diesen Schluß genügend zu belegen.

17 Diese Art des Kindheitserlebnisses ruht also nicht eigentlich in der religiösen Anlage und es ist ihm deshalb ein besonderer religiöser Eigen­ wert abzusprechen, soweit nicht das religiöse Gefühl an ihm beteiligt ist. Da es in den beobachteten Fällen auf mangelndem lebendigreligiösem Einfluß beruht, ist von da aus kein Schluß auf die mutmaßliche Fähigkeit, bezw. Unfähigkeit des Kindes zu religiösem Leben möglich. Trotzdem ist auch, dieses Erlebnis nicht ohne Beziehung zur Ent­ wicklung. Ist das religiöse Leben des Kindes lediglich eine Betätigung der Phantasie gewesen, so macht sich das in der Pubertätszeit als Mangel bemerkbar. Der junge Mensch ist um so eher geneigt, alles Religiöse als nichtwirklich von sich zu weisen, je mehr er in ihm lediglich Objekte seiner kindlichen Phantasie sieht, denen jeder Realitätswert abgeht. So steht auch hier die Kontinuität der Entwicklung fest und außerdem wird zum zweiten Male klar, daß die Natur offenbar eine Speisung der religiösen Anlage und das Erlebnis der Realität der religiösen Objekte bereits in der Kindheit voraussetzt. Wird diese Voraussetzung nicht

erfüllt, dann wird die ruhige Entwicklung gestört. Beispiele für kindlichePhantasiereligion bringen noch Gottfried Keller, der den Turmhahn und einen Tiger im Bilderbuch für Gott hält, und Moritz Benedikt, der im Traume Gott und die Erzväter sieht, deren Körpergröße ungefähr dem jeweiligen Grad seiner Wertschätzung entspricht. Änlich sagt Hebbel, daß in seiner Phantasie Luther unmittelbar neben Mose gestanden habe, weil sein donnerndes „Was ist das" immer den ehernen Geboten Moses gefolgt sei. In diesen Fällen scheint allerdings das Phantasiebild ein Ausdrucksmittel für ein bestimmtes religiöses Empfinden zu sein, doch ist es nicht möglich, den Wert desselben fest­ zustellen. Die Ausdrucksform ist ja rein kindlich, aber die Tatsache, daß die Phantasie erzählt wird, läßt auf stärkere innere Beteiligung des Er­ zählers schließen. Solche Phantasien können also wohl auch kindliche Ausdrucksmittel für echte Erlebnisse sein.

3. Religionzerstörende Erlebnisse in der Kindheit.

Eine dritte Gruppe von Erzählern ist durch bestimmte Erlebnisse bereits in der Kindheit zur Ablehnung der Religion gekommen. Auch diese Gruppe ist nicht klein, wenn sie auch in den Autobiographien nicht zahlreich vertreten ist; denn diese Leute schweigen meist ganz über ihr religiöses Leben. Heinrich Dräger erzählt: „Mein größter Kummer war das Aus­ wendiglernen des Katechismus, der Gesangbuchverse und der Bibelsprüche. Bohne: Religiöse Entwicklung.

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18 Ich unterließ diese Hausarbeit denn auch regelmäßig und nahm dafür lieber am nächsten Morgen die gewohnten Prügel entgegen. Die Bibel und was damit zusammenhängt ist mir systematisch und nachhaltig aus­ geprügelt worden. Aber ich war noch lange nicht so weit, um aktiven Widerstand zu leisten. Vorläufig konnte ich nur fatalistisch meine Prügel hinnehmen. Mein Lehrer war in religiöser Beziehung Rationalist. Er glaubte nicht an die Wunder der Bibel. In der Schule war er trotzdem der Büttel des Pastors". Falsches, rohes Verhalten gegenüber dem Kind kann also seine religiöse Anlage zerstören. Sie ist ein feines Qrgan, das sich bei zu heftiger Berührung verschließt und zusammen­ bricht, wenn man noch weiter auf dasselbe eindringt. Dem Einfluß religiös warmer Naturen steht es weit offen (Funke), den religiös toter Menschen lehnt es ab. Darin liegt hohe Selbständigkeit. Friedrich Paulsen sagt von seinem Religionsunterricht: „Die Auf­ gabe bestand darin, die gegebenen Formeln des Katechismus herzusagen... Irgendwelcher Einwirkung auf Verstand und Gemüt erinnere ich mich nicht. Ohne Zweifel war der Unterricht so gut, als er in der Volks­ schule nur erwartet werden kann. Es lag an den Dingen, nicht an der Behandlung, daß sie keinen Eingang fanden. Und freilich, was weiß ein Knabe von Sünde und Gnade . .. Sie wurden hingenommen ohne Reflexion und Widerwillen, mehr nicht". Er beklagt sich dann noch über die große Zahl von Religionsstunden, die zu einer schädlichen Über­ fütterung geschädigt entstehen, Auch bei

geführt hätten. Also auch dadurch kann die religiöse Anlage werden und ein bleibender Widerwille gegen alles Religiöse der bei Paulsen zum mindesten durch die Jugendzeit andauert. ihm liegt das an der unpsychologischen Art der Übermittelung,

die den Kindern viel zu schwere religiöse Kost zumutet. Ludwig Richter spricht es geradezu aus, daß durch die kalte, tote Art des Religionsunterrichtes „das religiöse Bedürfnis, das vorhanden war, ungenährt und unbefriedigt blieb". Hätte die Theorie recht, daß die Kindheitsreligion keinen Wert hat, dann dürften aus der Schädigung der kindlichen Religiosität keine Folgen für die Zukunst erwachsen. Die religiöse Anlage müßte bei Beginn der Pubertätszeit erwachen und sich normal entwickeln. Die Lektüre der Lebenserinnerungen beweist, daß das nicht der Fall ist, ohne daß man das mit Stichworten belegen kann. So können wir abschließend sagen: Die religiöse Anlage ist beim Kind bereits vorhanden. Sie regt sich spontan, ist in der^Lage, Natur­ ereignisse und ähnliches religiös zu werten, von Persönlichkeiten aus­ gehende lebendig-religiöse Anregung aufzunehmen und für sich fruchtbar

19 zu machen, sie ist bildungs- und entwicklungsfähig. Fördernd wirkt nur die dem Kind zuträgliche Nahrung. Falsche religiöse Beeinflussung und Überfütterung mit falscher religiöser Nahrung kann das Kind zwar nicht

zurückweisen, aber seine religiöse Anlage wird dadurch für immer ge­ schädigt. Das Spiel der Phantasie mit religiösen Objekten ist nicht religiös zu werten, wenn nicht religiöse Gefühle damit verbunden sind. Vor allem ist das Kind bereits in der Lage, das unverlierbare Erlebnis der göttlichen Realität zu machen und religiöse Wirkungen (z. B. durch Gebet) hervorzurufen. Damit ist die Kontinuität der Entwicklung als Möglichkeit und Tatsache in vielen Fällen erwiesen. Von dem religiösen Leben der späteren Zeit unterscheidet sich das der Kindheit dadurch, das geistige Objekte ost sinnenfällig vorgestellt werden, daß die religiöse Funktion sich bisweilen auf menschliche Objekte richtet, daß das religiöse Organ jederzeit empfangsbereit und sehr bildsam ist und daß sich im Kind leicht religiöse Gleichgefühle wachrufen lassen, die häufig wie bloße Nachahmung aussehen. II. Kapitel.

Die Übergangsperiode. Die geistige Entwicklung läßt sich nicht, wie vielleicht die sexuelle, in klare Abschnitte gliedern. Die Grenzlinien zwischen den einzelnen Perioden sind viel fließender. Der Übergang von einer Periode zur anderen erfolgt in einem kürzeren oder längeren Zeitabschnitt, in dem zunächst vereinzelt und dann immer häufiger die Anzeichen der Fort­ entwicklung auftreten, bis sie so überwiegen, daß man sagen kann, der Mensch hat eine neue Stufe erreicht. Aber auch dann können sich noch Äußerungen früherer Perioden zeigen. Deshalb soll auch hier nicht der

Versuch gemacht werden, die Perioden scharf voneinander zu trennen. Da aber eine ganze Reihe von Erscheinungen zweifellos Übergangserscheinungen

sind, sollen sie hier gesondert behandelt werden. Es wird kaum zu ver­ meiden sein, daß wir hier und da in die folgende Periode hinübergreifen. Die Quellen sind über diesen Zeitabschnitt nicht befriedigend. Nur wenig Menschen sind in der Lage, von der Zeit des Übergangs ein

klares Bild zu geben. Bei den wenigen, die es können, fällt sofort die große Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen auf. So ist es nicht möglich, hier klare Gesetze herauszuarbeiten. Schon die ^rage des Alters, in dem das Erwachen eintritt, ist vorläufig noch ein Problem. Starbuck (Religionspsychologie II) versucht es festzustellen und findet um

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19 zu machen, sie ist bildungs- und entwicklungsfähig. Fördernd wirkt nur die dem Kind zuträgliche Nahrung. Falsche religiöse Beeinflussung und Überfütterung mit falscher religiöser Nahrung kann das Kind zwar nicht

zurückweisen, aber seine religiöse Anlage wird dadurch für immer ge­ schädigt. Das Spiel der Phantasie mit religiösen Objekten ist nicht religiös zu werten, wenn nicht religiöse Gefühle damit verbunden sind. Vor allem ist das Kind bereits in der Lage, das unverlierbare Erlebnis der göttlichen Realität zu machen und religiöse Wirkungen (z. B. durch Gebet) hervorzurufen. Damit ist die Kontinuität der Entwicklung als Möglichkeit und Tatsache in vielen Fällen erwiesen. Von dem religiösen Leben der späteren Zeit unterscheidet sich das der Kindheit dadurch, das geistige Objekte ost sinnenfällig vorgestellt werden, daß die religiöse Funktion sich bisweilen auf menschliche Objekte richtet, daß das religiöse Organ jederzeit empfangsbereit und sehr bildsam ist und daß sich im Kind leicht religiöse Gleichgefühle wachrufen lassen, die häufig wie bloße Nachahmung aussehen. II. Kapitel.

Die Übergangsperiode. Die geistige Entwicklung läßt sich nicht, wie vielleicht die sexuelle, in klare Abschnitte gliedern. Die Grenzlinien zwischen den einzelnen Perioden sind viel fließender. Der Übergang von einer Periode zur anderen erfolgt in einem kürzeren oder längeren Zeitabschnitt, in dem zunächst vereinzelt und dann immer häufiger die Anzeichen der Fort­ entwicklung auftreten, bis sie so überwiegen, daß man sagen kann, der Mensch hat eine neue Stufe erreicht. Aber auch dann können sich noch Äußerungen früherer Perioden zeigen. Deshalb soll auch hier nicht der

Versuch gemacht werden, die Perioden scharf voneinander zu trennen. Da aber eine ganze Reihe von Erscheinungen zweifellos Übergangserscheinungen

sind, sollen sie hier gesondert behandelt werden. Es wird kaum zu ver­ meiden sein, daß wir hier und da in die folgende Periode hinübergreifen. Die Quellen sind über diesen Zeitabschnitt nicht befriedigend. Nur wenig Menschen sind in der Lage, von der Zeit des Übergangs ein

klares Bild zu geben. Bei den wenigen, die es können, fällt sofort die große Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen auf. So ist es nicht möglich, hier klare Gesetze herauszuarbeiten. Schon die ^rage des Alters, in dem das Erwachen eintritt, ist vorläufig noch ein Problem. Starbuck (Religionspsychologie II) versucht es festzustellen und findet um

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das elfte und fünfzehnte Jahr Höhepunkte religiösen Lebens. Wie un­ sicher diese Feststellung ist, zeigt sich auch bei ihm schon daran, daß er in einer Anzahl von Fällen (2%) das Erwachen bereits um das siebente Jahr ansetzt. Tatsächlich treten ja bisweilen um dies Jahr bereits Anzeichen von religiöser Selbstständigkeit ein, ohne daß diese aber von da ab vollzogene Tatsache wäre. Es handelt sich vielmehr in solchen Fällen um ein blitzartiges Aufleuchten des Verständnisses, neben dem die volle Kindlichkeit fortbesteht. Solche Äußerungen von Selbständigkeit liegen durchaus im Bereich der kindlichen Religiosität. Man kann also nach ihnen das Erwachen nicht festlegen. Auch die uns vorliegenden Autobiographien geben dafür keinen Zeitpunkt an, doch mag er etwa zwischen dem elften und fünfzehnten Jahr liegen. Er hängt ab sowohl von der körperlichen Entwicklung, als auch von der Förderung der religiösen Anlage. Ausdrücklich berichten von der Parallelität des körperlichen und religiösen Erwachens Lilly Braun und Andrae-Roman. Bei Lilly Braun tritt das volle religiöse Erwachen gleichzeitig mit der Menstruation im zwölften Jahre ein, Andrae-Roman berichtet in Verbindung mit seinen inneren Kämpfen bei der Konfirmation, daß er auch körperlich sehr entwickelt gewesen sei. Anderseits erwacht bei F. Dahn das religiöse Leben bereits im elften bis zwölften Jahre auf Grund starker Erlebnisse, ohne daß anzunehmen ist, daß das körper­ liche Erwachen nebenhergegangen sei. Fassen wir nun den Verlauf selbst ins Auge.

Der tiefgehendste Unterschied zwischen dem Kind und dem Erwachsenen ist — wie schon das erste Kapitel sagte —, daß das Kind sich seiner Individualität nicht bewußt ist. Alle Züge kindlicher Selbständigkeit, z. B. das Ab­ lehnen unzuträglicher religiöser Nahrung, tragen doch den Stempel des Unbewußten. Jetzt vollzieht sich der Übergang zum selbständigen Er­

fassen des Ich, das langsam im Menschen Gestalt annimmt. Das Ich bemächtigt sich der Geistesinhalte und setzt sie zu sich in Beziehung. Das ohne ordnendes Prinzip im Innern ruhende Fremdgut wird an­ geeignet und vom Ich durchdrungen oder abgelehnt. So hat die Ent­

wicklung jetzt eine positive und eine negative Seite. Die Entwicklung nach der positiven Seite, das bewußte Erfassen bereits gehabter Erkenntnisse schildert am anschaulichsten Christine Holstein. Der Gott ihrer Kindheit war der strenge Richter und oft quälte sie Höllenangst. „Manchmal aber", erzählt sie da, „erschien mirs urplötzlich als ein Ding der Unmöglichkeit, daß der liebe Gott mich ... eine Un­ endlichkeit in dem Feuermeere stecken lassen werde, und ich beschloß:

21 Wenn ich wirklich in die Hölle komme, dann will ich den lieben Gott bitten, so herzlich, ohne Aufhören — da wird er mich schon endlich

wieder herauslassen." In einem Traum überfällt sie Plötzlich ein un­ endliches Grauen vor dem Anblick eines Engels, der vor der Tür ihrer Wohnstube steht. Sie kann sich das Entsetzen nicht erklären, versteht aber nun die Hirten von Bethlehem. — Viel liebe Menschen sind ihr gestorben. Sie weilt deshalb gern auf dem Friedhof, liest die In­ schriften und lauscht dem Abendläuten. „Diese Eindrücke und Bilder", sagt sie, „erweckten in mir die Vorstellung von einem feierlichen ewigen Leben, und das jenseitige Leben war mir so sicher und gewiß, wie die Wirklichkeit, die mich umgab." — Die Begriffe Gott und Ewigkeit hat sie schon bisher gekannt, jetzt aber versteht sie sie, weil sie selbst un­ mittelbar sie in einem Gefühlserlebnis erfaßt. Ihre Abhängigkeit von Autoritäten schwindet. Ihr Ich beginnt Maßstab ihrer Erkenntnisse zu werden und die in ihr liegenden Inhalte zu durchdringen. Neben­ her geht eine zunehmende Vergeistigung. Sie hat viel liebe Menschen verloren, kann sich aber ihr Totsein nicht vorstellen, sie verkehrt ja seelisch ständig mit ihnen. So kommt sie zur Vorstellung ewigen Lebens, löst den Begriff des Lebens von dem des Körpers und kommt damit zum Verständnis des Nicht-sinnlichen, Geistigen. Es ist von da nur ein Schritt zum Erfassen des transzendenten Gottes. Gewiß ist es nur ein Weg von tausend anderen, er zeigt aber doch, daß das Wachwerden eines geistigen Zentrums, nämlich des Ich, die Vor­ bedingung ist für das Erfasfen des Geistigen und Transzendenten überhaupt. Auch Funke berichtet von plötzlichem Erwachen tieferen Verständ­ nisses. Er hat einen Mann, der ihm das Leben gerettet hat, oft ver­ spottet. Dieser stirbt, ehe Funke sein Unrecht gut machen kann. „In jener Stunde durchblitzte es mich, daß ein Mensch verloren ist, wenn Gott nicht ein neues Herz in ihm schafft. Von ferne dämmerte mir auf, was Gnade sei. Jene Minuten hinter dem Sarg brachten mich ein ganz Stück weiter. Die Hüllen lösten sich von meinen Augen..." Noch wichtiger, als daß die bisherigen Geistesinhalte angeeignet werden, ist, daß das Ich selbst Neues schafft. Der Christine Holstein ist das Bild Gottes als eines strengen, strafenden eingeprägt worden. Jetzt entsteht aus ihrem Inneren mit zwingender, unmittelbarer — nicht logischer — Notwendigkeit die Gewißheit des liebenden Gottes. Noch für Jahre befindet sie sich im inneren Widerstreit in bezug auf ihre Gottesvorstellung, bis sie sich zur Einheit mit dem liebenden Gott

22 hindurchringt. Aber die Entwicklung deutet sich hier bereits an. In ihrer Erkenntnis der Liebe Gottes liegt ja zugleich das Bedürfnis nach Einheit. Und das Ich, das nach dem Einssein mit Gott strebt, ist bereits so stark, daß es die andersartigen Eindrücke besiegt und aus sich heraus die Vorstellungen schafft, die Vorbedingung für jenes Eins­ werden sind. Das Sehnen ihrer Seele lehrt ihr die innere Unmöglich­ keit des zornigen Gottes. Sind diese Erscheinungen auch eigentlich noch religiös peripherischer Natur, da sie nur die Seite der Erkenntnis betreffen, so zeigen sie eben doch ganz die Eigenart religiösen Erkennens. In unmittel­ barem Jnnewerden, das halb Gefühl, halb Erlebnis ist, werden die neuen Wahrheiten erfaßt, „geschaut". Sie sind nicht mehr auf Be­ lehrung oder Nachahmung zurückzuführen, sondern nur auf die Eigentätigkeit der religiösen Anlage. Sie bilden sich mit innerer Notwendigkeit. Trotzdem sind es nur Übergangserscheinungen, da die rein

kindlichen Züge noch zu sehr im Vordergrund stehen. So ist bei Christine Holstein Gott noch sehr anthropomorph vorgestellt. Seine Erhabenheit über die Menschen besteht lediglich in seiner Macht zu strafen, die Strafe ist sinnenfällig (Verstoßen ins Feuermeer). Der Himmel ist von Engelsgestalten bevölkert u. a. m. Bei Funke geht die Abhängigkeit von seiner Mutter trotz des persönlichen Verstehens der Schuld weiter. Endlich zeigt diese Zeit auch eine eigenartige Wachheit und Bereit­ schaft (der religiösen Anlage), gewisse Erlebnisse religiös zu werten. Davon erzählt Ludwig Richter: Er sieht im Kasperltheater „Faust", und da fragt Faust ein kleines Teufelchen, ob es auch Verlangen nach der ewigen Seligkeit spüre. Das antwortet: „Wenn eine Leiter von der Erde bis zum Himmel führte und ihre Sprossen wären lauter scharfe Messer, ich würde sie doch erklimmen, und wenn ich in Stücken zerschnitten oben ankäme". „Dieser drastische Ausdruck", sagt Richter, „ließ mich die Wichtigkeit der Sache vollkommen nachempfinden. Ich konnte die Worte nicht vergessen und ging tief ergriffen nach Hause, tiefes Mitleid im Herzen tragend mit dem kleinen, schwarzen, so gräulich zitternden Teufelchen." Hier kommt von außen nur die Anregung zum Er­ lebnis. Die Stärke des Gefühlseindrucks ist ganz innerlich bedingt, darin, daß er „die Wichtigkeit der Sache erkennt". Dies nur als Beispiel. Die übrigen Berichte sollen im folgenden Kapitel besprochen werden. Bei dieser Art der Entwicklung wird die Kindheitsreligion fast unmerklich überwunden. Der allmähliche Wandel der Vorstellungen,

23 der immer durch entsprechende Erlebnisse gestützt wird, kommt dem Kind entweder gar nicht zum Bewußtsein, oder es erlebt ihn als Be­ reicherung des bisherigen Besitzes, als Vergeistigung, tieferes Verstehen usw., nicht aber als Beweis, daß sich die ganze Kindheit auf eine Lüge aufgebaut habe. Vielfach aber bedeutet die Entwicklung in dieser Zeit nicht nur eine Bereicherung durch neue Erkenntnisse, sondern zugleich eine mehr oder weniger gewaltsame und schmerzliche Zerstörung der kindlichen Religion. Und das erscheint im Augenblick fast als das Wichtigere. Es war schon gesagt worden, daß es bei der religiösen Entwicklung sehr häufig zu Konflikten kommt. Dazu aber muß es kommen, wenn in dieser Zeit, in der das Ich erwacht, nicht religiöse Erlebnisse den auf Autorität hin übernommenen Besitz bestätigen, noch sicherer, wenn bestimmte Erlebnisse ihm sogar widersprechen. Der junge Mensch hat ja ganz besonders die Neigung, den Verstand, der eine so sichere Größe zu sein scheint, in schwierigen Fragen entscheiden zu lassen. Folgt er hier dieser Neigung, dann ist eine gewaltsame Zerstörung der Kindheitsreligion die Folge. Denn es besteht an sich schon eine Spannung zwischen Verstand und religiösem Erlebnis, da dieses nie restlos mit dem Verstand erfaßt werden kann. Das eigne religiöse Erlebins zwar setzt sich durch die Wucht der Tatsachen auch gegen den Verstand durch, der auf Autorität hin übernommene fremde religiöse Inhalt ist dazu aber nicht in der Lage. Ihm gegenüber siegt der Verstand immer, in diesen Jahren sogar mit besonderer Leichtigkeit, zumal ja gegen das Kindheitserlebnis auch die kindliche Form, in der es gemacht wurde, spricht. Der Schluß liegt nahe, daß man über die Sache selbst hinausgewachsen sei, wenn man über die Form hinaus­ gewachsen ist. Die Betonung des Ich und das Erwachen des Verstandes führen aber nicht notwendig zum Zusammenbruch der Kindheitsreligion, sondern begünstigen ihn nur. Es muß in irgend einem Erlebnis ein bestimmter Anlaß hinzukommen. Das geht zunächst daraus hervor, daß bei den Menschen, bei denen ein solches zerstörendes Erlebnis fehlt, auch kein Zusammenbruch der Kindheitsreligion zu beobachten ist. So sagt Samuel Keller, daß er nie an der Realität Gottes gezweifelt habe. Seine Entwicklung ist ein stetiges Wachsen. Das Kindliche tritt langsam zurück. Ähnlich ists bei Chr. Holstein, bei der Selbsterlebnisse den übernommenen religiösen Besitz rechtzeitig bestätigen. Noch wichtiger ist der Bericht von Heinrich Ranke, der erzählt, daß ihm zuerst als Student Zweifel gekommen seien, da er bis dahin nie einem Menschen begegnet

24 war, der einen Zweifel gegen das Christentum geäußert hatte — was in der Abgeschlossenheit und streng religiösen Erziehung von Pforta möglich war. Die Verstandesbildung der höheren Schule hatte ihm keinen Konflikt gebracht. Tatsächlich zeigen die Berichte, daß durchweg irgendwelche Er­ lebnisse den Anstoß zum Zusammenbruch der Kindheitsreligion geben. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß die Erzählungen über Zweifel und dergl. meist im Vordergrund stehen. Es handelt sich dabei nicht um den grundsätzlichen, rein theoretischen Zweifel, der notwendig auch ohne Anlaß aus dem Inneren hervorwächst, sondern in erster Linie um ein Durchdenken von Erlebnissen, die einer bisherigen An­ schauung widersprechen. Dieses Durchdenken nimmt, da der junge Mensch bisherige Anschauung und Erlebnis nicht vereinen kann, die Form des Zweifels an und führt dann allerdings auch zum theoretischen Zweifel weiter. Wenn es aber so wäre, daß der theoretische Zweifel gegenüber der kindlichen Form der Religiosität mit Notwendigkeit austräte, so müßte man der Natur den Vorwurf machen, daß ihr Gebilde, der Mensch, das Prinzip der Selbstzerstörung in sich trüge, oder daß seine Entwicklung notwendig in der Form der Gegensätzlichkeit sich vollziehe. Dem ist aber nicht so. Vielmehr müssen wir — bis zum Beweis des Gegenteils — behaupten, daß der Mensch bei Gesundheit und gleichmäßiger Förderung aller Anlagen eine durchaus ruhige Entwicklung durchmachen kann. Notwendig muß die Kindheitsreligion überwunden werden, aber nicht: Notwendig muß sie zusammenbrechen. Felix Dahn erzählt: „Meine Frömmigkeit wurde lange Zeit nicht gestört durch den Religionsunterricht. Leider muß ich mich so aus­ drücken. Denn dieser Unterricht war ganz dazu angetan, durch Formel­ kram und Auswendiglernerei das echte religiöse Gefühl zu ersticken. Ich erinnere mich genau, daß es gewisse Geschichten aus dem Alten Testament waren, die mich stutzig machten (Unterschlagung des ägyptischen Silbergeschirrs, Jakobs Diebstahl des Erstgeburtssegens u. a.). Aber unangetastet von allen Zweifeln blieb mir noch lange Zeit das Neue Testament und die in ihrer rührenden Sanftmut erschütternde Gestalt Christi. — Jedoch allmählich kam der Zweifel, der grundsätzliche. — Die Qualen des sich zergrübelnden Geistes, die Kämpfe des ringenden Gewissens, in welche ich schon als zwölfjähriger Knabe verstrickt wurde, möchte ich jedem erspart wissen. Bei meiner fast schwärmerischen Frömmigkeit, bei der glühenden Sehnsucht nach Gott erschien mir der immer wieder sich aufdrängende Zweifel als schwere Sünde, die ich

25 unter heißen Tränen — nachts im Garten auf dem Rasen knieend und zum Himmel empor stöhnend — bereute, um sie alsbald — wieder begehen zu müssen. Ja, zu müssen. Denn wahrlich nicht aus Leicht­ fertigkeit, nur aus innerster Notwendigkeit des schwer ringenden Gedankens heraus, unter unschilderbaren Qualen fühlte ich mich immer weiter ab­ gedrängt von jenen poesiereichen beruhigenden Vorstellungen, welche lange mir ein wahrhaft himmlisches Gefühl der Gotteskindschaft gegeben hatten. Ich deute hier nur einige der stärksten Zweifelsgründe an: Erschaffung des Menschen trotz Voraussicht des unvermeidlichen Sündenfalls, Opferung des sündlosen Sohnes für die sündige Menschheit, das unaufhörliche Leiden der sich selbst zerfleischenden Tierwelt; das waren die Anfänge. Aber dazu trat, je mehr ich von der Weltgeschichte und der Lebensgeschichte einzelner erfuhr, der zermalmende Eindruck des schuldlosen Untergangs so vieler Völker und Helden, das unverschuldete Leiden und Erliegen des Edlen, Schönen, gegenüber dem Schlechten, Gemeinen. Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, als mich der Untergang des Heldenkönigs Teja mit schmerzvollen Zweifelsqualen erfüllte. Am Nachmittage spielte ich „Teja", aber am Abend lag ich im Gras und schluchzte in tiefem Weh zu den Sternen hinauf: „Warum, warum o gerechter Gott, wenn Du da droben waltest, warum mußte vor Verrat und Tücke König Teja fallen und sein Volk. — Als nun — freilich nur in meinem heißen Kopf, vergleichende Religionsgeschichte anfing, ... da vollzogen sich — wider meinen ankämpfenden Willen, wider das zuckende Herz — Schlußfolgerungen, die ich bitter beklagte, aber nicht abwehren konnte mit Schild und mit Streitaxt". Und nun der wahre Grund für diese Zweifelsqualen und die Loslösung vom Kinderglauben. Zwischen Dahns Eltern ist eine Entfremdung eingetreten, die zur Scheidung führt. Darunter leidet der feinfühlige und liedebedürftige Knabe sehr. Er sagt: „Manches Ungesunde in meiner Jugend findet seine Erklärung in jener wehevollen Unnatürlichkeit. Die widernatürlich frühe Loslösung von dem Glauben der Kindheit wuchs ganz besonders aus dieser Wurzel. Warum erhörte der liebe Gott nicht das verzweifelte Gebet eines jammernden Kindes um die Versöhnung seiner Eltern? Zumal aber der prometheische Gedanke: Warum muß ich schuldloses Kind leiden und büßen für das, was, wenn nicht die Eltern, so andere Menschen, die Ver­ hältnisse verschuldet haben? Dieser Gedanke: warum für fremde Schuld unschuldig leiden, hat den Elfjährigen nicht mehr losgelassen. Er hat ihn gehetzt und gequält, losgerissen von der Kirche, ohne daß er noch Ersatz in der Philosophie, der Entsagung hätte finden können".

26 Der Grund für diesen erschütternden Zusammenbruch der Kindheits­ religion ist klar. Dahn selbst nennt ihn. Seine tiefen Gefühlserlebnisse sind rein subjektiv („Poesiereiche Vorstellungen, Gefühl der Gotteskind­ schaft"), unbegrenzt ist sein Vertrauen zu Gott — aber er erlebt nie eine Kraftwirkung dieses Gottes. Er müßte einmal, ja immer wieder — wie auch der Körper immer neue Nahrung braucht — erleben, daß Gott sein Vertrauen wert ist. Nur dadurch kann seine Religion gefestigt und trag­ fähig werden. Erlebt ers nicht, oder gar das Gegenteil, dann muß seine Religion langsam verkümmern oder plötzlich zusammenbrechen. — Sind wir noch nicht reif und stark genug, eine Last zu tragen, dann können andere Menschen für uns eintreten und uns stützen, auch im religiösen Leben. Erlebt ein anderer mein Erlebnis mit mir und wird nicht an Gott irre, dann bleibe auch ich fest. — Auch diese Stütze fehlt für Dahn. Und so kann ihn sein Lebenswille, seine Gottessehnsucht wohl eine Weile länger aufrechterhalten, retten können sie ihn nicht. Das Erlebnis der härtesten Ungerechtigkeit ist für sein kindliches Gott­ vertrauen eine zu schwere Belastung. Das Erlebnis an sich mußte nicht mit logischer Notwendigkeit zur Verneinung Gottes führen. Mancher große religiöse Mensch hat trotz bitterster Erfahrungen sein Vertrauen zu Gott behalten. Aber Dahn war zu schwach. Hätte er wirklich religiöse Nahrung und eine Stütze in der Zeit seiner Kindlichkeit gehabt, wäre die Katastrophe voraussichtlich nicht eingetreten. Denn es ist nicht der logische Verstand, der mit innerer Notwendigkeit seine Kindheits­ anschauung zersetzt. Das äußert sich darin, daß sein Zweifel nicht bei logischen Unmöglichkeiten einsetzt, etwa der Unerkennbarkeit Gottes, sondern beim sittlichen Verhalten Gottes anknüpft. Er empfindet diesen Zweifel als Sünde, weil er eigentlich Mißtrauen ist und dadurch sein sittliches Vertrauensverhältnis zu Gott zerreißt. Damit wird der Zweifel selbst unsittlich. Der theoretische Zweifel kann aber nie als unsittlich oder als Schuld gegen Gott erlebt werden, denn er ergibt sich notwendig aus dem eignen Wesen. Endlich setzt der Zweifel bei Dahn gleichzeitig mit dem Erlebnis der Ungerechtigkeit Gottes ein. Das geschieht sehr früh, mit etwa elf Jahren, obwohl seine glühende Gesühlsreligiosität einen so frühen Kritizismus nicht erwarten ließ. Er beschäftigt sich zunächst auch ausschließlich mit Ungerechtigkeiten Gottes. Allerdings bemächtigt sich dieser Erlebnisse nun auch der theoretische Verstand. Er zieht aber nur Schlußfolgerungen. Gott hat sein Dasein nicht erwiesen, folglich ist er nicht. Daß dieser Schluß nicht richtig ist, sagt Dahn selbst sein zuckendes Herz. Und so bricht er zusammen, weil

27 weder sein Verstand, noch seine sittliche Kraft stark genug sind, mit seinem Erlebnis fertig zu werden. Viel leichter erfolgt der Zusammenbruch bei Lilly Braun. Auch sie ist gewissermaßen religiös unterernährt, von keiner Seite hat sie eine lebendig religiöse Anregung bekommen. Allein ihre Phantasie hat man mit religiösen Vorstellungen gefüllt. Diese hängen aber in der Luft, wenn nicht ein Unterbau von Erlebnissen da ist. So ruht in ihr durch die Schuld ihrer Erzieher ein innerer Widerspruch. Sie besitzt religiöse Vorstellungen, ohne daß ihr religiöses Zentrum dabei beteiligt ist. Ihre Kindheitsreligion muß deshalb schon bei geringer Belastung zusammen­ brechen. Das unmoralische Verhalten einer Lehrerin genügt, um ihr ein bleibendes Mißtrauen gegen die Religion einzuflößen. — Sie hat eine Jüdin gegen ihre Kameradinnen verteidigt mit den Worten: „Wißt ihr nicht, daß Jesus auch ein Jude war". Darauf läßt sie die Schul­ vorsteherin, der man das erzählt hat, kommen, und fährt sie an: „Christus ist Gottes Sohn gewesen, merke Dir das, und streue nicht Unfrieden in die gläubigen Herzen Deiner Kameradinnen". Ihre Ent­ schuldigung läßt die Lehrerin nicht gelten. „Verwirrt und erregt", erzählt sie dann, „trat ich den Weg nach Hause an. Religiöse Zweifel hatten mich noch nie gequält. Ich glaubte an den lieben Herrn Jesus, von dem die Großmutter immer erzählte, der die Unglücklichen tröstet, den Armen Hilfe, den Kranken Heilung bringt und die Kinder lieb hat. Daß Christi Gotteskindschaft von so ungeheuerer Bedeutung sein sollte, das war mir doch noch nicht in den Sinn gekommen. Geradeswegs zur Großmama ging ich und sagte ihr alles." Diese tröstet sie. „Ich war zunächst beruhigt, merkte aber in den Religionsstunden mehr auf den Sinn der Worte als vorher und fühlte bald den Widerspruch zwischen dem, was dort gelehrt wurde, und dem, was Großinama sagte, heraus. Mein Herz und mein Verstand entschieden für sie und für die Lehrerin blieb nichts als Geringschätzung übrig." Als sie weiter er­ lebt, daß auch andere Menschen, ja anscheinend die meisten, nicht an Gott glauben, zieht sie mit Leichtigkeit den Schluß, daß bei allen Menschen die Religion nur ein solcher Firniß sei wie bei ihr. Sie bekommt dann einen Hauslehrer, der alle Religion ablehnt, das Kind zu selbständigem Denken erzieht, aber wohl auch in seinem Sinne be­ einflußt. „Das Licht des hellen Tages fiel nun in die unberührte, traumdunkle Märchenwelt meiner Religion. Im religionsgeschichtlichen Unterricht lernte ich, ... daß Juden, Mohammedaner und Buddhisten nicht weniger fromm wären als die Nachfolger Christi und mit der-

28 selben Hingabe wie sie ür ihren Glauben lebten und starben. In meinem Innern wurden die Fragen zu Quadersteinen eines babylonischen Turmes, von dem aus ich über die Wolken zu sehen hoffte. Da ich noch zu schwach und ungeschickt war, sie ohne Hilfe fest und sicher aufeinander zu schichten, brach mein Bau frühzeitig zusammen. Nicht zu neuen Wundern hatte er mich emporgeführt, doch meinen Kinderglauben begrub er unter seinen Trümmern." Bei ihr bricht eigentlich nicht die Kindheitsreligion, sondern lediglich eine kindliche Vorstellungswelt zusammen, die, unpsychologisch vermittelt und ohne Grundlage, den Keim des Zerfalls in sich trug. Hierin unterscheidet sie sich von Dahn. Das zeigen die Folgen. Die Zer­ störung der religiösen Anlage, bezw. des wirklichen religiösen Lebens ist etwas Endgültiges. Das ist bei Dahn der Fall. Die Zerstörung der kindlichen Vorstellungswelt dagegen berührt die religiöse Anlage nicht. Deshalb kann bei Lilly Braun unmittelbar danach die religiöse Anlage in Form der Sehnsucht mit aller Stärke erwachen. Das Bild des Zusammenbruchs dürfte bei Lilly Braun typisch sein. Es gibt nicht sehr viele lebendig-religiöse Elternhäuser. Die meisten Kinder bekommen lediglich — in der Schule und Kirche — eine religiöse Vorstellungswelt vermittelt, ohne daß der Unterbau des Erlebnisses vor­ handen ist. Das ist ein unnatürlicher Zustand, der dann zur Katastrophe führt. Diese tritt um so leichter ein, je geringwertiger das religiöse Leben des Kindes war. Sie ist dann meist auch schmerzlos, da ja die religiöse Anlage nicht davon betroffen wird. Schmerzt der Zusammen­ bruch, dann ist das ein Beweis, daß die religiöse Anlage bereits lebendig war. Dann handelt es sich streng genommen auch nicht mehr um ein Erwachen, sondern um die erste Auseinandersetzung der Innenwelt mit dem äußeren Leben. So ists bei Dahn und ähnlich auch bei Richter. Dieser erzählt: „Auch das Wenige, was ich von Gott und göttlichen Dingen wußte, war mir zweifelhaft geworden. Ich hörte von einem unter Vaters Bekannten einmal einen lästerlichen, schmutzigen Witz über eine der evangelischen Erzählungen. Wie ein Blitz schlugen die Läster­ worte mir in die Seele. Es war mir, als bräche der ganze Himmel zusammen, und als deckten seine Splitter die schöne grüne Erde und nun könne gar nichts mehr aufblühen und gedeihen. Einen Zweifel an diesen heiligen Geschichten, ja einen solchen Spott hatte ich gar nicht für möglich gehalten. Ich sah, daß der Vater dem nicht entgegentrat, es schien mir also unter den älteren Leuten all das für Lug und Trug oder Faselei angesehen zu werden, was ich in der Schule als Wahrheit gehört

29 und einfach ausgenommen hatte. So waren die dürftigen Anfänge eines positiven Glaubens verloren gegangen. Ich hatte das Gefühl, daß mir etwas Unentbehrliches genommen sei. Ich konnte mit niemand davon reden und war recht unglücklich". In Richter ist bereits das Suchen nach Neuem und damit das Mißtrauen gegen alles Alte wach geworden. Er befindet sich in einem

Zustande tastender Unsicherheit und innerer Spannung, die die neue Zeit einleiten. Da bedarf es nur eines schwachen Anstoßes, um das ganze Gebäude der Kindheitsreligion zu zerstören. Denn an sich ist das Er­ lebnis gar nicht schwerwiegend. Bei einem wirklichen Kind würde es vielleicht nur Entrüstung hervorgerufen haben. Endlich aber wird der Zusammenbruch der Kindheitsreligion auch in jeder Weise durch den jetzt zugleich mit dem religiösen Gefühl er­ wachenden Verstand begünstigt. Das Kind ist ja, auch wenn es religiös selbständig war, in bezug auf die Inhalte ganz von fremden Autoritäten abhängig gewesen und manches Fremdgut muß abgestoßen werden. Ja selbst das eigne Erlebnis muß durchleuchtet und umgebildet werden, damit es wirklich zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit wird. Zu dieser Klärung ist der Verstand unentbehrlich (F. Dahn). Vor dem wirklichen Erlebnis macht er zwar halt; das zeigt die Erfahrung Funkes, dem auch sein Verstand sagt, daß das Erlebnis, das er als Kind an seiner Mutter machte, keine Täuschung war. Aber auch das echte Erlebnis kann von manchem entkleidet werden, was es einer fremden Autorität entlehnt hat. Funke findet bald nach seinem Erwachen „keine Freude mehr an einer Vorstellung der Seligkeit, in der die Engel Gott dreimal heilige Loblieder fingen". Er weist die der Mutter entlehnte Form des Erlebens als ihm fremd ab. Oft geht der Verstand noch weiter. Die praktische Arbeit der Klärung des Vorhandenen wird zur grundsätzlichen wie bei F. Dahn. Alle erwachenden Kräfte haben an sich schon die Tendenz zu herrschen. Nun wird sich bei seiner Klärarbeit der Verstand seiner Bedeutung und Macht bewußt, wird vielleicht zu gleicher Zeit durch Unterricht gestärkt, die Kräftigung der gleichzeitig erwachten religiösen Anlage durch Er­ lebnisse bleibt aus, da sucht sich der Intellekt die unbedingte Herrschaft zu sichern. Er macht das Bestehen jeden Geistesinhaltes von seiner Entscheidung abhängig und dehnt damit seine Herrschaft auch auf die religiösen Inhalte aus, denen er eigentlich nur zu dienen in der Lage ist. Aber dieser Mißgriff liegt zu nahe. Der Intellekt mit seinen unbedingt geltenden logischen Gesetzen muß sich ja dem jungen Menschen,

30 der die Eigenart religiösen Erkennens und Erlebens noch nicht kennt, als allgemeiner Maßstab empfehlen. Hier liegt vielleicht der Grund für den jugendlichen Radikalismus, bei dem der Verstand aus lauter Konsequenz inkonsequent wird. Ist die Kindheitsreligion lediglich ein in der Phantasie lebender Komplex religiöser Vorstellungen gewesen, so geht endlich vom Verstand geradezu eine Freude am Zerstören aus. Die Erkenntnis, bisher einer Täuschung unterlegen zu sein, ist eine Bereicherung unseres Wissens.

Und ist einmal eine Lücke oder morsche Stelle im Gebäude der An­ schauung entdeckt, macht es dem Verstand Freude, von da aus immer mehr einzureißen, in der Hoffnung, daß dahinter neue Erkenntnisse ver­ borgen liegen. Daß der Verstand in dieser Zeit vielfach geradezu an die Stelle des Erlebnisses tritt, zeigt ein Bericht von Andrae-Roman. Da Andrae-Roman von seinen Eltern nicht religiös angeregt worden ist, ruht sein religiöser Besitz allein auf der Autorität der Lehrer. Nun wird ihm kurz nacheinander positives und rationalistisches Christentum überliefert und zwar obendrein von etwa gleich starken Persönlichkeiten. Er muß sich entscheiden. Fremdgut ist zunächst für ihn noch beides, zum einen zieht ihn das Herz, zum anderen der Verstand. Aber fast ohne Schwanken entscheidet er sich für das rationalistische Christentum, da er das mit eignem, innerem Maßstab, eben dem Verstand, nachprüfen kann. Er ist der Meinung, daß es damit wirklich Eigengut seiner Persönlichkeit geworden sei. Dies Beispiel ist besonders deshalb wertvoll, weil diese Entscheidung, obwohl sie anscheinend mit großer Sicherheit erfolgt, später durch die Wucht von Tatsachenerlebnissen umgestoßen wird. Daraus geht hervor, daß dieser Intellektualismus eine Übergangs­

erscheinung ist. Weil das Erlebnis als Unterbau der religiösen An­ schauung fehlt, tritt der Verstand als Ersatz ein. Es ist selbverständlich, daß damit für eine Zeit vieles religiös Wertvolle abgelehnt wird. Fassen wir die festen Ergebnisse in bezug auf diese Zeit zusammen: Die Kindheitsreligion kann auf dem Wege ruhiger Entwicklung zu höherem geistigen Leben überwunden werden, wenn die notwendigen Erlebnisse rechtzeitig eintreten. Dann werden bisher unverstandene Begriffe plötzlich verstanden und angeeignet, die kindlich-sinnenfälligen Vorstellungen werden überwunden, es entstehen neue Erkenntnisse, die das Ich auf echt religiös-intuitivem Wege erfaßt. Die Entwicklung kann katastrophaler Natur werden aus inneren Gründen, wenn der religiöse Besitz der Kindheit ohne Grundlage oder in sich widerspruchsvoll war, aus äußeren Gründen, wenn bestätigende

31 Erlebnisse ausbleiben oder religiös schwache Menschen durch schwere Schicksale zu stark belastet werden. Begünstigt wird die katastrophale Entwicklung durch die psycho­ logische Verfassung des jungen Menschen, nämlich durch die allgemeine Unsicherheit dieser Übergangszeit und durch das gleichzeitige Erwachen

des Verstandes, der meist stärker gefördert wird als die religiöse Anlage und sich deshalb die unbedingte Herrschaft über alle Geistesinhalte, auch die religiösen, anmaßt. — In dieser letzten Tatsache liegt eine Not unserer Kultur und unserer Erziehung, die mit falschen Weltmaßstäben arbeitet. Daher die vielen seelischen Gleichgewichtsstörungen, katastro­ phalen Entwicklungen, problematischen Naturen. — Als Übergangserscheinung kennzeichnet sich diese Periode, abgesehen von vielen Zügen der Kindlichkeit, dadurch, daß sie meist nur zerstört und daß ihre Entscheidungen im allgemeinen nicht endgültig sind, da sie im Verstand, nicht im religiösen Zentrum fallen. Es ist eine Zeit der Klärung und Vorbereitung, in der für die kommenden religiösen Erlebnisse Raum geschafft wird.

III. Kapitel.

Der erste Löhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Feit des Sturms und Drangs. Die religiöse Entwicklung der Pubertätszeit gliedert sich in drei Perioden, denen die folgenden drei Kapitel gewidmet sind. Die Be­ rechtigung dieser Einteilung muß im Laufe der Schilderung klar werden. Beim ersten Wachwerden der Persönlichkeit sieht sich der junge Mensch sofort in großer Not. Er sieht, daß sein Leben, Vergangenheit und Zukunft, ein einheitliches Ganzes ist, das er gestalten und bauen muß. Da steht er plötzlich vor der Notwendigkeit der Entscheidung, welche Ziele er sich stecken, welche Werte er als die höchsten anerkennen soll. Er muß sein wahres Sein erfassen und zugleich die objektiven Grundlagen des Lebens finden. Diese Not ist religiöse Not. Aus ihr wird der erste Höhepunkt des religiösen Lebens geboren. Kann man auch nicht sagen, daß bei jedem Menschen das erste Erwachen des seelischen Lebens einen religiösen Grundton trägt, so muß es doch auffallen, daß bei vielen die Zeit um das vierzehnte Jahr, um die Konfirmation, sich durch verhältnismäßig starkes religiöses Leben auszeichnet. Auch in den Autobiographien ist für manche die Konfirmandenzeit die einzige aus-

31 Erlebnisse ausbleiben oder religiös schwache Menschen durch schwere Schicksale zu stark belastet werden. Begünstigt wird die katastrophale Entwicklung durch die psycho­ logische Verfassung des jungen Menschen, nämlich durch die allgemeine Unsicherheit dieser Übergangszeit und durch das gleichzeitige Erwachen

des Verstandes, der meist stärker gefördert wird als die religiöse Anlage und sich deshalb die unbedingte Herrschaft über alle Geistesinhalte, auch die religiösen, anmaßt. — In dieser letzten Tatsache liegt eine Not unserer Kultur und unserer Erziehung, die mit falschen Weltmaßstäben arbeitet. Daher die vielen seelischen Gleichgewichtsstörungen, katastro­ phalen Entwicklungen, problematischen Naturen. — Als Übergangserscheinung kennzeichnet sich diese Periode, abgesehen von vielen Zügen der Kindlichkeit, dadurch, daß sie meist nur zerstört und daß ihre Entscheidungen im allgemeinen nicht endgültig sind, da sie im Verstand, nicht im religiösen Zentrum fallen. Es ist eine Zeit der Klärung und Vorbereitung, in der für die kommenden religiösen Erlebnisse Raum geschafft wird.

III. Kapitel.

Der erste Löhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Feit des Sturms und Drangs. Die religiöse Entwicklung der Pubertätszeit gliedert sich in drei Perioden, denen die folgenden drei Kapitel gewidmet sind. Die Be­ rechtigung dieser Einteilung muß im Laufe der Schilderung klar werden. Beim ersten Wachwerden der Persönlichkeit sieht sich der junge Mensch sofort in großer Not. Er sieht, daß sein Leben, Vergangenheit und Zukunft, ein einheitliches Ganzes ist, das er gestalten und bauen muß. Da steht er plötzlich vor der Notwendigkeit der Entscheidung, welche Ziele er sich stecken, welche Werte er als die höchsten anerkennen soll. Er muß sein wahres Sein erfassen und zugleich die objektiven Grundlagen des Lebens finden. Diese Not ist religiöse Not. Aus ihr wird der erste Höhepunkt des religiösen Lebens geboren. Kann man auch nicht sagen, daß bei jedem Menschen das erste Erwachen des seelischen Lebens einen religiösen Grundton trägt, so muß es doch auffallen, daß bei vielen die Zeit um das vierzehnte Jahr, um die Konfirmation, sich durch verhältnismäßig starkes religiöses Leben auszeichnet. Auch in den Autobiographien ist für manche die Konfirmandenzeit die einzige aus-

32 gesprochen religiöse Zeit ihres Lebens. Es ist, als griffe der junge Mensch beim Anblick des dunkel vor ihm liegenden Lebens instinktiv nach dem ewigen Halt. — Aber freilich, er ist noch nicht reif genug, um sich jetzt schon für das Göttliche als den höchsten Wert zu entscheiden. Dazu kennt er die vielen anderen Werte, die sich ihm anbieten, noch zu wenig. Denn um sich mit vollem Bewußtsein für ein Wertgebiet entscheiden zu können, muß er sie alle kennen. Und so wird der Normal­ verlauf der religiösen Entwicklung in der Regel der sein, daß die Ent­ scheidung erst dann fällt, wenn der junge Mensch durch reichere Berührung mit dem Leben die übrigen Lebensgebiete kennen gelernt hat. Nachdem

er sie in der zweiten Periode alle durchwandert hat, tritt in einer dritten Periode die Notwendigkeit der Entscheidung für den höchsten Wert von denen, die er kennen gelernt hat, von neuem an ihn heran. Nun kann und muß er sich entscheiden. Doch ist damit nur ein Schema gezeichnet. Es ist selbstverständlich, daß die Mannigfaltigkeit des Ge­ schehens sich nicht in diese engen Formen pressen läßt. Der höchste Wert wird also von den Menschen, die wir hier unter­ suchen, zunächst intuitiv in Gott und den ewigen Dingen gefunden. Sie sehen im Religiösen das Zentrum ihres Wesens. Damit wird ihre religiöse Entwicklung zur Entwicklung der Persönlichkeit überhaupt. Sie empfinden das Sehnen nach Gott und entdecken in sich — neben manchem anderen —, daß sie geradezu auf Gott hin angelegt sind. Nachdem einmal diese Erkenntnis in ihnen wach geworden ist, merken sie, daß sie nie zur inneren Harmonie kommen, daß nie die Einheit ihres Wesens vollkommen werden kann, wenn dieses Sehnen und Bedürfnis nicht seine Befriedigung findet. Befriedigt aber werden sie — kurz gesagt — durch das Erleben Gottes im weitesten Sinne, d. h. durch das Erlebnis, daß dieses Begehren nach einem Höheren nicht ins Nichts hinausgreift, sondern daß ihm Realitäten entsprechen, daß es also befriedigt werden kann. Dann ist ihre Persönlichkeit vollkommen, wenn sie einheitlich aus Anlage und Erlebnis zusammengeflossen ist. Damit wird für den religiösen Menschen Gott der höchste Wert, den er sich aneignen kann, das Erleben Gottes das Ziel seines Strebens und seiner Entwicklung. Denn er fühlt, daß er in Gott zugleich sich selbst im tiefsten Wesen findet, da im Erleben Gottes sein tiefstes Ver­ langen, das religiöse, gestillt wird und da außerdem das Einswerden mit Gott allein die Möglichkeit gibt, sich in voller Harmonie in den höheren Zusammenhang einzufügen, in den jeder Mensch gestellt ist. Denn dieser höhere Zusammenhang ist ja die Sphäre göttlichen Wirkens. So

33 gibt ihm das Erleben Gottes zugleich mit der inneren Einheit und Vollendung seiner Persönlichkeit die Harmonie mit dem umgebenden Weltganzen. Gerade darin, daß in der Religion nicht nur das Verhältnis zu Gott, sondern auch das zur Welt geklärt wird, liegt der Grund, weshalb sie in so hohem Maße persönlichkeitsbildend ist. Keins der übrigen Geistesgebiete umschließt in so umfassender Weise alle Lebensgebiete und vermag sie so zu durchdringen. Deshalb behauptet auch der religiöse Mensch, daß keine Persönlichkeit, sei es die eines Künstlers, Gelehrten oder welche es wolle, wirklich vollkommen und in sich lückenlos geschlossen sei, wenn sie nicht — in irgendwelcher Weise — religiös sei, wenn nicht alle Lebensgebiete in der Religion zu einer höheren Einheit zusammen­ geschlossen seien. Wenn wir dem Gang der Entwicklung vom ersten Wachwerden des Ich und des religiösen Sehnens bis zur vollen Klärung des religiösen Lebens folgen, so sind auch die Fälle mit zu beobachten, in denen das Erleben schließlich zu einer Ablehnung Gottes, ja alles Religiösen führt, wenn nur die Auseinandersetzung mit der Religion im Vordergrund der Entwicklung stand. Freilich kann diese zusammenfassende Besprechung dem Gang einzelner Entwicklungen nicht folgen. Sie kann nur die einzelnen Erscheinungsformen nebeneinanderstellen. Dabei erschien es unbefriedigend, einfach Erscheinung an Erscheinung zu reihen. Es wird deshalb im folgenden versucht, die unendliche Mannigfaltigkeit unter einigen leitenden Gesichtspunkten zu ordnen. Im ersten Teil werden die Kräfte und Umstände zusammengefaßt, die die Entwicklung der Persönlich­ keit zur vollen inneren Harmonie fördern, während im zweiten Teil die Hemmungen besprochen werden sollen, die beim Streben nach diesem Ziele im Wege stehen. In beiden Teilen stehen Kräfte, die aus dem Inneren des Menschen kommen, neben solchen, die von außen — von Menschen und Ereignissen — auf ihn eindringen. Die von außen kommenden Einflüsfe sind an sich einander ihrer Art noch alle gleich, denn Menschen und Ereignisse fördern oder hemmen nur dann, wenn sie irgendwie zum Erlebnis werden. Wir haben um der Klarheit des Überblicks willen trotzdem versucht, zwischen beiden möglichst zu scheiden.

Wir untersuchen also zuerst die aus dem Menschen selbst kommenden Kräfte und dann die von außen ihn gestaltenden — und zwar zuerst die von Menschen, dann die von Ereignissen ausgehenden Einflüsse. Die Grenzlinien zwischen den einzelnen Gruppen sind dabei vielfach nicht scharf zu ziehen. Bohne: Religiöse Entwicklung.

-

3

34 1.

Entwicklungfördernde Kräfte.

Die religiöse Anlage drängt sich jetzt, im Beginn der Pubertäts­ zeit, mit großer Gewalt in den Vordergrund und erscheint fast sofort auch als Sehnen nach Lebensgrundlage und Lebensbefriedigung, zeigt also von Anfang an die Richtung auf Persönlichkeitsbildung. Daß dieses Sehnen wirklich aus dem Inneren der Persönlichkeit kommt, zeigt sich

daran, daß es ganz spontan erwachen kann. So bei Ludwig Richter, Lilly Braun, Malvida v. Meysenbug u. a. Im Anfang ist es meist ein unbestimmtes Gefühl des Unbefriedigtseins, das sich über die Ursachen nicht klar ist und auch noch kein Ziel der Befriedigung sieht. Bald aber bekommt es eine bestimmte Richtung: Malvida v. Meysenbug: „Ich fühlte mich auf der Schwelle eines neuen Lebens ... Es gehört zu den größten Martern, wenn ein junges Wesen sich mit Inbrunst zu den unbekannten Regionen des Wissens und Ideals hinsehnt und weder Mensch noch Gott findet, um seinen Wunsch zu erhören und diesen Schrei der Sehnsucht nach dem Manna in der Wüste zu befriedigen. Es ist das Märtyrertum der erwachenden Intelligenz, welche Führer und Antworten verlangt". Zugleich sagt sie von dem in dieser Zeit beginnenden Kon­ firmandenunterricht: „Ich ging diesem Unterricht mit wahrer Inbrunst entgegen. Ich hoffte die Offenbarung der Wahrheit zu empfangen und das Geheimnis des Lebens, — das Wort, das für immer mein Sein bestimmen sollte, zu finden". L. Richter: „Vorherrschend war das Ver­ langen nach einer höchsten Wahrheit in mir lebendig geworden. Ich suchte ein Feststehendes, auf das ich mich verlassen, dem ich mich anvertrauen und welches die unwandelbare Grundlage meines Lebens und Strebens sein könne. Unbewußt und unbenannt war es das religiöse Bedürfnis, welches sich fühlbar machte, aber niemals Nahrung fand. Das machte mich ruhelos und unsicher. Wer sollte mir den Quell des Lebens zeigen? Ich wußte niemanden". Vielfach richtet sich das Verlangen also auf eine höchste Wahrheit. Das Interesse ist dabei zum Teil rein intellektueller Art. So scheint es im Anfang bei Lilly Braun zu sein, als sie hinter der zusammenbrechenden Kindheitsreligion „neue Wahrheiten" sucht (vergl. S. 28). Meist aber verbirgt sich doch hinter dem Sehnen nach Wahrheit das Verlangen nach einer Lebensgrundlage (Malvida v. Meysen­ bug, Ludwig Richter). In diesem Falle regt nicht mehr der Erkenntnistrieb, sondern der Trieb nach Verfestigung und Gestaltung der Persönlichkeit das Sehnen an. Man sucht den Grund, auf dem die Persönlichkeit sich aufbaut. „Wir philosophierten über Gott und alle Welt, mit heißen

35 Herzen und heißen Köpfen," sagt Gustav Falke.

Mag das bei manchem

auch nur eine vorübergehende Erscheinung sein und nicht besonders tief eindringen (Falke), so geht es bei anderen wieder um so tiefer! L. Braun: „Oft hielt ich mich des Abends krampfhaft wach und saß mit glühendem Kopf und bebendem Körper an meinem Schreibtisch und schrieb Verse, die nach Freiheit und Liebe schrieen". L. Richter hat das Gefühl „als stürze der Himmel ein", „als werde ihm etwas Unentbehrliches genommen", als er sehen muß, daß auch das, was er bisher für seine festeste Stütze hielt, unsicher ist (siehe oben S. 28/9). — Das Suchen ist eine Zeitlang ein unsicheres Tasten. Besonders wenn dem jungen Menschen jeder Führer fehlt (Ludwig Richter u. a.), sucht man an allen Orten. Immer

aber scheint das Streben doch eine geistige Richtung zu haben. In keinem der uns vorliegenden Berichte suchte man den festen Halt des Lebens in etwas Materiellem. Auch Richter, der ganz ohne Anleitung ist, und dem der Weg zur Religion versperrt ist, sucht doch in der Philosophie. Meist aber schlägt der junge Mensch wohl infolge von Beeinflussung, die durch ein inneres Bejahen ergänzt wird, den Weg zur Religion ein. Besonders vom Konfirmandenunterricht erwartet man häufig Befriedigung des Sehnens und Lösung aller Fragen. So Malvida v. Meysenbug. Ähnlich Fischer: „Ich brachte (in den Konfirmandenunterricht) eine große Lernbegierde und ein herzliches Verlangen mit, mehr von Gott zü hören und zu lernen als in der Schule und zu Hause, denn das war bei mir ganz natürlich". Charitas Bischoff sagt: „Dann fingen die Stunden beim Pastor an. Mit erwartungsvoller Freude ging ich hin. Suchend streckte mein Herz Fühlfäden nach Verständnis und Anschluß aus. Es

war ein Hungern und Sehnen in mir, das zur Pein wurde". Auch Lilly Braun erwartet viel davon. Hand in Hand mit dem Gefühl des Unbefriedigtseins geht bisweilen die Erkenntnis eigner Unvollkommen­ heit, ja Sündhaftigkeit. So bei L. Braun: „Alle meine Sünden fielen mir ein, deren ich mich schuldig wußte". Oder bei Chr. Holstein: Sie erzählt vom Tag vor der Konfirmation, an dem sie gelogen hat: „Noch gestern hatte ich alle meine,Sünden) deren ich mich irgend ent­ sinnen konnte, auf einen langen Zettel geschrieben, mit dem Vorsatz, es zu bereuen und war ordentlich bekümmert gewesen, als mein Herz sich dazu nicht zwingen lassen wollte, sondern ziemlich gleichgültig blieb. — Und nun kam auf einmal die Reue wie ein Strom über mich. Ich bereute alles so sehr, ach so sehr, daß ich mir gar keinen Rat wußte". Der Zustand der Sündenangst hält längere Zeit bei ihr an: „In diesem Seelenzustande flüchtete ich in die Träume einer jenseitigen Welt. In

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36 glühenden Gebeten erzwang ich wieder und wieder das überirdische Gefühl der Gottesnähe und meine Seele klammerte sich an die erhabene Gestalt eines sündlosen Gottessohnes". Bei der Erkenntnis der Sündhaftigkeit äußert sich die religiöse Sehnsucht notwendig als Erlösungssehnsucht.

Noch in anderer Form bricht die religiöse Anlage durch als Abhängigkeitsgefühl oder als Andachtsgefühl. Chr. Holstein empfindet Grauen beim Anschauen des Göttlichen (eines Engels, s. o. S. 21), ein Zeichen, daß die Abhängigkeit vom Unendlichen im Anfang vielfach in Furchtgefühlen erlebt wird, da das Unendliche, Göttliche in seiner gewaltigen Größe im Anfang auf den Menschen drückt. Diese Furcht­ gefühle sind nicht Hemmungen auf dem Wege zu Gott, sondern machen im Gegenteil die ganze Größe Gottes klar und lassen die Gemeinschaft mit ihm als unendlich wertvolles Gut erscheinend Als einfache Andachts­ stimmung erscheint der Durchbruch der religiösen Anlage bei Lilly Braun: Sie baut sich in der Ecke ihres Zimmers einen kleinen Altar, stellt eine mit Rosenblättern gefüllte Malachitschale davor, Lichter herum und eine Apollogestalt als Gott in die Mitte: „Baldur nannte ich den Apollo und mit einer ersten instinktiven Auflehnung gegen die Schmerzens­ gestalt des Gekreuzigten betete ich den blühenden Gott des steigenden Lichtes an. Kindisch mags denen scheinen, die nichts wissen von den Tiefen der Kindesseele, ich aber weiß, daß keines gläubigen Christen Frömmigkeit inniger sein konnte, als die, die mich erfüllte, wenn ich vor dem selbstgeschaffenen Heiligtum in die Knie sank." Malvida v. Meysenbug sagt von dem Zimmer, in dem sie Konfirmandenunterricht hat: „Die ruhige kleine Stube mit ihren einfachen Möbeln und ihren Büchern, die Sonne usw.... das alles hatte eine sanfte mystische Harmonie wie ein Echo der ersten Zeiten des Glaubens. Ich wähnte mich in einer anderen Welt, in der Gegenwart Gottes selbst". Das Versinken im inneren Anschauen Gottes findet einen bei aller Schlichtheit doch gewaltigen Ausdruck in dem Bericht von K. Fischer. Er sagt von seinem Konfirmandenunterricht: „Ich war mit allem möglichen Respekt vor der Sache hingegangen. Aber es hatte nicht lange gedauert, da hatte mich der Pastor ganz scheu gemacht. Wenn ich dann so ruhig dasaß und den Pastor ansah und aufmerksam seinen Worten lauschte, dann rief er mir mit einem Male zu: ,Du, wie sitzt Du denn da?' Und 1 Vergleiche auch Rudolf Otto — „das Heilige" — der nachweist, daß dieses Furchtgefühl ein echt religiöses Gefühl ist.

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wie erschreckte ich mich jedesmal und kam ganz aus dem Texte und verlor die Andacht von seinem ganzen Vortrage. Aber mancher möchte wohl wissen, wie ich dagesessen habe: Das entsprach ganz der heiligen Scheu, die ich von jeher vor dem Worte Gottes empfunden habe. Ich hörte andächtig und aufmerksam zu. Aber je mehr ich das tat, um so mehr vergaß ich alles andere um mich herum und auch mich selber, und so verlor ich nach und nach meine Haltung, kam mit der Brust gegen den Tisch und sackte zusammen, wobei ich dann womöglich auch etwas frostrig ausgesehen habe. Aber der Schein trügt. Da hätte mich der Pastor einmal seine Worte sollen wiederholen lassen. Doch das hat er nie getan". Auch Emil Fromme! sagte von seinem Konfirmandennnterricht: „Ich war oft in jenen Stunden, als wäre ich in einer anderen seligen Welt", und ernennt diese ganze Zeit eine „seligeFestzeit". Der Stärke des Verlangens entspricht die Seligkeit der Erfüllung. — Vielfach finden sich auch mehrere Erscheinungen, Sehnen nach Wahrheit und Erlösung, Angst und Andachtsgefühle nebeneinander (Malvida v. Meysenbug, Lilly Braun, Karl Fischer). Daß die religiöse Anlage nun lebendig ist und auf Gestaltung der religiösen Persönlichkeit hinstrebt, zeigt sich weiterhin durch eine große Empfänglichkeit für jede Art von religiösen Eindrücken. Am besten wird das klar an der Erzählung Karl Fischers: Er ist einmal zu lange ausgeblieben. Da schließt ihn sein Vater mit hungerndem Magen an einem Nachmittag ein, und gibt ihm drei Kapitel aus der Bibel zu lernen, Matth. 5—7. Der Knabe, dem an diesem Tage eine Tracht Prügel lieber gewesen wäre als diese Freiheitsbeschränkung, fängt bitterlich an zu weinen. „Als ich lange genug geweint hatte, und es kam niemand, mich von meinem Elend zu erlösen, dachte ich endlich wieder an meine Aufgabe, und putzte mich ab und sah mir die Geschichte einmal an. Es stimmte, es waren drei Kapitel, Matth. 5—7, die so­ genannte Bergpredigt. Aber den Namen wußte ich dazumal noch nicht, wie ich überhaupt im Neuen Testament noch gar keinen Bescheid wußte. — Also fing ich an zu lesen beim ersten Verse, dem zweiten, dem dritten, — ja du ewige Gütigkeit, was stand denn da zu lesen, wie ging denn das, wie lautete denn nur das eigentlich? Das hatte ich ja in meinem Leben noch nicht gehört. Ich war ganz ruhig geworden. Wo kam denn nur das her? Was war denn das für einer, der das sprach? Ich holte mir einen Stuhl ran, vergaß alles andere und fing wieder von vorn an zu lesen. Als ich die erste Reihe hatte heruntergelesen, da konnte ich mir nicht helfen, da fing ich eben noch einmal an und

38 las wieder von vorn. Dann las ich aber weiter, aber sehre langsam, denn es war mir alles zu neu und ich bedachte mich da so lange dabei, und so kam es, daß ich noch nicht einmal das erste Kapitel zu Ende

gelesen hatte, viel weniger alle drei, da hörte ich es sieben schlagen und da kam mein Vater wieder. Er nahm gleich die Bibel in die Hand, lehnte sich rückwärts an den Tisch an und sagte: ,So nun sag einmal her'. Ja du lieber Himmel, ich konnte nicht einmal den ersten Vers, denn ich hatte gar nicht mehr ans Lernen gedacht. So wie er das aber merkte, sagte er: ,J Du hast wohl gar nischt gelernt', und legte die Bibel wieder hin und faßte mich am Arm und fing an, mir den Prozeß zu machen. Was er, wie die meisten Prozeßmachers, gern sehr in die Länge zog." Alle hemmenden Umstände können hier das Er­ lebnis nicht verhindern. Selbst in dieser Lage ist er religiös aufnahme­ fähig. Ja, trotz der Schläge kann er sich auch später noch an den Worten freuen. Ganz ähnlich ists ja bei ihm im Konfirmandenunterricht, wo er immer wieder aufs neue in Schauen und Andacht versinkt, ob­ wohl der Pfarrer ihn wieder und wieder aus seiner Stimmung reißt. Die Anregung zu solchen Gefühlserlebnissen kann von den verschiedensten Anlässen ausgehen. Oft ist die Natur dieser Anlaß. Hierbei wird das religiöse Erlebnis häufig durch ein Zusammenwirken von Naturgefühl und religiösem Gefühl begünstigt. Denn auch das lebendige Naturgefühl erwacht in dieser Zeit mit besonderer Stärke. So sagt Rudolf v. Gottschall: „In einer Laube unseres Gartens feierten wir den Geheimkultus des Jean Paul'schen Genius. Wir nahmen indes das Naturgefühl, dessen begeisterter Apostel Jean Paul war, mit hinaus in die reizenden Umgebungen von Mainz und da steigerte es sich oft zu überschwänglichen Verzückungen, daß die Jünglinge der Wertherperiode nicht in größerem Gefühlsrausch schwärmen konnten. Aber auch wenn ich allein, ohne einen Freund meiner Wege ging, hatte ich bisweilen in der Einsamkeit der Felder und Wälder ein unbeschreibliches Gefühl, ich möchte es ein pantheistisches nennen. Ich fühlte mich eins mit der Weltseele, es waren ähnliche Erleuchtungen, wie sie den Mystikern zuteil wurden, nur ohne allen Mystizismus". Ähnlich, wenn auch noch kindlicher, ist es bei F. Dahn, der im Anschauen des blauen Himmels Gott zu erleben sucht (vergl. auch den Bericht von Chr. Holstein, S. 50 und Kügelgen, S. 47). Daneben regt die Nacht das Gotteserlebnis oft an. Malvida v. Meysenbug bringt eine Nacht in einem Alpenkloster zu. Sie steht am offenen Fenster: „All die Schönheit und eigenartige Stimmung ließ mir das wirkliche Dasein ganz versinken. Lange, lange

39 schaute ich hinaus und hatte das Gefühl meiner Individualität verloren. Da schallte Plötzlich ein Glockenton durch das elementare Leben der Nacht und zitterte in den Mondeswellen wie ein Schöpfungsgebet, welches das Universelle wieder zu individuellen Formen rief". Richter erzählt davon, daß die Nacht ihn besonders znm Suchen nach Wahrheit angeregt habe und bei Chr. Holstein vollzieht sich unter dem Erlebnis eines Sonnenaufgangs sogar eine entscheidende innere Wandlung (f. S. 64). Auch andere Ereignisse werden von der religiösen Anlage auf­ gegriffen und zu besonders liefen Gefühlserlebnissen ausgestaltet. Das gilt vor allem vom Konfirmationserlebnis, das sich für viele sehr eindrucksvoll gestaltet. Kügelgen erzählt davon: „Vor uns stand Roller (der Pfarrer). Es war an dem Mann nichts Gemachtes. Er sah aus wie ein Felsen vom ersten Schöpfungstage. Die Gestalt, das Gesicht, die Rede, aus der die majestätische Gewißheit ewig unwandelbarer Wahrheit sprach, das alles hatte etwas Apostolisches. Und als er nun aus der Tiefe seines Herzens zu uns sprach, stahl sich eine Träne nach der andern über sein steinernes Gesicht. Diese innere Bewegung eines Mannes, der seine Bewegung sonst hinter Schloß und Riegel hielt, ergriff mich mehr noch als die Worte, die er sagte, und sehr bald fand ich mich so tief eingetaucht in die Feier jener heiligen Stunde, daß ich auf Worte kaum noch hörte. Zu einigem Aufmerken kam es erst wieder, als ich knieend auf den Stufen des Altars, meine Hand in Rollers rechter, seine Linke auf meinem Haupte, den Segen der Kirche empfing. , Gibst Du dich dem Herrn Jesu mit Leib und Leben zum Eigentum hin?/ So frug mich Roller und ich sagte ,Ja' und meinte es aufrichtig und ehrlich". Fromme!: „Die Konfirmation selbst war ergreifend. Als ich nieder­ kniete am Altar, hörte ich nur das Wort, daß einst der Konfirmationsspruch der Mutter gewesen war: Der Gott des Friedens heilige Euch durch und durch". — Charitas Bischoff: „Auch der Tag der Konfirmation brachte mir große seelische Erregung. Ich fühlte eine heilige Weihe, zugleich aber hatte ich ein Gefühl schmerzlicher Sehnsucht, unendlicher Wehmut. So wie sonst mein Leben, so war auch dieser Tag anders als der meiner Gefährtinnen". Auch für Christine Holstein bedeutet der Tag ein tiefes Erlebnis (vergl. S. 50). Selbst in einer Reihe von Auto­ biographien, die sonst nichts über die religiöse Entwicklung berichten, fand sich doch eine kurze Notiz über einen tiefen Gefühlseindruck bei der Konfirmation. — Auch andere feierliche Gottesdienste können solche Wirkung hervorrufen — besonders wohl die katholischen. Lewin Schücking, ein Katholik, erzählt: „Die alten Kirchen und Münster, die

40 wie stille Asyle aussehen, in die sich die Vergangenheit geflüchtet hatte, und der pomphafte Kultus bei den bischöftlichen Hochämtern, mit seinen musikalischen Aufführungen, Weihrauchwolken und durch die Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen, hat stets auf mich erschütternden Eindruck gemacht. Obwohl ich schon damals eine kalte Entfremdung gegen die Kirche im Herzen trug, so lockte mir diese Musik doch stets Tränen ins Auge". Ja selbst der Kirchenraum löst die Andachtsstimmung aus. Emil Fromme! sagt: „Die Kirche, die neben dem Pfarrhaus lag, war eine der ältesten Straßburgs. Es war die Kirche, in der Joh. Tauler seine gewaltigen Predigten gehalten hatte. Wie oft saß ich da vor der (Konfirmanden-) Stunde und ließ mir die Schauer durchs Herz gehen". — Endlich sind es ^Persönlichkeiten, die solche Stimmungen veranlassen. So ist es bei M. v. Meysenbug. Sie sagt von ihrem Konfirmator: „Er war noch ein junger Mann, schön wie ein Christus, mit einem Lächeln des Wohlwollens auf den Lippen. Er war nicht sehr orthodox, hatte aber eine große Güte und eine sanfte, sentimentale Religiosität, die ihn allen seinen Schülern wert machte. Dieser treffliche Mann, wenn er auch meinen Verstand nicht immer befriedigen konnte, wußte doch stets mein Herz zu rühren". Noch viel größer ist das vom Pfarrer ausgehende Gefühlserlebnis bei Charitas Bischoff: „Eines Tages kam ein Herr in die Schule. Es war gerade Religionsstunde. Er war von schmächtigem Körperbau, sein Gesicht war bleich, das Haar war dunkel, er trug es ziemlich lang. Aus diesem blassen Gesicht schauten ein paar große blaue Augen ernst auf die Kinderschar. Diese Augen beunruhigten mich. Immer zogen sie meinen Blick auf den Fremden. Jetzt begegneten sich unsere Blicke. Ich erschauerte. Mir war, als wolle er mir auf den Grund der Seele sehen". In der Pause bleibt sie zurück, da sie es nicht wagt, an dem Fremden vorbeizugehen. Nach der Schule erfährt sie, daß es der Pfarrer sei, bei dem sie nächstens Konfirmandenstunden bekämen. „Ich erschrak. Meine Seele war in großer Spannung. Ich dachte viel an die kommenden Stunden und sehnte sie herbei. War mir doch, als müßte in diesen Stunden etwas ganz besonderes mit mir vorgehen. Dann fingen die Stunden an ... Von dem allgemeinen ,Jhr' kam er meist auf das ,Du' in der Anrede und das machte auf mich den Eindruck, als seien er und ich ganz allein miteinander. Ich fühlte mich ganz persönlich von ihm aufgefordert, vermahnt und getröstet, und in meinem Herzen gab ich ihm lebhaft Antwort auf jede seiner Anregungen. — Er spricht vom Teufel: .Auch heute noch geht der Teufel umher wie ein brüllender Löwe und

41 sucht, welchen er verschlinge. Willst Du dich etwa von ihm verschlingen lassen?' .Nein', rief es furchtsam in mir. ,Der Teufel', fuhr er fort, .ist zu schlau, sich abschreckend zu zeigen. Er will deine Seele haben, deshalb verstellt er sich. Er kann schön aussehen, aber trau ihm nicht, dann bist Du verloren.' Ich zitterte und mein Herz versprach auf der Hut zu sein." Dieser Einfluß des Pfarrers bleibt nach Art und Stärke derselbe. Ch. Bischoff wohnt in einem Hause, in dem der Mann ein Spötter und unlauterer Charakter ist. Einmal spricht der Pfarrer von Spöttern und mahnt, daß man sie fliehen solle. „Mich hatte", sagt da Ch. Bischoff, „die erregte Rede so ergriffen, daß ich heftig weinte und bei mir selbst eifrig sagte: ,Jch geh ja gleich, ich gehe gar nicht erst wieder hinunter zu ihnen'." Und wirklich wandert sie gleich nach der Stunde zu anderen Bekannten. „Dann kam die letzte Konfirmandenstunde. Ich konnte mich vor Schmerz kaum fassen. Fest sollten wir stehen den Versuchungen des Lebens gegenüber. Ich gelobte es im Stillen mit aufrichtigem Ernst. Der Pastor verteilte dünne Heftchen: Konfirmandenbüchlein. Ich sah durch Tränen, daß er mit zierlicher Schrift seinen Namen auf die Außenseite geschrieben hatte. Ich streichelte die Stelle. Ich legte meinen Kopf auf die Arme und weinte lange und heftig." Es scheint, als seien wie oben die Natur­ gefühle hier unbewußt erotische Gefühle dem religiösen Gefühl zu Hilfe gekommen und hätten das Erlebnis verstärkt. Anscheinend wird des­ halb häufiger von Mädchen eine Persönlichkeit religiös erlebt, doch fehlen auch bei Knaben Beispiele solchen Erlebens nicht. Behrmann erzählt, daß sein Religionsunterricht zuerst langweilig gewesen sei: „Das wurde anders bei Oberlehrer v. d. H. Hier lernte ich zuerst einen positiven Christen kennen mit dem vollen Bekenntnis zum gottmenschlichen Erlöser, zu der Wahrheit des göttlichen Worts. Dies Bekenntnis war die Aussprache seines von Glauben durchdrungenen Inneren. Über seinem Religionsunterricht lag eine heilige Weihe, die sich uns mitteilte, so daß es uns nicht möglich war, zugleich etwas Profanes zu treiben. Zugleich' war sein Unterricht aufs Leben angewandt und interessierte aufs höchste. Beides, der tiefe Ernst und die praktische Anwendung sind seinem Unter­ richt eigen geblieben all die Jahre hindurch. Heute klingt es märchen­ haft, wenn ich sage, daß wir außer den Konfirmandenstunden noch zehn bis elf Religionsstunden (einschließlich Bibellesen) hatten; in so viel Stunden sind wir doch nicht abgestumpft gegen den Reiz des Religionsunterrichts". Auch auf'Fromme! hat sein Konfirmator tiefen Eindruck gemacht. Wenn gegenüber dem ernsten Manne auch zunächst

42 „der Respekt größer war als Liebe und Vertrauen", so fand er doch bei ihm was er brauchte. Von einem anderen sagt er: „Das junge Herz wurde mir warm und die mechanisch auswendig gelernten Sprüche wurden lebendig. Ich war oft in jenen Stunden, als wäre ich in einer anderen seligen Welt". Auch Funkes Erlebnis mit Wichern (siehe unten S. 53) gehört hierher. Bei all diesen Erscheinungen wollen wir zunächst nicht darauf sehen, daß Einflüsse vorliegen, sondern lediglich darauf, wie gewisse Ein­ drücke, die vielfach an sich gar nicht religiöser Art sind, von dem jungen Menschen zu religiösen Erlebnissen gemacht werden und wie leichtere religiöse Eindrücke von der religiösen Anlage erfaßt und in hohem Maße gesteigert werden. Es braucht sich dabei nicht immer um vorüber­ gehende Erlebnisse zu handeln. Die Steigerung des religiösen Erlebens kann so anhaltend sein, daß man sich zum Teil monatelang „wie in einer anderen Welt" befindet (Fromme! und Chr. Holstein). Besonders häufig ist das in der Zeit vor der Konfirmation der Fall. Frommel sagt von ihr, daß sie sich „wie eine selige Festzeit" aus seinem übrigen Leben heraushob und: „das ist der Gesamteindruck jener Zeit: Ich weiß nur, daß ich auf heiliger Erde stand". Alle diese Tatsachen zeigen, daß sich' die religiöse Anlage jetzt in besonderer Weise in den Vordergrund drängt und zum Teil eine geradezu beherrschende Stellung im Innern des Menschen einnimmt. Diese Anlage entwickelt nun im höchsten Maße schaffende Kräfte. Wenn die Persönlichkeit wirklich dem eignen Wesen entsprechen soll, dann darf man beim Aufbau des inneren Menschen nicht allein auf fremde Nahrung angewiesen sein. Der Mensch muß auch aus sich heraus schaffen können, muß zum mindesten in der Lage sein, das Erleben selbsttätig zu verarbeiten und für sich fruchtbar zu machen und sich auszuwählen, welche Nahrung ihm zuträglich ist oder nicht. Schon beim Kind hatten wir feststellen können, daß gewisse Ansätze vorhanden waren zu der Fähigkeit, die zuträgliche religiöse Nahrung zu finden und unzuträgliche abzulehnen. Dort war aber das Verhalten des Kindes rein passiv. Ja, es mußte sich u. U. doch vollfüttern lassen, ohne Widerstand leisten zu können. Auch jetzt ist die Auswahl vielfach noch unsicher und zum Teil rein instinktiv. So spricht Lilly Braun davon, daß sie „in einer ersten instinktiven Auflehnung gegen die Schmerzens­ gestalt des Gekreuzigten" den blühenden Gott des steigenden Lichts angebetet habe. In zunehmendem Maße aber wird das Verhalten bewußt. Wenn der Mensch sich selbst erfaßt, wird er sich auch über

43 die ihm zuträgliche Nahrung klar, indem er sie beobachtet, ob sie ihn in seiner Entwicklung weiter, seinen jeweiligen Zielen näher bringt. Naturgemäß tritt hier die negative Seite, die Ablehnung des Unzu­ träglichen stärker in den Vordergrund, da dem jungen Menschen ohne sein Zutun immer wieder religiöse Nahrung angeboten wird. So erzählt Funke (13—14jährig): „Vom Himmel hatte ich ja viel gehört, aber wenn ich mir ehrlich den Puls fühlte, so mußte ich mir sagen, daß ich eigentlich sehr wenig Lust hatte, hineinzukommen. Nichts tun, als Gott schauen und ihm dreimal heilige Loblieder singen, das schien mir doch etwas langweilig. Ich war bereits in der Periode, wo das Schaffen und Wirken, das Werden und Wachsen mir als das höchste erschien.... Der Wunsch, die übersichtlichen und faßbar»» Erdenfreuden zu genießen, war entschieden vorherrschend". Deshalb sind ihm christliche Kreise, in denen viel vom Himmel gesprochen wird, unsympathisch. Nur ungern folgt er der Mutter in die Gemeinschaftsstunden. Auch der Konfirmandenunterricht befriedigt ihn nicht, weil er „mehr auf den Himmel als auf die Erde" zugeschnitten gewesen sei. In beiden Fällen lehnt er das seiner Natur Wesensfremde ab. Dadurch wird die Über­

ladung des Inneren mit fremdem Ballast vermieden und die einheitliche und ruhige Entwicklung der Persönlichkeit wesentlich gefördert. Neben Funke zeigen auch L. Braun und M. v. Meysenbug diese Fähigkeit, wenn sie auch nicht mit gleicher Sicherheit das Rechte finden. Denn auch diese Fähigkeit wächst, wie jede andere und kann zu gewissen Zeitpunkten der Entwicklung noch zu schwach für ihre Aufgabe sein. M. v. Meysenbug wird dadurch in schwere Kämpfe gestürzt: „Ich fühlte mich stark (kurz vor der Konfirmation), um den Kampf mit der Erbsünde zu beginnen, an die man mich glauben lehrte, mit der ,Welt', die dem Geist ent­ gegengesetzt ist. Ich nahm es ernst mit dem Heil meiner Seele. Ich wollte nicht bei den Worten stehen bleiben, sondern die christliche Askese in Wirklichkeit üben und den Sieg des Geistes über das Fleisch er­ ringen, welchen uns das Dogma als das Ziel der Vollkommenheit zeigte. Aber gerade als wollte mich der Versucher auf die Probe stellen, so fühlte ich zu gleicher Zeit die Liebe zum Leben und zu allem, was es Schönes gibt, in voller Stärke in mir erwachen. Der Dämon führte mich immer von neuem auf die Höhen, zeigte mir die Schätze des Daseins und sagte: ,Alles das wolltest Du verlassen?' ... Ich entdeckte immer mehr Abgründe von Skeptizismus in mir, das Dogma der Erlösung gab mir immer wieder Widersprüche, so oft ich es mir begrifflich klar machen wollte. Gott, der die höchste Weisheit und

44 Güte sein sollte, konnte er den Menschen mit der Fähigkeit zur Freiheit schaffen, indem er ihn zugleich zum blinden Gehorsam, zur ewigen Unterwerfung unter die absolute Autorität verdammte? Er hatte ihm das Paradies gewährt, mit der Bedingung, Sklave zu bleiben. Sobald der Mensch seine Individualität bejahte und sich wahrhaft zum Menschen machte, indem er für sich selbst urteilte, wurde nicht nur er aus dem Paradies vertrieben, sondern auch seine Nachkommenschaft, bis in das fernste Glied, die doch keinen Teil an der Übertretung gehabt hatte. Und wo war denn das Verdienst Christi, für den der kurze Moment irdischen Leidens nichts war im Vergleich zu seiner göttlichen Ewigkeit, da er vom Kreuz aufstieg in die Herrlichkeit Gottes. Ich hatte noch niemals das Bedürfnis eines Mittlers und Erlösers gefühlt. Es hatte mir immer geschienen, als müsse das Herz Gott ohne Vermittlung finden, sich unmittelbar ihm vereinen. — Aber wie sehr lastete das Gewicht dieser Widersprüche und Fragen ohne Antwort auf meinem Gewissen. Wie fühlte ich mich unglücklich und verloren in diesem Labyrinth von Gedanken, in diesem Kampf zwischen Vernunft und Glauben. Ich lag stundenlang auf meinen Knien und betete mit heißen Tränen, daß Gott mir beistehen möge und mir den wahren Glauben gebe. Ich flehte ihn an, mir das mystische Geschenk der Gnade zu geben. ... Das Unendliche zu erfassen, die Offenbarung der ewigen Wahrheit zu empfangen, durch die göttliche Gnade in ein neues ideales Wesen verwandelt zu werden, das war es, was meine Seele wünschte, was ich in der letzten feierlichen Woche vor der Konfirmation zu erlangen hoffte". Vom Abendmahl erwartet sie das entscheidende Erlebnis, wenn auch der skeptische Dämon ihr immer wieder die Erklärung des Wunders der Transsubstantiation abverlangt. Während der Kon­ firmation betet sie um Segen und bekennt ihren Glauben mit zuversichtlichem „Ja". Aber der klagende Gesang: „O Lamm Gottes unschuldig" bringt ihr von neuem Angst und Zweifel zurück. Als der Prediger die Formel vorliest: Wer unwürdig isset und trinket ... der isset und trinket sich selbst zum Gericht, da überfällt sie ein großer Schreck. Immer wieder sagt sie sich: „Nein, ich bin unwürdig, ich liebe die Welt, die Sonne, die Blumen, die Jugend, die Schönheit". Und sie kann nicht, wie die anderen bei der Frage, ob sie aufrichtig bereut, fest und bestimmt „ja" sagen. „Mein Herz schlug in heftigen Schlägen, die Stimme hätte mir versagt, um zu rufen: ,Nein ich kann nicht, ich habe nicht den rechten Glauben'." Als das erwartete Wunder nicht eintritt, fühlt sie sich verdammt. — Die furchtbaren Kämpfe haben sie unfähig ge-

45 macht, weiter zu kämpfen. Sie braucht die Natur, die Sonne, die grünen Wälder und Wiesen, um ihr Gleichgewicht wieder herzustellen, was dann, wenn auch langsam geschieht. — Der ausführliche Bericht, auf den wir auch in anderem Zusammenhänge noch zurückkommen müssen, zeigt klar, wie bei wachsender Selbständigkeit immer energischer das Wesensfremde abgelehnt wird. Zuerst geht M. v. Meysenbug ganz auf die Forderung ein, Welt und Erbsünde zu besiegen. Schließlich regt sich, zuerst als Versuchung empfunden, allmählich aber immer klarer als das ihrem Wesen entsprechende erkannt, die Erkenntnis, daß sie Welt und Freude liebt und kein Bedürfnis habe nach einem Mittler und Versöhner. Sie ist aber zu schwach, um diese Gedanken einfach abzulehnen, und es entspinnen sich heftige seelische Kämpfe, die mit der Stärke der gegenteiligen Beeinflussung wachsen und bei der Konfirmation Höhepunkt und Krisis er­ reichen. In der folgenden Zeit setzt sich ihr Wesen dann vollkommen durch. Fast noch größer ist die Kraftentfaltung beim Kampf um die eigne Wesensart bei L. Braun, da bei ihr die Gegenwirkung stärker ist. Nach dem Zusammenbruch ihrer Kindheitsreligion (siehe unten S. 27) und einer Zeit des Suchens kommt sie in den Konfirmadenunterricht. Der Pfarrer bittet um Vertrauen und gibt volles Recht, ihn zu besuchen und zu fragen. Sie macht davon Gebrauch, wird aber bitter von ihm enttäuscht. Auf ihren Bericht von häßlichen Phantasien hat der Pfarrer nur phrasenhafte Antworten: „Das sind Versuchungen des Bösen, denen du ausgesetzt bist. Je mehr dein Glaube lebendig werden wird, je inniger Du beten lernst, desto sicherer wirst Du ihn überwinden... Gott wird die flehend erhobenen Hände deiner Seele ergreifen und Dich aufrichten vom Staube". Er gebietet ihr dann, die Bücher, die sie bisher geliebt hat, Faust, Iphigenie, Werther, nicht weiter zu lesen und nur zu lesen, was er ihr gibt. „Zerschlagen", sagt sie, „schlich ich nach Hause, aber ich war

fest entschlossen zu tun, was er verlangt hatte." Sie hat zwar zu dem Pfarrer selbst kein Vertrauen mehr, hofft aber von dem, was er lehrt, Befreiung. „Und ich klammerte mich an die Hoffnung. Ich las in den Büchern, die er mir gab und in der Bibel, ich klagte mich vor mir selber an, wenn ich eine rechte Andachtsstimmung nicht festhalten konnte und immer wieder an den Widersprüchen und Unwahrscheinlichkeiten, die mir auf­ stießen, Anstoß nahm." Auf alle Fragen, die sie an den Pfarrer richtet, erhält sie zur Antwort: „Darüber darf man nicht nachdenken, denn der Glaube versetzt Berge". So bleibt sie allein in diesem schwersten Kampf ihrer Kindheit. Selbst Gott hilft ihr nicht, so oft und verzweifel sie ihn auch anruft. Da bekommt sie die Werke Shelleys in die Hand, die sie

46 eifrig liest. „Ich empfand", sagt sie, „Shelleys Atheismus nicht, ich fühlte nur, daß er den Gott verleugnete, an den auch ich nicht zu glauben vermochte. Und wie eine Offenbarung wirkte auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher Idealismus, sein Vertrauen in der Menschen eigne Kraft, sein feuriger Appell an die Macht des Willens. In langen Nächten voll innerer Kämpfe suchte ich mir klar zu werden über den Weg, den ich zu gehen hatte und baute mir langsam, Stein um Stein mühselig zusammentragend, die Kirche meiner Religion auf. Ein heißes Glücks­ gefühl erfüllte mich, als ich mein Werk vollendet sah und der Entschluß in mir feststand, mich zu keinem anderen Glaubensbekenntnis als meinem eigenem zwingen zu lassen — koste es, was es wolle. Mein Glaubensbekennntnis lautete: ,Jch glaube an Gott den Vater, den allmächtigen — Ich glaube nicht an diesen Gott, glaube nicht, daß er in sechs Tagen die Welt geschaffen hat. Ich glaube der Wissenschaft mehr als den un­ bekannten Fabelerzählern des Alten Testaments. — Ich glaube an eine höhere Gewalt, die wir Gott nennen, die der Ursprung unseres Lebens ist, die die Kraft des Werdens in das erste Atom gelegt hat. Mein Geist ist ein Teil des Gottesgeistes. (Und so fort durch alle drei Artikel)... Die Kirche und ihre Dogmen halte ich für menschliche Einrichtungen, denen ein freier Geist sich nicht zu beugen braucht. Sollte dennoch die mir gelehrte christliche Religion die wahre sein, so hoffe ich das mit der Zeit zu erkennen. Wenn es ein Verbrechen ist, daß ich mich jetzt von ihr lossage, so scheint es mir ein noch größeres Verbrechen, mich zu ihr zu bekennen, wo mein Herz nichts von ihr weiß'." Es gibt nun einen förmlichen Kampf zwischen ihr und dem Pfarrer. Vor jeder Zu­ sammenkunft „sammelt sie ihr Rüstzeug aus ihrem verborgenen Bücher­ schatz, der um vieles gewachsen ist". Trotzdem unterliegt sie äußerlich einem letzten Vergewaltigungsversuch und wird gezwungen, sich konfirmieren zu lassen, was ihr wir ein Leichenbegängnis vorkommt. An ihrer inneren Stellung ändert das nichts. — Bei Lilly Braun wird klar, daß in der Auswahl der rechten Nahrung starke seelische Aktivität ruht. Wenn sie sich auch tatsächlich nur zwischen zwei vorhandenen Autoritäten entscheidet und später von Shelley ebenso abhängig ist, wie früher von anderen, so verhält sie sich doch gegen den Pfarrer aktiv ablehnend — nach schwachen Versuchen sich ihm zu fügen — und baut selbsttätig Shelleys Gedanken zu einem einheitlichen Weltbild aus. Die Wahl selbst erfolgt intuitiv. Ohne wissenschaftliches Verständnis für Shelleys Ideen fühlt sie doch die seelische Verwandtschaft. Daß er sie befriedigt, gibt ihrer Wahl die Berechtigung. Sie hat in ihm ihr Wesen gefunden.

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Nicht immer ist dieser Mensch, in dem wir uns selber finden, im rechten Augenblick zur Hand. Dann stockt die Entwicklung. Der junge Mensch wird zwar sicherer und selbständiger in der Ablehnung des Falschen, ist aber im übrigen unklar und unbefriedigt, bis der erlösende Mensch oder die erlösende Idee ihm entgegentritt. So geht es Ludwig Richter (siehe unten S. 48) und M. v. Meysenbug. Es ist einige Zeit nach ihrer Konfirmation verstrichen. Da sagt sie: „Die alten religiösen Fragen erwachten in mir in neuer Weise. Ich fürchtete die Kritik nicht mehr. Ich ging nur äußerst selten in die Kirche, weil ich dort keine neuen Gedanken, keine wirkliche Anregung mehr fand". Sie spricht auch ihre Gedanken offen aus, und schreibt z. B. ihrem früheren Lehrer, daß sie beim Abendmahl nie das Geheimnis der Gnade erfahren habe und es nur als Gemeinschaftsmahl ansehen könne. Als aber der Mann kommt, der ganz ihrem Wesen entspricht, wendet sie sich ihm sofort mit ganzer Seele zu. Es ist ein junger Prediger, der in die Stadt kommt. „Das war nicht mehr die sentimentale Moral noch die steife Unbestimmtheit der Orthodoxie, sondern ein jugendlicher Bergstrom, der daher brauste voller Poesie und voller neuer belebender Gedanken. Das war die reine Flamme einer ganz idealen Seele, gepaart mit der Stärke der mächtigen Intelligenz, die der schärfsten Kritik fähig war. Das war ein junger Herder, der, indem er das Evangelium predigte, die höchsten philosophischen Gedanken zur Geschichte der Menschheit entwickelte. Er nahm in meiner Phantasie Platz als der inspirierte Prophet einer neuen Wahrheit." Ähnlich geht es Kügelgen: „Ich war gut unterrichtet, kannte sehr wohl die Glaubenssätze meiner Kirche und zweifelte nicht im geringsten an der Verderbtheit meiner Natur. Aber ich ließ mir keine grauen Haare darum wachsen". Hier ist er also ganz passiv. Um so aktiver gibt er sich aber an Thomas ä, Kempis hin. Er hat ein schönes einsames Plätzchen ge­ funden: „Ich besuchte es fleißig und lauschte hier in verstohlener Ein­ samkeit der sanften Predigt des alten Mystikers, dessen Büchlein von der Nachfolge Christi man mir geschenkt hatte und dessen Worte mein jugendliches Herz wie Äolsharfenklang berührten. Dann leuchtete der

Morgen um mich her, tief unter mir rauschte der Strom und ich zerfloß in süßer Schwärmerei. Es ist unbeschreiblich, welcher Entzückungen eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der Schule abschüttelt. .. Ja, wenn ich an der Brustwehr des Altans lehnte, die Herrlichkeit der Schöpfung um mich zum Tempel Gottes wurde und aus den milden Worten des alten Paters die Lockstimme des Erlösers an mein Ohr schlug, so war ich fest entschlossen, ein Heiliger zu werden". — Daß

48 freilich eine übermäßige Aufnahme von an sich dem Wesen des Menschen

entsprechender Nahrung auch einmal gefährlich werden kann, zeigt die Entwicklung E. v. Millichs. Wir haben bisher zwar von innerer Aktivität, aber nicht von eigentlich schöpferischer Tätigkeit des jungen Menschen in dieser Zeit gesprochen. Auf den ersten Blick scheint es, als sei der Mensch in dieser Periode nur intellektuell schöpferisch tätig. So L. Richter: „Als ich einmal des Abends vom Naturzeichnen nach Hause ging und die Sterne am Himmel glänzten, kam ich in ein Nachdenken über den lieben Gott,

der mir verloren gegangen war und ohne den es mir gar nicht mehr wohl wurde. Da baute ich mir in meiner Einfalt eine Kinderphilosophie zusammen, welche mir anfänglich zwar große Freude machte, nach kurzem aber doch wieder wie eine Seifenblase wirkungslos zerging. Ich verfiel nämlich auf die kühne Idee, ob nicht die Sonne, von der doch alles Leben und Gedeihen komme, vielleicht Gott sei. Dies schien mir nun recht handgreiflich nahe zu liegen, nur konnte mir das kugelrunde, feurige Sonnengesicht kein Vertrauen, keine Liebe einflößen. Das dumme Kinder­ herz blieb unbefriedigt und die naturphilosophische Idee zerrann in Dunst, wie es auch den philosophischen Ideen großer Leute zu passieren pflegt. — Das heimliche Zweifeln hatte die Begierde nach Belehrung in mir angeregt und einen Wahrheitstrieb, welcher befriedigt sein wollte. An einem Buchladen sah ich einst das Büchlein: Grundriß praktischer Lebensphilosophie, kaufte es sogleich und glaubte nun einen sicheren Wegweiser ins Land der Wahrheit und Glückseligkeit gefunden zu haben". Es sind aber nur Aphorismen, die er nicht versteht. „Ich hatte in jener Zeit ein Gefühl von einer doppelten und dreifachen Umhüllung meines ,bischen Unverstands Aus dem armen Wurm wollten sich ein paar Flügel, die Sehnsucht nach etwas Besserem herausarbeiten, welche den Druck der Puppenhülle wohl fühlbar machten, aber noch keine Kraft gewährten, sie zu sprengen." Und nach einiger Zeit muß er wieder sagen: „Wieder regte sich die Frage nach Gott, nach dem Lebendigen, den ich verloren hatte. Grund und Ziel des Lebens schien mir dunkel und verworren und ich hatte das Gefühl, daß das nicht das Rechte, nicht der gesunde Zustand sein könne. Es war in meinem Herzen nur jener Altar stehen geblieben: ,dem unbekannten Gott', aber kein Paulus wollte kommen und mir den Weg zu ihm zeigen. Auf nächtlichen Gängen baute ich mir die wunderlichsten Systeme auf, phantastisch kind­ liche Träume, meinem damaligen Verständnis entsprechend, welches nur wahrhaftes Zeugnis gab von meinem tiefen, aber unerfüllten geistigen

49 Bedürfnis. Wie oft sehnte ich mich nach einem geistig reifen Freunde, den ich mich hätte anvertrauen können". Er ist zu dieserZeit mindestens 16—17 Jahre. Wer Richters Schlichtheit und Bescheidenheit kennt, fühlt, was hinter diesen „kindlichen Phantasien" für schaffende geistige Arbeit steckt. Die beiden, fast gleichlautenden Berichte zeigen, wie unermüdlich tätig er ist. Manchmal wird morgen schon eingerissen, was heute gebaut wurde, und doch treibt die schöpferische Kraft zu immer neuem Bauen. Ähnlich

ist es bei Lilly Braun, wenn sie erzählt, daß ihre Fragen zu Quader­ steinen eines babylonischen Baues wurden, von dem aus sie über die Wolken zu sehen hoffte, oder daß sie später in langen Nächten, Stein um Stein mühselig zusammentragend, die Kirche ihrer Religion gebaut habe. An diesem letzten Satz wird aber bereits klar, daß es sich nicht mehr um eine Tätigkeit allein des Intellekts handelt, sondern daß sich gewissermaßen die gesamte Persönlichkeit ihre Grundlagen schafft. Vor­ handenes zusammenfügend, Fehlendes ergänzend und neu schaffend. Das Wichtigste dabei ist, daß alles in Beziehung gesetzt wird zur eigenen Persönlichkeit, die nicht nur die einzelnen Teile des Baues zur Einheit zusammenfaßt, sondern auch auf Grund eigenen Erlebens oder auch nur Angelegtseins Neues aus sich hinzufügt. Alle Philosophie dieser Zeit wächst aus dem Bedürfnis, alle Spekulation hat das Ziel, fehlende Erlebnisse zu ersetzen und damit Lücken der Persönlichkeit zu überbrücken. Danach ist der Verstand also nur das Mittel und die eigentlich schöpferische Kraft liegt im Zentrum der Persönlichkeit, die nach Selbsterfassung und Gestaltung ringt. — Es ist noch nie eine Philosophie aus dem logischen Verstand allein geboren worden. — Die gleiche, wenn nicht eine noch viel stärkere schöpferische Kraft ruht deshalb in jedem Gotteserlebnis. Das soll freilich nicht heißen, daß der Mensch sich seinen Gott selbst schaffe. Zwar wird es von einzelnen versucht. So gestaltet sich Lilly Braun im ersten elementaren Durchbruch ihres religiösen Gefühls selbst einen Gott nach ihrem Herzen, indem sie Baldur, den „blühenden Gott des steigenden Lichtes", anbetet. Man kann im Zweifel sein, ob man es hier mit einem Gotteserlebnis zu tun hat und wird es eher ein Tasten nach Gott nennen. — Aber nein, auch das wirkliche Gotteserlebnis ist vom Menschen aus ge­ sehen ein schöpferischer Akt, bei dem es allerdings dahingestellt bleiben muß, wieweit in ihm göttliche Kräfte tätig sind. Es lebt ja letzten Endes in jeder schöpferischen Tätigkeit göttliche Urkraft. — Hier soll nur die feine Schilderung des Palmsonntagmorgens von Chr. Holstein stehen. „Auf den düsteren Sonnabend folgte mit leuchtender Klarheit der PalmBohne: Religiöse Entwicklung.

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50 sonntag. Ich erwachte tief erregt mit klopfendem Herzen. Ein Star saß auf dem knospenden Kirschbaum vor meinem Fenster und pfiff hell durch die stille Morgenfrühe, ein überirdisch blauer Himmel strahlte in meine Kammer. Hingerissen von den heißesten Gefühlen sank ich vor dem offenen Fenster in die Knie, die Augen auf den blauen Himmel geheftet, als wollte ich ihn durchdringen. Meine Seele versank, mein ganzes Wesen löste sich gleichsam auf, verlor sich in der tiefen Unend­ lichkeit des vor mir in unendlicher Bläue ausgebreiteten Himmels. ,O Gott' stammelte ich und plötzlich durchdrang mich ein unbeschreibliches Gefühl von Gottesnähe, mir war, als fühlte ich meine Hand ergriffen von einer mächtigen göttlichen Hand, als flöge meine Seele fort und schmiege sich zu Gottes Füßen, an den Saum seines Gewandes, umleuchtet vom Glanze der Ewigkeit. — Und dann schritt ich unserer Kirche zu, so leicht, so frei von aller Erdenschwere, so rein und entsühnt. Und die Glocken läuteten hell und wir Kinder schritten im Zuge. ... Wir knieten vor dem Altar nieder und sprachen laut und langsam unser Glaubensbekenntnis. Seine wuchtigen Worte, seine großen Bilder — Gott der Vater, die Welt in seiner mächtigen Hand haltend, Gott der Sohn auf seiner Erden-, Höllen- und Himmelfahrt, Gott der Heilige Geist, das himmlische Feuer, die Menschenherzen emporziehend — durchschauerten mich und ließen vor meinem Geiste eine ganze Welt erstehen, ein zweites hehres Leben hinter der Wirklichkeit aufleuchten. Und während die Orgel spielte, Melodien und Gesänge mich umfluteten und mein Blick sich erhob und die Sonne suchte, deren strahlendes Auge durch das hohe Kirchenfenster auf uns niederschaute, träumte meine Seele weiter und weiter ihren seligen Gottestraum." In einem ungeheueren inneren Aufschwung greift der Mensch hinaus in die Unendlichkeit, faßt die Hand Gottes, gibt sich ihm hin und nimmt sich wieder aus seiner Hand, nur edler, höher und mit Kräften ausgestattet, von denen er bisher keine Ahnung hatte. Gerade in dieser Fähigkeit, Kräfte in sich auf­

zunehmen, deren Ursprung man nicht im Menschen, sondern nur in Gott finden kann, liegt die tiefste Bedeutung der religiösen Anlage. Denn ohne diese Fähigkeit könnte das religiöse Sehnen nie zur Ruhe kommen, könnte die Persönlichkeit nie im Religiösen die innere Einheit finden. Deshalb ist das Gotterleben nicht Passivität, sondern höchste Aktivität,

wenn es auch niemals vom Menschen allein erzwungen werden kann. Chr. Holstein erzählt zwar: „In glühenden Gebeten erzwang ich wieder

und wieder das überirdische Gefühl der Gottesnähe und meine Seele klammerte sich an die erhabene Gestalt eines sündlosen Gottessohnes",

51 aber dies erzwungene Gefühl hat ihr nie Befriedigung oder Kraft ge­ geben. Hier stehen wir vor den tiefsten Tiefen göttlichen Geschehens. Die Fähigkeit aber zu solchem Gotterleben ist sowohl nach der passiven als auch nach der aktiven Seite in diesen Jahren der Persönlichkeits­ bildung am stärksten. Die Formen desselben sind so zahlreich wie Menschenschicksal und Menschenseele und überall in den Berichten können wir ihm begegnen. Bei M. v. Meysenbug, Funke, Richter, AndraeRoman u. a. In der Natur, in tiefen Menschen, in Führungen und in tiefster seelischer Einsamkeit wird Gott erlebt und dies Erleben allein hebt den Menschen über sich selbst hinaus und über alles Geschaffene. In einem rechten Gefühl dafür, daß dieses Erleben und die Persönlichkeitsentwicklung überhaupt keine Störung von außen vertragen, verschließt der junge Mensch in dieser Zeit sorgfältig sein Innenleben vor der Außenwelt. Zum Teil hält man all diese inneren Regungen für zu heilig, als daß man sie vor profanen Augen enthüllen dürfte (so verbirgt L. Braun ihr kleines Heiligtum); zum Teil empfindet man Furcht davor, was die anderen wohl dazu sagen würden sM. v. Meysenbug), oder man empfindet Scham (Chr. Holstein und L. Richter) und verhüllt deshalb sein Inneres. Auch der so ausgiebig gebrauchte religiöse Spott der Jugend ist oft nur die stachliche Schale für einen Kern, der ganz anders aussieht.

Immer aber wird dadurch die gleiche Wirkung erzielt. Das Innen­ leben wird abgeschlossen, die ruhige Entwicklung der Persönlichkeit gesichert. Alle diese Kräfte kommen jetzt aus dem Inneren des Menschen und drängen auf die Gestaltung der Persönlichkeit hin. Wir haben dabei immer noch die erste Periode der religiösen Pubertätsentwicklung im Auge. Erscheinungen der späteren Zeit, so die Fähigkeit des klaren philosophischen Durchblicks durch die eigne Persönlichkeit und ihrer Formung nach bestimmten Prinzipien, sind hier vorläufig noch über­ gangen. Aber auch für diese Periode kann die ganze Fülle der tätigen Kräfte erst recht überblickt und eingeschätzt werden, wenn man alle Hemmungen kennt, die der junge Mensch auf dem Wege zur Persönlich­ keit mit oft ungeheuerem Kraftaufwand und größter Zähigkeit überwindet. Aber der Mensch wird nicht nur auf Grund der in seinem Inneren treibenden Kräfte. Er ist ebenso ein Produkt seiner Umgebung, des Bodens, in dem er lebt, der Erlebnisse, die er macht. Das alles wirkt gestaltend auf ihn ein, ohne ihm seine Individualität und Selbständigkeit zu rauben. Es ist mit dem Menschen wie mit den Pflanzen: Bleiben sie auch der Art nach, was sie sind, wenn man sie in fremden Boden verpflanzt, und nehmen sie dort auch nur die Nahrung aus dem Boden, 4*

52 die sie brauchen können, so wird doch durch den fremden Boden ihr Aussehen und Wachstum in vieler Hinsicht beeinflußt. Unter den ge­ staltenden Einflüssen, die für den Menschen in Betracht kommen, steht der der menschlichen Umgebung oben an. Auch hier wollen wir zunächst die die Persönlichkeitsbildung fördernden Momente zusammenfassen. Da kann zunächst das allgemeine Milieu, in dem ein Mensch auswächst, bestimmenden Einfluß auf ihn haben. So sind Funke, Fromme!,

E. v. Willich u. a. zweifellos dadurch gefördert worden, daß sie in einer religiös lebendigen Umgebung aufwuchsen. Allerdings ist dieser Einfluß doch nicht allzuhoch anzuschlagen. Auch die religiöseste weitere Um­ gebung kann dem werdenden Menschen nicht die leiseste Entscheidung abnehmen. Nur der Herdenmensch richtet sich in seinem Wesen ganz nach seiner Umgebung. Der selbständige Mensch wird unmittelbar durch das Milieu, in dem er lebt, nicht allzusehr gefördert. Nur die Formen seines inneren Lebens werden den Stempel seiner Umgebung tragen. Oft aber wird es sogar umgekehrt so sein, daß er sich in gewissem Gegensatz zu seiner Umgebung entwickelt. Daß wir so wenig über den fördernden Einfluß der weiteren Umgebung zu sagen haben, mag auch daran mit liegen, daß es in unserm Vaterlande nicht allzuviele religiöse „weitere Kreise" gibt. Doch sei hier darauf hingewiesen, daß gerade die Katholiken, bei denen der Einfluß der weiteren Umgebung noch am ersten religiös bestimmend sein dürfte, in ihren Autobiographien im allgemeinen so gut wie nichts über ihre religiöse Entwicklung zu sagen haben. — Nur einen Dienst leistet eine religiös gestimmte weitere Umgebung zum Teil dem werdenden Menschen. Sie hält Hinderndes fern und begünstigt so die ungestörte Entwicklung. Das ist bei Funke und bei Fromme! während der Konfirmationszeit der Fall. Daß die Beseitigung aller Hindernisse, an denen sich die Kraft stählen könnte, auch nicht immer gut ist, zeigt das Beispiel Heinrich Rankes, der ohne je von einem Zweifel angetastet zu sein zur Universität kommt und dort Kämpfe und Entwicklung nachholt. Weit größer ist der fördernde Einfluß einz einer Menschen, vor allem der Eltern, Lehrer oder sonstigen geistigen Führer. Man kann wohl sagen, daß die Jugend unbedingt Führer braucht. Ihre Freiheit ist eigentlich nur eine Freiheit der Führerwahl. L. Braun sagt in demselben Satz, sie habe nach Freiheit und Liebe, das ist aber Anlehnung, geschrieen. Vom Pfarrer kommt sie erst los, als sie in Shelley einen anderen Führer gefunden hat. Auf M. v. Meysenbugs Entwicklung hat der junge Prediger (siehe oben S. 47) entscheidenden Einfluß. Auch die Person

53 Jesu, wenn sie als Führer und Vorbild genommen wird, ist hier zu nennen. Sie wirkt auf Dahn, Keller u. a. Oft klammert sich die ganze Erwartung und Hoffnung des jungen Menschen an eine Persön­ lichkeit — so bei Ch. Bischoff — oder es gilt einem Menschen die ganze Verehrung, weil er einem Wertvolles gegeben hat. Funke erzählt vom Einfluß Wicherns, der einmal das Gymnasium Gütersloh besucht.

Schon die Gestalt macht Eindruck. Dann hält er die Andacht über Jesus, der alle Himmels- und Erdenschönheit in sich birgt. Die Rede erregt Funke tief: „Nicht das, was er sagte, sondern das wie, — der Geist, der in den Worten flammte, die Persönlichkeit, die dahinter stand, das schlug durch". Und wie dann der alte Wichern mit ihnen frisch sang, und jung war, „da durchzuckte es mich blitzartig, daß im Christ­ werden alle unsere Ideale erfüllt seien, ich empfand es angesichts dieses begeisterten Mannes unmittelbar, daß ein Kind Gottes sein auch heißt, ein glücklicher, friedereicher, für die Welt nützlicher Mensch sein, ein Mensch voll Begeisterung, Sang und Klang, ein Mensch von Dienelust, Liebeslust nnd Tatkraft. Es leuchtete mir auf, daß im Christentum Glück und Licht der Gegenwart beschlossen sei. Kurz, das Ideal, das mein Herz suchte, es tauchte auf, wenn auch noch unklar und verschwommen, in der Gestalt Jesu Christi". So hat Wichern Funkes Leben entscheidend bestimmt. Oft freilich erwartet der junge Mensch in seiner Begeisterung auch mehr von seinem Führer, als der zu geben vermag. — Danach darf wohl als feststehend gelten, daß Persönlichkeiten den werdenden

Menschen nicht notwendig vergewaltigen müssen, sondern einen die Persönlichkeitsbildung wirklich fördernden Einfluß haben können. Oft kommt dieser Einfluß den Jugendlichen garnicht zum Be­ wußtsein. Vor allem die Eltern wirken häufig einfach durch ihr Dasein gestaltend und formend auf ihr Kind, ohne es zu vergewaltigen. So bildet Funkes Mutter die religiöse Anlage ihres Sohnes so stark aus, daß sie auch später die beherrschende Stellung behält. Auch E. v. Millichs Mutter hat auf ihren Sohn bestimmenden Einfluß, der diesen, wenigstens im Anfang, wirklich fördert. Oder die Eltern um­ geben das Kind zu Zeiten, besonders oft vor der Konfirmation, mit einer religiösen Sphäre, in der das Erwachen und die religiöse Ent­ wicklung besonders gefördert wird. So bei Fromme! und anscheinend auch bei M. v. Meysenbug und Chr. Holstein. Und der junge Mensch widerstrebt dem nicht, empfindet es vielmehr im allgemeinen dankbar. Geradezu notwendig ist der Einfluß erwachsener Menschen zur inneren Klärung.

Das geschieht vor allem im Unterricht, besonders

54 oft im Religionsunterricht, der vielleicht bewußter als der andre dies Ziel verfolgt. Durch ihn bekommt Chr. Holstein die bewußte Richtung auf die religiöse Persönlichkeitsbildung, sie erkennt, daß sie in der Religion die innere Einheit finden kann und muß: „Die Worte unseres Bekenntnis­ liedes: ,Jch gebe dir mein Gott aufs neue Leib, Seel und Herz zum Opfer hin' waren mir tiefer leidenschaftlicher Ernst. Gott forderte mein ganzes Sein. Ich war bereit, es ihm hinzugeben". Dahn wird durch den Unterricht Luthardts in seiner inneren Erkenntnis gefördert, wenn derselbe auch die Katastrophe nicht aufhalten kann. Da hat jeder Unter­ richt seine Grenzen. M. v. Meysenbug gibt auf Grund der eindringenden Beweisführung des jungen Althaus sogar den Unsterblichkeitsglauben auf. L. Braun benutzt die Belehrungen Shelleys, Kügelgen und Andrae-Roman bekommen im Unterricht die entscheidende Richtung, und so könnte man fortfahren, vor allem, wenn man als solche belehrend wirkende Persönlich­ keiten auch alle Schriftsteller, die von den Jugendlichen gelesen werden, heranziehen wollte. Am wichtigsten aber ist der von Persönlichkeiten ausgehende lebendig­ religiöse Einfluß. Die religiöse Anlage erwacht wohl spontan im Inneren des Menschen, aber sie muß verkümmern, wenn sie keine Nahrung be­ kommt, mag sie auch noch so stark sein (F. Dahn). Omne vivum ex vivo, das gilt auch vom religiösen Leben. Am deutlichsten sichtbar ist solcher Einfluß vielleicht bei Funke. Erst regt ihn seine Mutter zu lebendig-religiösem Leben an (siehe oben S. 11), dann sind es Wichern (S. 53) und zuletzt Wallet, die in geradezu entscheidender Weise richtung­ gebend auf ihn einwirken. Er hört mit etwa 19 Jahren eine Predigt Mallets und sagt von ihr: „Ich ahnte in jener Stunde, daß das Evangelium wie nichts anderes unsere Ideale erfüllen könne". Er hatte bis dahin nicht geglaubt, daß das Christentum die Sehnsucht nach dem Schönen und Idealen befriedigen könne. „Nun kam dieser Mann und behauptete das Gegenteil, ja seine ganze Persönlichkeit bewies das Gegen­ teil." Es entsteht in dieser Zeit sein Wunsch, Theologe zu werden. Gerade bei diesen beiden Männern wird es klar, daß es das Leben der Persönlichkeit ist, von dem die Wirkung ausgeht. Es entzündet in andern die Flamme gleichen Lebens. „Der Geist, der hinter den Worten flammte, der schlug durch!" sagt Funke von Wichern. Solche Persönlichkeiten vergewaltigen nicht. Sie töten nicht das Eigenleben, sondern sie wecken es erst auf. Der Mangel an solchen lebendig religiösen Persönlichkeiten, die auf die Jugend Eindruck machen könnten, ist der Grund, weshalb in der Jugend so oft die Religion gar keine Rolle spielt. Der in der

55 Seele ruhende Funke hat sich niemals an einer Hellen Flamme entzünden können. Und die Jugend wartet darauf, das zeigt die Freude, mit der sie solche Anregung aufnimmt. Man könnte noch mehr Beispiele dafür

anführen. Andrae-Roman erzählt, wie er als Turner zwei jungen überzeugten Christen begegnet, während er selbst Rationalist ist. „Ein sanfter, weicher Duckmäuser, ein pietistischer Gefühlschrift, hätte mir in dieser meiner Sturm- und Drangperiode das ganze Christentum verleiden können. Jetzt stand ein lebensfroher, frischer, von allen geliebter edler Jüngling an meiner Seite, der alles mitmachte und besser konnte (im Turnen) als ich, nur keine Gemeinheiten litt. Ähnlich war der andere.

Daß mir das Christentum in zwei so kräftigen, trotz ihrer Verschiedenheit hochgeschätzten Persönlichkeiten entgegentrat, machte mir großen Eindruck." So wirken auf M. v. Meysenbug die Predigten des jungen Althaus, so auf Richter seine Freunde in Rom, auf Willich seine Mutter und viele andre. Es ist nach alledem wohl klar, daß es für das religiöse Leben und die Entwicklung des jungen Menschen von höchster Bedeutung ist, wenn er einmal hineingestellt wird in den Strom lebendig religiösen Lebens, das von starken Persönlichkeiten ausfließt und wenn er sich in der Erkenntnis des Wertes solchen Einflüssen weit und freudig öffnet. — Allerdings muß doch auch festgestellt werden, daß der Eindruck von solchen Persönlichkeiten im allgemeinen keine allzu nachhaltige Wirkung ausübt, wenn sie wieder aus dem Gesichtskreis verschwinden. Auch sie sind nur Hilfen des Wachstums, die Hauptkräfte kommen aus dem Innern. Neben dem Lebenseinfluß religiöser Persönlichkeiten wirken tief­ greifende Einzelerlebnisse, zum Teil aus nicht unmittelbar religiöser Daseinssphäre, gestaltend auf die Entwicklung. Da steht an erster Stelle jede Art von Erlebnis göttlicher Kraftwirkungen oder göttlicher Realität. Es ist dabei nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob solche göttliche Kraftwirkungen, d. h. ein Hineinwirken des Ewigen in die Verhältnisse unter Raum und Zeit, überhaupt möglich sind, oder ob es sich in den anzuführenden Fällen immer um solche Wirkungen handelt. Es muß uns genügen, wenn der betreffende Mensch sie als solche erlebt. — In der verschiedensten Form können solche Erlebnisse gemacht werden. Der junge Mensch kann erleben, daß für andere die Religion Kraft und Realität ist. Das berührt sich natürlich eng mit dem Erlebnis von Persönlichkeiten. Wir versuchen es aber hier von einer anderen Seite zu sehen. Die Worte Funkes über seine Mutter (stehe oben S. 11) lassen fühlen, daß es sich hier nicht um einen lebenanregenden Einfluß der Persönlichkeit, sondern mehr um einen Anschauungsunterricht

56 handelt, der dem in sich noch unsicheren Menschen die Überzeugung von

der objektiven Realität göttlicher Kräfte gibt. Persönlich braucht er dadurch nicht unmittelbar angeregt zu werden. Ja, viele Kinder tief frommer Elternhäuser entwickeln ffich aus dem Freiheitstrieb ihrer Natur heraus im schroffen Gegensatz gegen den Geist ihres Elternhauses und bewahren doch die tiefe Achtung vor dem Geist der Eltern und die Über­ zeugung, daß in ihnen wirkliche Kräfte leben. Also die Richtung der Entwicklung wird durch solche Erlebnisse weniger bestimmt, als bei lebendig religiösem Einfluß. Es liegt aber ein solches Erlebnis wie ein großer Block im Innern, auf den der Mensch immer wieder stößt, bezw. an dem er sich stößt, wenn er ihn nicht an der rechten Stelle beim Bau seiner Persönlichkeit verwendet. So wird das Erlebnis früher oder später fruchtbar, und sei es nur, daß es ihn veranlaßt, an der Religion nicht

achtlos vorbei zu gehen, sondern etwas Reales in ihr zu erkennen. Dies Erlebnis wird oft im Elternhaus gemacht und sollte das religiöse Er­ lebnis jeder Kindheit sein. Außer Funke berichten S. Keller, E. v. Millich, Karl Heinersdorf, Fliedner u. a. davon. Wichtiger noch für die Erkenntnis der Realität des Göttlichen, und überhaupt für das ganze religiöse Leben ausschlaggebend ist das Er­ lebnis unmittelbarer göttlicher Kraftwirkungen auf die eigne Persönlichkeit. Sie sind die religiöse Nahrung der Seele. Ohne sie muß das religiöse Leben ersterben. Das Verhältnis zu Gott baut sich auf auf Vertrauen und das muß von feiten Gottes durch ein Heraustrcten aus sich und eine Selbstbezeugung gegenüber dem Menschen gewonnen werden. — So wenigstens scheint es in einer Reihe von Berichten. — Solche Erlebnisse aber müssen dann besonders in der Jugend gemacht werden oder wenigstens in ihr besondere Bedeutung gewinnen für die Anknüpfung des religiösen Verhältnisses, das für die Persönlichkeits­ bildung entscheidend ist. Neben dem eigentlichen Gotteserlebnis (siehe oben S. 49) steht da wohl die Gebetserhörung an erster Stelle. Samuel Keller ist infolge zahlreicher Gebetserhörungen niemals ein Zweifel am Dasein Gottes gekommen und seine religiöse Entwicklung ist bei aller Selbständigkeit, die er zeigt, mit der denkbar größten Stetigkeit verlaufen. Niemals ist sein Verhältnis zu Gott zerrissen. Langsam schaltet er alles Wesensfremde aus und wächst immer tiefer in ein persönliches Christentum hinein. Die Verfestigung seines religiösen Lebens ist so groß, daß er den Atheis­ mus für einen „sittlichen Defekt hält, für den es weder Entschuldigung noch Erklärungsmöglichkeit gibt." Von wirkungsvollen Gebetserhörungen

57 berichtet auch Funke. „Ich gewann", sagt er nach einer solchen, „hier zum ersten Male die Überzeugung, daß Gott mich, gerade mich erhört habe."

Auch Fromme! sagt davon: „Es war für mich ein stiller Segen, daß ich merkte, Gott hört auch auf das Gebet eines Kindes". AndraeRoman u. a. berichten Ähnliches. Häufiger vielleicht noch wird die göttliche Kraftwirkung in Form von eindrucksvollen Gefühlserlebnissen wahrgenommen, in denen das religiöse Sehnen eine offenbare Befriedigung findet. Hierher gehören all die religiösen Gesühlserlebnisse, wie sie Chr. Holstein (S. 50), Karl Fischer (S. 37), Emil Frommel (S. 42), M. v. Meysenbug (S. 38) u. a. berichten. Am deutlichsten greifen kann man das Erlebnis wohl bei Funke. Nach langen inneren Kämpfen, die ihn fast zur Aufgabe seines theologischen Studiums veranlaßt haben, macht er eine schwere Krankheit durch. Er sagt davon: „Es gibt unmittelbare Eindrücke in den Seelengrund, die unendlich viel mächtiger und unantastbarer sind, als alles, was durch die Tätigkeit des Gehirns vermittelt wird. Der Eindruck, der mir jetzt, wo mein Lebenslichtlein jeden Augenblick zu verlöschen schien, mit Geistesgewalt in die Seele geschrieben wurde, war dieser: Es gibt gewiß und wahrhaftig eine Welt der Ewigkeit, sie ist das Wirklichste von allem Wirklichen, und das irdische Leben hängt mit dieser Ewigkeitswelt zusammen, wie die Saat mit der Ernte. Diese furchtbare Wahrheit, die mir früher ein selbstverständlicher Glaubens­ artikel war, war mir nun wie eine direkte Offenbarung Gottes". Funke wird an der Realität Gottes nie wieder irre. — Diese Art des Er­ lebnisses muß also unterschieden werden von der etwa bei Felix Dahn. Bei ihm ist das Erlebnis lediglich eine außerordentliche Gefühlssteigerung, eine Tätigkeit des Menschen, der nichts Reales, kein Objekt entspricht. — Die Form dieser Erlebnisse ist natürlich außerordentlich mannigfaltig. Das lassen die angeführten Beispiele wenigstens ahnen. Auch nur Haupt­ typen aufzustellen, ist schwer. Immerhin kann man wohl zwischen einem monistisch und dualistisch gearteten Erlebnis scheiden. Im ersten verliert sich das Ich ganz im Göttlichen, der Natur oder der Idee. Dazu gehört Chr. Holstein im Palmsonntagserlebnis, Kügelgen in seiner Versenkung in Th. a Kempis, M. v. Meysenbug in ihrem Nachterlebnis, Lilly Braun u. a. Im zweiten tritt das Göttliche dem Menschlichen als Du gegenüber und wird von ihm angeschaut. Dazu gehört Chr. Holstein als Kind, Funke, Andrae-Roman u. a. Das erstere scheint in der Jugend häufiger zu sein. Darüber in den folgenden Kapiteln mehr. — Das Erlebnis wird häufig in Verbindung mit Naturerlebnissen gemacht, da

58 man in der starken Wirkung der Natur die Kraft und Größe des Schöpfers erkennt. Solche Erlebnisse werden am häufigsten von den weltbejahenden, einheitlichen Naturen gemacht, die in sich und der Welt die gleichen göttlichen Kräfte wirksam spüren und deshalb in der Natur Gott und sich selbst zu gleicher Zeit finden. Dualistische Naturen aber, oder solche, die Gott als außerweltlich ansehen, erleben ihn häufiger in Gebetserhörungen oder Schicksalsfügungen. So Funke in seiner Krankheit. Auch auf Andrae-Roman macht es tiefen Eindruck, daß er in kurzer Zeit viermal in Todesgefahr gerät und zeigt ihm, daß sein rationalistisches Christentum im Tiefsten haltlos ist. — Im feierlichen Hochamt und im ersten Karfreitagsgottesdienst machen Schücking und Anton Springer tiefe Erlebnisse. Oft sind diese Erlebnisse auch ganz unscheinbarer Art. So bei Ludwig Richter. Auf seiner Wanderschaft nach Rom ist er arm und gedrückt. Vor allem fehlt ihm ein Reisegefährte. Da begegnet ihm eines Tages ein alter Mann. Von ihm erzählt er: „Der Mann hatte etwas Anziehendes für mich und ich gab ihm einen Zwanzigkreuzer. Er dankte und sagte: ,Jch habe einen weiten Weg vor mir, aber ich habe einen guten Reisegefährten/ ,O, das Glück/ erwiderte ich lebhaft, im Gefühl, daß ich einen solchen schmerzlich entbehre, ,wer ist eS bemt?' ,Es ist der liebe Herrgott selber, nnd hier' — er zog ein kleines Buch aus der Tasche — .hier habe ich seine Worte. Wenn ich mit ihm rede, so antwortet er mir daraus. So wandre ich getrost, lieber junger Herr/ Nochmals dankte er und ging. Mich aber hatte seine Rede wie ein Pfeil getroffen und ein Stachel davon blieb auch lange, in meinem Herzen sitzen. Ich hatte an Gott nicht gedacht, für mich war er eine ferne unbestimmte Macht und dieser alte Mann sprach und sah darein, als kenne er ihn sehr wohl, als stehe er im lebendigsten Verkehr mit ihm, woraus ihm ein so getroster Mut erwuchs. Diese kleine Begebenheit war der Anfang einer Reihe tieferer Lebenserfahrungen, welche bedeutend auf die Entwicklung meines inneren Lebens einwirkten". Bald folgt ein zweites Erlebnis. An einem Regentag findet er in einem Gasthaus ein Beichtbuch mit den Abschiedsreden Jesu. „Wunderbare Worte! Ein Klang aus einer höheren Welt, der mich groß und seltsam berührte, dessen Sinn ich aber doch nicht verstehen konnte, so klar und einfach die Worte lauteten. Ich wurde in eine seltsame, unruhige Bewegung versetzt, es war wie in Uhlands verlorener Kirche der geheimnisvolle Glockenton im Walde. Er gab ein leises Echo in meinem Innern. Ich wußte aber nicht, woher er kam und was er wollte. So trat auch dieser Eindruck wieder in den Hintergrund." Er erlebt schlichte Worte als

59 göttliche Wirkungen, denn sie erscheinen ihm wie Antworten auf schwer­ wiegende Fragen. In dieser Befriedigung des religiösen Verlangens liegt nicht nur ein Anlaß, an die Realität des Göttlichen zu glauben, sondern auch ein starker Antrieb, die Befriedigung wieder zu suchen. Dadurch werden solche Erlebnisse zu entwicklungfördernden Kräften. Endlich wird auch in der Stimme des Gewissens Gott erlebt, vor dessen ins Ewige ragender Größe selbst Kant sich noch beugt. In Verbindung damit wird jede Art von Erkenntnis innerer Unfertigkeit, Schwäche, Sündhaftigkeit ein starker Antrieb, Gott und in ihm Voll­ kommenheit, Kraft und Reinheit zu suchen. Lilly Braun gibt gerade die Berührung mit dem sittlichen Schmutz den Anstoß, Gott zu suchen und in ihm die Überwindung alles Niedrigen zu erhalten. Für Funke ist die Erkenntnis, daß er sich in schlechter Gesellschaft befindet, der Blick in die Abgründe des Menschenherzens, ein Anstoß, sich mit erneuter Kraft Gott zuzuwenden. Auch die Berührung mit dem Irreligiösen, mit der Gottfeindschast treibt oft gerade zu Gott hin. Reaktion nach der einen Seite bedeutet immer Aktion nach der anderen. Es wird dem Menschen an solchen Erlebnissen klar: Das willst du nicht. Daraus ergibt sich notwendig die Frage: Was willst Du dann? — AndraeRoman berichtet von sich, daß er erst dann innerlich fest geworden sei, als er durch Angriffe seiner irreligiösen Mutter sich genötigt sah, sich zu verteidigen. Ebenso wird Samuel Keller durch die religiösen Angriffe seiner Schulkameraden, die zum Teil sogar handgreiflich sind, in seinem Gegensatz gegen sie nur bestärkt und fühlt sich deshalb mit besonderem Stolz als Diener Gottes. Es kann letzten Endes jedes Erlebnis einen religiösen Ton bekommen und dadurch den Menschen fördern, wenn es entweder ihn an das Ewige gemahnt — wie Todesfälle, Lebensgefahren u. a. — oder im Zusammenhang des Lebens als Glied einer sinnvollen Kette göttlicher Wirkungen erscheint — so alle Lebensführungen, die mittelbar oder unmittelbar „zum Segen" werden. Von hier aus wird für den religiösen Menschen das gesamte Leben ein religiöses Erlebnis uns alles dient zu seinem inneren Wachstum (Röm. 8,28).

2. Entwicklungshemmungen. Interessanter und für die Kenntnis der Pubertätszeit wohl auch wichtiger als die fördernden Kräfte sind die Hemmungen, die der Mensch in der Entwicklungszeit durchzumachen hat, Denn die treibenden Kräfte bleiben während seines ganzen Lebens ungefähr die gleichen, erfahren

60 jetzt nur eine große Steigerung, während die Hemmungen vielfach lediglich dieser Periode eigentümlich sind. Wir dürfen sie aber nicht etwa unter dem Gesichtspunkt „schädlich" zusammenfassen. Denn an vielen solchen Hemmungen stählt sich nur die Kraft und viele Menschen sehen mit aufrichtiger Dankbarkeit auf die Zeit ihrer inneren Kämpfe zurück. Auch als „unnormal" kann man die Hemmungen, seien sie äußerer oder innerer Art, nicht bezeichnen; denn tatsächlich sind sie das Normale, sofern normal bedeutet, daß sie bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen auftreten. Wir können sie vielleicht bezeichnen als „Abweichungen vom ruhigen Verlauf der Entwicklung". Oft sind es nur Schwankungen, doch ist daneben auch das wirklich Krankhafte mit zu besprechen. — Auch hier wollen wir scheiden zwischen Hemmungen, die aus dem Inneren des Menschen, und solchen, die von äußeren Einflüssen herzuleiten sind. Wenn man beachtet, daß der Mensch in der Pubertätszeit einen beinahe plötzlichen Sprung vom kindlichen Zustand zum höheren geistigen Leben des Erwachsenen macht, so erscheint es nicht auffallend, daß eine Menge von Störungen eintreten. Es ist in hohem Grade unwahr­ scheinlich, daß alle die neuen Funktionen sofort harmonisch zusammen­ arbeiten. Sogar unter den günstigsten Bedingungen wäre dieser Ent­ wicklungssprung ohne Vorkommen von Reibung und Energievergeudung verwunderlich. Es sind in erster Linie Angst und Unlustgefühle, die in dieser Zeit auftreten. Starbuck vergleicht sie mit dem Schrei des Kindes bei der Geburt. Am deutlichsten sichtbar werden diese Gefühle bei Chr. Holstein (siehe oben S. 21). Sie empfindet in ihrem Traum vor der Erscheinung der Engel ein gewaltiges Grauen, ohne daß damit die Furcht vor Strafe verbunden wäre. Es ist einfach das lastende Gefühl, das der zum höheren Leben erwachende Mensch vor der Erhabenheit des Göttlichen hat. Rudolf Otto hat ja nachgewiesen, daß dieses Furchtgefühl, das Tremendum, durchaus zum religiösen Gefühl gehört, nur wird es lediglich im Anfang der religiösen Entwicklung als drückend empfunden. „Die völlige Liebe aber treibt die Furcht aus" (1. Joh. 4, ie). So legt K. Fischer, erschrocken vor den Worten „Heilige Schrift" und „Gott sprach" die Bibel wieder aus der Hand. K. Gerok erzählt von seiner Konfirmation: „AIs ich zur Einsegnung vor den Altar rückte, da war mirs nicht wie einem Kinde, das dem Vater die Hand geben und seinen Segen aufs Haupt bekommen soll, nein, in meines Nichts durchbohrendem Gefühl durchfröstelte michs wie die arme Seele, die nackt und bloß im Angesicht der himmlischen Heerscharen vor den Stuhl des Weltenrichters treten soll". Und Samuel

61 Keller sagt: „Ich empfand Gottes Größe und Majestät wie eine schreckhaft nahe Felswand, die mich erdrücken konnte". Hierher gehören wohl auch die Gefühle von Todesangst, von denen z. B. Kügelgen berichtet. Sein Vater hat ihn (mit 14 Jahren) in ein Trauerhaus mitgenommen und ihm dort die Leiche gezeigt. Davon sagt er: „Mir wars zumute, als wenn mein eigenes Leben stocke, als fei überhaupt alles Leben nur Lug und Trug, und der Tod die einzige Wahrheit. Die Gespenster des Todes und der Verwesung folgten mir auf Schritt und Tritt, hetzten mein

Gemüt wie Furien, gingen zu Bett mit mir und peinigten meine Träume. Meine Kräfte schwanden, da ich von Angst und Unruhe getrieben den ganzen Tag umher lief. Ich durchrannte aber die herrliche Gegend wie ein Blinder. Die Natur sowohl, als die tröstlichen Glaubensworte der

Mutter waren mir zur inhaltslosen Phrase geworden und der Tod, diese größte der Lügen, blieb immer die alleinige und ausschließliche Wahr­ heit". Diese Todesangst entsteht offenbar dadurch, daß der Mensch in dem Augenblick, wo er den Begriff des Lebens in seiner ganzen Größe erfaßt, vor dem Verneinen desselben große Scheu empfindet. Dem steht freilich gegenüber, daß in dieser Zeit der Gedanke an den Tod auch wieder sehr häufig ist und daß junge Menschen leichter sterben als alte — vielleicht weil sie die Schönheiten des Lebens, das sie noch nicht kennen, auch leicht entbehren. M. v. Meysenbug sehnt sich nach dem Tode, da sie unter den Widersprüchen des Lebens schwer leidet, und Chr. Holstein wird geradezu von einer Angst vor dem Leben gequält: „Mit 14 Jahren schien mir die Welt wirklich wie ein Jammertal voll Enge, Dumpfheit, Häßlichkeit und Schuld. Ich sah damals nur das Abstoßende, und es stieß mich alles ab, auch die Lustbarkeiten". Bei Chr. Holstein kommt die Angst daher, daß die zu überwindenden Hemmungen ihr zu groß scheinen. Kügelgen hat solche Hemmungen nicht empfunden, deshalb liebt er das Leben und fürchtet den Tod. In beiden Fällen aber ist der Anblick des Großen, Neuen die Ursache der Störung. — Noch eine andere Art von Angstgefühlen wird jetzt wach, die Angst vor der Sünden­ strafe, von der M. v. Meysenbug und Chr. Holstein berichten (siehe unten S. 63). Wenn der Mensch sein Ich entdeckt, dann bemerkt er auch, daß er für sein Handeln verantwortlich ist — und zwar vor Gott; so hat man ihm bisher gesagt und so erkennt er jetzt. Zugleich aber entdeckt er seine Mangelhaftigkeit und Unfertigkeit und den ungeheuren Abstand, der ihn in sittlicher Beziehung von Gott trennt. Da muß ihm die eigne Verantwortung zu schwer werden, er muß Angst bekommen vor der ehernen Gesetzmäßigkeit des ewigen Sittengesetzes, die als rächender Arm

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des heiligen Gottes erscheint. — Und noch ein Gedanke bringt ihn in innere Not. Er hat bisher zu Gott ein kindlich vertrauendes Verhältnis eingenommen, jetzt wird er sich seines Ich bewußt, stellt sich Gott gegen­ über und ehe es zu einer nunmehr bewußten Anknüpfung eines Ver­ trauensverhältnisses kommt, prüft er. Aber er empfindet dies Prüfen und Zweifeln als ein Mißtrauen, als Zerreißen des früheren Ver­ trauensverhältnisses und damit als Schuld, ohne es doch hindern zu können. Auch dieses Schuldgefühl bei Zweifeln ist eine Erscheinung der frühen Pubertätszeit und eine Hemmung des inneren Lebens. Sie ist bei F. Dahn (siehe oben S. 24) und bei M. v. Meysenbug zu bemerken. Viel dunkler und unerklärlicher als diese ihrem Ursprung nach ver­ ständlichen Furchtgefühle sind die Entwicklungserscheinungen, von denen Chr. Holstein erzählt: Der Bericht muß hier im Zusammenhang folgen. „Rauh aus meinem Himmelstraum gerissen, fand ich mich am Montag nach Palmarum wieder, in einem derben Kleide, mitten im Reinemachen. Ein brennendes Heimweh nach der Schule erfaßte mich. Ich wollte nicht.groß' sein, nein! Das Wort,das Leben' hatte für mich einen Klang niederdrückenden Ernstes. Allerlei dunkle Eindrücke gewannen Macht über mich, vielleicht fühlte ich mich durch den Abschied von der Schule genötigt, über das Leben nachzudenken, vielleicht lag es an der Entwicklung meines kindlichen Geistes. Jedenfalls kam mir jetzt viel ein, was bis dahin vergessen in meiner Seele schlummerte." So taucht ein tödlicher Unglücksfall, der schwere Todeskampf eines Giftselbstmörders, den sie mit zwölf Jahren gesehen hat, wieder auf. „Oft quälte mich da eine tiefe Traurigkeit, eine dumpfe Angst, — ich ging auf unsicherem Boden, hinter allem lauerte die Angst, was wird nun geschehen? Es erschien mir alles so schrecklich und schwer (vergl. hierzu als Fortsetzung S. 61). In diesem Seelenzustande flüchtete ich mich in die Träume von einer jenseitigen Welt, wie sie am Tage der Konfirmation in mein Leben ge­ leuchtet. In glühenden Gebeten erzwang ich wieder und wieder das über­ irdische Gefühl der Gottesnähe und meine Seele klammerte sich an die erhabene Gestalt eines sündlosen Gottessohnes. Ich las fast nur noch das Neue Testament und fand Worte darin, die ich ganz besonders liebte, Worte tiefdunkler Geheimnisse, Ewigkeitsworte, von denen eine stählerne Helligkeit auszugehen schien: Lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Ihr seid das aus­ erwählte Geschlecht, das königliche Priestertum. — Wie liebte ich diese Worte, welche Bilder ließen sie in meiner Seele entstehen, Träume von erlösten Menschen in wehenden Lichtgewändern. Welche Schauer der

63 Unendlichkeit wehten mich an, wenn mein Blick in den lichtfunkelnden Glanz eines Sommerhimmels versank, durch dessen Sonnenauge ich den mächtigen Blick eines Allvaters zu fühlen meinte. (In schroffem Gegen­ satz zu solchen Gefühlen stand meine alltägliche Arbeit.) Aber ich war ein unruhiger Geist. Und es dauerte nicht lange, so tauchte aus der heiligen Schrift, die beglückenden Bilder überschattend, von neuem das Schreckgespenst meiner Kindheit, die Vorstellungen von einer Hölle, einem Ort der Qual und Verdammnis auf — aber viel furchtbarer und drohender denn jemals bei dem strengen Maßstab, den ich jetzt an

die Menschen legte. Ich faßte in jenem ganz von Religion durchtränkten Jugendjahre alle Arbeit als mir von Gott gegeben auf und war fest überzeugt, am jüngsten Tage Rechenschaft geben zu müssen für jedes in unserem Teich ertrunkene Hühnchen." In diesem Zustand kommen ihr nun auch Zweifel. „Wie furchtbar war das Gleichnis vom armen Lazarus und reichen Mann, der in die Hölle kam, — nur weil er reich war. War Reichtum Sünde? Wars nicht entsetzlich, daß die Menschen, denen es hier gut ging, dafür eine Ewigkeit Qual eintauschen sollten. Und dann die dunklen Stellen von der Vorherbestimmung des Menschen. Alles das brachte mich in tiefste Verwirrung und Verzweiflung, es packte mich, wie die stärkste, unabwendbar drohende Wirklichkeit, alle Interessen traten in jener Zeit hinter diesen Fragen zurück." Eines Abends hört sie, zergrübelt auf ihre Bibel starrend, im Nebenzimmer die kleinen Geschwister ein Abendlied singen. „Das klang so beruhigend, wie sanfter Frühlingswind strich es über meine Seele, als ob es mich in eine freundliche Wirklichkeit zurückrufen wollte. Ich hätte mögen zu meiner Mutter eilen und ihr alles sagen. Aber ich tat es nie. Ich sprach überhaupt mit keinem Menschen über solche Dinge. — Als diese Zeit, mein .Dunkles Jahr' (zwischen 14 und 15) sich ihrem Ende zuneigte, und die strengen Passionswochen wieder ins Land gingen, durchlebte ich sie mit einer so leidenschaftlichen Hingabe und Versenkung meiner Seele in die Leidensgeschichte Christi, wie nie zuvor und nie nachher in meinem Leben. Eine so große Last von Leid und Dumpf­ heit schien mir auf der Menschheit zu liegen. Mir war ihre Erlösung der schönste und erhabenste Gedanke den es gab. Diese Wochen waren der Gipfelpunkt in meinem religiösen Erleben. Ich versagte mir jede, auch die kleinste Freude, ich ging völlig auf und unter in einem einzigen Gedanken. Ich saß am Karfreitag schwarz gekleidet im Schiff unserer schmucklosen Kirche, wo auf dem Altar das umflorte Kruzifix düster aufragte. Ich lauschte bleich den klagende« Chören, und die wuchtigen

64 Worte des Matthäi-Evangeliums schlugen wie Hämmer an mein Herz, ich schauerte, bebte, als die letzten Worte verklangen. Nun war der Herr

der Welt begraben, die Abendschatten des Karfreitags sanken übers stille Dorf, nur ein Vöglein sang schüchtern im knospenden Gezweig und in der grauen Luft lag bereits etwas von österlicher Erwartung. — In meinem ganzen Leben aber vollzog sich in den nächsten Tagen ein seltsamer Umschwung. Die todernste Zeit des Kirchenjahres war vorüber. Jetzt kam das fröhliche klingende Osterfest. Mit verhaltenem Jubel empfand ich seine Nähe. Ich verabredete mit meinen Geschwistern, wir wollten am Ostermorgen die Sonne aufgehen sehen. In der ersten Frühe schlichen wir zur Tür hinaus. Wir liefen den Berg hinan, sahen ein Häschen über die frisch gestürzten Erdschollen rennen, droben blies uns der Wind kalt um die Stirnen, wir aber sangen laut einen Choral in die Morgenfrische hinaus, der Sonne entgegen. — Das sind so einfache Eindrücke und doch habe ich sie nie vergessen. Denn alles wirkte plötzlich mit einer nie empfundenen Kraft und Frische auf mich. Das Häslein über dem Acker, die zusammengcdrängten Trüppchen weißer Anemonen im bereiften Grase, das düstere Morgenrot am östlichen Himmel — mir war als sähe ich dies alles zum erstenmal oder mit neuen Augen. Es war wie ein Aufwecken meiner Seele gegen das ganze verflossene in quälendem Grübeln verbrachte Jahr, wie ein neues Erwachen und Aufleben meiner Sinne. Seit jenem Tage wurde mir die Welt immer schöner." Es sind für diese Kämpfe eigentlich keine äußeren Anlässe zu finden. Sie lebt in einfachen ländlichen Verhältnissen ohne Erschütterungen. Die Todesfälle können höchstens Anlaß, nicht Ursache sein, denn sie sind jahrelang vergessen. Und nicht nur sie erregen ihren Ekel, es stößt sie alles ab, auch die Lustbarkeiten. Dieser seelische Zwiespalt liegt auch nicht in ihrer Anlage, denn sie entwickelt sich zur vollen Lebens­ bejahung und Weltoffenheit und empfindet das als ihrer Natur ent­ sprechend. Vorher aber wird sie von den furchtbarsten Stürmen ge­ schüttelt. Der Verlauf des Kampfes gleicht auch ganz einem Sturm, bei dem starke und anhaltende Windstöße abwechseln mit Zeiten der Sülle, die um so stärkere Stöße vorbereiten. Der Sturm schwillt dabei immer stärker an, bis er nach einem letzten Höhepunkt, in dem er alle seine Kräfte zusammengefaßt hat, plötzlich zu Ende ist. Nur einige leichte Nachstöße folgen. Unmittelbar nach dem höchsten Gotteserlebnis setzt der Kampf ein, zunächst hervorgerufen durch die Berührung mit dem nüchternen Leben, das wie kalte Zugluft ihren „Himmelstraum"

65 trifft. Verstärkt wird die Ernüchterung durch die nach der Hochflut des Erlebens notwendige Ebbe. Aber bald genügen diese beiden Faktoren nicht mehr zur Erklärung. Es ist als kämpften zwei Naturen, eine sonnig-einheitliche und eine licht-dunkel zweiheitliche in ihrer Seele, ethisch-religiöser Monismus mit ethisch-religiösem Dualismus. Schon in ihrer Kindheit, dann kurz vor der Konfirmation deutet sich dieser Kampf an: Erst kann sie trotz aller Anstrengung das Gefühl der Reue nicht erzwingen, und im nächsten Augenblick überfällt sie die Reue mit furchtbarer Gewalt. Einmal hat sie das tiefste Erlebnis der Gottes­ nähe und geht ganz in Gott auf — und dann steht er ihr gegenüber als der furchtbar drohende, vor dem sie in Schuldgefühl versinkt. Daß diese dualistischen, aus unerklärlichen, dem Ich unbewußten Tiefen auf­ steigenden Gefühle ihrem Wesen fremd find, äußert sich darin, daß sie sich mit aller Kraft gegen sie wehrt und sich den anderen mit ganzer Inbrunst hingibt. Sie erzwingt das Gefühl der Gottesnähe, erlebt die Befreiung von den dualistischen Gedanken als Erlösung. Sie wehrt sich gegen die Höllenvorstellung und kommt zum Gedanken des liebenden Gottes mit innerer Notwendigkeit. Man hat das Gefühl, als über­ fielen sie dunkle Mächte, als sei sie nur Kampfplatz und nicht Kämpfer, als stritten sich zwei Wesensanlagen um ihren Besitz. — Vielleicht ist das Wesen des Menschen gar nicht so einheitlich, als wir denken, und es liegen im Unterbewußtsein noch andere Anlagen verborgen, die bisweilen — am stärksten, wenn der Mensch die Lebensrichtung einzuschlagen beginnt — sich regen und an die Oberfläche streben, während sonst nur eine Anlage die Herrschaft hat. James schildert als die beiden religiösen Grundtypen den leichtmütigen und den schwermütigen Menschen und nimmt offenbar an, daß diese Anlagen von Anfang an festliegen. Ein Beweis ist dafür noch nicht erbracht worden. Vielmehr ist es nach den Selbstlebens­ beschreibungen so, daß sich eine Anlage die Herrschaft erkämpft, und daß sich die Grundeinstellung im Laufe der Entwicklung völlig umstellen kann (davon später S. 94). Häufig allerdings hat eine Anlage mehr oder weniger unbestritten die dauernde Herrschaft. — Sind diese dunklen Unterströmungen auch nicht bei allen zu finden, so lassen doch manche Berichte Ähnliches erkennen. M. v. Meysenbug will die Welt fliehen,

und muß sich ihr doch wieder hingeben, sie muß ihrer Anlage nach sich mit Gott eins fühlen und erlebt doch Stunden furchtbarer Höllenangst: „Das Unendliche zu erfassen, in ein ideales Wesen verwandelt zu werden, das war es, was meine Seele wünschte". Und kurz darauf hat sie doch das Gefühl: „Ich war verworfen, verurteilt für ewig". Diese ErBohne: Religiöse Entwicklung.

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66 scheinungen lassen sich nicht restlos mit den Schwankungen (S. 70 f.) er­ klären, die in dieser Periode häufig sind. — Geradezu psychopathisch ist es wohl, wenn Gottfried Keller immer einmal der Reiz anwandelt, Gott Schimpfnamen beizulegen, obwohl er es immer sofort wieder bereut. Am häufigsten entwickeln sich die schweren Kämpfe dieses Lebensalters daraus, daß sich in der voll erwachten religiAen Funktion, die ja kom­ plexer Natur ist, die Grundfunktionen Verstand, Gefühl und Wille aufeinander einspielen müssen. Der Anlaß geht meist aus vom Intellekt, der jetzt zu großer Selbständigkeit erwacht und den der junge Mensch gern zum alleinigen Maßstab aller Dinge macht, da er eine völlig unwidersprechliche Größe zu sein scheint (vergl. S. 29/30). Macht der Mensch auch die religiösen Erlebnisse vom Verstand abhängig, dann muß es

zum Konflikt kommen. Die religiösen Fremdwerte, z. B. die Kindheits­ religion, soweit sie übernommen war, müssen weichen. Nicht so leicht aber ist die Entscheidung bei den eigenen Erlebnissen. Über den tiefsten Kern der religiösen Erlebnisse hat der Verstand kein Urteil. Die religiösen

Wahrheiten und Erlebnisse können, wie das Erlebnis Funkes zeigt (S. 57), ohne Vermittlung des Intellekts in „unmittelbarem Jnnewerden" von der Gesamtpersönlichkeit ausgenommen werden. Der Mystiker sagt „sie treten in den Seelengrund ein". Dabei kann der Mensch natürlich auf die Dauer den Verstand nicht entbehren, er spielt dabei aber nur eine dienende Rolle. Er durchleuchtet das Erlebnis, klärt es, ordnet es dem Bewußtsein ein usw. Das hat aber seine großen Schwierigkeiten, be­ sonders beim jungen Menschen, der sich über die Eigenart des religiösen Erlebens und damit über die Kompetenzen der einzelnen Funktionen nicht klar ist. Und da der Verstand um seiner unwidersprechlichen logischen Gesetze willen das Sicherere scheint, ist man geneigt, ihm einen weiteren Spielraum zu geben, als ihm zukommt. Der umgekehrte Fall, daß sich das Gefühl in den Vordergrund drängt, ist seltener, kommt aber auch vor. Gerade dieser Kampf zwischen den einzelnen Teilfunktionen wird häufig durch äußere Einflüsse genährt oder hervorgerufen und wird viel­ fach dadurch schwierig, daß die Erlebnisse, die den Gegensatz aufheben könnten, ausbleiben. Der Kampf kommt im allgemeinen zum Ausdruck durch Zweifel, da der Verstand anscheinend das aktivere Element ist. Es gibt aber drei Arten des Zweifels: 1. Das Mißtrauen gegen Gott, das zunächst mit theoretischem Zweifel nichts zu tun hat (vergl. S. 62). 2. Der Zweifel, der daraus entsteht, daß der Verstand widersprechende Erlebnisse nicht zu vereinen vermag (vergl. S. 24). 3. Der theoretische Zweifel, der grundsätzlich an den religiösen Objekten sowohl, als auch

67 an der Wirklichkeit der religiösen Erlebnisse zweifelt. Mit ihm allein haben wir es hier zu tun. Er stellt die höchste Stufe des Zweifels dar. Die beiden anderen Zweifelsarten können zu ihm führen, müssen es aber nicht. Wogegen sich dieser Zweifel richtet, ist ganz verschieden. Richtung­ gebend sind durchweg Erlebnisse. Um Genaueres zu sagen, reicht das Material nicht aus, nur scheint er ganz selten bei erkenntnistheoretischen oder abstrakten Fragen einzusetzen und fast durchweg von Erlebnissen, aus denen sich Gedankenwidersprüche ergeben, herzukommen. Starbuck versucht eine prozentuale Häufigkeit der einzelnen Zweifelsanlässe fest­ zustellen, der aber mit größtem Mißtrauen zu begegnen ist. Denn die Anlässe wechseln mit Zeitströmungen, Alter und Erlebnissen. Die Fülle der Beispiele verbietet eine eingehendere Besprechung. Andrae-Roman fällt am schnellsten die Entscheidung zugunsten des Verstandes, dem er volle Verfügung über sein religiöses Innenleben erteilt. Als er zu gleicher Zeit rationalistischen und pietistischen Unterricht hat — von etwa gleich starken Persönlichkeiten —, „ergreift ihn der letztere, überwindet ihn aber nicht". Das bewahrt ihn lange Zeit vor inneren religiösen Kämpfen und gibt ihm selbstbewußte Sicherheit. Das religiöse Gefühl ist einfach unterdrückt. Das ist aber nur so lange möglich, als sich keine religiösen Erlebnisse einstellen. Als sie eintreten — es begegnen ihm echte Christen (S. 55) — wird die im Gefühl ruhende Seite des religiösen Lebens gestärkt. Diese Erlebniseindrücke — daß echte Christen imponierende Menschen sein können — widerstehen der Kritik des Verstandes und setzen sich im Kampf mit ihm langsam durch. Trotzdem erscheint ihm zunächst die Zustimmung zu Gottes Wort und dem Bekenntnis der Kirche noch ein „solcher Köhlerglaube", daß er ihn „bei einem vernünftigen Menschen gar nicht für möglich" hält. Als aber sein Intellekt keine Stärkung erhält und er im Gegenteil erleben muß, daß seine Erkenntnisse ihm bei mehrfacher Todesgefahr keine sittliche Kraft geben, kann schließlich das religiöse Gefühl — oder besser Er­ lebniszentrum — den Verstand in seine Schranken zurückweisen: Er wird Christ. Damit ist die innere Harmonie hergestellt. —* Bei Dagobert v. Gerhardt stehen von Anfang an die beiden Teilfunktionen etwa im Gleichgewicht. Infolgedessen ist der Kampf besonders heftig und reich an starken Schwankungen zwischen religiösen Gefühlserlebnissen und intellektuellem Skeptizismus (vergl. S. 71). Die Unduldsamkeit eines buchstabengläubigen Pfarrers erregt seinen Widerspruch und Zweifel. Er kann seinen Verstand nicht zum Opfer bringen. „Ich grübelte und sann und wollte um jeden Preis die Nacht der Ungewißheit aufhellen

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und zu einem sicher gewonnenen Resultat gelangen. Vergebliches Be­ mühen! Wohl rüttelte ich in heißem Begehr und wilder Ungeduld an den feststehenden Grenzpfählen der menschlichen Erkenntnis, aber ich lernte einsehen, daß uns das Schauen der Wahrheit durchaus versagt ist." In v. Gerhardts Leben bleiben aber die Erlebnisse, wie sie Andrae-Roman macht, aus. Infolgedessen kommt es nicht zu einer vollen Harmonie, sondern lediglich zu einer klaren Scheidung der beiden Funktionen, die beide ihr Recht beanspruchen. Die Fragen, die lediglich durch Überwiegen der einen oder anderen Kraft entschieden werden können, werden ausgeschieden und als neutrales Gebiet nur die Ethik, „der Kern der sanften Liebes­ lehre Jesu", festgehalten. — Zum klaren Sieg des Verstandes kommt es bei Lilly Braun (vergl. S. 45/46). Sie ist von Natur bereits stark intellektuell veranlagt (vergl. S. 27/28). Doch macht sich nach dem Er­ wachen auch das Gefühl mit elementarer Gewalt geltend und drückt den Verstand eine Zeitlang zurück. Sie sucht die sittliche Erlösung beim Pfarrer und in der christlichen Lehre. Sie sucht also das Er­ lebnis und ist dafür sogar bereit, das Opfer des Verstandes zu bringen. Aber sie wird enttäuscht. Weder von der Persönlichkeit des Pfarrers noch von der christlichen Lehre gehen ihr Kraftwirkungen aus. Dadurch wird ihr religiöses Gefühl geschwächt, der Schwerpunkt muß wieder auf den Verstand fallen. Das hat sich inzwischen bereits vor­ bereitet. Sie hat nicht vom Erleben des Christentums, sondern vom Begreifen der Lehre erlösende sittliche Wirkungen erwartet. Sie ist sich also unklar über Aufgabe und Wirkung der Funktionen. Jetzt wirft sie sich unter Einfluß Shelleys ganz dem Verstand in die Arme, ohne zu merken, daß das, was sie nun besitzt, mehr Weltanschauung als Religion ist. „Ich glaube der Wissenschaft mehr. .", ist das Ergebnis, zu dem sie kommt. Ausschlaggebend ist bei dieser Entscheidung vielleicht, daß für Shelley Verstand und Wille sprechen, sich also zwei Funktionen gegen die dritte verbinden. — Noch vollständiger ist der Sieg des Verstandes bei Felix Dahn (S. 25/26), auch hier, weil die Erlebnisse ausbleiben. Doch ist Dahn sich schmerzlich dessen bewußt, daß dieses Ende seines Kampfes keine Lösung des Konfliktes bedeutet, sondern daß statt der

Herstellung einer Harmonie der Kräfte die Vernichtung eines wert­ vollen Teiles seines Innenlebens erfolgt ist. — Umgekehrt siegt bei Ehrenfried v. Willich, dem Stiefsohn Schleiermachers, ganz das religiöse Gefühl, während Intellekt und Wille in geradezu krankhafter Weise in den Hintergrund gedrängt werden. Von Natur reich und etwas schwärmerisch angelegt, bestärkt der Einfluß der ähnlich angelegten

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Mutter diese Wesenszüge. „Die Phantasie und das Gefühl waren in mir frühe geweckt, aber die Willenskraft hatte um so weniger in dieser Entwicklung Schritt gehalten." Das wird noch verstärkt durch den Einfluß einer somnambulen Frau, die religiöse Visionen hat und die er verehrt. Einen großen Teil der schönsten Jugendjahre bringt er am Bötte dieser Frau zu, die nur unfruchtbare religiöse Gefühle in ihm erzeugt. „Ein weichliches senttmentales Gefühlsleben, eine unfruchtbare, nach Idealen ringende Phantasie herrschte vor, die tüchtige, gesunde Grundlage fehlte. Ich habe es niemals ganz verwinden können, wie sehr ich auch später danach rang, die Harmonie wieder herzustellen. Vollständig ist mir das niemals gelungen. Von allem jugendlichen Umgang abgeschlossen, lebte ich ein kümmerliches Leben in poetisierender Gefühlsschwelgerei und unreifem oder frühreifem Reflektieren. Dabei kam ich immer mehr aus dem gesunden Schritt des Lebens heraus. Ich lebte in meiner Zelle wie ein Einsiedler, wühlte in meinem Schmerz, versank immer tiefer in Trübsinn und machte sentimentale Verse. Das war auf lange Jahre die Grundstimmung meines Gemüts." Den Einfluß Schleier­ machers, der ihn im Konfirmationsunterricht zum Denken anzuregen sucht, lehnt er ab. Der Grund für seinen Zustand ist also der, daß Verstand und Wille gar nicht befruchtet werden, während er mit Gefühls­ erlebnissen geradezu überfüttert wird, so daß das Gefühl die unbestrittene Herrschaft in seinem Innenleben erhält. Da das ein seltener Fall ist, tritt es bei ihm besonders scharf heraus, wie ungesund es ist, wenn eine Einzelfunktion derart überwiegt. Nicht so klar wird das beim Überwiegen des Intellekts, denn das ist häufiger, aber deswegen im religiösen Leben nicht weniger krankhaft — wenn es vielleicht auch für die umgebende Gemeinschaft vorteilhaft ist. Bei Willich kommt hinzu, daß auch sein Wille zu schwach ist. Infolgedessen fehlt seinem Innenleben jede Stetigkeit, starke Gefühlsschwankungen treten ein, Höhepunkte wechseln mit Depressionen und er bleibt in unwürdiger Abhängigkeit von anderen Personen, sogar grauen. — Mit schönerHarmonie der einzelnen Funktionen aber endet der Kampf bei M. v. Meysenbug. Sehnsucht nach Gefühls­ erlebnissen und solche Erlebnisse selbst wechseln ab mit Perioden des Zweifels und Skeptizismus, die sie in große innere Not stürzen (vergl. S. 36,38,43). Dieser Kampf hält während des ganzen ersten Höhe­ punkts des religiösen Lebens an. In den folgenden Jahren (vergl. S. 95) tritt aber durch besonders günstige Einflüsse und eigne Erlebnisse eine volle Klärung ein, so daß alle Kräfte in schöner Harmonie an der Gestaltung ihrer Persönlichkeit mitwirken. Ähnlich ist es bei Funke (S. 99), bei

70 dem der Kampf allerdings erst spät beginnt, dann aber auch durch Be­ lehrung und rechtzeitig eintretende Erlebnisse zu voller Harmonie der Kräfte führt. — Der Kampf dauert meist durch den ganzen ersten Höhepunkt des

religiösen Lebens an, ohne zum Abschluß und zur Klärung zu führen. Da dieses Einspielen der Einzelfunktionen zur inneren Harmonie der religiösen Gesamtfunktion entschieden der wichtigste Vorgang dieser Zeit ist, kann man sie geradezu dieZeit der inneren Klärung der religiösen Funktion oder die Zeit der funktionellen Klärung des religiösen Lebens nennen (siehe unten S. 85 ff.). In der zweiten Periode werden dann im allgemeinen die fehlenden Erlebnisse gemacht, die die inneren Gegensätze klären und den Kampf entscheiden, so daß dann in der letzten Periode daS religiöse Leben in sich klar und geschlossen das gesamte Innenleben durchdringen kann — bei schematisch verlaufender Entwicklung. Das ist zu erkennen bei Andrae-Roman, D. v. Gerhardt, Meysenbug, Funke und auch bei Willich, während bei Dahn infolge besonderer Umstände die Entwicklung zusammengedrängt ist. Etwas unklar ist es bei Lilly Braun. Mit diesem Kampf um innere Klärung hängt eine andre Gruppe von Entwicklungserscheinungen — wenigstens zum Teil — eng zusammen, die inneren Schwankungen nnd Gegensätzlichkeiten, die in dieser Periode außerordentlich häufig sind. Sie haben ihre unmittelbare Ursache im Willen. Es gibt zwei Arten: Schwankungen der Willens­ stärke und der Willensrichtung. An den Willen werden gerade in dieser Zeit die allerhöchsten Anforderungen gestellt. Es kommt infolgedessen zu außerordentlichen Anspannungen desselben, denen dann Zeiten tiefer Erschlaffung folgen. Je stärker deshalb die Kämpfe und damit die An­ forderungen sind, desto häufiger und tiefer die Erschlaffungen. Diese Schwankungen brauchen also durchaus nicht Anzeichen eines an sich schwachen Willens zu sein, auch der starke Wille erschlafft für Augenblicke. Die Willensanspannung äußert sich in Lebensbejahung, Idealismus, Er­ lösungssehnsucht, intellektuellem Suchen usw., die Erschlaffung in seelischer Depression, Traurigkeit, Lebensüberdruß, Unlustgefühl. Überwiegen die letzteren, wie bei Willich, so ist das ein Zeichen von schwachem oder geschwächtem Willen. Aber auch starke Willensnaturen wie M. v. Meysen­

bug und Chr. Holstein können nach schweren Kämpfen Zeiten langer Erschlaffung durchleben. So die beiden nach ihrer Konfirmation. Die Erscheinung ist zu bekannt, als daß es nötig wäre, viele Beispiele an­ zuführen. Sie hat ja auch ihre Parallele in der körperlichen Entwicklung, wo ebenfalls infolge starken Kräfteverbrauchs bei schnellem Wachstum leicht Erschlaffung und Ermüdung eintritt.

71 Die Schwankungen sind aber auch zum Teil auf Unsicherheit in der Willensrichtung bei gleichbleibender Willensstärke zurück­ zuführen. So sagt Dietrich V.Oertzen: „Ich war ein unsicherer Kantonist, bei dem nichtsnutzige Streiche und idealste Vorsätze nach Laune und Einfall abwechselten. Heute erregte ich einen Auflaus, weil ich in Frauenkleidern auf die Straße lief, morgen faßte ich den festen Entschluß, Theologie zu studieren und beteiligte mich mit Begeisterung am hebräischen Unterricht, um ihn nach einigen Monaten aus geringfügigem Anlaß wieder aufzugeben. Was mir fehlte, war strenge Gewissenhaftigkeit, wie sie nur aus religiösem und sittlichem Ernste hätte hervorgehen können. Aber gerade in dieser Hinsicht klaffte bei mir damals ein großes Defizit. Ich war kritisch und skeptisch geworden". D. v. Gerhardt schildert in einem Jugendgedicht die inneren Schwankungen: „Gezeiten wechseln in der Brust, Bald steigen hoch des Glaubens Fluten, Das Herz empfindet felge Lust Und Kraft zum Wahren, Schönen, Guten. Bald weht ein Wüstenwind, — zurück Schlürft Zug um Zug des Glaubens Welle Die Ebbe, und dem starren Blick Zeigt sich der Tiefe grause Hölle lnämlich: „des Zweifels widerliche Brut"). In solcher Ebbe Schreckenszeit Ruf ich zum Lenker aller Dinge Gib Hochflut Herr, daß weit und breit die eklen Bestien sie verschlinge. Und hörts der Herr und trinkt die Flut der Tiefe hungrige Gerippe, Dann selig pulst mein neues Blut und Hallelujah tönt die Lippe."

Samuel Keller erzählt, daß er trotz seines religiösen Ernstes oft seiner Gabe der Nachahmung und humoristischen Dichtung zur größten Er­ heiterung seiner Klassengenossen freien Lauf gelassen habe. Lilly Braun schreit nach Freiheit und Liebe, sehnt sich also nach Selbständigkeit und Anlehnung zu gleicher Zeit. Auch die Erlebnisse von Chr. Holstein (S. 62 ff.) gehören wohl mit hierher. — Hier ist überall die Willensanspannung die gleiche, nur die Willensrichtung wechselt. In gewisser Weise gehören dann diese Schwankungen mit zu den Schwierigkeiten beim Einspielen der Funktionen. Der Wille, bezw. das drängende Leben der Gesamt­ persönlichkeit, fördert nicht alle Anlagen zu gleicher Zeit, sondern wendet Interesse und Lebenskraft abwechselnd der einen und der anderen Seite zu. Auch diese Erscheinung hat eine Parallele im körperlichen

72 Wachstum. Stratz unterscheidet in der körperlichen Entwicklung Perioden der Streckung und der Fülle. Hier liegt also geradezu ein Entwicklungs­

rhythmus vor. Im Innenleben scheint das nicht der Fall zu sein. Eher hat man da den Eindruck einer Unsicherheit der Natnr, die sich nicht klar ist über ihr eignes Wesen, und die deshalb ihre Kraft ver­ suchsweise einmal nach der einen, dann nach der anderen Seite einsetzt, bis schließlich der Schwerpunkt auf der Seite ruhen bleibt, auf der man volle Befriedigung erhielt. So ists bei Lilly Braun, die zwischen christ­ licher Lehre und wissenschaftlicher Weltanschauung, bei M. v. Meysenbug, die zwischen Askese und Weltbejahung schwankt. Die Erlebnisse von Chr. Holstein sind allerdings damit nicht restlos erklärt. Es handelt sich bei allen nicht um Vergewaltigung, sondern um freiwilliges bewußtes Wollen eines Ziels, das dem eignen Wesen fremd ist. L. Braun spricht es offen aus, daß es ein Versuch ist, den sie aber mit ganzer Hingabe unternimmt. Es ist eben keineswegs so, daß sich jede Persönlichkeit von vornherein über Wesen und Weg klar ist. Wie weit sie irre gehen kann, zeigt E. v. Willich. Endlich können als Hemmungen des selbständigen Lebens noch gewisse Reste von Kindlichkeit gelten, die auch in der Pubertätszeit noch hie und da auftauchen. So ruhen bei August Niemann die schroffsten Widersprüche friedlich nebeneinander. Er sagt von seiner Konfirmanden­

zeit: „Ich war ein gewiegter Theologe, die schwierigsten Fragen des freien Willens und der Prädestination, der göttlichen Allwissenheit und des Sündenfalls, alle Rätsel der Dogmatik löste ich spielend. Ich vermochte selbst Spinoza mit dem Christentum in Einklang zu bringen". Auch

mangelndes Verständnis, so besonders häufig das Mißverständnis des Christentums als Lehre, der der Verstand zustimmen soll, bringt oft Konflikte. Daran wird freilich meist mangelhafter Unterricht schuld sein. Endlich mag hierher auch die Erwartung magischer Wirkungen vom Abend­ mahl oder von der Feier der Konfirmation gehören — wenn darin auch viel echt religiöses Leben steckt. So sagt M. v. Meysenbug: „Ich näherte mich dem Altar mit niedergeschlagenen Augen. Die äußere Welt war mir verschwunden, ich erwartete das Mysterium des Kreuzes, des Lebens im Tode im Glanze himmlischer Glorie vor mir zu sehen". Als das nicht eintritt, fühlt sie sich „verdammt, verurteilt auf ewig". Ähnlich sagt August Niemann: „das Abendmahl war mir eine so ernste und heilige Sache, daß ich eine Umwandlung in geistiger Beziehung, eine fühlbare Veredelung der Seele davon erwartete und keine Vorbereitung versäumte. Als ich aber das heilige Abendmahl genommen hatte und nichts von der

73 erwarteten geistigen Stärkung und Verklärung wahrnahm, wurde ich tief betroffen. Mir war frostig und ich glaubte mich verdammt. Als ich zu Hause ein Glas Madeira getrunken hatte, kam eine bessere Stimmung über mich. Doch tief betroffen fragte ich mich: ,Jst es denn möglich, daß irdische Nahrung stärker wirkt, als Leib und Blut unsers Herrn?'" Die Schuld an diesen Mißverständnissen und ihren Folgen liegt wohl großenteils bei den Geistlichen und Eltern, die vom Abendmahl als etwas besonders Eindrucksvollem sprechen. Daß der Mensch oft noch zu schwach ist, die Erlebnisse dieser Zeit zu tragen und zu verarbeiten, mag auch mit hierher gehören. Damit sind die inneren Hemmungen noch nicht erschöpft. Vor allem müßten die Einflüsse der körperlichen Entwicklung untersucht werden. Doch dafür geben unsre Quellen wenig Material und dann mag hier vor allen der Arzt sprechen. Eine zweite Gruppe von Hemmungen liegt in dem Einfluß der menschlichen Umgebung. Die Hemmungen, die heute von der allgemeinen Umgebung auf den sich entwickelnden religiösen Menschen ausgeübt werden, erscheinen stärker als ihre Förderung. Die 75°/0 von Autobiographen, die nichts über ihre religiöse Entwicklung zu sagen haben, beweisen die hemmende Wirkung des heute durchschnittlich unreligiösen „Milieus". Individualitäten wecken kann die Masse nicht, aber ertöten kann sie sie. Auch in den vorliegenden Berichten zeigt sich zuweilen der hemmende Einfluß des Milieus. Andrae-Roman wird ganz entsprechend seiner Umgebung Rationalist und die Verachtung der „Gläubigen" erschwert es ihm sehr, die religiösen Persönlichkeiten auf sich wirken zu lassen und seine religiösen Erlebnisse zu verwerten. Im übrigen ist es ja bekannt, auf wie viele Menschen der Spott ihrer Umgebung hemmend wirkt. Stärker aber sind die Hemmungen, die von Persönlichkeiten aus­ gehen. Sie sind ebenso wie die Förderungen oft ganz unbewußt. Wie das Elternhaus fördert, so hemmt es auch. Es ist für Lilly Braun nicht ohne Bedeutung, daß sie die Oberflächlichkeit ihrer Eltern erkennt. Aber wir wollen vorläufig die ausgesprochen antireligiösen Einflüsse noch zurückstellen und lediglich die Personen beobachten, die das innere Leben des jungen Menschen fördern wollen. Da ist die Einwirkung auf den jungen Menschen ost unpsychologisch. Man weiß nicht, welche Nahrung er braucht, und gibt ihm die falsche. Das wirkt geradezu katastrophal bei E. v. Willich. Er sagt: „Meine Mutter teilte viel mit mir, wohl nicht mit der rechten Vorsicht und

74 Weisheit. Ihr Einfluß sand fruchtbaren Boden. Es war wohl weniger die Lektüre, die mir meine Mutter gab, als der persönliche Verkehr mit ihr, der mir durch eine verfrühte Entwicklung geistiger Anschauungen und Interessen geschadet hat." Dadurch tritt die bereits oben besprochene Gleichgewichtsverschiebung der Kräfte ein, die ihn an der Entwicklung zu einer geschlossenen Persönlichkeit überhaupt hindert. Noch häufiger vielleicht mag die allzugroße Stärkung des Intellekts durch einzelne Persönlichkeiten sein, wie es bei L. Braun und Andrae-Roman erkennbar ist. Hier liegt eine Gefahr unserer heutigen höheren Schulbildung. Auch durch Gleichgewichtsverschiebung nach dieser Seite wird die Persönlichkeits­ bildung gehindert. Noch in anderer Weise kann solcher Einfluß unpsychologisch sein. Man umgibt das Kind mit einer gewissen religiösen Sphäre und schließt es möglichst von der Umwelt und ihren Einflüssen ab. Das ist besonders häufig vor der Konfirmation der Fall. Es entsteht dadurch zwar zunächst ein schnelles Wachstum, das auch gesund scheint. Alle Teil­ funktionen werden gleichmäßig durch den Einfluß starker religiöser Persönlichkeiten gefördert. Aber das Wachstum ist ein zu schnelles und das Gewächs inneren Lebens ist, da es von jeder abhärtenden Zugluft abgeschlossen war, zu zart. Einmal muß es in die frische Luft des realen Lebens versetzt werden, und dann erliegt es oder wird wenigstens für immer geschädigt! Es ist selbstverständlich, daß ein langsames Wachs­ tum in gesunder Umgebung der realen Welt, bei dem alle Kräfte im Kampf mit den Hemmungen sich ausbilden, besser ist, als ein rasches Wachstum in Treibhausluft, das den Keim des Zerfalls in sich trägt. — Fromme! erzählt von seiner Konfirmationszeit: „Es war diese ganze Zeit eine andere Welt, in der ich gelebt, oft herausgehoben in eine andere Lebenslust, als fühlte ich etwas von dem: ,Jch muß sein in dem, das meines Vaters ist'. Dieses ,muß' ist kein äußerer Zwang, sondern der innerste Trieb der Seele, das Erfassen ihrer ewigen, wahrhaften Be­ stimmung. — Und nun wieder hinein in das Alltagsleben, von der heiligen Höhe herab. Ich mußte mich erst wieder ins tägliche Leben finden. An Anregung hat es nicht gefehlt, aber an Treue, des Kapital festzuhalten. Wie vieles wird wieder überwuchert und erdrückt in einem fünfzehnjährigen Knaben". Sein religiöses Wachstum ist nicht ungesund gewesen. Neben der Anregung religiöser Empfindungen steht eine gute Berstandesdurchbildung. Aber als er in die alte Umgebung zurückkehrt, zerstiebt alles, was in ihm geworden ist. Die künstlich genährte Flamme inneren Lebens erlischt. Schlimmer sind die Folgen bei

75 Chr. Holstein (vergl. S. 62).

Ihr ist nach der Konfirmation die Be­

rührung mit der realen Welt wie ein jäher Sturz aus einem „Himmels­ traum", der sie in schwere innere Not bringt. — E. v. Willich sagt von sich (im Alter von 14 Jahren): „Man erfährt es immer mehr, daß die

Welt ganz anders ist, als man geahnt und geträumt hat, daß sie keineswegs dem Ideale entspricht, das die Kindesseele in sich trug. Davon entsteht Kampf. Er durchzieht unser ganzes Leben. Wehe dem, der das Bewußtsein dieses Zwiespaltes und deshalb auch das heiße Sehnen nach Wiederherstellung der Harmonie verloren hat". Daß dieser Kampf in seinem Leben „frühzeitiger und schmerzlicher einsetzte, als meistens sonst," führt er darauf zurück, daß seine Mutter ihn von der Welt abgeschlossen hielt und nur hohe Ideale in ihm Pflegte. Sein Beispiel zeigt auch,

daß man dadurch geradezu unfähig werden kann zum Leben und zur freien Entwicklung. In den beiden bisherigen Fällen kam es dem jungen Menschen nicht zum Bewußtsein, daß der Einfluß, den er empfing, unpsychologisch war. Schlimmer sind die Folgen, wenn es der Mensch empfindet, daß die fremde Einwirkung seinem Wesen nicht entspricht. Dann setzt die Reaktion ein, und diese richtet sich meist nicht nur gegen die betreffende Persönlichkeit, sondern gegen das, was sie vertritt, oft gegen die Religion überhaupt. Die beste Schilderung davon gibt Lilly Braun (vergl. S. 45): „Herzklopfend trat ich das erstemal bei ihm (dem Konfirmator) ein. In vagen Andeutungen, die gewiß nur ein guter und gütiger Psycholog verstanden hätte, sprach ich ihm von den häßlichen Phantasien, die ich vergebens zu vertreiben suchte. Ein ,hm, hm' und ,so, so' und ein er­ stauntes Kopfschütteln war zunächst die ganze Antwort. In sichtlicher Verlegenheit ging er im Zimmer auf und ab, um sich endlich, wie unter dem Einfluß eines raschen, erleuchtenden Gedankens mir wieder zuzuwrnden. Über den Tisch hinweg streckte er mir beide Hände ent­

gegen, fleischige weiche Hände, die sich anfühlten, als hätten sie weder Knochen noch Muskeln. Eine physische Abneigung ließ mich zögern, die meinen hineinzulegen. ,Nun mein Kind', sagte er und hob sie auffordernd, ,habe Vertrauen zu Deinem Seelsorger. Wie ich jetzt Deine Hände fasse' — seine runden Finger legten sich um die meinen, als wären es lauter klebrige Schnecken — ,so wird Gott die flehend zu ihm erhobenen Hände Deiner Seele ergreifen und Dich aufrichten vom Staube. Das sind Versuchungen des Bösen'. Er fing an mich zu examinieren, wie oft, ob und wann ich betete, ob ich zu unserm Herrn und Heiland in kindlich vertrauendem Verhältnis stünde, ob ich

76 fleißig in der Bibel läse. Nach kurzem inneren Kampfe anwortete ich ihm, wie es der Wahrheit entsprach, war ich doch zu ihm gekommen, beseelt von dem aufrichtigen Wunsch, erlöst zu werden von meiner Oual. — Er runzelte die Stirn. ,Das ist ja sehr traurig und un­ erhört. Was liest Du denn?' Ich erschrak. Sollte ich ihm das Ge­ heimnis meiner schönsten Stunden verraten? Ein schmerzliches Auf­ atmen — es mußte sein um meines Heils willen." — Sie hatte Goethes Werke gelesen. — „,Das ist ja unerhört, unerhört!' unter­ brach der Pfarrer meine Beichte, und seine Stimme überschlug sich, ,so wirst Du tun, was ich von Dir verlangen muß. Du rührst diese verwerflichen Bücher nicht mehr an. Du liest nur was ich Dir gebe. Du kommst jedesmal eine Viertelstunde früher zu mir, als die anderen Kinder, damit sie in ihrer Unschuld nicht gefährdet werden. Versprichst Du mir das?' Zerschlagen schlich ich nach Hause." Der Pfarrer teilt das Gespräch auch noch den Eltern mit und läßt das Kind überwachen. Das stößt Lilly Braun noch weiter zurück. „Eine unüberwindliche Bitterkeit. ließ diese erste Erfahrung mit dem Pfarrer in mir zurück." Das Erlebnis wird der Anlaß, daß sie das Christentum, das ihrem Wesen durchaus nicht widerspricht, schließlich ablehnt. Ihre Persönlich­ keit wird schwer geschädigt. — Dieser Fall ist häufiger, als man wohl denkt. Bei Gottfried Keller, Dahn, Paulsen, Dräger u. a. leuchtet es durch. Manchmal, z. B. bei Dräger, wird die Abneigung gegen die Religion durch eine solche Persönlichkeit dauernd. Besonders oft wird beim Konfirmandenunterricht davon berichtet (die eben Genannten). Daran trägt einmal das unjugendliche Verhalten vieler Geistlichen die Schuld. Funke erzählt von diesem Unterricht, daß er „mehr auf ein seliges Sterbestündlein, als auf den Kampf in dieser Welt berechnet" gewesen sei und daß sie „oft bis zum Zähneknirschen" Bibelstellen hätten auswendig lernen müssen. — Daneben spielt aber auch die Tatsache eine Rolle, daß hier einem jungen Menschen der ganze reife Ertrag der christlichen Religion, der kaum in einem langen Leben gefaßt werden kann, in einer Zeit vermittelt wird, wo der junge Mensch gerade anfängt, sich zu entwickeln. Das muß oft auf ihm lasten und dann geradezu den Gegensatz hervorrufen. — Auch das rohe, verständnislose Hineingreifen in eine junge Seele, wie bei Fischer (S. 36) im Spott des Pfarrers, oder bei Lilly Braun (S. 75) im Erzwingen eines Be­ kenntnisses kann dem keimenden inneren Leben schweren Schaden zusügen. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Der Einfluß anderer Persön­ lichkeiten kann bis zur inneren Vergewaltigung führen. Felix Dahn geht

77 zu seinem Pfarrer, um ihm zu sagen, daß er sich aus Gewissensgründen nicht konfirmieren lassen könne. „Der grimme Mann fuhr mich an. Er glaubte durch Drohung — mit Schlägen und Hunger auf mich wirken zu können. Ich drehte ihm den Rücken und ging zu seinem geistlichen Oberen^ Dem sagte ich dasselbe wie jenem und auch die Prügeldrohung des Trefflichen. Der fing es nun viel feiner an. Erst wollte er mich in aller Geschwindigkeit bekehren. Als ich aber den

Spieß der Fragen umkehrte, gab er das sofort auf und iqirkte nun sehr geschickt auf mich durch Ausmalen des Schmerzes, den ich meinen Eltern bereiten würde. Das machte mir tiefen Eindruck und unter Tränen brachte

ich mein „Ich kann aber doch nicht anders" heraus. Da verdarb er sich alles, indem er mir nun das Ärgernis vorhielt, das durch solche

Weigerung im Publikum entstehen würde." Der Pfarrer gestattet ihm dann, mit seinem Glauben an Gott, Freiheit, Unsterblichkeit die Konfirmation mitzumachen und übernimmt die Verantwortung für die Heuchelei. Dahn verachtet ihn. — Nicht alle können sich der Vergewaltigung so erwehren.

Oft ist die eigne Persönlichkeit zu schwach, um sich verteidigen zu können. E. v. Willich ringt jahrelang darum, vom Einfluß jener kranken Frau (S. 69) loszukommen. Er ist zu schwach und so wächst gewissermaßen

in seinem Inneren ein fremdes Leben auf. Er bleibt lebenslang ein in sich zerrissener Mensch. Noch schlimmer als die Vergewaltigung, die dem jungen Menschen nur den Stempel eines fremden Lebens aufprägt, ist jene brutale Art, die jedes Eigenleben zertreten will und von der Lilly Braun berichtet: Auch sie will sich nicht konfirmieren lassen. Da benutzt der Pfarrer die Gelegenheit, daß sie durch eine öffentliche Lüge Aufsehen erregt, sie zur Buße und zur Konfirmation zu zwingen. Schließlich sagt sie mechanisch „Ja". „Während der Wochen bis zu meiner Einsegnung lebte ich wie ein Automat. Ich fühlte weder Reue noch Kummer. Die Gedanken waren wie ausgelöscht. Widerstandslos ließ ich mich am Morgen schmücken und stieg in den Wagen. Die ganze Straße stand voll Menschen — ,wie bei einem Begräbnis' dachte ich. Und dann standen wir vor dem Altar. Er war rings mit einem Wald von Palmen umgeben. ,Wie beim Begräbnis' dachte ich noch einmal. Mir war plötzlich, als stünde ich dicht vor dem Felsentor des Höllentals, und der brausende Bach drohte mich zu verschlingen. Ein strenger Blick des Pfarrers mahnte mich an meine Pflicht. Einem aufgezogenen Uhr­ werk gleich sagte ich, ohne zu stocken, die drei Artikel auf. Während­ dessen fühlte ich die vielen hundert Augen auf mich gerichtet, triumphierend, höhnend. Danach war es einen Augenblick still, ehe der Pfarrer das

78 persönliche Bekenntnis abnahm. Sage nein, tönte es in mir. Hilfe­ suchend sah ich mich um. Auf das gütige, verzeihende Lächeln meines Vaters siel mein Blick, ,3a', klang es laut und rauh durch die Kirche." In halber Betäubung verlebt sie dann den Tag. Apathie ist also das letzte Hilfsmittel, aber das religiöse Leben wird oft genug ein für allemal dadurch zertreten. Auch wer sich seine Freiheit erkämpft, wird dadurch meist nicht in seiner Entwicklung gefördert, sondern abgelenkt, da die Entwicklungsrichtung durch die Reaktion bestimmt wird und nicht freier Wahl entspringt. In den meisten Fällen führt die Vergewaltigung bei dem Vergewaltigten zur inneren Unwahrhaftigkeit und damit zur Schuld. Der junge Mensch ist zu stark, um sich innerlich zu beugen, zu schwach, um den Kampf offen durchzuführen und die Folgen seines Widerstandes zu tragen. Da bleibt als Hilfe nur die Heuchelei. In welche Not das bringen kann, schildert Andrae-Roman. Er ist entschlossen, bei der Konfirmation in der Kirche vor dem Altar das Jawort zu verweigern, wenn er aufgefordert wird, das Bekenntnis zu sprechen, was nur wenige zu tun brauchten. „So ging ich in höchster Aufregung zur Kirche, so wohnte ich der feierlichen Handlung bei. Was man für heilsame Bewegt­ heit hielt, war der entsetzliche Kampf, der in mir tobte. Vor dem Schlimmsten bewahrte mich Gottes Barmherzigkeit. Ich brauchte nicht zu sprechen. Auf die Frage: ,Jst das Euer aller Bekenntnis?^ schwieg ich zwar, aber wie eine erdrückende Last lag es auf mir, daß ich mit der Ehrlichkeit doch nur gespielt hatte. Fast bewußtlos nahm ich auch am Abendmahl teil, nachdem ich mich bei der Beichte von Grund des Herzens als einen Sünder erkannt hatte. Als ich nach Hause kam, war meine Kraft zu Ende. In einem Weinkrampf brach ich zusammen und meine $Rutter mit ihrer Zärtlichkeit und mein Onkel mit seiner ärztlichen Hilfe hatten vollauf zu tun, um mich zu beruhigen." Die Gefahr der Vergewaltigung liegt ja in der Konfirmationspraxis. Der Unterricht will hier nicht die religiöse Seite des Menschen psychologisch ausbilden, sondern er will ein bestimmtes, vorher formuliertes und für alle gleiches Ziel erreichen. Da muß der einzelne vergewaltigt werden, wenn nicht die Persönlichkeit des Konfirmators stark genug ist, die Kinder mit sich fortzureißen. — Zum Teil allerdings ist die Vergewaltigung vom Kind aus gesehen eine freiwillige, eine Art Selbstvergewaltigung. Die Achtung vor einer Persönlichkeit ist so groß, daß man sich ganz ihre Anschauung aneignen zu müssen glaubt. Darin steckt ein Rest kindlicher Autoritätsverehrung. Man zwingt sich zur Askese, zum Sündenbewußt­ sein, zum Glauben (d. h. hier: Fürwahrhalten) des Dogmas. So bei

79 M. v. Meysenbug (S. 43), L. Braun (S. 68), Chr. Holstein, Char. Bischoff (S. 40). Frauen scheinen sich also häufiger und leichter der starken Persönlichkeit hinzugeben. Daß dabei unbewußt erotische Gefühle eine Rolle spielen, äußert sich u. a. auch darin, daß Frauen meist die äußere Erscheinung solcher Männer mit schildern, M. v. Meysenbug (S. 40), Char. Bischoff. Diese Selbstvergewaltigung ist aber natürlich nicht so schädlich wie die eigentliche Vergewaltigung. Die eigne Individualität kann sich ja nicht selbst vernichten. Im Gegenteil führt diese Irrung meist zur vollen Klarheit über das eigne Wesen. Endlich können natürlich auch geradezu religionszerstörende Ein­ flüsse von fremden Personen ausgehen. Wie einschneidend dieselben sein können, zeigt die Erzählung Richters (S. 28) von dem Spott eines Bekanttten und die L. Brauns vom Einfluß ihres Hauslehrers. Aber es ist ja bekannt, daß niedrige Einflüsse sich im Menschen mit be­ sonderer Gewalt auswirken. Und die Gefahr ist vor allem in der Jugend groß. Besonders die Verleitung zu sexueller Ausschweifung ertötet leicht das höhere geistige und religiöse Leben im Menschen. In den Selbstlebensbeschreibungen deuten das allerdings nur Funke und L. Braun an. Von dem menschlichen Einfluß wollen wir auch hier wieder die Wirkung von Erlebnissen an sich nicht religiöser Natur, Lebensführungen und dergleichen unterscheiden. Wie sie fördern, so können sie auch er­ heblich hemmen. Dem Eindruck von Erlebnissen kann man sich viel schwerer entziehen, als dem Einfluß von Persönlichkeiten. Zwar kann ihre Wirkung auch umgebogen werden. Es steht letzten Endes in der Hand des Menschen, ob er Todesfälle, Lebensgefahr, Not und dergleichen religiös erlebt, oder nicht. Wie er seine Individualität in die Natur hineinsieht, so kann er sie auch in seine Erlebnisse hineindenken. Aber doch wird man nicht leugnen, daß auch von Erlebnissen ganz erhebliche Wirkungen auf ihn ausgehen. Woher kämen sonst die Kämpfe mit den „Verhältnissen". Ja, der Mensch kann unter einem Erlebnis zu­ sammenbrechen. Wer im Trommelfeuer eines Großkampftages gestanden hat, der kann davon berichten. Wir beginnen beim Negativsten. Die schwerste Gefahr für die religiöse Persönlichkeitsbildung ist der Mangel an entsprechenden Erlebnissen. Ihn kann keine noch so starke Anlage des Menschen, kein schöpferische Kraft ersetzen. Das religiöse Organ muß .dann wegen Unterernährung verkümmern. Das erschütterndste Beispiel ist hier F.Dahn. Er sagt in einem Jugendgedichte von Jesus:

80 „Von Dir lassen kann die Seele nicht, So wahr Dein Name laut auS allem spricht Was unsre Vorzeit Schönstes schuf bis heute, Ich will ein Recht an diesen Kirchenhallcn, An diesen sternenäugigen Madonnen. Ein Recht an Deiner Abendglocken Schallen, Du bist die Quelle, die die Welt durchronnen, Licht ist Dein Leben, Lieben ist Dein Wallen, Und es verdorrt, wer läßt von diesem Bronnen."

Und er mutz es selbst erleben, das er verdorrt. All seine glühende Sehnsucht kann ihm Gott, den er sucht, das Erlebnis, das er braucht, nicht schaffen (S. 24f.). So sehr auch im Gotteserlebnis schöpferische Kräfte des Menschen ruhen, so muß doch unbedingt seinem Handeln auch eine Wirklichkeit begegnen; nur dann kann sich für ihn aus dem subjektiven Erleben eine objektive Wahrheit ergeben, auf die er sein Leben baut. — Über die Möglichkeit, mit subjektivem Erlebnis objektive

Wahrheiten zu erfassen, kann hier nicht gesprochen werden. Es muß genügen, festzustellen, daß für das Bewußtsein des Menschen seinem subjektiven Erlebnis eine objektive Tatsache begegnet. — Auch Ludwig Richter kommt der Mangel eines sein Verlangen stillenden Erlebnisses schmerzlich zum Bewußtsein. M. v. Meysenbug wird durch das Aus­ bleiben eines Gotteserlebnisses, dem sie objektive Gültigkeit beimessen könnte, sogar schwer erschüttert (S. 43/44 und 72). Ebenso geht es Niemann (S. 72), L. Braun u. a. Schmerzlich kommt dieser Mangel nur dann zum Bewußtsein, wenn die religiöse Anlage besonders stark ist. Dann empfindet der Mensch ein quälendes Hungergefühl nach dem Göttlichen, das sich wie bei Dahn und Richter oft durch die ganze Zeit der Entwicklung geltend macht. Aber auch wenn die Anlage schwächer ist, und der Mensch das Fehlen dieses Erlebnisses nicht weiter störend empfindet, wird er doch in seiner Persönlichkeitsentwicklung geschädigt. Eine entwicklungsfähige Anlage muß aus Mangel an Nahrung ver­ kümmern. Hier liegt eine ausgesprochene Not unserer Zeit. Wir haben eine hochentwickelte Unterrichtskultur, aber wenig Erlebnismöglichkeiten für den Heranwachsenden Menschen. Man weiß von den tiefsten Ge­ heimnissen der Religion — aber wo erlebt man sie? Deshalb bleibt bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen (von den Autobiographen zirka 75%) trotz allen Wissens von Religion die religiöse Anlage unter» emährt und unterentwickelt. Nicht immer muß der Mangel an einem religiösen Erlebnis zur Oft kommt es

Verkümmerung der gesamten religiösen Anlage führen.

81 auch nur zu einem Überwiegen des Intellekts innerhalb der religiösen Funktion. Das ist besonders dann der Fall, wenn Erlebnisse nicht ganz ausblieben, sondern nur in zu geringem Maße gemacht wurden. Dann kommt es infolge der Verschiebung des inneren Kräfteverhältnisses zu den oben besprochenen Kämpfen. — Ob man auch von einem schädlichen Übermaß religiöser Erlebnisse sprechen kann, erscheint dagegen

fraglich. Nur dann kann man so sagen, wenn man den Einfluß von Persönlichkeiten unter die Erlebnisse rechnet. Wie E. v. Willich u. a. beweisen, kann ein Übermaß solcher künstlich erzeugten Erlebnisse ebenso schädlich auf das innere Kräfteverhältnis wirken, wie ein Mangel. Unser Material gibt aber kein Beispiel, daß eine zu große Zahl objektiver, sich ohne Zwang ergebender religiöser Erlebnisse eine schädliche Wirkung auf die Persönlichkeitsbildung gehabt habe. Es ist ja die Persönlichkeit selbst, die die Erlebnisse religiös wertet. Entwicklungshemmend aber können Erlebnisse sein, die zu große Anforderungen an die Tragkraft des werdenden Menschen stellen, z. B. schwere Lebensführungen, sittliche Gefahren usw. Einem religiös reifen Menschen stählen sie die Kraft, einen noch unfertigen drücken sie nieder, hemmen seine Entwicklung oder lassen ihn wohl gar zusammen­ brechen. Bei Felix Dahn wirken solche schwere Lebensführungen mit dem Mangel an einem religiösen Erlebnis zusammen, um ihn schwer zu schädigen. Sein religiöses Leben bleibt ein verkrüppeltes Gewächs. Er endet in Resignation, und das ist nicht das Ziel der Persönlichkeits­ entwicklung. Besonders groß wird die Gefahr solcher Erlebnisse, wenn das innere Wachstum eines Menschen eine Zeitlang zu sorgfältig behütet und er von der Außenwelt abgeschlossen wurde. Dann ist schon die Be­ rührung mit dem realen Leben schmerzlich, das Leben an sich die drückende Last, gegen die man zu kämpfen hat (vergl. Chr. Holstein, S. 62). Endlich kann auch das gleichzeitige Erleben von widersprechendem Sinn in schwere Konflikte stürzen und die Entwicklung hemmen. Solche Erlebnisse stellen zu hohe Anforderungen an das Zusammenspiel der einzelnen Funktionen, fordern vor allem eine fortgeschrittene Erkenntnis. Denn der Verstand hat das Erlebnis zu klären. — Dahn sitzt als Gymnasiast im Konfirmandenunterricht unter durchschnittlich viel jüngeren Volks- und Lateinschülern. „Mit Widerwillen, ja mit Eckel hörte ich zu, wie die verschiedenen Mirakel in gröbst sinnlicher Form hier ein­ gebleut wurden. Als ich zu Anfang durch zweifelnde Fragen meinem Gewisfen Luft machen wollte, wurde ich barsch zum Schweigen verwiesen. Als ich außerhalb der Schule dieselben Fragen an den Lehrer stellte, Bohne: Religiöse Entwicklung.

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erklärte dieser zornentbrannt den Einbläser dieser Zweifel für den leibhaftigen Satan. Ich mußte lachen. Dieser Satan hieß — Luthardt, der gerade eine Stunde, bevor ich von den in die Säue fahrenden Dämonen hörte, über Sokrates, Plato und die Neuplatoniker in ihrem Verhältnis zu den christlichen Ideen gesprochen und christliche Apologetik getrieben hatte." Andrae-Roman kommt in Schwierigkeiten, als er gleichzeitig pietistischen und rationalistischen Unterricht hat. Lilly Braun stößt sich an dem Widerspruch zwischen den sittlichen Forderungen des Christentums und dem Verhalten des Pfarrers. Auch schwere Führungen, die der Liebe Gottes zu widersprechen scheinen, wirken oft so. Solche widersprechenden Erlebnisse führen leicht zur Herrschaft des Verstandes, da es danach erwiesen scheint, daß das religiöse Erlebniszentrum nicht in der Lage ist, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter einer höheren Einheit zusammenzufassen. Häufig erfolgt auch die Ablehnung der Religion überhaupt. Die Zahl der Hemmungen mag noch größer sein. So mußten z. B. auf Grund des beschränkten Materials die körperlich bedingten Erscheinungen außer Bettacht bleiben. Immerhin sind aus der fast verwirrenden Fülle der Erscheinungen wohl die wichtigsten herausgegriffen und können einen Eindruck geben von den in dieser Zeit tätigen treibenden und hemmenden Kräften und Einflüssen, so daß wir einerseits die schweren Kämpfe verstehen, deren Schauplatz das Innere des Menschen während dieser Entwicklungsperiode ist, anderseits aber auch die oft ungeheure Kraft der Individualität erkennen, die sich schwersten Hemmungen zum Trotz durchsetzt. 3. Gesamtcharakter der Periode.

Die eben besprochene Entwicklungsperiode stellt den Anfang des „Sich-selbst-Erfassens und Nach-Ausdruck-ringens der Seele" dar. Sie zeigt deshalb noch so viel Unklarheit, Schwanken usw. Aber gerade an dem Widerstand gegen die Hemmungen (vergl. S 43, 45) wird klar, daß doch eine gewaltige innere Kraft vorhanden ist, und daß der junge Mensch in steigendem Maße sich selbst erfaßt. Nur ist das Ringen um

den Ausdruck dessen, was im Inneren lebt, oft sehr schwer. Denn wenn auch hie und da einmal ein anderer helfend eingreift, so muß doch letzten Endes der werdende Mensch seinen Weg allein finden. Wie dabei im Laufe der Entwicklung die Kraft wächst, das zeigt der wachsende Wider­ stand gegen Hemmungen und Autoritäten. Gottfried Keller sagt: „Wir machten um die Wette unsern Krieg gegen Pfaffen und Autoritätsleute

83 aller Art" oder: „Auf nächste Weihnacht sollte ich nun konfirmirt werden, welches mir große Sorgen verursachte. Deshalb äußerte ich mein Anti­ christentum jetzt mehr, als ich sonst getan haben würde". Lilly Braun wählt sich ihren Helden immer in Gegensatz zu ihrem Lehrer. AndraeRoman sagt: das imponiernde Christentum zweier Freunde „reizte mich mehr zum Kampf, als daß es mich gewann". Gustav Falke wird eines Tages (mit 14 Jahren) von einem Freund gefragt, ob er an die Un­ sterblichkeit glaube. Er bejaht es. „Alle großen Geister haben daran geglaubt. Natürlich denke ich es mir nicht so wie die Pastoren es

predigen. ,Ach die Pfaffen^ rief er (der Freund) verächtlich. ,Ja, diese Pfaffew pflichtete ich bei". So ists bei vielen, während das Krankhafte in E. v. Willichs Entwicklung gerade das ist, daß er fremden Autoritäten keinen Widerstand entgegensetzt. Oft ist aber auch bei ganz gesunder Entwicklung der Widerstand während dieser Periode noch ein völlig unbewußter, der sich nur etwa dadurch ausprägt, daß man mit dem fremden Einfluß nichts anfangen kann und ihn an sich ablaufen läßt. So sagt Funke, daß die Erzählungen der Mutter vom Himmel auf ihn keinen Eindruck mehr machten, weil er sich bereits in der Periode der Welt­ freude befand. Auch M. v. Meysenbug leistet bis zur Konfirmation nur unbewußten Widerstand, obwohl es bei ihr zu Kämpfen kommt. Die Indi­ vidualität dieser Periode ist im allgemeinen nur ein Wissen dessen, was man nicht will, und erst in der Abschlußperiode kommt es zu einem Wissen dessen, was man will. Die Entwicklung der Individualität vom Tasten zur bewußten Zielstrebigkeit wurde S.43ff. angedeutet, kann aber genauer nur an Gesamtentwicklungen studiert werden. Abgesehen von diesem langsamen Erwachen der Individualität unter­ scheidet sich der erste Höhepunkt des inneren Lebens besonders dadurch von den anderen Zeiten, daß alle eben erwachten Kräfte mit besonderer Inten­ sität sich auswirken, daß alle Einflüsse mit besonderer Kraft und Frische aufgefaßt und verarbeitet, bezw. abgestoßen werden. Das wird deutlich an der Unbedingtheit, mit der aus den einzelnen Erlebnissen die Folgerungen gezogen werden, wenn dabei auch, wie bei Dahn, wertvollste Teile des Innenlebens vernichtet werden. Mit ganzer Seele gibt man sich dem Gefühlserlebnis hin und läßt im nächsten Augenblick den Verstand mit aller Schärfe sprechen und kritisieren (M. v. Meysenbug, F. Dahn). Ost liegt der Ton auch ganz auf einer Seite, auf dem Gefühl bei Fischer, Chr. Holstein u. a., auf dem Verstand bei Andrae-Roman, G. Keller u. a. Infolge dieser Neigung zum Unbedingten wird wohl in den meisten Fällen das Konfirmationsgelübde wirklich in ehrlicher und ganzer Hingabe

84 abgegeben.

Vergl. dazu auch den Abschnitt über das Einspielen der

Kräfte, S. 66ff. Weiter aber ist ein besonderer Zug dieser Zeit die Richtung auf das Edle, Erhabene, Geistige, Übersinnliche, Göttliche, während in der

folgenden Periode dann die Sinnlichkeit zu ihrem Rechte kommt. Es ist bedeutsam, daß der Mensch bei seinem Erwachen in erster Linie den geistigen Durchblick durch das Weltganze sucht, ehe er die Beziehungen zu der ihn umgebenden sinnlichen Welt regelt. Es ist, als wollte er sich zuerst in den höheren Zusammenhang, in dem er lebt, einordnen, damit er dann auch den Weg durch die sinnliche Welt seinem Wesen und seiner Bestimmung entsprechend finde. Damit steht in engem Zu­ sammenhang, daß die Religion jetzt zum erstenmal als höchster Wert in den Gesichtskreis des Menschen tritt. Allerdings taucht sie oft nur blitzartig als solcher auf, ja es mag sogar vorkommen, daß sie gar nicht als solcher bewußt wird, trotzdem tiefe Erlebnisse vorliegen. Das ist ja eigentlich das Bild der Kindheit, daß selbst beim höchstentwickelten religiösen Leben das Wertbewußtsein dafür fast ganz fehlt. Aber dieser Zustand wird auch manchmal in die erste Zeit der Pubertät mit hinein­ genommen, besonders anscheinend, wenn das Erwachen ein wenig künstlich herbeigesührt wurde. So hat man bei Fromme! den Eindruck, als habe sein religiöses Leben in der Konfirmationszeit noch wenig Wertbewußtsein und bestehe lediglich in einer lebhafteren, über das kindliche Maß hinaus­ gehenden Tätigkeit der Funktionen, während bei Funke anscheinend sogar der ganze erste Höhepunkt durch die lebhafte Kindheitsreligion vorweg­ genommen ist. So fließend sind u. U. die Grenzen. Im allgemeinen läuft das Erwachen der Individualität und des Wertbewußtseins parallel. Die Entwicklung ist in beiden Fällen keine sprunghafte. Wie sich die Individualität langsam aus dem Unbewußten herausschält, so auch das Wertbewußtsein. Es ist dabei aber im allgemeinen so, daß die Religion noch als ein gesondertes, in sich geschlossenes Wertgebiet erscheint, das neben oder im Gegensatz zu den übrigen Wertgebieten steht, während in der Abschlußperiode — vom religiösen Menschen — erkannt wird, daß die Religion alle Wertgebiete zu durchdringen bestimmt ist. Eben deshalb, weil die Religion noch als gesondertes Wertgebiet betrachtet wird und man ganz in ihr lebt, ohne mit den übrigen Lebensgebieten in Berührung zu kommen, kommt es in dieser Periode im allgemeinen nicht zu Konflikten durch Werturteile. Man gibt sich der Religion hin, weil das Verlangen nach ihr vorhanden ist, reflektiert aber weder über die Herkunft dieses Verlangens, noch oft darüber, welchen Wert die jenes

85 Verlangen befriedigenden Erlebnisse für das Leben haben. Das geht aus all den Berichten hervor, die von hohen Gefühlserlebnissen erzählen, ohne dabei zu erwähnen, daß ein besonderes Wertbewußtsein vorgelegen habe, außer der augenblicklichen Gefühlsbefriedigung. Vor allem aber zeigt die Tatsache, daß man der Religion noch einmal für einige Zeit den Rücken wendet, daß das Werturteil über sie in der ersten Periode nicht zum Abschluß gelangt, sondern — wenn es überhaupt vorhanden ist — ein vorläufiges bleibt. Das liegt an der Eigenart des Entwicklungsvorgangs in dieser Periode, die wir oben (S. 70) eine Periode der funktionellen Klärung des religiösen Lebens nannten. Das heißt: Alle Kämpfe dieser Zeit spielen sich ab innerhalb des religiösen Geistesgebietes und haben das Ziel, das Verhältnis der einzelnen Teilfunktionen zueinander zu klären, so daß sich die religiöse Anlage dann in sich geschlossen und harmonisch auswirken kann. Dabei ist das erste und wichtigste das Gotteserlebnis, die Anknüpfung des religiösen Verhältnisses, dann aber die Frage, welche Form des Gotteserlebnisses und des religiösen Lebens überhaupt dem Wesen des Individuums entspricht, auf welcher der einzelnen Teilfunktionen der Ton im religiösen Leben liegen soll, ob auf dem Gefühl, Verstand oder Willen, und endlich der Schutz des religiösen Lebens gegen Einflüsse und Hemmungen aller Art. Dabei bleibt die Stellung des religiösen Geistesgebietes innerhalb der seelischen Struktur unklar. Die übrigen Geistesgebiete, Kunst, Wissenschaft usw. treten in dieser Zeit entweder ganz zurück, oder führen ein Sonderdasein, ohne mit dem religiösen Leben in Reibung zu geraten. Meist stehen sie ihm in sich geschlossen unter dem Sammelbegriff „Welt" gegenüber.

Das Werturteil über die Religion betrifft aber gerade das Ver­ hältnis des religiösen Geistesgebietes zu den übrigen Wertgebieten und hat als Ziel die Klärung der seelischen Struktur. Wenn also in der Religion der höchste Wert ersännt wird, so heißt das, daß der Mensch sein gesamtes Innenleben religiös durchdringen, das ganze Leben religiös auffassen und alle Geistesgebiete dem religiösen ein- und unterordnen will. Dazu ist aber nötig, daß er die übrigen Geistesgebiete kennt, ihre inneren Werte einmal erlebt und sie miteinander verglichen und in Beziehung gesetzt hat. Und das braucht wieder Zeit, in der man Lebens­ erfahrung sammelt. Ist das geschehen, dann kann in einer letzten Periode, die man eine Zeit der strukturellen Klärung nennen könnte, das Werturteil über die Religion fallen. Die Religion wird als höchster Wert erkannt! Auch hier ist die Entwicklung nicht sprunghaft.

86 Vielmehr beginnen die Werturteile in dem Augenblick der Berührung, bezw. des Konfliktes mit irgend einem Geistesgebiet, sind aber im An­ fang unsicher und werden oft umgestoßen, bis sie sich schließlich end-

gültig festigen. Daß dieser erste Höhepunkt des religiösen Lebens wirklich eine Zeit der funktionellen Klärung ist, bestätigt sich, wenn man noch einmal im Zu­ sammenhang die Kämpfe dieser Zeit überblickt. Der erste Hauptteil des Kapitels schilderte die Kräfte, die in dieser Zeit rege werden und sich im Gotteserlebnis als lebendig erweisen, der zweite die Hemmungen. Aus dem Zusammenstoß von Kraft und Hemmung ergibt sich der Kampf. Er geht entsprechend den drei Gruppen von Hemmungen nach drei Hauptrichtungen. ' Zuerst hat der werdende Mensch gegen die in seinem Inneren wachwerdenden Widerstände zu kämpfen. Da sind die aus Angst und Unlustgefühlen entstehenden Schwierigkeiten. Sie erklären sich als all­ gemeine Unsicherheit der eben wachwerdenden religiösen Anlage. Das

Entwicklungsziel ist hier, daß die Anlage, in sich gefestigt, fähig wird, die Beziehung zu Gott zu finden — also funktionelle Klärung und Ertüchtigung. Die Kämpfe, die durch das Auftauchen dunkler Kräfte und Urelemente entstehen, haben das Ziel, den Grundcharakter des

religiösen Lebens zu bestimmen und es von allen Fremdelementen, die sich eindrängen wollen, zu befreien. Also abermals innere Klärung der religiösen Funktion. Noch klarer ist das bei ber dritten Gruppe von Kämpfen, die die innere Harmonie der Teilfunktionen, des Denkens, Fühlen und Wollens erstreben. Die Kämpfe sind, wie schon gesagt, die bei weitem flüchtigsten in dieser Zeit, und schon danach wäre man berechtigt, von einer Periode der funktionellen Klärung zu sprechen. Ebenso erstrebt man schließlich beim Niederkämpfen der Reste von Kindlichkeit die Reinigung der religiösen Anlage. — Zweifelhaft aber könnte man sein, ob auch bei Überwindung der Schwankungen und

Gegensätzlichkeiten (S. 70 ff.) nur die Klärung der religiösen Anlage das Ziel ist, oder ob hier nicht bereits ein Tasten und Suchen nach struktureller Klärung vorliegt. Wir müssen da scheiden zwischen den beiden Arten der Schwankungen. Die Willensanspannungen und Er­ schlaffungen sind eine allgemeine Erscheinung der Jugendzeit und be­ deuten nichts für die speziell religiöse Entwicklung. Auch die Schwankungen zwischen Unfug und Ernst, von denen z. B. D. v. Oertzen (S. 71) berichtet, kommen hier nicht in Betracht, da dabei keine innere Ver­ bindung zwischen der Hingabe an das religiöse Erlebnis und der an

87 andere Erlebnisse besteht. Wohl aber sind die Kämpfe zwischen Hingabe an Gott und an die Welt hier zu nennen, in denen an den Menschen ein klares Entweder—oder herantritt, das von innerer Be­

ziehung der beiden Gebiete zueinander zeugt. Davon wnrde schon gesagt, daß es sich dabei um eine Unsicherheit der Natur handle, die sich über die einzuschlagende Lebensrichtung nicht klar sei. Das bedeutet aber tatsächlich ein Suchen nach struktureller Klärung. Doch widerlegt das die Behauptung, daß sich in dieser Periode die funktionelle Klärung vollziehe, nicht, da es sich hier bereits um den Übergang zur folgenden Periode, um die beginnende Hinwendung zu den übrigen

Lebensgebieten handelt. Zweitens richten sich die Kämpfe nach außen. Es sind Verteidigungs­ kämpfe. Ihr Ziel ist die Erkämpfung, bezw. Behauptung der inneren Freiheit und Individualität. Nicht immer haben sie bewußt die Richtung gegen einen Menschen, der das Individuum vergewaltigen will, häufig haben sie nur das Ziel, die von anderen hervorgerufenen Gleichgewichts­ störungen zu beseitigen oder sonstige durch andere bewirkte krankhafte Erscheinungen zu überwinden (vergl. S. 73—79). Immer aber ist das Interesse ganz auf das Wachsen und Werden der religiösen Anlage gerichtet, die über fremde Hemmungen hinweg fördern, oder vor fremdem Einfluß zu schützen ist. Es spielen auch bei diesen Kämpfen während der ersten Periode Fragen der Struktur keine Rolle, so daß im Hinblick auf sie die Bezeichnung der Zeit als die der funkttonellen Klärung ebenfalls berechtigt ist. Drittens aber bedeuten die Kämpfe dieser Periode ein Ringen mit Gott, bezw. ein Ringen um das Gotteserlebnis. Schwere und frohe Lebensführungen sucht man religiös zu verstehen, sich widersprechende Erlebnisse in Einklang zu bringen. Allen Geschehnissen tritt man mit der Frage entgegen: „Ist Gott in Dir?" Fehlen die Erlebnisse, so fühlt man sich leer, „verdammt auf ewig", oder man sucht irgend einen Ersatz in Metaphysik und dergl. Immer aber sind die Kämpfe innere Angelegenheiten der religiösen Anlage. An keiner Stelle findet etwa ein Kampf darum, ob man ein Erlebnis religiös oder künstlerisch (ästhetisch) auffassen solle, worin sich strukturelle Klärung andeutete. Nur Verstand und Gefühl streiten sich, häufig, welches von beiden be­ rechtigt ist, das Erlebnis für sich fruchtbar zu machen. So handelt es sich also auch hierbei um funktionelle Schwierigkeiten. Dieser erste Höhepunkt des religiösen Lebens darf also mit Recht eine Periode der funktionellen Klärung heißen.

88 IV. Kapitel.

Die Periode der Entfremdung und der Berührung mit den anderen Wertgebieten. Bei allen vorliegenden Entwicklungsschilderungen, die psychologisch tief genug sind, ist nach der Hochflut des religiösen Lebens eine Ebbe

erkennbar, die mehrere Jahre anhält. Die einzige Ausnahme bildet die als krankhaft zu bezeichnende Entwicklung E. v. Millichs. Das Material ist allerdings für diese Zeit wieder verhältnismäßig gering. Deshalb müssen sich die folgenden Ausführungen zum Teil auf dem Boden der Hypothese bewegen. Immerhin steht zunächst die Tatsache dieser Entfremdungsperiode fest. Nicht nur kommt Starbuck zu dem gleichen Ergebnis, sondern es zeigen auch die Berichte, die über die spätere Entwicklungszeit wenig sagen, doch wenigstens das eine, daß das reli­ giöse Leben, nachdem es im Anfang der Pubertätszeit einen Höhepunkt erlebte, sich nicht die ganze Jugendzeit auf gleicher Höhe gehalten hat.

Im letzten Teil des vorigen Kapitels war gesagt worden, daß in dieser Zeit das religiöse Lebensgebiet in sich geschlossen den übrigen Lebensgebieten, die unter dem Begriff der „Welt" zusammengefaßt

werden, gegenübersteht. Und zwar steht bei den Menschen, die wir im Auge hatten, das Religiöse im Vordergrund des Interesses, ohne daß damit schon ein eigentliches Werturteil verbunden ist (vergl. S. 84). Es macht sich aber doch bereits während dieser religiösen Höhenperiode bemerkbar, daß eine Abkehr des jungen Menschen von der Religion in Aussicht steht. Manche empfinden nämlich den Gegensatz zwischen Gott und Welt und fühlen die Notwendigkeit, zwischen beiden zu entscheiden. Schon die Tatsache, daß hier ein Problem empfunden wird, zeigt, daß die „Welt", d. h. die Gesamtheit der übrigen Lebensgebiete ihr Recht geltend macht. Und das geschieht zum Teil mit großer Energie. M. v. Meysenbug sagt von der Zeit kurz vor ihrer Konfirmation: „Ich fühlte mich stark, um den Kampf zu beginnen mit der,WelV, die dem Geiste entgegengesetzt ist. Ich nahm es ernst mit dem Heil meiner Seele. Ich wollte nicht bei den Worten stehen bleiben, sondern die christliche Askese in Wirklichkeit üben und den Sieg des Geistes über das Fleisch erringen, welchen mir das Dogma als das Ziel der Voll­ kommenheit zeigte. Aber gerade als wollte mich der Versucher auf die Probe stellen, so fühlte ich zu gleicher Zeit die Liebe zum Leben und

zu allem, was es Schönes gibt, in voller Stärke in mir erwachen. Der Dämon führte mich immer von neuem auf die Höhen, zeigte mir

89 die Schätze des Daseins und sagte: Alles das wolltest Du verlassen?" Diese Empfindungen werden, trotzdem sie sie zurückdrängt, stärker, und während des ersten Abendmahls sagt sie sich unter großem Schrecken: „Nein, ich bin unwürdig, ich liebe die Welt, die Sonne, die Blumen, die Jugend, die Schönheit". Es ist nicht so, daß sich in diesen Ge­ danken der Weltfreude die eigentliche, lebenbejahende Wesensanlage gegenüber dem aufgezwungenen und falsch asketisch verstandenen Christen­ tum durchsetzte, sondern es deutet sich nur der Beginn der neuen Ent­

wicklungsperiode an. In diesem Zwiespalt fällt die Entscheidung bei dem religiös ver­ anlagten jungen Menschen durchweg zunächst zugunsten der Religion, des Göttlichen, häufig sogar mit begeisterter, freudiger Hingabe: Chr.Holstein sagt: „In der letzten Schulwoche drängte sich alles zusammen, was meine Kindheit an Jugendlust und Übermut, Ernst und Nach­

denklichkeit in sich schloß. Ich war von dem festen Entschluß beseelt, mit dem Tage der Konfirmation einen Strich unter mein bisheriges Leben zu machen. Die Worte unseres so oft mit Andacht und Inbrunst hergesagten Bekenntnisliedes: ,Jch gebe Dir mein Gott aufs Neue — Leib, Seel und Herz zum Opfer hin' — waren mir tiefer leiden­ schaftlicher Ernst. Gott forderte mein ganzes Sein. Ich war bereit es ihm hinzugeben. Wie ein altes bestaubtes Kleid wollte ich mein Kindsdasein abstreifen und von jenem heiligen Palmsonntag an ein neues Leben in fleckenloser Reinheit beginnen. Trotzdem aber — oder vielleicht gerade deshalb — genoß ich die letzten Tage meiner Kinder­ freiheit noch in vollen Zügen. Jeden Nachmittag trieb ich mich mit meinen Schulgefährtinnen im Dorfe herum". Neben der Unbedingtheit der Hingabe zeigt der Bericht von Christine Holstein auch gerade die Schwäche dieser Entscheidung. Ohne jedes Wertbewußtsein hat sie sich auf Grund autoritativen Einflusses, fortgerissen von einer allgemeinen Stimmung, für das Göttliche entschieden. Ja ihr Herz ist eigentlich ganz auf der anderen Seite, der Seite der „Welt", trotz aller Ehrlichkeit der Gotteshingabe. So trägt die Entscheidung schon den Keim der Vorläufigkeit in sich. Ebenso ist es bei M. v. Meysenbug. Sie gibt sich an ein falsch, nämlich asketisch verstandenes Christentum hin und zwar auch nur auf Grund autoritativen Einflusses, wie die Ausdrücke „an das man mich glauben lehrte" u. a. beweisen. Zwei Ursachen, ihre Stellungnahme bald wieder zu erschüttern. Bei Fromme! ist es sogar notwendig, daß ihn seine Eltern ganz aus dem gewohnten Lebens­ zusammenhang herausnehmen, damit die Entscheidung für Gott fallen kann.

90 Und wo religiöses Leben vorhanden ist, ohne daß die Frage: Gott oder Welt den jungen Menschen berührte, da liegt die Gefahr und Unsicherheit des religiösen Lebens eben darin, daß das Problem noch nicht entschieden ist. Damit wäre aber noch nicht die Notwendigkeit einer förmlichen Periode der religiösen Entfremdung erwiesen. Sie hat vielmehr noch einige bestimmte Gründe. In der Jugendzeit liegt die Neigung zur Absolutheit, zum Extrem. Der junge Mensch fühlt deshalb trotz seiner Unkenntnis des Lebens und seines Mangels an Wertbewußtsein sehr wohl die Unbedingtheit der religiösen Forderung, des schroffen Entweder—oder. Sich Gott hingeben, heißt der Welt entsagen. Eine Durchdringung der Lebensgebiete durch die Religion wird niemals erwogen. Das wäre ja Halbheit! Mit glühender Inbrunst gibt man seine Persönlichkeit hin, um das religiöse Ziel, die Einheit mit Gott zu

erlangen. Dafür erwartet man aber auch von Gott, daß er mit gleicher Hingabe antwortet und sich ganz dem Menschen gibt. Man erwartet, all seine Sehnsucht befriedigt zu sehen, glaubt an offenbare Wunder Gottes (etwa im Abendmahl), an immer sich wiederholende Gottes­ erlebnisse, dauerndes Gefühl der Seligkeit, völlige sittliche Reinheit usw. M. v. Meysenbug sagt: „Das Unendliche zu erfassen, die Offenbarung der ewigen Wahrheit zu empfangen, durch die göttliche Gnade in ein neues ideales Wesen verwandelt zu werden, das war es, was meine Seele wünschte, was ich in der letzten, feierlichen Woche, die meiner Konfirmation vorausging, zu erlangen hoffte". Aber die überspannten Ideale stoßen sich an der harten Wirklichkeit. Die Wunder treten nicht ein. Das Gefühl der Andacht und Seligkeit will nicht kommen, oder nicht bleiben. Eine Zeitlang kämpft man trotz allem verzweifelt um sein Ziel. M.v. Meysenbug sagt als ihr immer wieder Zweifel kommen: „Aber ich hoffte, daß Gott sich mir in der entscheidenden Stunde offen­ baren, daß er mir noch den siegenden Glauben geben werde. Ich fühlte, daß ich nicht fragen dürfe, daß das Wunder nur so lange existiere, als man nicht fragt, sondern glaubt". — Und dann als sie beim ersten Abendmahl an den Altar tritt: „Ich erwartete das Mysterium des Kreuzes, des Lebens im Tode im Glanze himmlischer Glorie vor mir zu sehen". Chr. Holstein: „In glühenden Gebeten erzwang ich wieder und wieder das überirdische Gefühl der Gottesnähe und meine Seele klammerte sich an die erhabene Gestalt eines sündlosen Gottessohnes". „Ich las nur noch im Neuen Testament." Und kurz vor der Krisis des Kampfes: „Ich versagte mir jede, auch die kleinste Freude, ich ging völlig auf und unter in einem einzigen Gedanken (dem an Gott)".

91 Lilly Braun sagt, nachdem bereits der Pfarrer ihr Vertrauen enttäuscht

hat: „Ich hoffte trotzdem, daß das, was er lehrte, mir Befreiung bringen würde. Und ich klammerte mich an diese Hoffnung. Ich las in den Büchern, die er mir gab und in der Bibel, ich klagte mich vor mir selber an, wenn ich eine rechte Andachtsstimmung nicht festhalten konnte und immer wieder an den Widersprüchen, die mir ausstießen, Anstoß nahm". — Aber das Ziel ist unerreichbar. Ideal und Wirklichkeit stoßen zu hart aufeinander. Das Innere liegt nicht nur voll un­ gelöster Fragen, sondem auch voll sachlicher Widersprüche. Davon sagt M. v. Meysenbug: „Meine Zweifel, meine Bedenken waren eine Sache für sich. Was die Dogmen betraf, so wußte ich alles vollkommen. Es war mir am Examenstag heilige Pflicht, vor der Gemeinde Rechen­ schaft abzulegen, daß ich den Inhalt der christlichen Lehre kenne und verdiene, ausgenommen zu werden". — Gott offenbart sich nicht, das innere Leben wird nicht ausgefüllt. So wird man irre an der Religion und an der Hoffnung, daß man durch sie die Einheit der Persönlichkeit erlangen könne. Man zweifelt an ihrem Wert und wendet sich ent­ täuscht von ihr ab. Es sind also meist nicht intellektuelle Zweifel, die diese Abwendung von der Religion bedingen, sondern eben Zweifel an ihrem Wert. Man glaubt nicht mehr, daß sie die Befriedigung des Lebens geben kann. Diese bittere Enttäuschung führt zum Zusammen­ bruch des religiösen Lebens (vergl. Funke, S. 93). Bei dem einen erschlaffen die Kräfte plötzlich, wenn er die Erfolglosigkeit seiner Be­ mühungen einsieht, und es kommt eine Zeit der Apathie, der Gleich­ gültigkeit über ihn, bis sich seine Kräfte erholt haben und er sich nun langsam mit wachsender Lebensfreude der „Welt" hingibt. So M. v. Meysenbug. Der andre wirft sich mit raschem Entschluß und gleicher Absolutheit der „Welt" in die Arme. So sagt Lilly Braun von Shelley: „Wie eine Offenbarung wirkte auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher Idealismus, sein Vertrauen in des Menschen eigne Kraft, sein feuriger Appell an die Macht des Willens". Ihm gibt sie sich in begeistertem Entschlüsse hin. Je weniger entschieden die Hingabe an Gott ist, um so geringer ist im allgemeinen der Konflikt zwischen Gott und Welt, um so allmählicher und reibungsloser ist der Übergang.

Funke wird durch die bei aller Innigkeit weltaufgeschlossene Art seiner Mutter vor dem Konflikt bewahrt. Bei Chr. Holstein geschieht trotz vorhergegangener schwerer Kämpfe der Übergang sogar in einem kampf­ losen erlösenden Erlebnis, in dem plötzlich alle Schwierigkeiten sich lösen und die neue Lebensrichtung eingeschlagen wird (S. 64).

92 In welchen Formen sich diese Entscheidung aber auch vollzieht, sie erfolgt doch mit einer gewissen Notwendigkeit, denn die ganze Ent­ wicklung drängt auf sie hin. Die zu gleicher Zeit mit der religiösen Anlage erwachte Erotik, die zunächst vielleicht durch das Übermaß des religiösen Lebens in den Hintergrund gedrängt ist, macht sich immer stärker geltend und nimmt für eine gewisse Zeit sogar eine beherrschende Stellung ein. Die meisten Autobiographen berichten in dieser Zeit vom Erwachen der Liebe zum andern Geschlecht. Beispiele dafür anzuführen ist wohl nicht nötig. Die Liebe ist im Anfang meist sehr ideal, trägt manchmal fast

einen religiösen Zug. Die Berichte von Chr. Holstein und M. v. Meysenbug S. 40 lassen erkennen, wie eng die Verbindung zwischen Erotik und Religion oft ist. Auch die Liebe von Jungen zu Mädchen ist oft ganz begierdelos anbetend. Man liebt in dem Mädchen mehr eine Idee.

Und doch liegt in der Liebe zum andern Geschlecht die Bindung an die sinnliche Welt. Und endlich scheint der ganze Entwicklungsrhythmus eine Be­ schäftigung mit der umgebenden Welt zu veranlassen. Der Mensch hat eben für alle Lebensgebiete eine Anlage. Die verschiedenen Anlagen zeigen das Bestreben, dem Menschen alle Geistesgebiete zugänglich zu machen, und die menschliche Gesamtanlage fügt sich nicht ohne Widerstand, wenn wertvolle Teile ihres Selbst vernachlässigt werden. Bestände aber das religiöse Leben in dem werdenden Menschen in gleichem Maße fort, so könnte er nur unter schwersten inneren Konflikten die anderen Lebens­ gebiete kennen lernen, da jede Hingabe an ein anderes Wertgebiet an­ scheinend der unbedingten religiösen Forderung widerspräche. An eine religiöse Durchdringung denkt man ja noch nicht. Deshalb wendet sich das Entwicklungsinteresse jetzt ganz den anderen Lebensgebieten, der

„Welt" zu. Es schien schon einmal so, als konzentriere sich die treibende Kraft der Entwicklung wie körperlich so auch seelisch abwechselnd nach der einen und anderen Seite. Diese Wegwendung von der Religion wird durch das psychologische Gesetz begünstigt, daß nach der Hochflut inneren Lebens immer eine Ebbe folgt. Die religiösen Kräfte haben sich in der ersten Periode der Entwicklung erschöpft, sie erschlaffen jetzt und machen den anderen Raum. So ist es besonders bei Funke, wenn er sagt, daß „der Wunsch, die faßbaren und übersichtlichen Erdenfreuden zu genießen, entschieden vorherrschend" war, und daß es ihm langweilig er­ schienen sei, im Himmel nichts zu tun, als „Gott zu schauen und ihm dreimal heilige Loblieder zu singen". „Ich war bereits in der Periode, wo das Schaffen und Wirken, das Werden und Wachsen mir als das

93 Höchste erschien. Mein fortwährender Kummer war, daß ich wegen meiner Krankheit garnicht vorwärts kam und gar keine Aussicht hatte, jemals

die Triebe, die ich in mir fühlte, zur Ausgestaltung zu bringen." Hier erlahmt — nach sehr lebhafter Tätigkeit — einfach das religiöse Interesse und das andere tritt an seine Stelle. Daß dabei der Zweifel am Wert der Religion entscheidend ist, sagt er an anderer Stelle: „Das Christen­ tum erschien mir als ein strenges Gesetz, worunter Jugendlust und Werde­ lust, Begeisterung und Idealität nicht aufkommen könnten, als eine Zwangs­ jacke, die man sich etwa gefallen lassen mußte, wenn es den Abschied von der Welt zu machen galt. Ich dachte damals, das Christentum sei

gut, eine zukünftige Seligkeit zu gewinnen". So wendet er sich den anderen Lebensgebieten zu, bis er das Ziel, Durchdringung des Lebens mit Religion, findet. ' Über den Verlauf dieser Periode berichten nur wenig Autobiographen

in befriedigender Weise.

Immerhin ist es möglich, einen gewissen Über­

blick zu gewinnen. Dabei interessieren uns natürlich vor allem die religiösen Erlebnisse dieser Zeit. Zunächst machen sich vielfach noch Nachwehen der vorhergehenden Periode bemerkbar. Man kann die vielen ungelösten Fragen nicht einfach beiseite schieben. Sie ruhen oft noch im Innern wie unverdaute Speisen im Magen. So erzählt Chr. Holstein: „Die Welt wurde mir immer schöner ... So glücklich ich aber auch in jenen Jugendtagen war, int Grunde meiner Seele lagen ungelöste Fragen. Wieder überkamen mich die alten Vorstellungen, aber sie hatten nicht mehr die Kraft, mit der sie einst meine Seele ängsteten". Es fiackern, gleich den letzten Windstößen nach einem Sturm, noch einmal innere Kämpfe auf, aber der Sieg der lichten, weltfreudigen, lebenbejahenden Mächte ist von Anfang an entschieden. An Gott wird Liebe und Licht bejaht, alles Unver­ ständliche, Gericht, Verdammnis usw. abgelehnt. Es spricht darin nicht der entscheidende Verstand, sondern die fühlende Lebensbejahung. Damit hängt es auch zusammen, daß der Gedanke der Schuld, der in der Zeit

des ersten religiösen Höhepunktes eine ziemliche Rolle gespielt hat, jetzt zurücktritt. Die Schuld, das Schwerste, Dunkelste im Leben, will der junge Mensch nicht sehen. Er kehrt sich entschlossen den Lichtseiten zu. Die Schatten werden einfach verneint. Schuld wird Mangelhaftigkeit und diese glaubt man bei der Fülle der zur Verfügung stehenden Lebens­ kraft leicht überwinden zu können. James hat versucht, den Schuld­ gedanken aus einer dualistischen Wesensanlage zu erklären, die überall nur die Gegensätze sieht. Dann würde die Ablehnung des Schuld-

94 gedankens einfach von monistischer Anlage zeugen. Das Urteil darüber ist noch nicht abgeschlossen, doch scheint es sehr zweifelhaft, ob man das an­ nehmen kann. Wäre dem so, dann dürfte in der Schätzung der Schuld kein Wandel eintreten, sie müßte, dem Wesen des Menschen entsprechend, sich gleich bleiben. Nun zeigen aber verschiedene Beispiele (vergl. dazu S. 43 ff.), am klarsten vielleicht das der Chr. Holstein, daß in der einen Entwicklungsperiode der Schuldgedanke geradezu im Vordergrund steht und zu den furchtbarsten Kämpfen führt, während genau mit dem

Beginn der Entfremdungsperiode ein Wandel eintritt. Chr. Holstein sagt anschließend an den eben zitierten Bericht: „Ich konnte schlechter­ dings nicht mehr an eine Hölle glauben. Es war unmöglich, daß der Gott der Liebe seine verirrten Menschenkinder für unermeßliche Zeiten an einen Ort der Qual verstieß". Hier ist die Schuld zur Irrung ge­ worden. Ebenso leidet M. v. Meysenbug bis zur Konfirmation schwer unter dem Gedanken der Schuld und fühlt sich „verdammt auf ewig", während der Gedanke dann sofort zurücktritt. So scheint also die Schätzung der schlechten Tat als Schuld oder als Irrung und Mangelhaftigkeit eine Entwicklungserscheinung zu sein. Das würde auch die bei aller religiösen Inbrunst doch schuldvereinende Grundeinstellung der heutigen Jugendbewegung verständlich machen. Gewiß ist die Betonung der Schuld während der ersten Höhenperiode des religiösen Lebens zum Teil auf autoritativen Einfluß zurückzuführen. Aber damit erklärt sich nicht alles. Denn dieser autoritative Einfluß fällt ganz offenbar auf frucht­ baren Boden. — Das Schuldgefühl hat eine doppelte Wurzel. Es ist einmal zurückzuführen auf das Gewissen und ist insofern ein unmittel­ barer Eindruck, über dessen Berechtigung man nicht reflektiert. Denn so wie die Imperative sind auch die Anklagen des Gewissens kategorisch. Jede Übertretung des inneren Gesetzes ist Schuld. Für den religiös reifen Menschen ist dagegen das Schulderlebnis ein kosmisches Erlebnis. Die Schuld ist ihm nicht Übertretung eines Gesetzes, sondern eine

kosmisch ewige Tatsache, die er auf Grund eines Durchblickes durch seine Gesamtpersönlichkeit und das göttlich durchwaltete All erschaut. Es ist ihm die Erkenntnis, daß er als Jchwesen sich seinen Lebensweg und sein Seinsideal selbst bestimmt oder bestimmt hat im Gegensatz gegen den kosmisch göttlichen Willen. Dabei kann er sich sittlich vollkommen rein gehalten haben. Zu diesem Durchblick ist der fünfzehn- bis sechzehn­ jährige Mensch durchschnittlich nicht fähig. Er kennt nur die erste Form der Schuld, die der Gewissensanklage entspringt. Da aber Gewissen und religiöse Anlage in engstem Zusammenhang stehen, sind bei Lebendig-

95 teil der religiösen Anlage auch die Gewissenseindrücke und damit die Schuldgefühle sehr stark. Sie sind aber eben nur unmittelbare Eindrücke, und sobald die religiöse Anlage erschlafft, lassen die Gewissenseindrücke und Schuldgefühle nach. Das gilt für die Zeit der Entfremdung. Später wird das Schulderlebnis in anderer Form von neuem gemacht. Natürlich laufen für viele Menschen zeitlebens beide Formen neben­ einander her. — Endlich ist es hie und da ein Zeichen der abklingenden Zeit, daß die Lebensbejahung noch in eine religiöse Form gekleidet wird, wenn z. B.

auf Chr. Holstein besonders das Wort Eindruck macht: „Gott ist die Welt — die Welt ist Gott, ein ewig werdender sich entwickelnder Gott". Nun gehört also der junge Mensch der „Welt" und durchwandert in bunter Folge die einzelnen Lebens- und Geistesgebiete. In welcher Reihenfolge sie in seinen Gesichtskreis treten oder ob er mit allen in Berührung kommt, richtet sich natürlich ganz nach Anlage und äußeren Umständen. Der werdende Künstler und Wissenschaftler lebt vielleicht nur in dem einen Gebiet und läßt die andern größtenteils abseits liegen. Aber das interessiert uns hier auch nicht. Wir wollen die religiöse Entwicklung dieser Zeit verfolgen. Denn tritt das religiöse Leben auch zurück, so hört die Entwicklung doch nicht auf, wenn sie auch manchmal nur in den Tiefen des Unterbewußtseins sich vollzieht. Bei aller Unvollkommenheit der Berichte lassen sich doch zwei Gruppen scheiden. Die einen gehen von Geistesgebiet zu Geistesgebiet, erleben dessen inneren Wert und setzen sich, wenn das geschehen ist, religiös mit ihm auseinander. Dabei beeinflussen sich die Geistesgebiete wechselseitig, so daß am Ende der Entwicklungsperiode das Verhältnis der Religion zu den einzelnen Geistesgebieten bereits geklärt ist und in der letzten Periode nur noch die Ordnung und religiöse Durchdringung der seelischen Gesamtstruktur erfolgt. Die anderen durchlaufen die Geistesgebiete, ohne sie zur Religion in Beziehung zu setzen. Von Zeit zu Zeit aber tauchen wie Inseln im Meer religiöse Erlebnisse auf. Sie sind zwar über kurz oder lang wieder vergessen, aber im Unterbewußtsein reifen sie und wirken sich aus, bis sie plötzlich wieder auftauchen und ihre Wirkung zeigen. Zur ersten Gruppe gehört M. v. Meysenbug. Sie ist zugleich ein gutes Beispiel für die Berührung 'mit allen Lebensgebieten. In und nach der Konfirmation hat bei ihr die Weltbejahung über die „christliche Askese" gesiegt. Sie beschließt, sich von unfruchtbaren Spekulationen frei zu machen und nützlicher Tätigkeit zuzuwenden, liebt auch gesellige Freuden. Sie fühlt dabei großen inneren Frieden. Als sie sich bei

96 schwerer Krankheit ihrer Schwester einmal wieder bittend an Gott wendet, fühlt sie ihn sich unendlich fern. „Anstatt des liebenden Vaters fand ich die eherne Notwendigkeit." Sie beschäftigt sich jetzt mit Ge­ schichte, Literatur und Malerei. Damit tritt das Gebiet der Kunst in ihren Gesichtskreis. Goethes Worte: „Jedes tüchtige Streben wendet sich von innen nach außen" veranlaßt sie, mehr über ihr Wesen nach­ zudenken und dasselbe zum Ausdruck zu bringen. Sie beginnt, sich mit Bewußtsein nach ästhetischen Prinzipien zu entwickeln. Sie malt und ist befriedigt und glücklich dabei. Eine Reise nach Italien bringt ihr eine weitere Förderung durch das Erlebnis der südlichen Schönheit. Sie kann sagen: „Ich nahm völlig die Idee der reinen Schönheit an, die für sich selbst da ist und sich durch die vollendete Form ausdrückt, so wie der griechische Genius sie begriff, im Gegensatz zu der transzendentalen Idee des Mittelalters, die ich früher allein verehrt hatte". Sobald sie aber den inneren Wert dieses Lebensgebietes für ihre Persönlichkeit erfaßt hat, setzt sie es zur Religion in Beziehung. „Die alten religiösen Fragen erwachten in mir in neuer Weise. Ich fürchtete die Kritik nicht mehr. Ich ging nur äußerst selten in die Kirche, weil ich dort keine wirkliche Anregung mehr fand.... Während ich malte, begriff ich immer mehr, daß die christliche Asketik unrecht hat, daß die Sinne nicht Feinde des Geistes, sondern seine Instrumente sind." Damit scheidet sie aus der bisherigen Religiosität alles aus, was nicht ihrem seelischen Aufbau dient. Aber sie bleibt nicht bei der negativen Kritik. Die Religion durchdringt ihrerseits das Kunst- und Naturerleben. „Man genügte sich selbst in solchen Augenblicken (des Naturgenusses) in dem bloßen Gefühl des Daseins, und oft hatte ich nur den einen Wunsch, mich selig aufzulösen in die Harmonie und Unschuld des allgemeinen Lebens." Auch das S. 38 erwähnte Erlebnis im Alpenkloster macht sie in dieser Zeit. Damit hat ihr Gotterleben und ihre Religion eine neue Form bekommen. Früher war sie asketisch, jetzt weltbejahend, früher erlebte sie Gott als transzendental-außerweltlich, jetzt geht sie in dem der Natur immanenten Gott auf. — Zu gleicher Zeit hat sie ihr erstes Liebeserlebnis. Dann beschäftigt sie sich mit der Wissenschaft und sucht sich ein eigenes philosophisches System zusammenzustellen. Auch hier setzt sie sich sofort dann wieder mit der Religion auseinander. Sie arbeitet sich ihre Gedanken über die Bibel und das Abendmahl schriftlich aus, schickt sie ihrem früheren Religionslehrer und diskutiert viel über wissenschaftlich religiöse Fragen mit einem jungen Geistlichen. Dabei gibt sie, durch dessen wissenschaftliche Gründe überwunden, den

— . 97 Unsterblichkeitsglauben auf und versucht, ihre religiöse Anschauung systematisch-wissenschaftlich festzulegen. Allmählich tritt das soziale Gebiet in den Vordergrund. Sie erkennt, daß der Sinn des Lebens nicht nur ist, sich zu entwickeln und zu genießen, sondern zu schaffen. „In der Welt, wie sie nun einmal ist, ist es nicht genug zu fühlen und zu lieben, man muß vor allem denken und handeln und jede Kraft, die für die große Arbeit des Lebens verloren ist, wird eine Sünde ... Die geselligen Freuden, die mich bis dahin angezogen und gereizt

hatten, hatten gar keine Bedeutung mehr in meinem Leben. Ihr Zauber war gefallen, wie eine überreife Frucht vom Baum fällt." Die Kunst wird ihr gewaltsam genommen. Sie muß wegen eines schweren Augenleidens die Malerei aufgeben. Das kostet ihr schwere Kämpfe. Dann aber sagt sie: „Nach und nach brach sich eine Ansicht Bahn, die mich über den Schmerz erheben sollte. Ich sah ein ge­

waltigeres Mittel vor mir, dem Ziele meines Lebens zuzueilen, als Religion und Kunst es gewesen waren — nämlich die Teilnahme durch den Gedanken und die Tat am Fortschritt der Menschheit. Sobald dieser Gedanke sich in mir zu festigen begann, milderte sich mein Leiden, die Malerei aufgeben zu müssen. Ich verließ die Spezialität, um in den Bereich der Fragen auf der ganzen Leiter des menschlichen Daseins einzutreten. Wie immer, so verlangte ich auch hier, sogleich von der Theorie zu den Konsequenzen derselben überzugehen. Die Religion, aus ihrer metaphysischen Region herniedergestiegen, mußte sich in die Ausübung des Mitleids verwandeln und die Gleichheit, die Brüderlichkeit unter den Menschen einführen". Nun wird ihr helfen und trösten zu können zum Bedürfnis. Das bleibt Zeit ihres Lebens im Vordergrund stehen. — Die Auseinandersetzung mit der Religion ist hier besonders klar. Sie hat das Gebiet in der bewußten Absicht erfaßt, in ihm volle Lebensbefriedigung und Zentrum und Einheit ihrer Persönlichkeit zu finden. Sie stellt sich aber auch, indem sie sozial tätig ist, bewußt in den höheren Zusammenhang hinein, in dem ihr Wesen eine ewige Be­ stimmung erfüllt. Das soziale Schaffen ist ihr in Tat umgesetzte Religion. So hat sich hier das soziale, wie früher das ästhetische und wissenschaftliche Gebiet mit der Religion wechselseitig durchdrungen. Wenn man in der Freude am Sinnlich-Materiellen das Gebiet der Wirtschaft und in der Art, wie sie alles dem religiös-sozialen Lebensziel unterordnet und ihm zuliebe sogar ihr Vaterland verläßt, den Macht­ gedanken finden will, so hat sie mit allen Lebens- und Geistesgebieten Berührung gewonnen. Darin, daß sie alle Geistesgebiete mit der Bohne: Religiöse Entwicklung.

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98 Religion auseinandersetzt, äußert sich, daß auch jetzt noch das Zentrum ihres Wesens im Religiösen liegt. Religiös faßt sie das ganze Leben

auf. Mit Religion durchdringt sie alle übrigen Geistesgebiete, unter denen das soziale im Vordergrund steht. So ist am Abschluß dieser Periode ihre seelische Struktur klar. Ähnlich, wenn auch bei weitem nicht so vielseitig verläuft diese

Zeit bei Gottfried Keller. Bei ihm setzt die Entwicklung sehr früh ein, da er viel Freiheit genießt. Schon während des Konfirmandenunter­ richts, der — in der Schweiz — offenbar später als gewöhnlich bei ihm erfolgt, lehnt er z. B. den Schuldgedanken ab. „Das erste, was uns der Lehrer als christliches Erfordernis bezeichnete, war das Er­ kennen der Sündhaftigkeit. Nun war die Aufrichtigkeit gegen sich selbst mir keineswegs fremd, das Andenken an kindliche Übeltaten noch sehr

frisch. Dennoch wollte mir das Wort nicht gefallen. So ließ ich die Sache ohne Hochmut und in dem Gefühle auf sich beruhen, daß es sich jedenfalls um einen schwierigen Punkt handele. — Das Heiterste und Schönste war mir die Lehre vom Geist, welcher ewig ist und alles durchdringt. Freilich fürchte ich, daß ich diese Lehre ein wenig miß­ verstand. Denn Gott schien mir nicht geistlich, sondern ein weltlicher Geist, weil er die Welt ist und die Welt in ihm. Gott strahlt von Weltlichkeit." Von der Konfirmation sagt er: „Die Ansprache des Geistlichen gefiel mir sehr wohl. Ihr Hauptinhalt war, daß von nun an ein neues Leben für uns beginne. Ich fühlte wohl, daß ein solcher Übergang notwendig und die Zeit dazu gekommen sei. Darum schloß ich mich mit ernsten Vorsätzen an, und war auch dem Manne gut, als

er angelegentlich uns ermahnte, nie das Vertrauen zum Besseren in uns zu verlieren." Er lebt als Kunstschüler in der folgenden Zeit — neben Liebeserlebniffen u. a. — fast nur der Kunst, die er jedoch religiös durch­ dringt. Das Christentum lehnt er zwar ab: „Als ich aber den lieben Gott und die Unsterblichkeit aufgeben sollte, kam es mir nicht einmal

in den Sinn, die Sache ernstlich zu untersuchen. Außerdem, daß ich nicht wußte, was ich anfangen sollte ohne Gott, band mich eine Art künstlerischen Fühlens an diese Überzeugung. Ich glaubte, daß alles, was Menschen zuwege bringen, seine Bedeutung nur dadurch habe, daß es ein Werk der Vernunft und des freien Willens sei. Deshalb konnte mir die Natur auch nur einen Wert haben, wenn ich sie als Werk eines mir gleichfühlenden und voraussehenden Geistes betrachten durfte. Ein sonnendurchschossener Buchengrund konnte nur dann ein Gegenstand der Bewunderung sein, wenn ich ihn mir durch ein ähnliches Gefühl der

99 Freude und Schönheit geschaffen dachte". So setzt also auch er das Gebiet der Kunst sofort mit der Religion auseinander. Im weiteren Verlauf ist seine Entwicklung religiös nicht mehr bedeutsam. Anders entwickeln sich Richter und Funke. Während im Kunst­ erlebnis Kellers und bei M. v. Meysenbug eigentlich in allem Handeln und Erleben ein — wenn auch oft nur leiser — religiöser Unterton mitschwingt, ist das bei diesen beiden anscheinend nicht der Fall. Die Religion tritt eine Zeitlang ganz zurück. Besonders charakteristisch ist die Erzählung Richters. Er hat sich eine Zeitlang völlig von der Religion abgewandt, was wohl großenteils auf äußere Verhältnisse zurückzuführen ist. Auf einer großen, fast zweijährigen Reise nach Frankreich als Zeichner eines russischen Fürsten überwältigen ihn die vielen neuen Eindrücke zu sehr. Zugleich mag die Kunst sein Inneres in besonderer Weise beherrscht haben. Bei Künstlern tritt ja in diesen Jahren auch ihr Formprinzip hervor. Und je größerer Nachdruck dabei auf ein Gebiet fällt, um so mehr treten die anderen zurück. In dieser Zeit der Entfremdung tauchen nun wie Inseln einige religiöse Erlebnisse auf. Sie scheinen ganz zufälliger Art, sind es aber in Wirklichkeit nicht. Das geht hervor aus dem tiefen Eindruck, den die beiden kleinen, S. 58 mitgeteilten Erlebnisse auf seiner Romfahrt machen. Es ist undenkbar, daß die Worte eines alten verstaubten Gebetbuches so tiefen Eindruck hinterlassen, wenn sie nicht von einem lebhaften religiösen Verlangen ausgenommen werden, mag es auch im Unterbewußtsein geruht haben. Die Erlebnisse haben anscheinend zunächst keine nachhaltige Wirkung, reifen sich aber im Unterbewußtsein aus und tragen zur Klärung seines Verhältnisses zur Religion bei. Richter sagt von ihnen: „Es gibt Lebenseindrücke oft unscheinbarer Art, die im Gemüt einen geeigneten Boden finden, weil sie einem inneren Bedürfnis entgegen kommen, welche dann lange Zeit unbeachtet zu ruhen scheinen, aber dennoch unbewußt im Innern fortarbeiten, um gleichsam ihren Nahrungsstoff in Fleisch und Blut abzusetzen und einem künftigen Eindruck nach dieser Seite mehr und mehr den Boden zu bereiten", l1/a Jahre schlummern diese Er­ lebnisse, bis er bei einem neuen Erwachen das Gebiet der Religion in seinem Innern „verödet und ungepflegt" entdeckt und nun auch diese kleinen Begegnungen ihre Wirkung zeigen. — Noch klarer fast ist die Auswirkung solcher Erlebnisse bei Funke. Obwohl er sich auf dem christlichen Gymnasium zu Gütersloh befindet, macht er doch eine sehr „weltliche" Periode durch: „die Fragen der Ewigkeit traten bald sehr zurück, oder wurden absichtlich zurückgedrängt, als ich das Gymnasium 7*

100 bezog".

Bald muß er sagen: „Ich hatte durch allerhand nichtsnutzige

Streiche meine frühere kindliche Stellung zum Christentum verloren. Das Christentum erschien mir als ein strenges Gesetz, worunter Jugend­ lust und Idealität nicht aufkommen könnten". Er beschäftigt sich mit Literatur, gibt sich im Suchen nach Lebensgenuß romantisch-poetischen Stimmungen hin, gerät in sittlich minderwertige Gesellschaft, von der er sich allerdings bald frei macht. „Ich war in jener Zeit sehr zur Opposition geneigt und wollte auf jeden Fall selbständig sein.... Ich war von sehr weltlichen Strömungen hin und her getrieben." Daß seine Lebensideale durchaus edle waren, beweist, daß er Arzt werden will, weil ihm das Helfen als das Schönste erscheint. An anderer Stelle

sagt er: „Jetzt war der Jüngling in mir erwacht. Eine unendliche Sehnsucht, alles was ideal, schön und groß war in der Welt in mich aufzusaugen, erfüllte mich". In diese Zeit der „Weltlichkeit", die bis in

sein zwanzigstes Jahr anhält, ragen wie bei Richter einzelne, allerdings ungleich stärkere, religiöse Erlebnisse. Zuerst seine Begegnung mit Wichern, der das Gymnasium besucht (S. 53)! Einige Jahre später macht der Bremer Prediger Mallet bei einem Besuch dort tiefen Eindruck auf ihn. Funke knüpft nach diesen Erlebnissen allerdings sofort die Beziehung zwischen der Religion einerseits und der Gesamtheit der übrigen Lebens­ gebiete anderseits an. Er faßt, wenn auch nur für den Augenblick, den Gedanken: In der Religion kommt auch dein Sehnen nach der Welt zur vollsten Befriedigung, sie kann dir also Einheit der Per­ sönlichkeit verschaffen, indem sie alle Lebensgebiete durchdringt. „Ich ahnte, daß das Evangelium, wie nichts anderes alle unsere Ideale erfüllen könne." „Jetzt leuchtete mir auf, daß im Christentum Glück und Licht der Gegenwart beschlossen sei." Damit ist ein wesentlicher Schritt vorwärts getan; denn sie ist jetzt aus ihrer isolierten Stellung herausgetreten und nun wirklich fähig, die Einheit der Persönlichkeit zu schaffen. Aber trotzdem ihn Mallet veranlaßt, Theologie zu studieren, ist er doch noch als Student „sehr oberflächlich, weil sehr gefallsüchtig", bis auch bei ihm neues inneres Leben erwacht. — Der Bericht von Andrae-Roman ist nicht ausführlich genug, um genügend Aufschlüsse zu geben. Doch ist neben dem Hervortreten der Lebensbejahung und des Ästhetischen eine fortschreitende religiöse Klärung zu beobachten. Er

holt noch einen Teil der funktionellen Klärung nach, da der bei ihm überwiegende Verstand durch eine Reihe von religiösen Eindrücken, die

unmittelbar-gefühlsmäßiger Art sind, in seine Grenzen zurückgewiesen wird. Es sind meist Eindrücke von religiösen Persönlichkeiten. Zugleich

101 bildet sich ein Werturteil über die Religion und damit klärt sich ihr Verhältnis zu den übrigen Wertgebieten. Er erkennt nämlich, daß seine rationalistische Anschauung ihm in mehrfacher Lebensgefahr keine sittliche Kraft gibt, während eine Reihe von Bekannten durch ihre religiöse

Stellung Persönlichkeiten voller Einheit und Kraft geworden sind. Im Gegensatz zu den eben Genannten scheint bei E. v. Willich das religiöse Leben und Erleben in gleichem Maße fortzudauern. Aber seine Entwicklung ist ausgesprochen krankhaft. Die einzelnen Lebensgebiete kommen zu kurz. Seine Religiosität verliert sich in metaphysischen Er­ lebnissen, findet aber nicht die Verbindung mit dem realen Leben. Sie kann deshalb auch die einzelnen Lebensgebiete nicht durchdringen und Millichs Persönlichkeit keine Vollendung geben. Dazu kommt die un­ würdige Abhängigkeit von jener somnambulen Frau (S. 69). So ver­ kümmern gewisse Seiten seines Wesens. Das Bedürfnis nach Welt und Leben ist da, aber es ist nicht kräftig genug, sich gegenüber dem Religiösen durchzusetzen. Er sagt: „Leben zu wollen, dahin drängte das innere Bedürfnis, aber ich konnte es nicht. Ich merkte, daß ich unfähig sei, in der Welt unter meinesgleichen zu leben. Ich paßte da nicht mehr hinein, hatte kein Organ mehr für den fröhlichen, überschäumenden Über­ mut der Jugend, oder es war doch ganz verkümmert". Das bessert sich etwas, als er während des Studiums dem Einfluß seiner Mutter und jener Frau entrückt ist. Jetzt macht er eine verspätete und auch nur schwache Periode der Weltfreudigkeit durch. „Ich stürzte mich eine Zeitlang in den Strudel der Gesellschaft. Ich hatte das Bedürfnis, mich viel unter Menschen allerlei Art zu bewegen. — Mein inneres Leben war zwar noch ein sehr kampfvolles, doch war die Disharmonie meiner Natur

etwas gemildert." Mit den wenigen Skizzen ist die Mannigfaltigkeit dieser Periode natürlich bei weitem Noch nicht erschöpft. Für viele ist sie »ach dem äußeren Lebeusverlauf eine der buntesten und bewegtesten und das be­ stimmt bis zum gewissen Grade die inneren Erlebnisse. Außerordentlich reich würde das Material sein, wenn man die Jugendbewegung mit heranziehen würde, die ja ganz in diese Zeit hinein gehört. Doch dafür ist nicht Raum. Ihre großen Hauptzüge bestätigen übrigens ganz das Bild der Zeit. Beherrschend ist die vom Wandervogel ausgehende lebens­ frohe und kraftstrotzende Weltbejahung, die mehr von Idealismus als Religion getragen ist. Wo wirkliche Religion da ist, ist sie schuldverneinend, lichtbejahend, reinheitsuchend. Man erlebt Gott in seliger Hingabe an die Natur, die Idee, den Menschen. Das Ich ist göttlich,

102 die Welt mit allem, was in ihr ist, ist göttlich. So haben sich in der Jugendbewegung, wo sie religiös ist, Religion und „Welt" zu einer wirklich schönen Harmonie durchdrungen. Freilich trägt die Bewegung religiös auch alle Spuren der Vorläufigkeit. Denn die Lebensgebiete sind einseitig idealistisch geschaut und ihr wahrer Wert noch keineswegs von innen heraus erlebt. V. Kapitel.

Der Zweite Löhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Seit der strukturellen Klärung. Nach der Zeit der Hinwendung zu den übrigen Lebensgebieten erfolgt in einer letzten Periode der Abschluß der religiösen Entwicklung. Jetzt baut sich der Mensch auf Grund eigener Kenntnis des Lebens und der verschiedenen Geistesgebiete seine Religion und überhaupt seine ganze Persönlichkeit. Vielleicht erscheint es zunächst unberechtigt, wenn man hier

eine Entwicklungsperiode abtrennt und von einem zweiten religiösen Höhe­ punkt redet. Meist verschwimmen die Grenzen. Hier aber mußten die Menschen untersucht werden, die zu einem gewissen normalen Abschluß ihrer Entwicklung kommen. Es sind nicht viele, die ihn erreichen, und die Quellen über diese Zeit sind noch spärlicher als über jede andere. Denn viele, die während des ersten Höhepunkts religiös sehr lebendig waren und vielleicht auch noch während der Periode der Entfremdung religiöse Erlebnisse hatten, sind abgeschwenkt. Jeder hat sein Form­ prinzip gefunden und nur für wenige liegt es ausgesprochen in der Religion. Damals mußten wir die anderen mit besprechen, die als unklar Suchende mit zu den Religiösen gehörten. Jetzt ist deren religiöse Entwicklung zu Ende. Ihre religiöse Anlage ist entweder durch schwere Erlebnisse zerstört, infolge ihrer Berufstätigkeit verkümmert, oder durch eine andere beherrschende Anlage in den Hintergrund gedrängt worden, so daß man bei ihnen von einer religiösen Entwicklung nicht mehr reden kann. Der zweite religiöseHöhepunkt findet sich nur bei den zentral religiösen Menschen, die in der Religion wirklich die volle Einheit ihres Wesens und das Zentrum ihrer Persönlichkeit suchen. Auf sie müssen wir uns in diesem Kapitel auch beschränken. Wir verkennen dabei nicht, daß es viele so­ genannte religiöse Menschen gibt, die niemals den Abschluß ihrer religiösen Entwicklung erlebten. Die einen leben mit einem religiösen Rest aus der Jugend, den anderen ist die Religion Ausübung einer öffentlichen Sitte, den dritten die Erfüllung ihrer sittlichen Pflichten, wieder anderen die

102 die Welt mit allem, was in ihr ist, ist göttlich. So haben sich in der Jugendbewegung, wo sie religiös ist, Religion und „Welt" zu einer wirklich schönen Harmonie durchdrungen. Freilich trägt die Bewegung religiös auch alle Spuren der Vorläufigkeit. Denn die Lebensgebiete sind einseitig idealistisch geschaut und ihr wahrer Wert noch keineswegs von innen heraus erlebt. V. Kapitel.

Der Zweite Löhepunkt der religiösen Entwicklung. Die Seit der strukturellen Klärung. Nach der Zeit der Hinwendung zu den übrigen Lebensgebieten erfolgt in einer letzten Periode der Abschluß der religiösen Entwicklung. Jetzt baut sich der Mensch auf Grund eigener Kenntnis des Lebens und der verschiedenen Geistesgebiete seine Religion und überhaupt seine ganze Persönlichkeit. Vielleicht erscheint es zunächst unberechtigt, wenn man hier

eine Entwicklungsperiode abtrennt und von einem zweiten religiösen Höhe­ punkt redet. Meist verschwimmen die Grenzen. Hier aber mußten die Menschen untersucht werden, die zu einem gewissen normalen Abschluß ihrer Entwicklung kommen. Es sind nicht viele, die ihn erreichen, und die Quellen über diese Zeit sind noch spärlicher als über jede andere. Denn viele, die während des ersten Höhepunkts religiös sehr lebendig waren und vielleicht auch noch während der Periode der Entfremdung religiöse Erlebnisse hatten, sind abgeschwenkt. Jeder hat sein Form­ prinzip gefunden und nur für wenige liegt es ausgesprochen in der Religion. Damals mußten wir die anderen mit besprechen, die als unklar Suchende mit zu den Religiösen gehörten. Jetzt ist deren religiöse Entwicklung zu Ende. Ihre religiöse Anlage ist entweder durch schwere Erlebnisse zerstört, infolge ihrer Berufstätigkeit verkümmert, oder durch eine andere beherrschende Anlage in den Hintergrund gedrängt worden, so daß man bei ihnen von einer religiösen Entwicklung nicht mehr reden kann. Der zweite religiöseHöhepunkt findet sich nur bei den zentral religiösen Menschen, die in der Religion wirklich die volle Einheit ihres Wesens und das Zentrum ihrer Persönlichkeit suchen. Auf sie müssen wir uns in diesem Kapitel auch beschränken. Wir verkennen dabei nicht, daß es viele so­ genannte religiöse Menschen gibt, die niemals den Abschluß ihrer religiösen Entwicklung erlebten. Die einen leben mit einem religiösen Rest aus der Jugend, den anderen ist die Religion Ausübung einer öffentlichen Sitte, den dritten die Erfüllung ihrer sittlichen Pflichten, wieder anderen die

103 Anerkennung der kirchlichen Dogmen. Sie alle sind, religiös genommen,

Torsen, religiös halbentwickelte Menschen. Vielleicht ist unsere Zeit besonders reich an ihnen, wo oft das freie Persönlichkeitsideal hinter dem des tüchtigen Berufsmenschen zurücktritt. Bei ihnen allen fehlt der zweite religiöse Höhepunkt, so lebendig auch der erste gewesen sein mag. Beim zentral religiösen Menschen aber, d. h. bei dem, der bewußt sein ganzes Innenleben religiös durchdringen und auch das äußere Leben nach religiösen Gesichtspunkten gestalten will, kann man von einem solchen zweiten Höhepunkt sprechen. Bei ihm drängt alles geradezu darauf hin. Wir überblicken dazu kurz noch einmal die gesamte Entwicklung. Während der ersten Höhenperiode erwachte die Individualität und mit ihr alle Kräfte des inneren Lebens. Zugleich löste sich die Indi­ vidualität des Menschen von dem umgebenden Weltganzen los. Der Mensch erkannte sein Ich und die ihm gegenüberstehende Welt. Da er dabei auch die Kontinuität seines Lebens entdeckte und dessen Ziele sich vor ihm zeigten, entrollte sich in dieser Zeit vor seinem Auge das Weltganze nach der Ausdehnung von Raum und Zeit (d. i. Umgebung und Entwicklung). Da wurde mit der Frage nach dem Sinn und der Grundlage des Lebens die religiöse Anlage voll lebendig. Der Mensch empfand unmittelbar, daß er sich einem höheren Zusammenhang einzu­ fügen hatte und griff deshalb nach dem Göttlichen. Daraus wurde der erste Höhepunkt des religiösen Lebens geboren. Doch konnte in ihm die Entwicklung nicht zum Abschluß kommen, da die Religion noch als ge­ sondertes Geistesgebiet im Innern des Menschen lebte und nicht nur keine Beziehung zu den übrigen Geistesgebieten hatte, sondern sogar im Gegensatz zu ihnen stand. Er mußte deshalb zur Hinwendung zu den übrigen Geistesgebieten kommen. Nachdem nun der junge Mensch die „Welt" tief innerlich erlebt und kennen gelernt hat, muß zum zweitenmal die Frage nach Lebensgrundlage und höchstem Wert an ihn heran­ treten. Jetzt muß und jetzt kann die Entscheidung fallen. Sie ist aber nun ganz anderer Art, als sie früher hätte sein können. Es handelt sich nicht mehr um ein Entweder—oder zwischen der Religion und den übrigen Geistesgebieten, sondern um die Frage, welches Verhältnis sie zueinander einnehmen sollen. Denn eine Ablehnung der „Welt" ist ausgeschlossen, nachdem man in der Entfremdungsperiode ihren Wert erlebt hat. Die Frage wird gelöst durch Werturteile. Der religiöse Mensch erkennt als höchsten Wert das Göttlich-Ewige, da er darin nicht nur volle Befriedigung und Einheit seiner Persönlichkeit findet, sondern auch durch Gemeinschaft mit ihm sich in den höheren Zusammenhang

104 und das umgebende Weltganze in voller Harmonie einfügt.

Von diesem

Zentrum aus werden dann die übrigen Geistesgebiete, die je nach dem in ihnen erlebten Wert dem Zentrum der Persönlichkeit näher oder ferner stehen, durchdrungen. So bekommen sie von hier aus allein ihren Wert, sie werden geradezu ein Teil des religiösen Lebens. Aber gerade dadurch wirken sie auch ihrerseits gestaltend auf das religiöse Leben ein. Wenn z. B. bei einem Maler dem religiösen Zentrum das Gebiet der Kunst am nächsten steht, so werden einerseits seine Werke religiös, anderseits bekommt seine Religion einen ästhetischen Ton. Er schaut das Göttliche in Bildern, etwa in der Natur (Keller, Richter) oder hat ein starkes Bedürfnis nach ästhetischem Ausgleich der Gegensätze innerhalb seines

religiösen Systems (M. v. Meysenbug). Damit gibt die Religion dem Menschen wirklich die innere Einheit seiner Persönlichkeit. Keine Seite seines Wesens bleibt unfruchtbar und doch wird alles erfaßt von einem Zentrum aus. Zugleich aber fügt sich der Mensch dadurch ein in den höheren Zusammenhang. Denn in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen ruht zugleich die Beugung unter das Ewige und die Beherrschung des Zeitlichen, Lebensgrundlage und Lebenstat. Damit ist aber nur ein Schema gezeichnet, und wir müßten unter­ suchen, wie weit die Wirklichkeit dem entspricht. Immerhin ist es be­ rechtigt, hier zunächst eine gewisse Normalform aufzustellen. Denn diese Periode ist in den Erscheinungsformen die mannigfaltigste. So viel persönlich religiöse Menschen, so viel Formen der Religion, die sich nur zum Teil und nur unvollkommen mit den Konfessionen decken. Beim Entwicklungsverlauf der ersten Periode herrscht noch der Eindruck des Naturhaften, in festen Bahnen sich Vollziehenden vor. Deshalb konnte man da einfach die Erscheinungsformen zusammenfassen. Jetzt aber ist die Individualität des Menschen zu ihrer vollen Selbständigkeit aus­ gereift, sie verarbeitet alle Eindrücke ihrer Eigenart entsprechend und zugleich wirken die äußeren Lebensumstände in hohem Maße bestimmend. Man müßte deshalb einen Überblick über die gesamten Erlebnismöglich­

keiten geben, um ein klares Bild dieser Zeit zu erhalten. Das ist natürlich nicht möglich. Außerdem kommen ja eben wenig Menschen zu religiöser Vollreife, so daß man die Norm nicht aus der Gesamtheit der Erscheinungen ableiten kann. Deshalb muß der letzte Teil des Reifungsprozesses von der Idee der religiösen Reife aus beurteilt werden, was bei den früheren Perioden, wo es sich um den Werdeprozeß handelte, nicht nötig und nicht berechtigt war. Nun hatten wir oben gezeigt, daß jetzt alles auf den Abschluß der Entwicklung drängt, wenn der Mensch

105 noch am Anfang des Mannesalters und seines eigentlichen Tatlebens steht. Deshalb nennen wir die Entwicklungen normal, die diesen Abschluß jetzt erleben, werden aber auch auf die anderen Berichte und die Gründe der Abweichung eingehen. In bezug auf die Zeit dieser Periode dürfte feststehen, daß sie im allgemeinen zwischen dem 22. und 30. Jahre liegt. Die zahlreichen Fälle,

in denen die Klärung des religiösen Lebens viel später eintritt, können nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Jugendentwicklung betrachtet werden. Denn die geistige Pubertätsentwicklung ist mit dem 30. Jahre

abgeschlossen, während der Körper schon mit dem 25. Jahre voll ent­ wickelt ist. Vielleicht darf auch hier auf die großen religiösen Menschen, Jesus, Paulus, Augustin, Luther verwiesen werden, die entweder im Bewußtsein ihrer religiösen Vollreife um das dreißigste Jahr ihre öffent­ liche Tätigkeit beginnen, oder doch — wie Luther — um diese Zeit ihr Entwicklungsziel erreicht haben. — Und nach dem Zeugnis aller uns vorliegenden Berichte — Richter, Andrae-Roman, Funke, M. v. Meysenbug u. a. — beginnt diese Periode der Klämng am Anfang der zwanziger Jahre, etwa um das 22. bis 24. Jahr. Das Bild des Verlaufs ist in jedem Falle anders. Der Bericht Funkes zeigt am deutlichsten, daß es sich auch in dieser Periode um einen Höhepunkt des religiösen Lebens handelt. Als er mit seinem theologischen Studium beginnt, ist er zunächst noch „sehr oberfläch­ lich, weil sehr gefallsüchtig". Die Kollegs erscheinen ihm trocken, er spielt lieber den flotten Studenten, so daß er „der wilde Funke" genannt wird. Aber er sagt: „Hinter ausgelassener Lustigkeit ist oft ein ttefes Schreien nach Gott verborgen, ein unendliches Dürsten und Sehnen nach etwas, was die ganze Welt nicht hat und also auch nicht geben kann und was man doch haben muß, um glücklich zu sein — ein Sehnen nach Frieden. So war es auch bei mir. Aber wo war dies unbekannte Etwas? Ich hätte es wohl schneller gefunden, wenn ich mich einem Mann wie Tholuck oder Kähler enthüllt hätte. Aber so offen ich auch sonst war, auf diesem Gebiet verhüllte ich mich. Es war wohl auch Halbherzigkeit und Weltliebe. Ich fürchtete wohl, daß, wenn ich nur eine Passion hätte, ich dann die übrigen quittieren müsse. Ja es war ein unseliges Gestrudel in mir. Jetzt wollte ich den Menschen gefallen und dann wieder sagte ich mir: Was hilft dir aller Beifall der Menschen, wenn du keinen Frieden hast. Heute war ich von der Welt verzaubert und wollte Großes erleben, und anderen Tags war mir nichts so klar, wie dies, daß der wahre Genuß erst anfange, wenn ich ein unerschütterliches Fundament hätte. Ich

106 empfand die ganze Unseligkeit der halben Seelen. Manchmal brachte ich lange, einsame Stunden zu, die Evangelien lesend, Gott suchend, mich selber suchend. Abends auf der Kneipe war ich dann ein ganz heiterer, ja übermütiger Geselle. Es war das Ringen zweier Geister in einer Brust". Dabei verleidet ihm der konfessionelle Streit zwischen

Luthertum und Union das Christentum. „Es kamen mir oft bittere und schmerzliche Zweifel, Zweifel daran, ob es wirklich eine absolute, für alle bestimmte und alle befriedigende Wahrheit gebe." Zugleich liest er D. Fr. Strauß. Er glaubt nicht länger Theolog bleiben zu können. Die heftigen Gemütsbewegungen machen ihn ernstlich krank. Er fällt

in ein heftiges Nervenfieber und schwebt lange in Todesgefahr. „Mein Geist war bald umnachtet, bald zu schwach, als daß von klarem Denken hätte die Rede sein können. Aber es gibt unmittelbare Eindrücke in den Seelengrund, die unendlich viel mächtiger und unantastbarer sind, als alles, was durch die Tätigkeit des Gehirns vermittelt wird. Der Eindruck, der mir jetzt, wo das Lebenslichtlein zu verlöschen schien, mit Geistes­ gewalt in die Seele geschrieben wurde, war dieser: ,Es gibt gewiß und wahrhaftig eine Welt der Ewigkeit, sie ist das Wirklichste von allem Wirklichen und das irdische Leben hängt mit dieser Ewigkeitswelt zu­ sammen wie die Saat mit der Ernte'. Diese furchtbar große Wahrheit, die mir früher ein selbstverständlicher Glaubensartikel war — den ich durch Erbschaft überkommen und mit kindlichem Gemüt ausgenommen hatte —, es war mir nun wie eine direkte Offenbarung Gottes. Sie ist mir auch nie wieder erschüttert worden. Was man unter,Bekehrung' verstand, war mit mir nicht geschehen. Im letzten Grunde ist alles gewonnen, wenn ein Mensch wirklich überzeugt ist von der Realität einer Ewigkeitswelt und dem organischen Zusammenhang dieser unteren Welt mit jener oberen." Damit ist seine Entwicklung beendet. Was an — vor allem erkenntnismäßigen — Schwierigkeiten noch vorhanden ist, löst sich durch den Rat eines Tübinger Professors, er solle sich zunächst auf das stützen, was ihm von göttlicher Wahrheit unmittelbar in die Seele leuchte. Auf dem Grunde könne er dann weiter bauen und auch die intellektuellen Schwierigkeiten überwinden. — Mit seltener Klarheit schildert Funke das Wesen dieses zweiten Höhepunkts des religiösen Lebens. Er hat die „Welt" kennen gelernt und ihren inneren Wert erlebt (S. 99). Aber er hat in ihr nicht den höchsten Wert gefunden. Im tiefsten Herzen unbefriedigt, kehrt er deshalb zum Göttlichen zurück, nun ausgesprochen in der Hoffnung, hier den gesuchten höchsten Wert zu finden. Als solcher erscheint ihm vor allem der Frieden der Seele,

107 d. h. die volle innere Harmonie und der Ausgleich seines Wesens. Daneben sucht er in ihr das Fundament des Lebens, das Objektive, Reale, auf das er sein Leben bauen könnte. Endlich ist ihm aber auch klar geworden, daß er nur dann ganz glücklich sein kann, wenn er bei dieser letzten Entscheidung ganz seinem Wesen folgt. Deshalb sucht er auch sich selbst. Damit sieht er ganz klar und vollbewußt das Ziel seiner Persönlichkeilsentwicklung und seines äußeren Lebens und sucht für beides Erfüllung im Göttlichen. Was beim ersten Höhepunkt sich an­ bahnte, dort dunkel geahnt und triebhaft empfunden war, das ist jetzt bewußt erkannt. War damals sein religiöses Erleben mehr eine Be­ friedigung unmittelbar empfundener Triebe, über deren Lebensbedeutung er wenig reflektierte, so ist er jetzt ganz auf Werturteile eingestellt. Er fragt, was die Religion für ihn und sein Leben bedeutet. Die Schwierig­ keiten entstehen dabei aus einem Schwanken im Werturteil bezüglich Welt und Gott. Die Welt hat ihn zwar unbefriedigt gelassen, aber Gott hat sich ihm auch noch nicht als zweifelsfreie Realität bewiesen. Nur die Ahnung davon ist ihm während der Entfremdungsperiode einigemal blitzartig aufgetaucht. So schwankt er noch zwischen beiden und dabei entrollt sich ihm nun neben dem Problem des Wertes auch das der absoluten Realität, das ja eng damit zusammenhängt — und zwar auf Grund widersprechender Erlebnisse. Aber er verfällt nicht mehr einem einseitigen Verstandesurteil, sondern ist innerlich geöffnet für das echt religiöse Erleben, über dessen Eigenart er sich völlig klar ist. Er mißt dem unmittelbaren Seeleneindruck den entscheidenden Wert bei, obwohl seine Verstandesschwierigkeiten noch nicht völlig gehoben sind. Die Wertfrage und die der Realität ist ihm im Erlebnis endgültig gelöst und von diesem festen Boden aus löst er ohne Schwanken auch Schritt für Schritt die Berstandesfragen. Sein Verstand beugt sich bereitwillig der Realität. Dabei folgt er ohne jede Abhängigkeit von Autoritäten nur seinem Wesen und Erleben. Das Ziel der Entwicklung ist die religiöse Durch­ dringung des äußeren Lebens. Da er Pfarrer ist, also auch im Berufsleben das religiöse Gebiet die beherrschende Stellung hat, ist die Gruppierung der übrigen Geistesgebiete um das religiöse Zentrum nicht zu erkennen. An seinem Amt und seinen Schriften kann man aber empfinden, wie Amt und Persönlichkeit in gleicher Weise von tiefem, religiösem Leben durchdrungen sind. Besonders zu beachten ist die Klarheit seines religiösen Erlebnisses. Er erlebt die „Abhängigkeit vom Universum", in der Schleiermacher das Wesen der Religion erblickt, in fast klassischer Weise. Er erlebt

108 seine Persönlichkeit, das umgebende Leben und die ewige Wett als einen höheren Zusammenhang. Er steht der Gesamtwirklichkeit abhängig und tätig zugleich gegenüber und ordnet sich ihr harmonisch ein; denn er erlebt Realität und Zusammenhang der „oberen" und „unteren Welt" und den Zusammenhang seines Schaffens mit diesen Welten. Das wäre während der ersten Periode nicht möglich gewesen. Damals war Persönlichkeit, untere und obere Welt nur geahnt, nicht gekannt und oft nicht als Zusammenhang sondem als Gegensatz empfunden. Der junge Mensch meinte wohl auch das All zu erleben (Chr. Holstein, S. 49), aber das Erlebnis trug doch stark individuelle Formen. Es war mehr eine Projektion der Persönlichkeit und ihrer Ideale in das All hinein, mehr ein Greifen nach dem All. Jetzt ist es Beugung unter die Realität des All und Anordnung in dasselbe. Damals

wars ein Fühlen („ich erzwang das Gefühl der Gottesnähe") und eigenmächtiges Handeln, jetzt ist es ein Sich-gestalten-lassen; damals folgte auf den Höhepunkt deshalb der Sturz, jetzt schafft das Erlebnis die objektive Grundlage, von der aus der Mensch in starkem Schaffen Leben und Persönlichkeit baut, immer aufs neue gestaltet von der höheren Wirklichkeit. Wir dürfen nicht erwarten, daß viele den Abschluß ihrer Ent­ wicklung mit gleicher Klarheit wie Funke erleben und zu schildern ver­ mögen. Nur Ludwig Richter gibt eine gleich gute, wenn auch ganz andersartige Schilderung. Er erzählt von seinem 22. Jahre: „Ich weiß nicht woher es kam, daß jetzt in stillen Stunden öfter eine Sehnsucht erwachte, etwas Festes zu gewinnen, worauf ich Verlaß haben könne in allen Lagen des Lebens, eine sichere Hand zu wissen, die mir den rechten Weg zeige aus dem, was mich beirrte und mir zweifelhaft war. Aber diese jetzt öfter auf­ tauchenden Stimmungen waren nichts anderes, als die Frage nach Gott, die sich in meinem Inneren mehr und mehr hervordrängte, nach einem lebendigen Gott, dessen ich nicht bloß durch einen abstrakten Begriff, sondem auf unmittelbare Weise gewiß würde. Wirkten vielleicht in der Tiefe der Seele die Worte des alten Mannes vom treuen Reisegefährten und seinem Worte noch fort, oder war es die Erinnerung an jenen Nachmittag, wo ich zum erstenmal die Abschiedsreden Jesu las? Worte haben oft ein wunderbar zähes Leben. Sie scheinen zu schlafen, aber regen und be­ wegen sich, sobald die ersten Frühlingslüfte darüber wehen". Er hat unter seinen Bekannten christliche Persönlichkeiten, schweigt aber ihnen gegenüber. Er findet Jung-Stillings Lebensgeschichte, die ihn in seinem

109 Zustand tief berührt. Er kommt zu der Stelle: „Wenn der Mensch nicht dahin gelangt, daß er Gott mit einer starken Leidenschaft liebt, so hilft ihm alles Moralisieren nichts, und er kommt nicht weiter". Richter fährt fort: „Diese eigentümliche, aber populäre Ausdrucksweise frappierte mich aufs stärkste und traf mich ins Herz. Denn ich erkannte daraus, daß der Gottesglauben kein totes Führwahrhalten, sondern ein lebensvoll wirkendes Verhältnis sei, und daß aus einem solchen die sittlichen Folgen ganz natürlich entstehen müßten. Diese Worte lagen mir

während der folgenden Tage immer im Sinn und ließen mich nicht wieder los. Aber, fragte ich mich, kann sich der Mensch Liebe zu Gott geben? " So kommt die Weihnachtszeit heran und er sitzt ohne Nachricht von Daheim einsam in seinem Stübchen. „So in die Zukunft schwärmend und die Vergangenheit der letzten Jahre bedenkend, durchströmte mich plötzlich eine seltsame, aber recht glückliche, friedevolle Empfindung. Es war, als wenn ein Engel durchs Stübchen gegangen wäre und einen Hauch seiner Seligkeit darin znrückgelassen hätte. Mir kam plötzlich mein Leben wie in einem großen freundlichen Zuge vor Augen, und ich glaubte die unsichtbare Hand zu erkennen, die mich bisher so freundlich geleitet, die mich über all mein Erwarten mit Gütern gefüllt hatte, die mir eine Verheißung für die Zukunft waren. Zum ersten Male, vielleicht seit Jahren, konnte ich dankbar freudig die Hände falten im Gebet, konnte beten so recht wahrhaft aus innerstem Antrieb, wie ich es vorher nie gekonnt." Am Silvesterabend lehnt er die Beteiligung an einem Künstlerfest ab, weil sein Herz ihn in den kleinen Kreis von drei ernsten jungen Freunden zieht. Sie sind zusammen fröhlich und nachdem sie eine Zeitlang über Kunst gesprochen haben, liest der eine einen Aufsatz über den 8. Psalm vor. „Ich habe keine Erinnerung von dem, was an jenem Abend gesprochen wurde; es war nichts Einzelnes, was mich besonders tief berührt hätte. Aber den Eindruck gewann ich und wurde von ihm überwältigt, daß diese Freunde ihn ihrem Glauben an Gott und an Christum, den Heiland der Welt, den Mittelpunkt ihres Lebens ge­ funden hatten und alle Dinge von diesem Zentrum aus erfaßten und beurteilten. Ihr Glaube hatte seinen festen Grund im Worte Gottes, der meinige, welcher mehr Meinung und Ansicht war, schwebte in der Luft und war den wechselnden Gefühlen und Stimmungen unterworfen. Süll, aber im Innersten bewegt, hörte ich den Reden der Freunde zu und war mir an jenem Abend der Umwandlung nicht bewußt, die in mir vorging. Aber alle die unscheinbaren Eindrücke der letzten Wochen hatten den Keim hervorgelockt, der so lange Zeit mit schwerer Erde bedeckt im

110 Winterschlaf gelegen hatte, obwohl ich mir erst am anderen Tage dessen bewußt wurde. Als nun das beginnende Geläute der Mitternacht den Beginn des neuen Jahres verkündete, konnte ich freudigen Herzens mit einstimmen in den schönen Choral: ,Nun danket alle Gott'. Eine gemeinsame Geistesrichtung, die aus tiefstem Bedürfnis des Herzens kam, hat uns (Freunde) für das ganze Leben treu verbunden." Damit ist der entscheidende Wendepunkt erreicht. Seine Weiterentwicklung ist nur ein tieferes Hineinwachsen in seinen inneren Besitz. — Auch bei Richter sind die Grundzüge des zweiten religiösen Höhe­ punkts klar zu erkennen. Das wieder erwachende Verlangen nach Gott ist bewußtes Verlangen nach einer absoluten Realität als Lebens­ grundlage, nachdem alles Schöne, das er erlebt hat — zwei Jahre Studium in Rom — ihn unbefriedigt gelassen hat. Ihn leiten also Werturteile. Auf „unmittelbare Weise", also in echt religiösem Er­ leben, will er Gottes gewiß werden als eines lebendigen, nicht eines abstrakten Begriffs. Die Überschätzung des Verstandes ist vorüber

(S. 48). Die religiöse Funktion ist geklärt. Nur die Gesamtpersönlichkeit ist noch unfertig. — Im religiösen Erlebnis steht auch er vor der Gesamt­ wirklichkeit, d. h. er erfaßt den Gottesglauben als ein „lebensvoll wirkendes Verhältnis", erschaut sein Leben „in einem großen Zuge" in Zu­

sammenhang und Abhängigkeit vom Göttlichen, das es freundlich und harmonisch durchwaltet. So steht auch er mitten drin in einem höheren Zusammenhang des Göttlich-Menschlichen. Zugleich erfaßt er beim Anblick der Freunde, daß dies Erlebnis der Persönlichkeit einen klaren Mittelpunkt gibt und daß von da aus das ganze äußere Leben einheitlich und in sich geschlossen gestaltet werden könne. Auch ihm bezeugt sich in einem unmittelbar seelischen Erlebnis die Realität des Göttlichen. So hat er, wie Funke, im Göttlichen Zentrum seines Wesens und ob­ jektive Lebensgrundlage, hat Harmonie seiner Persönlichkeit mit dem All in einem ewigkeitsbewußten Leben. — Bei ihm, dem im Grunde seines Wesens harmonisch angelegten Künstler, äußert sich dieser zweite Höhe­ punkt nicht in Kämpfen, sondern in Sehnsucht und erlösendem Erleben. Das Ziel aber ist das gleiche. Sein künstlerisches Lebenswerk zeigt, wie schön bei ihm Persönlichkeit und Leben religiös durchwaltet sind. Noch eine Reihe andere Berichte lassen die Tatsache und den ungefähren Verlauf der zweiten Höhenperiode erkennen, ohne das Bild wesentlich vertiefen zu können. Bei M. v. Meysenbug ist die Zeit der Berührung mit den übrigen Lebensgebieten zugleich eine Zeit der Klärung gewesen, dadurch, daß sie immer die Verbindung mit der Religion

111 herstellte. Infolgedessen bleibt für die letzte Periode eigentlich nur das Bewußtwerden des inneren Besitzes und eine systematische Zu­ sammenfassung desselben übrig. Die Religion hat fast dauernd im Vordergrund gestanden, es sind aber meist nur die Beziehungen zu einem der übrigen Geistesgebiete besonders betont worden. Jetzt muß ihre Stellung zu dem gesamten Geistesbesitz klar werden. Das geschieht. Es brauchen ja nur Ergebnisse gezogen zu werden. Ihre Persönlichkeit findet ihr Zentrum im religiösen und sozialen Gebiet, die beide eine innige Verschmelzung eingehen. Das soziale Gebiet, dem ihr Schaffen gilt, wird ganz religiös erfaßt. So schließt also auch bei ihr die Einfügung in den höheren Zusammenhang zugleich die Erfüllung der praktischen Lebensziele in sich und es ruht in der Verschmelzung von Religion und übrigen Geistesgebieten die wahre Einheit ihrer Persönlichkeit. Andrae-Roman berichtet, daß in ihm zwischen dem 23. und 24. Jahre die Kämpfe noch einmal beginnen, nachdem er in seiner rationalistisch­ weltfreudigen Periode einer größeren Zahl lebendiger Christen begegnet ist. Doch sind diese Kämpfe mit denen der ersten Entwicklungsperiode in keiner Weise zu vergleichen. Sie tragen den Stempel der End­ entscheidung. Die religiösen Erfahrungen der letzten Jahre haben ihre Ergebnisse in seinem Inneren zurückgelassen, die ihn nun gemeinsam zur letzten Entscheidung drängen. Da sich diese Erfahrungen mit gemein­ samer Kraft auswirken, werden die Kämpfe nicht besonders schwer. Er kommt, deshalb langsam vom Rationalismus los und gelangt zu per­ sönlicher Hingabe an Gott und Christus. Er erlebt dabei keine „Be­ kehrung", sondern einen langsamen inneren Wandel. Die letzte Klarheit der Entscheidung bekommt er, als er seiner freidenkenden Mutter gegenüber seine veränderte Stellung erklären und verteidigen muß. Ist sein Bericht auch nicht besonders wertvoll, so zeigt er doch, daß seine religiöse Funktion, die noch in der Entfremdungsperiode ungeklärt war, jetzt voll ausgereift ist, daß er sich im religiösen Erlebnis beugt vor höheren Wirklichkeiten und vom Göttlichen sich ganz durchdringen läßt. Selbst in der Entwicklung E. v. Millichs ist ein zweiter Höhepunkt des religiösen Lebens gegen Ende der zwanziger Jahre zu erkennen, bei dem er in erwachender Selbständigkeit sich von den Frauen löst, die ihn bis dahin beherrschten. So gering das Material auch ist, so genügt es also vielleicht doch, um zu erkennen, daß in der religiösen Entwicklung ein solcher zweiter Höhepunkt da ist und daß es sich in ihm um die strukturelle Klärung

112 des Seelenlebens handelt. Wir finden an keiner Stelle mehr Schwierig­ keiten der religiösen Funktion. Funkes Schwankungen find Schwankungen im Werturteil, seine Unsicherheit eine Unsicherheit der Natur in bezug auf die einzuschlagende Lebensrichtung, also struktureller Art. Selbst bei Richter, dessen religiöses Leben so lange verödet war, ist die religiöse Funktion vollkommen ausgereift. Dafi sie beide in ihrem Erlebnis wirklich strukturelle Klarheit finden, wurde oben schon nachgewiesen. Um ein abschließendes Bild zu bekommen, müssen freilich noch mehr Einzel­ fälle beobachtet werden. Deshalb mufi auch ein ins einzelne gehender Vergleich mit der ersten Periode unterbleiben. Starbuck nennt diese Periode die des Wiederaufbaus. Er hat dazu eine gewisse Berechtigung. Tatsächlich machen sich jetzt die in früher Jugend eingefahrenen Bahnen bemerkbar. Besonders Funke nähert sich wieder außerordentlich dem Christentum seiner Mutter. Nachdem man beim Erwachen alle auf Autorität hin übernommenen Inhalte abgelehnt hat, lenkt man nach der Zeit der Freiheit oft wieder in die väterlichen Bahnen ein, da, wie die Erfahrung lehrt, der Mensch selten aus seinem Milieu herauswächst, sondern vielmehr in Inhalt und Aus­ drucksform sich nach seiner Umgebung richtet. Selbständig wäre seine Anschauung dann nur insofern, als er sie nach eingehender Prüfung und auf Grund freier Entscheidung gewählt hat, ohne zu empfinden, dah in ihm doch ein gewisses Herdenmenschentum rege sei. — Wenn wir das auch gelten lassen, so meinen wir doch, daß diese Periode bei den wirklichen Persönlichkeiten eher eine Periode des Aufbaus als des Wiederaufbaus zu nennen ist. Jedenfalls ist wohl der Tatsache, daß jetzt der Aufbau der Persönlichkeit erfolgt, mehr Gewicht beizumessen, als der, daß zu diesem Aufbau zum Teil auch fremde Steine verwandt werden, die die Persönlichkeit nur an der rechten Stelle sinnvoll einfügt. Denn immer ist das innere Leben der Persönlichkeit und ihre aus gött­ lichen Urtiefen quellende schöpferische Kraft das wichtigste Moment in der Entwicklung.

Warum die Entwicklung so oft nicht in der geschilderten Weise zum Abschluß kommt, darauf gibt der frühere Reichskanzler Georg Michaelis

eine verhältnismäßig klare Antwort. Er erzählt: „Ich war von Jugend auf religiös. Das Beispiel meiner frommen Mutter und die große Liebe zu ihr gaben meinem für Gott empfänglichen Gemüt von Jugend auf eine Richtung zum Göttlichen und Ewigen. Mein Konfirmator ...

113 stärkte mein damals noch völlig kindliches Herz im Glauben an Gott. Dieser Glaube ist mir ein wertvolles Gut für mein ganzes Leben ge­ wesen und hat auch standgehalten in den Zeiten des Sturms und Drangs, auf der Universität, im fernen Auslande. Der geheime Schaden dieser religiösen Stellung aber war, daß sie nicht auf Eigenerleben be­ ruhte, daß es ein Autoritätsglaube war, der keine entschiedene Stellung­ nahme zu Gott hin bewirkte, sondern daß ich ein Doppelleben führte, dessen ich mir lange Zeit nicht bewußt war. Man konnte sonntäglich

in der Kirche fromme Empfindungen haben, konnte, wenn man mit Vater Bodelschwingh arbeitete, das Herz weit öffnen für soziale Not und die heiligsten Entschlüsse fassen. Aber das Leben mit seinen Versuchungen, falscher Ehrgeiz im Amt und gesellschaftliche Oberflächlichkeit warfen immer wieder die Vorsätze über den Haufen, und trotz allen Familien­ glücks und amtlicher Erfolge blieb das Herz im Grunde unbefriedigt, und die sittliche Kraft reichte nicht zu einem Leben der wirklichen Nächsten­ liebe und zum Opfer. Von entscheidendem Segen war für mich die Stellungnahme meiner Frau. Ihre unbedingte Wahrheitsliebe, die gerade im Heiligsten und Höchsten nichts bejahen kann und will, wozu der Geist nicht ja sagt, war in den Kampfeszeiten, die wir gemeinsam durchlebten ein unnachsichtiger Mahner, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben". Er lernt dann die Gemeinschaftsbewegung kennen. „Die ablehnende Haltung der Kirche und der Mehrzahl ihrer Diener gegen die ,neue, mystische, aus dem Ausland kommende Richtung' hielt uns und viele ab, der Frage aus den Grund zu gehen, ob hier das suchende Herz Frieden finden könne." Schließlich kommt er „im Anschluß an eine Evangelisation zu klarer Erkenntnis des göttlichen Willens und zu freudiger Bejahung des für richtig Erkannten und zur festen Stellung­ nahme im Leben". Von der Bekehrung sagt er: „Zu einer wirklichen Bekehrung gehört mehr Mut als zu einer Pistolenmensur unter dem Zwang traditioneller Ehrbegriffe". Damit ist ziemlich klar gesagt, daß der Zwang von Beruf und Gesellschaft und das Persönlichkeitsideal des Berufs- und Gesellschaftsmenschen selbst den ausgesprochen religiös veranlagten Menschen entscheidend in seiner Entwicklung hemmen, und daß es lösender Erlebnisse und helfender Menschen und im eignen Inneren einer starken Entschlußfähigkeit bedarf, wenn das Entwicklungsziel der Gottesgemeinschaft noch erreicht werden soll. Die Erfahrung von Michaelis dürfte typisch sein. — Bekehrung wäre danach der gewalt­ same Durchbruch eines durch Gesellschaft, Sitte und seelischen Schutt gehemmten inneren Lebens — ein Produkt unserer Kultur! Bohne: Religiöse Entwicklung.

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Man unterscheidet gerade bei der religiösen Entwicklung gern zwischen gebrochener und geradliniger Entwicklung. Wenn man dabei die Rückkehr zur Religion nach der Periode der Entfremdung als Bruch der Entwicklung versteht und als geradlinig die Entwicklung bezeichnet, in der immer die Religion im Vordergrund stand, so ist das nicht richtig. Man muß die Entwicklung nicht von einem Geistesgebiet, sondern vom ganzen Menschen aus verstehen, und da bedeutet die Wegwendung vom Religiösen durchaus keinen Bruch, sondern eine notwendige Voraus­ setzung für die religiöse Entscheidung. Der Weg über die anderen Lebensgebiete muß also durchaus als geradlinig bezeichnet werden. Die Entwicklung bei der, wie Samuel Keller von sich sagt, der junge Mensch „nicht aus der Taufgnade fällt", d. h. keine religiöse Entfremdung erlebt, ist entweder — wie bei Willich — geradezu krankhaft, oder, wie an­ scheinend bei S. Keller, durch Führungen des Lebens bestimmt und damit nur ein Spezialfall der normalen Entwicklung. Dagegen kann man mit einem gewissen Recht dann von gebrochener Entwicklung sprechen, wenn der Mensch im späteren Alter „sich bekehrt". Dann hat er bis zum Abschluß der Reifezeit sein Lebensziel noch nicht gefunden und ist entweder ganz einen falschen Weg gegangen oder den richtigen in innerer Halbheit und findet sich von da zu seinem wahren Wesen wirklich „zurück". In diesen Fällen kann man von gebrochener Entwicklung sprechen. Es ist bezeichnend, daß in den religiösen Kreisen, die die Bekehrung stark betonen, auch der Schuldgedanke eine große Rolle spielt, während in den oben gegebenen Berichten über den zweiten Höhepunkt die Schuldftage überhaupt nicht erwähnt ist. Im Gegenteil, in der aus­ drücklichen Betonung, daß man keine „Bekehrung" erlebt habe (Funke), ist dem Gefühl Ausdruck gegeben, daß man keine Umkehr nötig hatte, kein Bereuen des Vergangenen, sondern daß man sich bei Beginn des Lebens in freier Entscheidung an das Göttliche hingab. Durch diesen Zug scheidet sich die normal abschließende Entwicklung als die gesunde von der später eintretenden Bekehrung, in der der Mensch dann einen großen Teil seines Lebens negieren und als Schuld erleben muß. Denn er hat — ohne daß er deswegen unsittlich sein mußte — doch in innerer Disharmonie mit dem Göttlichen gelebt. Und das ist die tiefste Form der Schuld (vergl. S. 94). Daraus ergäbe sich zum zweiten Male, daß der Schuldgedanke, wo er nicht einfach autoritativ über­ nommen, sondern innerlich erlebt ist, in seiner scharfen Ausprägung von der Entwicklung abhängt. Gewiß ist auch bei dem Menschen, der sich in den höheren Zusammenhang in stetiger Entwicklung eingefügt hat,

115 die Harmonie mit dem Göttlichen nicht immer vorhanden. Er erlebt Las als Sünde und je tiefer er ins Göttliche hineinwächst um so feiner wird sein Empfinden für Disharmonie und Schuld werden. Aber er ist dabei doch stets getragen von dem Bewußtsein einer unzerstörbaren Gottesgemeinschast, das bei ihm stets vorherrscht. Viel mehr wird der Schuldgedanke bei dem im Vordergründe stehen, der erst später die Harmonie gefunden hat, da er wohl auch stärkere innere Hemmungen haben wird, die immer neue Disharmonien hervorrufen. So wie es aber möglich ist, daß die Hemmungen allmählich überwunden werden, so ists auch möglich, daß der Schuldgedanke allmählich zurücktritt, so sehr er erst im Vordergrund stand. Die umgekehrte Entwicklung ist ebenso möglich. Das letzte höchste Ziel aller religiösen Entwicklung aber ist die Überwindung aller Schuld in vollendeter Gottesgemeinschast.

Verzeichnis der erwähnten Autobiographien. (Die Ziffern geben die Seiten an, auf denen Auszüge aus den Schriften mitgeteilt sind.)

Andrae-Roman: Aus längst vergangenen Tagen 30.55.67.78.100.111 Benedikt, Moritz: Aus meinem Leben 17 Behrmann, Georg: Erinnerungen 41 Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben 35.39.40 Braun, Lilly: Memoiren einer Sozialistin 16.36.45.75.77.91 Dahn, Felix: Lebenserinnerungen 13.24.76.79 Dräger, Heinrich: Lebenserinnerungen 17 Falke, Gustav: Die Stadt mit den goldenen Türmen 35.83 Fischer, Karl: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen aus dem Leben eines Arbeiters . . i 14.36.37 Fliedner, Friedrich: Aus meinem Leben 56 Frommel, Emil: Aus goldenen Jugendtagen . . . 37. 39.40.41.57.74 Funke, Otto: Die Fugspuren des lebendigen Gottes in meinen Lebens­ wegen 16. 21.53.54. 57. 76. 92. 99.105 Gerhardt, Dagobert v. (Amyntor): Das Skizzenbuch meines Lebens 67. 71 Gerok, Karl: Jugenderinnerungen 60 Gottschall, Rudolf v.: Aus meiner Jugendzeit 38 Hebbel, Friedrich: Lebenserinnerungen 17 Heiberg, Luise: Lebenserinnerungen 14 Holstein, Christine: Bon der Pfluaschar in den Hörsaal 9.10.35.49. 60. 61.62.93. 94.95 Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich 7.66.98 Keller, Samuel: Aus meinem Leben 56.61.71 Kügelgen, Wilhelm v.: Jugenderinnerungen eines alten Mannes 39.47. 61 Meysenbug, Malvida v.: Memoiren einer Idealistin 9.36.38.40.47. 65. 72.90.91.95.110 Michaelis, Georg: Für Staat und Volk 112 Niemann, August: Lebenserinnerungen 72 Oertzen, Dietrich v.: Erinnerungen aus meinem Leben 71 Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben 18 Ranke, Friedrich Heinrich: Jugenderinnerungen 23 Richter, Ludwig: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers 22.48.58. 99.108 Schücking, Levin: Lebenserinnerungen .............................................39 Springer, Anton: Aus meinem Leben 58 Willich, Ehrenfried v.: Aus Schleiermachers Hause 68. 73. 75.101.111