Die Rückschritte der Poesie 9783787325887, 9783787305407

Seit zunächst Walter Benjamin, dann Werner Kraft die kulturkritischen Schriften des Livländers C. G. Jochmann (1789 – 18

149 17 7MB

German Pages 94 [138] Year 1982

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Rückschritte der Poesie
 9783787325887, 9783787305407

Citation preview

CARL GUSTAV JOCHMANN

Die Rückschritte der Poesie Mit Einleitung und ergänzenden Quellentexten von C. G. J ochmann, G. Vico und W.Jones, Bibliographie und Register herausgegeben von ULRICH KRONADER

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 343

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0540-7 ISBN eBook: 978-3-7873-2588-7

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1982. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Einleitung. Von Ulrich Kronauer . . . . . . . . . . . . . . . VII Carl Gustav Jochmann-Wirkung und Leben . . . IX Die Rückschritte der Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Anmerkungen zur Einleitung ................ XXXII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XLI

CARLGUSTAVJOCHMANN Die Rückschritte der Poesie ................... . ANHANG Ergänzende Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

I. Gar[ Gustav ]ochmann: Civilisation . . . . . . . . . . .

61

II. Gar[ Gustav Jochmann: Dichtung und Wahrheit . .

64

111. Gar! Gustav ]ochmann: Die drei politischen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

IV. Giambattista Vico: Von der poetischen Weisheit .

69

V. Sir William ]ones: Essay on the Arts, commonly called imitative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

EINLEITUNG

Wer Carl Gustav Jochmanns Abhandlung1 "Die Rückschritte der Poesie" zum ersten Mal liest, hat das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Er ist einem Text von seltener sprachlicher Schönheit und großer philosophischer Bedeutung begegnet, einem Text aber auch, der trotz dieser Eigenschaften immer noch weitgehend unbekannt geblieben ist und der bei der Diskussion über Notwendigkeit und Grenzen der Kunst kaum Gehör gefunden hat. Dabei hat es nicht an Neupublikationen der Abhandlung gefehlt, die 1828 als vierter von fünf Teilen des J ochmannschen Buches "über die Sprache" anonym bei C. F. Winter in Heidelberg erschienen war. Zuerst veröffentlichte Walter Benjamin im 8. Jahrgang der von Max Horkheimer herausgegebenen "Zeitschrift für Sozialforschung" 1939/40 eine stark gekürzte Fassung zusammen mit einer Einleitung und einigen Passagen aus Heinrich Zschokkes Ausgabe desJochmannschen Nachlasses 2 • Ohne diesen ergänzenden Text wurde die gekürzte Fassung zusammen mit der Einleitung wieder abgedruckt in der Zeitschrift "Das Argument", im 5. Jahrgang 1963 3 • Wie stark Jochmanns Abhandlung auf Benjamin gewirkt hat, kommt in einem Brief an Margarete Steffin, die Mitarbeiterin Brechts, vom 29.3.193 7 zum Ausdruck. Dort schreibt Benjamin u. a.: "Ich habe einen der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands entdeckt - einen Mann, der zwischen der Aufklärung und dem jungen Marx an einer Stelle steht, die bisher nicht zu fixieren war. Er heißt Carl Gustav Jochmann, war ein Balte, starb mit vierzig Jahren und lebte kränklich. Er hat einen Aufsatz "Die Rückschritte der Poesie" geschrieben, dem was die sprachliche Gestalt anbetrifft in seiner Zeit weniges, was seinen Gehalt angeht im 19. Jahrhundert nichts an die Seite zu stellen ist" 4 • Benjamins Einleitung hat entscheidend dazu beigetragen, daß die "Rückschritte" der Vergessenheit entrissen wurden. Auf der anderen Seite hat seine Edition aber auch einer ge-

VIII

Ulrich Kronauer

wissen Einseitigkeit in der Rezeption von Jochmanns Thesen Vorschub geleistet_ Benjamin selbst hat die Notwendigkeit, den Text für eine Veröffentlichung in der "Zeitschrift für Sozialforschung" radikal künen zu müssen, nicht als Beeinträchtigung empfunden. In einem Brief an Horkheimer vom 28.3.1937 schreibt er: "Meine Redaktion (des Aufsatzes "Die Rückschritte ... " U. K.) bringt ihn- selbstverständlich ohne irgendeinen Zusatz, ohne einen Eingriff oder eine Umstellung - auf einen geringen Bruchteil des Umfangs. Die Schlagkraft des Textes hat dadurch, daß alles, was nicht unmittelbar dem Hauptgedanken zugute kommt, wegfiel, wohl noch gewonnen" 5 • Aus heutiger Sicht wird man ein solches Vorgehen nicht mehr verantworten wollen. Gerade das Wissen, in Jochmann einen Sprachkünstler vor sich zu haben, der nachweislich an seinen Texten gefeilt hat6 , müßte weit eher dazu motivieren, sich der Abhandlung als streng durchkomponiertem Werk zu nähern. Dieser Weg wurde bisher wohl noch nicht beschritten; dennoch liegt ein Mangel des Benjaminsehen Vorgehens auch so auf der Hand: dadurch, daß er die Theorie der lyrischen Poesie aus dem Text herausstrich, eine Theorie, die Jochmann ganz ohne Zweifel besonders wichtig war, wurde der Gedanke des ,Rückschritts' unzulässig zugespitzt und es konnte der Eindruck entstehen, Jochmann habe tatsächlich ,das Ende der Kunst prophezeit' 7 • Gleichwohl bleibt Benjamins Einleitung8 ein fürdas Verständnis der Abhandlung zentraler Text. Ihr verdanken wir den kaum zu überschätzenden Hinweis auf Vico, der zu den Fundamenten der Abhandlung führt. Die beiden Veröffentlichungen, die in neuerer Zeit in größerem Umfang die "Rückschritte" behandeln, berufen sich auf Benjamin und versuchen einmal mehr, die im Brief an Margarete Steffin bereits emphatisch umrissene politische und geistesgeschichtliche Position Jochmanns besonders hervorzuheben9. 1967 veröffentlichte Wemer Kraft, der Anfang der 30er Jahre Jochmann im eigentlichen Sinn wiederentdeckt 10 und der sich größte Verdienste um diesen Autor erworben hat, eine Auswahl Jochmannscher Schriften, darunter ungekürzt

Einleitung

IX

unsere Abhandlung. Schon im Titel seiner Edition "Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften" brachte Kraft zum Ausdruck, welches Gewicht er diesem Text zusprach11. 1968 wurde dann durch den von ChristianJohannes Wagenknecht besorgten Neudruck das Buch "Uber die Sprache" wieder allgemein zugänglich 12 • Eine neue Ausgabe der Abhandlung bedarf daher einer besonderen Begründung. Zum einen mag es, da die Abhandlung ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt, als nützlich empfunden werden, sich auf diesen Text ausschließlich konzentrieren zu können. Weiterhin macht es der besondere Charakter der Reihe, in der die Ausgabe erscheint, möglich, Texte im Anhangsteil bereitzustellen, die die Abhandlung ergänzen können, wobei einige von Jochmann selbst stammen und seinen Standpunkt illustrieren, andere als mögliche Quellen in Betracht zu ziehen sind. Schließlich hat, wie bereits angedeutet, die Beschäftigung mit den ,Rückschritten' noch kaum begonnen. Die Einleitung zu unserer Ausgabe bietet daher die Möglichkeit, einige Aspekte zu betonen, die bisher noch nicht so deutlich hervorgetreten sind, Hypothesen zu wagen, geistesgeschichtliche Bezüge herzustellen und damit insgesamt auf die Bedeutung einer Schrift aufmerksam zu machen, die, so Walter Benjamin, "tiefsten philosophischen Gehalt" birgt 13 und die nicht nur, zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach, ein frühes Dokument der Vicorezeption darstellt, sondern die beispielsweise auch bemerkenswerte Gedanken zu Bedeutung und Funktion des Liedes enthält. Gart Gustav Jochmann- Wirkung und Leben Zumindest für einen gewissen Zeitraum wurde "das bedeutendste publicistische Talent", das die baltischen Provinzen Rußlands hervorgebracht haben 14 , im 19. Jahrhundert einem größeren Leserpublikum bekannt durch Heinrich Zschokkes dreibändige Edition der Jochmannsehen "Reliquien" (1836/38) 15 , und zwar zunächst mehr noch in Deutschland als in seiner livländischen Heimat. Dies läßt

X

Ulrich Kronauer

sich der immer noch grundlegenden biographischen Studie Julius Eckardts von 1863 entnehmen; zuvor hatte bereits Ersch und Grubers "Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste" 1842 dem Autor der "Reliquien" einen ausführlichen Artikel gewidmet 16 • In der Einleitung zu seiner Edition nennt Zschokke Jochmann aber auch als Autor mehrerer, größtenteils umfangreicher Bücher, die, alle anonym, mit einer Ausnahme bei Christian Friedrich Winter in Heidelberg erschienen waren und von denen die meisten heute nur noch in wenigen Bibliotheken zugänglich sind 17 • über die Wirkung dieser durchweg kämpferischen Schriften, die sich z. B. für "das Christentum in seiner reinen Form" 18 einsetzen und der Religion gegenüber der Institution der Kirche zu ihrem Recht verhelfen wollen, ist wenig bekannt; so auch bei dem Buch "über die Sprache" 19 , dessen Motto, Hamanns "Rede, daß ich dich sehe", bereits Jochmanns Absicht unterstreicht, auf ein Zeitgeschehen Einfluß zu nehmen, das von der Unterdrückung jeglicher Form von Öffentlichkeit bestimmt war. Dieses Buch vor allem, in dem unter anderem beschrieben wird, welche verheerenden Auswirkungen es auf das Sprachvermögen eines Volkes hat, wenn nicht offen gedacht, geschrieben und gesprochen werden darf, hat dann, nach Wem er Krafts Wiederentdeckung des Schriftstellers Jochmann im 20. Jahrhundert, dazu beigetragen, daß der Name dieses in vielfacher Hinsicht einsamen Denkers des beginnenden 19. Jahrhunderts zumindest einem kleinen Kreis von Spezialisten vertraut wurde. Geboren wurde Carl Gustav Jochmann im Jahr der französischen Revolution, am 10. Februar 1789 in der livländischen Hafenstadt Pemau am Rigaer Meerbusen 20 • Er war eines von drei Kindem des Stadtsekretärs Johann Gottlob Jochmann und dessen Ehefrau Elisabeth Magdalene, geh. Schwander. Seine Schulausbildung erhielt er u. a. in der Domschule von Riga, an der von 1764 bis 1769 Herder gelehrt hatte. Auch Hamann hatte längere Zeit in Rigagelebt. Die Erinnerung an diese für Jochmann wichtigen Denker war zu dessen Jugendzeit sicher noch lebendig. Sein juristisches Studium begann er nicht, wie damals

Einleitung

XI

üblich, an der heimischen D01pater Hochschule, sondern an der Universität Leipzig. Später studierte er dann in Heidelberg, wo er vielleicht Ludwig Börne kennenlernte, und in Göttingen. Eine Episode, die in die Studienzeit fällt, hat Jochmann zeitlebens geheim gehalten: für kurze Zeit war er der französischen Armee beigetreten, weil er an der Befreiung Polens von der russischen Herrschaft mitwirken wollte. In Riga ließ sich Jochmann 1810 als Advokat nieder. Zu seinem Bekanntenkreis zählte dort der Schriftsteller Garlieb Merkel, der sich als Vorkämpfer für die Befreiung der lettischen Bauern verdient gemacht hat, dessen Polemiken gegen Goethe ihm aber in der Literaturgeschichte einen schlechten Ruf eingebracht haben. Mit Jochmann, der ein auffallend distanziertes Verhältnis zu Goethe hatte, verband Merkel das der Aufklärung verpflichtete Geschichtsbild, die Hoffnung auf den Fortschritt in der Naturbeherrschung und die Vervollkommnung des Menschen 21 • 1812, als die französisch-preußische Armee Riga einzunehmen drohte, ging Jochmann nach England. Dort, wo er sich mit dem Rechtssystem, aber auch allgemein mit den Fundamenten des politischen Lebens beschäftigte, wurde ihm die Bedeutung von ,Öffentlichkeit' voll bewußt, die dann, als Forderung, leitmotivisch viele seiner Schriften durchzieht 22 • Wahrscheinlich 1815 nahm er die Advokatur in Riga wieder auf. Durch eine übermäßige, die Gesundheit untergrabende Arbeitstätigkeit versuchte er sich ein Vermögen zu schaffen, das ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen sollte. Familiär nicht gebunden - eine in England begonnene Liebesbeziehung scheint nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, der später brieflich geäußerte Wunsch, zu heiraten und eine Familie zu gründen konkretisierte sich nicht -konnte er dann 1819 ein zunächst auf zwei Jahre begrenztes Reiseprojekt verwirklichen. Jochmann kehrte nicht mehr in seine Heimat zurück; obwohl er unter der Trennung von seinen Freunden litt, verbrachte er die letzten elf Jahre seines kurzen Lebens im Ausland. Dank der gründlichen Nachforschungen Eberhard Haufes

XII

Ulrich Kronauer

ist die Reiseroute weitgehend, teilweise bis ins Detail hinein, rekonstruiert. Hier seien nur einige Stationen kurz genannt und einige Persönlichkeiten erwähnt, die für Jochmann besondere Bedeutung erlangten. Nachdem Jochmann sich ein halbes Jahr an verschiedenen Orten Deutschlands aufgehalten hatte - in einem langen und geistesgeschichtlich überaus interessanten Brief hat er über die politische und geistige Situation nach der Ermordung Kotzebues berichtet2 3 - ging er nach Paris, um sich vor allem mit Studien zur französischen Revolution zu beschäftigen. Den Plan, die Geschichte der Revolution, der er entscheidende Impulse verdankte, zu schreiben, hat er später dann wieder aufgegeben. Einewichtige Informationsquelle wurde der ihm bald freundschaftlich verbundene Graf Gustav von Schlabrendorf. Bei Ausbruch der Revolution hatte sich Schlabrendorf in Paris niedergelassen; mit seinem großen Vermögen unterstützte er Hilfebedürftige und lebte selbst in äußerster Einfachheit, fast verwahrlost. Von diesem umfassend gebildeten Mann, der mit dem Freiherrn von Stein England bereist hatte, der ein entschiedener Gegner Napoleons war, der, wie Kraft schreibt, "in einem schmutzstarrenden Zimmer Hof" hielt "und die wesentlichsten Menschen seiner Zeit" um sich versammelte 24 , erhielt Jochmann vielfältige Anregungen. Freundschaft verband Jochmann auch mit Heinrich Zschokke, den er 1820 in Aarau in der Schweiz kennenlernte, wo der aus Magdeburg stammende Schriftsteller und Politiker eine zweite Heimat gefunden hatte. Zschokke, einer "der prononcirtesten Vertreter der Humanitätsreligion des achtzehnten J ahrhunderts" 25 , veröffentlichte einige Jochmanntexte noch zu dessen Lebzeiten ohne Namensnennung und edierte später dann aus dem Nachlaß weitere Schriften. Maßgeblich beteiligt an der Veröffentlichung J ochmannscher Schriften w:ar auch ein weiterer Freund, der Heidelberger Verleger und Politiker Christian Friedrich Winter. Bei ihm, der im badischen Landtag "als erster Abgeordneter eines deutschen Parlaments den Antrag auf Pressefreiheit" gestellt hatte 26 und der selbst staatlichen Verfolgun-

Einleitung

XIII

gen ausgesetzt gewesen war, konnte Jochmann Verständnis dafür finden, daß er als Autor unbekannt bleiben wollte. Ihm vermachte er das Eigentumsrecht an den im Winterverlag erschienenen Schriften, wobei er in nüchterner Einschätzung der Sachlage in seinem Testament hinzufügte: "Möge ihm dies Vermächtniß einmal ersprießlicher werden, als ich zu vermuthen Ursache habe" 27 • Seine Kränklichkeit, die er selbst mit Hypochondrie in Verbindung brachte, veranlaßte Jochmann, die verschiedensten Bade- und Kurorte aufzusuchen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Frankreich. Die Jahre nach der Abreise aus Riga waren insgesamt bestimmt von großer Ruhelosigkeit und dem verzweifelten Wunsch, die Gesundheit zu stabilisieren und in einer bürgerlichen Existenz Beruhigung zu finden. Hoffnungen setzte er zuletzt vor allem auf die homöopathische Behandlungsmethode; auf dem Weg zu Samuel Hahnemann, dem Begründer dieser Methode, starb er am 3. Juni 1830 in Naumburg an der Saale an Lungenschwindsucht und Entkräftung. Die Julirevolution in Frankreich erlebte Jochmann nicht mehr. Seine geistige und politische Existenz vollzog sich im Zeitalter der Restauration, in einer Epoche, in der er nicht heimisch werden konnte. "Ich fühle mich ein Fremdling in dieser Welt, der gar nicht in sie hinein gehört", schrieb er einmaF 8 • Und die Gewißheit, vom ,göttlichen Vernunftgesetz' geleitet zu werden und so den Maßstab für Tugend, Recht und Wahrheit zu besitzen, führte den späten Vertreter der Aufklärung zu der eher resignativen Feststellung: "Ich habe ein Maß und Gewicht empfangen, das sich auf Lebenserscheinungen fast nirgends anwenden läßt. Ich muß es, denk ich, für Welten empfangen haben, die ich noch nicht betreten habe" 29 •

Die Rückschritte der Poesie Obwohl Jochmanns Abhandlung aus einem Guß gearbeitet ist, läßt sich ein Gliederungsschema unterlegen, das den

XIV

Ulrich Kronauer

überblick über diesen gedankenreichen Text erleichtert und das sich aus dem Aufbau der Argumentation zwanglos ergibt. Zwar läßt der Titel der Abhandlung selbst eine Einsträngigkeit der Darstellung erwarten, so, als ginge es nur darum, eben jenes Sich-Zurückbilden des dichterischen Vermögens im Verlauf der Menschheitsgeschichte aufzuweisen und zu begründen. Aber zweifellos sind für Jochmann nicht nur die ,Rückschritte' von Bedeutung; gleichgewichtig legt er einen Schwerpunkt auch auf die ,Wahrheit' der Poesie, die er, unbeeinträchtigt durch die Rückschritte, im Falle der lyrischen Dichtung immer noch zu erkennen vermag. Und schließlich gewinnt die Abhandlung ihre polemische Schärfe dadurch, daß Jochmann für seine Epoche und insbesondere für die deutsche Wirklichkeit ,zwischen Aufklärung und Vormärz' eine Fehlentwicklung aufweist, die darin besteht, daß der dichterische Geist auf Kosten der praktischen Vernunft eine unzeitgemäße Renaissance erlebt. Es bietet sich daher an, die Abhandlung entsprechend der Aufeinanderfolge der Argumentationsschwerpunkte folgendermaßen zu gliedern: - Herrschaft und Rückschritte der Poesie - Wahrheit der Poesie - Irrwege der Poesie Die folgenden Ausführungen halten sich nicht streng an diese Gliederung, die aber schon dadurch gerechtfertigt erscheint, daß im gegebenen Fall auf einen der drei Teile verwiesen werden kann. Diese Gliederung empfahl sich zugleich für den Text der Kolumnenzeilen. In einem der ersten Abschnitte seiner Abhandlung vergleicht Jochmann die Poesie "der alten Welt" mit der "der neueren Völker", wobei ihm die Rückschritte evident zu sein scheinen: an die Stelle des in Notwendigkeit begründeten Ernstes früherer Dichtung ist die ,Spielerei', der bloße ,Spaß' getreten, an die Stelle der elementaren Gesänge die papierne ,Dichtetei' 30 • Jochmann setzt diesen Gegensatz so selbstverständlich an, daß man den Eindruck gewinnt, die Frage nach der möglichen Aussagekraft zeitgenössischer Dichtung sei für ihn längst, und zwar negativ, entschieden, oder, mit einem Ausdruck Herders, den dieser in der Aus-

Einleitung

XV

einandersetzung mit Kant in der "Kalligone" gebraucht hat, Jochmann vertrete, besonders im Blick auf seine Epoche, die Auffassung von der Dichtung als ,tändelndem Spiel' 31 • Der, nach unserer Gliederung, zweite Teil zeigt aber, daß Jochmann ganz im Gegenteil der lyrischen Poesie nach wie vor Relevanz zuspricht, sie also keineswegs auf die Funktion der Unterhaltung und Zerstreuung reduziert. Belanglos sind für ihn die Dichtungen, die an den Geist und die Form der großen Werke, besonders der Epen, früher Zeiten anzuschließen suchen, da die Voraussetzungen für die überaus beeindruckenden Leistungen der damaligen Dichter nicht mehr gegeben sind und sich auch nicht mehr künstlich herstellen lassen. Dagegen, diese Belanglosigkeit in künstlerischer Hinsicht auch in jeder anderen Beziehung als Verlust oder Rückschritt aufzufassen, argumentiert Jochmann im ersten Teil seiner Abhandlung. Wenn Jochmann von einem umfassenden Wirkungskreis der frühen Dichtung ausgeht, kann er sich dabei auf Hypothesen stützen, die im 18. Jahrhundert formuliert wurden und die auch im 20. Jahrhundert noch durchaus aktuell sind. "Das Dichten ist eine der frühesten ästhetischen Betätigungen des menschlichen Geistes. Wenn man die Poesie in der frühen literarischen Kunst eines Volkes nicht als eine spezielle Form findet, liegt das daran, daß sie mit der Literatur als Gesamterscheinung identisch und gemeinsames Ausdrucksmittel für Geschichte, Religion, Magie und sogar für das Recht ist. Wo die frühe Kultur eines Volkes erhalten geblieben ist, erweist sie sich als fast ausnahmslos lyrisch, nämlich rhythmisch oder metrisch in ihrer Form. Die Griechen, Skandinavier, Angelsachsen, Romanen, Inder, Chinesen, J apaner und Ägypter beweisen diese allgemeine Feststellung" 32 • Christopher Caudwell, von dem dieses Zitat stammt, referiert hier einen Gedankengang, der "allgemein anerkannt" wird 33 , und bereits Jochmann konnte auf ausführliche Erörterungen dieses Themas zurückgreifen. "Die beste Blüthe der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter ... ; da es noch keine Schriftsteller gab, so verewigten sie die merkwürdigsten Thaten durch Lieder: durch Gesänge lehrten sie,

XVI

lnrich Kronauer

und in den Gesängen waren nach der damaligen Zeit der Welt Schlachten und Siege, Fabeln und Sittensprüche, Gesezze und Mythologie enthalten. Daß dies bei den Griechen so gewesen, beweisen die Büchertitel der ältesten verlohrnen Schriftsteller, und daß es bei jedem Volk so gewesen, zeugen die ältesten Nachrichten". So heißt es bei Herder in den "Fragmente(n) über die neuere deutsche Literatur" in der kleinenAbhandlung "Von den Lebensaltem einer Sprache"34. Und in der bereits erwähnten "Kalligone" faßt Herder im Jahre 1800 noch einmal seine Auffassung, die er in verschiedenen Schriften dargetan hat, zusammen, dabei bezugnehmend auf eine berühmte Passage aus Hamanns "Aesthetica in nuce": ",Poesie, sagt ein Schriftsteller, ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts, wie der Gartenbau älter als der Acker, Mahlerei als Schrift, Gesang als Declamation, Gleichnisse als Schlüße, Tausch als Handel.' ,Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseligkeit.' - Was hier abgerissen gesagt wird, haben Du Bos, Goguet, Condillac und wie viele andre historisch sowohl, als philosophisch erläutert;der Anfang der menschlichen Rede in Tönen, Gebehrden, im Ausdruck der Empfindungen und Gedanken durch Bilder und Zeichen konnte nicht anders als eine Art roher Poesie seyn, und ists noch bei allen Naturvölkern der Erde" 35 . Hamann und Herder spielen in Jochmanns Denken eine bedeutende Rolle, und es liegt daher nahe, im Kontext ihrer Darlegungen den ersten Teil unserer Abhandlung zu interpretieren, zumal sich ja die These, daß ein Rückschritt stattgefunden hat, bei Herder ausgeführt findet. "Es ist allerdings wahr, was alle alte Schriftsteller einmüthig behaupten und was in den neuen Büchern wenig angewandt ist, daß die Poesie lange vorher, ehe es Prose gab, zu ihrer größten Höhe gestiegen sey, daß diese Prose darauf die Dichtkunst verdrungen,. und diese nie wieder ihre vorige Höhe erreichen können. Die ersten Schriftsteller jeder Nation sind Dichter: die ersten Dichter unnachahmlich: zur Zeit der schönen Prose wuchs in Gedichten nichts als die Kunst: sie hatte sich schon über die Erde erhoben und suchte ein Höch-

Einleitung

XVII

stes, bis sie ihre Kräfte erschöpfte und im Aether der Spitzfündigkeit blieb. In der spätem Zeit hat man bloß versificirte Philosophie, oder mittelmäßige Poesie" 36 . Die Bedeutung dieser Stelle für Jochmanns Abhandlung liegt auf der Hand. Auch in Teilaspekten hat Herder Jochmann vorgearbeitet, so bei der Auffassung, daß - wie es unabhängig von Jochmann ein moderner Autor formuliert hat- Dichtung ursprünglich "eine Technik" war, "sprachliche Mitteilungen dauerhaft zu fixieren und transportabel zu machen, ehe es die Schrift gab" 37 . Angesichts dieser Fülle von Bezügen und Entsprechungen überrascht es, daß Walter Benjamin in seiner Einleitung zu Jochmanns Abhandlung sehr bestimmt feststellt: "Jochmanns Theorie von der Dichtung als dem ursprünglichen Sprachvermögen der alten Welt stammt von Vico" 38 . Wenn Benjamin dann, um seine Behauptung zu begründen, Vicos Konzeption in einigen Sätzen zusammenfaßt, kann man dagegenhalten, daß eine Zusammenfassung Herderscher Gedanken zu diesem Thema die gleiche Beweiskraft beanspruchen darf. Bekanntlich besteht eine zum Teil weitgehende Ähnlichkeit zwischen Ausführungen Vicos und Herders. Bereits der Vicoübersetzer Wilhelm Ernst Weber, dessen Ausgabe der "Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker" von 1822Jochmann benutzt haben kann, hat auf eine solche Entsprechung hingewiesen39. Die Frage aber, in welchem Ausmaß Herder Vico tatsächlich rezipiert hat, oder - Erich Auerbach hat hier wohlbegründete Bedenken angemeldet40 - ob der Geist der vichianischen Geschichtsphilosophie in Herders Schriften einen Nachhall gefunden hat, ist immer noch nicht endgültig entschieden41 • Denkbar wäre also sowohl, daßJ ochmann Argumente Herders verarbeitet hat, die nur aussehen wie Argumente Vicos, als auch, daß er, vielleicht ohne dies zu wissen, Gedanken Vicos durch das Medium der Herdersehen Kultur- und Geschichtsphilosophie aufgenommen hat. Für unseren Zusammenhang ist schließlich darauf hinzuweisen, daß Herder in Jochmanns Schriften immer wieder genannt wird, Vico dagegen unerwähnt bleibt. Sind so Einwände gegen die Ausschließlichkeit ange-

XVIII

Ulrich Kronauer

bracht, mit der Benjaminjochmanns Entwurfderursprünglichen Poesie Vico zuordnet, so gibt es doch auch eine Erklärung dafür, warum er in erster Linie Gedanken Vicos hinter Jochmanns Darstellung erkennen konnte. Wenn wir uns Benjamins Auffassung, Vico habe Jochmann entscheidend beeinflußt, anschließen, darm nicht primär deshalb, weil er glaubt, Jochmann habe Vicos 58. These in seine Abhandlung eingearbeitet42 • Zwar gibt es hier eine auffallende Entsprechung, die aber so weitreichend nicht ist, daß man damit allein Jochmanns Vicorezeption beweisen könnte. Ausschlaggebend ist dagegen die Vico und Jochmann gemeinsame Auffassung von der Herrschaft der Phantasie im poetischen Zeitalter, das zu charakterisieren ist als Zeitalter vor einer adäquaten Erfassung der Wirklichkeit. So rigoros wie bei diesen beiden Autoren wird in keiner Schrift Herders auf den Antagonismus Phantasie - Realität hingewiesen. Allein das Charakteristikum "Besonnenheit", das Herder in seiner "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" dem Menschen per se zuspricht und das die Lebenserfahrung auch in der frühen Phase der Menschheitsgeschichte prägt, erweist schon den fundamentalen Unterschied43 • Vielleicht wollte Jochmann den Bann brechen, unter dem Herder und all jene standen, denen die unwiederholbare Leistung der frühen Dichtung bewußt geworden war und die die ,Rückschritte der Poesie' nicht ohne Bedauern wahrnehmen konnten44 • Die" wunderwürdige Erhabenheit" der ersten Poesie ist begründet in "starke(n) Sinne(n) und mächtige(r) Phantasie", wobei diese dem modernen, vernunftbestimmten Menschen kaum mehr nachvollziehbare Macht der Phantasie sich negativ erklärt durch "starke Unwissenheit", kindliches Vorstellungsvermögen, Wundergläubigkeit aufgrund "der Unkenntnis der Ursachen". So heißt es in der ,Neuen Wissenschaft' Vicos im Kapitel "Von der poetischen Metaphysik " 45 • Hochachtung vor der ,Erhabenheit' der frühen Dichtung kennzeichnet wie Vico so auch Jochmann, wobei beide allerdings nicht die Persönlichkeit, den Kunstwillen eines Autors am Werke sehen, sondern die Notwendigkeit der geschichtlichen Umstände und die Eindimensionalität und Vernunftlosigkeit, die die

Einleitung

XIX

frühe Entwicklungsstufe der Menschheit bestimmen und die eine poetische Weltdeutung erzwingen. Mit Vico teilt Jochmann die Annahme eines ursprünglichen "geistigen Universalreiches der Phantasie" 46 , dem das Bewußtsein jedes Menschen unterworfen war, das also nicht etwa, wie noch viele Aufklärer geglaubt haben, von einer bestimmten Interessengruppe, vor allem den Priestern, aus Eigennutz bewußt erzeugt oder am Leben erhalten worden war. Trotz dieser Gemeinsamkeit in der Auffassung einer geschichtlichen Notwendigkeit, die zu denken ist in Analogie zu der menschlichen Entwicklungsstufe kindlichen Bewußtseins, findet sich bei Jochmann nicht Vicos Theorie, nach der das darauffolgende Zeitalter der ,Prose' mu eine von mehreren Phasen innerhalb eines zyklischen Geschichtsverlaufs darstellt. Jochmanns Konzeption liegt auch nicht das Bild der menschlichen Existenz mit Kindheit und Jugend, vernunftbestimmter Erwachsenenzeit und schließlich greisenhaftem Verfall zugrunde, dem dann ein Neubeginn folgt, sondern das einer Menschheit, die endgültig erwachsen wird, zur Vernunft kommt, mündig wird. Die Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität) des Menschen, das Fortschreiten zum gesunden Menschenverstand, die Entfaltung der Zivilisation sind zentrale Kategorien seines Denkens. Gerade hier wird deutlich, wie stark die Aufklärung in diesem Autor des frühen 19. Jahrhunderts weiterwirkt. Die Perfektibilität, als das "Charakteristische des Menschen, und zwar des Geistigen in ihm" setzt einen unendlichen Progreß in Gang, der auf "Beherrschung der Natur durch Macht ihrer eigenen Kräfte" und "Beherrschung des Menschen durch Macht seiner eigenen Vernunft" abzielt 47 und weiterhin - auf diesen GedankenJochmanns wurde in jüngster Zeit besonders nachdrücklich hingewiesen48 - auf eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Formen so, daß die Maschinen den Menschen endgültig die Sklavenarbeit abnehmen können. An anderer Stelle wiederum heißt es mit einem für Jochmann bezeichnenden "Aber": "Die Menschheit schreitet langsam vorwärts, es ist wahr; aber es kostet ihr, wie jeden einzelnen, unglaubliche Mühe, zum gesunden Menschenver-

XX

Ulrich Kronauer

stand zu gelangen"49 • Schon dieser einschränkende Nachsatz, der die Paradoxie formuliert, daß das eigentlich Selbstverständliche, der gesunde Menschenverstand, nur mit äußerster Anstrengung erreicht werden kann, zeugt von jener Skepsis, die Jochmann selbst als für seinen politischen Standort charakteristisch hielt 5°. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts war, zumal in Deutschland, kein Anlaß für einen ungetrübten Fortschrittsoptimismus gegeben. Der Glaube an die Vervollkommnung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Beziehungen mußte sich vielmehr immer wieder gegen den Augenschein, gegen deprimierende Fakten durchsetzen. WasJochmann in einem sehr schönen, ,Göttliche Traurigkeit' überschriebenen Text von Swift, Pascal und Rousseau gesagt hat, trifft auch auf ihn selbst zu, auch er leidet an dem Bewußtsein, "dem Menschengeschlecht fehle in seinen gesellschaftlichen Verbindungen das wahre Kennzeichen des Menschlichen" 51 • Immer noch sind die Forderungen der Aufklärung, den Menschen "in seine Rechte wie in die Würde seiner Natur" einzusetzen, uneingelöst, bleibt das von Condorcet beschworene "Bild eines Menschengeschlechts", "das von allen Ketten befreit der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet", Vision 5 2 • Auch Jochmann muß sich, wie andere vor ihm, mit dem Problem auseinandersetzen, das durch Rousseaus Kulturkritik in aller Schärfe ins Bewußtsein getreten war: woher kommt es, daß das im Gegensatz zum Tier mit der Vervollkommnungsfähigkeit ausgestattete Wesen Mensch im Verlauf seiner Geschichte nicht schließlich in der Lage war, Glück zu realisieren. Rousseau hatte den folgenschweren Verdacht ausgesprochen, die Perfektibilität selbst könne die Quelle allen menschlichen Unglücks gewesen sein 53 • Jochmann, ein Kenner Rousseaus und ein, wenn auch kritischer, Bewunderer dieses sprachgewaltigen Denkers 54 , geht auf diese Problematisierung der Perfektibilität nicht ein. Er macht dagegen den Versuch, das konstatierte Dilemma aus einer Ungleichzeitigkeit in der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten zu erklären, die die Zivilisation vorantreiben 5 5 •

Einleitung

XXI

Jochmann beginnt seinen Gedankengang mit einem Vergleich, in dem zwei Bereiche, manuelle und poetische Tätigkeit, unter dem Aspekt des ausschließlich eingesetzten Werkzeugs aufeinander bezogen werden. Er will damit zeigen, daß ebensowenig wie die Geschicklichkeit, die primitive Völker im Gebrauch eines einzigen Werkzeugs, das die verschiedensten Aufgaben erfüllen muß, erreicht haben, auch die Vollkommenheit, mit der Phantasie und Poesie als allein tätige Seelenvermögen über die verschiedensten Bereiche herrschen, als Fortschritt gewertet werden darf. Nicht Ausschließlichkeit und Konzentration auf ein Mittel begünstigen den Fortschritt, sondern Arbeitsteilung und Vervielfältigung der Mittel. In der Folge weitet sich Jochmanns Argumentation aber aus; aus dem nur zur Verdeutlichung herangezogenen manuellen oder technischen Bereich wird, gleichsam unter der Hand, als "sinnlichem Vermögen" ein dem "geistigen Vermögen" gleichwertiger Bestandteil einer wenigstens im Ansatz konzipierten Zivilisationstheorie. Einen ersten Impuls zu diesem weiterführenden Schritt mag der in unserer Abhandlung mehrfach genannte Francis Bacon gegeben haben, der in seinem "Novum Organon" im ersten Buch erklärt hatte: "was auf die Natur sich stützt, wächst und mehrt sich, aber was auf die Meinung sich stützt, wechselt und nimmt nicht zu". In den "mechanischen Künsten, welche sich auf die Natur und das Licht der Erfahrung stützen" (Bacon) 56 , erkennt Jochmann ein Vorwärtskommen, ein kontinuierliches Wachstum selbst dann, wenn sie noch einseitig, plump und unbeholfen zu Werke gehen. Der ,Meinung' wiederum korrespondiert bei Jochmann die ,Phantasie'. Solange diese ausschließlich herrscht, finden, abgesehen von zufälligen Erfolgen, im "geistigen Bereich" kaum Fortschritte statt 57 , vielmehr werden andere Fähigkeiten des Menschen, sich zu einem vernünftigen sozialen Wesen zu entwickeln, blockiert. Nicht also parallel zum technischen Fortschritt, zu Naturerkenntnis und Naturbeherrschung vollzieht sich die "innere Ausbildung", sondern vorerst gegenläufig, als Destruktion etablierter Vorurteile, als Rückeroberung des von der Phantasie besetzten Bereichs.

XXII

Ulrich Kronauer

Eine ausführliche Darstellung als die hier mögliche könnte zeigen, daß die massive, wenn auch nicht explizite Romantikkritik unserer Abhandlung, die im Anschluß an die Beschreibung der Ungleichzeitigkeit einsetzt, sich nicht aus dem Befremden über eine von vomeherein unzugängliche Position herleitet, daß vielmehr in der zentralen Problemstellung ein offenkundiger Berührungspunkt mit der deutschen Frühromantik besteht. So war es beispielsweise Friedrich Schlegel, der 1795 in seiner Rezension von Condorcet's "Esquisse d'un tableau historique des progres de I' esprit humain" geschrieben hatte: "Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung" 58 • Und auch A. W. Schlegel hatte diese "Ungleichheit der Fortschritte" ins Zentrum seiner Schrift "Ueber Litteratur, Kunst und Geist des Zeitalters" gestellt. Nicht so sehr in der Problemstellung also, wohl aber im Versuch, das Problem zu lösen, unterscheidet sich Jochmann von den Romantikern, wobei einige seiner Argumente unmittelbar in die Diskussion einzugreifen scheinen, die die Frühromantiker am Ende des 18. Jahrhunderts geführt haben. Nicht die "ungebührliche Herrschaft des Verstandes" 59 ist anzuklagen, sondern im Gegenteil die der Phantasie. Die ,Prosa' des herrschenden Zeitgeistes ist nicht Indiz für einen Rückschritt, sondern für einen Fortschritt; nicht sollen angesichts der, so die Romantiker, alles einebnenden Aufklärung Phantasie, Mythologie und katholische Frömmigkeit wiederbelebt, vielmehr muß an der Tradition des aufklärerischen Geistes festgehalten werden. An einem Detail kann besonders gut verdeutlicht werden, warum für Jochmann bereits die Frühromantiker den Weg in die falsche Richtung eingeschlagen haben: während A. W. Schlegel die "Festigkeit und Solidität" der ägyptischen Pyramiden als Argument gegen den Portschrittsdünkel seiner Zeit anführt 60 , legt Jochmann den Schwerpunkt darauf, wie solche Bauwerke zustande gekommen sind, nämlich durch die "ungeheure Herabwürdigung

Einleitung

XXIII

taglöhnernder Millionen"61 • Die Faszination, die von vergangenen Zeiten ausgeht, täuscht hinweg über die Zwänge, unter denen die Menschen dieser Epochen gelebt haben. Jeder Schritt in Richtung der "Civilisation" ist daher zu begrüßen, und es ist sicherlich kein Zufall, daß Jochmann gerade mit diesem Terminus sein Programm auf den Begriff bringt und nicht etwa mit dem der ,Kultur'. Norbert Elias hat gezeigt, wie sich im 18.Jahrhundert ein Gegensatz herausbildet, der dann bereits im beginnenden 19. Jahrhundert den jeweiligen Wortgebrauch bestimmt. ,Zivilisation' wird in Deutschland zu einem Wort minderen Ranges, das primär den äußeren, technischen Fortschritt bezeichnet und damit nur "die Oberfläche des Menschen " 62 • ,Kultur' dagegen soll das besondere Wesen des Deutschen charakterisieren, bei dem die geistige, künstlerische Leistung zu betonen ist, wobei dann die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren nur eine untergeordnete Rolle spielen oder ganz ausgeklammert werden. Anders bei den Franzosen und Engländern, wo ,Zivilisation' nicht nur die eigene Leistung insgesamt, auf allen Gebieten meint, sondern ebenso den Fortschritt des Abendlandes oder der ganzen Menschheit. Weiterhin hebt ,Zivilisation' den Prozeßcharakter der Menschheitsgeschichte hervor, während ,Kultur' sich statisch auf "Produkte der Menschen" bezieht, "in denen die Eigenart eines Volkes zum Ausdruck kommt" 63 • Der Begriff ,Kultur' dient der Abgrenzung. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts von der mittelständischen Intelligenz, die von politischer Tätigkeit und wirtschaftlicher Initiative noch weitgehend ausgeschlossen war, eingesetzt, um den geistigen Habitus, die Bildung des Einzelnen, die Priorität von Wissenschaft, Philosophie, Religion und Kunst zu kennzeichnen, kontrastiert er dann der ,Oberflächlichkeit' anderer Nationen, zumal der Franzosen. J ochmann, der in England und Frankreich gelebt hat und für den besonders die Entwicklung in England, ungeachtet seiner durchaus kritischen Analyse dieses Landes und seiner Verfassung64 , der in Deutschland weit voraus war, zieht bewußt den Begriff vor, in dem die Gemeinsamkeit der Menschen und nicht die nationale Differenz enthalten ist und

XXIV

Ulrich Kronauer

der gerade nicht durch die einseitige Betonung des ,rein Geistigen' belastet ist. Wie Jochmann über die Selbsteinschätzung der Deutschen gedacht hat, kann man dem dritten Teil unserer Abhandlung entnehmen, von dem aus gesehen sein Festhalten am Begriff ,Zivilisation' fast eine polemische Qualität erhält. Denn wenn er sich auf die Entgegensetzung ,Zivilisation - Kultur' eingelassen hat, dann ist ihm die ,Oberflächlichkeit' der Franzosen erträglicher gewesen als die ,Tiefe' des Denkens und Empfindens, die die Deutschen für sich in Anspruch genommen haben. In welch geringer Obereinstimmung sich Jochmann mit dem Zeitgeist befindet, zeigt auch sein Rekurs auf die berühmte Frage der antiken Philosophie nach der Legitimation des Dichters. Daß Jochmann überhaupt diese Frage aufgreift muß auf Unverständnis stoßen in einer Zeit, in der z. B. SeheDing der Kunst höchste Aussagekraft zugesprochen hat. Jochmann erinnert an Platons ,Verbannungsurteil' über den Dichter65 und nimmt implizit Bezug auf Aristoteles, der den Dichter über den Geschichtsschreiber stellt, weil die Dichtung das Mögliche und Allgemeine auszudrücken vermag, während die Geschichtsschreibung dem Faktischen verhaftet bleibt66 • Aus Jochmanns Ansatz folgt eine andere Wertung. Dem Geschichtsschreiber, der zeitlich auf den Heldendichter folgt, gebührt der Vorrang, sofern er sich vom nur ,dichtenden' Vorgänger gelöst hat, sofern er also nicht in Ermangelung tatsächlicher Einsichten die Phantasie walten läßt und weiterhin, sofern er nicht als Diener der Fürsten schreibt, sondern als Lehrer und Aufklärer der Menschheit, deren Entwicklungsgesetz es nachzuzeichnen gilt. An einer Stelle seines Buches "über die Sprache" unterscheidet Jochmann zwei Arten von Wissen, von denen das eine nur schwer zugänglich ist, weil es "der Erfindung oder Einbildung des Menschen seinen Ursprung verdankt". Es gibt aber noch ein anderes Wissen, "dessen Gegenstand, erhaben über die schöpferische Einbildungskraft unsers Geistes, nur seine treue Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, und alles menschlichen Hinzuthuns unbedürftig, nur beobachtet und anerkannt zu werden braucht, eine höhere Weltgeschichte, die der Mensch nicht macht, sondern erlebt,

Einleitung

XXV

einen Inbegriff jener allgemeinen und ewigen Gesetze der uns umgebenden sinnlichen und sittlichen Natur und unsrer eignen, eine Kette von Wahrheiten, den einzigen, die so genannt zu werden verdienen, die wir in ihrem unermeßlichen Zusammenhange nie völlig übersehen, die sich aber in Zeit und Raum unaufhörlich vor den Augen unsers Geschlechts entwickeln, und in deren fortschreitender Anerkennung zuletzt alles Fortschreiten dieses letztem besteht"67. In diesen Ausführungen, die, unausgesprochen, auch das Aufgabengebiet des Geschichtsschreibers umreißen, kommt noch einmal unmißverständlich der Glaube der Aufklärung an den vorgegebenen Sinn der Menschheitsgeschichte zum Ausdruck, an einen Sinn, den Herder als Entwicklung zur Humanität gefaßt hatte und den es sich selbst und anderen zu entschlüsseln und zu vermitteln gilt 68 • Hat sich somit der epische Dichter endgültig für die Aufgabe der Weltdeutung disqualifiziert, so ist damit doch keineswegs der Poesie insgesamt das Urteil gesprochen. Die lyrische Poesie behält ihren Rang, sie spricht immer noch und immer wieder gültige Wahrheiten aus; im Lied zumal artikuliert sich die Sprache des Gemüts, des Herzens, der Empfindungen. Auf den ersten Blick scheint Jochmanns Lyrikkonzeption kaum Interesse beanspruchen zu dürfen, mag sich sogar der Eindruck aufdrängen, unser Autor falle hinter das Niveau seiner übrigen Darstellung zurück. Aber bei näherem Zusehen stellt sich heraus, daß Jochmann nicht etwa einen letzten Hort der Gefühlsseligkeit im Zeitalter der Prosa konzidieren will. Lyrische, liedhafte Poesie ist für ihn ein aktives, dem Fortschritt förderliches Prinzip, sie ist eine notwendige, dem Menschen unersetzliche Ausdrucksform. Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, von denen einige kurz angedeutet seien. Einer Beobachtung Huffons folgend, nach der sich die Stimme des Menschen durch Ausatmen bildet, die des Tieres durch Einatmen, kommt Jochmann zu der These: "In der Sprache des Menschen äußert sich etwas Inneres, das ihm selbst gehört, seine Seele; in der Stimme des Thieres tönt gewissermaaßen nur die allgemeine der es umgebenden Natur" 69 .

XXVI

Ulrich Kronauer

Auch auf einem anderen, von Jochmann nicht ausdrücklich beschrittenen Weg läßt sich der Ausdruck des ,Inneren' durch die Sprache und zwar die lyrische Sprache aufweisen. Gemeint sind die Sprachursprungstheorien des 18.Jahrhunderts, wie sie sich bei Vico, Herder, Rousseau u. a. finden. "Die Menschen machen großen Leidenschaften durch Gesang Luft", schreibt Vico in der übersetzungWebersund führt dies zusammen mit der Beobachtung, daß die Stummen und Stotternden sich singend am besten artikulieren können, als Beweis dafür an, daß sich die erste Sprache "im Ausbruch gewaltsamster Leidenschaften" "gesangsweise" bilden mußte 70 • In Analogie etwa zu Rousseaus Discours ,über die Ungleichheit', in dem durch die Rekonstruktion des Naturzustandes ursprüngliche Fähigkeiten des Menschen aufgewiesen werden, deren Bedeutung sich gerade daraus ergibt, daß sie den Menschen von je her zukommen, ließe sich die Relevanz des Lyrischen als der ursprünglichen Ausdrucksweise fundieren. An der Stelle unserer Abhandlung weiterhin, an der Jochmann auf die These verweist, Kunst sei Nachahmung der Natur, um dann seine Vorstellung wahrer Poesie davon abzuheben, mag er an eine Schrift gedacht haben, in der dem Prinzip der Nachahmung im Sinne Charles Batteux' Kunst als unmittelbare Sprache des Inneren übergeordnet wurde71. Ohne einen direkten Einfluß von Sir William Jones' Essay "On the arts, commonly called imitative" 72 nachweisen zu können - wie im Falle Vico fehlen die letzten Indizien- wird man doch zumindest die Entsprechung in wichtigen Punkten festhalten müssen. So heben beide die Beziehung zwischen Poesie und Musik hervor, die für Jochmann dann im Lied zu einer vollkommenen Verbindung wird. So ist für beide der Ausdruck der Gefühle die originäre künstlerische Aussageform; so findet sich schließlich beijones im Begriff der ,Sympathie' - durch sie erfahren und erkennen wir "den Ausdruck der Gefühle und Leidenschaften, die Stimme der Natur" 73 - ein Pendant zum Begriff des "Mitgefühls", der bei Jochmann im Zusammenhang seiner Erörterung der Klassifikationskriterien "classisch" und "romantisch" auftaucht. Die Kunst "durch Mitgefühl zu wirken" 74 ,

Einleitung

XXVII

hier bezogen auf die romantische Dichtungsweise (die nicht gleichzusetzen ist mit der deutschen Romantik; Jochmann orientiert sich an französischen Diskussionen zu diesem Thema), stellt für Jochmann den Inbegriff legitimer künstlerischer Ausdrucksweise dar, sie ergreift uns sogar noch in einigen Passagen der ansonsten ,überholten' Homerischen Epen, von ihr aus fällt ein Licht auf die Wirkung Miltons ebenso wie die des Malers Claude Lorrain. Anders als bei Jones aber, der zwar auch die Bedeutung der Lyrik besonders herausstellt, der aber die anderen Gattungen dabei nicht abwertet, führt bei Jochmann die historische Perspektive zu einer Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Berechtigung der jeweiligen Dichtungsgattungen und zu einer Konzentration auf die Lyrik als der genuinen, zeitlos gültigen dichterischen Ausdrucksform. Ausgehend von der Völkerwanderungszeit verdeutlicht er am Beispiel des europäischen Mittelalters, wie die liedhafte Poesie unter bestimmten Voraussetzungen sich voll entfalten kann. In der von Jochmann zitierten "Geschichte der Deutschen" von Michael Ignaz Schmidt findet sich eine Passage, die Jochmanns Auffassung von der Aufgabe und den Möglichkeiten der Poesie untermauem konnte. über das 1 L und beginnende 12. Jahrhundert schreibt Schmidt: die "Volkspoesie" hatte "ihren Gang noch wie zuvor. Namen und Thaten großer Männer wurden auch in spätem Zeiten noch gesungen. Hingegen durfte auch ein Großer nichts Niederträchtiges thun, ohne zu besorgen, daß er der Gegenstand eines Spottgesangs würde. Manchen Großen mußte dieses mehr in Zaun halten, als die unmächtige Geißel einer Satyre, die in einem Winkel ausgeheckt, meistens eben so unbekannt bleibt, als ihr Verfasser, oder die Vorstellungen eines oder des andem Patrioten, der von hundert niederträchtigen Schmeichlern überschrien wird. Der Jüngling mußte eben auch durch die um ihn erschallende Stimme des Volks mehr gerührt werden, als durch die schwache Stimme eines meistens gehaßten Lehrers, dessen Grundsätze noch dazu durch eigenes und fremdes Beyspiel nur zu oft über den Haufen geworfen werden" 75 _Im Anschluß an diese Ausfüh-

xxvm

Ulrich Kronauer

rungen stellt Schmidt dann die Frage, warum in späteren Zeiten diese Stimme des Volkes verstummte, eine Frage, auf die Jochmann in unserer Abhandlung eingeht'6 • Das Lied kann eine Form von Öffentlichkeit herstellen und dies besonders in Zeiten, in denen publizistische Öffentlichkeit noch nicht oder nicht mehr möglich ist. Diese Öffentlichkeit, die als moralische Instanz den Jüngling verpflichtet, wird im Spottlied dem Unterdrücker gefährlich. Das Lied bewirkt, indem es gemeinsamen Empfindungen Ausdruck verleiht, eine Stärkung der Gemeinschaft. Wenn der Dichter der ,Begeisterung' mächtig ist, wie es Schiller und Schubart waren, werden in seinem Lied nicht nur die Gefühle des Volkes vernehmbar, sondern auch Ansprüche, die sich aus diesen Gefühlen herleiten, und man geht sicher nicht fehl in der Annahme, daß die ,großen Gedanken', die nach Jochmann die ,echte Kunst' entzündet, mit der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit untrennbar verbunden sind. Die besondere Leistung Schillers und Schubarts hebt Jochmann in einer "Dichtung und Wahrheit" überschriebenen ,Erfahrungsfrucht' hervor 77 • Dieser Text setzt Prioritäten, die für unseren Autor bezeichnend sind: unter dem Aspekt der "Versittlichung und Bildung der Nation" läßt er auch die Gesänge zu ihrem Recht kommen, die nicht unmittelbar Stellung beziehen, die nicht aufgrundihrer leidenschaftlichen Parteinahme Resonanz finden in den "Tiefen des Volkes". Dennoch ist ihm die in der aktuellen politischen Situation sich engagierende Poesie die wichtigere, und so kommt es, daß er zwar im Titel seiner ,Erfahrungsfrucht' auf Goethe anspielt und ihn auch noch einmal, zusammen mit anderen, nennt, daß er dann aber ein Gedicht ausführlich zitiert, dessen Autor er nicht kennt und das nur wegen seiner politischen Aussage, keineswegs aber wegen seiner künstlerischen Gestalt bemerkenswert ist 78 • In seiner Abhandlung über die Rückschritte der Poesie erwähnt er den größten Dichter seiner Zeit nicht einmal mehr; ihm deshalb Ignoranz oder ein mangelhaftes Sensorium für künstlerische Qualität zu unterstellen verbietetjede Zeile seinervon höchster stilistischer Kunst zeugenden Abhandlung.

Einleitung

XXIX

Jochmann verkennt nicht etwa die Fähigkeiten des Lyrikers Goethe, er reagiert aber auf seine Weise auf dessen Schweigen angesichts einer Situation, in der, bei totaler Unterdrückung von Öffentlichkeit, gerade dem Liederdichter die Aufgabe zukommt, ein Medium für den Ausdruck der Empfindungen zu schaffen 79 • Jochmann wendet sich vom Schaffen der Zeitgenossen insgesamt ab, weil er nirgends die Absicht entdeckt, auf die gesellschaftlichen Zustände im Sinne des F ortschreitens einzuwirken und dies in einer Zeit, in der durch die Karlsbader Beschlüsse der Versuch gemacht worden ist, die Uhr zurückzudrehen, Rückschritte größten Ausmaßes einzuleiten. "Die Karlsbader Beschlüsse sollten verhindern, daß sich die bürgerliche Gesellschaft politisch formiert. Sie sind der Versuch, eine fundamentale geistige Entwicklung, die in breitesten Schichten Fuß gefaßt hatte, durch Kommunikationsunterbindung zu sistieren und rückgängig zu machen. Doch nicht die Absicht, epochale Ideen in ihrer Verbreitung zu drosseln, gibt dem Unternehmen die Besonderheit des Erstmaligen in der Geschichte deutscher Pressefreiheit, sondern das Bestreben, ein erwachtes politisches Freiheitsbedürfnis (Liberalismus) durch kommunikative Unfreiheit der Freiheit wieder zu entwöhnen. Es ist, mit Genz' Worten, ,die größte retrograde Bewegung, die seit 30 Jahren in Europa stattgefunden hat'. Ziel war die Rückkehr zum rein patriarchalischen Modell, wie es sich in Osterreich weitgehend erhalten hatte, wo nach Börnes Wort kein Tropfen des Menschheitsgeistes ohne Bewilligung über die Ufer spritzt" 80 • Man muß die geschichtliche Extremsituation berücksichtigen, wenn man die Schärfe und Bitterkeit richtig verstehen will, mit der Jochmann, ein entschiedener Vertreter der liberalen Position, das geistige Leben seiner Zeit charakterisiert. Bestimmte Züge müssen dann in grellstem Licht erscheinen, so z. B. die Neigung der herrschenden idealistischen Philosophie, der ,neuen Scholastik', sich schon durch die Exklusivität ihrer Terminologie jeglicher Öffentlichkeit zu entziehen81 ; so die Vorliebe der romantischen Dichter für Themen aus dem Mittelalter, was für Jochmann einer Flucht vor den anstehenden Problemen gleichkommt.

XXX

Ulrich Kronauer

Zwar nimmt Jochmann gegenüber den kulturellen Leistungen seiner Zeit eine Haltung der Distanz, ja der Ablehnung ein, dennoch bezweckt seine Kritik nur auf den ersten Blick die Entlarvung hybrider Selbsteinschätzung. Seine Absicht ist es in Wahrheit nicht, in Selbstüberheblichkeit befangene Künstler und Gelehrte durch Sarkasmus der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine Analyse ist vielmehr getragen von der Einsicht in geschichtliche Gegebenheiten, die "als Fortwirken bleibender Zeitverhältnisse" 82 die Einseitigkeit und überspanntheit in den Geistesprodukten seiner Zeit bedingen, deren Autoren primär als Betroffene, nicht als Verantwortliche gezeichnet werden. Die unzeitgemäße Herrschaft der Phantasie, die Jochmann diagnostiziert bezeichnenderweise bedient er sich in diesem Zusammenhang der medizinischen Terminologie, die das Unstimmige als ,Ungesundes' am derzeitigen bürgerlichen Zustand besonders gut ausdrückt - ist Folge der politischen Unfreiheit, die zwar empfunden wird, die aber nicht überwunden werden kann. Die vermeintliche Hochblüte einer produktiven Einbildungskraft erscheint bei Jochmann als unfruchtbare Kompensation bei einem Bürgertum, das von einer auf politische und wirtschaftliche Praxis gerichteten Selbstverwirklichung ausgeschlossen ist. In Bezug auf "die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770-1800" hat Wilhelm Dilthey etwa 40 Jahre nach Jochmanns Abhandlung, in seiner Baseler Antrittsvorlesung von 186 7, den Schwerpunkt dann wieder ganz anders, im Sinne des oben bereits erwähnten Kulturideals nämlich, gesetzt. Während es für Jochmann um den zivilisatorischen Fortschritt geht, der erst möglich wird, wenn sich die Menschen nicht nur als geistige, sondern ebenso als politische Wesen entfalten können und zwar deshalb, weil sie nicht mehr von "einer Minderzahl bevorrechteter Nutznießer der Gesellschaft" 83 beherrscht und gegängelt werden, tritt bei Dilthey dann wieder die Bedeutung der inneren Bildung und Kultivierung in den Vordergrund. Dilthey macht aus der Not - der Unmöglichkeit, am politischen Leben aktiv teilzunehmen - eine Tugend; so erklären sich für ihn nicht nur die Leistungen der großen

Einleitung

XXXI

Denker und Dichter, sondern auch die Bildungsaktivitäten des gehobenen Bürgertums aus einer einseitigen, aber deshalb umso fruchtbareren Anwendung geistiger Kräfte, ohne daß dabei diese Einseitigkeit als Mangel oder Entbehrung empfunden würde. Er bestätigt damit gewissermaßen noch einmal, aus der zeitlichen Distanz, das Selbstwertgefühl des deutschen Bildungsbürgers des ausgehenden 18. aber auch des beginnenden 19.Jahrhunderts84 . Unsere Abhandlung aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts dokumentiert dagegen bereits den entschiedenen Widerspruch gegen die These, die Menschen, ohnmächtig gegenüber den "äußeren Bedingungen" des Daseins, könnten in der ,inneren Welt der Seele' (Dilthey) dafür zureichend entschädigt werden bzw. wären in der Lage, dieser Beeinträchtigung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten sogar noch Vorteile abzugewinnen. Auch war am Beispiel der Vereinigten Staaten von Nordamerika augenfällig geworden, daß andere, bessere Lebensmöglichkeiten durchaus realisierbar sind, und die nicht nur im Zuge der französischen Revolution sondern auch in den Befreiungskriegen gegen Napoleon laut gewordene Forderung nach bürgerlicher Freiheit hatte nicht zuletzt durch das Gegenbild der ,neuen Welt' besonderen Nachdruck erhalten. Gleichwohl stellt Nordamerika für Jochmann nicht das Optimum des Möglichen und Wünschenswerten dar. Zwar ist der Weg in die richtige Richtung eingeschlagen, die nüchterne, auf praktische Lebensbewältigung gerichtete Verstandesart der Bürger der neuen Welt ist aber der Ergänzung und Erweiterung fähig. Am Ende unserer Abhandlung erscheint die "wahrhaft menschliche Gesellschaft"85 am Horizont der Jochmannsehen Geschichtskonstruktion. In dieser Gesellschaft, in der durch den Stand der Technik ebenso wie durch die Organisation der menschlichen Beziehungen dem Menschen würdige Lebensbedingungen geschaffen sind, kann, so deutet Jochmann an, die schöpferische Einbildungskraft, die den Menschen zunächst vor allem auf Irrwege geführt hatte, endlich ganz im Sinne einer Bereicherung der menschlichen Existenz tätig werden. Die schönen Künste zumal, deren bisherige Willfährigkeit gegenüber den Mächtigen und den Lastern Jochmann mit

XXXII

Ulrich Kronauer

äußerster Schroffheit kennzeichnet, können nun erst zu ihrer höchsten Entfaltung kommen. Spekulationen darüber, wie man sich die Auswirkung dieser "gescheuteren Tätigkeit" der Einbildungskraft86 auf die Poesie vorzustellen habe, sind allerdings enge Grenzen gezogen. Die Frage nach der moralischen Substanz wird, wie in Rousseaus Analyse einer Fabel La Fontaines im "Emile", nach wie vor im Vordergrund stehen87 ; überlegungen, die in Richtung einer Erweiterung des artistischen Bereichs gehen sindJochmannebenso fremd wie etwaKants Ausführungen zum ,interesselosen Wohlgefallen' in der "Kritik der Urteilskraft" oder allgemein die Bemühungen, die Autonomie der Kunst zu etablieren. Auch in Bezug auf die Priorität einer Dichtungsgattung ist Jochmanns Position eindeutig. Triumphgesänge und Jubellieder werden das Glück dieser neuen, noch fernen Zeit zum Ausdruck bringen. An einer Stelle sagt er es unmißverständlich: "nur die lyrische Poesie, die natürlichste in jedem Zeitalter, war auch die einzige, die niemals aufhören konnte Poesie zu sein, die einzige, die es den gebildetsten Völkern geblieben ist, und die ihnen dereinst auch wohl allein dafür gelten wird" 88 • Bei den Vorarbeiten zu dieser Edition haben mich die Jochmannexperten Dr. Eberhard Haufe (Weimar), Prof. Dr. Christian Johannes Wagenknecht (Göttingen) und Dr. Carl Winter (Heidelberg) mit Auskünften und Hinweisen unterstützt. Ihnen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Dank schulde ich auch den Freunden und Bekannten, mit denen ich mein Projekt diskutieren konnte und von denen ich wichtige Anregungen erhalten habe.

Anmerkungen zur Einleitung 1. Jochmann selbst hat seine Schrift .,Aufsatz" genannt, wobei

,Abhandlung' aber dem immerhin 71 (bzw. 59 in dieser Ausgabe) Seiten starken Text eher gerecht wird. Vgl. Rückschritte (so wird unser Text im Folgenden abgekürzt) S. 269/18 Anm. (die Seitenangaben vor dem Schrägstrich beziehen sich auf die Erstveröffentlichung des Textes in Carl Gustav Jochmann, Uber die

Einleitung

2. 3. 4. 5. 6. 7.

8. 9. 10. 11. 12.

13. 14.

15. 16.

XXXIII

Sprache, 1828 - vgl. Literaturverzeichnis; die Seitenangaben nach dem Schrägstrich beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe). Vgl. das Literaturverzeichnis unserer Ausgabe. Vgl. Literaturverzeichnis. Zitiert in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, FrankfurtiM., Bd. 11,3, 1977, S. 1393. Ebd. Vgl. Eberhard Haufes Ausführungen zu der Edition der Jochmannsehen Aphorismen S. 292ff. seiner Jochmannausgabe (hierzu vgl. Literaturverzeichnis). So verstand AdornoJochmanns Abhandlung. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Bd. 7 (Ästhetische Theorie). Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, FrankfurtiM. 1970, s. 501. Benjamins Einleitung (im Folgenden: Benjamin, Einleitung) wird zitiert nach: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 11,2, 1977, S. 572ff. Zu den Dissertationen von Werner B. Koch und Gerhard Wagner vgl. Literaturverzeichnis. über die Priorität an dieser Entdeckung ist es zwischen ihm und Benjamin zu Differenzen gekommen. Vgl. Benjamin, Ges. Schriften 11,3, S. 1397ff. Vgl. Literaturverzeichnis. Vgl. Literaturverzeichnis. Wagenknecht gibt S. 443 seiner Ausgabe vier Konjekturen für unseren Text an: S. 303, Zeile 30 146, 11 statt ,ja überflüssiger" je überflüssiger; S. 313, Z. 29 I 54,11 statt "sprudeln wir" sprudeln wie; S. 316, Z. 13 156,13 statt "das es" daß es; S. 316, Z. 19 I 56,18 statt "Vorherrschers" Vorherrschens. Unsere Ausgabe bietet den Text nach der 196 7 von Werner Kraft hrsg. Ausgabe mit den o.g. Konjekturen in modernisierter Orthographie; entsprechend sind auch die im Anhang wiedergegebenen Jochmann-Texte orthographisch den heutigen Regeln angeglichen. Benjamin, EinleitungS. 579. Die baltischen Provinzen Rußlands. Politische und culturgeschichtliche Aufsätze von Julius Eckardt, Leipzig 1868, S. 271. Wagenknecht hat den Jochmann betreffenden Aufsatz dankenswerterweise in seine Edition aufgenommen. Der Aufsatz war zu· erst 1863 in der Baltischen Monatsschrift Bd. 7 erschienen. Vgl. Literaturverzeichnis. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hrsg. von J. S. Ersch und J. G. Gruber. Zweite Section, zwanzigster Teil, Leipzig 1842, S. 115-117. Zur Jochmannrezeption im 19.Jh. vgl. Wagners Diss. S. 199 ff.

XXXIV

Ulrich Kronauer

17. Zschokke S. III/IV Anm. Es sind dies, neben dem Buch "Über die Sprache" folgende Werke: Die Hierarchie und ihre Bundesgenossen in Frankreich. Beiträge zur neuern Kirchengeschichte (Aarau 1823); Betrachtungen über den Protestantismus (Heidelberg 1826); Briefe eines Homöopathischgeheilten an die zünftigen Widersacher der Homöopathie (Heidelberg 1829). 18. Werner Kraft, Carl Gustav Jochmann und sein Kreis (vgl. Literaturverzeichnis), S. 298. 19. Im Schlabrendorfartikel der Allgemeinen Deutschen Biographie findet sich folgender Satz: "In einer s. Z. vielgerühmten Schrift ,Ueber die Sprache' ... erklärt ein nicht genannter Freund und Verehrer Schlabrendorf's im wesentlichen dessen Ideen vorzutragen". Bd. 31, 1890, S. 322. Der Eindruck von Jochmanns Unselbständigkeit konnte entstehen, weil der erste Teil seines Buches, der den Titel trägt "Ueber den Rhythmus" und der untertitelt ist "Bruchstück aus den Denkwürdigkeiten des Grafen S ... "hauptsächlich Äußerungen Schlabrendorfs enthält. 20. Über Jochmanns Leben unterrichtet neben Eckardts Studie vor allem Eberhard Haufe in seiner Jochmannedition (S. 269ff.). Auch Wagners Dissertation hat einen ausführlichen biographischen Teil. 21. Für unsere Abhandlung vgl. vor allem Merkeis Schrift "Ueber Deutschland, wie ich es nach einer zehnjährigen Entfernung wieder fand". Dort Bd. II, Riga 1818, viertes Buch, zweiter Brief. (Enthalten in: Freimütiges aus den Schriften Garlieb Merkels. Hrsg. von Horst Adameck, Berlin 1959, S. 464ff.) C. Mettig geht in seiner "Geschichte der Stadt Riga" (Riga 1897) in dem Kapitel "Die jüngeren Repräsentanten der Aufklärung" zwar ausführlich auf Merke! ein, erwähnt Jochmann aber nicht. 22. Er hat diesem Thema auch eine eigene Schrift gewidmet: "Ober die Öffentlichkeit"; vgl. Haufes Edition S. 203ff. (soweit möglich, werden die "Reliquien" auf diese Edition umgelesen). 23. Der Brief an Sengbusch vom 11. Juni 1819 ist abgedruckt in den "Reliquien" Bd. I, S. 3ff. und, gekürzt, in Krafts Edition "Die Rückschritte ... ". 24. Kraft, C.G. Jochmann und sein Kreis, S. 13. 25. Eckardt, a.a.O., S. 301. 26. Herbert Derwein, Heidelberg im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Ein Stück badischer Bürgergeschichte. Heidelberg 1958, s. 16. 2 7. Zitiert bei Eckardt, S. 313. 28. In einem Text, der "Das Rätsel" überschrieben ist; Haufes Edition, S. 119. 29. Ebd. 30. Rückschritte, S. 251/4. 31. J.G. Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd.

Einleitung

32. 33. 34. 35. 36. 37.

38. 39.

40.

41.

XXXV

22, Berlin 1880, S. 144 (Herders Werke werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert). Christopher Caudwell, Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit. Beiträge zur materialistischen Ästhetik. Hrsg. v. Peter Hamm, München 1971, S. 11. Ebd. Herders Werke, Bd. 1, 1877, S. 153f. Als Quelle für Jochmann kommt in diesem Zusammenhang auch Jacob Grimms Abband· lung "Von der Poesie im Recht" (1816) in Betracht. Herders Werke, Bd. 22, S. 145. In dem Fragment "Poetische und philosophische Sprache sind verschieden", Herders Werke Bd. 1, S. 156. Gert Kalow, Poesie ist Nachricht. Mündliche Tradition in Vorgeschichte und Gegenwart. München/Zürich 1975, S. 22. Im "Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst" beschreibt Herder, wie die "heiligen Gesänge" früher Völker nicht zuletzt deshalb entstehen, weil die Gebete eine besonders eindrückliche (poetische) Gestalt annehmen, die im Gedächtnis haften bleibt. Herders Werke, Bd. 32 (1899), S. 107. Benjamin, Einleitung, S. 584. Giambattista Vico, Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Aus dem Italienischen von Wilhelm Ernst Weber. Leipzig 1822, S. 141 Fußnote. Webers Fußnote lautet "Wie auch Herder aufstellt" und bezieht sich auf Vicos 58. und 59. These, die Weber wie folgt übersetzt: "58. Die Stummen geben ihre unförmlichen Töne gesangweise von sich: und die Stammelnden bringen singend ihre Zunge gehörig zum Aussprechen. 59. Die Menschen machen großen Leidenschaften durch Gesang Luft, wie es sich bewährt an solchen, die von einem höchsten Schmerze, oder von einer höchsten Lust ergriffen sind. Diese beiden Grundsätze vorausgestellt, da die Stifter der heidnischen Völker in einen wilden Zustand stummer Geschöpfe übergegangen waren, und eben deshalb stumpfsinnig ihrer selbst nicht inne werden konnten, als im Ausbruchgewaltsamster Leidenschaften, mußten sie ihre ersten Sprachen gesangweise bilden." Erich Auerbach, Vico und der Volksgeist. In: Studia Romanica. Gedenkschrift für Eugen Lerch. Stuttgart 1955 S. 82ff. Vgl. auch: Ders., Vico und Herder. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 10. Jahrgang, 1932, X. Bd., S. 67lff. Zur Beziehung Vico - Herder vgl. z. B. auch: Benedetto Croce, Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck (Gesammelte Philosophische Schriften in deutscher Übertragung, hrsg. von Hans Feist, 1. Reihe Bd. 1) Tübingen 1930, S. 245 u. 261. KarlOtto

XXXVI

42. 43. 44.

45. 46. 4 7.

48.

49. 50.

51. 52. 53.

54. 55. 56.

Ulrich Kronauer

Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico (Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 8) Bonn 1963, S. 3 76 Anm. Isaiah Berlin, Vico and Herder. Two studies in the history of ideas. London 1976. Jänos Rathmann, Zur Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders. Budapest 19 78, S.45ff. Benjamin, Einleitung, S. 584. Vgl. Rückschritte S. 277f./25f. und oben Anm. 39 (= Vicos 58. These). Herders Werke; Bd. 5. So hatte der frühe Herder seiner Zeit den "Tod der Poesie" bescheinigt. Vgl. Manfred Jobst, Herders Konzeption einer kritischen Literaturgeschichte in den "Fragmenten". Diss. Giessen 1973, s. 22f. Vgl. Anhangsteil, Nr. IV. Rückschritte, S. 255/8. Der Text, auf den sich der Abschnitt bezieht, ist "Civilisation" überschrieben und steht im zweiten Band der "Reliquien" (Zitat S. 91 ); vgl. Haufes Edition, S. 154ff. und den Anhangsteil unserer Edition Nr. I. Zur ,Perfektibilität' siehe Haufes Edition, S. 97. Vgl. Hellenische Poleis. Hrsg. von Elisabeth Charlotte Welskopf. Bd. 111 Berlin 1974; dort: Wolfgang Heise, Zur Krise des Klassizismus in Deutschland, S. 1 719f. An Heise schließt Wagner in seiner Dissertation an, vgl. S. 2 5 ff. In dem bereits zitierten Text "Das Rätsel" (vgl. Anm. 28), S. 118. Jochmann charakterisiert seinen Standort in dem Text "Die drei politischen Schulen", der als Nr. 18 in den Aufzeichnungen "Die französischen Staatsverwandlungen" enthalten ist (Reliquien Bd. II, S. 281-283); vgl. Haufes Edition, S. 247f. und Anhangsteil Nr. 111. Haufes Edition, S. 93. Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1976, S. 221. J .J. Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. In: JJ. Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, hrsg. von Kurt Weigand, Harnburg 2 1971, S. 108ff. (Philosophische Bibliothek, Bd. 243.) S. 254/7 der ,Rückschritte' nimmt Jochmann Rousseaus Kritik an der Hobhesseben These vom ursprünglichen Krieg aller gegen alle auf (über die Ungleichheit, a.a.O., S. 166ff.). Rückschritte, S. 262ff./13ff. So heißt es in Nr. 74 der Aphorismen. Zitiert nach der Übersetzung von J. H. v. Kirchmann, Franz Baco's Neues Organon. Berlin 1870, S. 124f. Im Original heißt es: quae enim in natura

Einleitung

57.

58. 59. 60. 61.

62. 63. 64. 65. 66. 67. 68.

69.

XXXVII

fundata sunt crescunt et augentur: quae autem in opinione, variantur non augentur ... in artibus autem mechanicis, quae in natura et experientiae luce fundatae sunt ... (The Works of Francis Bacon. Neudruck der Ausgabe von Spedding, Ellis und Heath, London 1857-1874, Bd. I, Stuttgart-Bad Canstatt 1963, s. 183). Zur Fortschrittsthematik vgl. den überaus informativen Artikel "Fortschritt" im Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe", hrsg. v. 0. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Bd. II, Stuttgart 19 75; dort vor allem die von Reinhart Koselleck stammenden Ausführungen, S. 371ff. Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler, I. Abteilung, Bd. 7 (1966), S. 7. A. W. Schlegel, Ueber Litteratur, Kunst und Geist des Zeitalters. In: Europa. Eine Zeitschrift. Hrsg. von Fr. Schlegel Bd. II, 1803, s. 76. A. W. Schlegel, a.a.O., S. 30. Rückschritte, S. 249/3. In dem bereits erwähnten Brief von 1819 (vgl. Anm. 23) schreibt Jochmann über den Naturforscher und Naturphilosophen Oken (S. 6f.): "Ob denn die Leute wirklich noch glauben, daß ihnen aus dem Schulstaube der Baum des Lebens erblühen werde, nachdem eben Oken, der kräftigste in diesem Staube ... die Kasten= Einrichtungen der Indier und der Egypter als das Ideal aller Staatsverfassung gerühmt, weil- man während ihrer Dauer die kolossalen Felsentempel bei Goa und Pyramiden gebaut!" Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. I, Frankfurt/M. 1976, S. 2. Elias, a.a.O., S. 3 f. Vgl. die beiden Aufsätze "Die Bürgschaften der englischen Verfassung" (in Reliquien Bd. I) und ,.Englands Freiheit" (in Reli · quien Bd. II). Platon, Staat, Buch X. Aristoteles, Poetik, 1451 b, 1459 a. Über die Sprache, S. 215. Vgl. auch Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, achter Satz: "Man kann die Geschichte der Menschengattung iin großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich - und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann". Zitiert nach: Immanuel Kant, Politische Schriften. Hrsg. von 0. H. von der Gablentz, Köln und Opladen 1965 (Klassiker der Politik Bd. 1 ), S. 20. Über die Sprache, S. 237.

XXXVIII

Ulrich Kronauer

70. Vicos 58. und 59. These; vgl. oben Anm. 39. 71. Rückschritte, S. 280/27. Vgl. Charles Batteux, Les Beaux Arts reduits a un meme principe, I 746. 72. The works of Sir William Jones in six volumes. Vol. IV London 1799, S. 549ff. Siehe Anhangsteil Nr. V. 73. Herbert Dieckmann, Zur Theorie der Lyrik im 18.Jahrhundert in Frankreich, mit gelegentlicher Beriicksichtigung der englischen Kritik. In: Ders., Studien zur europäischen Aufklärung, München 1974, S. 335. 74. Rückschritte, S. 303/45. 7 5. Michael Ignaz Schmidt, Geschichte der Deutschen. Zweyter Theil, Ulm 1778, S. 372f. 7 6. Rückschritte, S. 294f./39f. 77. Reliquien III, 158ff. (bei Haufe, S. 63ff.). Die Überschrift zu der Aphorismensammlung, zu der "Dichtung und Wahrheit" gehört: "Erfahrungsfrüchte", stammt wahrscheinlich von Zschokke. (Siehe Anhangsteil Nr. II). 78. Bei dem Verfasser des Gedichts handelt es sich vielleicht umJoh. Friedr. Herel. Vgl. Berliner Gedichte 1763-1806. Hrsg. von Ludwig Geiger, Berlin 1890, S. XIII. Dort ist auch das ganze, sehr umfangreiche Gedicht abgedruckt, S. 29ff. 79. Im Brief von 1819 (vgl. Anm. 23) macht Jochmann bissige Bemerkungen über den "Großherzoglichen Sachsen=Weimarschen Herrn Geheimen=Rath und mehrerer hohen Orden Ritter von G." (S. 29). 80. Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Neuwied und Berlin 1966, S. 244. 81. Rückschritte, S. 313/53. Zu Jochmanns Kritik findet sich eine Entsprechung in einem 1848 erschienenen Aufsatz des Schweizer Schriftstellers und Philosophen H. F. Amiel: ,.Berlin avant les derniers evenemens", in dem dieser den Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Entwicklung charakterisiert: "Et d'abord, dans sa vie litteraire remarquons des I' entree que cette nombreuse classe d'hommes de talent, levites du style, chevaliers de la plume, qu'on nomme Iitterateurs et ecrivains, n'existe pas a Berlin. I1 y a ici des Litteraten, qui font de Ia Belletristik, mais que l'on dedaigne, et des savants qui font de gros Iivres, et que l'on considere. Futilite ou science sont Ies deux termes, Je milieu proprement litteraire fait defaut; comme en generat les livres classiques par Ia forme, et severes pour Je fond (nos Rousseau, Montesquieu, Buffon), sont excessivement rares dans Ia Iitterature allemande. Les livres graves de l'AIIemagne ne s'adressent qu'a une aristoaatie de lecteurs, aux gens de metier, ou par extreme condescendance aux Gebildete (notre ancienne categorie des lettres); mais ces derniers ouvrages cessent par cela meme d'etre Jus de ceux qui ont Ia pretention de seien-

Einleitung

ce (!es Gelehrte). Cette decomposition decoule immediatement du manque de vie publique; le milieu national manquant, on s' adresse teile ou teile caste ou classe". Zitiert in: Fritz Schalk, Zur Erforschung der französischen Aufklärung. II. Teil. In: Volkstum und Kultur der Romanen 5 (1932), S. 290f. In den "Briefe(n) eines Homöopathischgeheilten" (vgl. Anm. 1 7) gibt es einen versteckten Hinweis auf Hege!, der erkennen läßt, daß Jochmann keine sehr positive Einstellung zu diesem Philosophen hatte. Jochmann führt ironisch Hegels These, "alles Wirkliche" sei "auch vernünftig" (S. 51) an. (Auf diese Stelle hat mich Christian Johannes Wagenknecht hingewiesen) Benjamins Frage, ob Jochmann auf der Hegeischen Lehre aufgebaut habe (Benjamin, EinleitungS. 583) wird man ganz sicher verneinen können. Rückschritte, S. 308/49. Rückschritte, S. 315/55. "Wie man es bezeichne: nach Wohlsein, nach Glück, nach Entfaltung inneren Wertes und freier Kraft streben alle Generationen der Menschen. In diesem Sinn gestalten sie die äußeren Bedingungen ihres Daseins um, die physischen, die sozialen, die politischen. Aber aus diesen äußeren Bedingungen fließen Glück und Wert erst, wenn sie auf die innere Welt unserer Seele, auf uns selbst bezogen werden. Die Umgestaltung dieser inneren Welt ist also der zweite, nicht minder wichtige Faktor für die Gestaltung eines befriedigten Daseins. Und wenn nun gar die äußeren Bedingungen, wie damals in Deutschland der Fall war, stark und unveränderlich uns gegenüberstehen, dann wirft sich die ganze geistige Kraft einer Generation darauf. dies Selbst umzugestalten. In dem Problem der Entwicklung unserer Kraft ist alsdann unsere äußere Lage wie eine stetige Größe, diese Tiefe des Selbst allein veränderlich, allein Quelle von Glück und Leid, von Wert und Unwert, von Freiheit und Knechtschaft. Nenne ich nun eine Konzeption, in welcher sich dies unser Selbst zu einem wertvollen, in sich befriedigten Ganzen entwickelt vorschwebt, Lebensideal: so erhob sich also damals nicht nur in einzelnen bedeutend angelegten Menschen, sondern in den gebildeten Klassen der Nation überhaupt, der Drang, ein neues Lebensideal zu gestalten - eine Frage nach der Bestimmung des Menschen - nach dem Gehalt eines wahrhaft wertvollen Lebens, nach echter Bildung". Wilhelm Dilthey, Die Philosophie des Lebens. Eine Auswahl aus seinen Schriften 1867-1910. Hrsg. von Hermann Nohl, Frankfurt/M. 1946, S. 9f: Rückschritte, S. 320/59. Rückschritte, S. 317/5 6. Rückschritte, S. 318/58; vgl. Rousseaus ,.Emile", zweites Buch. Rückschritte, S. 306/48.

a

82. 83. 84.

85. 86. 87. 88.

XXXIX

LITERATUR VERZEICHNIS

Editionen Jochmannscher Schriften C. G. Jochmann, Die Rückschritte der Poesie. Gekürzte Fassung, mit einer Einleitung und Auszügen aus Zschokkes Edition der ,Reli· quien' hrsg. von Walter Benjamin. In: Studies in Philosophy and Social Science (formerly: Zeitschrift für Sozialforschung) Vol. VIII/1939. New York City 1939-1940. nr. 1-2. p. 92-114. (Ein Nachdruck der ,Zeitschrift' erschien 1980). dasselbe (ohne die Auszüge aus Zschokkes Edition) in: Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft. 5. Jahrgang Heft 26,Juli 1963 (3. Aufl. November 1970) S. 2-17. C. G. Jochmann, Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften. Hrsg. von Werner Kraft, Frankfurt/M. 1967. (sammlung insel 26). C. G. Jochmann, Über die Sprache. Faksimiledruck nach der Originalausgabe von 1828, mit Schlabrendorfs "Bemerkungen über Sprache" und der Jochmann-Biographie von Julius Eckardt hrsg. von Christian J ohannes Wagenknecht, Göttingen 1968. C. G. Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke. 3 Bände, Hechingen 1836-1838. C. G. Jochmann, Die unzeitige Wahrheit. Aphorismen, Glossen und der Essay "Über die Öffentlichkeit". Herausgegeben, erläutert und mit einer Lebenschronik versehen von Eberhard Haufe. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, Leipzig u. Weimar 1980. Zu weiteren Schriften Jochmanns vgl. die Anmerkung 17 unserer Einleitung sowie die Bibliographien in den Editionen Haufes, Krafts und Wagenknechts.

Literatur zu Jochmann Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II 2, Frankfurt/M. 1977, S. 5 72ff. (=Einleitung zu den "Rückschritten"). Werner B. Koch, Antizipation des Fortschritts oder utopische Regression - Zur Kritik der bürgerlichen Kulturtheorie. Diss. Frankfurt/M. 1978. Darin: Deutschland und ein Republikaner. Carl Gustav Jochmann: Die Rückschritte der Poesie. S. 34-94. Werner Kraft, Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen

XLII

Literaturverzeichnis

Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz. München 1972. -,Jochmann, Carl Gustav. - In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. X, Berlin 1974. Uwe Pörksen, Plädoyer ftir politische Kultur. Ober Carl Gustav Jochmann. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift ftir europäisches Denken. Heft 2, 35.Jahrgang, Februar 1981, S. 198-204. Gerhard Wagner, Jenseits von Klassik und Romantik. Die geschichtsphilosophischen, sozialen und ästhetischen Anschauungen von Carl Gustav Jochmann und ihre Stellung in der Geschichte der progressiv-bürgerlichen deutschen Ideologie von 1789 bis 1830. Diss. (masch.) Berlin (Ost) 1978. -, Prometheus aus Pernau. Geschichtstheoretische, sozialkritische und ästhetische Dimensionen im Werk Carl Gustav Jochmanns. In: Weimarer Beiträge. Heft 7, 27. Jahrgang 1981, S. 53-72. Zu verweisen ist auch auf die Ausführungen Haufes, Krafts, Wagenknechts und Zschokkes in deren Editionen.

CARL GUSTAV JOCHMANN

DIE RÜCKSCHRITTE DER POESIE

Der Text der Schrift "Die Rückschritte der Poesie" wurde mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlages, Frankfurt a. Main, dem Band 26 der "sammlung insel" "Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften", herausgegeben von Werner Kraft 1967, S. 122-178, entnommen.

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

3

Es gibt Erscheinungen in der Geschichte des Menschen, die uns auf den ersten Anblick wie Rückschritte desselben vorkommen, und die es an sich und in ihrer Vereinzelung auch wohl sein mochten, die aber im Zusammenhange mit andern sie begleitenden Umständen und in ihren entfernteren Beziehungen zu allen Zeiten am unverkennbarstell die Fortschritte unsers Geschlechts beurkundeten. In mehreren solchen Fällen bedarf es, um sich davon zu überzeugen, eben keines außerordentlichen Scharfsinnes. Außer einigen Stubengelehrten kommt schwerlich noch jemand in Versuchung, in jenen riesenmäßigen Werken des grauesten Altertumes, den ungeheuren Denkmälern einer ebenso ungeheuren Herabwürdigung tagelöhnernder Millionen, etwas mehr zu bewundern als ihre Massen, kommt schwerlich noch jemand in Versuchung, die Unmöglichkeit, es ihren Erbauern gleichzutun, für ein Unglück anzusehen und sich, weil man in ihnen Pyramiden auftürmte, in die Zeiten ägyptischer Priesterfratzen zurückzusehnen; aber näher liegt uns das Mißverständnis, wo sich der Umfang, nicht einer bloßen Gewaltherrschaft und ihrer Leistungen, sondern irgend eines geistigen Wirkungskreises verengerte, wo Grundsätze und Fähigkeiten, ohne gleichmäßig in der herrschenden Meinung zu sinken, an Macht und äußerem Einflusse bedeutend einbüßten. Je mehr wir sie hochzuschätzen fortfahren, je größere Bewunderung uns die Sagen von ihrer früheren Allmacht einflößen, desto widerwärtiger trifft uns der Anblick ihrer gegenwärtigen Schwäche, desto geneigter sind wir, alles Vergangene auch für verloren und alles Verlorene für unersetzt und unersetzlich anzusehen. Wichtigere Beispiele dieser Art liefert uns die Geschichte der allmählichen· Abspannung so mancher sittlichen Triebfedern, wie der Vaterlandsliebe, des Bürgersinnes und andrer, allgemeiner verständliche die Geschichte mehrerer Kunstfertig-

4

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

keiten und Künste, namentlich die der Poesie, und ihrer gleichzeitig schwindenden innern Vollendung und äußern Wirksamkeit. Uns von dem alten Glanze und Einflusse der Dichtkunst zu überzeugen, bedarf es keiner Hinweisung auf jene Sagen ihrer frühesten Herrschaft auch über die tierische und unbeseelte Natur. Die Wunder der Poesie sind freilich auch nur Poesie, aber in einem uns näheren und besser beurkundeten Zeitalter finden sich Tatsachen, auf die jene Bilder hindeuteten, und ist sie fortdauernd das große Werkzeug des Gesetzgebers, der nicht wilde Tiere, aber wildere Menschen bändigt, und auf dessen Gebot, wenn auch nicht die Steine zu den Mauern seiner Städte, doch die Bewohner derselben sich versammeln und ineinander fügen. Lange nachher noch umfaßt ihr weites Reich was immer im ganzen Gesichtskreise des Menschen, als Geschichte und Religion, als Kunst und Lehre, ihm wichtig und erfreulich ist, alle seine Erinnerungen und Hoffnungen, alle Wissenschaft und allen Genuß, und bleiben ihre Schöpfungen einer so hohen Bestimmung wert. Je älter ein Volk, desto bedeutsamer seine Poesie, je älter seine Dichter, desto unerreichbarer ihre Werke. Ein einziger Blick auf die Gesänge der alten Welt und auf die geschriebene Dichterei der neueren Völker liefert uns den Beweis, daß die Schritte der Ietztern auf diesem Wege nichts weniger als Fortschritte waren, daß zu der eingelegten Arbeit unsrer geverselten Schriften ältere Fundgruben den Stoff hergaben, daß aus dem hohen Ernste der früheren Dichtkunst ein mehr oder minder offenbarer Spaß und aus dem Lehrer des Volkes der zeitvertreibende Gesellschafter einiger Leute von guter Erziehung geworden ist. Ob aber das Herabsinken der Poesie von ihrer alten Hoheit zu ihrer gegenwärtigen Unbedeutsamkeit, an sich unleugbar ein Verlust, auch in andern Beziehungen dafür zu halten sei, läßt sich nur aus den Verhältnissen beurteilen, die als wirkende Ursachen dem Geiste des Menschen jene vorherrschende

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

5

und fast ausschließliche Richtung auf das Anwenden und Ausbilden derselben mitteilten;- aus Verhältnissen, denn sich in dieser Hinsicht nur auf höhere und allgemeinere Fähigkeiten der älteren Dichter beziehen wollen, hieße, was zu erklären ist als erklärt voraussetzen, da es hier doch eben auf die Gründe ankommt, aus welchen Geisteskräfte, die, wie die Erfahrung lehrt, einer unendlich mannigfachen Entwickelung fähig sind, in einem gewissen Zeitpunkte nur auf ein einziges Ziel, und auf dieses mit so entschiedenem Erfolge hinstrebten. Solcher Gründe lassen sich teils in den Stoffen, teils in den ihre Form bedingenden Mitteln der Poesie hauptsächlich drei erkennen: eine ihr bestimmter zusagende, mehr dichterische Beschaffenheit aller Meinungen und Kenntnisse des Menschen, ein entschiedener Mangel an zweckdienlicheren Hilfsmitteln zur Erhaltung und Verbreitung dieser geistigen Besitztümer, und endlich die in Betreff aller, vergleichungsweise noch armen und ungebildeten Sprachen bemerkbare, größere Leichtigkeit ihrer an irgend einen festgesetzten Rhythmus geknüpften Anwendung, im Gegensatze zu desto größeren Schwierigkeiten ihres freieren Gebrauchs. Die dichterische Beschaffenheit alles frühesten Glaubens und Wissens der Menschen folgt unmittelbar aus jenem früheren Erwachen und Vorherrschen der Phantasie, das wir noch jetzt im Einzelnen und Allgemeinen, an Kindern und in ihrem Kindesalter lebenden Völkern wahrnehmen; aus dem früheren Übergewichte, nicht jener Einbildungskraft im weiteren Sinne, vermöge deren wir uns Empfindungen und Vorstellungen von abwesenden Gegenständen vergegenwärtigen, oder dem Gedächtnis anvertraute Eindrücke der Vergangenheit in uns erneuern, sondern des eigentlichen Dichtergeistes, der einzelne Vorstellungen und Empfindungen zu Darstellungen vereinigt, welchen in diesem neuen Zusammenhange weder in der Ferne noch in der Vergangenheit ein Urbild entspricht. Kräfte, die miteinander nahe verwandt, und oft

6

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

verwechselt, sich doch wesentlich unterscheiden, und von welchen die erste den übrigen Seelenkräften zu ihrer Tätigkeit so unentbehrlich ist, als ihnen die zweite, wo immer sie diese Tätigkeit allein in Anspruch nimmt, Gefahren droht. Entwikkelt sich die Einbildungskraft im allgemeinen Verstande nur gemeinschaftlich mit allen übrigen Geistesfähigkeiten, erstreckt sich ihre Wirksamkeit, man könnte sagen, ihre Verwaltung nur so weit und nicht weiter als der von unserm äußern und innern Wahrnehmungsvermögen gesammelte Schatz von Empfindungen und Vorstellungen, so zeigt hingegen die Phantasie im engeren Sinne sich um so geschäftiger, je beschränkter noch die Ausbeute des wirklichen Lebens, je mangelhafter die Bruchstücke, die sie zu einem Ganzen vereinigen will. Hält jene auf dem Wege zur Wahrheit mit allen übrigen Anlagen und Fähigkeiten des Geistes gleichen Schritt, so fliegt hingegen der Dichtergeist, ein ewiger Zeuge, aber ein täuschender Beruhiger des unvertilgbaren Triebes nach Erkenntnis, den jene langsamer aber dauerhafter zu befriedigen bestimmt sind, ihnen allen um so weiter voraus, mit je größeren Schwierigkeiten sie noch zu kämpfen haben, und je mühseliger sie sich Bahn brechen. Wir brauchen gar nicht in die Tiefen des Altertumes hinabzusteigen- hinabzusteigen, denn aus ihnen erheben wir uns -, um Spuren dieser Erscheinung anzutreffen; wir tragen ihrer nur noch zu viele an uns selbst. Schon sind es Jahrhunderte, seitdem Baco das verderblichste Blendwerk aufdeckte, und kaum haben einige, vorzugsweise in das Gebiet unsrer sinnlichen Wahrnehmung einschlagende Wissenschaften sich des verräterischen Beistandes der Phantasie zu erwehren angefangen, und noch immer folgen wir eben in den wichtigsten, in denjenigen, die nicht wie jene unser gesellschaftliches Leben nur schmücken und bereichern, sondern es in seinen wesentlichsten Verhältnissen bestimmen und regeln, der wunderli~ chen Richtung, die sie einmal vor Jahrtausenden ihnen gab, und zwischen so manchem gepriesenen Lehrgebäude, der

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

7

heimlichen Frucht, und so mancher bewunderten Dichtung, dem rechtmäßigen Kinde der Einbildungskraft, ist am Ende kein Unterschied, als der zwischen einer Fabel, an die man glaubt, und einer Fabel, die man dafür erkennt. Die Naturlehre zählt endlich ihre Fortschritte nach Entdeckungen, aber die eigentliche Lehre des Menschen und seines gesellschaftlichen Lebens, aber unsre nur zu ausübende Staats- und Kirchenweisheit brüstet sich immer noch mit Satzungen, die sie, weil keines Beweises fähig, für keines bedürftig ansieht, schaut nicht wie jene auf Hypothesen zurück, um das wirklich Vorhandene zu erklären, sondern geht von ihnen aus, um ihre Folgen zu verwirklichen, und gibt uns, wo sie das Gesetz der Natur erforschen und anwenden sollte, ihr eignes; und Dichtungen sind es, von der ältesten einer langen Reihe falscher Gottesvollmachten an bis zu der um Jahrtausende jüngeren und um nichts besseren Voraussetzung einer ursprünglich wilden und sich im endlosen Kriege Aller gegen Alle aufreibenden Menschennatur, auf die noch immer in veränderten Formen dieselbe Tatsache der Gewalt sich stützt, unter deren Schutze die List ihre verderblicheren Kriege führt und die Willkür ihre kampflosen Triumphe begeht.' Alle gesellige und wissenschaftliche Ausbildung läßt sich als Wiedereinsetzung eines treueren aber langsameren Seelenvermögens gegen die Besitzergreifungen des früher erwachten Dichtergeistes ansehen, jeder ihrer Fortschritte als Eroberung in dem alten Gebiete des letztern, jeder ihrer Siege als erkämpft über einen die Wahrheit verketzernden und eigne Trugbilder heiligsprechenden Wahn. Der Standpunkt, auf dem wir sie noch jetzt erblicken, und der Weg, den sie offenbar noch zurückzulegen hat, würde uns, gäb' es dafür auch keine geschichtlichen Zeugnisse, auf eine Vorwelt zurückt Der Verf. weiß, daß der Ausdrud< begehen, dessen man sich ehemals von Feierlichkeiten bediente, jetzt überall eine schlechte Nebenbedeutung hat, aber eben deswegen braucht er ihn hier.

8

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

weisen, in der ihr Widersacher, dessen Schöpfungen heute noch die erhabensten Stellen unsers geistigen Gesichtskreises einnehmen, den ganzen Umfang desselben mit ihnen bevölkerte. überall außer dem engen Bezirke, in welchem ein gebieterisches Bedürfnis der Wirklichkeit Anerkennung erzwingt, waltete in einem solchen Zeitalter die Einbildungskraft. In ihren Zusammensetzungen wähnte der Mensch den Zusammenhang der Dinge zu erblicken, und was man glauben zu müssen oder zu erkennen meinte, hatte ihr so ausschließlich sein ganzes Dasein zu verdanken als das bloße dichterische Gewand. Sie umfaßte jeden Zweig der Erkenntnis, weil sie jeden erzog, und jenes Priestertum, das in seinem Kreise mit allem Wissen alle Macht vereinigte, war nur die äußere Erscheinung eines geistigen Universalreiches der Phantasie. Und wie damals ein inneres Entwickelungsgesetz des menschlichen Geistes den Schöpfungen der Dichtkunst, so verlieh gleichzeitig eine äußere Notwendigkeit ihren Formen die ausgedehnteste Gültigkeit. Der minder geübte und unstätere Sinn will kraftvoller aufgeregt und gefesselt werden. Ein geregelter Silbenfall, späterhin fast nur noch der Genuß des feineren Ohres einiger Wenigen, war lange vorher bei weitem allgemeineres Bedürfnis der Menge. Schon in dieser Hinsicht also entsprach das Versmaß den Absichten der ersten Dichter und zugleich Lehrer des Volkes, und es geschah umso mehr, je inniger im Anfange dieser vorübergehende Reiz ihres Vortrages mit seinen bleibenden Wirkungen zusammenhing. Je kleiner nämlich die Anzahl erkannter Wahrheiten und je größer die Achtung vor einer Menge dafür angesehener Dichtungen, desto dringender muß ihrem Besitzer an der Erhaltung beider gelegen sein. Aber kaum vermögend, einer übermächtigen Natur die notwendigsten Erfordernisse des körperlichen Daseins abzuringen, erlag er, wo immer es auf Befriedigung höherer Bedürfnisse ankam, seiner Hilflosig-

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

9

keit. Waren auch die ersten mangelhaften Zeichen des Gedankens bereits erfunden, so stand ihm, sie darzustellen, doch lange kein andrer Stoff zu Gebote als ein unförmiges Gestein, kein andres Werkzeug als ein rohes Metall. Jede Lehre der Weisheit und jede Kunde der Vergangenheit ward in einem solchen Zeitalter vorzugsweise dem Ohre anvertraut. Auf die Bewahrung, nicht bloßer Zeichen der Rede, sondern der Rede selbst kam es an, und eine durch ihren bloßen Klang die Aufmerksamkeit weckende oder dem Sinne schmeichelnde Bewegung derselben hatte noch einen höheren Zweck, schmeichelte regelmäßig wiederkehrend sich auch ins Gedächtnis ein und leistete, freilich nur unvollkommen, was späterhin bei weitem vollständiger eine leichtere Vervielfältigung der Schrift. In den meisten sprüchwörtlichen Redensarten des Volks, die sich durch eine gewisse Ründung ihrer Form auszeichnen, und eben dadurch unverändert auf die späteste Nachkommenschaft vererben, erkennen wir noch am deutlichsten diese erhaltenden Kräfte geregelter Wortfügungen, und besitzen wir vielleicht etwas, das einigermaßen den ersten rhythmischen Versuchen einer Zeit entspricht, in der das Versmaß, nicht bloßer Schmuck der Dichtkunst, sondern wesentliches Hilfsmittel der frühesten und unentbehrlichsten Erinnerungskunst, mit seinem poetischen einen gemeinnützigeren Zweck verband. Einen dritten, auch seinerseits das frühere Vorherrschen poetischer Formen begünstigenden Umstand entdecken wir endlich in der größeren Leichtigkeit, mit welcher sich eben in roheren und an Wortfügungen ärmeren Sprachen jenem Erfordernisse eines wirksamer ins Ohr fallenden Rhythmus genügen läßt. Erscheint sie auch nicht so unmittelbar einleuchtend, so ist sie doch nicht weniger ausgemacht als das Bedürfnis, dem sie zustatten kam. Die ältesten Denkmäler jeder Sprache sind Verse. Die erste Gedankenäußerung jedes Volkes ist auch in ihren Formen Poesie. Tatsachen, die keinesweges dem allgemeinen Gesetze der Natur widersprechen,

10

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

vermöge dessen wir überall das Schwere dem Leichteren, das Zusammengesetzte dem Einfacheren folgen sehn. Daß der freiere Vortrag der Prose, den keine immer wiederkehrende Regel der Silbenbewegung zusammenhält, später als die gebundene Rede und erst auf einer höheren Stufe der Bildung unter den Völkern zu entstehen pflegt, ist weder naturwidrig noch bloßer Zufall. Er setzt allerdings eine an Ausdrücken und Wendungen reichere Sprache und einen, auch zarteren Eindrücken empfänglichen Sinn voraus. Je ärmer jene und je ungeübter das Ohr, desto mühsamer das Beachten eines mannigfacheren, die ganze Stufenleiter zwischen Eintönigkeit und Verwirrung umfassenden Rhythmus, desto bequemer das Festhalten an einmal gewählte und immer kenntliche Regeln, das uns nur deswegen die größere Mühe zu erfordern scheint, weil wir nur darauf einige verwenden. Schwerer als blinder Gehorsam ist in der Sprache so gut als im Leben eine gesetzliche Freiheit. Auch ist sie in beiden die spätere, und in beiden lernen wir ihre Schwierigkeiten nicht eher würdigen, als bis wir sie zu überwinden verstehn.• Und um so bemerkenswerter sind unter den die Poesie und t Einer von jenen Gedankenblitzen, die so ofr, und um so leuchtender, aus Hamanns Schrifren emporzudten, in ein je tieferes Dunkel wir uns an andern Stellen derselben versetzt fühlen, öffnet in diesem Kreise und namentlich auf den Ursprung des vielbelobten und vielversuchten Hexameters eine Aussicht, von der, wie von so Vielem in der Natur, aus den Fenstern unsrer Hörsäle nichts zu sehen war. :.Homers monotones Metrum, sagt Hamann in seiner Aesthetica in nuce, einer Rhapsodie in kabbalistischer Prose, Homers monotones Metrum sollte uns wenigstens ebenso paradox vorkommen als die Ungebundenheit des deutschen Pindars. (Klopstodt.) Meine Bewunderung oder Unwissenheit von der Ursache eines durchgängigen Silbenmaßes in dem griechischen Dichter ist bei einer Reise durch Kurland und Livland gemäßigt worden. Es gibt in den angeführten Gegenden gewisse Striche, wo man das lettische oder undeutsche Volk bei aller seiner Arbeit singen hört, aber nichts als Eint Cadenz von wenigen Tönen, die mit einem Metro viel i\hnlichkeit hat. Sollte ein Dichter unter ihnen aufstehen, so wäre es ganz natürlich, daß alle seine Verse nach diesem eingeführten Maßstabe ihrer Stimmen zugeschnitten sein würden.• Eine Wahrheit, die jedem und besonders jedem, der sich in jenen Ländern aufgehalten, einleuchten dürfte und die unter Tausenden, welchen sie ebenso nahe lag, und eben weil so nahe, nur von dem besten Seher zu entdecken war.

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

11

ihre Allgemeinherrschaft begünstigenden Umständen jener frühere Mangel an zuverlässigen und weiterreichenden Mitteln der Verbreitung und Erhaltung des Wortes und eine dem daraus hervorgehenden größeren Bedürfnisse des regelmäßig wiederkehrenden und somit bleibender ins Ohr fallenden Rhythmus gleichzeitig entsprechende leichtere Darstellung dieses letztern, da sie nichtallein poetischen Formen ihr Dasein, wenigstens die ausgedehnteste Gültigkeit verliehen, sondern auch jeden vorkommenden Stoff den Zwecken der Poesie gemäß umzubilden und endlich in bloße Dichtung zu verwandeln dienten oder doch vorzugsweise dem poetischen Teile desselben seine Aufbewahrung für die Nachwelt sicherten. Oberlieferungen sind schlechte Mittel zur Erhaltung von Lehren oder Nachrichten, aus dem einfachen Grunde, weil jede letzte Wiederholung derselben, wie sehr immer für das treueste Abbild irgend eines uranfänglichen Musters ausgegeben, sich immer doch nur mit der nächst-vorhergehenden vergleichen läßt, und mit dieser von keinem andern als wenn ihm sein Gedächmis treu blieb - dem letzten Berichterstatter selbst; aber eben aus dem nämlichen Grunde gibt es keine bequemere Werkstätte einer verschönernden oder schaffenden Einbildungskraft als ihr Gebiet. Sie verhalten sich zu aufgezeichneten Mitteilungen überhaupt, wie unter diesen die Vervielfältigungen derselben durch die Feder zu denen durch die Presse, wie aufeinander folgende Abschriften zu gleichzeitigen Abdrücken eines Buchs. Nur diese letzteren lassen sich als gleichförmige, unter sich und mit ihrer Urschrift übereinstimmende Wiederholungen derselben ansehen und bewähren und bilden zusammen eine einzige Auflage, ein einziges aus gleichartigen Teilen zusammengesetztes Ganzes, während von Handschriften wie von Oberlieferungen jede einzeln als ei~e neue und meistens veränderte Ausgabe des ursprünglichen Werkes zu betrachten ist. Etwas jener zum Teil arglosen Untreue der Abschreiber ähnliches, die, um ihre

12

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

Arbeit schneller oder vollständiger zu liefern, sich bald, ohne genauere Beachtung des Ausdruckes, nur an den vermeintlichen Sinn ihrer Vorschrifl: hielten, und bald jede Randglosse und jede in Ansehung des eben erwähnten Gegenstandes ihnen selbst bekannte Nachricht in den Text aufnahmen, veranlaßte ohne Zweifel in einem noch höheren Grade als bloße Verunstaltungen eines handschriftlichen Werkes die wesentlichsten Umwandlungen einer mündlichen Überlieferung, an der sich noch weniger die Ächtheit jedes Teils prüfen oder ein bestimmter und abgeschlossener Umfang des Ganzen erkennen ließ, und die, noch weniger an ein bestimmtes Erinnerungszeichen geknüpft, sich unter dem weiterbildenden Einflusse, nicht etwa nur einer sammelnden Gelehrsamkeit, sondern des nämlichen Dichtergeistes, der sie geschaffen hatte, fortpflanzte. Tatsachen oder Beobachtungen, die ein poetisches Gewand anfänglich nur leicht umhüllte, entstellten und verbargen die Oberladungen der ausschmückenden Folgezeit. Was in der einzelnen Sage ein bloßes Bild, ein bloßer Schmuck der Rede und verständlich war, gelangte, einer ganzen Reihe von ähnlichen Darstellungen eingefügt, auf Kosten seiner ursprünglichen zu einer neuen und geheimnisvolleren Bedeutung. Alle Götterlehre ging am Ende aus ähnlichen Umwandlungen einer dichterischen Oberlieferung hervor. In jeder mußte das Bezeichnete dem Zeichen unterliegen, jede war mehr oder weniger die bloße Verkörperung eines poetischen Farbenspiels. Die Geschichte der Erde verklärte sich zu der des Olymps, und einer waltenden Phantasie, unter deren Einflusse die Fabel selbst sich immer fabelhafter gestaltete, erlag um so früher und unvermeidlicher die Wirklichkeit. Fassen wir die Ursachen einer höheren Ausbildung und Würde der Dichtkunst auch nur flüchtig ins Auge; die schrankenlosen Besitzergreifungen einer früher erwachten Einbildungskraft im ganzen Umfange unsers geistigen Gebietes, den Mangel an zuverlässigeren Mitteln zur Erhaltung des Wortes, der den Menschen alle Schätze der Wissenschaft in dichteri-

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

13

sehen Formen seinem bloßen Gedächtnisse anzuvertrauen zwang, und endlich denjenigen Zustand, sowohl der Sprache als ihres Besitzers, der ebenfalls die Regel des gemessenen Ausdruckes früher als das Gesetz der freien Rede, beides, wahrnehmen und bedürfen ließ, und sie vorzugsweise dem Erzähler und seinen Zuhörern empfahl, so muß es zugleich uns einleuchten, daß jede Veränderung, die einen dieser Umstände zu beseitigen diente, einen Fortschritt ausmachte und folglich das Herabsinken der dichtenden Einbildungskraft von ihrer alten Höhe in mehr als einer Hinsicht Beweise des allgemeineren Fortschreitens der Völker enthält. Wie diese zu einem verständigeren Dasein heranreiften, bemächtigten sich allmählich auch andre Seelenkräfte des ihnen gebührenden Anteils an der Gesamtheit unsrer innern und äußern Wahrnehmungen. Wie nach und nach sichtbare Darstellungen des Wortes erfunden und die Mittel ihrer Vervielfältigung zahlreicher wurden, bildete sich eine Schriftsprache und mit ihr die Kunst eines zusammenhängenden, auch andern als den Zwecken des Dichters zusagenden Vortrags und in dem Schatze ihrer Urkunden ein Gedächtnis des menschlichen Geschlechtes, das umfassender und allgegenwärtiger als das Erinnerungsvermögen des Einzelnen und sich fester auf Zeichen der Laute stützend als dieses auf den Reiz derselben die geistigen Erwerbungen aller Zeiten allen folgenden überlieferte. Auch in sinnlicher Beziehung erblicken wir unter Völkern, die sich nur eben aus dem Zustande ihrer ersten Hilflosigkeit losringen, in jener von Reisebeschreibern so oft bewunderten Geschicklichkeit, vermöge deren sie mit geringfügigen Mitteln, mit einem einzigen rohen Werkzeuge, die mannigfachsten und schwierigsten Arbeiten zu verrichten imstande sind, ein ähnliches nur in Einer Art und Richtung sich äußerndes Aufstreben ihrer erwachenden Kraft. Was die Entdecker der neuen Welt in dieser Hinsicht beinahe Fabelhaftes aus Mexiko und Peru berichtet hatten, fanden die Weltumsegler des vori-

14

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

gen Jahrhunderts auf den Inseln der Südsee durch den Augenschein bestätigt. Ein scharfer Stein, ein zugespitztes Holz war alles, womit die Bewohner derselben so Verschiedenartiges und zum Teil Erstaunenswürdiges leisteten, gerade wie auch in unsrer Nähe ein russischer Bauer mit seiner bloßen Axt in mehr als einem Fache zustandebringt, was bei uns nur der zünftige Meister in jedem, und auch nur mit Hilfe seiner zahlreichen Gerätschaften zu leisten vermag. Der Schluß indessen von dieser Geschicklichkeit im Benutzen einiger wenigen und mangelhaften Werkzeuge auf die allgemeinere Kunstfertigkeit eines Volkes würde völlig so trügerisch sein als der von der überwiegenden Entwickelung einer einzelnen Geistesfähigkeit auf die des Geistes überhaupt. »Europäer, die das Mangelhafte und Unbehilfliche der wenigen Gerätschaften eines indischen Künstlers mit der vollendeten und in einigen Fällen auch schnellen Ausführung seiner Werke verglichen- sagt einer der vorzüglichsten Geschiehtschreiber unsrer Zeit• -haben daraus nicht selten gerade das Gegenteil von dem gefolgert, was eigentlich darin liegt. Eine solche Fertigkeit im Anwenden unvollkommener Hilfsmittel, weit entfernt auf die höhere Bildung der Gesellschaft zu deuten, in welcher sie vorkommt, ist vielmehr ein allgemeines Kennzeichen jeder noch ungebildeten. - Während aber Geschicklichkeit in der Benutzung mangelhafter Werkzeuge keinesweges einen Beweis für die Fortschritte eines Volkes abgibt, liefern hingegen Unzweckmäßigkeit und Unvollständigkeit seiner Gerätschaften einen desto stärkeren wider dieselben, und es läßt sich nicht leicht ein einzelner Umstand nachweisen, in dem sich das Maß der einer Gegend zustatten kommenden Wohltaten der Kultur so deutlich zu erkennen gäbe als die Beschaffenheit des in ihr gewöhnlichen Kunstund Handwerksgerätes.« Der Satz ist völlig so wahr auch in geistiger Beziehung. Ein Volk, dem in dieser nur Eine Richtung, nur Ein Mittel einer 1

James Mill in seiner History of British India II. 8.

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

15

Entwickelung bekannt und geläufig blieb, ist ein dürfl:iges und rohes, wie sehr immer dieses eine Mittel ihm jedes andre zu ersetzen schiene, und z. B. seine Himmelskunde alle Religion und Geschichte oder seine Theologie alle Staats- und Rechtswissenschafl: umfassen mag. Und eben die Poesie war ursprünglich dieses einzige Werkzeug, mit Hilfe dessen der einzige Gedankenkünstler, ·den es gab, der Dichter, für alle Bedürfnisse unsers geistigen Daseins zu sorgen hatte und gerade darum allerdings Bewundernswürdiges leistete. Auch im höheren Lebensgebiete geschahen die ersten Fortschritte vermöge der ersten Teilungen des Geschäfl:s, und folgte unmittelbar aus diesen eine Vervielfältigung neuer Mittel, mit der geringere Fertigkeit im Gebrauche des bis dahin alleinigen Werkzeuges unzertrennlich zusammenhing. Ein indischer Arbeiter, bemerkt Sonnerat, braucht mit seiner groben Handsäge und seiner unerschöpflichen Geduld mehrere Tage, um ein einziges Brett zu schneiden. Ein Europäer mit demselben unvollkommnen Werkzeuge, aber ohne die nämliche Mühe und Beharrlichkeit, leistete vielleicht nie, oder doch gewiß nur in einer noch längeren Zeit, was er hingegen, mit seinem besseren Geräte in einer Stunde, und was die einfachste Maschine in wenigen Minuten tausendfältig zustandebringt. Jene kunstfertigen Inselbewohner, nachdem ihnen der Gebrauch eines zweckmäßigeren Arbeitszeuges bekannt und unentbehrlich wurde, nähen und schnitzeln wohl nicht lange mehr mit einigen Geräten und Steinen den Kahn zusammen, in dem sie an ihren Küsten hinrudern, aber sie lernen mit dem bessern Geräte Schiffe zimmern und befahren in ihnen die entlegensten Ufer des Ozeans. 1 Das Nämliche sehen wir im Reiche des Gedankens, wo ebenfalls Blüten und Früchte, weil der Baum des geistigen Lebens neue Sprossen trieb, sich nicht länger so dicht an einem einzigen Zweige drängen, aber ein Keine bloße Voraussetzung mehr, seitdem ein von Bewohnern der Sandwichinseln erbautes und nur mit ihnen bemanntes Fahrzeug bereits den Weg zu einigen russischen Häfen im Südmeere gefunden hat. I

16

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

desto reicherer Gesamtertrag des Nutznießers Pflege belohnt. Unsre Priester sind nicht länger zugleich Naturforscher und ~rzte und Richter, eben weil wir die Natur besser kennen lernten und auch ~rzte und Richter haben. Die Poesie hörte auf, jedes Fach der Erkenntnis zu umfassen, sobald es in jedem noch etwas mehr als Dichtungen gab, und leben wir nicht länger in einer so poetischen Welt, so leben wir und eben darum in einer desto reicheren und besser geordneten. Die größere Körperfertigkeit roher Völker ist bloße Verschwendung von Zeit und Arbeit in Ermangelung der Mittel, beide zu sparen, der höhere Schwung ihrer Poesie ein bloßer Versuch, durch die Einbildungskraft zu leisten, was ihre Vernunft und Erfahrung übersteigt. Jenes von der geschickteren Benutzung eines einzigen Werkzeuges hergenommene Gleichnis, durch das wir die ausschließliche und eben daher wirksamere Anwendung eines einzigen Seelenvermögens erläuterten, ist übrigens um so unverwerflicher, da das größere Verdienst einer oder der andern dieser Leistungen, man betrachte nun ihre Schwierigkeiten oder Folgen, unstreitig der sinnlicheren von beiden gehört. Alle Wirksamkeit eines Werkzeuges wird ebensowohl als durch die geschicktere Benutzung desselben durch die Beschaffenheit des Gegenstandes, auf den es wirken soll, bedingt, und nichts in dieser letzten Hinsicht begünstigte den von allen besseren und mannigfacheren Hilfsmitteln entblößten Arbeiter. Die Stämme, die Felsen, die er mit seinem dürftigen Geräte zu bezwingen sich abmühte, waren ohne Zweifel ebenso hart und spröde als die, gegen welche dem unsrigen die sinnreichsten Erfindungen der Kunst und alle Kräfte der Natur zu Gebote stehen. Den frühesten Dichter hingegen begünstigte zwiefach seine Zeit. Sie bot ihm reicheren Stoff zu seinem Werke und sicherte den Erfolg desselben durch ihren empfänglicheren Sinn. Wir haben wahrscheinlich nicht mehr die alten Sänger, aber gewiß auch nicht mehr die alten Zuhörer, und Homer selbst bezauberte schwerlich in unsern

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

17

Tagen wie in denen seines lebendigen Ruhmes ein ganzes Volk; einige Kenner vielleicht, wie auch jetzt, und möglicherweise, da ihm die Empfehlung eines drittehalbtausendjährigen Alters abgehen würde, nicht einmal die. Betrachten wir sodann die einseitige Anwendung eines geistigen oder eines körperlichen Vermögens, nicht nur in ihren jedesmaligen Schwierigkeiten, sondern in ihren bleibenden Ergebnissen, in ihren Früchten und Folgen, so läßt sich das dem Ietztern gehörige größere Verdienst noch weniger verkennen. Auch der langsamste und mühseligste Fortschritt in einer vereinzelten sinnlichen Beziehung führt wenigstens nie auf einen Abweg. Die erworbene Kunstfertigkeit ist wie jedes Erzeugnis derselben für ihren Besitzer ein reiner Gewinn. Die Kräfte, die er verschwendete, hat er zugleich geübt, und er braucht nichts zu vergessen und nichts zu beseitigen, um zweckmäßig fortzusetzen, was er unzweckmäßig begann. Weit anders hingegen verhält sich's mit jenem einseitig ausgebildeten Seelenvermögen, dessen Künste der Mensch wie seine wenigen unvollkommenen Arbeitsgeräte anfangs allein zu benutzen versteht. Freilich schafft auch die Phantasie nicht immer nur Hindernisse auf seiner Bahn, und ihm ist vielmehr ihre Begleitung auf derselben wohl ebenso unentbehrlich als ihre Leitung verführerisch; erfüllt sie nur selten einen seiner Wünsche, so spiegelt sie ihm desto öfter Hoffnungen vor, die ihn manchem unbeabsichtigten Erfolge zulocken - den Stein der Weisen hat er nicht gefunden, aber eine Menge guter Dinge auf dem vermeintlichen Wege dahin -, und so sehr bedarf er, nach Buffons' treffender Bemerkung, eines eingebildeten Zweckes, ihm Beharrlichkeit in seinen Anstrengungen einzuflößen, daß er mit klaren Ansichten von dem jedesmaligen Bereiche seiner Kräfte sie schwerlich nur versuchen 1 In seinem Discours sur Ia manihe d'etudier et de traiter t•histoire naturelle. - Tant il est vrai, sagt er, qu'il faut un but imaginaire aux hommes, pour les soutenir dans leur travaux, et que s'ils ~taient persuad.Es, qu'ils ne feront que ce qu'en effet ils peuvent faire, ils ne feroient rien du tout.

18

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

dürfte; aber auch zufällig erreicht unmöglich ein Ziel, wer schon in dem zufälligen Mittel eines erblickt, wer die Gerte, die das Roß treiben soll, zu seinem Steckenpferde macht. Jeder Versuch, mit Hilfe der Einbildungskraft und nur mit ihr die Aufgaben andrer Fähigkeiten zu lösen, erschwert nicht allein, sondern vereitelt auch den beabsichtigten Zweck; jeder Eingriff derselben in das Gebiet eines früheren Seelenvermögens ist ein Mißgriff, jede ihrer Schöpfungen im Kreise der Wirklichkeit eine Täuschung, und wenn der sinnliche Mensch, indem er die niedrigsten Stufen seiner Bildung überschreitet, was er an Besitztümern und Fähigkeiten unzweckmäßig erworben hat, nur besser anwenden lernt, so muß der geistige in derselben Lage, um weiter zu kommen, die seinigen erst aufgeben und verlernen. Daher jenes Mißverhältnis zwischen unserm äußern Fortschreiten, das uns immer neue Kräfte der Natur unterwirft und neue Wahrheiten enthüllt, und unsrer innern Ausbildung, die in einem unaufhörlichen Kampfe gegen die Herrschaft alter Vorurteile und Irrtümer besteht, zwischen immer neuen Erwerbungen im Reiche der Erscheinung und immer neuer Einbuße des vermeintlich Erworbenen in dem des Gedankens. Ist wirklich unsre Vernunft, wie Bayle irgendwo bemerkt, nicht eine gründende und bauende, sondern eine alles erschütternde und zerstörende Kraft, so ist sie es eben, so ist sie es wenigstens noch immer, weil überall der Dichtergeist ihr zuvorkam, weil sie den Raum zu ihren Werken sich erst erobern und reinigen muß. Wir sind auf unserm, wohl nur scheinbaren, aber in jedem Falle unvermeidlichen Rückwege, noch nicht bis zu dem Punkte gelangt, von dem aus der bessere Weg sich einschlagen läßt; allein wir nähern uns ihm, und jenes Verbannungsurteil, daß Plato in seinem eingebildeten Staate über den Dichter aussprach, vollstreckt in der wirklichen Welt allmählich aber unwiderruflich eine fortschreitende Civilisation.' 1 Lange nachdem der obige Aufsatz geschrieben war, hatte der Verfasser desselben die Freude, den Gedanken, den er hier auszuführen sich bemühte, auch

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

19

Weit entfernt also, uns über die Rückschritte der Didttkunst beklagen zu müssen, sollen wir uns vielmehr zu ihnen Glück wünschen. Wie oft audt bloße Fehler des Dichters und Folgen seiner geringeren Fähigkeit, sind sie dodt weit öfter das Verdienst seiner Zeit; und je schwädter in irgend einem Fache die Wirkungen der Poesie, je allgemeiner die Unempfindlidtkeit für eine gewisse Art von Didttungen, desto gewisser, daß eben in diesem Fadte dem geistigen Bedürfnisse, dem ursprünglidt soldte Dichtungen zu Hilfe kamen, irgend ein genügenderes Mittel Befriedigung gewährt. Kein Heldengedidtt madtt ferner Glück. Wir überreden uns wohl noch, es zu bewundern, und wir bringen es zu Zeiten wirklidt dahin, aber desto seltener dahin, es zu lesen. Das macht, wir bedürfen seiner nicht mehr, wir sind nicht länger einfältig und roh genug, um seiner zu bedürfen. Diese Dichtungsart, wie jede, um allgemeinere Teilnahme zu erregen, setzt Wahrheit, setzt Wahrheit ihrer Wunder, oder wenigstens den Glauben an dieselben voraus, und wie allmählidt von einem Manne angedeutet zu finden, dessen übereinstimmende Meinung ihn immer nidtt wenig in der seinigen bestärkt. Hippe! in seiner von ihm selbst aufgesetzten Jugendgeschichte, nachdem er der Veränderungen, die unsre Kirchen samt ihren Dienern, oder eigentlidter, Herren - um in einem höheren als dem bisherigen Sinn den Sitten förderlidt zu sein - untergehen müßten, Erwähnung getan, fährt sodann fort: •Der Zeitpunkt, wo überhaupt dem Dichter Ehre und Verdienst gebührt, ist der, wenn die Nation anfängt aus der Barbarei herauszugehen, als wobei es, wie Herr Campe ganz recht sagt, ratsam ist, daß man die Wahrheiten der Philosophie mit dem Laternenglase der Poesie umgebe. Sobald ein Volk über die erste Periode der Aufklärung hinausgezogen, ist es, setzt er ebenso wahr hinzu, weder schwer (?) nodt nützlich Gedichte zu machen. Ein jeder Kopf nehme sein eigenes Leben, und er wird Iinden, daß ganze Staaten wie einzelne Menschen aufgeklärt werden. Verstand kommt nicht vor Jahren. Wer nicht in seiner Jugend Verse gemacht hat, ist wenigstens kein Kopf. Ich habe von Kant Verse gelesen; quaeritur, ob Wolf welche gemacht?* Oberhaupt ist der Mensch ein Mikrokosmus, und wie im Kleinen mit ihm, so ist es im Großen mit der Welt.• S.F.T.G. von Hippels Biographie, zum Teil von ihm selbst verfaßt. Aus Schlichtegrolls Nekrolog besonders abgedruckt. S. 182 und IB). • Gehörten Verse wirklich zu den unausbleiblichen Leistungen jedes Kopfes, ohne Zweifel; denn dafür erkennt ihn jeder Unbefangene, wie sehr auch der frische Ruhm des Königsherger Weisen die .Anhänger desselben für jedes ältere Verdienst erblinden ließ. Anmerk. des Verfassers

20

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

der Wunderglaube sich aus der wirklichen Welt in die des religiösen Gefühles zurückzog, mußte jene dem epischen Dichter immer unfruchtbarer werden und endlich allen Stoff zu seinen Darstellungen verweigern. Auch sehen wir die letzten einigermaßen gelungenen Versuche dieser Art, wie den Messias oder das Verlorne Paradies, vielmehr an überirdische Hoffnungen als an irdische Taten, und nicht an den Ursprung der Völker, sondern an den ihres Glaubens geknüpft, oder doch wie im Befreiten Jerusalem die gefeierte Begebenheit, um wichtiger zu erscheinen, sich auf ein Ereignis aus dieser höheren Ordnung der Dinge beziehn, und auch in diesem Kreise das Reich der Phantasie und den Ruhm ihrer Schöpfungen in demselben Verhältnisse schwinden, als eine geläuterte Religion unsre Vernunft beschäftigt und unser Gewissen in Anspruch nimmt. Wo aber beide, Vernunft und sittliches Gefühl, schon zum vollen Bewußtsein erwachten, oder wenigstens erwachen dürfen, wo der Wunderglaube von jeher nur eine Tatsache war, und nicht einmal ein Lehrsatz geblieben ist, im Gebiete der wirklichen Welt und ihrer Veränderungen, gibt es schlechterdings weiter keinen Stoff, der sich zu etwas mehr als höchstens einer Erzählung in Versen, der sich zum Epos eignete. Die allgemeine Teilnahme, die ein solches Gedicht aufregte, der Stolz, mit dem ein ganzes Volk es wiederholte, sein gesetzgebendes Ansehen über Meinungen und Gesinnungen, alles gründete sich eben darauf, daß man es nicht für eine bloße Dichtung hielt, und von dem Augenblicke an, wo Sagen und Geschichte sich wenigstens im Begriffe unterschieden, war des Heldendichters Lied seinen Zuhörern so wenig länger die Offenbarung einer höhern Ordnung der Dinge als er sich selber das begeisterte Werkzeug einer höheren Macht. Die Wunder sind ausgegangen aus dem Boden, auf dem wir stehen, und von einem andern dahin verpflanzt, gedeihen sie nur noch zum Scherz. Das bloße Gelingen eines komisd1en Epos, in dem sie eben durch ihre Anspruchslosigkeit ihren Zweck erreichen, und weil sie nicht

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

21

für Wahrheit gehalten sein wollen, dem höchsten Wahrheitserfordernisse auch eines Dichterwerkes entsprechen, ist Beweises genug, daß es von nun an um das Gelingen jedes ernsteren geschehen ist. Und um so besser! Um so besser, daß der Mensch endlich Wahrheit verlangt, wo er sich mit Wundern abfinden ließ, daß eine Tat, wie sie ehemals, um den Beifall der Nachwelt zu gewinnen, nur von Dichtern gelobt zu werden brauchte, fortan sich selber loben muß; um so besser, daß der Held fernerhin so selten vor der Nachwelt einer ist als vor seinem Kammerdiener, daß kein poetischer Heiligenschein fortan die riesenmäßige Selbstsucht eines Eroberers verbergen oder vergöttern vermag! Es gereicht uns zur Ehre, daß jede Borussias in unsern Tagen zu Wasser wurde, daß der erste der Habsburger - dessen gemeinnützigeres Verdienst, um anerkannt zu werden, der Übertreibung nicht bedarf- in den Gesängen seines Dichters noch soviel »hörbare Tränen« vor noch so vielen augendrehenden Marienbildern ausweinen mag', ohne darum die Welt in Versuchung zu führen, seine kluge Familienfürsorge für eine waltende Völkervorsehung anzusehn. Es gereicht uns zur Ehre, daß die sittliche Hoheit einer guten Tat uns nachgerade mit einer ernsteren und innigeren Bewunderung erfüllt als aller Bühnenprunk einer sogenannten großen. Was die Ilias dem ihrigen, ist einem späteren Zeitalter die Geschichte. Wenn ein Thucydides geschrieben hat, singt weiter kein Homer. Dem Heldendichter folgte der Geschiehtschreiber, und daß er es tat, ist um so weniger zu verkennen, je länger wir ihn in die Fußstapfen dieses Vorgängers treten sehn. Jahrtausende hindurch beurkundet auch er in der Wahl seiner Gegenstände wie in deren Behandlung das gesetzgebende Ansehen der Poesie. In der einen leitet auch ihn vielmehr der Glanz der Begebenheiten als ihre Wichtigkeit, bei der andern unterstützt auch ihn in Ermangelung der Wahrheit eine schöpferische Phantasie. Kriege und Eroberungen, 1 S. Rutlolph von Habsburg, ein Epos von Johann Ladislaus Pyrker. Wien 1Bzs.

22

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

die Taten des Einzelnen, der Glückswechsel einer Familie fesseln, wie die Neugier des gedankenlosen Zuschauers, auch seine Aufmerksamkeit. Nicht die bestehende Ordnung der Dinge, sondern was störend in sie eingreift, nicht was die Möglichkeit oder Notwendigkeit ihres Wechsels bedingt, sondern der Lärm der Veränderungen selbst bietet ihm den geeigneten Stoff zu seinen Darstellungen, und hat er ihn gewählt, so muß, bei der Seltenheit und Unvollständigkeit urkundlicher Nachweisungen, die Einbildungskraft ihr angefangenes Werk fortsetzen und vollenden, der Handlung die Beweggründe hinzufügen, dem Helden oder Staatsmanne, dessen Reden verloren gingen, die ihrigen in den Mund legen, und überall die Lücken mangelhafter Zeugnisse und Erinnerungen ausfüllen, um als ein Ganzes den Nachkommen zu hinterlassen, was ihr selbst in Bruchstücken gegeben war. So vererbt sich ohne den Zauber der Dichtkunst alle ihre Wesenlosigkeit auf den bloßen Erzähler. Seinem Bedürfnisse angepaßt, gestalten sich dieselben Regeln, die der epischen Dichtung zum Grunde liegen, zu einer historischen Kunst, und von ihr geleitet erscheint zuzeiten ein großer Schriftsteller, aber desto seltner oder doch nur im engeren Kreise gleichzeitiger Begebenheiten und seiner unmittelbarsten Wahrnehmungen ein guter Geschichtschreiber. Der Notbehelf einer Zeit, in der auch die gewissenhafteste Forschung nur aus den ärmlichsten Quellen schöpfen konnte, und auch den schärfsten Blicken nur ein beschränkter Geschichtschreibers Blöße bedecken mußte, wurde sein Prachtund Muster einer folgenden, die alle gesammelten Schätze der Vergangenheit und alle Mittel ihrer Verbreitung und Vervielfältigung - nicht entbehrte, sondern zu benutzen unterließ. Das abgelegte Kleid eines andern, das anfangs des Geschiehtschreibers Blöße bedecken mußte, wurde sein Prachtgewand. Er selbst, so ekel in der Wahl seiner handelnden Personen wie der Dichter, verglich und verwechselte sein Werk mit dem des letztern. Die Geschichte war endlich nur

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

23

noch ein unförmlicheres Trauerspiel, und man klagte über die Ungelehrigkeit ihrer Betrachter, während es nur an einer solchen Darstellung derselben nicht viel zu lernen gab. Jahrhunderte lang mußte die Presse mit ihrer stillen Wirksamkeit Begriffe und Gesinnungen veredelt haben, bis die Würde der GesChichte wie die des Menschen in etwas Höherem zu erkennen war als dem Gepränge ihrer Erscheinung, bis der Einfluß, den Sitten und Meinungen zu jeder Zeit auf die Einrichtungen der Gesellschaft und auf das Wohl und Wehe jedes einzelnen ihrer Mitglieder ausüben, für wichtiger angesehen wurde als der einer vorübergehenden Laune ihrer Beherrscher, bis der Geschiehtschreiber in den Dingen selbst einen bedeutsameren Zusammenhang wahrnehmen lernte, als den seine Vorgänger in sie hineingelegt. Voltaire, welche poetischen Freiheiten er sich auch mit einigen Zahlen und Namen erlauben mochte oder hingehen ließ, war unstreitig einer der ersten, der die Geschichte zu Zeiten aus einem höheren Gesichtspunkte zu betrachten wußte, und vereinigte mit seinem Dichtergeiste mehr Menschensinn und Menschenverstand als alle seine schulgerechten Tadler mit ihrer dürren Gelehrsamkeit; und erst in unsernTagen sahen wir diese Geschichte, bis dahin im besten Falle die bloße Lehrerin der Fürsten, zu einer Lehrerin der Menschheit heranreifen, und was an Zeugnissen der allmählichen innern Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens ein Hume nur noch schüchtern in den Anhang zu seinen Darstellungen brachte, als ihr wesentlicheres Besitztum in Anspruch nehmen. Erst in unsern Tagen sahen wir einen Mitford einzelne bedeutsame Züge, die den Rednern und Geschiehtschreibern Griechenlands kaum einer gelegentlichen Bemerkung wert geschienen, zu einem treueren Gemälde ihres Volkes zusammenstellen, und als Barbarei enthüllen und verurteilen, was wir in der poetischen Verlarvung, in der es jene uns überliefert hatten, als das Muster aller politischen Tugend und Ausbildung bewunderten; sahen wir einen Mill, den Geschiehtschreiber Indiens, das Dunkel zer-

24

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

streuen, das die sogenannte Wiege der Menschheit bedeckte, und unsern morgenländischen Gewürzhändlern und Weisheitskrämern so gelegen war, und einen Sismondi auch den Völkern jenen Schauplatz eröffnen, auf dem bisher nur die Machthaber derselben und ihre Lakaien einherzustolzieren das Recht hatten. Für jede Dichtungsart, über deren Verfall wir uns beklagen, läßt sich ein Ersatz nachweisen, der an ihre Stelle trat, und der um so wirksamer, je freier von den Fesseln und Formen der Poesie, den ursprünglichen Aufgaben ·dieser Ietztern entsprach. Das Trauerspiel, wie Diderot bemerkt,' erschien den Alten als eine politische und religiöse Angelegenheit, und die Versammlungen zu demselben waren öffentlich, im höheren Sinne des Wortes, und bezweckten, wie der Tanz vor den Altären, die Erfüllung einer gottesdienstlichen Pflicht. Wir haben beides, minder vollendet und minder ernsthaft gemeint, aber hinlänglich zur Ausfüllung einer leeren Zeit. Wir haben außer einem Wenigen an Gesang und taktmäßiger Bewegung nicht viel Sinnliches in unsern Kirchen, aber desto mehr Sittliches in unserer Religion, und am Ende doch nicht zu bedauern, daß Opern und Bälle uns nur noch den Göttern der Erde empfehlen, nicht aber Gott. Jene Zwittergattung des Lehrgedichtes, in der sich Lehre und Dichtung nur auf Kosten eine der andern zu behaupten vermögen, stand offenbar von dem Augenblicke an, wo Dichter nicht mehr die einzigen Lehrer waren, oder diese nicht auch notwendig Dichter sein mußten, in keiner Beziehung weiter zu den veränderten Bedürfnissen der Welt. Hesiods Gesänge über die Arbeiten des Landmannes besaßen, abgesehen von ihren poetischen Vorzügen, wohl noch das gemeinnützigere Verdienst eines guten Bauernkalenders, Virgils Verse über denselben Gegenstand bei allem größeren Werte doch schwerlich größere Bedeutung als ein heutiger Musenalmanach. Die Versuche und Abhand' S. Grimms und Diderots Correspondance litt~raire. IV. p. 296.

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

25

Iungen eines einzigen Schriftstellers wie Shaftesbury oder Addison taten in einer ihrem Zwecke angemesseneren Form bedeutend mehr zur Verbreitung wahrer Lebensweisheit und eines geläuterten sittlichen Gefühles als alle poetischen Episteln zusammengenommen; und wenn der schulgerechte Takt unsrer satyrischen Geißel, selbst in den Händen solcher Meister wie Horaz und Boileau, am Ende doch nur einen oder den andern armseligen Schriftsteller wider Verdienst und Willen in eine Nachwelt, aus der er ebenso füglieh hätte wegbleiben können, hineinpeitschte, so traf dieselbe Geißel, geschwungen von den Rächern einer öffentlichen Meinung, die nicht ein bloß poetisches Strafamt verwaltete, gefährlichere Toren, und mit einem andern Erfolg. Huttens Briefe der Finsterlinge seiner Zeit bahnten Luthers ernsterem Zorne den Weg; die Menippische Satyre war Heinrichs IV. treuesteund nicht ohnmächtigste Bundesgenossin gegen die heiligen Bündler des sechzehnten Jahrhunderts, und Swifts Tuchmacherbriefe schützten ein ganzes Volk gegen die Münzverfälschungen seiner Obrigkeit. Den geschwundenen Glanz und Einfluß der Poesie, wo immer der Geist naturgemäß durch andre Mittel und in andern Formen zu wirken bestimmt ist, wahrnehmen, und für nichts weniger als ein Unglück ansehen, heißt übrigens durchaus nicht, ihren eigentümlichen Wert verkennen, wo sie in ihrem eignen Wirkungskreise herrscht. Es gibt Stotternde, die sich nur singend verständlich auszudrücken imstande sind; wir können uns freuen, wenn sie sprechen lernten, und nicht länger jede Botschaft oder Warnung absingen müssen, und wir sind darum noch nicht unempfänglich für den Zauber des Gesangs. Wir zeigen vielmehr einen um so reineren und regeren Sinn für die eigentliche Würde und Schönheit jeder Kunst, je weniger sie uns in einer unschicklichen Anwendung gefällt. Entstellung ist auch in diesem buchstäblichsten, und gerade deswegen im allgemeineren Sinne - Verhäßlichung, und im Reiche des Gedankens wie in der bürgerlichen Gesell-

26

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

schafl: veredelt und befestigt sich die Macht, indem sie ihre natürlichen Grenzen erkennen und achten lernt. Die Grenzen, welche der Poesie die Natur selber vorgeschrieben, sind keine anderen, als die sie in ihren höheren Gesetzen der Wahrheit und Zweckmäßigkeit allem was gut und schön ist gezogen hat, und nur insofern das \Vesen eines Dichterwerkes dem ersten, und seine Form dem andern dieser Gesetze entspricht, behauptet es, unabhängig von allem Wechsel der Zeit und ihrer Meinungen, seinen Rang. Wahrheit aber, insofern wir sie den Gegenständen selbst, nidtt bloßen Schilderungen oder Nachahmungen derselben zuschreiben, ist gleichbedeutend mit Wirklichkeit, und liegt also, namentlich in Ansehung alles dessen, was wir vermöge unsrer Denkgesetze als etwas schon in der Natur Gegebenes und unabhängig von uns Vorhandenes betrachten müssen, liegt im ganzen Kreise unsers äußern Erkenntnisvermögens, und insofern unter Poesie, dem bestimmten und eigentlichen Sinne des Ausdruckes gemäß, die Tätigkeit einer, nicht etwa nur darstellenden sondern schaffenden Einbildungskraft verstanden wird, schlechterdings außer dem Reiche der Poesie. Die lebendigste Beschreibung, die treffendste Schilderung gehört ihr nur als Hilfsmittel, und mag insofern poetisch genannt werden, ist es aber keinesweges an sich, und macht auf keine höhere Wahrheit Anspruch als die einer treuen Vergegenwärtigung des geschilderten Gegenstandes; der eigentliche Dichtergeist hingegen, indem er seinen Bewunderern das ganze Weltall nicht nur abspiegelt, sondern offenbart, und Erde und Himmel mit seinen Schöpfungen bevölkert, schildert nicht allein, sondern schafft auch seine Gegenstände, und setzt notwendig, um auch nur auf jene untergeordnete Wahrheit seiner Darstellung derselben Anspruch machen zu können, ihre Wirklidtkeit oder doch den Glauben an ihr w~rk­ liches Dasein voraus. Diese äußere Wahrheit gehört folglich den eigentümlichen Erzeugnissen des Dichtergeistes nur so lange, als Vorstellungen, welchen kein äußeres Dasein ent-

Herrschaft und Rückschritte der Poesie

27

spricht, wenn auch nicht wie im Traumleben mit Eindrüdten der Außenwelt verwechselt, so doch ihnen gleich geschätzt werden, und sobald sich das Erkenntnisvermögen zu einem deutlicheren Bewußtsein erhebt, scheidet es jene poetischen Anschauungen ebenso unfehlbar von dem bis dahin mit ihnen verschwisterten Begriffe des Wirklichen als das Erwachen des Schläfers die Schatten des Traumes von der ihn umgebenden Wirklichkeit selbst. Keine von allen Schöpfungen, mit welchen die Poesie bis dahin ihr weites Reich bevölkert hatte, oder zu bevölkern fortfährt, besitzt von nun an das Verdienst einer Wahrheit, wie wir sie den Gegenständen unsers äußern Bewußtseins oder unsern Vorstellungen von solchen Gegenständen zuzuschreiben genötigt sind. Das ganze Weltall bleibt nach wie vor die Werkstätte des Dichters, aber nicht ein Stäubchen in demselben ist länger sein Werk. Der weite Raum, in dem er das Leben selbst geschaffen hatte, verengert sich zu einer Schaubühne desselben, auf der Götter und Halbgötter aus ihrer selbständigen Tätigkeit zu der untergeordneten einer sinnreichen Maschinerie hinabsinken. Die Poesie, deren Benennung schon auf ein ursprünglich schaffendes Vermögen in der Menschenseele deutet, ist zu einer Kunst, sei es auch der edelsten Täuschung, doch nur einer Täuschung geworden, und beschränkten sich ihre Schöpfungen wirklich auf die Bilder, die sie unsrer Einbildungskraft vorzaubert, so wäre ihr allerdings jede andre als die Wahrheit einer treuen Darstellung unerreichbar, und jene Kunstrichter, die das Wesen derselben in einer bloßen Nachahmung der Natur zu entdedten behaupteten, hatten Recht. Es gibt indessen allerdings auch außer dem Kreise der Dinge, die wir vermöge unsrer Denkgesetze als unabhängig von uns und außer uns in der Natur gegeben ansehen müssen, eine auch ihrerseits den Begriff der Wirklichkeit umfassende Wahrheit solcher Gegenstände unsers Bewußtseins, die zufolge der nämlichen Gesetze mit der sich ihrer bewußten Persönlichkeit auf das innigste und unzertrennlichste zusammen-

28

Wahrheit der Poesie

hängen, eme Wahrheit, nicht allein unsrer Vorstellungen, sondern auch unsrer Gefühle. Das äußere Wahrnehmungsvermögen läßt sich mit einem Spiegel vergleichen, der eine fremde Welt nur mehr oder weniger deutlich zurückstrahlt; unser Empfindungsvermögen bietet auch den Stoff zu allem reichen Wechsel der Erscheinungen einer uns eigentümlicher angehörigen innern Welt. Die Vorstellungen des erstern gestalten sich als Eindrücke irgend einer wirkenden Ursache außer uns, und sind um so vollkommner, je leidender und unbefangner wir uns ihnen hingeben; unsre Gefühle gehen aus einer innern und um so lebendiger aus einer je regeren Tätigkeit unsers eignen Wesens hervor. Der Einen Wahrheit ist weder ursprünglich noch unbedingt, und setzt in ihrem untergeordneten Verhältnisse jene höhere der Wirklichkeit ihres Gegenstandes voraus; die andern hingegen, für die es in der Außenwelt nicht Urbilder sondern höchstens Veranlassungen gibt, in welcher Beziehung sie immer zu dieser Außenwelt stehen, ja ob wir uns bei ihnen einer solchen bewußt sein mögen oder nicht, sind vermöge ihres bloßen Daseins wahr und wirklich zugleich. Und in ihrem Gebiete, und nur in ihm, gab es von jeher auch für die Dichtkunst eine höchste und selbständige Wahrheit, bewährte sie sich naturgemäß als eine schaffende Gewalt, und konnte sie folglich nie aufhören, eine solche zu sein. Die Gefühle, die der Dichter in jedem verwandten Herzen aufzuregen versteht, sind so wenig ein bloßer Widerhall seiner Töne, ein bloßer Abglanz seiner eignen Begeisterung, als die aus einem einzigen Funken auflodernde Flamme der bloße Widerschein dieses Funkens. Im Gemüte allein schuf zu allen Zeiten die Poesie nicht Bilder des Lebens nur, sondern das Leben selbst. Und wie sich das rechte und eigentümliche Wesen der Dichtkunst in dieser höchsten, von keinem Zufalle und keiner Täuschung abhängigen Wahrheit ihrer Schöpfungen offenbart, so zeigt sich die größere oder geringere Schicklichkeit ihrer Formen in deren Verhältnisse zu einem zweiten, gleichewigen

Wahrheit der Poesie

29

Gesetze alles Guten und Schönen, zum Gesetze des Zweckmäßigen. Was im roheren Zustande einer Sprache und ihrer Besitzer dem Versmaße Allgemeingültigkeit verlieh, behauptet seinen Einfluß nur für die Dauer dieses Zustandes, und wie beide sich zu einem reicheren Dasein erheben, sinken in ihrem Werte die Nothilfen der Armut und die Gängelbänder der Hilflosigkeit. Die Sprache befähigt sich zu einer freieren Regel, als die sie anfänglich in der einförmigen Wiederholung des nämlichen Rhythmus zu finden genötigt war; der Mensch im Besitze besserer Erfindungen zur Aufbewahrung des Gedankens ist nicht länger so ausschließlich auf die unzuverlässige Kunst verwiesen, ihn dem Gedächtnisse einzuprägen, und hätte das Versmaß nur solche äußere Gründe der Dürftigkeit, und nie andre als diese gelegentlichen Zwecke gehabt, so würde dasselbe, nach deren Erledigung durch neue Kräfte und entsprechendere Mittel, gebildeten Völkern in jedem Gebiete des Geistes vollkommen so entbehrlich als in dem der strengeren Wissenschaften geworden sein. Wie aber den Schöpfungen der Poesie, ungeachtet ihrer anerkannten Wesenlosigkeit im Reiche der äußeren Erscheinungen, ihre höhere Wahrheit in dem der Gefühle nie verloren geht, so gibt es auch für die Formen derselben in Beziehung auf eben diese innere Welt einen bleibenden und nur durch sie zu erreichenden Zweck. Die Sprache bedarf des Versmaßes nur so lang es ihr zu einer freieren Bewegung an Kräften und Übung, das Gedächtnis, nur so lang es ihm an jedem andern Hilfsmittel der Erhaltung des Wortes mangelt, aber dem innigsten und eigentümlichsten Ausdrucke der Empfindung, aber dem Gesange wird es durch nichts ersetzt. Regelmäßigkeit ist für die bloße Rede auch in einer freieren Bewegung möglich, und Einförmigkeit würde in ihr ein Fehler sein; die Singstimme hingegen, für die es, wie für die Musik überhaupt, keine oratorischen Akzente gibt, bedarf gerade, um jeden Ausdruck derselben, um eine Bedeutung, die der Sprechende durch Beugungen seiner Stimme in einzelne Silben

30

Wahrheit der Poesie

legt, auf eine ganze Reihe von Tönen zu verteilen, einer geregelteren Anordnung ihrer verschiedenen Dauer und Stärke, ohne doch, bei dem größeren Reichtume der Tonleiter, über die sie gebietet, in jene Einförmigkeit verfallen zu müssen, die für den Sprechenden von einem ähnlichen Zwange so unzertrennlich ist. Der Sänger ordnet auch seine regellosen Worte unwillkürlich zu Versen, aber die Kunst, Verse herzusagen, ist die, sie zu verbergen. Die Rede des Menschen also bedarf des Versmaßes nicht, aber seinem Gesange ist es unentbehrlich, und eben indem es den Obergang von der einen zum andern bildet, und zwischen Silben und bloßen Tönen, zwischen der menschlichen und jener allgemeineren Sprache der Natur ein verbindendes Mittelglied ausmacht, und jede Vorstellung zu einer Empfindung zu steigern dient, ist es die Bedingung des Vollendetsten, was beide, Sprache und Musik, in ihrer Vereinigung zu leisten imstande sind, und erreicht es nicht allein seinen höchsten Zweck, sondern auch den einzigen, dem es zu allen Zeiten, und dem niemals ein andres Mittel entspricht. Was immer die Poesie unter verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten in ihr Gebiet hineinziehen und mit ihren Formen bekleiden mochte, immer gab es nur Eine, die nicht nur einem vorübergehenden Bedürfnisse abhalf, und folglich auch nie veralten und einem späteren Geschlechte fremd werden konnte; nur Eine, die sich durch die ewige Wahrheit ihrer Schöpfungen und die unwandelbare Notwendigkeit ihrer Formen zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen als naturgemäß beurkundete, und die nicht bloß der Schule, sondern dem Leben, und nicht nur einer gebildeten oder gelehrten Welt, sondern der Welt gehörte, diejenige nämlich, die für eine bloße Gattung ihrer selbst gehalten als »in Gesang ausbrechende Fülle des Gefühls« bezeichnet zu werden pflegte- die lyrische. Eine veränderte, man dürfte sagen, eine veredelte Richtung des Dichtergeistes, vermöge deren er aus einer Außenwelt, in

Wahrheit der Poesie

31

welcher es nur, so lang er sich selbst und andre täuschen konnte, Wahrheit für ihn zu geben schien, zu seinem eigentlichen Wirkungskreise zurückkehrt, um in diesem, um in der inneren Welt des Gemütes den ganzen Umfang jener schöpferischen Machtfülle zu offenbaren, den er in der andern fruchtlos verschwendete, - eine fortschreitende Entwidtelung desselben, vermöge deren die ursprüngliche Xußerlichkeit (Objektivität) seiner Gebilde, statt wie bisher ihren letzten Zweck auszumachen, als bloßes Mittel zu höheren Zwecken einen minder ausschließlichen aber bleibenderen Wert behauptet, und Außendinge überhaupt, wie im Leben so in den Bildern desselben, erst in Beziehung auf unser Inneres zu ihrer eigentlichen Bedeutung gelangen, - ein ähnliches Hervortreten jener höheren Wahrheit und Zweckmäßigkeit zeigt sich auch in andern als den durch die Sprache versinnlichten Erzeugnissen der schaffenden Phantasie, zeigt sich in den Werken sowohl als in den Wirkungen jeder darstellenden Kunst. Ein Wilder, wenn er zum ersten Male seine Hütte oder seine eignen Züge auf der Leinwand des Malers erblickt, verwechselt das Bild mit dem Gegenstand desselben und entsetzt sich über den Raub, der ihm sein Eigentum oder gar seine Persönlichkeit zu gefährden scheint, und wenn der Künstler sich schon lange nicht mehr von der Schwäche seiner Bewunderer ähnliche Triumphe versprechen darf, bleibt es noch sein Ehrgeiz, wenigstens den flüchtigen Blick des Zerstreuten, der in die gemalte Landschaft hinaustreten will, oder doch den blinden Trieb irgend eines Tieres, den Vogel der an Zeuxis' Trauben pickte, oder den Stier den Myrons Kuh in Flammen setzte, für einen Augenblick zu betrügen, bis endlich nicht länger die Irrtümer, sondern die Gefühle, die sein Werk hervorbringt, ihn belohnen, und eines Claude Lorrain Zeichnungen ein Buch der Wahrheit ausmachen, die über jede Täuschung erhaben ist.' Die ersten rohen Bildsäulen eines Dädalus schienen dem roheren Volke, das ihrer 1

Liber veritatis heißt eine Sammlung der Handuid!nungen Claude Lorrains.

32

Wahrheit der Poesie

ansichtig wurde, sich zu bewegen, und schon hatte die Kunst bedeutende Fortschritte gemacht, als der Künstler, uneingedenk ihrer Würde, seine Bilder noch durch aufgetragene Farben der Wirklichkeit zu nähern suchte, bis endlich auch der verwahrloseste Geschmack diese leichenhafte Nachäffung der Natur verwarf. Pygmalions Wunder geschieht nicht mehr, aber das Leben, das dem Steine mangelt, regt sich bei dem Anblicke desselben in der Seele seines Beschauers. Jene wesentlich verschiedenen, bald auf das Täuschende seiner Darstellungen, bald auf die Wahrheit ihrer Eindrücke abzielenden Richtungen des Dichtergeistes erkennen wir, insofern er selbständig und nicht etwa unter der Leitung einer nachahmenden Gelehrsamkeit seine Bahn verfolgte, an den Erzeugnissen desselben unter verschiedenen Völkern und in verschiedenen Zeiträumen, deren jedesmalige Bildungsstufe dem einen oder andern Bestreben entsprach, und nicht wie etwa in den Werken der bildenden Kunst nur an einer verschiedenen Behandlung, sondern an einer ganz verschiedenartigen Gestaltung derselben, je nachdem sie aus einer zunächst und vorzugsweise in der Außenwelt und in Anschauungen tätigen oder unmittelbarer das Gemüt in Anspruch nehmenden Einbildungskraft hervorgingen. Wir kennen außer der griechischen Poesie, die den Versen aller neueren Europäer zum Vorbild gedient hat, noch eine, die, auf einer ähnlichen frühesten Bildungsstufe ihrer Urheber und unter ähnlichen Mängeln und Bedürfnissen beider entstanden, mit ebenso mannigfachen Dichtungsarten alle Gebiete des Geistes umfaßte und ihrer schrankenlosen Alleinherrschaft alle Kenntnisse und Meinungen wie alle Gefühle des Menschen unterwarf. Die Poesie der Indier enthält ebenfalls außer den lyrischen eine ganze Reihe von epischen, didaktischen und dramatischen Dichtungsarten, und vom regelmäßigen großen Heldengedichte an bis hinab zu dem einfachsten Sinnspruche für jedes Fach der ausgebildetsten Literatur den ersten Keim in irgend einer poetischen Form. Dieselben

Wahrheit der Poesie

33

Ursachen erklären die nämlichen Erscheinungen, ohne daß man darum einen genaueren Zusammenhang unter den Völkern vorauszusetzen gezwungen wäre, bei welchen sie vorkamen. Jene Formen der ersten Geisteswerke sahen einander in denselben Entwicklungszeiträumen der verschiedensten Völker eben darum so ähnlich, weil sie nicht von einzelnen Menschen erfunden und andern gelehrt wurden, sondern sich ihnen allen mit gleicher Notwendigkeit und von selbst anboten, so lange die Phantasie allein das Geschäft jedes noch nicht erwachten andern Seelenvermögens übernahm. Das Andenken der Vergangenheit, nur in den Gesängen des Dichters lebend, gestaltete sich überall zum Heldenliede; Gleichnis und Fabel, und was immer in späteren Zeiten die Rede zu schmücken dient, ersetzte sie, wo es nur noch Sänger und keine Redner gab; die Dichtung lehrte, so lang die reifere Wissenschaft selbst noch nicht zu Wissenschaftlicheren Darstellungen geführt hatte, und in einzelnen Denksprüchen offenbarte sich die Weisheit, weil zur Verkettung einer ganzen Reihe von Schlüssen der Beobachter des reicheren Stoffes und seine Sprache des passenden Ausdruckes ermangelten. Gelangte hingegen die Poesie eines Volkes nicht in jenem ersten Kindesalter desselben, sondern auf einer höheren Stufe seiner Entwickelung, aber ebenfalls ursprünglich und selbständig, und nicht als bloße Nachahmung irgend eines fremden Vorbildes zu ihrem Dasein, entstand sie in einer an Kenntnissen und Erfahrungen reicheren und ihrer früheren Dichter- und Sehervormundschaft auch nur zum Teil entwachsenen Gesellschaft, als das Erzeugnis einer wohl noch vorherrschenden aber nicht länger alleinherrschenden Phantasie, so hat sie wahrscheinlich von allen in das Gebiet irgend eines andern Seelenvermögens eingreifenden Dichtungsarten die wenigsten oder gar keine aufzuweisen, und ist in Form und Wesen eine im engeren Sinne des Wortes -lyrische. Die ältesten Dichtungen mehrerer Völker scheinen in dieser Art auf einen, zwar nicht abgeleiteten aber doch zweiten Ur-

34

Wahrheit der Poesie

sprung ihrer Dichtkunst hinzudeuten, der indessen so wesentliche Veränderungen in Ansehung ihrer gesellschafl:lichen Verhältnisse, ihrer Sitten, und selbst ihrer Sprache, und zugleich ein so entschiedenes Vergessen alles Vorhergegangenen voraussetzt, daß er sich nur selten geschichtlich ausmachen läßt. In einem einzigen Falle sehen wir das Entstehen einer neuen Gesellschafl:, einer neuen Religion und neuer Sprachen gleichsam vor unsern Augen vorgehen, sehen wir die Bewohner fast eines ganzen Weltteiles ihre Laufbahn auf einer höheren Stufe der Entwickelung wie ganz von neuem antreten, und unter diesen Umständen, aber durchaus unabhängig von dem Einflusse fremder Muster eine Poesie entstehen, deren Eigentümlichkeiten in vollestem Maße alles bestätigen, was uns die Natur der Dinge für einen ähnlichen Fall zu vermuten berechtigte. Das Beispiel der Völkerschafl:en, die sich in die Provinzen des römischen Reiches teilten, ist zwar nur ein einziges, aber zugleich ein so umfassendes in seinem Umfange, und folglich auch in seiner Beweiskrafl:, daß es füglieh für eine ganze Reihe von ähnlichen Zeugnissen gelten mag. Stammten diese Völkerschafl:en, wie es nicht unmöglich ist, aus den Gebirgen Armeniens, oder gar aus der Halbinsel diesseits des Ganges her, so hatten sie, unter dem wechselvollen Schicksale ihrer Wanderung, Sprache, Sitten und Oberlieferungen der Heimat so gänzlich verändert oder vergessen, daß zwischen ihrem nachmaligen und ihrem vorhergehenden Zustande durchaus weiter kein Zusammenhang oder doch kein bemerkbarer übrig blieb; und wer sich durch die rauheren Züge des Nordens nicht abschrecken oder nicht von dem reicheren Farbenspiele des morgenländischen Himmels verblenden läßt, erblickt sie schon in den germanischen Wäldern a1,1f einer höheren Stufe, als zu der ihre Stammesgenossen unter der Zuchtrute schrankenloser Herrengewalt oder der zwiefachen Geißel eines herrschenden Priesterordens und einer bevorrechteten Kriegerkaste damals gelangt waren oder bis heute vorgeschritten sind. Noch ausgemachter erscheint so-

Wahrheit der Poesie

35

dann und wo möglich noch allgemeiner und entschiedener eine ähnliche Umgestaltung aller bisherigen Lebensverhältnisse dieser Völker und ihr Fortschreiten in einer durchaus veränderten Richtung, als nach der Zerstückelung des römischen Reiches Meinungen, Sitten, Sprachen und Gewohnheiten der überwundenen und ihrer Besieger, ungeachtet alles Widerstrebens zumal der letztern, in ihrer innigen Verschmelzung sich zu einem neuen Ganzen gestalteten, dem eine neue Religion das Gepräge der Unwiderruflichkeit aufdrückte; und wie sehr auch spätere Zeiten die Roheit jenes aus einer solchen Mischung hervorgegangenen Mittelalters zu verabscheuen berechtigt sein mochten, immer doch stand es, man berücksichtige nun die jedesmalige Summe von Menschenglück oder den jedesmal vorhandenen Sinn für Menschenwürde, bei weitem erhaben, - über dem Zeitalter nicht allein, in welchem Orpheus und Amphion zerstreute Wilde zu einer Gesellschaft vereinigten, sondern auch über demjenigen, in welchem die Vollendung einiger Künste und die unfruchtbaren Blüten einer auch ihrerseits künstlichen Schulweisheit und auch nur auf einigen vereinzelten Punkten die tiefe Unmenschlichkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse mit einem täuschenden Schimmer überkleideten. Ein Geschlecht, wie das der überwinder des alten Roms, den auf dem Wege zu seinem neuen Standpunkte Sprache, Religion und Überlieferungen seiner Väter bis auf die Erinnerung an dieselben verloren gegangen, und dessen Zustand, wenngleich eine Folge seiner früheren Schicksale doch keinesweges bloße Fortsetzung derselben war, ein solches Geschlecht, indem es eine neue Poesie ins Leben rief, konnte unmöglich in die Fußstapfen derjenigen treten, die an der Wiege der Menschheit gesungen hatten. Es war wohl noch den Täuschungen der Einbildungskraft unterworfen, aber nicht länger ihrer Herrschaft, und mit aller Empfänglichkeit für des Dichters Begeisterung ohne den alten Glauben an seine Offenbarungen. Andre Seelenkräfte waren erwacht, und hatte die

36

Wahrheit der Poesie

Poesie noch immer einen großen und selbst überwiegenden Einfluß auf Religion und Wissenschaft, so waren doch beide in ihrem innersten Wesen etwas Andres und Besseres als bloße Poesie. Auch sehen wir die Dichtkunst im Mittelalter bei weitem andre Zwecke verfolgen und sich in ganz andern Formen gefallen und ausbilden als die der alten Welt. Aus dem Kreise nicht sowohl höherer als fremdartiger Anschauungen in das vertrautere Gebiet unserer Empfindungen und Leidenschaften zurüdtkehrend, ist sie vielmehr die Stimme des gefühlvolleren Menschen als die eines begabteren Sehers, und verkündigt sie nicht sowohl was nur Einer sieht und alle übrigen anstaunen, als was Alle fühlen, aber nur Einer auszudrüdten vermag. Nicht länger die Sprache der Götter, spricht sie desto inniger den Menschen an. Sie ist lyrisch in ihrem ganzen Wesen, und wie in ihrem Wesen auch in ihrer Form. Von allen sogenannten höheren Dichtungsarten kennt sie oder glückt ihr fast keine einzige. Im Liede nur mit allen seinen mannigfaltigen Abarten, von der ernsten Romanze des Spaniers bis zu den leichtesten Scherzen der Troubadoure und Minnesinger, gefällt sie sich und ihrer Zeit; und während in jener älteren Poesie der Anschauungen jeder verschiedene Gegenstand oder nur jede verschiedene Behandlungsweise des nämlichen Gegenstandes eine besondre Dichtungsart entstehen ließ, gab es in dieser für Erzählung und Lehre, für den Spott und für die Klage, wie sie alle aus einer einzigen Begeisterung des Herzens hervorgingen, auch nur die eine Form der Darstellung, die zu allen Zeiten der Stimme des Herzens, dem Gesange entspricht. Jeder Versuch, die Formen der Dichtung vielmehr dem Gegenstande als der Empfindung, die er aufzuregen bestimmt war, anzupassen; war ein mißlungener, und jeder legte Zeugnis ab für die Fortschritte der Zeit, nicht aber den Verfall der Poesie. Die gereimten Chroniken des Mittelalters lassen sich freilich weder in ihrer Wirkung noch in ihrem Werte mit einer Ilias vergleichen, aber so eben liefern sie den Beweis, daß die Ge-

Wahrheit der Poesie

37

schichte, die wohl noch den Dichter begeistern konnte, nicht länger von ihm zu ersetzen war. Und nicht allein, was in sich selbst keinen Wert hatte, auch das Bessere, das in den Formen vergangener Zeiten erschien, begegnete damals der gerechten Gleichgültigkeit seiner eignen, während ihr entschiedenster Beifall so manchem schlechteren, aber verständlicheren Werke zuteil wurde, das ihren Bedürfnissen entsprach. So würde der glänzende Erfolg der meisten proven~alischen Dichtungen, bei ihrer unverkennbaren Nüchternheit, neben so vielen minder geachteten, obgleich unstreitig verdienstvolleren, des nämlichen Zeitalters durchaus unerklärlich erscheinen, hätten sie nie ein andres Dasein gehabt als das unsrer neueren, in Bücherschränken und auf dem Papier. Aber sie lebten auch auf den Saiten des Künstlers und auf den Lippen des Volks. Die Dichtungen der Troubadoure gehörten sämtlich, wie einer der geistvollsten Darsteller des Mittelalters' bemerkt, zu einer Gattung, die sich auf das innigste den Tönen anschmiegt und vielmehr durch den Zauber dieser Ietztern als durch Glanz oder Leidenschaftlichkeit ihres Ausdrucks zu wirken pflegt. Im Besitze einer biegsamen und wohlklingenden Mundart, ersannen die Troubadoure mancherlei den Völkern Europens ganz neue Versmaße. Die bis dahin bekannten lateinischen Gesänge waren kraftvoll, aber eintönig, die der nördlichen Franzosen hatten, ohne denselben Vorzug, denselben Fehler; in der proven~alischen Dichtkunst hingegen standen jede Länge der Zeile durch alle Abstufungen von zwei bis zwölf Silben und jede noch so verwickelte Anordnung des Reimes in des Dichters Wahl, und eine ähnliche Herrschaft über die Sprache des Gesanges und ein immer neuer Wechsel im Wohlklange desselben, wie er dadurch möglich wurde, reichen hin zur Erklärung jener Siege des Troubadours über die stummere der Dichtkunst seiner ihm zwar an schöpferischer Fülle der Einbildunskraft bei weitem überlegenen, aber sich x Hallam. Kap. IX. Th. :. seines Werkes über das Mittelalter.

38

Wahrheit der Poesie

vorzugsweise der epischen Darstellung widmenden Zeitgenossen, der Trouveurs des nördlichen Frankreichs und besonders der Normandie; Siege, dergleichen wir auch in unsern Tagen wohl manches wertlose Opernliedchen, und mit eben so gutem Rechte, sie über das lautlosere Verdienst bloßer Lehrgedichte davontragen sehn. Der wunderliche Einfall, die Poesie, und nicht etwa eine bloße Kenntnis derselben, sondern ihre förmliche Ausbildung schulmäßig zu lehren, gehörte freilich auch diesen Zeiten, aber nur in ihnen stimmte der Begriff, den die Schule ihrem Unterrichte zum Grunde legte, mit demjenigen, der sich im Leben bewährt hatte, überein. Die Musik als eine ihrer sieben freien Künste war Poesie, wenn auch nicht im gewöhnlichen, doch im eigentlichen und vollen Sinne des Wortes, und so wenig bloße Tonkunst, als die Dichtkunst bloße Versmacherei. Beide Künste im engsten Bunde sicherten einander gegenseitig eine allgemeinere Gültigkeit. Jedes Lied war unzertrennlich von seiner Weise, jedes Gedicht notwendig ein Gesang, und zum zweitenmale gelangte die Poesie zu einer gewissen Allseitigkeit, nicht für alle geistigen Beziehungen, aber für alle bürgerlichen Verhältnisse des Menschen, und vertrat sie die Stelle, wenn auch nicht jeder Kenntnis, doch so mancher noch nicht bekannten oder wieder vergessenen Kunst. Das edelste der Spiele feierte auch damals den Sieger in jedem andern, schuf Denkmäler der Vergangenheit, allgegenwärtigere als der Bildhauer im regungslosen Stein, vertrat noch immer für Millionen die Schrift und ihre seltneren Hilfsmittel, und war in Spott- und Ehrenliedern ein Werkzeug der öffentlichen Meinung, wie es vollkommener nur die Presse und auch sie nur in ihrer Freiheit abzugeben vermag. Als König Harald m., der im zehnten Jahrhundert in Dänemark regierte, sich die Ausübung eines unmenschlichen Standrechtes gegen die Isländer erlaubt hatte, gaben diese, vermöge eines Landtagsbeschlusses, jedem Hausvater ihrer Insel die Lieferungen von zwei Versen zu einem allgemeinen Schand-

Wahrheit der Poesie

39

Iiede gegen ihre Unterdrücker auf, und brachten, wenn jemals eine Didttung so genannt werden durfte, ein Nationalgedicht zustande, das ihn empfindlicher bestrafte als der unglückliche Ausgang des Krieges, durch den er sich zu rächen unternahm. Die Gewalt ist wohl noch Sache der Könige, aber wo der Schirm gegen dieselbe, wo die Öffentlichkeit selbst wie damals ihr bloßes Ersatzmittel Sache des Volks? Und wenn fernerhin beide, Haß und Liebe der Völker stumm wurden; wenn die Verachtung sich neben der vorschriftmäßigen Beredsamkeit einer Hofzeitung nur in dem Schweigen ihrer Leser kund gab, und der Ruhm selbst, lautlos und flügellos von Büchersälen zu Büchersälen schlich; wenn auch Bessere als Ludwig XIV. um ihr Lob zu hören, wollten sie es nicht wie er sich selber vorsingen, es auf ihren Schaubühnen mußten absingen lassen; wenn der Geschichte fortan keine Stimme des Volkes Antwort gab, so war es weder Haß gegen seine Großen, der, wie die Furcht seinem Unwillen Schweigen gebot, es abhielt, Gutes von ihnen auch nur zu denken, geschweige denn zu singen, noch die Gewohnheit, nur Schlimmes an ihnen zu sehen, oder eigne Ausartung, abstumpfend gegen Gutes und Böses, die es verstummen ließen•; jedermann sang, als man noch keine Lieder hatte, die der größte Teil des Volkes nicht verstand•, und jedermann schwieg, als es nur solche gab. Noch im sechzehnten Jahrhunderte war ein gutes Lied wenigstens so wirksam als heutzutage ein guter Aufsatz in einer politischen Zeitung, und schon im siebzehnten das schulgerechteste so bedeutungslos als der beste in einer gelehrten.) I Gründe, die Schmidt in seiner Geschichte der Deutschen fragweise zur Sprache bringt. S. daselbst V. 9· 1 Ein Ausdruck desselben Schriftstellers (Schmidt) S. a.a.O. III. 8. 3 Ein Beispiel der noch fortdauernden Wichtigkeit des Volksliedes aus der letzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts liefert u. a. die damalige Fehde des Ritters Sebastian Schärtlin gegen den Grafen Ludwig von Oettingen, Graf Igel genannt, weil, so heißt es, der Großmütige seinen armen Untertanen die Jagd auf Eichhörnchen und Igel freizugeben sich herbeigelassen. Man lese nur Schärtlins wiederholte Klagen, •daß die Grafen - Igel und seine Brüder - ihn und die Seinen schmählich mit Liedern und sonst Gedichten, Sprüchen und Schriften unter die

40

Wahrheit der Poesie

Als nam dem Wiederaufleben der WissenschaA:en, man sollte sagen, der älteren Formen einiger WissensmaA:en, die Werke der Alten bekannter wurden, trat an die Stelle jenes Naturgesanges, den vom Palaste bis zur Hütte jeder Mund wiederholt und jedes Herz verstanden hatte, die gesmriebene Poesie der Namahmer. Lieder, fast überall in einer sim erst bildenden Sprame gesungen, veralteten mit ihrem Ausdrucke, und in der zu einiger Festigkeit gelangten lebte nirgends die Begeisterung der Zeiten oder Völker, welmen sie gehörte. Die edelsten Geister hatten sim aus der Welt in die Smule zurückgezogen, und meinten in der Tramt der Alten zu erscheinen, wenn sie in deren alten Kleidern auftraten.' Singen hieß Verse smreiben, die zum Gesange so wenig bestimmt als geeignet waren. Der Gelehrte schwelgte in den Smätzen des Altertums; gewöhnlimen Lesern galt ein gewisser Kreis von Göttersagen und Bildern übereinkömmlim für Poesie; das Volk behalf sim mit Gassenhauern. Aber mitten in diesem DanaidengesmäA:e, die Leime der Vergangenheit wieder in Bewegung zu setzen, huldigten diejenigen selbst, deren befangenes Urteil das alte Smattenspiel am hellen Tage für möglim ansah, mit ihrem Unverfälschteren Gefühle unwillkürlim der Wahrheit und Natur. Nimt eben die wunderbarste oder glänzendste, es war die einfamste und innigste der älteren Darstellungen, diejenige, die jedesmal der lyrismen Dimtung am nämsten kam, die alle Stimmen zu Gemein auch an die Kaiser!. Majestät an Chur- und Fürsten, Grafen und Herren getragen•, oder, •daß Graf Igel ihn also jämmerlich allenthalben mit gedruckten Schriften und schmählichen Liedern verstenktc, und wie wohlgefällig der alte Kriegsmann weiterhin in seinem Tagebuche anmerkt: •und dieweil soviel schändlichere Lieder und Sprüch' über mich ausgegangen; so hat Einer, dem ich vielleicht auch Guts getan, auch einen schönen Pasquillum und Lied von ermeldtem Grafen Igel von Harburg gemacht, ihn ziemlich wohl angebunden.• S. Lebensbeschreibung des berühmten Ritters Sebastian Schärdin von Burtenbach, aus dessen eignen und Geschlechtsnachrichten herausgegeben von C. S. von Holzscbuher I. S. 1, 8-St und 90. 1 Das Gegenteil von dem, was Denharn von Cowley in Beziehung auf dessen lateinische Poesien zu rühmen wußte: he wears the garb, but not the dothes of the ancients.

Wahrheit der Poesie

41

ihrem Lobe vereinigte und ihren Bewunderern die meisten und bleibendsten Genüsse bot; und nicht eine glücklichere Nachbildung veralteter Formen, sondern daß auch in ihnen dieser Geist einer sich wie das Menschengeschlecht immer wieder verjüngenden Poesie jede Schwierigkeit überwand und frei ins Leben trat, sicherte den größten unter den neueren Dichtern ihren Ruhm. Hectors Abschied von Andromache, Priams Bitten um die Leiche des geliebten Sohnes, Didos Klagen rühren uns mächtiger in den Werken der alten Meister als alle ihre Schlachtengemälde und Göttererscheinungen, und von allen ihren Schülern zeigt uns keiner so deutlich als wohl der größte derselben, als Milton, den wesentlichen Unterschied zwischen einer darstellenden und einer herrschenden, einer ausmalenden und einer begeisternden Phantasie, und wie die gewaltigere von beiden auch in Formen, die eigentlich nur der andern zusagen, sich offenbart. »Was die Poesie dieses wunderbaren Mannes am eigentümlichsten bezeichnet, sagt von ihm so treffend als glücklich ein englischer Kunstrichter', ist jene weite Ferne, aus der er durch Ideenverbindungen auf seine Leser wirkt. Es geschieht nicht sowohl durch was er ausdrückt, als was er zu verstehen gibt, nicht sowohl durch Vorstellungen, die er unmittelbar mitteilt, als durch andre, die mit jenen zusammenhängen. Er elektrisiert uns durch poetische Leiter. Der dürftigsten Einbildungskraft ist alles klar in den Gesängen der Ilias. Homer fordert sie zu keiner Anstrengung auf, und läßt ihr keine Wahl; er nimmt alles auf sich allein und setzt seine Bilder in ein so helles Licht, daß jeder sie notwendig erblicken muß. Miltons Werke sind nur einer Seele verständlich, die mit dem Geiste des Dichters zusammenwirkt. Er zeigt uns kein vollendetes Gemälde, kein bloßes Schauspiel für den müßigen Betrachter. Er entwirft und überläßt andern das Ausfüllen seiner Umrisse; er gibt die Grundstimme an, und überläßt seinem Zuhörer das Verfolgen der Melodie. -1

S. Edinburgh-Review. Nr. 84. Art.

1.

Milton.

42

Wahrheit der Poesie

- - Wir hören ofl: von magischen Wirkungen der Didttkunst, ein Ausdruck, der in der Regel nidtt viel zu bedeuten hat, aber in Beziehung auf Miltons Sdtrifl:en etwas mehr sein dürfl:e als bloße Redensart. Seine Poesie wirkt in der Tat wie Bezauberung, weniger durdt ihren zu Tage liegenden Sinn als durch eine gewisse verborgene Gewalt. Auf den ersten Anblick sdteinen ihre Worte nicht mehr zu sagen als andre Worte auch; aber es sind Zauberformeln, die der Meister ausspricht, und kaum sind sie ausgesprodten, und das Vergangene ist uns gegenwärtig, und die Ferne ist uns nah. Entschwundene Zeitalter stehen verjüngt vor unsern Blicken, und alle Gräber des Gedächtnisses öffnen sich und geben ihre Toten zurück. Man versudt' es, und ändre den Bau seiner Rede, man setze für den von ihm gewählten Ausdruck einen andern, einen dem Ansmeine nach gleichbedeutenden, und der Zauber ist gelöst, und wer mit dem neuen Sprudle die alten Beschwörung unternähme, würde sich getäuscht sehen, wie jener Cassim in dem arabischen Märchen mit seinem »Weizen öffne dich!« und »Gerste öffne dich!« vor dem versdtlossenen Tore, das nur ein •Sesam öffne dich!« zu bezwingen vermag.' Und in der Tat, schon die Eigentümlichkeiten, durdt die jede frühere Sprache sich naturgemäß von jeder später entstandenen unterscheidet, verweisen uns auf jene Versdtiedenheit, die ebenso notwendig und naturgemäß, und ungeachtet aller erzwungenen Einerleiheit gewisser Formen, zwischen dem Didtter der Vorwelt und jedem besseren eines gereifl:eren Zeitalters stattfindet. Wir haben jenes malerische Wort nidtt I Drydeos jämmerlicher Fehlgriff, als er einige Teile des Verlorneo Paradieses umzuschreiben versuchte, liefert in diser Hinsicht einen merkwürdigen Beleg, und wohl auch Bendeys Ausgabe desselben Gedichtes, die jene Rüge im fünften Buch der Dunciade rechtfertigt, wo Bendey, The mighty Scholiast whose unwearied pains Made Horace dull and humbled Milton's strains, sich zu rühmen weiß: Turn what they will to verse, this toil is vain, Critics like me shall make it prose again.

Wahrheit der Poesie

43

mehr, das dem ältern Sänger zu Gebote stand; an die Stelle des Bildes traten Begriffe, an die Stelle des nachahmenden Klanges geistige Beziehungen, und einen Rhythmus, der mit seinem körperlichen Ebenmaße zunächst und vorzugsweise dem äußern Sinne wohltat, ersetzt eine Regel der Betonung, die unmittelbarer aus dem Innern hervorgegangen unmittelbarer zum Innern spricht. In bestimmteren, in beinahe sichtbaren Formen erscheinen die älteren Sprachen, aber ein tieferes Leben regt sich in den neueren. Wie vollendete Gemälde auf der Leinwand stehen die Werke der einen in aller Deutlichkeit ihrer Umrisse und ihres Farbenglanzes vor uns da; wie Geistererscheinungen gleiten die Schöpfungen der andern an uns vorüber, minder bleibend und anschaulich, aber gewaltiger in ihren Wirkungen. Lassen jene sich dem Pinsel des Malers vergleichen, so gleichen diese einem Zauberstabe, der nur darum so selten dafür erkannt wurde, weil ihn so selten jemand zu schwingen verstand. Auch jener Streit über den Vorzug der klassischen oder romantischen Poesie, der überall in Europa Schriftsteller und Leser so vielfach in Parteien zerwirft, bezieht sich eigentlich auf einen ganz andern und wesentlicheren Unterschied, als auf den die mißverständlichen Ausdrücke zu deuten scheinen, welchen er, wenn auch nicht seinen Ursprung, doch seine Dauer verdankt. »Klassisch«, insofern die Benennung überhaupt etwas Tadelloses, etwas Vollendetes bezeichnet, ist offenbar das Beste in jeder Art, nicht aber eine Art an sich, und sie irgend einer einzelnen ausschließlich beilegen, heißt sich im voraus zu jeder unbefangenen Erörterung und Abstimmung hinsichtlich der vorliegenden Frage für unfähig erklären. Das Wort »romantisch« auf der andern Seite bezieht sich nur auf ZufäHigkeiten einer Sprache, Zeit oder Örtlichkeit und höchstens einer gewissen Behandlungsweise, nicht aber auf das Bleibende und Innere, das zu allen Zeiten und überall die unterscheidenden Eigentümlichkeiten einer Dichtungsart be-

44

Wahrheit der Poesie

stimmt. Käm' es nur darauf an, zu entscheiden, ob der Hexameter dem Reime, oder dieser jenem, das Wunderbare dem Abenteuerlichen, oder das Heiligenmärchen der Götterfabel vorzuziehen sei, so würd' es ebenso unverschämt als überflüssig erscheinen, allgemeingültig ausmachen zu wollen, was von Rechts wegen dem Geschmacke jedes Einzelnen, aber freilich nur für ihn überlassen bleibt. Hingegen die veränderte Richtung und Grenze irgend einer geistigen Wirksamkeit und geschichtlich und vernunftmäßig den Ursprung ihrer Veränderungen und deren Beziehung auf den ganzen Entwickelungsgang der Menschheit nachzuweisen, ist allerdings eine des Versuches ihrer Lösung würdigere Aufgabe, und aus diesem Gesichtspunkte angesehen, hat auch die Erörterung jener wesentlich verschiedenen Leistungen des Dichtergeistes eine höhere Bedeutung und einen allgemeineren Wert. Alles, was neuere, besonders französische Kunstrichter als Eigentümlichkeiten der romantischen im Gegensatze zur klassischen Poesie bezeichneten; ihre Nichtachtung der bekannten drei Einheitsgesetze des Dramas, ihre Mannigfaltigkeit in der Behandlung des nämlichen Stoffes und ihre Vernachlässigung des Ideales, dessen Regelmäßigkeit sie durch lebendigere Wahrheit ihrer Darstellungen ersetzen will; alles das ist näher betrachtet nur Zeichen und Folge ihres eigentümlichen Wesens, nicht aber dieses letztere selbst. Regelmäßigkeit, insofern sie das Mittel dem Zwecke anpassen lehrt, ist ein so unentbehrliches Erfordernis jeder Leistung, bei der überhaupt etwas beabsichtigt wurde, daß Regellosigkeit unmöglich das unterscheidende Merkmale irgend einer, nicht ganz und gar jedes Zweckes ermangelnden ausmachen kann; und genauer betrachtet ist es eben ihr näheres und schärferes, ihr unmittelbares Bezielen der vorgesetzten Wirkung, was der romantischen Poesie, in Vergleichung mit ihrer kunstreicher zu Werke gehenden älteren Schwester, jenes unvorbereitete und daher regellosere Ansehen gibt, in dem so viele das Eigentümliche derselben zu erkennen sich einbildeten. Beide, in welcher

Wahrheit der Poesie

45

Sprache oder in welchem Kreise der Darstellung sie immer sich bewegen, unterscheidet, unabhängig von allen sie begleitenden Zufälligkeiten, was notwendig und naturgemäß die Poesie der Anschauungen (die objektive) von derjenigen, die vorzugsweise unsere Empfindungen in Anspruch nimmt, unterscheiden muß. Eine geeignete und nichts weniger als willkürliche Anwendung der Mittel zum Zwecke ist beiden gemein, aber die eine, indem sie jene sorgfältiger berücksichtigt, - einem Krieger gleich, der sich schon durch den Glanz und die Vollständigkeit seiner Rüstung des Sieges versichern willscheint geregelter, die andre unregelmäßiger, weil sie, mehr die Wirkung ins Auge fassend, und unbekümmerter um die Art, sie hervorzubringen, sich der ersten ihr unter die Hände kommenden Waffe bedient, zufrieden, wenn sie nur triffl:. So geschieht es, daß jene sorgfältiger ausmalt, was diese nur anzudeuten pflegt; daß der Dichter, je nachdem er zunächst und vorzugsweise die Vollendung seiner Darstellung oder ihren Eindruck in's Auge faßte, dem Ideale oder dem treueren Wiedergeben einer mit allen ihren Mängeln uns doch näher liegenden Wirklichkeit nachstrebt; daß der wesentlich verschiedene Geist beider Dichtungsarten, je nachdem er durch Bewunderung und Glauben oder durch Mitgefühl zu wirken, je nachdem er seine Bilder dem Zuhörer anschaulich zu machen oder ihren Zauber in ihm selbst zu wecken sucht, notwendig auch den Formen seiner Schöpfungen ein wesentlich verschiedenes Gepräge verleiht. Was man daher von den immer geringeren Wirkungen der Poesie überhaupt zu bemerken pflegt, gilt eigentlich nur von jener älteren Poesie der Anschauungen. Diese freilich hat ihre ursprüngliche Herrschaft unwiderruflich eingebüßt, und ein gebildeteres Volk durch Heldengedichte in Bewegung setzen zu wollen, dürfte völlig so unstatthaft sein, als es unmöglich ist, Erwachsene durch die Märchen zu täuschen, die einen so überwiegenden Einfluß auf alle Gefühle und Oberzeugungen ihrer Kindheit ausübten. Achills Ruhm war noch Alexander dem Großen ein Sporn zu seinen Unternehmungen; Carl xn.

46

Wahrheit der Poesie

und Friedeich II. fanden in Cäsars Denkwürdigkeiten mächtigere Antriebe zu den ihrigen. Das Lehrgedicht hat seit Jahrtausenden schon, was es auch bieten mag, nur das nicht geboten, was es verspricht -Belehrung. Der Vers, wo immer er eine freie Rede vertritt, kann ihren Platz nicht länger behaupten. Walter Scotts Romane machen und verdienen ein größeres Glück als seine Poesien, in welchen die Erzählung sich mühselig in Banden, die nur dem Gesange zusagen, bewegen muß; und der einzige und letzte Lohn so unzeitiger Anstrengungen, das Lob der glücklich überwundenen Schwierigkeit, erscheint nachgerade um so wertloser, je überflüssiger die Mühe, dergleichen zu überwinden. Aber nur die Zeiten der Täuschung sind vorüber, nicht die der Begeisterung; nur die Poesie der Anschauung, nicht aber auch die des Gefühles hat ihren Zauber eingebüßt. Die lyrische Poesie, die in Gesang ausbrechende Fülle der Empfindungen, behauptete ihren Einfluß und ihren Rang. Sie blieb im Einzelnen die innigste Stimme des Herzens, und überall, wo größere Menschenmassen sich zu irgend einem gemeinsamen Zwecke in Bewegung setzten, die mächtigste Vermittleein zwischen dem Gedanken und seinem Werke, der Tat, und mehr als Ein wichtiges Ereignis, das den Völkern eine neue Richtung mitteilte, legt Zeugnis dafür ab, und wurde in Liedern gefeiert, nachdem Lieder es herbeigeführt. Luthers Kirchengesänge und Marots Psalmen trugen zur Verbreitung des Protestantismus wohl ebenso viel bei als alle Predigten und Abhandlungen; ein Liedehen war es, daß Jakob dem Zweiten unter den Söldnern, die er gegen die Freiheit ihres Vaterlandes abrichten zu können gemeint hatte, sein Schicksal verkündigte, und von einem Ende der Insel bis zum andem widerhallend, dem Fliehenden bis in die Barke nachschallte, in der er seinen Rang und seine Schande unter dem Lakaienrocke verbarg;' und in einer nur kaum vergangeneu Der Lillabullero, den meisten Lesern aus Tristram Shantlys Leben und in Oncle Tobys Munde bekannter als in der Geschichte. Seiner Bedeutung in dieser let%tern gedenkt Burnet in der History of his own time. I

Wahrheit der Poesie

47

Zeit sahen wir die Helden wie die Opfer der Freiheit singend gegen die Knechte des Feudalismus ziehn und singend das Blutgerüst besteigen. Ein Homer würde schwerlich noch ganze Heere zum Siege begeistern, wohl aber ein Tyrtäus. Das Rule Britannia ist ein Schlachtenpäan und seit hundert Jahren ein siegreicher auf allen Meeren; und Rouget de Lisles Marseiller Hymne schlug, nach Klopstocks treffendem Ausdrucke, Hunderttausende von Deutschen wie mit der Schärfe des Schwertes. Ja, wo alle anderen Kräfl:e des Widerstandes überwältigt und vor den Rechten des Stärkeren verstummt waren, sprach warnend und schützend eine öffentliche Meinung sich in Gesängen aus. Die Regierung des alten Frankreichs nannte man »eine schrankenlose, aber durch Lieder gemäßigte Monarchie«,' und man hatte Recht. Verglichen mit den Vorstellungen der Parlamente, gab es da noch immer in den Liedern des Pont-neuf die bei weitem wirksamere Opposition, und in der Regel auch die gescheutere; und noch gegenwärtig steht ein Beranger, wenngleich nicht auf der linken Seite und keiner ihrer Sprecher, doch als ihr Sänger unter den Einflußreichsten der Verteidiger seines Volks. Indem die neueren Dichter den älteren auf einem Wege, der von diesen unter längst entschwundenen Umgehungen und Verhältnissen betreten war, knechtisch nachfolgten und ohne auch nur durch die lyrische Behandlung ihrer Gegenstände die unpoetische Wahl derselben zu verschleiern immer nur Verse schrieben und höchstens vorlasen, wo jene sie gesungen hatten, mußte wohl ihre Poesie ein so kahles und verschossenes Ansehen erhalten, wie der Augenschein es lehrt; mußten sie wohl im Nachzuge solcher Vorgänger sich ausnehmen wie jener nach Cäsar triumphierende Fabius, der in seinen aus schlechtem Holze geschnitzten Schaustücken dem Volke die bloßen Kapseln der Bilder zu zeigen schien, die Cäsar in Silber und Elfenbein vor sich hertragen ließ. Im ganzen weiten Umfange ihres ursprünglichen Gebietes war die Poesie, nur 1

Une monard!ie absolue,

temp~r~e

par des dtansons.

48

Irrwege der Poesie

so lange sie naturgemäß in demselben waltete, stark und schön wie die der alten Welt, und wurde sie, von dem Augenblicke an, wo ihr in dieser bisherigen Ausdehnung ein bloßes erkünsteltes Scheinleben der Nachahmung gehörte, notwendig so matt und farbenlos, und in ihren Verdiensten und Wirkungen so schlechterdings unfähig, eine Vergleichung mit jener älteren auszuhalten, wie die unsrige; und nur die lyrische Poesie, die natürlichste in jedem Zeitalter, war auch die einzige, die niemals aufhören konnte Poesie zu sein, die einzige, die es den gebildetsten Völkern geblieben ist, und die ihnen dereinst auch wohl allein dafür gelten wird. Nicht also, daß die Poesie so viel von ihrem früheren Gebiete verloren, das vielmehr ist zu beklagen, daß sie, noch immer nicht auf ihren eigentlichen und eigentümlichen Wirkungskreis beschränkt, sich fortdauernd in so viele Gegenden des Sprachgebietes, in welchen sie nichts mehr zu sagen hat, eindrängt und behauptet; und um so mehr zu beklagen, da die verderblichen Folgen ihres unnatürlichen Umfassens auch des Fremdartigsten, sich nicht allein auf ihre eignen Schöpfungen erstreckten, sondern auch auf die meisten Erzeugnisse der Schriftsprache überhaupt. über dem Beharren bei der poetischen Einkleidung einer Menge von Gegenständen, die sich dazu schlechterding nicht länger eigneten, machten sich die meisten Verse zu einer bloßen tollgewordenen Prose; und während ein bleibendes Vorurteil uns nur bei jenen das Ohr zu Rate ziehen, und einen Wohlklang, der doch von jeder guten Prose nicht weniger unzertrennlich, und in ihr nicht minder wirksam und vielleicht schwieriger ist, verlangen und aufsuchen ließ, wurde die reimlose Schreibart zu einer ungereimten, die ungebundene zu einer liederlichen. So gab es denn gegen einen überfluß an mittelmäßigen Versen einen desto größeren Mangel an Sätzen der gewöhnlichen Schriftsprache, in welchen, wie an dem Körper eines lebendigen Wesens, jeder Teil ein passender, jeder an seiner Stelle, und keiner zuviel gewesen wäre. Wir

Irrwege der Poesie

49

hatten weder Schriftsteller, die, wie Cicero, der Übung im mündlichen Ausdrudte ihre Fertigkeit im schriftlichen verdankt, noch solche, die wie Isokrates dieselbe durch Fleiß ersetzt, und Jahre lang an der Vollendung eines einzigen Werkes gearbeitet hätten; und wohl manche, besonders englische Dichter, ein Pope, ein Young u. a. suchten oder fanden doch nur in dem Zwange des Versbaues jene Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrudtes, von der es außerdem kein Beispiel in Sprachen gab, deren Redeteile, von den Schnürleibern und Schienen des Reimes und Versmaßes befreit, wie die Glieder eines Gelähmten, in regelloser Beweglichkeit auseinander taumelten. Die Wichtigkeit indessen, ja die Unentbehrlichkeit einer sorgfältigeren Wahl und Behandlung auch des freieren Wortes, für jeden, der mit demselben überhaupt etwas auszurichten gedenkt, bewies, neben dem spurlosen Dasein so mancher verdienstvollen, aber die Formen ihrer Erscheinung vernachlässigenden Schriftsteller, die mächtigere Wirksamkeit der wenigen, die auch in dieser Hinsicht ein glüdtlicher Naturtrieb die Bahn zum Erfolge betreten ließ; bewiesen Rousseau, der, ohne seinen Zeitgenossen immer so Tiefgedachtes oder nur Wahres und Neues zu sagen, durch die bloße Gewalt seiner Beredsamkeit einen so unwiderstehlichen Einfluß auf dieselben ausübte, und jener große Unbekannte, Junius, der mit Recht seinem Verleger so angelegentlich den unveränderten Abdrudt jeder Silbe des Werkes empfehlen durfte, das er wie mit einem Schwerte in das Innerste seiner Leser schrieb. Jene ungebührliche Ausdehnung des Gebietes der Phantasie hat übrigens nicht allein in der Nachwirkung ihrer früheren Alleinherrschaft, sondern auch in dem Fortwirken bleibender Zeitverhältnisse, sie hat nicht immer nur in der Vergangenheit, sie hat auch in der Gegenwart ihren Grund, und ist alsdann, so entschieden als im ersten Falle ein Zeichen bloßer Verschrobenheit unsrer Gelehrten, der Beweis eines wesentlichen Gebrechens unsrer Gesellschaften überhaupt.

50

Irrwege der Poesie

So lang' die Einbildungskraft nur darum, weil noch kein andres zu einer ähnlichen Entwickelung gelangte, sich als das überwiegende Seelenvermögen zu erkennen gibt, ist ihr Vorherrschen ein völlig naturgemäßes. Bevölkert in diesem Zustand sie allein das ganze Reich unsers Gedankens mit ihren Schöpfungen, so tut sie es doch ohne irgend einen andern Bewohner desselben zu verdrängen; herrscht sie allein auch über alle unsre sinnlichen Bedürfnisse und Beziehungen, so geschieht es, weil es noch keinen andern, rechtmäßigen Herrscher über dieselben gibt; und welche üblen Folgen auch, unter veränderten Umständen, ein erkünsteltes Hervorrufen der nämlichen Erscheinungen haben mag, so läßt sich doch, so lang' es nur auf Nachahmung beruht, mit Gewißheit ein naher Augenblick voraussehen, in welchem dieser Mißgriff ins Leere, sich selbst überlassen, von selbst aufhören und die Natur der Dinge ihren unfehlbaren Sieg über ähnlicne Träumereien davontragen muß. Aber es gibt noch einen andern Zustand, in welchem die Phantasie auf ähnliche Weise übermächtig vorwaltet, nicht weil sie das einzige wache, sondern weil sie das einzige freie Seelenvermögen ist; in welchem andre Kräfte wohl auch geweckt sind, aber in Banden liegen; in welchem die wirkliche Welt mit allen ihren Schätzen und Wahrheiten uns nicht länger unbekannt, aber verschlossen bleibt; und wird ein Volk, in einer solchen Lage der Dinge -wie sie an unsermalten Europa, in Vergleichung mit glücklicheren Gegenden der neuen Welt, am deutlichsten zu Tage liegt - Abwege, die es im Irrtum eingeschlagen hatte, weil ihm kein besserer Weg mehr offen steht, fortzusetzen genötigt, so ist es die kranke Phantasie, die von nun an den Scepter einer einst so reichen führt, und ein Irresprechen des Fiebernden, das der Begeisterung des Dichters folgt. Eben die schönsten Blüten einer sogenannten höheren Ausbildung sind unter solchen Verhältnissen vielmehr Notbehelfe der verkrüppelten Gesellschaft als freie Entwickelungen eines Oberschusses ihrer geistigen Lebenskraft; sind Ausbrüche des

Irrwege der Poesie

51

unbefriedigten Gefühles aus der künstlichen Wüste des bürgerlichen Lebens um uns her; Auswanderungen aus der Wirklichkeit in das Reich des Gedankens, die so wenig als die in fremde Länder immer den Wohlstand und öfter gerade das Elend derjenigen bekunden, aus welchen sie statthaben. Daher, nach einem geistvollen Beobachter der alten und neuen Welt,r in dieser letztern, wie unstreitig auch ihre allgemeinere Bildung der unsrigen überlegen scheint, jene Unbedeutsamkeit ihrer Fortschritte in Künsten und Wissenschaften, die nicht einen sich unmittelbar belohnenden Zweck haben, während in dem sinkenden Rom und unter dem Gesindel des alten Frankreichs beide gedeihen konnten. In dem Vaterlande der Washington und Franklin findet jeder Platz und Brot, und wozu mühselige Anstrengungen im Aufputzen des Oberflusses, der keinem Bedürfnisse abhilft, wo eine mäßige Tätigkeit ihrem Besitzer in sinnlicher und sittlicher Beziehung alles und mehr als alles Notwendige verbürgt? Niemand in den Vereinigten Staaten sieht ohne seine Schuld sich von dem, was die Erhaltung nicht allein sondern auch die Freude des Lebens erfordert, getrennt. Keiner ist jenen häuslichen Verhältnissen, die den kostbarsten Vorzug unsers Geschlechtes ausmachen, entfremdet, keiner ein überzähliger im Leben, keiner sich in sich selbst zurückzuschmiegen und in den Räumen des Gedankens zu suchen gezwungen was ihm sein Schicksal auf Erden verweigerte. Das aber sind eben die jämmerlichen Bestandteile unsrer alteuropäischen, sogenannten geistigen Überlegenheit. Aus schmerzlichen Entsagungen wie diese ging sie hervor. Uns erkennen zu lassen, wohin Verhältnisse, die den Menschen von jedem freieren Genusse des Daseins und seine höheren Fähigkeiten von jeder ernsteren Betrachtung desselben zurückscheuchen, am Ende führen, bedarf es leider nur eines Blickes auf uns selbst. Unter dem lebenslustigeren und mit allen Gütern des Lebens r Simond. S. seine Voyage en Suisse II.