Die "Alethia" des Claudius Marius Victorius: Bibeldichtung zwischen Epos und Lehrgedicht 3110501252, 9783110501254

Anders als die meisten anderen spätantiken Bibeldichtungen weist die Alethia des Claudius Marius Victorius neben Einflüs

289 14 2MB

German Pages 331 Year 2016

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die "Alethia" des Claudius Marius Victorius: Bibeldichtung zwischen Epos und Lehrgedicht
 3110501252, 9783110501254

Table of contents :
Inhalt
Einleitung und Vorüberlegungen
Hinführung zum Thema
Zur Gattungsproblematik
Konnte Victorius Griechisch?
1 Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht
1.1 Aspekte des Werkaufbaus
1.1.1 Ein Proöm im Stil des Lehrgedichts: die precatio
Vertiefung: Leerstellen in der precatio?
1.1.2 Die Anfänge der drei Bücher
1.1.3 Verhältnis von Erzählung und Lehre
1.1.4 Streben nach epischer Einheit
1.2 Präsenz und Verhalten des Erzählers
1.2.1 Beteiligtes Erzählen
1.2.2 Adressatenbezug
1.2.3 Poetic self-consciousness und poetic simultaneity
1.3 Einzelne Elemente der Darstellung
1.3.1 Darstellungselemente mit vorwiegendem Bezug zum Epos
1.3.1.1 Ekphraseis
1.3.1.2 Beinahe-Episoden
1.3.1.3 Pro- und Analepsen
1.3.2 Darstellungselemente mit Bezug zu Epos und Lehrgedicht
1.3.2.1 Wörtliche Rede
1.3.2.2 Kataloge
1.3.2.3 Gleichnisse
1.3.3 Ein Darstellungselement der Lehrdichtung: Reihung von Deutungen mit sive – sive
1.4 Zwischenfazit
2 Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition
2.1 Szenen mit Bezug zur epischen Tradition
2.1.1 Gebet in epischer Form (2,42–89)
2.1.2 Kampfszenen nach vergilischem Vorbild (3,415–464)
2.1.3 Zukunftsschau mit Vergilreminiszenzen (3,512–554)
2.1.4 Epiphanien mit epischen Elementen (3,574–579. 639–656. 683–687)
2.1.5 Sonderfall: die Sintflut zwischen Epos und Naturwissenschaft (2,454–485)
2.2 Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition
2.2.1 Die Kosmogonie zwischen Bibel, Patristik und Lehrgedicht (1,1–170)
2.2.2 Ein Paradies mit Zügen des Goldenen Zeitalters (1,223–304)
2.2.3 Die Kulturentstehungslehre als Gegenentwurf zu Lukrez (B. 2 und 3)
2.2.3.1 Die Erfindung der Landwirtschaft: Theorie und Praxis (2,77–84. 163–177)
2.2.3.2 Die Entdeckung des Feuers: ein persischer Mythos bei Victorius? (2,100–117)
2.2.3.3 Die Entdeckung der Metalle: abwandelnde Lukrezimitation (2,118–162)
2.2.3.4 Theoretischer Epilog: Abgrenzung vom Lehrgedicht (2,163–196)
2.2.3.5 Die Digression des dritten Buches: Divination und Idolatrie (3,99–209)
2.2.3.6 Verstreute Aussagen zur Kulturentstehung in B. 2 und 3
2.3 Zwischenfazit
Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung
Literaturverzeichnis
Stellenregister (in Auswahl)
Namens- und Sachregister

Citation preview

Thomas Kuhn-Treichel Die Alethia des Claudius Marius Victorius

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz

Band 123

Thomas Kuhn-Treichel

Die Alethia des Claudius Marius Victorius Bibeldichtung zwischen Epos und Lehrgedicht

ISBN 978-3-11-050125-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051633-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051553-4 ISSN 1862-1112 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2015/16 von der Philosophischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen angenommen wurde. Der Anhang der Dissertation, eine vollständige deutsche Übersetzung der Alethia, wird gesondert in den Fontes Christiani erscheinen. Gerne möchte ich all denen meinen Dank ausdrücken, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben: Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath, der mich bei der Arbeit an der Dissertation und darüber hinaus stets umfassend gefördert hat. Ebenso herzlich danken möchte ich meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Marcus Deufert, der mich durch Gespräche und Korrekturen zuverlässig unterstützt hat. In tiefer Dankbarkeit verbunden bin ich überdies Dr. Rolf Heine, der mich auf Claudius Marius Victorius aufmerksam gemacht hat und mir bei der Übersetzung, wie schon so oft, eine treue Hilfe war. Danken möchte ich ferner den Leitern und Teilnehmern der Doktorandenkolloquien in Göttingen und Köln sowie des Oberseminars in Leipzig, in denen ich Probleme aus meiner Arbeit vorstellen und diskutieren konnte. Großen Dank schulde ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren Promotionsstipendium mir ein schnelles und ungestörtes Arbeiten ermöglicht hat. Für die Aufnahme in die Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte sei außer den Professoren Nesselrath und Deufert auch Prof. Dr. Peter Scholz gedankt, für die kompetente herstellerische Betreuung dem Verlag De Gruyter und namentlich Florian Ruppenstein und Katharina Legutke. Zu guter Letzt danke ich meinen Korrekturlesern Jörg von Alvensleben, Matthias Götte, Felix Heinz und Anna-Maria Nogrady. Für alle verbleibenden Fehler übernehme selbstverständlich ich allein die Verantwortung. Gewidmet sei dieses Buch meiner Frau Amöna, die sein Werden von Beginn an begleitet hat und durch alle Phasen hindurch mit mir geteilt hat. Leipzig, im Juli 2016

Thomas Kuhn-Treichel

Inhalt Einleitung und Vorüberlegungen | 1 Hinführung zum Thema | 1 Zur Gattungsproblematik | 6 Konnte Victorius Griechisch? | 15

1

Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht | 22

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

Aspekte des Werkaufbaus | 22 Ein Proöm im Stil des Lehrgedichts: die precatio | 22 Vertiefung: Leerstellen in der precatio? | 42 Die Anfänge der drei Bücher | 47 Verhältnis von Erzählung und Lehre | 51 Streben nach epischer Einheit | 59

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 72 Beteiligtes Erzählen | 72 Adressatenbezug | 88 Poetic self-consciousness und poetic simultaneity | 100

1.3 Einzelne Elemente der Darstellung | 107 1.3.1 Darstellungselemente mit vorwiegendem Bezug zum Epos | 107 1.3.1.1 Ekphraseis | 107 1.3.1.2 Beinahe-Episoden | 113 1.3.1.3 Pro- und Analepsen | 118 1.3.2 Darstellungselemente mit Bezug zu Epos und Lehrgedicht | 131 1.3.2.1 Wörtliche Rede | 131 1.3.2.2 Kataloge | 144 1.3.2.3 Gleichnisse | 156 1.3.3 Ein Darstellungselement der Lehrdichtung: Reihung von Deutungen mit sive – sive | 170 1.4

Zwischenfazit | 177

VIII | Inhalt

2

Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition | 180

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 181 Gebet in epischer Form (2,42–89) | 181 Kampfszenen nach vergilischem Vorbild (3,415–464) | 189 Zukunftsschau mit Vergilreminiszenzen (3,512–554) | 199 Epiphanien mit epischen Elementen (3,574–579. 639–656. 683–687) | 210 Sonderfall: die Sintflut zwischen Epos und Naturwissenschaft (2,454–485) | 215

2.1.5 2.2 2.2.1

2.2.3.6

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 223 Die Kosmogonie zwischen Bibel, Patristik und Lehrgedicht (1,1–170) | 223 Ein Paradies mit Zügen des Goldenen Zeitalters (1,223–304) | 237 Die Kulturentstehungslehre als Gegenentwurf zu Lukrez (B. 2 und 3) | 248 Die Erfindung der Landwirtschaft: Theorie und Praxis (2,77–84. 163–177) | 250 Die Entdeckung des Feuers: ein persischer Mythos bei Victorius? (2,100–117) | 261 Die Entdeckung der Metalle: abwandelnde Lukrezimitation (2,118–162) | 265 Theoretischer Epilog: Abgrenzung vom Lehrgedicht (2,163–196) | 275 Die Digression des dritten Buches: Divination und Idolatrie (3,99–209) | 281 Verstreute Aussagen zur Kulturentstehung in B. 2 und 3 | 291

2.3

Zwischenfazit | 296

2.2.2 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3 2.2.3.4 2.2.3.5

Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung | 300 Literaturverzeichnis | 307 Stellenregister (in Auswahl) | 316 Namens- und Sachregister | 321

Einleitung und Vorüberlegungen Hinführung zum Thema Ab dem 4. Jh. n. Chr. verbreitete sich im lateinischen und, in geringerem Maße, im griechischen Sprachraum eine Dichtungsform, für die sich davor nur ganz vereinzelt Belege finden lassen:1 die dichterische Bibelparaphrase oder, wie sie oft genannt wird, die Bibelepik. In der Klassischen Philologie wurden die Werke der christlichen Bibeldichter lange Zeit eher geringschätzig betrachtet. Ihren prägnantesten Ausdruck fand diese Haltung in Ernst Robert Curtius’ vielzitiertem Urteil, das Bibelepos sei „während seiner gesamten Lebenszeit – von Juvencus bis Klopstock – eine hybride und innerlich unwahre Gattung gewesen, ein genre faux“ (Curtius 1948, 457). Erst in den 1970er Jahren entwickelte sich ein breiteres Interesse an der Gattung und den Hintergründen ihrer Entstehung. Großen Einfluss gewannen dabei die Positionen von Reinhart Herzog (1975), der das christliche Andachtsbedürfnis als wesentliches Movens in der Herausbildung des Bibelepos stark machte, und von Michael Roberts (1985), der die These einer Entwicklung aus der rhetorischen Paraphrase aufstellte. Relativ unumstritten war und ist trotz der divergierenden Ansichten, dass die Bibelpoesie sich zumindest auch vor dem Hintergrund der paganen Dichtungstradition entwickelte. Als wesentliche Bezugsgattung in der paganen Literatur gilt dabei meist, wie schon der Terminus Bibelepik andeutet, das narrative Epos.2 In der Tat lassen sich bei den meisten der betreffenden Autoren Ausdrücke, Formelemente oder Szenen mit Bezug zu epischen Vorbildern finden, ja viele von ihnen, etwa Juvencus, Proba, Sedulius oder Avitus, verweisen sogar explizit auf bestimmte pagane Epiker, vor allem auf Homer und Vergil.3 Über einen guten Teil der Bibeldichtung kann man also, so sehr sich die einzelnen Werke in Inhalt und Darstellungsstil auch unterscheiden mögen, mit einiger Berechtigung sa-

|| 1 Die einzigen Vorläufer sind die fragmentarisch erhaltenen Werke der jüdisch-hellenistischen Epiker Theodot und Philon, die ganz oder teilweise Themen des Alten Testaments behandelten; dazu Verf. 2012. 2 Wie weit der Einfluss des Epos geht, ist freilich umstritten. Besonders betont wird die Kontinuität zum Epos bei Green 2006 (dort konkret zu Juvencus, Sedulius und Arator). Eine starke Diskrepanz zwischen dem Epos und den meisten Bibelgedichten sieht dagegen etwa Schaller 1993. Differenziert urteilt z. B. Smolak 1999. 3 Vgl. Iuvenc. praef. 9sq.; Proba praef. 3sq.; Sedul. Carm. pasch. 1,17–22; Alc. Avit. SHG 3,336sq.

2 | Einleitung und Vorüberlegungen

gen, dass sich die Dichter mit dem Epos vergilischer Prägung intensiver auseinandersetzen als mit jeder anderen Gattung der paganen Literatur. Freilich gibt es Ausnahmen von dieser Regel, und eine dieser Ausnahmen ist Claudius Marius Victorius,4 der, wenn man den Angaben in der einzigen Handschrift und in der mutmaßlich zugehörigen Kurzbiographie bei Gennadius von Marseille trauen kann, in der ersten Hälfte des 5. Jh. als Rhetor in Marseille tätig war.5 Victorius’ Werk, die Alethia,6 die das biblische Geschehen von der Erschaffung der Welt bis zur Zerstörung von Sodom und Gomorrha in drei Büchern7 verarbeitet, weist zwar ebenfalls deutliche Parallelen zum paganen Epos || 4 In den incipitia und subscriptiones des codex unicus (Par. Lat. 7558, 9. Jh.) lautet der Name teils Claudius Marius Victorius, teils Claudius Marius Victor. In der älteren Forschung wird der Autor meist als Claudius Marius Victor bezeichnet (vgl. z. B. Schenkls Edition von 1888). Hovingh etablierte in seinem Teilkommentar von 1955 und seiner Edition von 1960 aufgrund des handschriftlichen Befundes Claudius Marius Victorius als wahrscheinlichere Form (vgl. Hovingh 1955, 16 bzw. 1960, 119f.). Ich bezeichne den Dichter im Folgenden als Victorius (so auch andere neuere Forscher, z. B. Herzog 1975, Martorelli 2008, Cutino 2009). 5 Ort und Tätigkeit bezeugen bereits die handschriftlichen incipitia und subscriptiones, wo der Verfasser regelmäßig als orator Massiliensis tituliert wird. Victorius war demnach für die dritte und höchste Stufe des antiken Schulwesens zuständig (vgl. z. B. Fuhrmann 1994, 81–85). Die Datierung basiert hauptsächlich auf Gennad. Vir. ill. 61: VICTORINVS, rhetor Massiliensis, ad filii sui, Etherii, personam commentatus est In Genesi, id est, a principio libri usque ad obitum Abrahae patriarchae quattuor [v. l. tres] versu edidit libros Christiano quidem et pio sensu, sed utpote saeculari litteratura occupatus homo et nullius magisterio in Divinis Scripturis exercitatus, levioris ponderis sententias figuravit. moritur Theodosio et Valentiniano regnantibus. Trotz gewisser Unstimmigkeiten (Namensform, Buchzahl, Inhalt, wobei anzumerken ist, dass in Herdingius’ Ausgabe bei den Capitula Victorius als Alternativlesung zu Victorinus vermerkt ist) spricht viel dafür, dass der hier behandelte Autor gemeint ist (vgl. zuletzt Martorelli 2008, 12f. und Cutino 2009, 9–11). Victorius starb demnach zwischen 425 (Regierungsantritt Valentinians III.) und 450 (Tod Theodosius’ II.). Für die Werkentstehung lässt sich aus Aleth. 3,192 (uti nunc testantur Alani) ein terminus post quem ableiten, da die Alanen 406/407 den Rhein überschritten und somit ins Bewusstsein der Gallier traten. Wichtig sind zudem mögliche Bezüge zum semipelagianischen Streit, der Südgallien in den 420er und 430er Jahren erfasste, was eine Abfassung in dieser Zeit wahrscheinlich macht (so Hovingh 1955, 23; vgl. auch unten Anm. 309). 6 Die Schreibung des Titels schwankt im Codex zwischen Alitia und Aletia (hinzu kommt die griechische Form ΑΛΗΘΕΙΑ, die aber erst im 16. Jh. hinzugefügt wurde). Die Form Alethia ist handschriftlich nicht bezeugt, hat sich in der Forschung jedoch eingebürgert. 7 Ob das Werk vollständig überliefert ist, bleibt umstritten. Die Buch- und Inhaltsangabe bei Gennadius könnte darauf hindeuten, dass ein viertes Buch verloren ist, lässt sich aber auch durch Gennadius’ Ungenauigkeit oder durch die Zählung der vorangestellten precatio als eigenes Buch erklären. Unklar ist auch, wie die subscriptio nach Buch 3 (ĒPI ... LIB̄ IIII) zu deuten ist. Zu Einzelheiten siehe Hovingh 1955, 17 und Martorelli 2008, 13–16; vgl. auch unten Anm. 167.

Hinführung zum Thema | 3

und besonders zu Vergil auf, wie es auch bei anderen Gattungsvertretern der Fall ist; andererseits zeigt die Alethia jedoch auffällige Bezüge zum paganen Lehrgedicht und konkret zu Lukrez, die im Rahmen der spätantiken Bibeldichtung ungewöhnlich sind und die literarische Einordnung des Werks erschweren. Dass die Alethia Bezüge zum paganen Lehrgedicht enthält, ist, obwohl das Werk weniger Aufmerksamkeit erfahren hat als manche andere Bibelgedichte, seit langem bekannt. Schon im 19. Jh. wurde nachgewiesen, dass die Darstellung der Metallentdeckung in der Aleth. 2,118–162 derjenigen des Lukrez nachgebildet ist (5,1241–1296, vgl. Bourgoin 1883, 68 Anm. 3). Ein weiterreichendes Interesse an den Lehrgedichtbezügen kam in den 1960er Jahren auf. Klaus Thraede konstatiert in seinem wegweisenden Epos-Artikel im RAC, die Alethia sei „als didaktisches E[pos] lukrezischen Typs gedacht“, wobei er sein Urteil vor allem mit der „Kontrastimitation zu Lukrez im ersten kosmologischen Teil“ begründet (Thraede 1962a, 1029). Kurt Smolak urteilt in einem Aufsatz in ähnlicher Weise, Victorius komponiere „vorwiegend im Stil des Lehrepos“ und verweist zusätzlich zur Kosmogoniedarstellung auf das hymnische Prooemium, das dem Brauch des Lehrgedichts folgt (Smolak 1973, 237; vgl. Smolak 1999, 17). Auch Reinhart Herzog weist in seiner Bibelepik-Monographie auf „die Selbstdarstellung des Werks … als Lehrepos in der … precatio am Beginn des Werks“ hin und nennt als weiteren Lehrgedichtbezug die „Lukrez ausschreibende[.] Kulturgeschichte (2,90 ff.)“ (Herzog 1975, LV). Michael Roberts attestiert der Alethia gar eine „consistent imitation of Lucretian didactics“, die sie von der übrigen alttestamentlichen Bibeldichtung unterscheide, wobei er als Beleg zusätzlich zu den schon erwähnten Punkten auch Aspekte der Darstellungstechnik anführt (Aufzählung alternativer Interpretationen des biblischen Geschehens, Gebrauch der 1. Person Singular, Markierung von Digressionen, Roberts 1985, 193 mit Anm. 90). Freilich ist das Urteil der Forschung in der Frage der Gattungsbezüge nicht so einhellig, wie die Zitate glauben machen könnten. Wolfgang Kirsch etwa stellt in einem Vergleich mit dem Carmen paschale des Sedulius heraus, dieses sei wegen der systematischen Anordung des Stoffes „als Lehrgedicht zu klassifizieren“, wohingegen die Alethia „trotz der Lucrez-aemulatio und -imitatio in B. II nicht sachlich, sondern temporal-sukzessiv, also episch strukturiert“ sei (Kirsch 1979, 46 Anm. 35). Noch weiter geht Dieter Schaller, für den die Alethia eines der wenigen epischen Bibelgedichte überhaupt ist, weil die lehrhaften Elemente anders als etwa bei Juvencus, Sedulius und Arator ins Erleben der Figuren verlegt seien, was freilich nur teilweise zutrifft (Schaller 1993, 21; als

4 | Einleitung und Vorüberlegungen

weiteres episches Bibelgedicht nennt er nur Avitus’ Werk De spiritalis historiae gestis). Dieser knappe Überblick zeigt nicht nur, wie weit die Ansichten über die Alethia in den vergangenen Jahrzehnten auseinandergingen, sondern auch, auf was für unterschiedliche Aspekte die Autoren den Schwerpunkt legen und auf wie schmaler Grundlage die meisten Urteile stehen. Einen ersten Versuch zu einer Synthese unternimmt Ugo Martorelli in seiner 2008 erschienenen Monographie Redeat verum. Studi sulla tecnica poetica dell’Alethia di Mario Claudio Vittorio. Martorelli behandelt hierin einerseits Textpassagen und Darstellungsmittel mit Bezug zum Epos (vor allem typisch epische Szenen, vgl. S. 74–77. 199), andererseits aber auch solche mit Bezug zur Lehrdichtung (besonders die precatio, aber auch bestimmte Ausdrucksformen im weiteren Werkverlauf, vgl. S. 200–205). Die Verquickung beider Elemente fasst er unter dem Stichwort „contaminazione della tradizione epica e didascalica“ zusammen (so die Überschrift des entsprechenden Kapitels, vgl. S. 205–208). Erwähnung verdient dabei besonders seine Beobachtung, in der ersten Hälfte des ersten Buches überwiege der lehrdichterische Habitus, während im weiteren Verlauf der Erzählung epische Elemente in den Vordergrund träten.8 Freilich sind die Gattungsbezüge auch bei Martorelli nur ein Randthema und werden dementsprechend weder systematisch noch erschöpfend behandelt. Besonders die inhaltlichen Bezüge zu Lukrez, die für die mögliche Anknüpfung an das pagane Lehrgedicht von großer Bedeutung sind, werden in seiner der poetischen Technik gewidmeten Studie nur am Rande betrachtet. Es fehlt also nach wie vor eine Untersuchung, die auf breiterer Basis untersucht, wie sich Victorius in seinem Bibelgedicht zwischen Epos und Lehrgedicht positioniert. Dies versucht die vorliegende Arbeit zu leisten. Sie kann dabei in einigen Punkten auf der bisherigen Forschung aufbauen – erwähnt seien neben den schon genannten Titeln besonders die ältere, aber immer noch wertvolle Monographie von Helge Hanns Homey (1972) und die neuere Studie von Michele Cutino (2009) –, verfolgt aber ingesamt eine neue Fragestellung, unter der die Alethia bisher noch nie umfassend untersucht worden ist. Die Textanalyse soll über eine bloße Suche nach Quellen und Vorbildern und insbesondere über ein Aufhäufen von Similien hinausgehen:9 Im Zentrum

|| 8 Vgl. auch die Zusammenstellung von Forschungsmeinungen bei Martorelli 2008, 204f., an die ich mich in meinem obigen Überblick teilweise anlehne. 9 Reichhaltiges, aber oft fragwürdiges Similienmaterial bietet Hovinghs Apparat. Geht man etwa der Frage nach, welche Lehrgedichte Victorius kannte, so findet man neben zahlreichen Versen aus Lukrez’ De rerum natura und aus Vergils Georgica (zwei Werke, deren Bekanntheit

Hinführung zum Thema | 5

steht die Frage, inwieweit sich in Darstellungstechnik und Inhalt Einflüsse der epischen und lehrdichterischen Tradition bemerkbar machen; darüber hinaus sollen jedoch auch Bezüge zu literarischen Entwicklungen der Spätantike hergestellt werden, von denen die Alethia mindestens ebenso sehr beeinflusst ist. Überdies soll bei der Behandlung der Gattungsbezüge danach gefragt werden, welche theologischen oder philosophischen Aussagen Victorius durch die jeweilige Gestaltung transportiert, auch wenn eine systematische Darstellung von Victorius’ Geisteshaltung im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.10 Letztlich soll die Betrachtung der Gattungsbezüge ein exemplarisches Licht auf die Transformationsprozesse der Spätantike werfen, die, wie in anderen Bereichen, so auch auf der Ebene der literarischen Gattungen von Umbrüchen geprägt war. Zwei terminologische bzw. methodische Prämissen, die in den oben gewählten Formulierungen bereits impliziert sind, seien an dieser Stelle noch erwähnt: 1.) Die in der Forschung weitverbreiteten Termini Bibelepik/-epos/ -epiker werden in dieser Arbeit durch die allgemeineren Begriffe Bibeldichtung/-gedicht/-dichter ersetzt, da andernfalls der Frage nach den Gattungsbezügen vorweggegriffen würde. Hiermit ist keine generelle Ablehnung des Begriffs Bibelepik intendiert, sondern wird lediglich der Fragestellung dieser Arbeit Rechnung getragen.11 2.) Auch wenn der Begriff des Autors und die Frage || man bei einem gebildeten Autor wie Victorius ohnehin voraussetzen darf) auch etliche Verweise auf weniger verbreitete Lehrgedichte (23 auf Manilius’ Astronomica, 15 auf Aviens Aratea, sechs auf Ciceros Aratea, je einer auf Germanicus’ Aratea und Grattius’ Cynegetica). Bei genauerer Durchsicht zeigt sich indes, dass die wenigsten Parallelen zu den letztgenannten Dichtern markant genug sind, um eine Abhängigkeit wahrscheinlich zu machen. Am ehesten ist dies bei einem Avien-Vers der Fall (nullique obnoxia culpae, Avien. Arat. 297 ~ Mar. Victor. Aleth. 2,185. 304, jeweils am Versende). Erwähnenswert sind zudem einige Manilius-Verse, die nicht nur im Wortlaut, sondern auch im Kontext vergleichbar sind (variosque recursus, Manil. 1,475 ~ Mar. Victor. Aleth. 3,139, jeweils über Sterne; terrasque iacentis/-es, Manil. 1,536 ~ Mar. Victor. Aleth. 1,49, jeweils in geographischen Beschreibungen; certa statione, Manil. 4,853 ~ Mar. Victor. Aleth. 1,110, jeweils über den jahreszeitlichen Wandel des Himmels; alle Stellen haben den gleichen metrischen Sitz bei Manilius und Victorius). Dass Victorius die astronomischen Lehrgedichte des Manilius und Avien kannte, ist somit wahrscheinlich, aber weniger sicher, als der Similienapparat suggeriert. 10 Eine solche Darstellung ist immer noch ein Desiderat, auch wenn z. B. in Hovinghs Teilkommentar oder den Monographien von Homey, Martorelli und Cutino teilweise ausführliche Angaben zu möglicherweise benutzten christlichen Schriften gemacht werden. 11 Zur Frage, inwieweit der Begriff Bibelepik sinnvoll ist, sei auf die guten Bemerkungen bei Deproost 1997, 18f. verwiesen. Vgl. auch G. Dinkova-Bruun, Biblical versifications from late antiquity to the middle of the thirteenth century: History or allegory?, in: W. Otten/K. Pollmann (Hgg.), Poetry and exegesis in premodern Latin Christianity. The encounter between classical

6 | Einleitung und Vorüberlegungen

nach Autorintentionen in der postmodernen Literaturwissenschaft in Verruf geraten sind (Stichwort „Tod des Autors“), soll mit aller gebotenen Vorsicht nach dem Verhalten und den Interessen des realen Autors Victorius gefragt werden. Gewiss können die Antworten hierauf in vielen Fällen nicht mehr als plausible Mutmaßungen sein, doch bleibt die Frage nach dem Autor unabdingbar, wenn – wie es in dieser Arbeit geschehen soll – Entstehung und Hintergründe des Werks behandelt werden sollen. Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile. Zunächst werden die Darstellungstechniken und Ausdrucksmittel der Alethia vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht betrachtet (Kap. 1). Im zweiten Schritt wird nach inhaltlichen Bezügen zu den beiden Gattungen gesucht, wobei es konkret um Szenen mit Bezug zur epischen und Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition gehen wird (Kap. 2). Eine strikte (und naive) Trennung zwischen Form und Inhalt, wie sie die Zweiteilung vermuten lassen könnte, ist dabei nicht intendiert, d. h. es werden in Kap. 1 auch die durch die jeweiligen Techniken transportierten Aussagen, in Kap. 2 die mit den Szenen und Themen verbundenen Darstellungsformen berücksichtigt werden. Abschließend soll versucht werden, die Alethia im Lichte der Untersuchungsergebnisse innerhalb der spätantiken Bibeldichtung zu situieren. Bevor nun mit der Analyse begonnen werden kann, gilt es indes noch zwei wichtige Fragen zu behandeln: zum einen, inwieweit sich die Gattungen Epos und Lehrgedicht tatsächlich sinnvoll gegenüberstellen lassen, wie es bislang vorausgesetzt wurde, zum anderen, ob Victorius neben lateinischen auch griechische Texte lesen und verarbeiten konnte.

Zur Gattungsproblematik In dieser Arbeit soll es um das Verhältnis der Alethia zu den Gattungen Epos und Lehrgedicht gehen. Damit erhebt sich zu Beginn die Frage, was genau unter diesen Gattungen zu verstehen ist und ob eine Unterscheidung zwischen Epos und Lehrgedicht überhaupt (oder zumindest im Hinblick auf Victorius) sinnvoll ist. Der Fragenkomplex führt unmittelbar ins Dickicht literarischer Theoriebildung, und ohne den Anspruch, eine umfassende Lösung für die Probleme zu

|| and Christian strategies of interpretation, Leiden/Boston 2007, 315–342, hier 316f., die den Terminus für die Spätantike akzeptiert, für das Mittelalter dagegen durch „biblical versifications“ ersetzt.

Zur Gattungsproblematik | 7

finden, soll hier zunächst geklärt werden, welche methodischen Prämissen für die folgende Untersuchung gelten sollen. Als Ansatz für die Gattungsproblematik bieten sich zunächst zwei grundsätzlich verschiedene Wege an, nämlich eine emische und eine etische Herangehensweise.12 Beim emischen Ansatz versucht man zu klären, welche Ansichten die untersuchte Kultur selbst über die betreffenden Probleme hatte. Der Vorteil eines solchen Vorgehens liegt auf der Hand: Im Idealfall ließe sich rekonstruieren, welche Vorstellungen Victorius selbst von den betreffenden literarischen Gattungen hatte oder haben konnte, es ließe sich also die produktionsästhetische Seite in den Blick nehmen, was in der Tat fast unabdingbar ist, wenn es um die Frage geht, wie Victorius sich zu den überkommenen Gattungen positioniert. Diesem Vorteil stehen allerdings klare Nachteile entgegen, und zwar vor allem das Quellenproblem. Wir besitzen zwar eine Reihe von Zeugnissen, in denen Texte – auch solche, die wir dem Epos und dem Lehrgedicht zuordnen – als Vertreter einer Gattung betrachtet werden, doch stammen diese aus sehr verschiedenen Zeiten, Regionen und Denkrichtungen und variieren dementsprechend. Eine eigentliche Theorie der Gattung wurde in der Antike ohnehin nur ansatzweise entwickelt und ist weitgehend aus den je unterschiedlichen Verwendungen des Gattungsbegriffs zu erschließen.13 Was Victorius in der ersten Hälfte des 5. Jh. in Südgallien über diese Fragen dachte, ist also schon von vornherein nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Diesen emischen Annäherungsversuchen steht der etische Ansatz gegenüber: Der Begriff Gattung wird nach Gesichtspunkten der heutigen Literaturwissenschaft definiert, Gattungsmerkmale werden aus den Texten selbst heraus entwickelt. Auch dieser Ansatz hat offensichtliche Vorteile: Unbeschwert von den oft widersprüchlichen und verengenden Literaturtheorien der Antike lassen sich saubere und umfassende Gattungsdefinitionen gewinnen, mit denen dann weiter gearbeitet werden kann. Gleichwohl hat auch diese Methode Schwächen. Ein erstes Problem ist die Gefahr eines hermeneutischen Zirkels: Man abstrahiert Gattungsmerkmale aus einem Corpus von Texten, die man einer bestimmten Gattung zuweisen will, und weist anschließend über das Vorhandensein dieser Elemente die Zugehörigkeit dieser Texte zur jeweiligen Gattung nach.14 Dieses Problem ist bei Victorius immerhin weniger virulent, weil die Alethia

|| 12 Das Begriffspaar wurde geprägt von K. L. Pike, Language in relation to a unified theory of structure of human behavior, Pt. 1, Glendale 1954. 13 Vgl. G. B. Conte/G. W. Most, Art. „genre“, in: OCD, Oxford 42012, 609f., hier 609: „Theory of genre as such is quite lacking in antiquity.“ 14 Auf das Problem weist auch Volk 2002, 26 hin.

8 | Einleitung und Vorüberlegungen

nicht zum Corpus der Epen bzw. der Lehrgedichte gezählt würde, doch bleibt die grundsätzliche Frage, wie schlüssig und zwingend diese Corpora zusammengesetzt sind. Vor allem aber bleibt bei dieser Herangehensweise offen, ob unsere Gattungsbegriffe mit denen des Victorius korrelieren. Mögliche Autorintentionen müssten bei streng etischem Vorgehen außer Acht bleiben, die primär produktionsästhetische Frage, wie Victorius sich zu den beiden Gattungen stellt, wäre zu ersetzen durch die Frage, wie er zu ihnen aus unserer Sicht steht. Beide Ansätze bieten demnach Vorteile, die für unser Thema wichtig sind, und so stellt sich die Frage, ob sie sich kombinieren lassen. Konkret also: Kann man Gattungsmerkmale aus den Texten selbst entwickeln, aber zugleich sicherstellen, dass diese Texte aus Sicht eines spätantiken Autors wie Victorius einer gemeinsamen Gruppe angehören? Dass dies bis zu einem gewissen Grad durchaus möglich ist, und was es für die Untersuchung bedeutet, soll auf den nächsten Seiten ausgeführt werden. Vorausgeschickt sei, dass die Lage bei den antiken Zeugnissen über die entsprechenden Texte und Gattungen höchst komplex und widersprüchlich ist und deshalb einen längeren hermeneutischen ‚Anfahrtsweg‘ nötig macht. Epos und Lehrgedicht in der antiken Literaturtheorie Die für diese Arbeit entscheidende Frage ist, inwieweit in der Antike und speziell in der lateinischen Spätantike zwei Gattungen Epos und Lehrgedicht unterschieden wurden, oder genauer gesagt, ob die Texte, die wir heute dem Lehrgedicht zuweisen, einer großen Gattung Epos subsumiert wurden oder ob das Lehrgedicht neben dem Epos als eigenständige Gattung akzeptiert wurde. Tatsächlich war es über die Zeiten und Regionen hinweg ein verbreiteter Ansatz, Texte nur nach ihrem Metrum zu beurteilen und dementsprechend innerhalb der Hexameterdichtung nicht zwischen Werken erzählenden und lehrenden Inhalts zu differenzieren.15 Diese Einstellung lässt sich bis zu Gorgias und Platon zurückverfolgen,16 ist aber auch noch in der für Victorius relevanteren römischen Literaturkritik der Republik und Kaiserzeit anzutreffen. Cicero etwa kennt als Dichtungsgattungen nur Tragödie, Komödie, Epos, Lyrik und Dithyrambos; Dichter wie Hesiod und Empedokles behandelt er zwar, weist sie aber keiner

|| 15 Vgl. Fabian 1968, 68; Pöhlmann 1973, 820–825; Effe 1977, 20. Überspitzt und sicher nur teilweise zutreffend formuliert W. Kroll, Art. „Lehrgedicht“, in: RE 12.2, Stuttgart 1925, 1842– 1857, hier 1842: „Von vornherein sei festgestellt, daß für die Alten das L. eine eigene Gattung nicht bildet; für sie sind die meisten L. einfach ἔπη.“ 16 So in Gorg. Hel. 9; Plat. Gorg. 502c; Phaidr. 258d (Stellen nach Effe 1977, 19).

Zur Gattungsproblematik | 9

gesonderten Gattung zu.17 Auch Quintilian gibt im 10. Buch seiner Institutio oratoria einen Katalog von epici (so bezeichnet in 10,1,51), in dem Hexameterdichter unterschiedlichen Inhalts nebeneinanderstehen. Entsprechend begegnen unter den griechischen Autoren etwa Homer und Apollonios Rhodios neben Hesiod und Arat, bei den lateinischen Vergil neben Lukrez usw.18 Die Beispiele zeigen, dass es in der Antike – und vermutlich auch noch zu Victorius’ Zeiten – nicht unbedingt selbstverständlich war, das Lehrgedicht gegenüber dem Epos als eigene Gattung wahrzunehmen. Neben diesem formalistisch-integrativen Verständnis hexametrischer Dichtung stehen jedoch seit dem 4. Jh. v. Chr. Modelle, die größeres Gewicht auf Inhalt und Darstellung legen. Der erste, vielzitierte Ansatz zu einer Definition des Lehrgedichts ist ausgerechnet ein negativer: Aristoteles, der ja die Nachahmung (μίμησις) von Handlung als Grundprinzip der Dichtung formuliert, schließt Empedokles aufgrund seines amimetischen Inhalts aus dem Kreis der Dichter aus.19 Aristoteles’ Theorie muss hier nicht weiter diskutiert werden, zumal es Aristoteles gar nicht darum ging, eine eigene Gattung Lehrgedicht zu etablieren.20 Entscheidend ist, dass seinem Ansatz eine große Nachwirkung beschieden war. Zu nennen ist hier zunächst der nicht sicher datierbare peripatetische Tractatus Coislinianus, der neben der mimetischen auch eine amimetische Dichtung anerkennt und als Untergruppe die παιδευτικὴ ποίησις aufführt.21 Noch wichtiger sind für uns jedoch zwei spätantike lateinische Quellen. Die eine ist die wohl zwischen 370 und 380 entstandene Ars grammatica des Diomedes. Diomedes geht – anders als der aristotelisch beeinflusste Tractatus

|| 17 Siehe die Liste in Opt. gen. 1,1, die Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben scheint: poematis enim tragici, comici, epici, melici, etiam ac dithyrambici, quod magis est tractatum a Graecis quam a Latinis, suum cuiusque est, diversum a reliquis. Vgl. auch die bei Pöhlmann 1973, 823–825 zusammengestellten Ciceroaussagen über Hesiod, Empedokles, Arat, Nikander u. a. 18 Quint. Inst. 10,1,46–56. 85–92. Vgl. auch hierzu Pöhlmann 1973, 821 sowie Volk 2002, 27 Anm. 5; 29. 19 Aristot. Poet. 1 p. 1447b17–20: οὐδὲν δὲ κοινόν ἐστιν Ὁμήρῳ καὶ Ἐμπεδοκλεῖ πλὴν τὸ μέτρον, διὸ τὸν μὲν ποιητὴν δίκαιον καλεῖν, τὸν δὲ φυσιολόγον μᾶλλον ἢ ποιητήν. Vgl. Fabian 1968, 69f., Pöhlmann 1973, 816–820 (mit Rezeption bei Plutarch u. a.), Effe 1977, 19 und Volk 2002, 30. 20 Vgl. Volk 2002, 30: „His aim was to distinguish poetry, which included epic, from nonpoetry, which happened to include what we call didactic …“ 21 TC 1sq.: τῆς ποιήσεως ἡ μὲν ἀμίμητος A ἱστορική B παιδευτική 1 ὑφηγητική 2 θεωρητική (2) ἡ δὲ μιμητική … Vgl. Effe 1977, 20 und Volk 2002, 31. Zu den strittigen Fragen von Entstehung und Hintergrund des Tractatus siehe ausführlicher H.-G. Nesselrath, Die attische mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte, Berlin/New York 1990, 106–145, zusammengefasst auf S. 144f.

10 | Einleitung und Vorüberlegungen

Coislinianus – von Platons Einteilung der Dichtung nach den drei τύποι λέξεως aus (dramatisch, erzählend bzw. berichtend und beides vereinend, vgl. Rep. 3,392d5sq.). Bei Diomedes ist dieses Schema nun allerdings so erweitert, dass nicht nur das Epos, sondern auch das Lehrgedicht (und weitere Gattungen) einen Platz finden. Das Epos (auch im Lateinischen: epos) tritt dabei klassischplatonisch als Vertreter des gemischten Typs (genus mixtum) auf, in dem „der Dichter selbst spricht und redende Figuren eingeführt werden“,22 und wird über sein Versmaß hinaus auch inhaltlich als „Zusammenfassung von Menschen-, Helden- und Götterangelegenheiten“ charakterisiert.23 Die bei Platon noch nicht berücksichtigte Lehrdichtung (didascalice) erscheint als Unterart der erzählenden bzw. berichtenden Gattung (genus enarrativum), in der „der Dichter selbst“ spricht, ohne Figuren auftreten zu lassen.24 Definiert wird sie über ihre Inhalte und ihre Vertreter: Sie umfasse „die Philosophie des Empedokles und Lukrez, ebenso die Astrologie wie die Phainomena des Arat und Cicero, ferner die Georgica Vergils und dergleichen“.25 Das Lehrgedicht tritt hier also als klar umrissene und vom Epos unterschiedene Gattung hervor. In eine ähnliche Richtung geht der um 400 wirkende Grammatiker Servius in seinen Vergilkommentaren. Hierin behandelt er jeweils in der praefatio die Gattungszugehörigkeit des diskutierten Werks, wobei er die Aeneis als heroum (sc. carmen), die Georgica als libri didascalici bezeichnet. Mit den beiden Einordnungen gehen kurze Gattungsdefinitionen einher, die sich weitgehend mit denen des Diomedes decken. Zwei wichtige Eigenheiten seien erwähnt: Beim Epos sieht Servius neben der Sprechsituation und dem Figureninventar ein wesentliches Merkmal in der Mischung von Fakten und Fiktion.26 im Hinblick auf das Lehrgedicht äußert er die bedeutsame (und schon auf die moderne The-

|| 22 Diom. Gramm. vol. I, p. 482 Keil: κοινόν vel mixtum in quo poeta ipse loquitur et personae loquentes introducuntur … 23 Diom. Gramm. vol. I, p. 483sq. Keil: Epos dicitur Graece carmine hexametro divinarum rerum et heroica- | rum humanarumque conprehensio … 24 Diom. Gramm. vol. I, p. 482 Keil: exegeticon [sc. poema] est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione … 25 Diom. Gramm. vol. I, p. 482sq. Keil: exegetici vel enarrativi species sunt tres, angeltice, historice, didascalice … | … didascalice est qua conprehenditur philosophia Empedoclis et Lucretii, item astrologia, ut phaenomena Aratu et Ciceronis, et georgica Vergilii et his similia. Vgl. Pöhlmann 1973, 828–831, Effe 1977, 20f. und Volk 2002, 31f. 26 Serv. Aen. praef. p. 4 Thilo: qualitas carminis patet; nam est metrum heroicum et actus mixtus, ubi et poeta loquitur et alios inducit loquentes. est autem heroicum quod constat ex divinis humanisque personis, continens vera cum fictis …

Zur Gattungsproblematik | 11

oriebildung vorausweisende) Beobachtung, dass dieses stets an einen Adressaten gerichtet ist, wobei er auf Hesiod und Lukrez als Vorläufer Vergils verweist.27 Dass in Victorius’ Zeit eine Unterscheidung von Epos und Lehrgedicht ausgebildet war, kann also als sicher gelten. Kann man jedoch auch annehmen, dass Victorius die Ansichten dieser beiden Grammatiker kannte und teilte? Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist hoch, da die beiden Autoren im Wesentlichen das Wissen und die Vorstellungen abbilden, die im Schulunterricht vermittelt wurden. Hinzu kommt, dass die bei Diomedes und Servius greifbare Lehre vermutlich schon älteren Ursprungs ist. Egert Pöhlmann versucht zu erweisen, dass der oben referierte Anfang von Diomedes’ Ars grammatica auf Suetons verlorene Schrift De poetis zurückgeht, ja dass die zugrundeliegende Theorie vielleicht schon hellenistisch ist.28 Was das genaue Alter des Modells angeht, mag eine gewisse Skepsis angebracht sein, doch ist es wahrscheinlich, dass die beiden Zitate Teil einer breiteren Diskussion um das Lehrgedicht waren.29 Wenn Victorius nun tatsächlich Rhetor war, wie die Handschrift und die wahrscheinlich auf ihn bezogene Beschreibung bei Gennadius angeben, dürfte er die Unterscheidung zwischen Epos und Lehrgedicht jedenfalls nicht nur gekannt, sondern sogar gelehrt haben. Grammatische Theorie und dichterische Praxis Damit bleibt lediglich die Frage, inwieweit die Grammatikertheorien auch für Victorius als Dichter Relevanz besaßen. Bei einem Autor, der vermutlich zugleich Mann der Schule war, ist eine derartige Beeinflussung natürlich von vornherein recht wahrscheinlich, zumal die spätantike Dichtung generell stärker als die früherer Jahrhunderte durch die Grammatik beeinflusst war.30 Zugleich ist hier jedoch ein grundlegendes Problem im antiken Gattungsdenken berührt, das eine genauere Betrachtung lohnt. Gerade für die früheren Jahrhun-

|| 27 Serv. Georg. praef. p. 129 Thilo: et hi libri didascalici sunt, unde necesse est, ut ad aliquem scribantur; nam praeceptum et doctoris et discipuli personam requirit: unde ad Maecenatem scribit sicut Hesiodus ad Persen, Lucretius ad Memmium. 28 Vgl. Pöhlmann 1973, 830f. Die Abhängigkeit von Sueton lasse sich „durch einen | Vergleich mit dem Isidorkapitel ‘De poetis’ (8, 7, 1–11) zeigen. Isidor nennt hier Sueton als seine Quelle …“. 29 Vgl. Effe 1977, 21 Anm. 30: „Das von ihm [Pöhlmann] beigebrachte Material läßt aber doch wohl eine endgültige Entscheidung nicht zu.“ Volk 2002, 33 hält es für „possible, though not assured“, dass zur Zeit der von ihr behandelten römischen Lehrdichter (Lukrez, Vergil, Ovid, Manilius) eine solche Theorie vom Lehrgedicht als eigener Gattung existierte. 30 Vgl. hierzu Roberts 1985, 203 und 1989, 38.

12 | Einleitung und Vorüberlegungen

derte ist höchst unsicher, inwieweit die skizzierten Theorien von Philosophen und Grammatikern mit den Vorstellungen der Dichter korrelierten oder diese beeinflussten.31 Liest man nun allerdings die Autoren selbst, so stellt man fest, dass Epiker und Lehrdichter unabhängig von allen Theoretiker- und Grammatikermeinungen offenbar sehr wohl das Bewusstsein hatten, in einer bestimmten, je eigenen Dichtungstradition zu stehen. Für das Epos ist hinlänglich bekannt, dass praktisch alle Gattungsvertreter sich Homer bzw. Vergil verpflichtet fühlten und zusätzlich oft auf ihre näheren Vorgänger Bezug nahmen. Entsprechendes gilt auch für das Lehrgedicht: Autoren wie Arat und Nikander auf griechischer oder Lukrez, Vergil und Manilius auf lateinischer Seite bezogen sich auf entsprechende Vorgänger und stellten sich so in eine Dichtungstradition, die von Hesiod und Empedokles ausging, mit Lukrez auch in die lateinische Literatur eintrat und in beiden Sprachen kontinuierlich fortgeführt wurde.32 Selbst wenn ein Dichter die begriffliche Unterscheidung zwischen Epos und Lehrgedicht nicht kannte, darf man also annehmen, dass er sich bewusst war, entweder einer erzählenden oder einer lehrenden Dichtungsart anzugehören, und umso mehr dürfte Victorius als spätantiker Rhetor und Dichter eine Vorstellung von zwei Traditionen gehabt haben, auf die er Bezug nehmen konnte. Im letzten Absatz ist ein weiterer wichtiger Gedanke angeklungen, der das Konzept der Gattungen relativiert und ergänzt. Wichtiger noch als die Zuordnung zu einer abstrakten Gattung war für griechische wie römische Autoren der Rückbezug auf einen konkreten ‚Gattungserfinder‘ (πρῶτος εὑρετής bzw. primus inventor), den man nachzuahmen (μίμησις bzw. imitatio), wenn nicht zu übertreffen (ζῆλος bzw. aemulatio) suchte.33 Die Vorbildfunktion bestimmter

|| 31 So scheint z. B. Aristoteles’ Ausschluss lehrender Inhalte aus der Dichtung die Produktion von Lehrgedichten nicht beeinträchtigt zu haben. Ebenso fehlen Hinweise, dass andere Theorien zu lehrender Dichtung Einfluss auf die literarische Praxis hatten. Die Unabhängigkeit der Dichter von der Literaturtheorie betont besonders Volk 2002, 33f.; vgl. auch Effe 1977, 21. 32 Effe 1977, 21 Anm. 33 fasst entsprechende Bezugnahmen auf Vorgänger zusammen (z. B. Arat auf Hesiod, Nikander auf Hesiod und Arat, Lukrez auf Empedokles usw.) und schlussfolgert (S. 22): „Nicht zuletzt dieses Bewußtsein der antiken Autoren berechtigt den modernen Interpreten, von dem Lehrgedicht … als einer Gattung der antiken Literatur zu sprechen …“ Anzumerken ist, dass sich Lukrez auch auf Ennius’ Annales bezieht (explizit 1,117–126, implizit 1,926–930), womit er den Bezug zum empedokleischen Lehrgedicht etwas aufweicht. 33 Vgl. Th. G. Rosenmeyer, Ancient literary genres: A mirage?, in: Yearbook of comparative and general literature 34 (1985), 74–84, hier 81f.: „Instead of genre criticism, the ancients practiced model criticism. Their allegiances and affiliations | connect, not with a mode or kind, but with a father, a personal guide.“ Ähnlich P. R. Hardie, Art. „Literarische Gattung. III Lateinisch“, in: DNP 7, Stuttgart/Weimar 1999, 264–266, hier 264f. und G. B. Conte/G. W. Most, Art. „Genre“, in: OCD, Oxford 42012, 609f., hier 610. Zur historischen Entwicklung und genauen

Zur Gattungsproblematik | 13

Schriftsteller wurde Griechen wie Römern schon durch den Schulunterricht eingeprägt, der in seinen Übungen stark auf kanonische Autoren fixiert war und die gesamte Antike hindurch eine weitgehende Kontinuität der literarischen Tradition gewährleistete.34 Zu beobachten ist dieses Denken in Vorbildern selbst in den eigentlich nach Gattungen geordneten Katalogen eines Horaz und Quintilian, wo neben (bei Horaz) oder sogar statt (bei Quintilian) allgemeiner Gattungsmerkmale einzelne Vertreter genannt werden. Wichtiger noch sind aber die Selbstaussagen in den einzelnen Werken. Ennius inszeniert sich am Beginn seiner Annales als Reinkarnation Homers,35 Vergil bezeichnet seine Eclogen mit Anspielung auf Theokrit als Spiel „im syrakusischen Vers“ (Syracosio … ludere versu, Ecl. 6,1), die Georgica in Anknüpfung an Hesiod als „askräisches Lied“ usw. (Ascraeum … carmen, Georg. 2,176).36 Die Beispiele, denen sich viele weitere hinzufügen ließen, machen deutlich, dass die Autoren ein wesentlich feineres Gespür für unterschiedliche Dichtungstraditionen hatten, als die groben Gattungskataloge glauben machen, geht es doch in allen drei genannten Fällen um Spielarten der Hexameterdichtung, die in der geläufigen Gattungsterminologie ihrer Zeit allem Anschein nach nicht weiter differenziert wurden. Folgerungen Die Ausführungen haben gezeigt, dass Victorius mit großer Wahrscheinlichkeit eine Vorstellung von (narrativem) Epos und Lehrgedicht als zwei voneinander unterschiedenen Gattungen hatte. Die Fragestellung dieser Arbeit ist also aus emischer bzw. produktionsästhetischer Perspektive sinnvoll. Zugleich ist deutlich geworden, dass sich aus den antiken Aussagen über Epos und Lehrgedicht nur in begrenztem Umfang Gattungsmerkmale ableiten lassen, anhand deren man die Alethia untersuchen könnte. Es ist daher unumgänglich, zusätzlich auf heutige wissenschaftliche Beschreibungen der beiden Gattungen und ihrer

|| Abgrenzung der Begriffe imitatio und aemulatio sei verwiesen auf A. Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Diss. Köln 1959. 34 Vgl. zur imitatio im Schulunterricht G. B. Conte/G. W. Most, Art. „imitatio“, in: OCD, Oxford 4 2012, 727f., hier 728. Demnach entwickelte sich die meist schriftliche Nachahmung von Vorbildern seit den Sophisten zu einer gängigen Unterrichtsmethode, die die gesamte Antike hindurch gepflegt wurde. 35 Vgl. Schol. Pers. 6,10 Clausen/Zetzel: Ennius … in Annalium suorum principio … se dicit vidisse in somnis Homerum dicentem fuisse quondam pavonem et ex eo translatam in se animam esse … 36 Stellen nach Hardie (wie Anm. 33), 264f. (siehe dort für weitere Beispiele).

14 | Einleitung und Vorüberlegungen

Entwicklung zurückzugreifen (soweit diese die betreffende Unterscheidung überhaupt machen),37 also mit dem emischen einen etischen Ansatz zu verbinden. In den einzelnen Kapiteln wird dementsprechend immer wieder auf neuere Studien zu Epos und Lehrgedicht oder zu einzelnen Gattungsmerkmalen hingewiesen werden. Dabei muss zwar im Einzelfall oft offen bleiben, inwieweit die jeweiligen Vorstellungen über Epos und Lehrgedicht mit denen des Victorius korrelieren, doch darf man zumindest annehmen, dass die Gattungseinteilung an sich seine Zustimmung gefunden hätte und dass er ähnliche Texte als Vertreter dieser Gattungen angesehen hätte wie die heutige Forschung. Zwei Aspekte sind für diese Untersuchung wichtig: Zunächst ist zu bedenken, dass die Grenze zwischen Epos und Lehrgedicht, wenn man sie denn zieht, als durchlässig zu verstehen ist. Beide Gattungen gehören zum größeren Komplex der hexametrischen Dichtung und teilen auch über das Metrum hinaus zahlreiche Merkmale. Bis zu einem gewissen Grad sind daher immer lehrdichterische Elemente im Epos und epische Elemente im Lehrgedicht vorhanden, findet also in beiden Gattungen stets ein wechselseitiges generic enrichment statt.38 Victorius tut insofern nichts vollkommen Neues, wenn er in seinem Werk Züge von Epos und Lehrgedicht miteinander verbindet, doch geht er, wie die Untersuchung zeigen wird, über den bei den meisten Epikern und Lehrdichtern vorhandenen Grad der Gattungsmischung weit hinaus (vergleichbar ist immerhin Ovid, für den die „Kreuzung der Gattungen“ bekanntlich besonders charakteristisch ist).39 Wichtig ist außerdem der angesprochene Gedanke der imitatio: Auch wenn im Titel dieser Arbeit abstrakt vom Verhältnis zu den beiden Gattungen die Rede ist, wird es immer wieder darum gehen, Bezüge zu bestimmten prominenten Gattungsvertretern zu finden und zu analysieren, und zwar auf Seiten des Epos hauptsächlich zu Vergil, seltener zu Ovid und Lukan, auf Seiten

|| 37 Es sei daran erinnert, dass einige jüngere Interpreten Lukrez dem Epos zuordnen wollen, vgl. die bei Volk 2002, 69 Anm. 1 genannten Autoren. Von den Autoren, die Epos und Lehrgedicht voneinander trennen, seien exemplarisch genannt: Pöhlmann 1973, Effe 1977, Volk 2002 (alle drei ausgehend von der Beschreibung des Lehrgedichts), ferner Kirsch 1989, bes. 20f. und Pollmann 2001, bes. 96 Anm. 22 (beide ausgehend von der Beschreibung des lateinischen Epos in der Spätantike). Erwähnt sei außerdem M. Horster/C. Reitz (Hgg.), Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt, Stuttgart 2005 mit den enthaltenen Aufsätzen (nützlich auch die Bemerkungen zur Definition des Lehrgedichts auf S. 9). 38 Der Begriff stammt von Harrison 2007 (dort angewandt auf die Werke des Horaz und Vergil). 39 So mit dem von W. Kroll, Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart 1924, 202–224 geprägten Terminus. Zur Bedeutung der Metamorphosen für die Komposition der Alethia siehe unten S. 70–72.

Konnte Victorius Griechisch? | 15

des Lehrgedichts hauptsächlich zu Lukrez, daneben aber auch zu Vergil. Gattungsbezug und Einzeltextbezug werden sich also notwendig immer wieder abwechseln, wobei besonders in Kap. 2 die Verarbeitung von konkreten Autoren und Texten eine erhebliche Rolle spielen wird (in Kap. 1 wird dies besonders im Abschnitt 1.1.1 der Fall sein).

Konnte Victorius Griechisch? Wenn in diesem Buch Victorius’ Verhältnis zur paganen Dichtungstradition untersucht werden soll, so erhebt sich die Frage, inwieweit hierbei auch die griechische Poesie zu berücksichtigen ist. Indirekt ist die griechische Tradition bei Victorius in jedem Fall präsent, da lateinische Dichter wie Lukrez, Vergil, Ovid und noch Claudian, die Victorius verarbeitet, in enger Auseinandersetzung mit griechischen Autoren dichteten. Aber konnte Victorius, der seinem Werk ja immerhin einen griechischen Titel gab, auch selbst griechische Texte lesen und bewusst in seinem Gedicht verarbeiten? Schenkl postuliert dies im Prooemium zu seiner Ausgabe von 1888, führt hierfür aber nur wenige und zudem sehr fragwürdige Belege an.40 Die spätere Forschung behandelt die Frage fast gar nicht mehr. Es scheint also angebracht, auf breiterer Basis nach Indizien zu suchen, die für oder gegen Griechischkenntnisse bei Victorius sprechen. Griechischkenntnisse in der Spätantike Bekanntlich ging die Kenntnis des Griechischen im lateinischen Westen im Verlaufe der Spätantike immer weiter zurück. Gleichwohl gibt es bis in Victorius’ Zeit und vereinzelt sogar das ganze Mittelalter hindurch Beispiele von Gelehrten, die sich mehr oder weniger intensiv mit dem Griechischen beschäf-

|| 40 Vgl. Schenkl 1888, 350 Anm. 1: „Uictorem utpote ciuem Massiliensem linguam litterasque Graecas cognouisse per se apertum est.“ Anknüpfungspunkt für Schenkls Bemerkung ist eine mögliche Parallele zu Plat. Prot. 320e, die aber insofern wenig aussagekräftig ist, als es sich beim betreffenden Gedanken um einen Gemeinplatz der Philosophie handelt, vgl. unten S. 153f. mit Anm. 403f. Zusätzlich führt Schenkl zwei Stellen aus der Alethia an, an denen lateinische Ausdrücke von ähnlichlautenden griechischen beeinflusst sein sollen (2,242: tibi crimina plectent = πλέξουσι; 3,312: lacunas = λαγόνας). Die seither erschienenen ThLL-Lemmata zeigen jedoch, dass sich beide Fälle auch aus dem lateinischen Sprachgebrauch erklären lassen und somit nicht als Argument für Griechischkenntnisse gewertet werden können, vgl. ThLL s. v. plecto p. 2395,21sq. und s. v. lacuna p. 857,71–73.

16 | Einleitung und Vorüberlegungen

tigten.41 Auch für Victorius’ vermutliche Wirkungsstätte Marseille, die als griechische Gründung ohnehin bis in die Kaiserzeit stark griechisch geprägt war,42 sind solche Fälle bekannt. Zu Victorius’ Lebzeiten lassen sich Griechischkenntnisse zumindest bei Johannes Cassian fassen, der längere Zeit im griechischsprachigen Raum gelebt und sich mit dem griechischen Mönchtum vertraut gemacht hatte, bevor er in den 410er Jahren nach Marseille kam und dort zwei Klöster gründete.43 Nach Victorius sind griechische Studien noch bei Gennadius nachzuweisen: Sein Schriftstellerkatalog De viris illustribus (derselbe, in dem er wohl auch Victorius erwähnt) enthält Artikel über griechische Autoren, und nach eigener Aussage übersetzte er zeitgenössische christliche Schriften aus dem Griechischen.44 Im Hinblick auf Victorius lassen diese beiden Fälle griechischkundiger Gelehrter freilich keine sicheren Schlüsse zu, zumal unklar ist, wo Victorius seine Ausbildung erhalten hat und ab wann er in Marseille wirkte. Immerhin erscheint es vor dem skizzierten Hintergrund vorstellbar, dass ein christlicher Gelehrter im Marseille des 5. Jh. Zugang zu griechischer Bildung hatte und sich auch selbst mit griechischer Sprache und Literatur beschäftigte, wenngleich fraglich bleibt, ob die Beschäftigung über theologische Werke, wie sie Cassian und Gennadius rezipierten, hinausgehen konnte. Verarbeitung griechischer Texte? Wenn Victorius Griechischkenntnisse prinzipiell zugetraut werden können, ist nun sein Werk selbst auf entsprechende Indizien zu untersuchen. Eine erste wichtige Frage ist hierbei, welche Bibelversion(en) Victorius bei der Abfassung der Alethia verwendet hat. Die Diskussion hierüber wird seit über 100 Jahren

|| 41 Hierzu einschlägig: Berschin 1980, der die Griechischkenntnisse der Spätantike und des Mittelalters nach Epochen und Regionen differenziert untersucht. 42 Wie lange das Griechische lebendig blieb, lässt sich auch epigraphisch nachweisen: Noch aus dem 3. Jh. n. Chr. sind mindestens fünf griechische Inschriften erhalten, aus dem 4. Jh. dann nur noch eine, aus dem 5. Jh. keine, vgl. J.-C. Decourt/J. Gascou/J. Guyon, L’épigraphie, in: M.-P. Rothé/H. Tréziny (Hg.), Marseille et ses alentours, Paris 2005, 160–216, hier 163. 43 Vgl. Berschin 1980, 131; zu Johannes Cassians Leben siehe z. B. M. Skeb, Art. „Johannes Cassian“, in: LACL, Freiburg u. a. 32002, 376–378 und K.-S. Frank, Art. „Cassianus, Johannes“, in: DNP 2, Stuttgart/Weimar 1997, 1003f. 44 Nach Vir. ill. 11 und 73 übersetzte er Schriften des Wüstenvaters Euagrios Pontikos und des alexandrinischen Patriarchen Timotheos Ailuros. Vgl. erneut Berschin 1980, 131f.; zu Gennadius’ Werk und Leben U. Hamm, Art. „Gennadius von Marseille“, in: LACL, Freiburg u. a. 3 2002, 282f.

Konnte Victorius Griechisch? | 17

geführt. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Victorius hauptsächlich einer Version der Vetus Latina folgte, wenngleich er an einigen Stellen auch Lesungen der Vulgata berücksichtigt zu haben scheint.45 Unklar ist jedoch, ob er daneben auch die Septuaginta benutzt hat. Eine solche Abhängigkeit wurde schon von Maurer erwogen und zuletzt wieder von Martorelli diskutiert.46 Sichere Belege sind hier freilich schwer zu finden, da die Vetus Latina ja ihrerseits auf der Septuaginta basiert. Maurer lässt die Frage daher letztlich unbeantwortet.47

|| 45 Für die Verwendung der Vetus Latina plädiert zuerst Maurer 1896. Zwar kritisierte schon Ferrari 1912a, 59f. Maurers mitunter gesucht erscheinende Argumente, doch machen auch Hovingh 1955, 38–40 und dezidierter noch Martorelli 2008, 97–103 eine Benutzung der Vet. Lat. wahrscheinlich. Ein erstes Indiz für die Benutzung der Vulgata liefert Nodes 1988, 65: In Gen. 2,2 heißt es nach der Vet. Lat.: et consummavit deus in die sexto opera sua quae fecit et requievit die septimo, in der Vulg. dagegen complevitque deus in die septimo opus suum quod fecerat …; Victorius verlegt die Vollendung der Schöpfung wie die Vulg. auf den siebten Tag, freilich mit einem der Vet. Lat. entnommenen Ausdruck (Aleth. 1,171. 187: septima lux magnum vidit cessasse parentem … cessando consummat opus). Weitere Fälle von Benutzung der Vulg. stellt Cutino 2009, 208 zusammen: In Gottes Strafrede an Kain steht in Gen. 4,12 nach der Vet. Lat.: gemens et tremens eris, nach der Vulg.: vagus et profugus eris; Victorius paraphrasiert beide genannten Strafen, die erste in 2,255–274 (vgl. bes. V. 257sq.: ut … tremeret), die zweite in 2,281–300 (vgl. bes. V. 283: amandat longe vastasque relegat in oras; vgl. genauer Cutino 2009, 177f.). Lexikalische Parallelen zur Vulg. finden sich in 1,495 (Gott an Eva über die Schlange: insidiabere plantis, vgl. Vulg. Gen. 3,15: insidiaberis calcaneo eius, dagegen Vet. Lat.: observabis/servabis/calcabis calcaneum eius, dazu auch D’Auria 2007, 43) sowie in 3,521 (sopor intrat, vgl. Vulg. Gen. 15,12 sopor inruit super Abram, dagegen Vet. Lat.: pavor/excessus/extasis …). Hinzufügen ließe sich mit gewisser Unsicherheit 2,404sq. (in der Lacuna war wohl vom Fenster in der Arche die Rede, das nur in Vulg. Gen. 6,16 genannt wird, vgl. Hovinghs Apparat), ferner 3,227–229 (dazu unten Anm. 721). Die Vermischung beider Versionen ist übrigens ein typisches Phänomen der ersten Jahrhunderte nach der Entstehung der Vulgata; auch Augustinus verwendet beide Übersetzungen parallel, vgl. S. P. Brock/V. Reichmann, Art. „Bibelübersetzungen. I.3: Die Übersetzungen ins Lateinische“, in: TRE 4, Berlin/New York 1980, 172–181. Cutino 2009, 208 Anm. 1 (mit internen Verweisen) glaubt außerdem, innerhalb der Versionen der Vet. Lat. eine besondere Nähe zum italischen Text (bei Fischer Typ I) feststellen zu können, doch sind seine Belege eher schwach und ebenso gut durch die Kenntnis augustinischer Schriften zu erklären (in 1,95 hat Victorius ferens … semen, die von Cutino 2009, 111 Anm. 47 zitierte Vet.-Lat.-Lesung ferentem semen weist Fischer jedoch dem Typ C zu; sie entspricht Aug. Gen. ad litt. imperf. 11; Gen. ad litt. 2,12; Gen. c. Manich.1,13,19; in 1,339 hat Victorius adhuc tellus dare iussa wie Gen. 2,19 Typ I adhuc de terra, vgl. Aug. Gen ad litt. 6,5 u. ö.; in 2,268 verwendet Victorius coruscum als Substantiv, was vor ihm nur im I-Text zu Luk. 17,25 und 4Esr. 6,2 belegt ist, aber auch sonst gebraucht worden sein kann; vgl. ThLL s. v. coruscus p. 1077,56–68). Überhaupt ist zu bedenken, dass Victorius’ Lesungen auch von den Bibelzitaten der von ihm benutzen Kirchenväter (v. a. Ambrosius und Augustinus) beeinflusst sein können. 46 Maurer 1896, 54–60, besonders 59f., sowie Martorelli 2008, 97–103. 47 Maurer 1896, 60: „Nunc in ambiguo res relinquenda est.“

18 | Einleitung und Vorüberlegungen

Martorelli hält eine Benutzung der Septuaginta zwar für wahrscheinlich, führt hierfür aber nur ein Beispiel an, das m. E. recht konstruiert erscheint.48 Auch hier ist also keine Gewissheit für die Frage nach Victorius’ Griechischkenntnissen zu erlangen. Es schließt sich die Frage an, ob Victorius jenseits des Bibeltexts griechische Autoren in der Alethia verarbeitet. Besonders die Teilkommentare von Staat und Hovingh erwecken diesen Eindruck, verweisen sie doch regelmäßig auf Parallelen bei griechischen Philosophen und Kirchenvätern. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich jedoch auch diese Stellen, so ähnlich die Gedanken bei Victorius und den zitierten Autoren jeweils sein mögen, als wenig aussagekräftig für die Frage der Griechischkenntnisse, da eine lateinische Vermittlung nicht auszuschließen, ja manchmal sogar sehr wahrscheinlich ist. Instruktiv ist der Fall des platonischen Timaios, zu dem sich relativ viele und auffällige Parallelen feststellen lassen. So erinnern die Aussagen über den Zusammenhalt gegensätzlicher Elemente, die sich in der precatio finden, an Platons Konzept des συνδεσμός der Elemente.49 Auch der wenig später formulierte Gedanke, dass Gottes Güte der Grund für die Schöpfung war, findet sich in prägnanter Form im Timaios.50 Zu Beginn des ersten Buches verwendet Victorius die im Timaios formulierte These, dass die Zeit erst nach oder seit der Welt || 48 Vgl. Martorelli 2008, 102f. Martorelli behandelt Aleth. 3,622–624 (Gott über Ismael): nostro nam munere fultus / milia multa virum, valido cum stemmate gentes, / bis senis pariter ducibus regnanda creabit. In der Vet. Lat. fehlt ein Hinweis auf duces (Gen. 17,20): duodecim gentes generabit, in der Vulg. ist nichts von gentes zu lesen: duodecim duces generabit. Martorelli vermutet eine Anreicherung mit Gen. 25,16, wo beide Elemente kombiniert sind. Hier steht indes sowohl in der Vet. Lat. (duodecim principes secundum gentes eorum) als auch in der Vulg. (duodecim principes tribuum suarum) principes, was Martorelli vermuten lässt, dass Victorius eher die Septuaginta direkt verwendete, wo es heißt: δώδεκα ἄρχοντες κατὰ ἔθνη αὐτῶν. Martorellis Deutung ist zwar nicht auszuschließen, aber sicherlich zu unsicher und bemüht, um hierauf eine Argumentation aufzubauen. 49 Aleth. prec. 38–40: sic omnia dives / conditor adversis etiam cognata elementis / nectis et a toto fusis virtutibus imples. – Plat. Tim. 32bc: οὕτω δὴ πυρός τε καὶ γῆς ὕδωρ ἀέρα τε ὁ θεὸς ἐν μέσῳ θείς, καὶ πρὸς ἄλληλα καθ’ ὅσον ἦν δυνατὸν ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον ἀπεργασάμενος, ὅτιπερ πῦρ πρὸς ἀέρα, τοῦτο ἀέρα πρὸς ὕδωρ, καὶ ὅτι ἀὴρ πρὸς ὕδωρ, ὕδωρ πρὸς γῆν, συνέδησεν καὶ συνεστήσατο οὐρανὸν ὁρατὸν καὶ ἁπτόν. καὶ διὰ ταῦτα ἔκ τε δὴ τούτων τοιούτων (32c) καὶ τὸν ἀριθμὸν τεττάρων τὸ τοῦ κόσμου σῶμα ἐγεννήθη δι’ ἀναλογίας ὁμολογῆσαν, φιλίαν τε ἔσχεν ἐκ τούτων, ὥστε εἰς ταὐτὸν αὑτῷ συνελθὸν ἄλυτον ὑπό του ἄλλου πλὴν ὑπὸ τοῦ συνδήσαντος γενέσθαι. Vgl. Hovingh 1955 ad prec. 38–40, der Tim. 31b–33a zitiert. 50 Aleth. prec. 50sq.: tibi sola, deus, gigni qua cuncta iuberes, / causa fuit bonitas … – Plat. Tim. 29de: λέγωμεν δὴ δι’ ἥντινα αἰτίαν γένεσιν καὶ τὸ πᾶν τόδε ὁ συνιστὰς συνέστησεν. ἀγαθὸς ἦν, ἀγαθῷ δὲ οὐδεὶς περὶ οὐδενὸς οὐδέποτε ἐγγίγνεται φθόνος ... Den Hinweis auf die Parallele verdanke ich H.-G. Nesselrath.

Konnte Victorius Griechisch? | 19

laufe, und argumentiert wie Platon für die Gewordenheit der Welt.51 Auch das Makrokosmos-Mikrokosmos-Konzept, das an mehreren Stellen der Alethia eine Rolle spielt, wird gerade im Timaios in besonderer Breite entwickelt.52 Hinzu kommen zwei weitere unsichere Parallelen, die Hovingh in seinem Teilkommentar anführt.53 Dass Victorius vom Timaios beeinflusst wurde, ist also zumindest möglich. Dies bedeutet allerdings noch nicht, dass er den Dialog auf Griechisch lesen musste: Bereits Cicero übersetzte den Timaios teilweise auf Latein. Noch wichtiger für Victorius könnte Calcidius sein, der vermutlich um die Wende vom 4. zum 5. Jh. – also nicht lange vor der mutmaßlichen Entstehung der Alethia – etwa die erste Hälfte des Timaios (17a–53c) ins Lateinische übertrug und einen Teil davon kommentierte.54 Tatsächlich stammen die genannten Parallelen zu Victorius mit Ausnahme eines unsicheren Falls aus dem von Calcidius übersetzten Teil des Timaios, und so ist es gut vorstellbar, dass Victorius den platonischen Dialog in dieser Form kennen lernte. Die Tatache, dass Calcidius in seinem Werk christlichen Einfluss zeigt, wenn er nicht gar selbst Christ war,55 und

|| 51 Aleth. 1,34: tempora post mundi molem currentia … – Plat. Tim. 38b: χρόνος δ’ οὖν μετ’ οὐρανοῦ γέγονεν, ἵνα ἅμα γεννηθέντες ἅμα καὶ λυθῶσιν, ἄν ποτε λύσις αὐτῶν γίγνηται ... Vgl. Hovingh 1955 ad 1,22–36 (S. 101) und Martorelli 2008, 107 Anm. 16. 52 Besonders deutlich ist das Konzept in Aleth. 2,182–184 fassbar (mundoque minori / quicquid maior habet sacro notescere sensu / meque per haec volui, vgl. unten S. 286f. sowie Staat 1952, 125), man beachte aber auch Aleth. 2,424 (die Arche umschrieben als mundus minor, vgl. Homey 1972, 56f.). Der Timaios ist insgesamt vom Gedanken der Analogie zwischen Mensch und Welt bestimmt, vgl. etwa die Zusammenfassung bei B. Th. Schur, Von hier nach dort. Der Philosophiebegriff bei Platon, Göttingen 2013, 165–169; nützlich auch immer noch Meyer 1900, 19–22. 53 Hovingh 1955 ad 1,111 mutmaßt, der dortige Ausdruck numerosa vice könne eine Anspielung auf Plat. Tim. 47a sein (νῦν δ’ ἡμέρα τε καὶ νὺξ ὀφθεῖσαι μῆνές τε καὶ ἐνιαυτῶν περίοδοι καὶ ἰσημερίαι καὶ τροπαὶ μεμηχάνηνται μὲν ἀριθμόν …); im Kommentar zu 1,119, wo die Fische als brutae figurae bezeichnet werden, verweist er auf Tim. 92b, wo die Meertiere als besonders dumm dargestellt werden (τὸ δὲ τέταρτον γένος ἔνυδρον γέγονεν ἐκ τῶν μάλιστα ἀνοητοτάτων καὶ ἀμαθεστάτων …). Beide Parallelen sind m. E. zu schwach, um als Argument für eine Abhängigkeit vom Timaios gelten zu können. 54 So jedenfalls nach der Datierung von Waszink 1972, 237–239. Diskutiert wird auch eine Lebenszeit im 4. Jh., vgl. P. Hadot/F. Zaminer, Art. „Calcidius“, in: DNP 2, Stuttgart/Weimar 1997, 934f. 55 Die größere Zahl von Forschern hält ihn tatsächlich für einen Christen, so mit genauerer Begründung Waszink 1972, 236 („C. war mit Sicherheit Christ.“), dazu zustimmend z. B. C. Ratkowitsch, Ein Plato Christianus, Philologus 140 (1996), 139–162, vor allem 140f.; dagegen wendet sich z. B. G. Reydams-Schils, Calcidius Christianus? God, Body and Matter, in: Th.

20 | Einleitung und Vorüberlegungen

dass Abschriften seines Kommentars zumindest ab dem 6. Jh. in Gallien nachweisbar sind, 56 machen ihn als Vermittler noch wahrscheinlicher. Doch unabhängig davon, ob Victorius tatsächlich Übersetzung und Kommentar des Calcidius kannte – sicher ist, dass die Parallelen zum Timaios nicht als Beleg für Griechischkenntnisse gewertet werden dürfen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei näherer Betrachtung der übrigen griechischen Autoren, die als Quelle für Victorius gehandelt werden: Unter den jüdischen und christlichen Autoren lassen sich vor allem Parallelen zu Philon von Alexandria feststellen, doch lassen sich diese auch durch lateinische Vermittlung, besonders über Ambrosius und Augustinus, erklären.57 Pagane griechische Autoren, hauptsächlich Philosophen wie der bereits genannte Platon, spielen zwar mitunter eine Rolle als wichtige oder erste Vertreter bestimmter Konzepte, die Victorius in der Alethia verarbeitet, doch findet sich auch hier kein Fall, in dem Victorius die betreffenden Vorstellungen nicht ebenso gut durch Vermittlung lateinischer Philosophen oder Theologen kennen gelernt haben könnte.58 Am ehesten scheinen einige Verse im dritten Buch (3,153–156) auf einen direkten Kontakt mit einem griechischen Autor hinzudeuten. Victorius beschreibt hier einen äthiopischen Brauch der Staatslenkung durch Hunde, der sonst nur in Plut. De comm. not. 1064B und Ail. Nat. 7,36(40) überliefert ist, wobei sich Ailian auf Hermipp (fr. 104 Wehrli) und Aristokreon (FGrHist 667 F 4) beruft. Allem Anschein nach stehen Plutarch und Ailian also in einer breiteren Tradition, zu der auch eine lateinische Schrift gehört haben könnte (etwa ein verlore-

|| Kobusch/M. Erler (Hgg.), Metaphysik und Religion, München 2002, 193–211, die ihn eher für einen Platoniker mit Sympathie für christliche Ansichten hält (so S. 209). 56 Vgl. M. Huglo, La réception de Calcidius et des Commentarii de Macrobe à l’époque carolingienne, Scriptorium 44 (1990), 3–20, hier 5. 57 Schon Maurer 1896, 53f. wirft die Frage auf, ob Victorius diese Autoren im Original las (und lässt sie letztlich unbeantwortet). Vgl. für Parallelen zu Philon auch das Stellenregister von Martorelli 2008. 58 Ich nenne Beispiele aus den Teilkommentaren von Hovingh und Staat: Hovingh 1955 ad prec. 14 verweist auf Plotin, ad prec. 31 auf Ps.-Aristoteles (Περὶ κόσμου), ad prec. 37sq. außerdem auf Epiktet, nennt aber in allen Fällen zugleich lateinische Stellen, an denen ähnliche Gedanken formuliert werden. Staat 1952 nennt mehrere griechische Philosophen, deren Ansichten sich auch beim von Victorius sicher rezipierten Lukrez finden (darunter natürlich Epikur, vgl. ad 2,178, aber auch Poseidonios, vgl. ad 2,105–135 [S. 82f.] und Demokrit, vgl. ad 2,179. 180; die Lehren sind z. T. aus jüngeren griechischen Autoren erschlossen, die Staat zitiert); Staat 1952 ad 2,195 zitiert Platons Menon und Phaidon, nennt aber auch die Rezeption der betreffenden Gedanken bei Cicero.

Konnte Victorius Griechisch? | 21

nes Bestiarium, vgl. unten Anm. 703). Auch diese Stelle erweist sich somit bei genauer Betrachtung als nicht allzu beweiskräftig. Folgerungen Eine sichere Antwort auf die Frage der Griechischkenntnisse konnte diese Indiziensammlung nicht geben. Vor dem Hintergrund, dass Griechischkenntnisse zu Victorius’ Zeit im lateinischen Westen selbst unter den Gebildeten die Ausnahme waren, wird man das Fehlen eines klaren Belegs für seine Griechischkenntnisse jedoch so interpretieren müssen, dass Victorius des Griechischen wahrscheinlich nicht in nennenswertem Umfang mächtig war, wenngleich sich dies natürlich nicht ausschließen lässt. Für diese Untersuchung bedeutet dies: Wenn nach Vorlagen gesucht wird, die Victorius mit einiger Sicherheit kennen und bewusst nachahmen konnte, so müssen lateinische Text im Mittelpunkt stehen. Griechische Texte bleiben für das Thema dabei jedoch insofern relevant, als in ihnen viele Techniken und Themen aufkamen, die später von der lateinischen Epik und Lehrdichtung aufgenommen wurden und so auch Victorius bekannt werden konnten.

1 Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht Im ersten Teil dieser Arbeit soll es um die Frage gehen, in welcher Form bzw. mit welchen dichterischen Mitteln Victorius seinen Stoff präsentiert. Dabei ist nicht angestrebt, systematisch und umfassend alle Bereiche der poetischen Technik zu behandeln, vielmehr sollen Aspekte in den Blick genommen werden, die aufschlussreich für das zentrale Thema dieser Arbeit sind, also für das Verhältnis zu Epos und Lehrgedicht. Die Untersuchung gliedert sich in drei Bereiche: Zunächst wird betrachtet, wie das Werk im Ganzen angelegt und aufgebaut ist (Kap. 1.1). Anschließend wird der Blick darauf gerichtet, inwieweit der Erzähler in der Erzählung präsent ist und wie er sich seinem Stoff und seinen Adressaten gegenüber verhält (Kap. 1.2). Schließlich werden einzelne Darstellungselemente wie z. B. Ekphraseis oder Reden untersucht, wobei diese in solche mit vorwiegendem Bezug zum Epos, solche mit Bezug zu beiden Gattungen und solche mit Bezug zum Lehrgedicht eingeteilt werden (Kap. 1.3). In allen Fällen sollen nicht bloß dokumentierend formale Aspekte der Alethia beschrieben werden (zumal die Form stets eine Aussage transportiert), sondern auch die hinter den Techniken stehenden Geisteshaltungen herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck werden immer wieder einzelne Stellen referiert und interpretiert werden. Besonders breiten Raum wird die Analyse der precatio einnehmen, die als Eröffnungspartie nicht nur für den Werkaufbau von Interesse ist, sondern wegen ihrer programmatischen Aussagen für das Verständnis des gesamten Gedichts große Bedeutung hat und somit einen passenden Einstieg in die Untersuchungen bildet (Kap. 1.1.1). Darüber hinaus sollen Bezüge zu literarischen Tendenzen der Spätantike hergestellt werden, damit die Alethia in die Entwicklung der beiden Vorbildgattungen (wie sich zeigen wird, vor allem des Epos) eingeordnet werden kann.

1.1 Aspekte des Werkaufbaus 1.1.1 Ein Proöm im Stil des Lehrgedichts: die precatio Ein erster wichtiger Aspekt des Werkaufbaus ist der Werkbeginn. In Epos und Lehrgedicht haben sich – beginnend mit Homer im einen, mit Hesiod im anderen Fall – deutlich unterschiedliche Proömialformen herausgebildet. Schon der Beginn des Werks ist also von großer Bedeutung für die Frage, wie Victorius sich zu den beiden Gattungen positioniert. Überdies sind von einem Proöm

Aspekte des Werkaufbaus | 23

generell programmatische Signale zu erwarten, die für die Deutung des gesamten Gedichts wichtig sind. Es lohnt sich daher, am Beginn der Untersuchungen die Eröffnung der Alethia unter die Lupe zu nehmen und sie nach Bezügen zu Epos und Lehrgedicht und nach weiteren programmatischen Aussagen zu durchsuchen. Victorius beginnt sein Werk mit einem 126 Verse langen Gebet an den christlichen Gott, das in der Handschrift durch ein eigenes incipit und finit vom ersten Buch abgegrenzt ist. Die Partie, bezeichnenderweise mit prefatio vel precatio ad dñm überschrieben,59 übernimmt die Funktion eines Proöms zu den folgenden drei Büchern. Dass das Proöm gleichsam ausgelagert ist, muss bei einem spätantiken Dichter wie Victorius nicht verwundern, ist dies doch auch in anderen zeitgenössischen paganen und christlichen Werken der Fall (nicht zuletzt in Bibeldichtungen).60 Für die Frage der Gattungsbezüge ist wichtiger, dass es sich um ein Gebet oder einen Hymnus handelt. Victorius knüpft hiermit natürlich zunächst an die Hymnik als literarische Gattung an, und wie kürzlich Michele Cutino gezeigt hat, lassen sich gerade zu einigen philosophischen und christlichen Hymnen bzw. Gebeten des 4./5. Jh. gewisse Bezüge feststellen.61 Indem Victorius mit seinem Gebet ein größeres Werk eröffnet, stellt er allerdings noch einen weiteren, für das Thema dieser Arbeit entscheidenden Bezug her, denn ein solcher Eröffnungshymnus ist ein typisches Merkmal des Lehrgedichts. Dass hier ein Berührungspunkt mit dem Lehrgedicht besteht, wurde von der Forschung ebenfalls bereits zur Kenntnis genommen.62 Was jedoch noch aussteht, ist ein genauer Vergleich der precatio mit ihren Vorbildern in der heidnischen Lehrdichtung, unter denen, wie sich zeigen wird, Lukrez besonders hervorsticht. Ein solcher Vergleich soll hier unternommen werden, wobei gele-

|| 59 In der subscriptio ist dann allerdings nur noch von der precatio die Rede, siehe den Apparat in Hovinghs Edition. Auf die Doppelbezeichnung im incipit macht auch Cutino 2009, 17 mit Anm. 1 aufmerksam. 60 Auf paganer Seite sei auf Claudian verwiesen (vgl. z. B. die ausgegliederten praefationes vor B. 1 und B. 2 von Rapt. Pros., vor B. 1 und B. 2 von Rufin. oder vor Get., die allerdings alle in elegischen Distichen gehalten sind und insofern nicht ganz mit der precatio zu vergleichen sind). Aus der christlichen Dichtung seien die Bibeldichter Juvencus und Proba genannt, die abgegrenzte praefationes in Hexametern haben (Sedulius hat eine praefatio in Distichen). 61 Cutino 2009, 17–36. Cutino geht vor allem auf Tiberianus, Ausonius und Paulinus von Nola ein. 62 Vgl. Smolak 1973, 237 „Victorius [komponiert] vorwiegend im Stil des Lehrepos, zu dem aber seit Hesiod das hymnische Prooemium gehört“. Siehe außerdem Herzog 1975, LV, Martorelli 2008, 202 mit Anm. 82 sowie Cutino 2009, 18 und 25 mit Anm. 39f.

24 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

gentlich auch auf die jüngere Hymnik einzugehen sein wird, da diese die tiefere Schicht lehrdichterischer Einflüsse teilweise überlagert oder verformt.63 Lehrgedicht und Hymnus Zunächst muss die Aussage, Victorius stelle mit seinem einleitenden Gebet oder Hymnus einen Bezug zur Lehrdichtung her, differenziert und eingeschränkt werden. Die Praxis, am Werkbeginn eine für das Gedicht irgendwie relevante Gottheit anzurufen und zu preisen, gehört zwar zum ältesten Traditionsgut der Lehrdichtung – schon Hesiod leitet seine Werke und Tage mit einem Zeushymnus ein (Op. 1–10) –, doch wurde diese Tradition keineswegs kontinuierlich gepflegt. Auf griechischer Seite kommt der Hymnus schon im Hellenismus mit Nikander aus der Mode. Lukrez als erster römischer Lehrdichter folgt dieser Entwicklung nicht, sondern setzt sogar einen auffällig langen Venushymnus an den Beginn seines Werkes (Lucr. 1,1–43). Auch Vergil und Grattius integrieren Hymnen in ihr Werk – Vergil ruft am Beginn seiner Georgica zwölf ländliche Götter an, Grattius in den Cynegetica Diana und ihr Gefolge –, doch ab dem 1. Jh. n. Chr. verzichten auch die römischen Lehrdichter auf Eröffnungshymnen oder ersetzen sie durch Panegyrik, bevor in der späteren Antike wieder eine allmähliche Rückkehr zum traditionellen Götterhymnus zu beobachten ist.64 Wenn Victorius sein Werk mit einem Gebet eröffnet, so knüpft er also speziell an die erste, vor allem durch Lukrez und Vergil vertretene Phase römischer Lehrdichtung an – aber er folgt zugleich einer klassizistischen Tendenz, die in der späteren Antike verbreitet ist. Bevor Victorius’ precatio im Einzelnen analysiert werden kann, sind einige Vorbemerkungen zur Struktur nötig. Hymnen oder Gebete folgen – im Lehrge-

|| 63 Lehrgedicht und Hymnik sind natürlich nicht die einzigen Quellen für Victorius’ inhaltsreichen und komplexen Hymnus, doch können die Bezüge zu philosophischen und theologischen Prosaschriften für die Zwecke dieser Arbeit außer Acht bleiben (verwiesen sei auf Hovinghs Teilkommentar, in dem entsprechende Parallelen aufgeführt sind). 64 Reine Kaiserpanegyrik haben z. B. Germanicus und Manilius. Die beiden Oppiane und Nemesian verbinden Hymnus und Kaiserlob, und Aviens Aratea haben wieder einen Hymnus ohne panegyrische Elemente (vgl. Pöhlmann 1973, 878, der das Fehlen von Panegyrik bei Avien mit dem Vordringen des Christentums in Verbindung bringt). Auf christlicher Seite ist möglicherweise Prudentius’ Apotheosis vergleichbar, zu der ein einleitender Hymnus de trinitate überliefert ist, dessen Echtheit freilich umstritten ist (gegen die Echtheit C. Gnilka, Unechtes in der Apotheosis, in: ders., Prudentiana. I: Critica, München/Leipzig 2000, 459–647, hier 461– 488; Gnilka wendet sich damit u. a. gegen Thraede 1962a, 1020, der in dem Hymnus die Einleitung für Hamartigenia und Apotheosis sieht, die als ein einziges Werk konzipiert seien).

Aspekte des Werkaufbaus | 25

dicht ebenso wie als eigenständige Form – in der Regel mehr oder weniger streng einem dreiteiligen Aufbau, der allerdings erst von der modernen Forschung so beobachtet worden ist:65 Zunächst wird die Gottheit mit Namen, Epitheta, Genealogie, Aufenthaltsorten u. Ä. angerufen (invocatio, grch. ἐπίκλησις). Hierauf folgt ein Lobpreis der göttlichen Macht, der die Zuständigkeit des Gottes für die jeweilige Bitte begründet (pars epica oder sanctio, grch. εὐλογία, ἀρεταλογία oder δοξολογία).66 Die göttlichen Eigenschaften oder Taten können in einem „Du“-Stil oder einem „Er“-Stil aneinandergereiht werden.67 Die eigentliche Bitte äußert der Sprecher meist erst am Schluss (preces, grch. εὐχαί). In Lehrgedichtproömien geht es an dieser Stelle vor allem um göttlichen Beistand bei dem beginnenden dichterischen Unterfangen, wobei Vermischungen mit dem in Epos wie Lehrgedicht traditionellen Musenanruf auftreten können.68 Auch Victorius’ precatio entspricht, wie seit längerem bekannt ist, diesem dreiteiligen Schema, wobei V. 1–7 die Anrufung, V. 8–100 die Doxologie69 und V. 101–126 die Bitten bilden.70 Hier sollen zunächst die ersten beiden Teile betrachtet werden, da die Bitten eigene Probleme aufwerfen.

|| 65 Ich stütze mich hier hauptsächlich auf Furley/Bremer 2001 (die Darstellung bezieht sich zwar auf griechische Hymnen, ist aber auf lateinische übertragbar). Aus der älteren Literatur sei Norden 1913, 143–176 herausgehoben, dessen Materialsammlung und Analyse bis heute grundlegend ist. Vgl. auch F. Graf, Art. „Gebet. III. Griechenland und Rom“, in: DNP 4, Stuttgart/Weimar 1998, 830–834, hier vor allem 831. 66 Die lateinische und griechische Terminologie ist in der Forschung uneinheitlich. Der Begriff pars epica geht auf K. Ausfeld zurück (De Graecorum precationibus quaestiones, Jahrb. f. klass. Philol., Suppl. Bd. 28, 505–536 = Diss. Leipzig 1903); er wird jedoch von manchen Forschern abgelehnt, weil nicht alle Hymnen tatsächlich einen ‚epischen‘ Mittelteil besitzen. Sanctio wurde von T. Zielinski vorgeschlagen (Religia starzytnej Greciji, Warsaw 1921. Norden 1913 verwendet die griechischen Termini (siehe S. 150f. zu den antiken Ursprüngen der drei Begriffe). 67 Die Bezeichnungen wurden geprägt von Norden 1913, 143–176 (als weitere Möglichkeiten, die für diese Untersuchung aber weniger wichtig sind, nennt er Relativ- und Pronominalstil). 68 So übernimmt schon bei Lukrez Venus „einen Teil der Funktion der Musen“, vgl. Pöhlmann 1973, 851. 69 Der griechische Begriff δοξολογία wird nach Norden 1913, 150f. speziell in christlicher Sprache verwendet (ist hier also besonders treffend), während εὐλογία oder ἀρεταλογία dem paganen Sprachgebrauch entstammen. 70 So schon Hovingh 1955, 18–20, vgl. auch Martorelli 2008, 202 Anm. 82 sowie Cutino 2009, 18. Die Einteilung ist nicht ganz zwingend, da eigentlich schon in V. 2 eine relativische Prädikation beginnt, doch ist zwischen V. 7 und V. 8 in der Tat eine Zäsur spürbar, die die traditionelle Einteilung in meinen Augen rechtfertigt.

26 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Anrufung und Doxologie (1–100): Kontrastimitation zu Lukrez Bereits in den ersten Versen der precatio und damit an denkbar exponierter Stelle evoziert Victorius ein Modell, das auch für sein weiteres Werk einige Bedeutung hat, nämlich Lukrez, der noch in der Spätantike, vor allem in Hymnik und Lehrdichtung, ein durchaus häufig rezipierter Autor war.71 Schon die formal-strukturellen Übereinstimmungen sind frappierend: An der Spitze steht bei Victorius wie bei Lukrez eine bis zur Penthemimeres reichende Gottesbezeichnung (summe et sancte deus, vgl. Lucr. 1,1: Aeneadum genetrix), gefolgt von einer Apposition bis zum Versende (cunctae virtutis origo, vgl. Lucr. 1,1: hominum divomque voluptas) und einer weiteren Apposition bis zur Trithemimeres des zweiten Verses (omnipotens, vgl. Lucr. 1,2: alma Venus), an die sich dann ein etwas längerer Relativsatz anschließt (quem nec …, vgl. Lucr. 1,2: caeli subter labentia signa / quae …).72 In der anschließenden Doxologie werden die formalen Ähnlichkeiten schwächer, doch immerhin eröffnen beide Autoren ihr Gotteslob mit einem emphatischen Personalpronomen der 2. Person (tu …, prec. 8, vgl. Lucr. 1,6: te, dea, te …) und verwenden auch in den folgenden Versen einen ausgeprägten „Du“-Stil. Zu diesen formalen Parallelen kommt eine inhaltlich-thematische Nähe, da beide Autoren die jeweilige Gottheit als eine Lebensmacht beschreiben, die die Natur lenkt und allem irdischen Dasein zugrunde liegt. In der konkreten Umsetzung zeigen sich indes tiefgreifende Differenzen: Während Lukrez gleich zu Beginn in sehr gegenständlicher Weise Venus’ Anwesenheit zu Wasser und zu Lande beschreibt (quae mare navigerum, quae terras frugiferentis / concelebras, 1,3sq.), hebt Victorius an entsprechender Stelle hervor, dass der christliche Gott gerade nicht mit menschlichen Kräften erfasst werden kann (quem nec … sensu comprendere fas est, prec. 2sq.). Der Gegensatz lässt sich auch im weiteren Verlauf beobachten: Lukrez stellt die Wirksamkeit der Venus in einem höchst plastischen Bild dar, indem er eine Art Epiphanie der Göttin in der Natur ausmalt (Lucr. 1,6–13; erst später folgt eine abstraktere Zusammenfassung von Venus’ Lenkerrolle: quae quoniam rerum naturam sola gubernas …, Lucr. 21). Als Beispiele für die umfassende Macht der Venus dienen ihm etwa Wolken und Winde (V. 6), Blumen (V. 8) und Tiere (V. 12. 15). Victorius verzichtet dagegen auf jede || 71 In der Hymnik übte dabei naheliegenderweise der auch hier verarbeitete Venushymnus anhaltenden Einfluss aus; vgl. Deufert 2009, 608f. zum Lukrezeinfluss in der spätantiken paganen Hymnik und Lehrdichtung, 617–619 zur Rezeption in der christlichen hymnischelogischen und episch-didaktischen Poesie. 72 Relativsätze mit Bezug auf den angeredeten Gott sind generell ein typisches Element des Hymnus, vgl. Norden 1913, 168–176.

Aspekte des Werkaufbaus | 27

Anschaulichkeit und bezeichnet Gott nur abstrakt als Urgrund des Lebens (vgl. a te principium traxit quodcumque repente / ex nihilo emicuit, prec. 22sq.) und Herrn der Schöpfung (vgl. te dominum natura probat, prec. 25sq.). Auch seine Beispiele für Gottes Macht sind denkbar unanschaulich, wenn er z. B. Zahlen, Gewichte, Maße usw. nennt (prec. 27–31).73 Victorius bedient sich also einer Technik der Kontrastimitation: Er ahmt die Form seiner Vorlage nach und nimmt sogar auf ihren Inhalt Bezug, setzt aber einer anschaulichen heidnischen eine abstraktere christliche Gottesvorstellung entgegen. Der Kontrast wird noch deutlicher, wenn man als Folie die pagane Hymnentradition insgesamt hinzunimmt, an der sich ja auch Lukrez in seiner Darstellungsweise orientiert. Hier lohnt sich besonders ein Blick auf die ersten Verse der Doxologie. Victorius charakterisiert Gott hier negativ, indem er herausstellt, dass Gott ohne Anfang und Ende ist (prec. 8sq.), dass er den Raum überschreitet (prec. 10–13a) und dass seine Gestalt und Bewegung mit dem menschlichen Verstand nicht zu begreifen sind (prec. 13b–16).74 All dies steht dem griechischrömischen Götterbild und seiner Manifestation in Gebeten und Hymnen diametral entgegen. Hier wird oft schon in der invocatio die Genealogie des Gottes genannt, gelegentlich folgt später eine ausführliche Geburtslegende; der Gott wird also als ein Wesen mit einem Anfang dargestellt (dagegen bei Victorius: tu sine principio, prec. 8).75 Auch die bevorzugten Aufenthaltsorte des Gottes sind hier ein typisches Element der invocatio (dagegen: tu spatium rerum … excedis, prec. 10sq.),76 und überhaupt ist die anthropomorphe Darstellung des Gottes und seine Bewegung im Raum in der griechisch-römischen Vorstellungswelt weitgehend selbstverständlich (dagegen: nec fas contingere menti, / quae sit imago tibi … / …, vel qui … / te vegetet motus, prec. 13b–16a). Auch hier scheint Victorius also bestrebt, nicht einfach einen Hymnus christlichen Inhalts zu schreiben, sondern die pagane Hymnentradition durch gezielte Bezüge geradezu umzukehren. Bevor nun Bezüge zu weiteren Hymnen genannt werden, ist noch einmal auf Lukrez zurückzukommen. Bekanntlich steht nämlich bereits Lukrez als Epi|| 73 Die Trias numeri–pondera–mensurae ist offenbar an Wsh. 11,21 angelehnt (nach Thieles Edition im Rahmen der Vetus Latina, Typ D, die bis auf das zusätzliche in mit der Vulgata übereinstimmt): omnia in mensura et numero et pondere disposuisti, vgl. Hovingh 1955 ad loc.). 74 Victorius bedient sich hier also der sog. negativen Theologie, vgl. Papini 2006 ad prec. 11 (S. 34 Anm. 2). 75 Vgl. Furley/Bremer 2001, 54; mehr, auch lateinisches Material bietet Norden 1913, 148. 76 Vgl. erneut Furley/Bremer 2001, 54f., wo auch der Gegensatz zum christlichen Gott hervorgehoben wird: „In contrast to the god of Christianity, Greek gods [und ebenso römische, TKT] are related to specific locations“ (S. 54).

28 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

kureer in einem gebrochenen Verhältnis zur Hymnentradition, besteht doch das Anliegen seines Werkes gerade darin, die Vorstellung vom Eingreifen der Götter zu widerlegen und die Menschen so aus den Fängen der religio zu befreien. Warum er sein Werk trotzdem mit einem so traditionell erscheinenden Götterhymnus beginnt, ist in der Forschung viel diskutiert worden; die gängige Ansicht ist jedenfalls, dass Venus für ihn keine reale Gottheit im Sinne der griechisch-römischen Mythologie sein kann, sondern eine symbolische Bedeutung besitzen muss.77 Für Lukrez ist dies jedoch offenbar kein Hinderungsgrund, das Walten der Venus in anschaulicher Weise darzustellen, ja vielleicht ist es gerade seine Strategie im Umgang mit dem traditionellen Götterbild, dieses in der literarischen Form eines Hymnus zunächst dem Rezipienten gegenüber aufrecht zu erhalten, es dann aber durch den nachfolgenden Inhalt zu transzendieren. Victorius jedenfalls wählt einen anderen Weg. Anders als Venus für Lukrez ist Gott für Victorius eine reale Entität, und wohl nicht zuletzt um sich von aller mythologischen oder allegorischen Bildhaftigkeit abzugrenzen, stellt er Gottes Wirken in teilweise bis zur Unverständlichkeit abstrakter Weise dar.78 Ihm kommt es offenbar darauf an, Gottes Transzendenz und Übersinnlichkeit stets spürbar zu machen. Zugleich bietet die precatio so schon einen Vorgeschmack auf die ‚Entbildlichung‘ und ‚Theologisierung‘, die in der Paraphrase der Genesis-Handlung noch häufiger zu beobachten sein werden. Spätantike Einflüsse: Tiberianus und andere In den vorangehenden Vergleichen ist deutlich geworden, dass Victorius sich von der traditionellen paganen Hymnik trotz formaler Nähe in Inhalt und Ausdruck abgrenzt, indem er eine abstraktere Darstellungsweise wählt. Hiermit ist Victorius nun freilich nicht der erste, vielmehr greift er Tendenzen auf, die sich auch sonst in der spätantiken Hymnik beobachten lassen, und dies nicht nur

|| 77 Wofür genau Venus steht, ist in der Forschung umstritten; vorgeschlagen wurden etwa die epikureische Lust, der Fortpflanzungsinstinkt oder eine epikureische Form von Empedokles’ φιλότης, vgl. die Zusammenstellung bei M. R. Gale, Lucretius, in: Foley 2005, 440–451, hier 449. Eine Gegenposition vertritt K. Sier, Religion und Philosophie im ersten Proömium des Lukrez, A&A 44 (1998), 97–106: Demnach meint Lukrez die Göttin Venus, will hiermit aber den Rezipienten auf die epikureische Lehre vorbereiten, da sich in der Venus-Verehrung etwas artikuliere, „das im praktischen Verhalten der Ehrenden nicht eingelöst ist, etwas, das in die Richtung der epikureischen Philosophie weist“ (S. 103). 78 Besonders dunkel ist beispielsweise prec. 32–40, wo Victorius sich in wenig luzider Weise zu verborgenen guten Seiten der Schöpfung äußert.

Aspekte des Werkaufbaus | 29

bei christlichen Autoren.79 Das deutlichste Vorbild ist hier ein Hymnus des Neuplatonikers Tiberianus, der sich an den platonisch-henotheistisch verstandenen All- und Schöpfergott richtet (Tiberianus 4). Vorausgeschickt sei, dass der Hymnus stilistisch stark an Lukrez angelehnt ist und auch bei anderen (auch christlichen) Autoren des 4. bis 6. Jh. Spuren hinterlassen hat, sodass er gut ein Bindeglied zwischen Lukrez und Victorius bilden kann.80 Zunächst sind einige frappierende Ähnlichkeiten im sprachlichen Ausdruck zu nennen. So klingt schon in der Epiklese omnipotens, quem in prec. 2 der Anfang des tiberianischen Hymnus an (omnipotens, annosa poli quem suspicit aetas, Tiberianus 4,1). Tiberianus’ Einfluss lässt sich auch in der eindrucksvollen Anaphernreihe tu ... / tu … / tu … / tu … / tu …, tu … (prec. 17–21) erkennen. Anaphorik mit Personalpronomina der zweiten Person begegnet zwar bereits in Lukrez’ Venushymnus (te, dea, te …, te … / …, tibi … / …, tibi …, Lucr. 1,6–8), doch findet sich eine so streng gebaute tu-Kette erst bei Tiberianus (tu …, tu … / tu … / tu …, Tiberianus 4,21–23). Hinzu kommt, dass Victorius in dieser Anaphernkette einen ganzen Halbvers aus Tiberianus’ Omnipotenshymnus zitiert (tu rerum causa vigorque, Tiberianus 4,21 = prec. 21). Tiberianus ist aber nicht nur in stilistischer Hinsicht als Vorbild für Victorius bedeutsam. Mit ihm lässt sich erstmals in der lateinischen Literatur ein größerer explizit philosophischer Hymnus fassen, der die Macht eines höchsten göttlichen Wesens in abstrakt-philosophischer Weise preist.81 Tiberianus vollzieht so den Schritt von Lukrez’ im Kern ebenfalls schon philosophischem, nach außen hin aber noch recht traditionellen Hymnus zu einer Form, die theologisch-philosophische Vorstellungen direkt formuliert, wie es dann auch Victorius in Bezug auf den christlichen Gott tut. Tatsächlich lassen sich neben vielen || 79 Ich baue auf den folgenden Seiten auf der Untersuchung von Cutino 2009, 17–36 auf, wo Bezüge zu Tiberianus, Ausonius, Avien und Paulinus von Nola aufgedeckt werden. 80 Vgl. zur Lukrezimiation Mattiacci 1990, 163f. (einzelne Bezüge in Mattiaccis Kommentar 170–199), zum Einfluss auf pagane und christliche Autoren ibid. S. 164–170 (genannt werden neben Victorius Avien, Ausonius, Martianus Capella, Boethius und Dracontius; vgl. auch bereits Norden 1913, 155 Anm. 1, wonach Tiberianus „für die christlichen Dichter der Spätzeit eine Autorität“ war). 81 Vgl. Mattiacci 1990, 161–165. In die griechische Literatur wurde der philosophische Hymnus bereits von Kleanthes eingeführt (am wichtigsten ist der Zeushymnus fr. 537 von Arnim), weshalb Mattiacci den Typ des philosophischen Hymnus auch als „genere ‚cleanteo‘“ (S. 161) bezeichnet. In der lateinischen Literatur ist zwar schon lange vor Tiberianus ein Interesse an Kleanthes’ Hymnen greifbar – Seneca übersetzt in Epist. 107,11 Kleanthes’ kürzeren Hymnus fr. 127 in fünf lateinische Trimeter (vgl. Mattiacci 1990, 165) –, doch bleibt Tiberianus’ Omnipotenshymnus das erste erhaltene Beispiel eines längeren lateinischen Hexameterhymnus philosophischen Inhalts.

30 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Unterschieden sogar einzelne Übereinstimmungen im Gottesbild zwischen Tiberianus und Victorius feststellen. In erster Linie ist hier an die schon genannten Zitate zu denken: Beide Autoren betonen die Allmacht ihres Gottes (omnipotens) und seine Rolle als Schöpfer und Erhalter der Welt (tu rerum causa vigorque). Vergleichbar sind darüber hinaus aber auch die bei Tiberianus und Victorius etwas unterschiedlich formulierten Hinweise auf Gottes Unermesslichkeit sowie auf seine Ewigkeit,82 und schließlich zeigen auch die Bitten am Ende der precatio, die in dieser Untersuchung bislang ausgespart worden sind, wörtliche und inhaltliche Berührungspunkte.83 Die Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass Victorius in seinem abstrakt-theologischen Gebet an den christlichen Gott auf ein Vorbild zurückgreifen konnte (und auch tatsächlich zurückgriff), das, obwohl heidnisch-philosophisch, in Inhalt und Darstellung bereits in eine ähnliche Richtung weist. Nur noch kurz sei auf zwei weitere Hymnen des 4. Jh. eingegangen, die beide von Tiberianus beeinflusst sind, in bestimmter Hinsicht aber auf Victorius vorausverweisen. In beiden Fällen wird man wohl kaum sicher erweisen können, dass Victorius die Autoren in der precatio bewusst vor Augen hatte, doch lassen über das Werk verstreute Similien es zumindest möglich erscheinen, dass er die betreffenden Werke kannte und bewusst oder unbewusst von ihnen beeinflusst war. Ein Autor, der Tiberianus’ Omnipotenshymnus besonders augenfällig imitiert, ist Ausonius, der die Oratio matutina in seiner Ephemeris ebenfalls mit der Anrede omnipotens beginnt.84 Entscheidend für das Thema dieser Untersuchung ist dabei, dass Ausonius mit dem Titel omnipotens nun den christlichen Gott anredet und preist. Er überträgt so den philosophischen Hymnus, wie er bei Tiberianus vorliegt, in einen christlichen (wenn auch nur oberflächlich christlichen) Kontext. Mit seiner christlichen Imitation des tiberianischen Omnipotensgebets kann Ausonius als ein Zwischenglied zwischen Tiberianus und Victorius gelten, zumal sich auch über die Anrede hinaus Ge-

|| 82 Vgl. quem … / nec numero quisquam poterit pensare nec aevo (Tiberianus 4,2sq.) mit quem nec … / mentibus humanis comprendere fas est (Aleth. prec. 2sq.), ferner nam sine fine tui … (Tiberianus 4,9) mit tu sine principio, pariter sine fine perennis (Aleth. prec. 8). 83 Ähnlich sind die am Anfang der preces stehenden Formeln da nosse volenti (Tiberianus 4,27) bzw. da nosse precanti (Aleth. prec. 103), ferner das Interesse am Kosmos und seiner Entstehung, das bei Victorius freilich nur eines von mehreren Themen ist: Vgl. quem [sc. mundum]… qua sit ratione creatus, / quo genitus factusve modo (Tiberianus 4,25sq.) mit quae sit origo poli vel quae primordia mundi (Aleth. prec. 107); vgl. Cutino 2009, 23f. 84 Vgl. Mattiacci 1990, 166 und Cutino 2009, 20f.; siehe dort auch zu weiteren Bezügen zwischen Ausonius und Tiberianus. Eine weitere Imitation findet sich bei Ausonius’ Enkel Paulinus von Pella.

Aspekte des Werkaufbaus | 31

danken wie die Unermesslichkeit und Ewigkeit der Gottheit bei allen drei Autoren finden.85 Ein weiterer Dichter, auf den Tiberianus Einfluss ausübte, ist Avien. Avien beginnt seine Aratea – eine freie Übersetzung von Arats Phainomena – ebenso wie Arat selbst mit einem Zeushymnus, dehnt diesen jedoch deutlich aus und übernimmt dabei in Darstellung und Formulierung einiges von Tiberianus.86 Er eröffnet so (wiederum, soweit wir wissen, als erster in der lateinischen Literatur) ein Lehrgedicht mit einem größeren explizit philosophischen Hymnus. Durch die Verbindung von tiberianischem Hymnenstil und programmatischwerkeröffnender Funktion ist Avien ein weiterer Vorläufer des Victorius.87 Er ist dabei besonders für unser Thema der Gattungsbezüge wichtig, weil er zeigt, dass ein langer philosophischer oder theologischer Hymnus in der Spätantike durchaus Element eines Lehrgedichts sein konnte. Die Bitten (V. 101–126): Programmatik und Selbstdarstellung Die Untersuchung der Anrufung und der Doxologie hat bis zu diesem Punkt gezeigt, dass Victorius an die Eingangshymnen von Lehrgedichten, und zwar speziell von Lukrez’ De rerum natura anknüpft, sich in der Ausgestaltung aber an jüngeren Tendenzen der philosophischen Hymnik orientiert, die nur sekundär (durch Avien) etwas mit der Lehrdichtung zu tun haben. Die Betrachtung soll nun nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit fortgeführt werden, da der weitere Teil der Doxologie, der einen weiten Bogen von Gottes Güte über die Entstehung des Bösen bis zur Erlösung durch Christus schlägt, vor allem in theologische Fragestellungen führen würde. Stattdessen springe ich zu den

|| 85 Vgl. zu den in Anm. 82 zitierten Stellen bei Ausonius Eph. 3,4sq. (cuius formamque modumque / nec mens conplecti poterit nec lingua profari) und Eph. 3,2 (principio extremoque carens). Auch in Hovinghs Similienapparat erscheint die Oratio matutina achtmal (vgl. den index scriptorum Christianorum am Ende der Ausgabe), doch sind die Parallelen recht schwach und wenig geeignet, um eine Abhängigkeit zu belegen. 86 Einzelne Parallelen zwischen Avien und Tiberianus nennen Mattiacci 1990, 165 und Cutino 2009, 25 Anm. 41, die sich beide auf F. W. Lenz, Art. „Tiberianus“, in: RE 6A.1, Stuttgart 1936, 766–777, hier 774 stützen. Ein offenkundiger Unterschied zwischen den beiden Autoren ist übrigens die Anredeform: Im Gegensatz zu Tiberianus wählt Avien (wie schon Arat selbst) den „Er“-Stil. 87 Vgl. Cutino 2009, 25f. Auch Aviens Aratea erscheinen häufiger (15x) in Hovinghs Similienapparat (vgl. den index scriptorum gentilium am Ende der Ausgabe), doch ist nur eine Parallele einigermaßen signifikant (vgl. oben Anm. 9). Dass Victorius Avien kannte, ist also möglich, aber nicht sicher.

32 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Bitten am Ende der precatio (prec. 101–126), wo wieder engere Bezüge zur Lehrgedichttradition zu beobachten sind, die freilich in mehrfacher Weise durchbrochen werden. Poetologische Grundlagen: Inspiration, Wahrheit und Lehrabsicht Im ersten Teil der preces (prec. 101–111) bittet der Sprecher, den man hier wohl mit dem realen Autor Victorius gleichsetzen darf, Gott im Namen Jesu Christi um Wissen für seine Lehre. Bevor er diese Bitte ausspricht, schiebt er jedoch eine gleichsam nachhängende relativische Prädikation ein, die wegen ihrer poetologischen Implikationen für unser Thema wichtig ist (prec. 101–103): … qui numine prono das sentire animis et verum pectora cogis ignaro quoque vate loqui … … der du mit freundlichem Willen Seelen Wahrnehmungsvermögen gibst und Herzen die Wahrheit zu sagen zwingst, auch wenn der Künder unwissend ist …

Victorius spielt hiermit offenkundig auf das poeta-vates-Konzept an, also die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter, die sowohl im Epos als auch, wenngleich mit einigen Ausnahmen, im Lehrgedicht präsent ist.88 In der griechisch-römischen Dichtung war die Vorstellung göttlicher Inspiration nun freilich schon seit dem Hellenismus weitgehend zum Ornament herabgesunken, das nicht notwendig etwas mit dem Selbstverständnis des Dichters zu tun haben musste. Victorius überträgt das Konzept nun auf einen christlichen Kontext, und es hat den Anschein, dass er es völlig ernst nimmt. Was genau er sich unter dem schillernden Begriff vates vorstellt, bleibt dabei etwas dunkel – vielleicht denkt er an geistgewirkte Prophetie –, doch bejaht er die Vorstellung göttlicher Inspiration. Nicht recht klar wird überdies, ob Victorius selbst sich als ignarus vates versteht oder den Begriff lediglich im Sinne eines argumentum a maiore anführt, worauf das hinzugefügte quoque hindeuten könnte (‚sogar unwissende Künder, umso mehr also mich, der ich nach Wissen strebe‘). Sicher ist || 88 Ich zitiere aus der Fülle der Belege im Epos die vielfach imitierte Einleitung des homerischen Schiffskatalogs, wo der Gedanke des unwissenden Künders in besonders prägnanter Form erscheint (Hom. Il. 2,484–487): ἔσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσαι – ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε, πάρεστέ τε, ἴστέ τε πάντα, / ἡμεῖς δὲ κλέος οἶον ἀκούομεν οὐδέ τι ἴδμεν – οἵ τινες ἡγεμόνες Δαναῶν καὶ κοίρανοι ἦσαν. Vgl. am Beginn der Lehrdichtung Hes. Erg. 661 (Μοῦσαι γάρ μ’ ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕμνον ἀείδειν, wobei auf die Dichterweihe aus Theog. 22– 35 angespielt ist).

Aspekte des Werkaufbaus | 33

jedenfalls, dass er Gott anschließend mit den Worten da nosse precanti (prec. 103) um Wissen für seine Lehre bittet, womit er seine eigene Inspirationsbedürftigkeit zum Ausdruck bringt und den Inspirationsbitten der paganen Dichtung recht nahe kommt (am nächsten übrigens der von Tiberianus’ Omnipotenshymnus).89 Genauere Betrachtung verdient in diesem Zusammenhang das Wort verum, das in einem Gedicht mit dem Titel Alethia von vornherein besonderes Gewicht hat. In der antiken Poetologie war die Vorstellung verbreitet, dass Dichtung aus ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ oder – modern gesprochen – Fiktion gemischt ist.90 Die Lehrdichter stellen sich gegen diese Art von Dichtung, indem sie sich von fiktionalen Stoffen mehr oder weniger konsequent abwenden (problematisch sind etwa eingelegte mythologische Erzählungen), und eine Reihe von Gattungsvertretern – unter den Griechen vor allem Hesiod und die Vorsokratiker, unter den Römern besonders Lukrez, aber auch z. B. Manilius und der Aetna-Dichter – beanspruchten explizit für sich, falschen Vorstellungen die Wahrheit entgegenzusetzen.91 Victorius liegt mit diesen Lehrdichtern insofern auf einer Linie, als auch für ihn das verum zentral ist (das Adjektiv wird kaum zufällig in demselben Satz noch zweimal wiederholt: ad verum virtutis iter, prec. 105; quave … redeat verum, prec. 110). Was vor dem Hintergrund der paganen Lehrdichter ins Auge fällt, ist, dass Victorius das verum bei der ersten Erwähnung nicht sich selbst und seiner Lehre, sondern Gott zuweist. Er tritt in dieser Hinsicht also bescheidener als seine didaktischen Vorgänger auf: Zunächst ist es Gott, der

|| 89 Vgl. oben Anm. 83. Mit da eingeleitete Bitten sind auch sonst in Gebeten geläufig, vgl. die bei Hovingh 1955 ad loc. zitierten Stellen (noch einmal Tiberianus, Boethius sowie Martianus Capella). 90 Bekanntlich lässt schon Hesiod seine Musen sagen, sie verstünden einerseits Lügen, andererseits aber auch die Wahrheit zu sagen (ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, / ἴδμεν δ’ εὖτ’ ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι, Theog. 27sq.), ein Gedanke, der in der späteren griechischen und lateinischen Literatur in verschiedener Abwandlung immer wieder aufgegriffen wird (teils auch mythen- und dichtungskritisch, ein schöner Reflex darauf z. B. in Lukian. Philops. 2). Vgl. für lateinische Stellen unten Anm. 136 (zu Aleth. 2,5, wo Victorius selbst eine Opposition zwischen Wahrheit und Dichtung konstruiert). 91 Vgl. Pöhlmann 1973, 854 Anm. 253 zum Wahrheitsanspruch bei Hesiod, Xenophanes, Parmenides und Empedokles. Bei den römischen Lehrdichtern steht oft mehr die Stofforiginalität im Vordergrund, doch halten einige Dichter den alten Anspruch aufrecht, vgl. z. B. Lucr. 1,51 ([animum] adhibe veram ad rationem; als Hauptfeind gilt die religio, vgl. Effe 1977, 66–70 und Lausberg 1990b, 196 mit Anm. 103), Manil. 3,37 (veras et percipe voces; der Anspruch geht einher mit Dichterkritik, vgl. Effe 1977, 112f. und Lausberg loc. cit.), Aetna 91sq. (omnis / in vero mihi cura; kritisiert wird besonders die fallacia vatum [V. 29], vgl. Effe 1977, 209f.).

34 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Wahres reden lässt (prec. 102sq.), und wenn auch Victorius wahrheitsgemäß lehren will (prec. 104sq.), so muss er sich an Gott wenden. Bevor die Bitte da nosse inhaltlich spezifiziert wird, folgt nun noch eine für die Selbstdarstellung des Dichters bedeutsame Zwischenbemerkung (prec. 104sq.): … dum teneros formare animos et corda paramus ad verum virtutis iter puerilibus annis …

105

… da ich mich nun92 bereite, zarte Gemüter und Herzen (105) in den Knabenjahren nach dem wahrhaften Weg der Tugend zu formen …

Der Beter stellt also explizit seine Lehrabsicht heraus und nennt zugleich – wenn auch in recht vager Form – einen Adressaten, beides konstitutive Merkmale des Lehrgedichts, die in systematischerer Form in Kap. 1.2.2 betrachtet werden sollen. Der Ernst und der paränetische Impetus stellen das Werk dabei in eine Reihe mit denjenigen Lehrgedichten, die Bernd Effe dem Sachtyp zugewiesen hat.93 Auch hier zeigt sich somit ein Berührungspunkt mit Lukrez, dem Hauptvertreter des Sachtyps in der lateinischen Literatur.94 Inhaltsvorschau zwischen Bibel, Epos und Lehrgedicht In den folgenden Versen (prec. 106–111) geht es um den Inhalt der Wissensbitte, wobei sich zeigt, dass der in den vorangehenden Versen hervorgekehrte Bezug zum Lehrgedicht tatsächlich keineswegs so eindeutig ist. Zunächst steht hier ein Relativsatz, von dem nicht klar ist, ob er sich auf den unmittelbar vorher genannten Weg der Tugend bezieht oder die nachfolgenden indirekten Fragen zusammenfasst (prec. 106): … inclita legiferi quod pandunt scrinia Moysis …

|| 92 Zum kausalen bzw. koeffektiven dum vgl. HSz 6143.4. 93 Effes Typologie geht vom Verhältnis des Dichters zu seinem Stoff aus. Beim Sachtyp ist der Dichter ganz der behandelten Sache verpflichtet und versucht, den Adresssaten für diese zu gewinnen, vgl. Effe 1977, 30f. 94 Vgl. Effe 1977, 66–79. Auf griechischer Seite sind vor allem die Vorsokratiker Xenophanes, Parmenides und Empedokles vergleichbar.

Aspekte des Werkaufbaus | 35

… den (oder: das, was) die ruhmvollen Schriften95 des Gesetzbringers Mose eröffnen …

Egal, wie man den Vers syntaktisch einbindet, der Sache nach bildet er eine Art Quellenangabe, wenn auch eine unpräzise, da Victorius ja nicht den ganzen Inhalt des Pentateuch umsetzt. Eine derartige Nennung der Vorlage ist weder im Lehrgedicht noch im Epos gängig, wenngleich man im Bereich der Lehrdichtung immerhin an Lukrez’ Berufung auf Epikur denken kann (zuerst, freilich ohne Namensnennung, im Proöm zu Buch 1, V. 62–79, vgl. auch die Epikurenkomien am Anfang der Bücher 3 und 5).96 Victorius weist sich so denkbar explizit als Bibeldichter aus, der nicht aus dem Eigenen, sondern auf der Grundlage des Bibeltextes dichtet. Wichtig für unser Thema ist hier außerdem, dass Victorius nach einigen lehrgedichtartigen Vorbemerkungen einen durchaus lehrgedichtuntypischen Inhalt ankündigt: Die vorangehenden Verse könnten vermuten lassen, dass Victorius eine systematische Darstellung des Glaubens zu geben beabsichtige, wie sie für das Lehrgedicht charakteristisch ist. In prec. 106 deutet Victorius nun jedoch an – wenn auch poetisch umschrieben und nur für Bibelkundige verständlich –, dass er einer narrativen Vorlage folgt, die ihm aber zugleich als Grundlage der Lehre dient. Es zeichnet sich also eine Integration epischer und didaktischer Techniken im Rahmen einer Paraphrase ab. Die konkreten Inhalte seiner Lehre gibt Victorius nun durch eine Reihe indirekter Fragesätze an (prec. 107–111). Auch hier sind die Bezüge zum Epos und Lehrgedicht komplex. Martorelli weist darauf hin, dass die Inhaltsankündigung durch indirekte Fragen eine Parallele im Proöm der Georgica hat.97 In der Tat ist die interrogative Vorschautechnik auch vor und nach Vergil in der Lehrdichtung gebräuchlich, und so könnte der Eindruck entstehen, Victorius bewege

|| 95 Scrinium bezeichnet zunächst die Kapsel, in der Schriftrollen aufbewahrt wurden, kann aber auch die Rolle bzw. die Schrift selbst bezeichnen, vgl. Hovingh ad loc., der u. a. auf Hor. Sat. 1,1,120 verweist. 96 Weniger vergleichbar, weil übers Werk verstreut, sind die Nennungen Arats in Aviens Aratea. Darüber hinaus gingen seit dem Hellenismus gerade unter den technischeren Lehrgedichten viele von einem Prosatraktat aus, den sie poetisierten, doch wurde die Vorlage in aller Regel verschwiegen (vgl. Effe 1977, 25f.). Eine Quellenangabe in der Erzähldichtung findet sich bei Kallimachos, der sich am Ende der Geschichte von Akontios und Kydippe auf den Logographen Xenomedes beruft (fr. 75,54 Pfeiffer). 97 Vgl. Martorelli 2008, 22 mit Anm. 12 und 202 mit Anm. 83. Die indirekten Fragen in Georg. 1,1–5 bilden den Inhalt der folgenden vier Bücher ab: quid faciat laetas segetes, quo sidere terram / vertere, Maecenas, ulmisque adiungere vitis / conveniat, quae cura boum, qui cultus habendo / sit pecori, apibus quanta experientia parcis, / hinc canere incipiam.

36 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

sich hier wieder ganz in den Formen des Lehrgedichts.98 Tatsächlich ist die Lage jedoch komplexer, denn auch in epischen Proömien begegnen indirekte Fragen, in denen der Inhalt des beginnenden Werkes angedeutet wird.99 Noch zweifelhafter wird der Bezug zum Lehrgedicht, wenn man das Verhältnis des Sprechers zu den indirekten Fragen betrachtet. Der Sprecher des Lehrgedichts weiß typischerweise bereits die Antwort auf die Fragen und gibt selbstbewusst an, über sie zu lehren, wohingegen der epische Erzähler in der Regel die Muse oder andere göttliche Mächte bittet, ihm die Fragen zu beantworten.100 Hier scheint Victorius der Sprecherhaltung des Epos näherzustehen, weil er Gott erst um das Wissen bittet, das freilich, anders als in Epos und Lehrgedicht, schon an anderer Stelle entfaltet worden ist (prec. 106) und ihm letztlich, wie im Lehrgedicht, zur Lehre dienen soll (prec. 104). Der interrogative Stil offenbart also bereits ein komplexes Verhältnis zur epischen und zur didaktischen Tradition. Wie aber steht es um den Inhalt der Verse, oder konkret gefragt: Präsentiert Victorius sein Werk als eine Darstellung von Sachinhalten (entsprechend dem Lehrgedicht) oder als eine Erzählung von Ereignissen (entsprechend dem Epos)? Im ersten Interrogativsatz geht es um die Kosmogonie, die Victorius im ersten Teil von Buch 1 behandeln wird (prec. 107):

|| 98 Indirekte Fragen zur Ankündigung oder Zusammenfassung von Lehrinhalten lassen sich schon bei Lukrez finden, siehe Lucr. 3,31–34; 4,26–28; 5,56–75; vergleichbar sind auch die indirekten Fragen zur Einführung der Lehrrede des Pythagoras in Ov. Met. 15,68–72. Speziell am Werkbeginn begegnen sie nach Vergil verstärkt wieder ab der Spätantike, so bei Avien (qua protenta iacent vastae divortia terrae / et qua praecipiti volvuntur prona meatu / flumina per terras, qua priscis inclita muris / oppida nituntur, genus hoc procul omne animantum / qua colit, Aoniis perget stilus impiger orsis, Avien. Orb. terr. 1–5, mit unklassischem Indikativ) und in Palladius’ elegischem Lehrgedicht De insitione (quae quibus hospitium praestent virgulta docebo, / quae sit adoptivis arbor onusta comis, V. 19sq.). Vgl. auch den (nachfolgend nicht abgearbeiteten, aber offenbar das Lehrgedicht imitierenden) Fragenkatalog am Anfang von Claudians Magnes (Carm. min. 29,1–7, auch teilweise im Ind.). Die interrogative Einleitungstechnik durchzieht die lateinische Lehrdichtung dann bis in die Renaissance und Frühe Neuzeit, vgl. Haye 1997, 174f. 99 Vgl. schon Verg. Aen. 1,8–11: Musa, mihi causas memora, quo numine laeso / quidve dolens regina deum tot volvere casus / insignem pietate virum, tot adire labores / impulerit. Ähnlich Claud. Rapt. Pros. 1,25–31: vos [gemeint sind die Unterweltsgötter] mihi sacrarum penetralia pandite rerum / et vestri secreta poli: qua lampade Ditem / flexit Amor; quo … / … quantasque … / … / unde … 100 Vgl. die die indirekten Fragen regierenden Ausdrücke im Lehrgedicht (docui, Lucr. 3,31; 4,26; doceo, Lucr. 5,56; canere incipiam, Verg. Georg. 1,5; docebo, Pallad. De insitione 19) mit denen im Epos (causas memora, Verg. Aen. 1,8; sacrarum penetralia pandite rerum …, Claud. Rapt. Pros. 1,25; vgl. die beiden vorangehenden Anmerkungen).

Aspekte des Werkaufbaus | 37

… quae sit origo poli vel quae primordia mundi … … was der Ursprung des Himmels ist und was der Anfang der Erde …

Bei den hier angekündigten Inhalten handelt es sich zwar um Ereignisse, aber nicht um personen-, sondern um sachbezogene Ereignisse, wie sie üblicherweise im Lehrgedicht behandelt werden.101 Zudem ist die Kosmogonie ein typisches Thema des Lehrgedichts.102 Soweit hält Victorius also den Eindruck eines Lehrgedichts aufrecht. Schwieriger sind die nächsten beiden indirekten Fragen (prec. 108–111): … arcanamque fidem qui toto excusserit aucta pestis et in mores penitus descenderit error quave iterum redeat verum ritusque profanos pellat et aeternae reseret sacra mystica vitae.

110

… wie die Seuche heranwuchs und so aus dem Kosmos den verborgenen Glauben vertrieb, wie der Fehltritt in die Sitten tief eindrang, (110) und wie die Wahrheit wieder zurückkehrt und ruchlose Bräuche austreibt und den mystischen Kult des ewigen Lebens eröffnet.

Diese Verse spielen allem Anschein nach auf Ereignisse mit menschlicher Beteiligung an und durchbrechen insofern den bisher erzeugten Eindruck eines (christlichen) Lehrgedichts. Gleichwohl weisen auch diese Verse in keine rein epische Richtung, werden doch nirgends konkrete Personen, Handlungen oder Gegenstände genannt, wie man es in einem Epos erwarten würde. Mehr noch: Die beiden Fragesätze lassen sich nicht einmal eindeutig bestimmten Episoden der Genesis bzw. der Alethia zuordnen, sondern beschreiben mit der Ausbreitung der Sünde und Rückkehr der Wahrheit ein Grundmuster oder Leitmotiv, das die gesamte Alethia durchzieht.103 || 101 Vgl. zur Unterscheidung Kirsch 1989, 20 (über das Lehrgedicht): „Freilich kann (etwa bei der Darstellung der Entstehung der Welt aus dem Chaos) die Exposition die Form der Narration annehmen, doch bestimmt hier nicht die Personal- sondern die Objektreferenz die Struktur.“ 102 Vgl. unten Kap. 2.2.1. Auch der Versschluss primordia mundi stammt im weitesten Sinne aus lehrdichterischem Kontext, nämlich aus der Einleitung des Lehrvortrags des Pythagoras in Ov. Met. 15,67. 103 Beim error lässt sich an den Sündenfall, aber auch an Kains Brudermord, die Sündhaftigkeit von Noahs Zeitgenossen, den Turmbau zu Babel usw. denken (vgl. auch die Aufzählung möglicher Bezugspunkte bei Martorelli 2008, 23). Schwieriger ist die Deutung der letzten beiden Verse: Die Rückkehr der Wahrheit wurde mehrfach mit Abraham in Verbindung gebracht (so Falcidia Riggio 1912, 8f., zustimmend zitiert von Hovingh 1955, 94; auch Martorelli 2008, 24 nennt Abraham, deutet ihn aber zugleich als Christus-Typus). Homey 1955, 10–12 mit Anm. 16 denkt dagegen an die Sintflut und die Zerstörung Sodoms, die die jeweils vorher eingetretene

38 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

An den Versen wird so Victorius’ Stellung zwischen Epos und Lehrgedicht deutlich: Seine Textgrundlage ist zwar narrativ wie im Epos, doch geht es ihm nicht nur oder vielleicht nicht einmal vordringlich um das Erzählen, sondern vielmehr darum, grundlegende anthropologisch-moralische und theologischheilsgeschichtliche Zusammenhänge aufzuzeigen, was eher dem Lehrgedicht entspricht.104 Die Form indirekter Fragen ist insofern geschickt gewählt, da sie der epischen und der didaktischen Tradition gemeinsam ist (wobei sie etwas stärker im Lehrgedicht beheimatet ist, was ebenfalls gut zu Victorius’ insgesamt dominierendem didaktischem Interesse passt). Lehrdichterische Proömialtopik und christliche Bitten Die folgenden Verse, in denen Victorius weitere Bitten ausspricht, bieten eine Mischung aus traditioneller Proömialtopik und christlichem Gedankengut. Die Bitten um Verstand und Zeit, Eifer und Sorgfalt sowie um gutes Gelingen, also um die nötigen äußeren und inneren Voraussetzungen (prec. 112–114), könnten so auch in einem paganen Proöm stehen.105 Was sich anschließt, gehört dagegen ganz ins christliche Denken. Der Beter wünscht – jedenfalls nach der mir am plausibelsten scheinenden Übersetzung –, Gott möge ihn nicht verdammen, weil er so voller Schuld ein so großes Werk wage (ne damnes, tantum quod tam reus audeo munus, prec. 116).106 Einen solchen Wunsch kann der Dichter nur an den christlichen Gott richten, der nicht nur seine Inspirationsquelle und

|| Gottlosigkeit beseitigen. Letztlich greifen alle diese Deutungen wohl zu kurz; nicht zuletzt die präsentischen Konjunktive (redeat, pellat, reseret, letzterer von Martorelli 2008, 24 fälschlich als Konj. Impf. gedeutet) sprechen dafür, dass Victorius zumindest auch an etwas Allgemeingültiges oder noch Ausstehendes denkt (vgl. auch die folgende Anmerkung). – Nur am Rande erwähnt sei noch die Interpretation Schenkls (1988, 349), der aus prec. 106–111 schlussfolgert, Victorius habe die gesamte Genesis verarbeiten wollen, sei über dieser Arbeit jedoch gestorben. Warum sich die Verse genau auf das vollständige Buch Genesis beziehen sollen und nicht z. B. auf die Gesamtheit der fünf Bücher Mose (vgl. scrinia Moysis), erklärt Schenkl nicht. 104 Martorelli 2008, 24 unterscheidet daher treffend „tre piani di lettura“: das historische Ereignis, die typologische (d. h. auf Christus verweisende) Bedeutung und den überzeitlichanthropologischen Gehalt. 105 Eine genaue Parallele für diese Zusammenstellung äußerer und innerer Bedingungen scheint es nicht zu geben, vgl. aber z. B. die Bitte um friedliche Umstände als Voraussetzung für die Arbeit am Werk in Lucr. 1,29–43. 106 Nach anderer Konstruktion bittet Victorius, Gott möge das Werk nicht verdammen, das er wage (vgl. Kartschoke 1975, 69, der beide Varianten diskutiert). Demnach wäre Gott hier nicht Richter über die Seele, sondern über das Werk, was weniger gut zur Bitte um Sündenvergebung in V. 127sq. passt.

Aspekte des Werkaufbaus | 39

Schutzmacht, sondern auch sein Richter im Jüngsten Gericht ist. Hier spricht nicht mehr der Lehrer, sondern – in paganem Kontext undenkbar, in christlichem fast topisch – der einfache Gläubige Claudius Marius Victorius, der sein Handeln vor Gott verantworten muss und auf seine Vergebung angewiesen ist, um die er im folgenden Vers bittet (criminibus cunctis, quae feci, ignosce benignus, prec. 117). Nach diesen durch und durch christlichen Bitten wird wieder ein Thema angesprochen, das tief in der paganen Lehrgedichttradition verwurzelt ist, nämlich die Schwierigkeiten einer dichterischen Umsetzung des Stoffes (prec. 119– 121). Die Übersetzung des ersten Teiles ist erneut umstritten: Victorius räumt hier entweder ein, dass die Anordnung (sc. der Wörter) aufgrund des Verszwanges fehlerhaft sein könnte oder dass die Abfolge (sc. der langen und kurzen Silben) gegen die Gesetze der Metrik verstoßen könnte (quod si lege metri quicquam peccaverit ordo, prec. 119).107 Als weitere mögliche Fehler seines Werkes benennt er ungeeigneten sprachlichen Ausdruck und unklaren Sinn ([quod si] peccarit sermo improprius sensusque vacillans, prec. 120) und bittet um die Erlaubnis, „in sorglosem Vers hierhin und dorthin eilen“ zu dürfen (incauto passim liceat decurrere versu, prec. 121). Bei allen Unklarheiten der Übersetzung: Einigermaßen sicher ist, dass es hier zumindest unter anderem um die Spannung zwischen Stoff und Form geht – und damit um eine Problematik, die nirgendwo so sehr wie in der Lehrdichtung beheimatet ist. Explizit behandelt wird das Thema vor allen von römischen Lehrdichtern, zuerst von Lukrez. Dieser betont im Proöm zum ersten Buch die – freilich etwas spezielle – Schwierigkeit, eine ursprünglich griechische Lehre in lateinischen Versen darzustellen (nec me animi fallit Graiorum obscura reperta / difficile inlustrare Latinis versibus esse, Lucr. 1,136sq.); im Proöm zum vierten Buch erhebt er dann den Anspruch, „über eine dunkle Sache so lichte Lieder“ zu dichten, womit er ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen res und carmen impliziert (obscura de re tam lucida pango / carmina, musaeo contingens cuncta lepore, Lucr. 4,8sq. = 1,933sq.).108 Noch deutlicher ist die schon von Martorelli (2008, 22) beobachtete Parallele zu Manilius, der schon im Proöm || 107 Vgl. erneut Kartschoke 1975, 69, der ältere Übersetzungen diskutiert. Mir scheint (wie Kartschoke) die erste Deutung näherliegend, doch auch die zweite Übersetzung ist sprachlich und inhaltlich möglich (vgl. zu ordo als Abfolge der Silben ThLL s. v. ordo p. 955,27–33). 108 Nach Deufert 1996, 81–96 waren die Verse ursprünglich für das erste Buch konzipiert, doch dürfte Victorius sie vor allem als Proöm zum vierten Buch gekannt haben. Vgl. auch Verg. Georg. 3,289sq., wo sich der Dichter stolz auf die dichterische Bezwingung seines Stoffes zeigt (nec sum animi dubius, verbis ea vincere magnum / quam sit et angustis hunc addere rebus honorem).

40 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

zum ersten Buch den Konflikt zwischen carmen und res behandelt, bei ihm anschaulich in das Bild zweier Altäre gefasst, an denen er opfere (bina mihi positis lucent altaria flammis / ad duo templa precor duplici circumdatus aestu / carminis et rerum, Manil. 1,20–22). Manilius spricht an dieser Stelle auch die metrische Form an (certa cum lege canentem, Manil. 1,22, vgl. lege metri) und stellt heraus, dass sich der Kosmos, den er beschreibt, kaum in Prosa erfassen lasse, womit möglicherweise impliziert ist, dass die poetische Umsetzung noch weitaus schwieriger ist (vixque [sc. mundus] soluta suis immittit verba figuris, Manil. 1,24).109 Dass sein Stoff sich einer dichterischen Behandlung besonders sperre, behauptet Victorius zwar nicht, doch auch er sieht offenbar einen Konflikt zwischen den Anforderungen der poetischen Form (prec. 119), die ihm metrische Gesetze auferlegt, und dem theologischen Inhalt, der einen klaren und korrekten ordo, sermo und sensus verlangt (prec. 119sq.); zu alledem kommt so etwas wie der dichterische Schwung, dem er gerne folgen möchte, ohne stets um korrekte Form und inhaltliche Klarheit besorgt zu sein (prec. 121). Die Schwierigkeiten, die Victorius hier nennt, sind sicherlich für einen um die reine Lehre bemühten Christen besonders virulent,110 doch geht es zumindest in den Versen 119–121 im Kern um die gleichen Konflikte, denen sich schon Victorius’ pagane Vorläufer wie Lukrez und Manilius stellen mussten. Genuin christlich ist dagegen wieder die Weiterführung des Gedankens: Falls diese Fehler vorliegen, so bittet Victorius, möge doch die „Bemessung des Glaubens“ dadurch nicht in Gefahr geraten (… ne fidei hinc ullum subeat

|| 109 Die Stelle wirft einige Schwierigkeiten auf. Abgesehen von der hier unerheblichen Frage, ob mit figurae Wortfiguren oder Himmelskonstellationen gemeint sind, ist umstritten, ob 1,24 als argumentum a minore dienen soll („schon in Prosa ist eine Darstellung schwierig, umso mehr in Poesie“, so die Mehrheit der Interpreten), oder ob vielmehr gemeint ist, dass der erhabene Kosmos nicht in Prosa, sondern nur in Poesie zu erfassen ist (so F. F. Lühr, Ratio und Fatum: Dichtung und Lehre bei Manilius, Diss. Frankfurt 1969, 24, übernommen von Effe 1977, 114 mit Anm. 22). Vgl. zur Stelle Volk 2002, 140f. mit Anm. 90, die sich der Mehrheitsmeinung anschließt. Der Gedanke, dass die Darstellung im Vers besondere Schwierigkeiten mit sich bringt, begegnet auch an einer späteren, weniger prominenten, dafür aber interpretatorisch sichereren Stelle (Manil. 3,31–42, siehe bes. V. 34sq.: quae [sc. die astronomischen Lehrinhalte] nosse nimis, quid, dicere quantum est? / carmine quid proprio? pedibus quid iungere certis?). 110 In der Tat äußert sich auch Victorius’ Zeitgenosse Sedulius zu dem Problem, wenn auch nicht aus speziell christlicher Perspektive. Hintergrund ist bei ihm die Neufassung des Carmen paschale in Prosa (= Opus paschale), anlässlich deren er im Widmungsbrief an Macedonius einräumt, im Carmen teilweise unter metrischen Zwängen formuliert zu haben (p. 172 Huemer): siquidem multa pro metricae necessitatis angustia priori commentario nequaquam videntur inserta …; vgl. Kartschoke 1975, 70.

Aspekte des Werkaufbaus | 41

mensura periclum, prec. 122). Hier spricht Victorius wieder als einfacher Christ, dessen oberstes Ziel – wenn man seinen Worten glauben darf – nicht der Erfolg seines Werkes (den er sich freilich auch wünscht, vgl. prec. 114), sondern sein Seelenheil ist. Wichtiger als das Urteil der Menschen, die ihm Fehler in ordo, sermo und sensus attestieren könnten, ist demnach das Urteil Gottes über seine fides. Ob Victorius tatsächlich so frei von literarischem Geltungsbedürfnis war, wie er sich hier präsentiert, sei dahingestellt. Jedenfalls zeigt er in seiner precatio kein besonderes Interesse an der Reaktion der literarischen Öffentlichkeit, wie es im paganen (aber sicherlich nicht nur im paganen) Literaturbetrieb üblich war.111 Nur kurz sei noch auf die letzten vier Verse der precatio eingegangen (prec. 123–126). Diese bilden eine Schlussdoxologie, die bis in einzelne Formulierungen hinein den typischen trinitarischen Gebetsschlüssen gleicht, die seit der Zeit der Alten Kirche begegnen.112 Victorius bekennt sich so am Schluss der precatio noch einmal auf deutlichste zur christlichen Gebets- und Hymnentradition und damit wohl auch zur Kirche, durch die diese Traditionen seinen Zeitgenossen geläufig gewesen sein dürften. Zusammenfassung Die Analyse der precatio hat gezeigt, dass Victorius neben anderen Einflüssen (besonders aus der Hymnik) vor allem die wesentlichen Elemente von Lehrgedichtproömien aufgreift. Am Anfang der precatio lässt sich dabei konkret Lukrez als Modell ausmachen, von dem sich Victorius durch Kontrastimitation freilich zugleich abgrenzt. Auch die Bitten am Ende der precatio zeigen, wie gebrochen das Verhältnis zum Lehrgedicht ist: Zwar finden sich hier etliche Themen der lehrdichterischen Proömialtopik, doch werden diese oft christlich gewendet. Hinzu kommt die Selbstdarstellung als Bibeldichter, die sich teilweise mit der lehrdichterischen Proömialtopik verbindet, teilweise über sie hinaus-

|| 111 Ich setze hier voraus, dass Victorius in V. 122 Gott als der „Bemesser“ des Glaubens vorschwebt. Denkbar wäre auch, dass Victorius das Urteil der Menschen über seinen Glauben meint; in diesem Fall würde Victorius natürlich durchaus ein Interesse an der öffentlichen Meinung zeigen, doch legt die Gebetssituation eine Bemessung durch Gott nahe. 112 So etwa Aug. Serm. 34,9: per Iesum Christum Filium suum, Dominum nostrum, qui cum eo vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti Deus, per omnia saecula saeculorum. amen. Die Formulierung begegnet mit leichten Variationen noch mehrfach bei Augustinus und wurde in ähnlicher Form in der Liturgie der römisch-katholischen Kirche bewahrt; vgl. Hovingh 1955 ad prec. 123–126 mit weiteren Stellen.

42 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

geht. Die precatio stimmt den Rezipienten so auf eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Lehrgedicht und speziell mit Lukrez ein.

Vertiefung: Leerstellen in der precatio? Die zahlreichen Bezüge zur Lehrdichtung, die im letzten Teilkapitel herausgearbeitet wurden, machen wahrscheinlich, dass Victorius seine Alethia bewusst gegen die Kontrastfolie der Lehrdichtung schreibt. Angesichts dieser Deutung bleibt zu fragen, welche Elemente lateinischer Lehrgedichtproömien Victorius nicht übernimmt und was diese ‚Leerstellen‘ über ihn und sein Werk aussagen. Leerstellen gegenüber der lehrdichterischen Proömialtopik Zunächst seien zwei offensichtliche Aspekte genannt, die kurz abgehandelt werden können: Ein Element, das in Epos und Lehrgedicht traditionell ist, bei Victorius dagegen vollständig fehlt, ist der Musenanruf, an dessen Stelle die Anrufung Gottes tritt. Ebenso fehlen panegyrische Elemente, die seit Vergil ins Lehrgedicht (und teilweise auch ins Epos) eingedrungen waren. Beide Aspekte lassen sich leicht durch Victorius’ christlichen Glauben erklären: Für ihn ist Gott die wahre Inspirationsquelle und zugleich der einzig Lobwürdige.113 Erklärungsbedürftiger als diese offensichtlichen Abgrenzungen vom heidnischen Kult ist die weitgehende Aussparung eines anderen Themenkomplexes. Es ist bereits angeklungen, dass seit Lukrez eine Diskussion über die Gattung und über die Legitimation des eigenen Werkes zu den typischen Merkmalen eines Lehrgedichts zählt, und immerhin das hiermit zusammenhängende Problem von res und carmen schneidet, wie wir gesehen haben, ja auch Victorius an.114 Hiermit ist aber nur ein geringer Teil der lehrgedichttypischen poetologischen Themen abgedeckt. Ein wichtiger Topos, mit dem die Dichter ihr Werk zu || 113 Interessant ist ein Vergleich mit bestimmten Vertretern des kaiserzeitlichen Lehrgedichts, wo der Princeps mitunter eine multiple Rolle einnimmt, so etwa bei Germanicus, wo der Princeps „die Rollen des für den Gegenstand zuständigen Gottes, der Musen und die des Schülers und Gönners“ auf sich vereint (Pöhlmann 1973, 864): In der Alethia ist es Gott, der die Rollen des zuständigen Gottes, der Musen und des Gönners (freilich nicht die des Schülers) auf sich vereint. 114 Das Thema wird in den bekannten Lehrgedichten nicht immer im Proöm zum ersten Buch behandelt, sondern kann auch am Beginn folgender Bücher oder in Binnenproömien angesprochen werden. Ich vergleiche die Aussagen bei Victorius und seinen didaktischen Vorgängern trotzdem bereits hier, weil die für die Alethia entscheidenden Verse in der precatio stehen.

Aspekte des Werkaufbaus | 43

legitimieren suchen, ist der Originalitätsanspruch, den schon Lukrez mit seinem berühmten Bild von den avia Pieridum loca erhebt und den die nachfolgenden Lehrdichter – sachlich nicht immer gerechtfertigt – reproduzieren.115 Gelegentlich wird auch die metrische Form genauer erläutert und begründet, in der bekanntesten Gestalt wiederum bei Lukrez, der für seine Philosophie im dichterischen Gewand das Gleichnis eines mit Honig bestrichenen Arzneibechers verwendet und der poetischen Präsentationsform somit gleichsam eine versüßende Funktion zuweist.116 Vor diesem Hintergrund betrachtet, lassen Victorius’ poetologische Reflexionen in der precatio doch einige Fragen offen. Zur Legitimation seines Werkes erfahren wir nur, dass er sich anschicke, die Jugend „nach dem wahren Weg der Tugend“ zu formen (prec. 104sq.). Dass seine Lehre Neuigkeitswert besitzt oder sich von den üblichen Bildungsinhalten der Jugend unterscheidet (zumindest Letzteres ist ja eindeutig der Fall: In der Schule wurden die paganen Klassiker gelesen) –, davon redet Victorius hier mit keiner Silbe. Überhaupt nimmt Victorius in der precatio nirgends explizit Bezug auf Vorgänger, von denen er sich abgrenzen könnte, verzichtet also z. B. auf Polemik gegen pagane Dichter oder gegen andersdenkende Theologen.117 Ebenso wenig erklärt er, warum seine Lehre in dichterischer Form dargeboten werden soll, ja er liefert in V. 119sq. sogar ein Argument gegen die von ihm gewählte Praxis. Leerstellen gegenüber der bibeldichterischen Proömialtopik Dass Victorius die genannten Topoi des Lehrgedichts nicht aufgreift, müsste für sich genommen nicht allzu sehr verwundern, da Victorius sich ohnehin nur || 115 Siehe Lucr. 4,1–5 = 1,926–930 (vgl. oben Anm. 108): avia Pieridum peragro loca nullius ante / trita solo. iuvat integros accedere fontis / atque haurire, iuvatque novos decerpere flores / insignemque meo capiti petere inde coronam, / unde prius nulli velarint tempora Musae. Vgl. auch die ähnlichen Aussagen in Verg. Georg. 3,10–15 (primus ego in patriam mecum, modo vita supersit, / Aonio rediens deducam vertice Musas; primus …), Manil. 1,4sq. (… aggredior primusque novis Helicona movere / cantibus …) sowie Nemes. Cyn. 1,5–9 (Castaliusque mihi nova pocula fontis alumnus / ingerit … / … / … ducitque per avia, qua sola numquam / trita rotis). 116 Lucr. 4,11–25 = 1,936–950: veluti pueris absinthia taetra medentes / cum dare conantur, prius oras pocula circum / contingunt mellis dulci flavoque liquore, / … / sic ego nunc, quoniam haec ratio plerumque videtur / tristior esse quibus non est tractata, retroque / volgus abhorret ab hac, volui tibi suaviloquenti / carmine Pierio rationem exponere nostram / et quasi musaeo dulci contingere melle … 117 Im weiteren Verlauf des Werkes setzt sich Victorius dagegen sehr deutlich mit anderen theologischen Meinungen auseinander, vgl. etwa die Polemik gegen die sacrilegi … lingua furoris in 1,22.

44 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

partiell an die didaktische Tradition anlehnt (überdies enthalten natürlich auch die vollgültigen Lehrgedichte selten alle typischen Elemente zugleich). Hinzu kommt nun jedoch noch die Tradition der christlichen Bibeldichtung, die zur Entstehungszeit der Alethia schon etwa ein Jahrhundert alt ist und eine eigene Exordialtopik entwickelt hat, die gewisse Parallelen mit der Lehrdichtung aufweist.118 Auch die Bibeldichtung sieht sich offenbar einem starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der sich, ähnlich wie beim Lehrgedicht, in poetologischen Reflexionen im Prolog oder in begleitenden Prosaepisteln widerspiegelt. Hierbei wird es schon früh üblich, die heidnische Poesie als lügnerisch abzulehnen und ihr die reine und wahre christliche Dichtung gegenüberzustellen – eine Strategie, die stark an die polemischen Stoff- und Dichterkataloge der Lehrdichtung erinnert, zumal in beiden Fällen meist das mythologische Epos im Zentrum der Kritik steht.119 Auch die schon Lukrez beschäftigende Frage, wozu ursprünglich nicht-dichterische Inhalte überhaupt in Versen dargestellt werden sollten, wird von einigen – freilich nicht allen – Bibeldichtern behandelt, wobei, ähnlich wie bei Lukrez, in der Regel auf die Leserschaft verwiesen wird, die durch die poetische Form erfreut und so motiviert werde.120 Auch vor diesem Hintergrund ist es also auffällig, dass Victorius weder auf sein Verhältnis zur älteren Dichtung noch auf die Funktion der poetischen Form eingeht, zumal die || 118 Eine vergleichende Untersuchung der Widmungsbriefe und Prologe spätantiker Bibeldichtungen bietet Kartschoke 1975, 55–78; vgl. auch die differenziertere Analyse bei Gärtner 2004. 119 Schon Juvencus bezieht sich auf Homer und Vergil (praef. 9sq.) und stellt den Gegensatz zwischen den mendacia der heidnischen Dichtung und seiner eigenen certa fides heraus (praef. 16sq.). Auch Proba beansprucht Vergil in ihrem Cento ins Bessere verwandelt zu haben (mutatum in melius, praef. 4) und zählt Themen heidnischer Dichtung auf, denen sie ihren eigenen Stoff entgegensetzt (V. 13–23). Der Topos zieht sich fortan durch die Bibeldichtung, vgl. z. B. Sedul. Carm. pasch. 1,17–26 (zu den übrigen lateinischen Bibeldichtern sei verwiesen auf Kartschoke 1975, 63–78). 120 Unter den vor oder neben Victorius tätigen Bibeldichtern geht Sedulius am ausführlichsten auf die Problematik ein. In seinem Widmungsbrief an Macedonius (p. 5 Huemer) argumentiert er über die Lesegewohnheiten der dichtungsgeprägten Rezipienten: Diese würden von Texten, die „durch den Reiz der Verse honigsüß“ seien (vgl. Lukrez), angelockt und könnten sich diese auch besser merken (multi sunt quos studiorum saecularium disciplina per poeticas magis delicias et carminum voluptates oblectat. … quod … versuum viderint blandimento mellitum, tanta cordis aviditate suscipiunt, ut in alta memoria saepius haec iterando constituant et reponant. horum itaque mores non repudiandos aestimo sed pro insita consuetudine vel natura tractandos; vgl. zur Stelle Gärtner 2003, 439f. und Döpp 2009, 20 mit älterer Literatur). Ähnliches findet sich bei Paul. Nol. Carm. 6,18sq.: nos tantum modulis evolvere dicta canoris / vovimus et versu mentes laxare legentum. Auch in der griechisch-christlichen Dichtung finden sich Reflexionen über die Berechtigung der Poesie, so bei Gregor von Nazianz (vgl. besonders Carm. 2,1,39 mit dem Titel Εἰς τὰ ἔμμετρα).

Aspekte des Werkaufbaus | 45

topische Kontrastierung heidnischer und christlicher Dichtung bei fast keinem der Bibeldichter fehlt, die überhaupt auf poetologische Fragen eingehen.121 Erklärungsversuche Man kann Victorius’ Schweigen zu diesen Themen verschieden deuten. Zunächst ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ein begleitender Widmungsbrief verlorengegangen ist, in dem Victorius sein dichterisches Selbstverständnis weiter ausgeführt hat;122 in diesem Fall sind jedwede argumenta e silentio natürlich hinfällig. Möglicherweise deuten die poetologischen Leerstellen jedoch auch auf einen tatsächlichen Unterschied nicht nur gegenüber dem Lehrgedicht, sondern auch gegenüber der sonstigen Bibeldichtung. Für die meisten Lehr- und Bibeldichter ist das mythologische Epos eine wesentliche Kontrastfolie, wie sich besonders deutlich daran zeigt, dass beide Gattungen sich oft programmatisch von epischen Stoffen und Dichtern abgrenzen. Victorius orientiert sich dagegen stärker an der Lehrdichtung, dies allerdings nicht, indem er sie grundsätzlich ablehnt, sondern indem er ihre Formen und Gegenstände in differenzierter Weise teils übernimmt, teils christlich modifiziert. Ein Rekurs auf die ‚lügnerische‘ episch-mythologische Dichtung der Heiden lag angesichts dieser Werkausrichtung nicht unbedingt nahe, und auch eine denkbare Polemik gegen die pagane Lehrdichtung hätte nicht unbedingt zu Victorius’ Haltung gepasst. Victorius’ Verhältnis zu den traditionellen Hexametergattungen ist also komplexer als das mancher anderer Bibeldichter, und vielleicht ist dies auch ein Grund, warum er sich nicht in expliziter und programmatischer Weise über die heidnischen Dichter äußert, sondern sich vielmehr implizit durch intertextuelle Bezüge differenziert zu ihnen ins Verhältnis setzt. Dass Victorius in der precatio keine Begründung für die von ihm gewählte poetische Form gibt, verlangt eine eigene Erklärung (immer vorausgesetzt, dass er hierüber nicht in einer Begleitepistel Aufschluss gab). Denkbar wäre, dass er sich in solcher Kontinuität zur hexametrischen Lehrdichtung sieht, dass ihm für sein Anliegen, die Jugend christlich zu instruieren, die metrische Form geradezu als das obligatorische Mittel erscheint, das selbst dann beizubehalten ist,

|| 121 Dies ist nämlich nicht bei allen Bibeldichtern der Fall: So beginnt etwa der Heptateuchdichter ohne ein Proöm direkt mit der Paraphrase des Bibeltextes. 122 Dass ein solcher Widmungsbrief existierte, hat man schon aufgrund von Gennadius’ Angabe über den (im erhaltenen Werk nicht genannten) Adressaten Aetherius vermutet, vgl. unten Anm. 238.

46 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

wenn daraus Schwierigkeiten erwachsen (vgl. prec. 119sq.). Victorius wäre dann in dieser Hinsicht mit Juvencus zu vergleichen, der sich in seiner praefatio bedenkenlos in eine Reihe mit Dichtern wie Homer und Vergil stellt und so gar nicht erst Zweifel an der Berechtigung der epischen Form an sich aufkommen lässt.123 Dafür, dass Victorius seine Alethia in Versen schreibt, mag übrigens noch ein spezieller Grund wichtig gewesen sein, der der precatio nur implizit und mit einiger Unsicherheit zu entnehmen ist. Victorius’ Adressatengruppe ist seiner eigenen Aussage nach die Jugend (prec. 104sq.), und es liegt nahe, dass Victorius zumindest auch an eine Verwendung im schulischen Kontext gedacht hat.124 In diesem Fall wäre die Alethia neben die Klassiker der paganen Dichtung getreten, die im Schulunterricht gelesen wurden, und vor diesem Hintergrund verstünde es sich wiederum fast von selbst, dass die Alethia diesen Werken formal ‚ebenbürtig‘ sein sollte und somit selbst ein Gedicht werden musste. Falls tatsächlich eine Prosaepistel existierte, könnte dort gerade zur Rolle des Werks im Unterricht Genaueres gestanden haben. Die fehlende Begründung für die Versform wirft aber noch eine andere Frage auf. Wie erwähnt, sprechen sowohl Lukrez als auch einige Bibeldichter dem dichterischen Gewand eine versüßende Funktion zu, verweisen also, mit Horaz gesprochen, auf den Aspekt des delectare. Victorius spricht dagegen nur von seiner Lehrabsicht (prec. 104sq.), die in den Bereich des prodesse fällt. Man kann hierin – mit aller Vorsicht, die angesichts des möglicherweise verlorenen Briefes geboten ist – einen Hinweis darauf sehen, dass für Victorius der Nützlichkeitsaspekt im Vordergrund steht und die Unterhaltungsfunktion hinter diese zurücktritt. Die Darstellungsweise in den drei Büchern würde, wie noch genauer zu zeigen sein wird, durchaus zu dieser Schlussfolgerung passen, da Victorius den Bibeltext in vielen Fällen gerade nicht unterhaltsam ausgestaltet,

|| 123 Iuvenc. praef. 6–18. Juvencus wirft den heidnischen Dichtern zwar mendacia vor, folgert hieraus aber lediglich im Sinne eines argumentum a minore, dass er mit seiner certa fides Anspruch auf noch größeren Ruhm habe (quod si tam longam meruerunt carmina famam, / quae veterum gestis hominum mendacia nectunt, / nobis certa fides aeternae in saecula laudis / inmortale decus tribuet meritumque rependet, V. 15–18): 124 Ob sich aus den Versen tatsächlich eine Verwendung in der Schule ableiten lässt, ist in der Forschung nicht unumstritten. Während die meisten Forscher dafür plädieren, dass das Werk zumindest auch im christlichen Schulunterricht zum Einsatz kommen sollte, der nach wie vor von paganer Literatur bestimmt war (vgl. Martorelli 2008, 208–210 mit den in Anm. 105 zitierten älteren Meinungen), bleibt Roberts 1985, 97 Anm. 146 skeptischer, attestiert dem Werk aber ebenfalls eine große Anziehungskraft für die mit Dichtern wie Vergil aufwachsende Jugend.

Aspekte des Werkaufbaus | 47

sondern eher herausarbeitet, wie die jeweilige Stelle zu erklären und was aus ihr zu lernen ist.125

1.1.2 Die Anfänge der drei Bücher An die Frage, wie das Werk insgesamt eingeleitet wird, schließt sich unmittelbar diejenige an, wie die einzelnen Bücher beginnen. Auch hier unterscheiden sich Epos und Lehrgedicht grundlegend: Während Epen – von vereinzelten Binnenproömien abgesehen – in der Regel nur ein Proöm am Beginn des ersten Buches besitzen, sind in mehrere Bücher umfassenden Lehrgedichten üblicherweise auch den weiteren Büchern Proömien vorangestellt, die teils der thematischen Überleitung dienen, teils aber auch poetologische Reflexionen enthalten, die für die Programmatik und Selbstinszenierung des Dichters von großer Bedeutung sein können. Die Technik der singula prooemia lässt sich auf Lukrez zurückführen, der als einer der ersten ein Lehrgedicht von mehreren Büchern Umfang verfasste,126 und wird nach ihm zu einer Konstante der Lehrdichtung. Wie steht es hiermit nun in den drei Büchern der Alethia? Vergleich der Bucheinleitungen Das erste Buch beginnt zwar nicht direkt mit der Paraphrase des Bibeltextes, sondern mit einem abgegrenzten Einleitungsteil, in dem es um die Präexistenz des dreieinigen Gottes vor der Schöpfung geht (1,1–47), doch handelt es sich schon ab dem ersten Vers um Lehrrede.127 Ein vollgültiges eigenes Proöm fehlt also, was aber auch nicht weiter verwunderlich ist, da dem Buch die precatio vorangeht, die die Stelle des Proöms einnimmt.

|| 125 Wie die Alethia tatsächlich von zeitgenössischen Lesern wahrgenommen wurde, bleibt natürlich Spekulation; vgl. die etwas andere Einschätzung von Roberts 1985, 98, der den Aspekt des delectare größer einschätzt: „We may suppose that metrical form was chosen to make the work more attractive to its young readers.“ 126 Die meisten Lehrgedichte vor Lukrez umfassten nur ein Buch (eine Ausnahme ist Empedokles’ Περὶ φύσεως, das nach der Suda zwei Bücher umfasste, vgl. Pöhlmann 1973, 879 mit Anm. 404). 127 Dafür, dass mit dem ersten Vers kein Proöm, sondern die Darstellung eingeleitet werden soll, spricht auch die sicher nicht zufällige Ovidreminiszenz: Aleth. 1,1 klingt an Ov. Met. 1,5 an, den Vers, mit dem Ovid nach dem Proöm die Darstellung der Kosmogonie eröffnet (ante mare et terras et quod tegit omnia caelum …; die wörtliche Übereinstimmung ist schwach, wird aber durch die inhaltliche Nähe gestützt, vgl. unten S. 232f.).

48 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Aufschlussreicher ist die Lage bei den beiden weiteren Büchern. Das zweite Buch beginnt mit einigen kurzen, aber wichtigen dispositorischen und poetologischen Vorbemerkungen, die, obgleich in der Ausgabe von Hovingh nicht abgesetzt, unschwer als Proöm zu erkennen sind (2,1–5):128 hactenus arcanam seriem, primordia mundi ut sincera fides patuit, sine fraude cucurri, dum dignis leto vitiis terrena carerent. nunc hominum mores et iam mortalia versu ingressum fas sit veris miscere poetam.

5

Bis hierher bin ich der Geheimnisse Reihe,129 den Anfang der Welt, wie sich aufrechter Glaube gezeigt hat,130 ohne Trug durcheilt, solange, wie das Irdische frei war von todeswürdigen Lastern. Jetzt aber, da ich von den Sitten der Menschen und den nunmehr todbringenden Sünden131 im Vers (5) angehoben habe, sei es erlaubt, mit Wahrem den Dichter zu mischen.132

Schon dass das zweite Buch überhaupt ein eigenes disponierendes Proöm besitzt, ist eine Anleihe aus der Lehrdichtung. Hinzu kommt nun ein konkretes Vorbild, nämlich das Proöm zum zweiten Buch von Vergils Georgica, das Victo-

|| 128 Als solches bezeichnen es auch z. B. Herzog 1975, LV und Cutino 2009, 137, ähnlich Homey 1972, 13 („kurze Praefatio“) und Green 2010, 53 (die Digression „is prefaced by …“). 129 Wörtl. „die geheime Reihe“; vgl. Staat 1952 ad loc. zum Gebrauch des Adjektivs statt des Genetivattributs. 130 In diesem Sinne auch Papini: „per come la fede sincera si manifestò“. Möglich wäre auch, patuit mit doppeltem Nominativ zu konstruieren (so Staat: „als mijn geloof zuiver gebleken is“). Ein transitiver Gebrauch von patere („wie 〈sie〉 … gezeigt hat“) lässt sich nicht sicher belegen, vgl. ThLL s. v. pateo p. 658,16. Zur Junktur sincera fides vgl. 3,333. 131 Ich verstehe mortalia angesichts des vorausgehenden vitiis in der christlichen Bedeutung ‚Todsünde‘ (wobei unsicher und auch unwichtig bleibt, ob mortalia substantiviert ist oder vitia zu ergänzen ist; vgl. ThLL s. v. mortalis p. 1513,73–1514,4 sowie Blaise s. v. mortalis 3 mit Belegmaterial für adjektivischen und substanvierten Gebrauch). Anders Staat und Papini, die unter mortalia im Sinne der schon klassischen Bedeutung ‚sterbliche, d. h. irdische Angelegenheiten‘ verstehen (vgl. ThLL s. v. mortalis p. 1512,52–72). 132 Staat übersetzt poetam metonymisch als „verdichting“, vgl. seinen Kommentar ad loc.: „de dichter, d.i. dichterlijke gedachten“; ähnlich Martorelli 2008, 27 („attegiamento del poeta“) und Cutino 2009, 137 Anm. 2 („le invenzioni del poeta“). Für einen solchen Gebrauch findet sich im ThLL s. v. poeta keine Parallele, weshalb ich hier eine wörtliche Übersetzung wähle, die inhaltlich aber auf dasselbe hinausläuft. Denkbar wäre allenfalls noch, dass Victorius an einen konkreten Dichter denkt, wobei jedoch unklar bliebe, welcher Dichter dies sein sollte (Vergil als Dichter par excellence? Lukrez als Folie für die folgende Digression? Vgl. Green 2010, 53). Papini konstruiert anders: „Ora sia concesso al poeta, intrapresa l’opera, di unire nei suoi versi alle verità i costumi umani e le vicende ormai mortali.“

Aspekte des Werkaufbaus | 49

rius hier als Schema verwendet (hactenus arvorum cultus et sidera caeli; / nunc te, Bacche, canam …, Georg. 2,1sq.).133 Die beiden Proömien haben nicht nur im Wortlaut, sondern auch in ihrer Funktion Gemeinsamkeiten: Beide fassen im ersten Teil (hactenus …) den Inhalt des vorangehenden Buches zusammen und kündigen im zweiten (nunc …) den des folgenden an (der freilich schon im vorigen begann, beachte das Perfekt ingressum). Victorius streckt das vergilische Schema von anderthalb auf fünf Verse, wobei er den ersten Teil mit einer Bewegungsmetapher (cucurri) verbindet, wie sie in selbstreferenziellen poetologischen Aussagen häufig auftritt.134 Dabei flicht er anders als Vergil in seine Vorund Rückverweise programmatische Gedanken über die Darstellungsweise im ersten und in den folgenden Büchern ein. Dass Victorius sich am Buchbeginn zu seiner Darstellungsweise äußert, entspricht durchaus den Gepflogenheiten des Lehrgedichts. Schwierig bleibt indes der Inhalt der Verse, und zwar besonders die Ankündigung veris miscere poetam, die „in der | christlichen Bibeldichtung der Spätantike wohl einzigartig“ ist (Homey 1972, 13f.). Sollte Victorius hier tatsächlich ankündigen, dass er den in der precatio erhobenen Wahrheitsanspruch ab Buch 2 aufgibt? Die Stelle ist in der Forschung vielfach diskutiert worden und hat teilweise unterschiedliche Deutungen erfahren, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden sollen.135 Victorius scheint hier auf die traditionelle Auffassung anzuspielen, wonach Dichtung aus ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ gemischt ist, wobei ‚Lüge‘ die kreative Zutat des Dichters zum bekannten und als historisch verstandenen Mythos bezeichnet.136 Auf die Alethia übertragen bedeutet dies, dass Victorius bean-

|| 133 Die Stelle ist nicht in Hovinghs Similienapparat genannt, wohl aber in Staats Kommentar ad loc. und in der jüngeren Forschungsliteratur (z. B. Martorelli 2008, 27 Anm. 39 und Cutino 2009, 137 Anm. 1). Die vergilische Überleitungsformel wird übrigens bereits in einem Binnenproöm von Ovids Ars amatoria nachgeahmt, woran man erkennen kann, wie früh sie bereits als lehrgedichttypisch galt, siehe Ov. Ars. 1,263–266: hactenus, unde legas quod ames, ubi retia ponas, / praecipit imparibus vecta Thalea rotis. / nunc tibi, quae placuit, quas sit capienda per artes, / dicere praecipuae molior artis opus. 134 Vgl. etwa den ähnlichen Gebrauch von percurrere (für das currere hier im Sinne eines simplex pro composito steht, vgl. Staat 1952 ad loc.) in 1,164 und in Manil. 1,117 (von Volk 2002, 210 gedeutet als „instance of the journey motif typically associated with poetic simultaneity“; mehr dazu unten in Kap. 1.2.3). 135 Zu den Versen äußern sich u. a. Staat 1952, 30f., Homey 1972, 13–15, Herzog 1975, LV, Martorelli 2008, 27–30, Cutino 2009, 137–143 und Green 2010, 53. 136 So schon Hes. Theog. 27sq. Der lateinische locus classicus ist Hor. Ars 151 (über Homer, auch zitiert von Martorelli 2008, 27): sic veris falsa remiscet. Vgl. in der Spätantike Serv. Aen. praef. p. 4 Thilo (mit etwas anderen Begriffen, aber in der Sache gleich: … continens vera cum fictis; nam Aeneam ad Italiam venisse manifestum est, Venerem vero locutam cum Iove missumve

50 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

sprucht, im ersten Buch lediglich die bekannte, ‚wahre‘ biblische Erzählung dargestellt zu haben, von nun an dagegen eigene Erfindungen in die Darstellung integrieren will. Victorius dürfte dabei vor allem an die unmittelbar folgende Digression denken (2,6–196), in der er ja tatsächlich in einer weit über die bisherigen Ausschmückungen hinausgehenden Weise eine selbsterfundene Erzählsequenz darbietet.137 Das Proöm des zweiten Buches scheint also in erster Linie das Verhältnis zur biblischen Vorlage zu behandeln. Daneben enthalten die programmatischen Verse jedoch auch Gedanken, die für die Stellung zum Lehrgedicht und zum Epos von Bedeutung sind. Aufschlussreich ist vor allem, wie Victorius die Themen der Bücher zusammenfasst. Hierbei zeigen sich deutliche Korrespondenzen zur Themenankündigung in prec. 107–111, wo der Sprecher um Wissen für die zu behandelnden Themen bittet (vgl. oben S. 36f.). Der Versschluss primordia mundi entspricht wörtlich prec. 107 und weist wie dort ganz in die Richtung des Lehrgedichts. Der Ausdruck hominum mores et iam mortalia greift in etwas loserer Form prec. 109 auf ([qui] in mores penitus descenderit error). Wie dort fällt auf, dass es in der Formulierung zwar um Menschen geht, dass jedoch nicht auf konkrete Figuren oder Handlungen verwiesen wird, wie sie beim Epos im Mittelpunkt stehen. Victorius’ Hauptinteresse liegt mithin nach wie vor nicht auf menschlichen Einzelschicksalen, auch wenn er nun einige solche erzählt, sondern auf der Entwicklung der mores und speziell auf der Ausbreitung der Sünde. Das Proöm beschreibt also nicht oder nur sehr eingeschränkt den Übergang

|| Mercurium constat esse conpositum) und auf christlicher Seite Paul. Nol. Carm. 20,28sq. (= Nat. 12,28sq.: non afficta canam, licet arte poematis utar. / historica narrabo fide sine fraude poetae …, auch zitiert von Martorelli 2008, 28). Erwähnt sei noch, dass veris miscere auch sonst häufig mit dem Objekt falsa verbunden ist, so z. B. Liv. 24,30,3; 35,23,2; Sen. Herc. f. 1070. 137 In diesem Sinne auch Homey 1972, 15f. Anm. 23: „Wollte der Dichter mit ‚veris miscere poetam‘ tatsächlich eine bestimmte durch die beiden folgenden Bücher kontinuierlich durchgetragene neue Erzählhaltung ankündigen, so wäre nicht einzusehen, warum er z. B. die Schilderung der Sintflut nach ovidischem Muster oder die Ausgestaltung der Expedition Abrahams zur vergilischen Kampfszene auf diese Weise signalisieren zu müssen glaubt, nicht aber schon die von ihm im ersten Buch vorgenommene, auf derselben Stufe | stehende Ausformung des Paradieses zur vergilischen Landschaft … Eine von diesem Gestaltungsmodus (Umformung der biblischen zur analogen epischen Szene) sich grundsätzlich abhebende Erzählhaltung ist dagegen sehr wohl in der sich unmittelbar anschließenden Digression eingenommen.“ Ähnlich auch Martorelli 2008, 28, der herausstellt, dass Victorius hier nicht beabsichtigt, von der in der precatio genannten christlichen Wahrheit abzuweichen, sondern diese lediglich poetisch ausgestalten will („… come Vittorio, lungi dall’aprire il suo poema alle menzogne pagane, volesse semplicemente distinguere il momento della narrazione in tutto conforme alla verità biblica da uno spazio poetico in cui la diritta parafrasi scritturale non fosse esclusiva“).

Aspekte des Werkaufbaus | 51

von einem vorwiegend dem Lehrgedicht verpflichteten Teil (Anfang B. 1) zu einer stärker vom Epos beeinflussten Partie (ab Mitte B. 1), wie man es erwarten könnte, sondern es zeigt an, dass es trotz des Auftretens konkreter Figuren weiterhin um übergreifende anthropologisch-theologische Zusammenhänge geht.138 Im Gegensatz zum zweiten Buch besitzt das dritte kein weiteres Proöm, sondern führt die Erzählung direkt fort. Unmittelbar vorangegangen ist eine Deutung der Sintflut, die mit talia mente gerens [sc. Noë] noch kurz aufgegriffen wird, bevor dann von Noahs Opfer die Rede ist. Derartige Buchanfänge – unmittelbare Fortführung der Erzählung mit angedeuteter Anknüpfung an das Vorige – begegnen im Epos regelmäßig, und so kann man sagen, dass Victorius nach einem typisch lehrdichterischen Buchanfang nun einen typisch epischen wählt.139 Zusammenfassung Wenn man die precatio als erstes Proöm deutet, finden sich vor Buch 1 und Buch 2 die für das Lehrgedicht charakteristischen singula prooemia, während am Anfang von Buch 3 der Einfluss des Epos durchschlägt. Auch bei den Bucheinleitungen zeigt sich also die Stellung zwischen Epos und Lehrgedicht. Die Verteilung lässt mit aller gebotenen Vorsicht vermuten, dass sich die Erzählweise vom zweiten zum dritten Buch in die Richtung des Epos verschiebt – eine Beobachtung, die im nächsten Kapitel mit gewissen Einschränkungen zu bestätigen sein wird.

1.1.3 Verhältnis von Erzählung und Lehre Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Epos und Lehrgedicht ist, dass das Epos, sieht man von Pro- und Analepsen sowie Exkursen ab, chronologisch organisiert ist, das Lehrgedicht dagegen, abgesehen von narrativen Einlagen, thematisch. Grundelement ist im einen Fall die zeitlich voranschreitende Erzählung, im anderen die systematische Lehre. Was den Gesamtaufbau des

|| 138 Dies ändert nichts daran, dass ab der Mitte von B. 1 tatsächlich stellenweise ein stärkerer Einfluss des Epos spürbar ist (vgl. Martorelli 2008, 206f. mit Anm. 101, der den Umschwung in V. 387–395 sieht), doch scheint es Victorius in den zitierten Versen nicht hierum zu gehen. 139 Zwar beginnt m. W. kein Buch eines antiken Epos mit talia, doch begegnen vergleichbare Anknüpfungen wie sic … (Verg. Aen. 6, Lucan. 5) und … ea … (Verg. Aen. 9, Val. Fl. 4); vielfach belegt ist außerdem die Anknüpfung mit interea.

52 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Werkes angeht, entspricht die Alethia mit ihrer fortlaufenden Erzählung eher dem Epos (sogar einer sehr einfachen Form des Epos, da Nebenhandlungen und größere Pro- und Analepsen fehlen).140 Andererseits enthält sie jedoch viele lehrhafte Partien, die die chronologische Erzählung durchbrechen und bestimmte, oft, aber keineswegs nur theologische Themen in den Vordergrund treten lassen. Dieses Teilkapitel soll die einfache, aber wichtige Frage klären, in welchem Verhältnis die erzählenden und die lehrhaften Partien im Gesamtwerk zueinander stehen und inwieweit sich hierbei Bezüge zu spätantiken literarischen Entwicklungen feststellen lassen. Verteilung lehrhafter Partien Zunächst ist festzustellen, dass eine klare Eingrenzung der lehrhaften Partien in der fortlaufenden Erzählung nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Nur relativ selten nimmt die Belehrung die Gestalt eines ausführlichen und eigenständigen Exkurses an. An erörternden Partien von über 30 Versen Länge sind lediglich das Eingangsgebet, der Anfang des ersten Buches (1,1–47), der Abschluss der Digression des zweiten Buches (2,163–196) sowie die Digression des dritten Buches (3,99–209) zu nennen, sämtlich übrigens Passagen, die auch sonst gewisse Bezüge zur lehrdichterischen Tradition aufweisen (vgl. die zugehörigen Besprechungen in Kap. 1.1.1, 2.2.1, 2.2.3.4 und 2.2.3.5). Viel häufiger verbindet Victorius Erzählung und Belehrung in kleinteiligerer Form, nämlich indem er das Erzählte sogleich kommentiert. Mit diesen Kommentaren knüpft er natürlich wesentlich an die christliche (und, wenn man z. B. Philon hinzunimmt, jüdische) Bibelexegese an, und tatsächlich nannte ja Gennadius die Alethia, sofern er diese wirklich meinte, einen Kommentar zur Genesis.141 Zugleich entwickelt Victorius hiermit jedoch die Erzählweise des Epos weiter und verbindet sie teilweise mit Elementen der Lehrdichtung. Da schon Martorelli den Methoden, Themen und Formen der Exegese ein umfangreiches Kapitel gewidmet hat und einige Kommentierungstechniken, die in der Tradition von Epos oder Lehrgedicht stehen, im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch einzeln

|| 140 Vgl. zu den vorhandenen Pro- und Analepsen unten Kap. 1.3.1.3. 141 Vir. ill. 61, vgl. oben Anm. 5. Dass man ein Bibelgedicht als Kommentar auffassen und bezeichnen konnte, zeigt übrigens auch der (wahrscheinlich aber nicht ursprüngliche) Titel des Hilarius zugeschriebenen Werks In Genesin ad Leonem papam (auch zitiert als Metrum in Genesin, so bei Kreuz 2006).

Aspekte des Werkaufbaus | 53

betrachtet werden sollen, beschränke ich mich an dieser Stelle auf einige grundlegende Aspekte mit Bedeutung für die Gattungsfrage.142 Betrachtet man das Werk im Überblick, so zeigt sich, dass sich das Verhältnis von Erzählung und Lehre im Laufe der drei Bücher verschiebt. Besonders ausgeprägt sind die lehrenden Teile in Buch 1, das ja auch mit einem typischen Thema des Lehrgedichts beginnt, nämlich der Kosmogonie (vgl. unten Kap. 1.2.1). In Buch 2 gewinnen die erzählenden Abschnitte bereits mehr Bedeutung, doch nehmen kommentierende Zusätze weiterhin breiten Raum ein, und zwar besonders in der Kain-und-Abel-Geschichte in der Mitte des Buches (2,207–318) und in der Sintflutepisode am Buchende (2,352–558). Eine stärkere Veränderung der Erzählweise ist in Buch 3 zu beobachten. Das Buch enthält zwar mit der Digression (3,99–209) die längste nicht-narrative Partie des gesamten Werkes, und auch die folgende Turmbauerzählung mündet in eine breit ausgeführte Deutung (3,285–298). Mit dem Auftreten Abrahams (bzw. Abrams) rückt jedoch die Erzählung in den Vordergrund. Anders als bei den vorherigen Protagonisten, aus deren Leben höchstens zwei Episoden genauer erzählt wurden (bei Adam und Eva der Sündenfall und die von Victorius hinzugefügte Entdeckungsserie, bei Noah die Sintflut und die Trunkenheit), wird Abrahams Leben schon in der Bibel in einer ganzen Reihe von Etappen entfaltet. Da Victorius, wie im nächsten Teilkapitel genauer zu zeigen sein wird, in jedem Buch offenbar eine Figur in den Mittelpunkt stellen will (B. 1: Adam, B. 2: Noah, B. 3: Abraham, vgl. unten S. 61), muss er nun die Erzählgeschwindigkeit erhöhen, wenn er der biblischen Handlungsfülle gerecht werden will. Damit rücken die Kommentare in den Hintergrund, wenngleich sie keineswegs ausbleiben.143 Die Darstellung entspricht damit tendenziell stärker dem Epos, auch wenn sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche Unterschiede erkennen lassen (Einzelanalysen in Kap. 2.1). Mit gewissen Einschränkungen kann man also sagen, dass sich im Verlaufe des Werks (und besonders im Verlauf des dritten Buches) das Verhältnis von Erzählung und Lehre zugunsten der Erzählung verschiebt.

|| 142 Vgl. Martorelli 2008, 104–160. Zitiert sei Martorellis treffende Bemerkung über die enge Verbindung von Erzählung und Kommentar auf S. 104: „Non si tratta di osservazioni apposte ‘a freddo’: esse vengono non solo preparate dalla parafrasi, ma spesso si intrecciano inestricabilmente con essa, o addirittura la precedono“. 143 Vgl. z. B. 3,357–363 (spätere Bedeutung Bethlehems bzw. Bethels, die Victorius für identisch hält); 3,377–382 (Grund für den Schrecken des Pharaos); 3,596–599 (Bedeutung der Beschneidung); 3,631–635 (über Abrahams Glauben). Eine ausführlichere kommentierende Partie findet sich, wie schon in B. 1 und B. 2, am Buchende, hier im weiteren Sinne ab 3,765 (naturwissenschaftliche Erklärungen zur Feuersbrunst und zur Entstehung des Toten Meeres), im engeren Sinne 3,783–789 (theologische Deutung).

54 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Verknüpfung von Erzählung und Kommentar Betrachten wir nach diesem Überblick genauer, wie Victorius Erzählung und Kommentar verbindet. Der Anschaulichkeit halber gehe ich in meinen Überlegungen von einer konkreten Passage aus, nämlich der Kain-und-Abel-Episode in 2,203–252, die an Kommentaren besonders reich ist und so eine exemplarische Betrachtung der verschiedenen Kommentierungsformen ermöglicht. Die eigentliche Erzählung vom Brudermord nimmt lediglich die Verse 203–226 ein. Schon hier sind indes an zwei Stellen – untrennbar mit der Erzählung verbunden – Kommentare zur Belehrung des Rezipienten eingelegt. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht zunächst die auf Abel bezogene Apposition (2,217–219): … prima sacerdotum species, mox hostia fratris impia, sed signo iam tunc imbuta futurae indicioque piae. … die erste Art Priester, bald das unfromme Opfer des Bruders, doch da schon erfüllt vom Zeichen und Hinweis auf das künftige fromme 〈Opfer〉.

Die zweieinhalb Verse enthalten eine kulturhistorische Bemerkung (vgl. unten S. 291), eine Vorausdeutung auf die unmittelbar folgende Tötung und schließlich einen typologischen Vorverweis auf Christus. In den folgenden Satz, der als Faktenbericht beginnt und endet, wird sodann eine Überlegung eingeschaltet, warum Kains Opfer verworfen wurde, d. h. es wird ein Versuch unternommen, die Logik hinter den Ereignissen verständlich zu machen (2,221–224):144 … seu quod votas praelegerit ante pollueritque dapes seu totum tempore in uno cernenti reus est praesens quandoque futurus mente nocens … … sei es, weil er [Kain] zuvor die geweihten Speisen auswählte und befleckte, sei es, weil für den, der alles zu einem Zeitpunkt erkennt, derjenige schon jetzt schuldig ist, der es später einmal sein wird, weil er im Geiste 〈bereits〉 Schaden anrichtet …145

Auf diese mit Kommentaren durchsetzte Erzählung folgt ein längerer reiner Kommentar – einer der längsten in der Alethia –, in dem der Sprecher emphatisch den verderblichen Einfluss beklagt, den Kains Brudermord auf die weitere || 144 Zur Technik, mehrere Deutungsmöglichkeiten aufzuzählen, vgl. unten Kap. 1.3.3. 145 Oder: „… obwohl er 〈nur〉 im Geiste Schaden anrichtet“ (so D’Auria 2012, 96 Anm. 16); oder: „… schuldig ist, weil er es einst sein wird, der im Geiste Unheil anrichtet“ (so Papini).

Aspekte des Werkaufbaus | 55

Menschheitsgeschichte hat (2,227–252, dazu unten S. 82f.). Die Passage lässt so exemplarisch das Spektrum der Kommentarformen und -inhalte erkennen: Formal reicht das Spektrum von mit der Erzählung verwobenen Deutungen zu abgegrenzten reinen Kommentaren, inhaltlich begegnen vor allem Erläuterungen zur Logik des Geschehens, zur Entwicklung der Menschheit und der Moral und natürlich theologische Beobachtungen (der einzige wichtige Themenbereich, der in der Episode hier nicht repräsentiert ist, sind naturwissenschaftliche Erklärungen).146 Erklärungsansatz 1: Weiterentwicklung des Epos In der betrachteten Passage nehmen die belehrenden Kommentare etwa ebenso viel Raum ein wie die Erzählung. Dies ist zwar, wie erwähnt, selbst in der Alethia ein Extremfall, lässt aber aufschlussreiche Überlegungen für die gestellten Gattungsfragen zu. Man kann die Mischung von Erzählung und Belehrung sowohl vonseiten des Epos als auch vonseiten des Lehrgedichts verstehen. Geht man vom Epos aus, so stellt sich die Passage als Anreicherung der Erzählung mit auktorialen Zusätzen dar. Diese Zusätze kann man in mehrfacher Weise aus der Entwicklung der Gattung erklären. Zunächst zeigt sich in der Entwicklung des lateinischen Epos die Tendenz, dass der Erzähler deutlicher hervortritt und sich über die bloße Erzählung hinaus zum Geschehen äußert. Da die Rolle des Erzählers in Kap. 1.2 genauer untersucht wird, soll dieses Thema hier vorerst nicht vertieft werden. Ein weiterer Aspekt, der für Victorius eine Rolle spielen dürfte, ist die schulische Rezeption der klassischen Epen. Die kanonischen Texte – allen voran die Aeneis – wurden hier nicht nur gelesen und memoriert, sondern überdies als Quelle jeglichen Wissens interpretiert, ein Verfahren, das sich teilweise durchaus mit der christlichen Bibelexegese vergleichen lässt.147 Dass die Grammatiker und besonders ihre Praxis der enarratio Einfluss auf die spätantike Dichtung hatten, ist generell wahrscheinlich, und umso mehr kann man bei dem mutmaßlichen Rhetor Victorius annehmen, dass er von der schuli-

|| 146 Vgl. Martorelli 2008, 104–160, der die Kommentare inhaltlich etwas anders in „[n]otazioni scientifico-filosofiche“, „[a]pprofondimenti del senso storico“ und „[o]sservazioni mistiche“ einteilt. 147 Die Praxis der enarratio lässt sich noch an einigen entsprechenden Erklärungen in den Vergilkommentaren des Servius ablesen; vgl. besonders die programmatische Aussage in Serv. Aen. 6 praef.: totus quidem Vergilius scientia plenus est, in qua hic liber possidet principatum … et dicuntur aliqua simpliciter, multa de historia, multa per altam scientiam philosophorum, theologorum, Aegyptiorum …

56 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

schen Lektürepraxis beeinflusst war.148 Seine lehrenden Kommentare lassen sich als eine Integration der enarratio in die Erzählung verstehen. Victorius entwickelt das Epos demnach in der Art weiter, wie es rezipiert wurde. Die Eingliederung von nichtnarrativem Material in die Erzählung könnte dabei durch eine weitere spätantike Tendenz begünstigt worden sein. Lehrende Exkurse und Einlagen (etwa solche naturphilosophischen Inhalts, wie sie auch bei Victorius auftreten) finden sich im Epos zwar schon seit hellenistischer Zeit;149 gerade die spätantike Epik – auf lateinischer Seite vor allem repräsentiert durch Claudian – neigt jedoch in besonderem Maße dazu, die Erzählung durch Einlagen zu unterbrechen.150 Gewiss ist bei Claudian keine solch kleinteilige Abfolge von Erzählung und Zusätzen und erst recht keine mit Victorius vergleichbare Verschmelzung beider Elemente zu beobachten, doch lässt sich bei ihm erkennen, dass eine kontinuierliche, fließende epische Erzählung für den spätantiken Geschmack nicht mehr so wichtig war wie etwa für Vergil, und diese stilistische Veränderung könnte auch die Durchbrechung und Durchdringung der Erzählung mit lehrhaften Kommentaren begünstigt haben. Auch wenn Victorius’ Erzählweise bibeldichterischen Anliegen verpflichtet ist, korrespondiert sie also in mehrfacher Hinsicht mit spätantiken Entwicklungen des Epos. Erklärungsansatz 2: Weiterentwicklung des Lehrgedichts Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die Verbindung von Erzählung und Kommentar indes auch von der Seite des Lehrgedichts erklären. Im Lehrgedicht begegnen bekanntlich ebenfalls Erzählungen, wenn auch nur als Einlage in der Darstellung. Die Erzählungen stehen dabei in mehr oder weniger enger Verbin-

|| 148 Zum Einfluss der Grammatiker allgemein Roberts 1985, 203 und 1989, 38; vgl. auch Smolak 1999, 16, wonach Avien in seinen Aratea, in denen er wie die Bibeldichter eine (hier freilich schon metrische) Vorlage umsetzt, zusätzlich zum Arattext die zugehörigen Scholien einbezieht (so übrigens schon Livius Andronicus in seiner lateinischen Übersetzung der Odyssee). Über das spätantike Bildungswesen allgemein informiert z. B. Fuhrmann 1994, 81–107. 149 Ich nenne exemplarisch die naturphilosophischen Reden in Apoll. Rhod. 1,496–511, Verg. Aen. 1,740–747 und natürlich in Ov. Met. 15,60–478 (wobei die Metamorphosen ja auch in B. 1 die Tradition des Lehrgedichts aufnehmen); vgl. auch die Rede über Ursprung und Lauf des Nils in Lucan. 10,194–331. 150 Vgl. die zugespitzte Formulierung bei Cameron 1970, 262: „Tu put it bluntly, Claudian is almost incapable of writing true narrative.“ Cameron meint dabei v. a. die Abfolge von Reden, Beschreibungen und Exkursen, wobei mit den lehrhaften Partien bei Victorius am ehesten die Exkurse zu vergleichen sind. Auf griechischer Seite lassen sich ähnliche Tendenzen bei Nonnos beobachten.

Aspekte des Werkaufbaus | 57

dung mit der jeweiligen Lehraussage, z. B. indem sie diese als Exemplum untermauern. Auch hier entsteht also eine Verbindung von Erzählung und Lehre, wobei das erzählerische Element in einigen Werken oder Werkteilen einen erheblichen Anteil erreichen kann.151 Die oben betrachtete Kain-und-Abel-Episode könnte mithin ebenso gut in einem Lehrgedicht zur Erklärung oder Exemplifizierung bestimmter Sachverhalte erzählt werden, jedenfalls in einem christlichen Lehrgedicht, wie es sie ja spätestens seit dem 4. Jh. gibt –152 und tatsächlich wurde sie das auch, nämlich in Prudentius’ Hamartigenia, wo die Erzählung von Kain und Abel schon in der praefatio dargeboten wird. Vergleicht man die Darstellungen bei Victorius und bei Prudentius miteinander im Hinblick auf das Verhältnis von Erzählung und Lehre, so zeigen sich gewisse Ähnlichkeiten: Auch Prudentius beginnt mit einer reinen Erzählung (Ham. praef. 1–17), geht dann jedoch ähnlich wie Victorius mitten im Satz mit einem christologischen Vorverweis zur Deutung über (Ham. praef. 17–19, Subjekt ist Kain):153 … mundum recentem caede tinguit impia, sero expiandum iam senescentem sacro cruore Christi quo peremptor concidit. … er befleckt die junge Welt mit ruchlosem Mord – die Welt, die erst spät, als sie schon altert, gesühnt werden wird durch das heilige Blut Christi, durch das der Mörder fiel.

Mit diesen Versen leitet Prudentius eine längere rein kommentierende Partie ein, die sich zunächst in gewisser Hinsicht mit Victorius’ längerem Kommentar nach der eigentlichen Erzählung vergleichen lässt. Freilich gehen die Darstellungen der beiden Autoren im Folgenden verschiedene Wege: Während Prudentius trotz wiederholter Anknüpfung an die Kainsgeschichte in erster Linie ein bestimmtes Thema weiterverfolgt, nämlich das von ihm abgelehnte dualistische Gottesverständnis Markions, für den er in Kain ein Vorbild sieht, setzt Victorius nach seinem Kommentar die Kainerzählung fort, die er indes immer wieder im

|| 151 Einen hohen Anteil von Erzählerischem weist etwa Ovids Ars amatoria auf. Ein weiterer Extremfall ist das die zweite Hälfte in Verg. Georg. 4 einnehmende Aristaeus-Epyllion, das zwar als Aition für eine fachspezifische Praxis (die Bugonie in der Imkerei) eingeführt wird, aber ein deutliches Eigenleben gewinnt. 152 Für eine Übersicht über die christliche Lehrdichtung siehe Thraede 1962a, 1014–1022. Falls Thraede mit seiner Frühdatierung Commodians Recht hat, gab es sogar schon im 3. Jh. christliche Lehrdichtung (vgl. auch K. Smolak, Art. „Commodianus“, in: DNP 3, Stuttgart/Weimar 1997, 102f., der eine Frühdatierung ebenfalls für wahrscheinlich hält). 153 Die praefatio ist im jambischen Senar gehalten, das eigentliche Lehrgedicht dann im gattungsüblichen Hexameter.

58 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Hinblick auf dieselben Themen (Schuld, Strafe und Gnade) kommentiert. Auch wenn die Rollen von Erzählung und Lehre bei den beiden Autoren vertauscht sind (bei Prudentius Lehre mit eingelegter Erzählung, bei Victorius Erzählung mit eingelegter Lehre), kommen sich die Darstellungen in den betrachteten Passagen durchaus nahe, ja man kann zweifeln, ob bei Victorius tatsächlich die Erzählung das wesentliche Element ist, oder ob diese eher zu einem fortlaufenden Exemplum umfunktioniert wird, vor dessen Hintergrund der Dichter die Lehre von Schuld und Gnade als eigentliches Anliegen entfaltet. Zusammenfassung Die Darstellungsweise der Alethia ist – trotz der chronologischen Anlage des Werks – von einer ständigen Durchdringung von Erzählung und Lehre geprägt, wobei sich das Verhältnis im Laufe der drei Bücher zugunsten der Erzählung verschiebt. Das Ineinander beider Elemente lässt sich bis zu einem gewissen Grad als eine gegenseitige Annäherung von Epos und Lehrgedicht verstehen. Victorius konnte sich dabei Entwicklungen zunutze machen, die sich in den beiden Gattungen ohnehin abspielten: im Epos die Tendenz zu stärkerer Erzählerpräsenz, die Praxis der enarratio und die Neigung zum Aufbrechen der Erzählung, im Lehrgedicht vor allem das Vorbild christlicher Autoren wie Prudentius, die biblische Exempla für ihre Argumentation verwenden. Mindestens ebenso wichtig wie diese literarischen Entwicklungen ist freilich das christliche Bedürfnis, den bekannten Bibeltext kontinuierlich für die Erbauung und Unterweisung fruchtbar zu machen.154 Das Ergebnis ist jedenfalls eine beständige Durchdringung von Erzählendem und Lehrendem, die oft mit hochkomplexer Syntax verbunden ist und gelegentlich zulasten der Verständlichkeit geht.155 Man kann diese Mischung von Erzählung und Lehre unterschiedlich bewerten: Einerseits wird das Erzählte durch die Kommentare in einen weiteren Bezugsrahmen gestellt, als dies im Epos üblich ist, andererseits verliert die Erzählung gegenüber dem traditionellen Epos an Subtilität, da die Kommentare dem Leser in recht offensichtlicher Form eine bestimmte Rezeptionshaltung vorge|| 154 Es sei erinnert an Herzog 1975, der die Erbaulichkeit als zentrales Anliegen der spätantiken Bibeldichtung herausarbeitet. 155 Victorius geht somit über das von Harrison 2007 beschriebene generic enrichment hinaus, bei dem eine Rahmengattung Rahmengattung (host) Elemente einer weiteren Gattung (guest) in sich aufnimmt, ohne dabei ihre eigene Identität zu verlieren (vgl. besonders S. 1–33). Mit Harrisons Terminologie könnte man aufgrund der chronologischen Grundstruktur das Epos als host betrachten, doch hat das als guest zu verstehende Lehrgedicht solches Gewicht, dass es den host teilweise verdrängt und seine Identität infrage stellt.

Aspekte des Werkaufbaus | 59

ben (was indes nicht bedeutet, dass sie ihm die Interpretation abnehmen; vielmehr wird die Darstellung gerade durch die lehrhaften Partien oft umso deutungsbedürftiger, weil der Rezipient die theologischen oder philosophischen Konzepte erkennen und ihre Verbindung mit der Erzählung durchschauen muss). Im Vergleich zum Lehrgedicht bedeutet Victorius’ Darstellung einerseits einen Zugewinn an Variation, da die Lehre durch erzählende Partien aufgelockert wird, andererseits jedoch einen Verlust an Systematik, da die Behandlung der Themen weitgehend der Erzählung und nicht ihrer eigenen Logik folgt. Interessant ist schließlich noch die Frage, was die Mischung von Erzählung und Lehre für den Wahrheits- und Welterklärungssanspruch des Werks bedeutet. Wolfgang Kirsch bemerkt zu den Unterschieden von Epos und Lehrgedicht treffend, das Epos biete zwar Welterkenntnis, diese sei jedoch „nicht auf eine Lehre zu reduzieren“, wohingegen das Lehrgedicht „sowohl eine gültige Wahrheit als auch reproduzierbares Wissen vermitteln“ wolle (Kirsch 1989, 20). Die Alethia erhebt einerseits schon mit ihrem Titel den Anspruch, gültige Wahrheit zu vermitteln, und tatsächlich enthalten die lehrhaften Partien memorier- und reproduzierbares Wissen. Andererseits wird Wissen und Welterkenntnis in der Alethia nicht nur durch die explizit lehrhaften Aussagen, sondern auch durch die Erzählung transportiert, die trotz – und manchmal sogar wegen – der exegetischen Zusätze interpretationsbedürftig bleibt. Die Alethia enthält somit gleichsam Elemente einer Lehre, die zusammenzufügen und zu vervollständigen dem Rezipienten überlassen bleibt.

1.1.4 Streben nach epischer Einheit Zu den konstitutiven Merkmalen des Epos gehört die zusammenhängende und in sich geschlossene Handlung, die sich üblicherweise um einen oder wenige Haupthelden entwickelt.156 Für die spätantiken Bibeldichter, die sich ja zumindest auch am Epos orientieren, war eine solche Einheit oft nur schwer zu verwirklichen: Die Evangelien haben zwar eine zentrale Figur, bestehen zu weiten Teilen aber aus einer Episodenreihung ohne offensichtlichen Handlungsfortschritt (Ausnahmen sind biographisch sicher lokalisierbare Stationen wie Ge-

|| 156 Vgl. schon die (normative, in der Grundtendenz aber durchaus die Realität der Gattung beschreibende) Aussage über das Epos bei Aristot. Poet. 23 p. 1459a18–21: … δεῖ τοὺς μύθους καθάπερ ἐν ταῖς τραγῳδίαις συνιστάναι δραματικοὺς καὶ περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν ἔχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν’ ὥσπερ ζῷον ἓν ὅλον ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονήν … Erinnert sei auch an das Kunstideal des ponere totum in Hor. Ars 34.

60 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

burt und Passion). Die von Bibeldichtern verarbeiteten Bücher des Alten Testaments haben dagegen zwar in weiten Teilen eine fortschreitende Handlung, umfassen aber eine Fülle von Figuren und Einzelerzählungen aus einem Zeitraum, der das epische Maß bei weitem übersteigt. Bei vielen christlichen Bibeldichtern zerfällt die Handlung so in Einzelepisoden, und dies ist eine Tendenz, die auch in anderen spätantiken narrativen Dichtungen zu beobachten ist.157 Besonders ausgeprägt ist diese Tendenz bei den Dichtern mit neutestamentlichen Stoffen, die den erbaulichen Wert der einzelnen Szenen hervorzuheben bestrebt sind, während einige Dichter mit alttestamentlichen Inhalten sich durchaus um eine gewisse Einheit zu bemühen scheinen.158 Auch Victorius behandelt zwar einen Stoff von unepischem Umfang, den er durch verschiedene Einlagen sogar noch heterogener macht; dabei bemüht er sich jedoch, wie nach älteren Ansätzen besonders Martorelli gezeigt hat, die einzelnen Teile seines Werkes als eine Einheit erscheinen zu lassen.159 Da es sich hier um einen entscheidenden Aspekt für das Verhältnis der Alethia zum Epos und ihren dichterischen Charakter überhaupt handelt, sollen die bisher geleisteten Beobachtungen an dieser Stelle aufgenommen und weitergeführt werden.

|| 157 Vgl. Kirsch 1979, 40: „Der epische Vorgang wird zunehmend in Einzelvorgänge zerschlagen … Diese parataktische und daher meist rein lineare Erzählweise bemerken wir zunächst in der Bibelepik, doch dringt sie auch in das mythologische, das historische und das hagiographische Epos ein“ (vgl. auch ibid. 59f.). Eine vergleichbare Tendenz zeigt z. B. Claudian, dessen narrative Struktur oft als Technik der „isolierten Bilder“ beschrieben wird (der Terminus wurde geprägt von F. Mehmel, Virgil und Apollonios Rhodios, Hamburg 1940, 108f.; vgl. Cameron 1970, 265: „There can be little doubt that, in practice if not in principle, he [Claudian, TKT] considered the episode more important than the whole“; trotz Kritik von Kirsch 1989, 233 wird er auch in der neueren Forschung noch verwendet, so etwa bei Schindler 2009, 82. 138. 169). Vgl. auch Roberts 1989, 56f. (mit Literatur in Anm. 62). – Dass sich (unter anderen ästhetischen Prämissen) auch aus einem biblischen Stoff eine echte epische Einheit herstellen lässt, zeigt der jüdisch-hellenistische Epiker Theodot, dessen fragmentarisch erhaltenes Werk über Jakob sich offenbar ganz auf die Ereignisse um Sichem (Gen. 34) konzentrierte und so eine geradezu an Homer erinnernde Geschlossenheit erreicht haben dürfte; vgl. dazu Verf. 2012. 158 Vgl. dazu zusammenfassend Roberts 1985, 220f., der das Vorgehen neu- und alttestamentlicher Bibeldichter vergleicht und von den letzteren Victorius und Avitus nennt. 159 Martorelli 2008, 43–52 und 195–198; vgl. aber schon Homey 1972, 181 (zur Bucheinteilung), Kirsch 1979, 40 Anm. 10 (zu den Buchschlüssen) und Roberts 1985, 193 (zur Verbindung der Episoden und dem gemeinsamen Thema der Menschheitsentwicklung).

Aspekte des Werkaufbaus | 61

Makroskopisch: der Werkaufbau Betrachten wir die Alethia zunächst aus makroskopischer Perspektive. Auf den ersten Blick wirkt das Werk wenig stringent und zudem hochgradig heterogen. Bei genauerem Hinsehen lassen sich jedoch mehrere Techniken ausmachen, mit denen Victorius sich der epischen Einheit in gewissen Grenzen annähern zu wollen scheint. Hierzu trägt bereits die Konzentration des Figurenarsenals auf bestimmte Haupthandlungsträger (episch gesprochen: Helden) bei. An erster Stelle stehen hier natürlich Adam und Eva (wobei Adam klar im Mittelpunkt steht), die in der zweiten Hälfte des ersten Buches in Erscheinung treten und noch den Anfang des zweiten Buches beherrschen. Victorius lässt die beiden Figuren dabei stärker als in der Genesis angelegt hervortreten, indem er sie zu den Protagonisten der ersten Digression und damit gleichsam zu Kulturheroen macht. Im weiteren Verlauf des zweiten Buches wird zunächst nur Kain (am Anfang mit Abel) größere Aufmerksamkeit gewidmet – von den zahlreichen übrigen Personen aus den Geschlechtsregistern in Gen. 4,17–5,32 erwähnt Victorius lediglich kurz Seth, Enosch und Henoch –, bevor dann mit Noah ein neuer ‚Held‘ auf den Plan tritt. Noahs Leben reicht ebenfalls in das nächste Buch hinein, wo dann zusätzlich seine Söhne Sem, Ham und Iaphet handelnd auftreten. Nach der sich anschließenden Digression, die das ausgelassene Geschlechtsregister von Gen. 10 überbrückt, und der Turmbauepisode tritt schließlich mit Abra(ha)m der letzte und größte ‚Held‘ der Alethia auf, an dessen Seite weitere kleinere Charaktere treten. Im Wesentlichen ist das Werk also von der Abfolge Adam – Noah – Abraham bestimmt, wobei diese drei großen Handlungsblöcke durch kleinere Erzählungen und betrachtende Partien miteinander verbunden sind. Man kann in dem Dreischritt eine aszendente Linie erkennen, insofern die drei Figuren in einem immer engeren Verhältnis zu Gott stehen, während die Menschheit sich nach der Darstellung der Alethia immer weiter von Gott entfernt. Der Höhepunkt ist bei Abraham erreicht, der immer wieder in direktem Austausch mit Gott steht und in besonderer Weise Verheißungsträger ist.160 Die Ordnung in drei große Erzähleinheiten spiegelt sich – wenngleich in etwas anderer Form – auch in der Buchstruktur wider.161 In allen drei Büchern || 160 Vgl. Martorelli 2008, 197: „Semplificando, abbiamo nei tre libri la sequenza di ignoranza, conoscenza/obbedienza e tensione verso il divino: i tre stadi sono impersonati principalmente da Adamo, Noè e Abramo.“ 161 Aussagen über die Buchstruktur stehen unter dem Vorbehalt, dass möglicherweise ein viertes Buch verloren ist. Ich gehe hier zunächst vom überlieferten Werkzustand aus und behandle das Problem weiter in Anm. 167.

62 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

ist eine ähnliche Abfolge von hoffnungsvollem Auftakt, Fall und Verderbnis sowie göttlicher Strafe zu beobachten. Am deutlichsten ist dieses Schema im ersten Buch: Auf die gute göttliche Schöpfung folgt der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Im zweiten Buch besteht der positive Auftakt in der kulturellen Entwicklung, die in der Digression dargestellt ist; anschließend setzt mit Kains Brudermord eine negative Entwicklung ein, die Gott mit der Sintflut bestraft. Im dritten Buch steht mit dem Bundesschluss Gottes mit Noah wieder ein hoffnungsvolles Moment am Anfang, auf das dann aber erneut eine Phase der Verderbnis folgt, beginnend mit Hams Respektlosigkeit gegenüber seinem betrunkenen Vater, an die sich die Digression über den Aberglauben und die Episode vom Turmbau zu Babel anschließen. Als Strafe steht am Buchende schließlich die Zerstörung von Sodom und Gomorrha. Alle drei Bücher folgen also einem ähnlichen Schema, wobei die Bücher zwei und drei als weitere Gemeinsamkeit in der Buchmitte eine Episode mit einer weiteren, kleineren Strafe enthalten, im einen Fall Kains Brudermord und Bestrafung, im anderen Fall den Turmbau und die Sprachverwirrung. Der Eindruck einer ähnlichen Entwicklung in den drei Büchern wird durch die Buchschlüsse unterstrichen.162 Zunächst fällt auf, dass die Strafe bei Victorius stets durch eines der vier Elemente vollzogen wird: die Vertreibung aus dem Paradies erfolgt durch Winde (ohne Vorbild in der Genesis), die Sintflut durch Wasser, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha schließlich durch Feuer.163 Noch markanter ist jedoch, dass in allen drei Büchern auf die Strafe eine typologische Deutung folgt, die auf die Erlösung durch Christus vorausweist: Im ersten Buch wird das todbringende Holz des Baums der Erkenntnis mit dem lebenspendenden Holz des Kreuzes in Verbindung gebracht, im zweiten wird dem tötenden Wasser der Sintflut das rettende Wasser der Taufe gegenübergestellt, im dritten schließlich wird die Beendigung der Feuersbrunst durch die Entstehung des Toten Meeres mit der Rettung im Jüngsten Gericht in Verbindung gebracht, wobei wegen des ins Tote Meer strömenden Jordan erneut die Taufe genannt wird.164 || 162 Vgl. Kirsch 1979, 40 Anm. 10, der Victorius vom generellen spätantiken Trend des Zerfallens in Episoden ausnimmt, weil dieser „durch die eindringliche und gleichartige Gestaltung der wesentlichen Gelenke des Erzählvorgangs, der Buchschlüsse, das Streben nach Ganzheit deutlich erkennen läßt.“ 163 So beobachtet in den „Überlegungen zur Bucheinteilung“ von Homey 1972, 169–189. 164 1,545–548: Adam und Eva zweifeln, … an cum via mortis amarae / per lignum ingruerit mundo populisque futuris, / possit adhuc aliquod per lignum vita redire (zu Vorbildern für das Schema lignum mortis – lignum vitae vgl. Homey 1972, 183 Anm. 36, ferner Arweiler 1999, 38 Anm. 96 und Hoffmann 2005, 41, die letzteren beiden mit Bezug auf die ähnliche Typologie in

Aspekte des Werkaufbaus | 63

Die ähnliche Gestaltung der Buchschlüsse trägt in mehrfacher Weise zur Einheit bei: Zunächst schließen die Schlusspartien aus Strafe und Typologie die einzelnen Bücher in effektvoller Weise ab.165 Darüber hinaus verbinden sie jedoch auch die drei Bücher untereinander, sodass diese wie drei Variationen über dasselbe Thema erscheinen, die alle in ähnlicher Weise auf Christus vorausdeuten. Die Tatsache, dass die Buchübergänge jeweils in der Lebensmitte eines ‚Helden‘ liegen, sichert dabei, dass das Werk – wie man es von einem Epos erwartet – als Kontinuum erscheint und nicht in Einzelbücher zerfällt.166 Wie Abraham unter den drei Hauptfiguren, so bilden die letzten Verse des dritten Buches den Höhepunkt unter den Buchschlüssen, weil hier über Christus (vgl. das Kreuz in B. 1) und die Jetztzeit (vgl. die Taufe in B. 2) hinaus das Jüngste Gericht genannt wird. Auch wenn sich die Erzählung entsprechend der biblischen Vorlage fortsetzen ließe, scheint das Werk so zu einem sinnvollen Abschluss gelangt zu sein.167 Die Korrespondenzen zwischen den einzelnen || Alc. Avit. SHG 3,20sq.). – 2,556–558: … tempore parvo, / ut nunc edocuit [sc. deus] populos sic posse necari, / ipse docebit aquis populos sic posse renasci (vgl. zur Verbindung von Sintflut und Taufe schon 1Petr. 3,20sq.; weitere Vorbilder bei Homey 1972, 183 Anm. 37, ausführlicher J. Daniélou, Liturgie und Bibel. Die Symbolik der Sakramente bei den Kirchenvätern, München 1963, 80–86). – 3,784–789: … an mage finem / designat tacitum mitis clementia poenae, / quod flammas compressit aquis, requiemque futuri / forsan iudicii calidis contraria prodit / materies sanctusque lacum Iordanis inundans, / qui primus hominum meruit peccata lavare? (vgl. zur Verbindung von Sodom und Gomorrha mit dem Endgericht schon Luk. 17,28–30; weitere Vorbilder bei Homey 1972, 184 Anm. 38. Der Jordan wird so betont, weil Jesus selbst sich darin taufen ließ). 165 So schon Homey 1972, 180: „Durch diese Endakzentuierung finden die einzelnen Bücher in formaler Hinsicht zur geschlossenen Einheit.“ Angemerkt sei, dass sich auch in der römischen Lehrdichtung eine besondere Gestaltung der Buchschlösse herausbildet, vgl. Pöhlmann 1973, 888–898 (und speziell zu Lukrez G. Müller, Die finalia der sechs Bücher des Lukrez, in: O. Gigon [Hg.], Lucrèce. Huit exposés suivis de discussions, Vandœuvres-Genève 1977, 197–231). 166 Als Gegenbeispiel sei Avitus’ Werk De spiritalis historiae gestis genannt, dessen Bücher zwar in sich geschlossen sind, aber vergleichsweise scharf abgegrenzt nebeneinanderstehen (ab B. 3 mit großen Zeitsprüngen: B. 3 behandelt die Bestrafung nach dem Sündenfall, B. 4 die Sintflut, B. 5 die Überquerung des Roten Meeres). Vgl. zum Zusammenhalt der Bücher auch Homey 1972, 181. 167 Hierin liegt m. E. auch das wesentliche Argument dafür, dass die Alethia im überlieferten Zustand vollständig ist und nicht ursprünglich vier Bücher umfasste und bis zum Tod Abrahams reichte, wie es in Gennad. Vir. ill. 61 heißt (vgl. oben Anm. 5). In diesem Sinne auch Homey 1972, 184, während Martorelli 2008, 13–16 es für möglich hält, dass Victorius in einem vierten Buch Abrahams weiteres Leben dargestellt und den vorigen Schilderungen von Fall und Verderben ein positives Gegenbild entgegengesetzt haben könnte (mit der BeinaheOpferung Isaaks als zentraler Episode und Abrahams Bund mit Gott statt einer Strafe als Abschluss). Auszuschließen ist dies wohl nicht, doch hat Victorius Abrahams Bund mit Gott m. E.

64 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Büchern bilden dabei eine Art verborgener interner Verweise, die die Episoden trotz wechselnder Protagonisten und zeitlicher Sprünge in Beziehung zueinander setzen. Für die makroskopische Ebene sind abschließend noch weitere durchlaufende oder wiederkehrende Themen zu erwähnen. Besonders augenfällig ist das Interesse an der kulturellen Entwicklung der Menschheit, das, wie in Kap. 2.2.3 genauer herausgearbeitet werden wird, weite Teile des Werks durchzieht.168 Ein weiteres Thema, das immer wieder eine Rolle spielt, ist die Wahrnehmung des Göttlichen, die Martorelli treffend als „Leitmotiv“ bezeichnet.169 Regelmäßig begegnet auch das Thema der göttlichen Güte und Fürsorge, die Victorius in seinen Kommentaren oft, besonders angesichts von göttlichen Strafmaßnahmen, betont und verteidigt.170 Schließlich wird der Bibeltext über die Buchenden hinaus regelmäßig typologisch auf Christus, den Neuen Bund oder die Endzeit gedeutet (vgl. die Behandlung der Prolepsen in Kap. 1.3.1.3). Zu diesen wiederkehrenden Themen kommen systematische Bezüge zu bestimmten dichterischen Vorbildern, vor allem zu Vergil und – wichtiger noch – zu Lukrez (vgl. die Analyse von Szenen und Themen in Kap. 2). Die genannten wiederkehrenden Themen und Bezüge regen den Rezipienten zusätzlich dazu an, auf buchübergreifende Korrespondenzen und Entwicklungslinien zu achten und tragen so weiter zur Einheit des Werks bei. Mikroskopisch: Verknüpfung der Episoden Das Bemühen um ein gewisses Maß an Einheit und Geschlossenheit spiegelt sich auch im mikroskopischen Bereich wieder, und zwar vor allem in der Verknüpfung der einzelnen Episoden.171 Victorius versucht mit verschiedenen

|| bereits im dritten Buch hinlänglich dargestellt, zumal auch die Geburt eines Sohnes schon durch die Prophezeiungen behandelt ist; überdies ist zu fragen, wie die eschatologische Typologie am Ende des dritten Buches noch übertroffen werden sollte. 168 Vgl. Roberts 1985, 193: „[Victorius’] concern for logical continuity beween episodes and his overriding theme of the development of human society suggest a concerted effort to counteract the episodic discontinuity of the Old Testament narrative that would otherweise disrupt epic unity.“ 169 Martorelli 2008, 196. Vgl. z. B. prec. 1–16; 2,42–53; 2,180–196; 3,95–118. 170 Vgl. z. B. schon prec. 49–51, im Kontext von Strafen besonders 2,284–318 (Kains Bestrafung und weiteres Leben als Beweis von Gottes Güte) und 3,289–298 (Gottes Güte in der Sprachverwirrung). 171 Ich gehe hier aus von Martorellis Kapitel „Organizzazione della materia: fulcri tematici e coesione tra gli episodi“ (S. 34–52), wo allerdings auch Techniken genannt sind, die lediglich

Aspekte des Werkaufbaus | 65

Techniken, Kohärenz zwischen aufeinanderfolgenden Erzähleinheiten herzustellen. Eine erste Kategorie von Verknüpfungen, die hier nur kurz betrachtet werden soll, bilden anaphorische (rückverweisende) Elemente am Beginn der neuen Episode. Die einfachste Form sind hierbei Pronomina (Demonstrativa oder Relativa bei relativischem Anschluss), die ein Element der vorangegangenen Episode aufnehmen und weiterführen.172 Darüber hinaus fallen in diese Kategorie Zeitangaben, die auf ein vorangehendes Ereignis Bezug nehmen und so eine (wenn auch oft nur lose) Beziehung zwischen zwei Episoden herstellen. Besonders oft verwendet Victorius am Beginn einer neuen Einheit Temporalsätze mit der Subjunktion postquam, die das letzte Ereignis zusammenfassen (meist mit der Subjunktion am Versanfang), oder Hauptsätze mit dem Zeitadverb interea, das die neue Episode mit der vorangehenden zeitlich parallelisiert (wobei interea meist ebenfalls am Versanfang steht). Für beide zuletzt genannte Überleitungsformeln finden sich auch im Epos zahlreiche Beispiele, sodass man von einer Aufnahme epischer Darstellungsformen sprechen kann.173 Eine elaboriertere Technik, die die Episoden stärker miteinander verbindet und darum eine genauere Betrachung lohnt, ist die Vorbereitung der neuen Episode am Ende des vorangehenden Abschnitts. Die Vorbereitung kann von sehr verschiedenem Umfang sein: Am einen Ende des Spektrums stehen einzelne in die Erzählung eingefügte Stichwörter, die am Beginn der neuen Episode aufgenommen werden, so etwa bei der Überleitung von Abrams Aufenthalt in Bethel (von Victorius mit Bethlehem identifiziert) zu seinem Zug nach Ägypten (3,365–367): … et linquenda novis habitacula ponit in arvis.

|| den Beginn einer neuen Episode markieren, ohne eine Verbindung zur vorigen herzustellen (z. B. rezeptionssteuernde Hinweise, vgl. S. 46f., oder geographische Angaben, vgl. S. 41f.). Ich behandle hier nur die tatsächlichen Überleitungstechniken, die eine Verbindung zwischen zwei Episoden herstellen, und bilde eigene Kategorien. 172 Vgl. Martorelli 2008, 50f., der 1,223; 3,584 (relativischer Satzanschluss) und 1,305. 418; 3,326 (Formen von hic) nennt. Vergleichbar ist der Gebrauch von talis in 2,252; 3,1 (Konnektor als Buchanfang); 3,60 sowie von iste in 3,210 (zur Wiederaufnahme der Erzählung nach der Digression). 173 Vgl. Martorelli 2008, 43–46. Postquam am Versbeginn zur Einleitung von Episoden oder Episodenteilen steht in 1,147. 434. 471; 2,6 (in anderer Stellung 1,411; 2,342), interea am Versund Episodenbeginn in 1,319; 3,415. 555. 683 (die häufigere Verwendung des nur schwach verknüpfenden interea in B. 3 deutet darauf hin, dass die Verbindungen zwischen den Episoden hier loser werden). Zur Verwendung beider Überleitungsformen im Epos siehe Martorelli 2008, 44 Anm. 5f. (Martorelli nennt in dieser Rubrik auch die Zählung der Schöpfungstage in B. 1, die aber mehr gliedernde als verbindende Funktion hat).

66 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

namque fame rursum sedem mutare coactus castra movet … … und setzt ins neue Gebiet eine bald zu verlassende Wohnstatt. Denn von Hunger erneut den Wohnsitz zu verlegen gezwungen, bricht er sein Lager ab …

Als Vorbereitung dient hier das bloße Gerundivum linquenda, das durch den nächsten Satz – und damit die nächste Episode – erklärt wird (vgl. namque).174 Etwas länger ist die Vorbereitung der Sintflutepisode am Ende des vorangehenden Passus über die Verderbnis der Menschen. Dort heißt es, Gott wolle angesichts der neuerlichen Verderbnis der Menschheit lieber alles zerstören … (2,380sq.) … quam non praecipiti terras submergere ponto rursus in antiquam mundo redeunte 〈figuram〉.175 … als die Erde nicht unter jähes Meer zu versenken, wobei die Welt zur alten Gestalt zurückkehren würde.

Wesentlich umfangreicher kann die Vorbereitung von Episoden in den deutenden Kommentaren werden, die sich an viele Episoden anschließen und die Victorius in einigen Fällen dazu nutzt, den logischen Zusammenhang zwischen den Episoden herauszuarbeiten. Ein markantes Beispiel ist die Überleitung von der ersten Beschneidung zum Besuch der drei Männer in Mamre (ich zitiere nur den Übergang, 3,632–637): iam non timor istud, sed sincerus amor famulique probatio plena est quod libet imperium placida sic mente subire, ut placeat iussisse deo. quippe antea tantum audiri solitus meritum post tale ministri iam patitur cerni …

635

|| 174 Vgl. Martorelli 2008, 48, der die Stelle zitiert und von „anticipazioni“ spricht. Martorelli nennt als weiteres Beispiel 3,111–117, wo ich aber keine Antizipation erkennen kann. Vergleichbar sind m. E. dafür 3,97–103, wo bei Noahs Tod durch die knappe Erwähnung seiner Zukunftskundigkeit das Thema der unmittelbar folgenden Digression vorweggenommen wird (conscia venturi resolutus pectora leto / cessit … / quippe datum culpa vacuis vitiisque remotis / … / omnia nosse simul …; Martorelli nennt die Stelle – m. E. unpassend – zusammen mit überleitenden Kommentaren auf S. 49 Anm. 21). 175 Wie genau der Anfang der neuen Episode gestaltet war, ist nicht mehr zu rekonstruieren, weil (vermutlich) mindestens zwei Verse ausgefallen sind (auch figuram ist lediglich eine konjekturale Ergänzung von Gagneius, vgl. Hovinghs Apparat).

Aspekte des Werkaufbaus | 67

Dies ist nicht mehr Furcht, sondern aufrechte Liebe und volle Zustimmung seitens des Dieners, dass er den Befehl in solcher Weise mit ruhigem Mut gerne auf sich nimmt, (635) dass es Gott gefällt, befohlen zu haben. Denn während er vorher gewöhnlich ja nur gehört wurde, lässt er es nunmehr nach einem solchem Verdienst seines Knechtes zu, 〈auch〉 gesehen zu werden …

Nach Victorius hat also Abrahams Gehorsam Gott dazu bewogen, ihm nun auch bildlich zu erscheinen, d. h. er stellt einen kausalen Nexus zwischen den Episoden her (vgl. quippe).176 In noch größerem Umfang wendet Victorius die Technik verbindender Kommentare im letzten Teil der Kainsgeschichte an, wo er eine Reihe von Einzelnotizen – Kains Ehe, den Bau einer Stadt und seinen Tod – darzustellen hat (vgl. Gen. 4,17. 23sq.). Selbst hier gelingt es ihm, Kohärenz herzustellen, indem er zunächst die Strafe als Ausdruck von Gottes Fürsorge deutet (2,284–300) und anschließend die weiteren Etappen in einer Mischung von Kommentar und Erzählung als Fortsetzung ebendieser Fürsorge referiert (2,300–318).177 Ergänzend sollen nun noch zwei Verbindungstechniken betrachtet werden, die sich mit dem Stichwort ‚Verschleierung des Übergangs‘ zusammenfassen lassen. Wie bereits das letzte Textbeispiel gezeigt hat, kann der Übergang zwischen zwei Episoden bei Victorius mitten im Hexameter liegen (dort in V. 635), was im lateinischen Epos, zumal dem nachvergilischen, an sich nichts Ungewöhnliches ist. Bemerkenswert ist solch ein Übergang im Vers jedoch, wenn die logische Verbindung eher lose ist. Als auffälliges Beispiel sei das Ende der Digression des zweiten Buches und die Wiederaufnahme der Erzählung zitiert (2,195–198): summo ergo hoc limite veri haereat. augustis quod pulsus sedibus Adam, nullum aliud prius officium quam coniuge dignum egit …

195

Also bleibe er auf diesem höchsten Weg der Wahrheit. Als Adam vom erhabenen Wohnsitz vertrieben worden war, tat er keine andere Pflicht zuvor als die, die dem Gatten zukommt …

|| 176 Vgl. Martorelli 48f., der die Stelle als Beispiel eines „commento ‘connettivo’“ nennt; weitere überleitende Kommentare nennt Martorelli in Anm. 21. 177 Die Passage wäre in Martorellis Aufzählung (vgl. die vorangehende Anmerkung) hinzuzufügen.

68 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Auch wenn Victorius mit dem wohl temporal178 zu verstehenden quod-Satz auf die Vertreibung aus dem Paradies zurückverweist, besteht ein deutlicher Bruch zwischen dem argumentativen Schlussteil der Digression und der biblischen Erzählung, die Victorius nun in V. 196 wiederaufnimmt. Durch die Stellung im Vers fällt dieser Bruch dem Leser jedoch weniger auf, ja die meisten Leser dürften frühestens beim letzten Wort des Verses (Adam) merken, dass überhaupt ein Übergang stattgefunden hat.179 Wie geschickt der Übergang verdeckt ist, zeigt sich auch an der Unsicherheit moderner Editoren und Übersetzer, wo hier ein Absatz zu setzen ist.180 Noch weiter geht die Verschleierung des Übergangs an einigen Stellen, wo Victorius die neue Episode mitten im Satz beginnen lässt, sodass sie schon sprachlich nicht von der vorangehenden zu lösen ist. Exemplarisch sei die Verbindung der Melchisedek-Episode mit den folgenden Verheißungen an Abram genannt (3,469–471): et accepto maiora ad praemia cursu voce sacerdotis tanti bona cuncta precantis, 470 hoc famulum alloquii dominus quoque munere donat … Und nachdem er den Weg zu noch größerem Lohne erfahren hat (470) durch die Stimme des so großen Priesters, der um alles Gute betete, schenkt auch der Herr dem Knecht diese Gabe eines Gespräches …

|| 178 Vgl. zum temporalen quod HSz 5802–5812, v. a. 5811; anders Papini (und nach ihr D’Auria 2012, 96 Anm. 16), die das quod faktisch versteht und den Satz als Nebensatz vom vorangehenden Hauptsatz abhängig macht. 179 Vgl. auch die Beschreibung von Martorelli 2008, 50.: „Il passagio … avienne nello stesso verso stemperando il repentino trapasso concettuale“. Als weitere Beispiele für Übergänge im Vers nennt Martorelli 1,337. 411; 2,196. 342; 3,326. 388. 180 Schenkl und Hovingh, die generell keine Absätze im Vers setzen, markieren erst V. 203 als neuen Abschnitt. Papini versteht das quod faktisch, macht den Satz als Nebensatz vom vorangehenden Hauptsatz abhängig (was ein Komma statt eines Punktes in V. 196 erfordern würde), und macht den Absatz in V. 195 (vor summo; der Übergang läge damit etwas früher, aber ebenfalls im Vers, und wäre trotz des verbindenden ergo sachlich recht lose). Nur Staat macht in seiner Übersetzung einen Absatz in V. 196 (zwischen haereat und angustis). Angemerkt sei, dass das Ende der Digression des dritten Buches weitaus deutlicher markiert ist (sed redeo ad summam, qua sum degressus …, 3,210). – Die Setzung von Absätzen ist übrigens auch sonst nicht selten zweifelhaft, weil viele Übergänge fließend sind (bezeichnenderweise setzt Papini bei fast keinem der in diesem Teilkapitel im Haupttext zitierten Übergänge einen Absatz; vgl. auch Green 2010, 55 über den unklaren Beginn der Sintflutepisode).

Aspekte des Werkaufbaus | 69

In den ersten beiden Versen, also dem ablativus absolutus, wird das Ende der Melchisedek-Episode abgehandelt, der dritte eröffnet bereits die Verkündigungsszene und leitet Gottes Rede an Abram ein. Die sachliche Verbindung besteht lediglich darin, dass in beiden Fällen jemand mit Abram spricht (dies wird durch quoque betont); die Schwäche dieser Verbindung wird dadurch ausgeglichen, dass der Übergang im Satz liegt. Die beiden Episoden erscheinen somit eng verbunden, obwohl es sich eigentlich um wenig mehr als eine bloße Aufeinanderfolge von Ereignissen handelt.181 Zusammenfassung Sowohl bei der Gesamtdisposition des Stoffes als auch bei der Verzahnung der einzelnen Episoden zeigt Victorius das Bemühen, Zusammenhalt und Einheit herzustellen und sich so an die epische Einheit anzunähern. Alles in allem erreicht er dadurch ein Maß an Geschlossenheit, das angesichts seiner Stoffwahl und der generellen Dissoziationstendenz des spätantiken Epos durchaus beachtlich ist. In einigen Aspekten kommt er sogar klassischen Vorbildern nahe: Die Korrespondenzen zwischen den einzelnen Büchern lassen etwa bis zu einem gewissen Grad an Vergils Aeneis denken, die sich ja ebenfalls durch zahlreiche interne Korrespondenzen auszeichnet und sich ebenfalls (zumindest ist dies eine Möglichkeit) in drei große Teile gliedern lässt, in denen allerdings immer der gleiche Held im Mittelpunkt steht.182 Näher kommt die Alethia in ihrer Stofforganisation jedoch einem anderen klassischen Werk, das loser strukturiert ist, nämlich Ovids Metamorphosen, die mit der sie prägenden variatio generell || 181 Ein weiterer auffälliger Übergang im Satz liegt in 1,395 vor, wo Victorius nach einer langen Parenthese, in der er die Möglichkeit ewigen Lebens im Paradies ausmalt (Beinahe-Episode, vgl. unten Kap. 1.3.1.2), mit einem ni-Satz die Erzählung vom Sündenfall beginnen lässt. Der Übergang ist so zwar durch den Gegensatz der Schilderung und der einsetzenden Sündenfallerzählung deutlich spürbar, zugleich sind die Episoden jedoch untrennbar miteinander verbunden. 182 Ob sich Victorius dieser Gliederungsmöglichkeit bewusst war, ist freilich unsicher; Serv. Aen. 7,1, nennt nur die Einteilung in zwei Hälften. In der modernen Forschung ist die Binnenstruktur der Aeneis vielfach behandelt worden, vgl. z. B. den Überblick über intratextuelle Beziehungen bei A. J. Boyle, The canonic text. Virgil’s Aeneid, in: ders. (Hg.), Roman epic, London/New York 1993, 79–107, hier 90–93. Martorelli 2008, 197 geht so weit, die dreiteilige Struktur der Alethia unmittelbar mit der der Aeneis zu parallelisieren. Adam entspricht demnach Aeneas auf seinen Irrfahrten (Aen. 1–4), Noah Aeneas auf dem Weg zur neuen Zivilisation in Latium (Aen. 5–8), Abraham Aeneas als Kriegsheld und Weisen (Aen. 9–12). Die Parallelisierung ist fraglos reizvoll, m. E. aber nicht hinreichend durch konkrete Bezüge belegt und wird auch von Green 2010, 63f. infrage gestellt.

70 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

großen Einfluss auf die spätantike Dichtung hatten.183 Auf die innere Verwandtschaft zwischen Ovid und Victorius hat bereits Homey hingewiesen, ohne jedoch zu klären, wie weit die Übereinstimmungen im Einzelnen gehen.184 Dieser Frage soll nun zum Abschluss dieses Teilkapitels nachgegangen werden. Zusatz: Vergleich mit Ovids Metamorphosen Die grundlegende Gemeinsamkeit liegt auf der Hand: Auch Ovid wählt einen Stoff, der mit dem Gebot epischer Einheit kaum vereinbar scheint, da er eine Vielzahl von Episoden vom Weltbeginn (wie bei Victorius)185 bis zur Gegenwart (also sogar noch weiter als bei Victorius) umfasst. Zusammenhalt stiftet bei Ovid natürlich zunächst das gemeinsame Thema der Metamorphose, das sich bis zu einem gewissen Grad mit Victorius’ wiederkehrenden Handlungsschemata und Themen vergleichen lässt. Darüber hinaus verwendet Ovid, ähnlich wie später Victorius, große Mühe darauf, die Übergänge zwischen den Teilerzählungen so fließend wie möglich zu gestalten, um seinem im Proöm formulierten Anspruch des perpetuum carmen gerecht zu werden. Dabei lassen sich bereits einige der Techniken greifen, die wir eben bei Victorius sehen konnten, von der gehäuften Verwendung von Demonstrativa (und relativischen Anschlüssen) am Episodenbeginn über verschleiernde Überleitung im Vers (vielleicht sogar im Satz) bis hin zu Erzählerkommentaren, die den Übergang an Stellen gewährleisten, wo keine zeitliche, räumliche oder personelle Verknüpfung vorliegt.186 Auffällig ist

|| 183 Vgl. Roberts 1989, 62: „In the fourth century the principle of Ovidian variatio holds sway, no longer challenged by any residual classicism and generalized to all genres of poetry.“ 184 So von Homey 1972, 81, der lediglich das Übergreifen einer Teilhandlung von einem Buch ins nächste nennt. 185 Es sei daran erinnert, dass Victorius mit dem ersten Satz des ersten Buches (ante …, Aleth. 1,1) den Anfang der Weltentstehungsdarstellung bei Ovid (ante …, Met. 1,5) aufnimmt, vgl. unten S. 232f. 186 Vgl. zu Demonstrativa und relativischen Anschlüssen z. B. Met. 1,163 (Überleitung zum Götterrat mit quae); 1,750 (Einleitung der Phaethonepisode mit huic); 2,367 (Einleitung der Kyknosepisode mit huic); 2,833 (Einleitung der Europaepisode mit has); im sonstigen Epos begegnen Demonstrative und relativische Anschlüse zwar oft nach wörtlicher Rede (deren Ende oft auch einen gewissen Einschnitt bildet), dagegen selten bei ‚Szenenwechseln‘ wie hier. Übergänge im Vers begegnen z. B. Met. 1,750 (zur Phaethonepisode); 5,268 (zur Pyreneusepisode). Als Beispiel für eine Überleitung durch einen Erzählerkommentar sei Met. 2,532–537 genannt, wo die Kallisto- und die Koronisepisode durch den Hinweis verbunden werden, dass die zuletzt als Zugtiere der Juno genannten Pfauen ebenso erst kürzlich bunt geworden sind, wie der nachfolgend zu behandelnde Rabe schwarz geworden ist: habili Saturnia curru, / ingreditur liquidum pavonibus aethera pictis, / tam nuper pictis caeso pavonibus Argo, / quam tu

Aspekte des Werkaufbaus | 71

auch, dass schon Ovid gerne eine Teilhandlung von einem Buch ins nächste hinüberreichen lässt, um ein Zerfallen in Einzelbücher zu vermeiden.187 Schließlich ist nicht zu vergessen, dass auch Ovid Themen des Lehrgedichts (v. a. in B. 1 und B. 15) und des Epos in einem durchlaufenden Werk miteinander verbindet, wie es auch Victorius tut. Freilich bestehen bei den Verknüpfungs- und Vereinheitlichungsbemühungen auch klare Unterschiede zwischen Victorius und Ovid. So hat etwa die Einflechtung von Binnenerzählungen, also gleichsam die hypotaktische Form der Episodenverbindung, die für Ovid so typisch ist, fast keine Parallelen bei Victorius, und dies liegt vielleicht nicht nur daran, dass der Bibeltext selbst keine solchen Binnenerzählungen enthält (was Victorius ja nicht davon hätte abhalten müssen, selbst einzelne biblische Episoden auf diese Weise in die Gesamthandlung einzubetten): Die Vielzahl der Sprecher in den Metamorphosen stellt naturgemäß den Wahrheitsanspruch des Erzählten infrage, und da Victorius in seinem Werk, das schon durch den Titel Anspruch auf Wahrheit erhebt, keine Zweifel an der Zuverlässigkeit des Gesagten aufkommen lassen darf, ist es konsequent, dass er kaum weitere erzählende Stimmen neben seinem auktorialen Erzähler duldet (Ausnahmen bilden allenfalls Adams rekapitulierendes Gebet und Gottes Prophezeiungen). Andererseits sind die Typologien am Buchende, die zur Stringenz der Alethia beitragen, eine spezifisch christliche Zutat, die kein Vorbild bei Ovid hat, wie überhaupt die auffällige und einheitliche Markierung der Buchenden eine Abweichung von Ovid ist.

|| nuper eras, cum candidus ante fuisses, / corve loquax, subito nigrantis versus in alas. / nam fuit haec quondam niveis argentea pennis / ales … Der Übergang liegt hier im ersten Satz (am ehesten nach V. 533) oder, wenn man den gesamten Satz als Vorbereitung der folgenden Episode verstehen will, nach V. 535, wobei die neue Episode mit nam als Erläuterung des vorangehenden Satzes eingeführt würde. Beides (Übergang im Satz und Andeutung und Anschluss mit nam, quippe o. Ä.) tritt, wie oben ausgeführt, auch bei Victorius auf. Vgl. zur Verknüpfungstechnik die immer noch treffende Formulierung bei W. Kraus, Art. „Ovidius Naso“, RE 18.2, Stuttgart 1942, 1910–1986, hier 1943: „Die einzelnen Erzählungen und Erzählungsreihen zu verknüpfen hat der Dichter viel Kunst und, wenn man so will, Künstelei aufgeboten. Wo die persönlichen Beziehungen, die Übergänge durch räumliches oder zeitliches Zusammentreffen versagen, greift er zu ideellen Zusammenhängen der Analogie und Antithese, die nicht immer in das Bewußtsein von erzählenden Personen gelegt, sondern vom Dichter selbst ausgesprochen werden …“. Vgl. auch Rüpke 1998, 147f., der ebenfalls die Künstlichkeit gewisser Übergänge betont. 187 Vgl. z. B. das Hinüberreichen der Phaethonhandlung von B. 1 auf B. 2, der Europahandlung von B. 2 auf B. 3, der Bacchushandlung von B. 3 auf B. 4 usw. (vgl. auch Rüpke 1998, 145). Auf die Gemeinsamkeit weist auch Homey 1972, 81 hin.

72 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Damit verbunden sind Unterschiede in der inneren Haltung: Bei Victorius ist mit dem Streben nach epischer Einheit das Anliegen verbunden, die Geschichte als sinnvollen und zielgerichteten Prozess erkennbar werden zu lassen, der seit dem Sündenfall auf die Erlösung durch Christus zuläuft und vorausweist. Von einem solchen theologisch-teleologischen Geschichtsbild ist Ovid weit entfernt. Zwar stehen am Ende seines Werks Caesar und Augustus, doch hat es nicht den Anschein, dass Ovid hierin den Zielpunkt der erzählten Geschichte sieht, beruht diese doch auf dem Gedanken des unaufhörlichen Wandels – wenn man denn überhaupt ein philosophisches Konzept hinter der Fülle oft parodistisch anmutender Geschichten sehen will.188 Die Alethia ähnelt in dieser Hinsicht eher Vergils Aeneis, die viel deutlicher auf ein Ziel hin angelegt ist, nämlich die augusteische Herrschaft im noch zu gründenden Rom. Inwieweit die Ausblicke auf eine Zeit nach der Erzählung bei Vergil und Victorius vergleichbar sind, soll in einem eigenen Teilkapitel untersucht werden (Kap. 1.3.1.3). Hier kann festgehalten werden, dass die Alethia im Hinblick auf die Gesamtkomposition näher an Ovids Metamorphosen als an den typischen Vertretern des Epos und des Lehrgedichts steht, da beide einen höchst heterogenen Stoff durch besondere kompositorische Finessen, die sich teilweise erstaunlich ähneln, zu einer Einheit zusammenzufügen versuchen.

1.2 Präsenz und Verhalten des Erzählers 1.2.1 Beteiligtes Erzählen Nach verbreiteter Auffassung besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Epos und Lehrgedicht darin, dass der epische Erzähler sich mit eigenen Kommentaren weitgehend zurückhält und als eigene Figur kaum hervortritt, während der Sprecher des Lehrgedichts sich fast durchgehend als denkende und

|| 188 Hier ist die Gesamtdeutung der Metamorphosen berührt, die naturgemäß umstritten ist (vgl. die Zusammenfassung bei Rüpke 1998, 138–140). Ergiebig für einen Vergleich mit der Alethia sind Ansätze, die den Schwerpunkt auf den ernsthaften philosophischen Gehalt der Metamorphosen legen (meist unter Berufung auf die Pythagorasrede in B. 15; stellvertretend genannt sei H. Dörrie, Wandlung und Dauer. Ovids „Metamorphosen“ und Poseidonios’ Lehre von der Substanz, AU 4 [1959], 95–116). Demnach ließen sich sowohl die Metamorphosen als auch die Alethia in ihrer Gesamtheit als Gedichte zur Weltdeutung verstehen, die jedoch – explizit durch die vorgetragenen Ansichten und implizit durch die narrative Struktur – einander konträre Konzepte propagieren.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 73

urteilende Person bemerkbar macht.189 So nützlich diese Aussage zur Kontrastierung beider Gattungen ist, so sehr bedarf sie im Hinblick auf das Epos einer Differenzierung. Tatsächlich ist auch der epische Erzähler nie völlig unbeteiligt und unsichtbar, und im Laufe der Gattungsentwicklung wird ein emotional engagierter und deutlich fassbarer Erzähler sogar zum Normalfall. In diesem Teilkapitel soll es darum gehen, wie Victorius sich mit seiner Erzählerfigur190 zur epischen Tradition stellt, bevor in den nächsten beiden Teilkapiteln auch das Verhältnis zum Lehrgedicht in den Blick genommen wird. Vor den Überlegungen zu Alethia sei kurz an die Entwicklung der Erzählerfigur im antiken Epos erinnert.191 Schon der homerische Erzähler durchbricht gelegentlich die epische Objektivität durch Formulierungen in der ersten oder zweiten Person sowie durch wertende oder reflektierende Einschübe, insgesamt wahrt er jedoch eine große Distanz zum Geschehen.192 Bei Apollonios Rhodios rückt das Erzähler-Ich etwas weiter in den Vordergrund, teils durch Reflexionen zum Erzählvorgang, teils durch typisch alexandrinische gelehrte Kommentare,

|| 189 So z. B. Pöhlmann 1973, 836: „Auf der Bühne des Epos agieren nebeneinander der epische Erzähler – der sich als Person möglichst im Hintergrund hält – und die Vielfalt der handelnden Personen. Dagegen steht im Lehrgedicht die Figur des Dichter-Lehrers unübersehbar im Vordergrund …“ Vgl. auch die bei Effe 2004, 10 Anm. 3 zitierten Meinungen. Streng genommen geht es hier um zwei verschiedene Phänomene: einerseits die Präsenz, andererseits die Objektivität des Erzählers; da beide Aspekte jedoch untrennbar miteinander verknüpft sind, sollen sie in diesem Teilkapitel zusammen behandelt werden. 190 Ich spreche der Einfachheit halber vom Erzähler, auch wenn die Alethia nicht vollständig aus Erzählung besteht. Vorausgeschickt sei noch, dass der Erzähler im Falle der Alethia nicht sicher vom realen Autor Victorius zu unterscheiden ist (jedenfalls trifft der Erzähler keine Aussagen über sich selbst, die auf den Autor nachweisbar nicht zutreffen). Wenn ich in den folgenden drei Teilkapiteln trotzdem konsequent vom Erzähler spreche, so liegt dies daran, dass es hier um die literarische Machart, nicht um den realen Autor geht. 191 Die Entwicklung ist ausführlich dargestellt bei Effe 2004, der die Herausbildung einer (in Anlehnung an Franz K. Stanzel so genannten) ‚auktorialen‘ Erzählweise von Homer bis zu den flavischen Epikern verfolgt. Erwähnt sei außerdem der knappere, dafür aber die neuere Narratologie stärker berücksichtigende Vergleich der Erzählerfiguren des Homer, Apollonios Rhodios und Vergil bei Horstmann 2014, 26–34. Vgl. auch Herzog 1975, 69–97, der die Veränderung der Erzählweise am Beispiel von Todesszenen bei Vergil, Silius Italicus und Juvencus untersucht und mit den Begriffen „primary“ bzw. „secondary epic“ beschreibt (unter der Ersteren versteht er vereinfachend „die programmatisch erzählerlose, anonyme Epik bis zur vergilischen Form“, 98). 192 Vgl. Effe 2004, 16–23 und Horstmann 2014, 28–30 (jeweils mit weiterer Literatur).

74 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

zeigt aber immer noch selten emotionale Beteiligung.193 Dies ändert sich mit Vergil, bei dem Empfindungen eine größere Bedeutung gewinnen, und zwar einerseits, insofern sich der Erzähler in seine Figuren einfühlt, andererseits, indem er eigenen Gefühlen und Gedanken Ausdruck verleiht.194 Vollends dringt die emotionale Subjektivität schließlich bei Lukan vor, dessen Erzähler fast immer als urteilende und wertende Instanz präsent ist und sich teils mit sachlichen Reflexionen, öfter aber noch mit pathetischen Ausrufen, Lobpreisungen und Verurteilungen zu Wort meldet.195 Die flavischen Epiker zeigen gegenüber Lukan zwar teilweise klassizistische Tendenzen, sind aber von seiner Erzählweise beeinflusst, und auch die nach längerer Unterbrechung neu einsetzende spätantike Epik, und zwar sowohl die paganen, überwiegend panegyrischen, als auch die christlichen, meist biblisch grundierten Werke, sind insgesamt durch eine starke Erzählerpräsenz geprägt.196 Angesichts dieser Entwicklung überrascht es nicht, dass auch in der Alethia ein überaus präsenter und engagierter Erzähler am Werk ist, der sich auch nach der precatio, in der er natürlich besonders deutlich hervortritt, unablässig mit Kommentaren und Bewertungen in die Erzählung einmischt, hinter denen die eigentliche Erzählung bisweilen in den Hintergrund rückt. Dabei lassen sich verschiedene Erzähl- und Kommentierhaltungen beobachten. Sachliche Kommentare Ein erstes Mittel, mit dem der Erzähler sich regelmäßig zu Wort meldet, sind sachlich-nüchterne Kommentare zur Erläuterung oder Vertiefung der Erzählung. Ich zitiere exemplarisch die theologischen Erläuterungen zum siebten Tag, an dem Gott von der Schöpfung ruht (1,174–183):

|| 193 Vgl. Effe 2004, 24–31 und Horstmann 2014, 31f. (mit weiterer Literatur). Ich übergehe die bei Apollonios aufkommende und bei Ovid weitergeführte Haltung ironischer Naivität, die für Victorius keine Bedeutung hat. 194 Vgl. Effe 2004, 37–46 und Horstmann 2014, 33f. (mit weiterer Literatur); erwähnt seien auch die ausführlicheren Darstellungen von Williams 1983, 164–214 und Suerbaum 1999, 357– 375 (dort auch der Begriff „beteiligtes Erzählen“, 357) sowie die immer noch treffenden Bemerkungen von Heinze 1915, 370–373. 195 Vgl. Effe 2004, 61–72 (mit weiterer Literatur); erwähnt sei außerdem das Kapitel „Narrative Voices“ bei Roche 2009, 60–64 sowie die zusammenfassende Darstellung zur „Narrator’s Voice“ in S. Bartsch, Lucan, in: Foley 2005, 492–502, hier 498f. 196 Vgl. Herzog 1975, 97–99 und Hecquet-Noti 2009 zur Bibelepik sowie Hofmann 1988, 117– 125 zur spätantiken paganen Epik (an Herzog anknüpfend).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 75

nam hoc quoque plenum est virtutis cessasse deum, posuisse labores. formam progenitis, qua praemia digna pararent, bis ternis satis est dominum spectasse diebus; septima lux docuit veneranda exempla quietis, quam sperare iubet populos pro munere vitae semper post operum tribuendam facta piorum. haec quoque lux illa est, dira qua Tartara Christus solvit et evicto reditum patefecit Averno, dum requiescit humi patriam rediturus in aulam.

175

180

Denn auch das ist voller (175) Tatkraft, dass Gott aufgehört hat, die Arbeiten niedergelegt hat. Als Vorbild für die Geschöpfe, um würdigen Lohn zu erwerben, ist es genug, den Herrn sechs Tage gesehen zu haben. Der siebte Tag hat das verehrungswürdige Beispiel der Ruhe gelehrt, und er befiehlt den Menschen zu hoffen, dass statt der Gabe des Lebens (180) für immer Ruhe gewährt werden wird,197 nachdem sie frommeWerke getan haben.198 Dies ist auch jener Tag, an dem Christus den schrecklichen Tartarus zerstört hat und nach dem Sieg über den Avernus den Rückweg aufgetan hat, während er im Boden ruhte, bestimmt, zum Hof seines Vaters zurückzukehren.

Zusätze dieser Art sind zweifelsohne von der christlichen Exegese beeinflusst. Überdies bilden sie jedoch ein lehrhaftes Element in der Alethia, tragen also zur didaktischen Ausrichtung des Werks bei, wenngleich in den zitierten Versen – anders als an manchen anderen Stellen des Werks – kein inhaltlicher Bezug zum paganen Lehrgedicht festzustellen ist. Davon abgesehen lassen sich die Verse jedoch auch aus der Entwicklung des Epos erklären. Der Erzähler entfaltet in den zitierten Versen sein Wissen über die Bedeutung des siebten Tages, ohne jedoch besondere Gefühlsregungen zu zeigen. Derartige sachbezogene Erzählerkommentare kommen, wie eingangs erwähnt, auch im Epos vor, in größerem Umfang zuerst bei Apollonios Rhodios, besonders oft dann bei Lukan (neben den für Lukan typischen emotionaleren Einschaltungen). Gewiss geht die Dichte und Länge der Kommentare in der Alethia über alles im Epos Übliche hinaus, doch ist festzuhalten, dass sich die erläuternden Zusätze durchaus als Fortführung und Ausweitung im Epos angelegter Möglichkeiten betrachten lassen.199

|| 197 Wörtl. etwa „der Ruhe …, auf deren ewige Zuteilung … er den Menschen zu hoffen befiehlt“. Mit der Ruhe ist hier das ewige Leben gemeint, das die Menschen anstelle des irdischen Lebens erhalten (pro munere vitae; anders Papini, die übersetzt: „in virtù del dono della vita“). 198 Wörtl. „nach den Taten frommer Werke“ (genetivus definitivus oder identitatis). 199 Weitere Beispiele aus der Alethia erübrigen sich angesichts der Häufigkeit entsprechender Kommentare. Dass es sich auch bei wenig emotional wirkenden Erläuterungen durchaus um eine Einmischung des Erzählers handelt, zeigt 3,523, wo ein nüchterner auktorialer Zusatz

76 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Einfühlung in Figuren Freilich verhält sich Victorius’ Erzähler keineswegs immer so nüchtern und distanziert zu seinem Stoff. In der Mehrzahl der Fälle zeugen die auktorialen Zusätze von großer innerer Nähe zum Geschehen und von starker emotionaler Beteiligung. Ich betrachte zunächst die Fälle, in denen der Erzähler in die Gefühlswelt seiner Figuren eindringt. Geradezu klassisch ist in dieser Hinsicht die Darstellung von Adams und Evas Gefühlen nach dem Sündenfall (1,442–446): quid agant, qua crimen inustum seque ipsos fugiant? cuperent, si forte paterent, condere se terris: adeo contermina poenae culpa suae est, ut iam miseros mortale paventes mortis imago iuvet.

445

Was sollen sie tun, wie dem eingebrannten Vergehen und sich selbst entfliehen? Sie wünschten, wenn sie etwa offen stünde, sich in der Erde zu bergen: So nahe liegt (445) die Schuld an der zugehörigen Strafe, dass nunmehr den Armen, die Angst vor dem Todeslos200 haben, der Gedanke an den Tod hilft.

Der Erzähler beschreibt die Lage zunächst unmittelbar aus Adams Sicht – mit Genette ist also von interner Fokalisation zu sprechen – und greift hierfür zum Mittel der erlebten Rede, das im Epos zuerst von Vergil systematisch eingesetzt wurde.201 Ab V. 444b wechselt er zur Nullfokalisierung, verweilt jedoch bei den Gedanken und Gefühlen seiner Protagonisten, die er selbst mitzuempfinden scheint. Stellen, an denen der Erzähler sich so vollständig wie am Beginn der zitierten Verse in eine Figur hineinversetzt, begegnen im weiteren Werk selten.202 Häufig sind jedoch Passagen, in denen der Erzähler zwar von seiner all|| (freilich keine Deutung, sondern eine Mutmaßung über den Inhalt eines Traums) mit dem Einschub credo versehen ist. 200 Zur Verwendung von mortale im Sinne von sors mortis vgl. ThLL s. v. mortalis p. 1413,69– 72, wo auch die vorliegende Stelle genannt ist. 201 Zur Entwicklung der Technik U. Auhagen, Heu quid agat? Erlebte Rede bei Valerius Flaccus und seinen Vorgängern, in: U. Eigler/E. Lefèvre (Hgg.), Ratis omnia vincet. Neue Untersuchungen zu den Argonautica des Valerius Flaccus, München 1998, 51–65. Demnach wird erlebte Rede nach Vergil häufiger bei Ovid und vor allem bei Valerius Flaccus eingesetzt; Statius bietet weniger Belege, Lukan und Silius Italicus gar keine. Vgl. auch die Zusammenfassung und Problematisierung von Auhagen bei Horstmann 2014, 33f. 65–69. 202 Vgl. immerhin 2,19–23 (das Paradies in der Rückschau Adams und Evas: nunc honor ille sacri nemoris maiore sereno / inradiat, nunc divitias cumulatius edit / silva beata suas …) und vielleicht in 2,532–534 (die Erde nach der Sintflut, anscheinend mit Noahs Augen gesehen: noto fulgentior ortu / et mage sol rutilus, ridet maiore sereno / laeta poli facies …).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 77

wissenden Warte spricht, aber vorwiegend am Innenleben der Figuren interessiert ist und so den Eindruck einer großen Nähe zum Geschehen erzeugt.203 Die Fokussierung auf die inneren Vorgänge kann dabei so weit gehen, dass die äußere Handlung dahinter zurücktritt. Als extremes Beispiel sei ein Teil der Erzählung von Abrams Aufenthalt in Ägypten zitiert (3,372–382): denique mox Pharao radiantis imagine formae ductus inardescit thalamosque et foedera certe lege parat; sed tota pavor formidine mersa ingruit et subito quatit improba corda tumultu exterretque animos niger horror et implicat artus, ut rex sacrilegae gentis tam tristia vota sentiret damnasse deum, qui tale profecto consilium infudit famulis, ut barbarus hostis tutius esse virum Sarae tum nosceret Abram, cum foret expertus, quam non impune profano appeteret ferro, quem nec viduare liceret.

375

380

Darauf nun entbrennt bald der Pharao, durch das Bild der strahlenden Schönheit verführt, und bereitet Ehe und sicheres Bündnis vor nach Gesetz; doch Angst befällt ihre ganz in Schrecken versunkenen (375) boshaften Herzen204 und schlägt sie mit plötzlichem Aufruhr; schwarzes Grauen erschreckt ihr Gemüt und hemmt ihre Glieder, auf dass der König des frevlerischen Volkes spürt, dass Gott derart unselige Wünsche verdammt; denn dieser gab seinen Knechten in der Tat solch einen Plan ein, damit der barbarische Feind (380) dann auf sicherere Weise merkte, dass Abram Sarais Gemahl sei, nachdem er erfuhr, dass er ihn nicht ohne Strafe mit gottlosem Mordstahl angreifen würde, ihn, den er auch nicht zum Witwer machen durfte.

Der Erzähler verlagert seinen Standpunkt hier zwar nicht so nahe an die Figur wie in der zuletzt zitierten Stelle, bemerkenswert ist jedoch, dass die Innenschau (V. 374b–376) und die Deutung der Gefühle (V. 377–382) die äußere Handlung weitgehend verdrängen (übrig bleiben nur die kurze Konstatierung des Hochzeitsplans, V. 372–374a, und nach den zitierten Versen die Erwähnung der Rückgabe Saras, V. 383sq.). Der Erzähler richtet den Blick vom konkreten Geschehen weg auf die psychologischen Vorgänge und ihre Bedeutung, womit er die Tendenz zur Psychologisierung auf die Spitze treibt.

|| 203 Ich erwähne als besonders auffällige Beispiele 1,537–547 und 2,537–541, wo trotz indirekter Rede in sehr eindrücklicher Form die Gedanken der Figuren wiedergegeben sind. 204 Die Plurale erklären sich dadurch, dass Gott nach Gen. 12,17 „den Pharao und sein Haus“ heimsucht.

78 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Werturteile Noch deutlicher tritt der Erzähler als denkende und fühlende Person in wertenden Zusätzen hervor, die sich in der Alethia überaus häufig finden und die den Einfluss von Lukans drastischer Emotionalität erkennen lassen. Die Werturteile können verschiedene Gestalt annehmen: Oft handelt es sich bloß um knappe adjektivische Qualifizierungen, die aber durchaus scharf ausfallen können, etwa wenn der Pharao in der zuletzt zitierten Textstelle als rex sacrilegae gentis oder seine Wünsche als tam tristia vota bezeichnet werden (beides V. 377). Daneben begegnen jedoch auch zahlreiche längere Wertungen, die oft Zeichen hoher Emotionalität tragen. Bezeichnenderweise bittet der Erzähler vor dem ersten wertenden Zusatz sogar um Erlaubnis dafür, „den schändlichen Fall der Alten zu beweinen“ (fas fuat … turpes veterum deflere ruinas, 1,406), bekennt sich also explizit zu einer subjektiv-emotionalen Erzählweise, wofür sich in der antiken Epik übrigens ebenfalls vor allem bei Lukan Vorbilder finden.205 a) Lob Ich nenne zunächst ein Beispiel für eine ausführlichere positive Bewertung. Im Anschluss an die Erzählung von Kains Brudermord wird beschrieben, wie Gott Kain nicht nur am Leben erhält und mit seinem Zeichen schützt, sondern ihm sogar eine Frau gibt, die ihn tröstet und von Gott das Nötige erbittet (2,300– 306). Hierauf wendet sich der Sprecher an Gott (2,307–310): o bona maiestas, quid non sperare queamus! ipse vias veniae tacitas causamque ministras, qua valeas prodesse reo, quem prole sequenti augens multiplicas …

310

|| 205 So etwa Lucan. 7,617sq., wo der Erzähler sein Sprechen wie an der zitierten Stelle als Tränenvergießen bezeichnet (wobei er bei dem tränenerregenden Gegenstand gerade nicht verweilen will: inpendisse pudet lacrimas in funere mundi / mortibus innumeris); ähnlich 7,555 wo der Erzähler seine Darstellung als „Tränen und Klagen“ charakterisiert (und diese ebenfalls lieber nicht fortführen möchte: a potius pereant lacrimae pereantque querellae). Ein Vorläufer ist Ov. Met. 2,214 (parva queror). Vgl. in der Bibeldichtung Sedul. Carm. pasch. 1,280sq. (iam satis … monstra / risimus aut potius tales deflevimus actus, dazu Hecquet-Noti 2009, 208).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 79

O gute Majestät, worauf sollten wir nicht hoffen können! Du bereitest selbst stille Wege der Gnade und einen Grund, durch den du dem Schuldigen nützen kannst, den du durch die folgende Nachkommenschaft (310) zu einer großen Menge werden lässt206 …

Die Verse tragen den Charakter eines Lobpreises, wobei der Sprecher im ersten Vers Gottes Wohltaten an Kain auf sein Handeln an ihm und den Adressaten überträgt und in den folgenden wieder allmählich zu Gottes segensreicher Geschichte mit Kain zurückkehrt. Victorius verwendet hier das Mittel der Apostrophe, das, wie die meisten epischen Techniken, bereits bei Homer begegnet, namentlich jedoch im römischen Epos beliebt wird und erst hier regelmäßig wie in den zitierten Versen dem Ausdruck emotionaler Subjektivität dient.207 Dass sich das angeführte Beispiel einer positiven Bewertung auf Gott bezieht, ist kein Zufall. Tatsächlich preist Victorius in so pathetischer und ausführlicher Weise keinen anderen als Gott.208 Ich zitiere zum Vergleich eine der stärksten Lobesbekundungen für einen Menschen, nämlich für Abram, der überhaupt am positivsten bewertet wird (die Verse gehören zur Beschreibung der Schlacht im Tal Siddim, 3,453–455): servantur praedae – tanta est moderatio iusti victoris – quos iam cunctis sine fraude licebat posse capi … Für die Beute aufgespart werden209 – so groß ist des redlichen Siegers Mäßigung – jene, die nunmehr alle ohne List (455) aufgreifen konnten

Der Ausruf tanta est …, für den sich Vorbilder seit Ovid finden lassen,210 ist zwar durchaus emphatisch, wirkt aber durch die Kürze und die dritte Person weit || 206 Wörtl. „den du … mehrend vervielfachst“. 207 Vgl. zur Entwicklung die von Homer bis Lukan reichende Untersuchung von Zyroff 1971. Besonders viele und lange Apostrophen hat demnach Lukan, wobei anzumerken ist, dass auch die panegyrische spätantike Epik sehr reich an (meist an den zu lobenden Adressaten gerichteten) Apostrophen ist. An älteren Überblicksstudien seien genannt: J. Endt, Der Gebrauch der Apostrophe bei den lateinischen Epikern, WSt 27 (1905), 106–129 sowie E. Hampel, De apostrophae apud Romanorum poetas usu, Diss. Jena 1908 (vgl. auch die bei Effe 2004, 23 Anm. 23 genannten Titel). Zur Apostrophe in Vergils Aeneis sei noch verwiesen auf Effe 2004, 44–46 und Williams 1983, 183–196, zur Verwendung in Ovids Metamorphosen auf Horstmann 2014, 120–124. 208 Als weiteres Beispiel für Gotteslob sei 1,328 genannt: pro quanta dei indulgentia magni est! 209 Oder: „Als Beutestücke bewahrt“ (vgl. Papini: „come bottino“). 210 Emphatisches tanta est … als zweite Vershälfte nach der Penthemimeres begegnet zuerst in Ov. Met. 1,60 tanta est discordia fratrum, ähnlich 2,731; 3,270 u. ö.), dann auch bei Lukan (4,538; 10,427. 490).

80 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

nüchterner als eine Apostrophe. Der Mensch kann zwar gelobt werden, wird aber nicht verherrlicht.211 b) Tadel Apostrophen an Menschen begegnen in der Alethia zwar auch, sind aber stets mit Kritik verbunden, die von mitleidiger Belehrung bis hin zu scharfer Verurteilung reichen kann. Als eher mildes Beispiel seien einige Verse aus dem Kommentar zur Rede Gottes über den Baum der Erkenntnis angeführt. Der Erzähler nennt hier zwar keinen Namen – an seiner Stelle steht ein umschreibender und recht unpräziser Relativsatz –, doch dürften die Verse zumindest auf der ersten Ebene auf Adam als Stellvertreter der ersten Menschen gemünzt sein (1,332–337):212 at tu, quem sacri nectit custodia iuris, ne querere, angustis quod clausa licentia metis parte sit orba sui: nihil hac tibi lege recisum est. ante potestatem tantum terraeque marisque nanctus eras, nunc iam regni vitaeque perennis, nunc et mortis habes.

335

Aber du, den die Bewahrung des heiligen Rechtes verpflichtet, klage nicht, dass die von engen Grenzen umschlossene Freiheit eines Teils ihrer selbst beraubt sei: Nichts ist dir durch dieses Gesetz genommen. (335) Vorher hattest du Macht nur über Erde und Meer erlangt, jetzt hast du sie über ein ewiges Reich und ewiges Leben, jetzt auch über den Tod.

An der Stelle fällt zunächst wieder das große psychologische Interesse des Erzählers auf, der die Angst seiner Figur um ihre Freiheit antizipiert und somit auch hier sein Einfühlungsvermögen unter Beweis stellt. Die auf den ersten Blick paradoxe Situation, dass der Sprecher die Figur in direkter Anrede über ihre Gefühle in Kenntnis setzt, kommt schon bei Homer vor.213 Bemerkenswert ist jedoch, dass der Sprecher diesen inneren Zustand nicht bloß konstatiert oder || 211 Vgl. zur lobenden Charakterisierung Abrahams noch 3,327 (vir dignus caelo), 3,630 (tanta est devotio). 212 Der Bezug auf Adam zeigt sich besonders am deiktischen hac … lege sowie an der Wahlmöglichkeit zwischen ewigem Leben und Tod, die dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis entsprechen; vgl. auch Martorelli 2008, 48 mit Anm. 18. Zu einer möglichen zweiten Ebene vgl. unten S. 93. 213 Vgl. bereits die Apostrophe an Menelaos in Il. 23,598–600, wo der Erzähler dem Menelaos darlegt, wie sich sein Mut erwärmt: … ὡς εἴ τε περὶ σταχύεσσιν ἐέρσῃ / ληΐου ἀλδήσκοντος, ὅτε φρίσσουσιν ἄρουραι· / ὣς ἄρα τοὶ, Μενέλαε, μετὰ φρεσὶ θυμὸς ἰάνθη.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 81

beschreibt, sondern seiner Figur die noch gar nicht ausgesprochene Klage vorsorglich mit einem Imperativ verbietet (ne querere, 1,333). Mit diesem Versuch, gleichsam auf seine Figur Einfluss zu nehmen, dringt der Erzähler in kaum überbietbarer Weise in die Erzählung ein, vermittelt er doch den Eindruck, er und seine Figuren könnten in direkte Interaktion treten. Die Technik, die Victorius übrigens auch an einer anderen Stelle anwendet, erinnert wiederum an Lukan, der Apostrophen mit Handlungsanweisungen zum ersten Mal häufiger einsetzt.214 Von den weiteren Figurenapostrophen sei zunächst eine weitere Anrede an Adam erwähnt, die schon durch ihre bloße Länge auffällt, mit der sie erneut an die oft langen Apostrophen Lukans erinnert (1,448–469). Die Apostrophe zeigt einen ähnlichen belehrenden Charakter wie das eben zitierte Beispiel, verdient jedoch eine eigene Betrachtung wegen der besonderen Nähe von Erzähler und Figur, die in den Schlussversen zutage tritt (1,465–469): nec tam me voce severa 465 corripiens ubi sis, trepido quid pectore volvas, terret quam recreat, quod adhuc post crimina lapsum immersumque metu latebris ac paene sepultum evocat et revocat. Und indem er mit strenger Stimme scharf fragt, wo du bist, was du im furchtsamen Herzen wälzt, schreckt er mich weniger als er mich erquickt, weil er noch nach den Verbrechen ihn, der gestrauchelt, versunken in Furcht, fast begraben in Dunkel ist, heraus- und zurückruft.

Ein Nebeneinander einer auf die Figur bezogenen zweiten und einer auf den Erzähler bezogenen ersten Person ist in epischen Apostrophen höchst unge-

|| 214 Ansätze finden sich freilich schon bei Ovid, vgl. etwa den warnenden Imperativ an Myrrha in Met. 10,317sq. (ex omnibus unum / elige, Myrrha, virum – dum ne sit in omnibus unus, vgl. Zyroff 1971, 181 und, mit weiteren Beispielen, 459; mehr zu kritischen Apostrophen in den Metamorphosen bei Horstmann 2014, 122f.). Aus Lukan sei exemplarisch die invektivische Anrede an Ptolemaios in 8,550–559 genannt (tanti, Ptolemaee, ruinam / nominis [gemeint ist Pompeius] haut metuis, caeloque tonante profanas / inseruisse manus, inpure ac semiuir, audes? / … quid viscera nostra / scrutaris gladio? nescis, puer inprobe, nescis / quo tua sit fortuna loco: iam iure sine ullo / Nili sceptra tenes …). Imperative begegnen z. B. in der langen Apostrophe an Cordus in 8,781–815; der Erzähler unterstützt Cordus zunächst in seinem Ansinnen, Pompeius zu bestatten, V. 784sq.: i modo securus veniae fassusque sepulchrum / posce caput), fordert dann aber einen gebührenden Tatenbericht auf dem Grabstein (V. 807sq.: … adde actus tantos monimentaque maxuma rerum, / adde trucis Lepidi motus Alpinaque bella …). Vgl. in der Alethia den Imperativ in der tadelnden Apostrophe an Ham 3,79 (zu dieser unten S. 93f.).

82 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

wöhnlich, wenngleich sich vereinzelte Beispiele finden lassen.215 Der Erzähler stellt sich hier unmittelbar neben Adam, und mehr noch: Er reagiert so direkt auf Gottes Worte, wie es sonst nur eine Figur kann. Tatsächlich erfahren wir nicht einmal, wie Adam auf Gottes Suche reagiert und können nur erschließen, dass Gottes Rufen ihn erschreckt (vgl. terret, 1,467); stattdessen führt der Erzähler aus, wie er Gottes Handeln auffasst (recreat, ibid.) – und wie es offenbar auch der Rezipient im Gegensatz zu Adam verstehen sollte. Schärfere Kritik übt der Erzähler später an Kain, auf dessen Brudermord er mit einem längeren und hochemotionalen Kommentar reagiert, der hier knapp nachgezeichnet sei. Der Passus beginnt mit dem pathetischen Ausruf heu facinus! (2,227; gemeint ist der Brudermord), einer ovidischen Prägung, die später z. B. von Lukan übernommen wurde.216 Es folgt eine Reihe exklamatorischer Fragen, in denen die verheerende Wirkung von Zorn, Hass und Wetteifer um Verbrechen angeprangert wird (2,227–229): quid non miseros furiosa libido, quid non ira recens, odium vetus, improba cogant quae vexant gentes scelerum certamina … Wozu könnten die Armen wohl nicht rasende Willkür, wozu nicht frischer Zorn, alter Hass und die ruchlosen Wettstreite um Vergehen antreiben, die die Heiden quälen …

Vorbild ist diesmal Vergil, dessen quid-non-Ausrufe freilich bedeutend kürzer sind.217 Nach einem neuerlichen Ausruf, der ebenfalls an epische Vorläufer erinnert (pro quantum prima propago / criminis adiecit!, 2,234sq.),218 folgt eine lange Apostrophe an Kain (2,238–246): tu poenas morte solutas et pro morte dabis, peior serpente nefando. ille etenim letum suasit, non intulit; at tu auctor primus eris caedis. te publicus hostis, te latro privatus sequitur, tibi crimina plectent arma〈ti〉 telis, gladiis et vindice ferro.

240

|| 215 Die Stellen sind zudem inhaltlich nur bedingt vergleichbar, vgl. etwa Lucan. 4,811–813 (at tibi nos … / ... / digna damus, iuvenis, meritae praeconia vitae). 216 Vgl. Ov. Am. 1,6,22; Her. 16,215; Ars 1,751; Met. 8,85; Lucan. 8,604. 217 Verg. Aen. 3,56 = 4,412: quid non mortalia pectora cogis (angeredet ist im ersten Fall die auri sacra fames, im zweiten Amor). Quid-non-Ausrufe, allerdings ohne eine Form von cogere, begegnen auch im späteren Epos, so bei Stat. Theb. 5,379; 9,309. 218 Die Junktur pro quantus/-a/-um o. ä. begegnet bei Ov. Met. 13,758; Lucan. 3,241; Sil. 8,406; 13,883; vgl. bei Victorius selbst 1,328 (pro quanta dei indulgentia magni est!).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 83

militia scelus omne tua est populique futuri quod minus interitu iusso quam caede peribunt ad te summa redit.

245

Du wirst die Strafe, die mit dem Tod abgebüßt wird, auch für den Tod ableisten,219 du, der du schlechter bist als die schändliche Schlange. (240) Jene hat nämlich zum Tode geraten, ihn aber nicht zugefügt; du jedoch wirst des Mords erster Urheber sein. Dir folgt der Staatsfeind, dir der einfache Räuber, dir werden jene Leute Verbrechen aufreihen, die mit Geschossen bewaffnet sind und Schwertern und rächendem Mordstahl. Jedes Vergehen ist dein Kriegsdienst, und dass die künftigen Menschen (245) weniger durch befohlenes Sterben als durch Mord umkommen, geht insgesamt auf dich zurück.

Die Verse bilden eine regelrechte Invektive gegen Kain, der mit an Lukan erinnernder Schärfe getadelt und für jedwede tödliche Gewalt seiner und aller Zeit verantwortlich gemacht wird. Kain wird durch die drastischen Worte zu einem Negativ-Exemplum stilisiert, dessen schändlichen Einfluss der Rezipient in seiner eigenen Lebenswirklichkeit erkennen kann. Der Bezug zur Gegenwart (oder allgemein zur Zeit nach der Erzählung) erinnert dabei an epische Ausblicke, wie sie z. B. bei Vergil häufiger auftreten, zeugt jedoch zugleich vom Interesse an der Entwicklung der Menschheit, das für die Alethia insgesamt typisch ist.220 c) Abscheu Ein weiteres Mittel, mit dem der Erzähler seine Kritik am Berichteten effektvoll zur Schau stellt, ist die Behauptung, er wolle etwas aus Abscheu nicht nennen oder weitererzählen. Der Gedanke begegnet in unterschiedlicher Ausführlichkeit an zwei Stellen. Kontext der ersten, recht knappen diesbezüglichen Bemerkung ist der Niedergang der Gott ursprünglich am nächsten stehenden hebräischen Volksgruppe. Der Erzähler prangert die Hinwendung zu Götzen an, schiebt dabei aber parenthetisch ein, er wolle das „verfluchte Vergehen der grausigen Magie“ noch verschweigen (ut taceam magici scelus intestabile monstri, 3,304). Der Finalsatz bildet eine knappe Praeteritio und mutet dement-

|| 219 Vgl. zum Sinn die Paraphrase von Homey 1972, 132: „Kamen Adam und Eva mit dem Tod nur als Erleidende in Berührung, so Kain als Zufügender und Erleidender“. 220 Vgl. zu Prolepsen Kap. 1.3.1.3. Ein Gegenwartsbezug in Verbindung mit einer Apostrophe findet sich in Verg. Aen. 7,1sq., wo beim Tod von Aeneas’ Amme Caieta auf die nach ihr benannte Stadt bzw. das Vorgebirge hingewiesen wird (tu quoque litoribus nostris, Aeneia nutrix, / aeternam moriens famam, Caieta dedisti). Zum kulturhistorischen Interesse siehe unten Kap. 2.2.3 (zur vorliegenden Stelle S. 299).

84 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

sprechend rhetorisch an, und bezeichnenderweise ist die Junktur ut taceam in der paganen Hexameter- und Distichondichtung nur in den elegischen Werken Ovids belegt, die bekanntlich stark von der Rhetorik beeinflusst sind.221 Die Ballung negativer Ausdrücke erweckt dabei den Eindruck, dass der Erzähler das Thema der Magie nicht etwa aus dispositorischen Gründen übergeht, sondern es aus Abscheu möglichst nicht weiter ausführen will. Die Depravation der Hebräer erscheint somit gerade dadurch, dass der Aspekt der Magie nicht vertieft wird, umso schlimmer. Noch deutlicher kommt die Abscheu vor dem zu Erzählenden in der Episode des Engelsbesuchs bei Lot zum Ausdruck. Bevor der Sprecher ausführt, wie Lot seine Töchter an die wütende Volksmenge übergibt, die eigentlich die Herausgabe der Besucher verlangte, schaltet er eine emotionale Zwischenbemerkung ein (3,695–698): pudet heu meliusque profecto est a quantum reticere nefas quam prodere verbis, vel dum damnatur, quod iam tunc more sinistro infandae lex urbis erat.

695

Wahrhaftig wäre es besser, ein, ach, so großes Unrecht zu verschweigen als es mit Worten zu schildern, selbst wenn222 man verdammt, was durch bösen Brauch damals schon Gesetz der ruchlosen Stadt war.

Das ausrufartige pudet heu wird in dieser Form, also ohne verbale oder substantivische Ergänzung, bereits von Lukan, Statius und Valerius Flaccus verwendet, trägt also ein episches Gepräge, wenngleich der Ausdruck bei den genannten Autoren lediglich in wörtlicher Rede und nicht im Erzählerbericht auftritt.223 Für

|| 221 Vgl. Am. 2,4,31; Her. 1,134; 16,176; Trist. 5,2,30). Häufiger ist die Junktur in Prosa, vor allem bei nachklassischen Autoren (viele Belege z. B. bei Augustin). 222 Zum Gebrauch von vel dum im Sinne von etsi oder quamquam vgl. HSz 5022.3. 223 Lucan. 5,690; Stat. Theb. 8,626; 12,384; Ach. 1,503. 639; Val. Fl. 7,43 (vgl. auch die über das Epos hinausgehenden Belege in ThLL s. v. heu p. 2673,45–47). Im Erzählerbericht verwendet die Junktur z. B. Prud. Ham. 150. Hingewiesen sei noch auf die bereits in Anm. 205 zitierte Stelle Lucan. 7,617, wo pudet, wenn auch ohne heu und mit Infinitiv, in einer erregten Bemerkung des Erzählers und damit in ähnlichem Kontext wie hier bei Victorius verwendet wird (der Erzähler will sich angesichts der vielen Toten der Schlacht von Pharsalos nicht mit jedem Einzelnen befassen: inpendisse pudet lacrimas in funere mundi / mortibus innumeris ac singula fata sequentem / quaerere …). – Nicht recht vergleichbar ist die seit Homer immer wieder begegnende Behauptung des Erzählers, sein Können reiche nicht aus, den betreffenden Gegenstand adäquat darzustellen (zuerst Il. 2,488–490: πληθὺν δ’ οὐκ ἂν ἐγὼ μυθήσομαι οὐδ’ ὀνομήνω, / οὐδ’ εἴ μοι δέκα μὲν γλῶσσαι, δέκα δὲ στόματ’ εἶεν, / φωνὴ δ’ ἄρρηκτος, χάλκεον δέ

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 85

die Situation, dass ein Sprecher seinen Stoff aus Abscheu lieber nicht weitererzählen möchte, lässt sich wieder einmal am ehesten eine Parallele bei Lukan finden, dessen Erzähler zwar in der Regel bereitwillig selbst die größten Schrecken farbig ausmalt, in der Darstellung der Pharsalos-Schlacht aber immerhin einmal vorgibt, die betreffenden Gräuel lieber verschweigen zu wollen, was er dann freilich ebenso wenig tut, wie Victorius die Geschichte von Lot an dieser Stelle abbrechen lässt.224 d) Unerfüllter Wunsch Als letzte Technik, mit der der Erzähler seinen Unmut über die erzählte Geschichte zum Ausdruck bringt, ist der Wunschsatz zu nennen. Hierfür findet sich nur ein einziges, dafür jedoch recht eindrückliches Beispiel am Ende der Digression des zweiten Buches. Dem Wunschsatz geht eine Rede Gottes voran, in der dieser seinen Willen offenbart, dass die Geschöpfe „durch heilige Empfindung“ (sacro … sensu) die himmlische Welt und ihn selbst erkennen (2,180– 184). An die hier genannte Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes knüpft der Erzähler nun den Wunsch an (2,184–188): atque utinam inlibata maneret, ut data mens homini est, nullique obnoxia culpae: non illam species, non illam corpora rerum, non modus astrorum numerus nec molis harenae falleret.

185

|| μοι ἦτορ ἐνείη …, später aufgegriffen in Ov. Met. 8,533–535; Stat. Theb. 12,797–799, aber auch Verg. Georg. 2,42–44 [laut Servius übernommen von Lukrez]). Anders gelagert ist auch der Abbruch der Erzählung aus (ironischer?) numinoser Scheu in Apoll. Rhod. 1,919–921; 4,247– 250 (dazu Effe 2004, 26). 224 Die Stelle ist zunächst als Apostrophe an die eigene mens gestaltet, zu der im letzten Vers eine Anrede an Rom tritt (7,552–556): hanc fuge, mens, partem belli tenebrisque relinque, / nullaque tantorum discat me vate malorum, / quam multum bellis liceat civilibus, aetas. / a potius pereant lacrimae pereantque querellae: / quidquid in hac acie gessisti, Roma, tacebo. Eingeschränkt vergleichbar ist noch Verg. Aen. 2,12sq., wo Aeneas, der zwar eine handelnde Figur, zugleich aber der Erzähler des zweiten Buches ist, nur widerwillig zu erzählen beginnt: quamquam animus meminisse horret luctuque refugit, / incipiam (von Zyroff 1971, 373 als Vergleichsstelle zu Lucan. 7,552–556 angeführt).

86 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Und wenn der Geist doch unversehrt bliebe, (185) wie er dem Menschen geschenkt wurde, und keiner Schuld unterworfen: Dann blieben ihm nicht der Anblick und nicht der Körper der Dinge, nicht der Sterne Maß und auch nicht der Sandmasse Zahl unbekannt.225

In den Erzählerbericht eingebettete Wünsche begegnen im Epos zuerst bei Vergil, häufiger dann bei Lukan, der seinen stets mit dem Geschehenen hadernden Erzähler an mehreren Stellen den Wunsch aussprechen lässt, die dargestellten Ereignisse hätten einen anderen Lauf genommen oder würden überhaupt nach anderen Gesetzmäßigkeiten ablaufen.226 Im zitierten Wunschsatz geht es ebenfalls, wie der Konjunktiv Imperfekt zeigt, nicht allein um vergangene Ereignisse, die anders hätten verlaufen sollen, sondern auch um die Gegenwart: Der Erzähler wünscht sich, der menschliche Verstand wäre immer noch in dem Zustand, in dem Gott ihn gegeben und gewollt hat, d. h. erkenntnisfähig für Gott und seine Welt und dadurch auch fähig, die menschliche Welt unmittelbar zu erfassen (der Ist-Zustand, in dem alle Maße und Gegebenheiten der Welt erst mühsam erforscht und erlernt werden müssen, wird in V. 188–193 beschrieben). Wann und wie genau der Mensch diese Fähigkeit verloren hat, wird hier nicht gesagt und ist auch im restlichen Werk nicht völlig klar: Die grundlegende Entfremdung von Gott und Mensch tritt natürlich mit dem Sündenfall ein, allerdings hatte nach Victorius noch Noah eine umfassende Kenntnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (3,100–104). Sicher ist jedenfalls, dass Menschen für den Verlust der ursprünglichen Erkenntnisfähigkeit verantwortlich sind (vgl. 3,109–111). Der Wunsch ist somit letztlich eine philosophisch-theologisch grundierte Klage über die Menschheit und die Menschheitsentwicklung, die, wie erwähnt, überhaupt ein wichtiges Thema der Alethia ist. Zusammenfassung Die auffälligsten Fälle von Erzählerpräsenz sind, wie die letzten Beispiele veranschaulicht haben, diejenigen, in denen der Erzähler seine Figuren oder ihr

|| 225 Anders Papini, die falleret als „trarrebbero in inganno“ übersetzt, was schlecht zum Kontext passt, in dem es um das Erkennen der Welt geht. 226 Vgl. Verg. Aen. 8,643 (in Verbindung mit einer Apposition: at tu dictis, Albane, maneres). Bei Lukan begegnet ein rein auf die Vergangenheit bezogener Wunsch z. B. in 7,30–32, wo der Erzähler Pompeius ein letztes ‚Wiedersehen‘ mit Rom wünscht (donassent utinam superi patriaeque tibique / unum, Magne, diem, quo fati certus uterque / extremum tanti fructum raperetis amoris), ein zeitloser, aber an ein historisches Ereignis anknüpfender Wunsch z. B. in 4,580sq. (mors, utinam pavidos vitae subducere nolles, / sed virtus te sola daret). Zu weiteren Wünschen bei Lukan Effe 2004, 68–70.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 87

Verhalten beurteilt. Die Beispiele haben auch bereits deutlich gemacht, mit welcher rhetorischen Verve die Bewertungen vorgebracht werden können, und tatsächlich dürfte sich hier der Einfluss der rhetorischen laus und vituperatio bemerkbar machen. Zugleich spiegelt Victorius’ Erzählweise mit ihrer extremen Subjektivität, bei der der Erzähler die Ereignisse mehr nachempfindet als nacherzählt und den Rezipienten in seine Gefühle hineinzieht, die Entwicklung des Epos wider. Einige der von ihm verwendeten Ausdrucksmittel gehen bereits auf Vergil und Ovid zurück, vor allem aber zeigt sich der Einfluss Lukans, der im 4./5. Jh. übrigens auch sonst wiederentdeckt und nicht zuletzt bei den christlichen Dichtern rezipiert wurde.227 Sicherlich ist der Grad, in dem Victorius’ Erzähler in die Erzählung eindringt, bemerkenswert hoch, doch fügt sich das Werk – abgesehen von gewissen teils bibeldichterischen, teils autorspezifischen Eigenheiten – durchaus in die Epik des 4./5. Jh. ein, die sowohl auf paganer als auch auf christlicher Seite meist durch eine starke Subjektivität und Tendenziosität gekennzeichnet ist. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit der panegyrischen Epik, die für die Spätantike so typisch ist und übrigens ebenfalls einen starken rhetorischen Einfluss zeigt (man denke etwa an die Werke Claudians).228 Wird hier ein Mensch gepriesen und das gesamte Geschehen so dargestellt und wertend kommentiert, dass der betreffende Mensch in möglichst günstigem Licht dasteht, so erscheint bei Victorius in Erzählung und Kommen|| 227 Die „Wiederentdeckung Lukans“ ist die These von A. M. Vinchesi, Servio e la riscoperta di Lucano nel IV–V secolo, A&R 24 (1979), 2–40. Die Rezeption Lukans in der frühchristlichen Literatur ist noch nicht systematisch erforscht worden, doch sind Spuren von ihm unter anderem bei Juvencus, Proba, Prudentius, Paulinus von Nola, Victorius, Paulinus von Petricordia, Dracontius und Avitus beobachtet worden, vgl. die Literaturverweise bei C. Finiello, Auswahlbibliographie zur Lucan-Rezeption, in: C. Walde (Hg.), Lucans Bellum Civile. Studien zum Spektrum seiner Rezeption von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Trier 2009, 505–574, hier 550f. Besonders erwähnt sei E. D’Angelo, La «Pharsalia» nell’epica latina medievale, in: P. Esposito/L. Nicastri (Hgg.), Interpretare Lucano. Miscellanea di studi, Napoli 1999, 389–453, wo S. 395–401 der Bibelepik und S. 396f. speziell Victorius gewidmet sind (behandelt Reminiszenzen und ihre Kontexte). Vgl. auch Roberts 1989, 61 Anm. 76, der hinsichtlich der Sprecherpräsenz Ähnlichkeiten zwischen Lukan und der neutestamentlichen Bibeldichtung sieht („… the introduction of the poet in his own person into the narrative, a characteristic of Lucan, is infrequent in Claudian (at least in first person) but common in New Testament epic.“). 228 Zur Bedeutung der panegyrischen Ausrichtung für das spätantike Epos siehe Hofmann 1988, 116–143 (wobei mit Pollmann 2001, 95 Anm. 17 anzumerken ist, dass das panegyrische Epos schon viel früher, nämlich spätestens im Hellenismus, aufkam, tatsächlich aber in der Spätantike eine neue Bedeutung gewinnt; vgl. auch Schindler 2009, 23f. die die „panegyrische Disposition“ der Dichtung und speziell der Hexameterdichtung beschreibt). Zum Einfluss der Rhetorik auf Claudian vgl. die differenzierte Einschätzung von Schindler 2009, 168f.

88 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

taren allein Gott als der wahrhaft gute und lobwürdige. Die Alethia bildet in ihrer Gesamtheit eine laus Gottes, der als einzige Figur von Anfang bis Ende präsent ist und schon in der precatio als Gegenüber aufgebaut wird, ähnlich wie in der Panegyrik der zu preisende Mensch das wesentliche Gegenüber bildet (zumal in der Rezitationssituation, für die die Werke konzipiert wurden).229 Die menschlichen Figuren der Alethia werden je nachdem, ob sie sich zu Gott halten oder von ihm abfallen, gelobt oder getadelt, aber nie verherrlicht. Man kann das Werk damit – und dies gilt wohl für die meisten Bibeldichtungen – als einen Gegenentwurf zur menschenverherrlichenden oder als menschenverherrlichend empfundenen paganen Epik lesen.230

1.2.2 Adressatenbezug Im letzten Teilkapitel lag der Schwerpunkt auf dem Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren. Auf den folgenden Seiten soll nun eine weitere Person bzw. Personengruppe in den Blick genommen werden, mit der der Erzähler ebenfalls in Beziehung treten kann, nämlich der bzw. die Adressaten. Im Epos tritt der Adressat bekanntlich selten bis nie in Erscheinung. Am ehesten ist er in Formulierungen im Potentialis der 2. Person Singular zu greifen, die vereinzelt schon bei Homer vorkommen und sich bei einigen lateinischen Epikern einer gewissen Beliebtheit erfreuen.231 Freilich lassen sich die meisten dieser Wendungen auch im Sinne eines allgemeinen ‚man‘ verstehen (der gängige Begriff ‚Leserapostro-

|| 229 Zur Bedeutung der Rezitationssituation für die spätantike nichtchristliche Dichtung Hofmann 1988, 125–132. 230 Dass auch christliche Autoren selbst einen solchen Bezug sehen konnten, beweisen Werktitel wie Laudes domini (anonym) und De laudibus Dei (Dracontius; vgl. in der nichtchristlichen Dichtung z. B. Claudians De laudibus Stilichonis). Zur Beeinflussung der Bibelepik durch das panegyrische Epos und ein panegyrisches Eposverständnis vgl. auch Thraede 1962a, 1023 (zu Juvencus, der in seinem Proöm pagane Epen mit den Begriffen laus und gloria umschreibt) und 1026 (zu mehreren pseudepigraphen alttestamentlichen Dichtungen). 231 Die Entwicklung ist diskontinuierlich, vgl. Wheeler 1999, 141–161. Demnach finden sich in den homerischen Epen neun Beispiele (davon allerdings vier in Figurenreden), bei Apollonios Rhodios zwölf, bei Vergil fünf, in Ovids Metamorphosen 30, bei Lukan neun, bei Statius 19, bei Silius Italicus neun, in Claudians De raptu Proserpinae drei (Valerius Flaccus bildet mit null Belegen eine Ausnahme). Vgl. auch die ausführliche Besprechung der Leseranrede im Epos von Homer bis Lukan bei Zyroff 1971, 386–423 und die neuere Behandlung Ovids bei Horstmann 2014, 124–133.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 89

phen‘ trifft den Sachverhalt daher nur bedingt).232 Anders im Lehrgedicht: Hier ist es üblich, dass der Sprecher sich immer wieder direkt an seinen Schüler wendet, um ihn zu belehren. Die Werke konstruieren so einen intratextuellen Adressaten, der sich vom realen Rezipienten unterscheiden lässt, und erzeugen die Illusion einer Dialogsituation.233 Wie steht es hiermit nun in der Alethia, die Züge beider Gattungen vereint? Adressat und Lehrabsicht in der precatio Am deutlichsten lässt sich ein Adressatenbezug in der precatio feststellen. Wie schon in Kap. 1.1.1 erwähnt, gibt der Erzähler hier an, er wolle „zarte Gemüter und Herzen in den Knabenjahren nach dem wahrhaften Weg der Tugend formen“ (dum teneros formare animos et corda paramus / ad verum virtutis iter puerilibus annis, prec. 104sq.). Der Ausdruck teneros … animos et corda lässt sich in diesem Zusammenhang als eine (freilich umschreibende und reichlich vage) Adressatenangabe verstehen: Das Werk richtet sich an die zu erziehende Jugend, hat also wie ein Lehrgedicht einen bestimmten Adressaten.234 Zudem bekundet der Erzähler seine Absicht, den Adressaten zu erziehen, formuliert also explizit seine Lehrabsicht, was ebenfalls zu den gattungsspezifischen Merkmalen des Lehrgedichts gehört.235 || 232 Horstmann 2014, 124f. weist zu Recht auf die Problematik des Begriffs hin: „Das … im Lateinischen angeredete ‚Du‘ ist freilich nicht automatisch mit einem fiktiven Adressaten gleichzusetzen; vielmehr handelt es sich oft um das grammatikalische Äquivalent eines allgemeinen, unbestimmten ‚man‘. Dennoch scheint es legitim, dieses Phänomen des Diskurses wegen der Doppeldeutigkeit des ‚Du‘ als potenziell geeignet aufzufassen, einen direkten Kommunikationsprozess des Erzählers mit seinem hypothetischen Adressaten darzustellen.“ 233 So schon beschrieben von Serv. Georg. praef. p. 129 Thilo (vgl. oben Anm. 27). Für Genaueres siehe Pöhlmann 1973, 836f. mit den dort zusammengestellten Beispielen aus Lehrgedichten und Prosa-Lehrwerken (vgl. auch Pöhlmanns ausführliche Behandlung der Figuren des Lehrgedichts auf S. 835–878). Vgl. ferner Volk 2002, 37–39, die den Dialog mit dem Adressaten als zweites ihrer vier konstitutiven Merkmale des Lehrgedichts nennt. 234 So auch Martorelli 2008, 202. 235 Vgl. z. B. Volk 2002, 36f., die die explizite Lehrabsicht („didactic intent“) als erstes ihrer vier Kriterien für die Lehrdichtung nennt. Die Vorstellung, dass Dichtung Kinder und Jugendliche erziehen soll, ist in der Antike übrigens weit verbreitet und nicht einmal speziell mit dem Lehrgedicht in Verbindung zu bringen (vgl. z. B. Hor. Epist. 2,1,126. 128, eine Stelle, die sogar einige wörtliche Ähnlichkeiten mit prec. 104sq. aufweist, dabei aber die Aufgabe jedes beliebigen poeta beschreibt: os tenerum pueri balbumque poeta figurat, / … / mox etiam pectus praeceptis format amicis (man beachte teneros~tenerum, formare animos et corda~pectus … format; den Hinweis auf die Stelle verdanke ich U. Egelhaaf-Gaiser). Entscheidend ist daher weniger die Lehrabsicht an sich als ihre explizite Bekundung.

90 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Ganz unproblematisch ist das Verhältnis zum Lehrgedicht indes schon hier nicht. Zunächst fällt auf, dass der Erzähler keinen konkreten Namen nennt, wie es bei der Mehrzahl der Lehrdichter und gerade auch bei so wichtigen Gattungsvertretern wie Lukrez und Vergil der Fall ist.236 Freilich lassen sich hierfür bei genauerer Sichtung des Corpus erhaltener Lehrgedichte durchaus Parallelen finden, sodass ein namenloser Adressat für sich genommen nicht als Bruch mit der lehrdichterischen Tradition gewertet werden muss.237 Überdies hat es eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, dass die Alethia ursprünglich einen namentlich genannten Adressaten besaß, behauptet doch Gennadius in seiner wahrscheinlich auf Victorius bezogenen Kurzbiographie, der Dichter habe sein Werk an seinen Sohn Aetherius gerichtet (dieser könnte dann in einem begleitenden Prosa-Widmungsbrief ähnlich dem von Sedulius’ Carmen paschale oder Avitus’ Spiritalis historiae gestae genannt worden sein).238 Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Erzähler seine Adressaten nicht direkt anspricht, sondern lediglich in der dritten Person erwähnt. Dass der Adressat im Proöm in der dritten Person genannt wird, ist für sich genommen auch nicht singulär – schon Hesiod nennt Perses im Proöm zu den Werken und Tagen nur in dieser Form (Erg. 10) –, doch verstärkt sich der Eindruck, dass der Adressatenbezug eher lose ist. Damit erhebt sich die Frage, ob der in der precatio angedeutete Adressat auch im weiteren Werk eine Rolle als Empfänger der dargebotenen Lehre spielt und nun auch in der lehrgedichttypischen zweiten Person angeredet wird. Der Befund scheint zunächst eindeutig: Der Schüler-Adressat wird nicht ein einziges Mal eindeutig angeredet oder erwähnt, d. h. die in der precatio aufgegriffene Lehrgedichttradition wird nicht in der zu erwartenden Weise fortgeführt.239 Gleichwohl lassen sich einige Techniken ausmachen, durch die der Erzähler || 236 Vorbild ist, wie so oft, Hesiod. In der römischen Kaiserzeit richten sich etliche Lehrgedichte an den Kaiser selbst, der zugleich verehrt und belehrt wird. 237 Schon Arat wendet sich an die Menschheit insgesamt; anonym bleibt der Adressat auch z. B. in Grattius’ Cynegetica, in der anonymen Aetna und in Aviens Lehrgedichtübertragungen (Descriptio orbis terrae und Aratea). 238 Vgl. Gennad. Vir. ill. 61: ad filii sui, Etherii, personam commentatus est In Genesi. Die Vermutung, dass eine Prosaepistel verlorenging, äußert schon Schenkl 1888, 348; vgl. erneut Martorelli 2008, 13. Wenn die Deutung zutrifft, würde die Alethia der didaktischen Tradition zwar insofern näher kommen, als sie sich an eine namentlich genannte Person richtete, doch wäre diese Nähe eher formal, da eine solche Person ja weder in der dem Proöm entsprechenden precatio noch in der folgenden ‚Lehrrede‘ eine Rolle spielt. 239 Eine interessante Parallele hierzu bietet die Kosmogonie in Ovids Metamorphosen, die zwar in mancherlei Hinsicht dem Lehrgedicht sehr nahe steht, gerade aber auf das Element der Adressatenanreden verzichtet (vgl. Horstmann 2014, 234).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 91

Kontakt zu Adressaten herstellt und in abgewandelter Form doch noch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis herstellt. Anreden an extradiegetische Personen Betrachten wir zunächst zwei Anreden, die sich offenkundig auf extradiegetische Personen beziehen und insofern formal in die Richtung einer Adressatenanrede gehen. In den Versen 1,371sq., die die Auslegung zur Erschaffung Evas einleiten, wird eine „ganz törichte Schar“ im Imperativ angeredet: hoc nunc turba loco stolidissima desine tandem antistare sacro quicquam censere parenti … An dieser Stelle nun, du ganz und gar törichte Schar, hör endlich auf zu meinen, dass irgendetwas dem heiligen Vater voransteht.

Wen genau Victorius bei der Anrede vor Augen hat, wird in den Versen nicht gesagt, doch offensichtlich geht es nicht um die Jugend im Allgemeinen, sondern um Menschen mit einer falschen Vorstellung von Gott, möglicherweise konkret um die Markioniten oder die Manichäer.240 Der Sprecher wendet sich demnach nicht an die in der precatio genannten Adressaten, wie man es in einem Lehrgedicht bei einer zweiten Person normalerweise erwarten würde. Immerhin hat die Anrede eine eindeutig lehrhafte Funktion, enthält sie doch einen theologischen Lehrsatz – nichts steht Gott voran –, der in den folgenden Versen am Beispiel der Erschaffung Evas genauer begründet wird, und tatsächlich lässt sich auch für die polemisch anmutende imperativische Anrede mit desine eine Parallele bei Lukrez finden.241 Die zweite Anrede an (oder der Ausruf über) extradiegetische Personen, die wenig später folgt, bezieht sich auf die polytheistischen Heiden (o nimium miseri gentiles, quos furor egit / in varios ritus!, 1,407sq.). Auch sie kann sich also schwerlich auf die in der precatio genannten Adressaten beziehen und entspricht somit ebenso wenig den typischen Anreden des Lehrgedichts, wenn|| 240 Vgl. Papini 2006 ad loc., die auf die dualistischen Lehren der Markioniten oder der Manichäer verweist. Ein Indiz dafür, dass es um die letztere Gruppe gehen könnte, liefert Martorelli 2008, 159 Anm. 256: Die bei Victorius folgende Frage, warum Gott Eva nicht ebenfalls aus Schlamm gebildet hat, hat eine Parallele in Augustinus’ antimanichäischem Werk De Genesi contra Manichaeos (2,12,17) 241 Lucr. 2,1040–1044: desine quapropter novitate exterritus ipsa / expuere ex animo rationem, sed magis acri / iudicio perpende, et si tibi vera videntur, / dede manus, aut, si falsum est, accingere contra.

92 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

gleich sich für die Form der polemisch-exklamatorischen Apostrophe erneut Parallelen bei Lukrez finden lassen.242 Figurenapostrophe oder Adressatenanrede? Auch wenn sich in den beiden zitierten Stellen entfernte Parallelen zum Lehrgedicht feststellen ließen, ist klar, dass sie in erster Linie der Abgrenzung von Andersgläubigen und weniger der Belehrung eines Schülers dienen. Eine echte Belehrungsabsicht lässt sich dagegen möglicherweise in einigen Apostrophen ausmachen, die auf den ersten Blick nur an Figuren gerichtet zu sein scheinen. Am deutlichsten wird dies in einer langen Apostrophe, die sich zunächst an den sich nach dem Sündenfall verbergenden Adam richtet (1,448–469, ich zitiere nur den Anfang): nam quo te timidum fas est subducere corpus, te, te, inquam, qui mox primus retrahendus es, Adam? virtus viva patris mundi occultissima praesens 450 implet et immensos exit diffusa recessus. sed verum nefas est pavidos fraudare latebra. ille potest dominum fugiens evadere summum qui fugit ad dominum; sola quem mente relinquens quam vastis iaceas et non celere tenebris! 455 Denn wohin darfst du in deiner Angst deinen Körper entziehen, dich, dich meine ich, der als erster bald zurückgeholt werden muss, Adam? (450) Die lebendige Macht des Vaters erfüllt mit ihrer Gegenwart die verborgensten Teile der Welt und übersteigt, sich ergießend, unermessliche Tiefen. Doch ein wahrer Frevel ist es, ihn furchtsam durch ein Versteck zu betrügen. Jener allein kann fliehend dem höchsten Herrn entgehen, der zum Herrn flieht; verlässt du ihn auch nur im Geist, (455) in welch gewaltiger Finsternis dürftest du daliegen und doch nicht verborgen sein!

In den ersten beiden Versen ist die 2. Person unmissverständlich auf Adam bezogen. Wer aber ist mit der 2. Person in den letzten zwei Versen gemeint, die nach dem allgemein gehaltenen Zwischenteil stehen? Wird die Anrede an Adam wiederaufgenommen? Oder richtet sich die 2. Person an den extradiegetischen Adressaten? Am sichersten ist es wohl, eine doppelte Sprechrichtung anzuneh-

|| 242 Ich folge der Terminologie von Zyroff 1971, 303, der Fälle, die als Anrede oder Ausruf verstanden werden können, als exklamatorische Apostrophe bezeichnet. Bis zu einem gewissen Grad vergleichbar ist Lucr. 2,14 (o miseras hominum mentes, o pectora caeca!); 5,1194 (o genus infelix humanum). Vgl. bei Victorius selbst 2,428 (o nimium miseri …), wo die Formulierung aber auf Noahs Zeitgenossen, also eine intradiegetische Gruppe gemünzt ist.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 93

men, wobei der Potentialis bei iaceas und celere und das schlecht zu Adam passende sola … mente die letztere Deutung begünstigen. Nun sind vereinzelte Formulierungen im Potentialis der 2. Person Singular, wie erwähnt, auch im Epos gängig. Auffällig ist jedoch, dass die zitierte Apostrophe einen dezidiert belehrenden Charakter hat, der den üblichen ‚Leserapostrophen‘ des Epos fehlt.243 Wenn man die vorgeschlagene Interpretation zulässt, käme die Stelle dem Lehrgedicht somit vergleichsweise nahe. Zu fragen bleibt freilich, ob sich die Anrede eigentlich an die als Adressat genannte Jugend oder nicht ganz allgemein an den Rezipienten richtet (dies gilt auch für die weiteren Stellen). Bei den beiden übrigen Apostrophen, die an dieser Stelle noch kurz betrachtet werden sollen, ist der Adressatenbezug noch unsicherer bzw. versteckter. Die Apostrophe in 1,332–137, die auf Gottes Rede über den Baum der Erkenntnis folgt, wurde bereits im Zusammenhang mit Figurenapostrophen zitiert. Ich wiederhole die an dieser Stelle entscheidenden Anfangsverse (1,332– 334): at tu, quem sacri nectit custodia iuris, ne querere, angustis quod clausa licentia metis parte sit orba sui: nihil hac tibi lege recisum est. Aber du, den die Bewahrung des heiligen Rechtes verpflichtet, klage nicht, dass die von engen Grenzen umschlossene Freiheit eines Teils ihrer selbst beraubt sei: Nichts ist dir durch dieses Gesetz genommen.

Auch wenn es am nächsten liegt, die Verse auf Adam zu beziehen, deutet der umschreibende Relativsatz darauf hin, dass zusätzlich an eine zweite Ebene gedacht ist, nämlich an die Situation des ‚jetzigen‘ Menschen, der wie Adam die Wahl hat, Gottes Regeln anzunehmen und ewig zu leben oder sich gegen sie zu entscheiden und das ewige Leben zu verlieren. So verstanden, belehren die Verse neben Adam auch den Adressaten darüber, dass seine Bindung an Gott keine Unfreiheit bedeutet. Schließlich sei noch die Apostrophe an Ham erwähnt, der im Gegensatz zu seinen Brüdern Sem und Jafet über seinen betrunkenen und entblößten Vater Noah lacht und hierfür vom Erzähler getadelt wird (3,75–81):

|| 243 Vgl. die bei Wheeler 1999, 141f. genannten Beispiele. Die meisten Formulierungen beziehen sich demnach auf die Wahrnehmung oder Bewertung des beschriebenen Vorgangs, wobei oft verba sentiendi oder dicendi zum Einsatz kommen (im Grch. z. B. φαίης, γνοίης, ἴδοις mit ἄν oder κεν, im Lat. z. B. videres, aspiceres, cernas, putes, putares, ostendere/cognoscere/dicere possis).

94 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

et revoluta simul vestis secreta retexit corporis ac risum tibi, Cham deterrime, movit fons et origo tui, fratresque aspergine culpae Sem primum summumque Iaphet miscere parasti. disce quid exposcat quod 〈laeta〉rere cachinno tu solus: fratrum melior sententia dignum officii putat esse locum …

75

80

Und zugleich entglitt sein Gewand und entblößte so den geheimen Teil244 seines Leibs, und Lachen erregte dir, übelster Ham, dein Ursprung und Quell, und du schicktest dich an, durch Befleckung mit Schuld die Brüder, Sem als Ersten, als Letzten Jafet, mit dir zu vereinen: Lerne, was es erfordert, dass du dich am Gelächter erfreutest, (80) du allein:245 Der Brüder bessere Einschätzung meint, dies sei der geeignete Ort zum Dienst … (Es folgt die Beschreibung, wie Sem und Jafet ihren Vater zudecken, ohne ihn dabei anzusehen.)

Der Erzähler markiert seine Äußerungen durch den Imperativ disce so deutlich wie selten als Lehre, richtet sie jedoch an die handelnde Figur. Anders als in den beiden zuletzt zitierten Beispielen lässt sich die 2. Person hier schwerlich anders als auf Ham beziehen. Allerdings wird dieser durch den moralisierenden Ton zu einem negativen Exemplum aufgebaut, und so wird die Anrede an ihn zu einer allgemeineren Lehre, die sich offenbar auch der Adressat zu Herzen nehmen soll – aber hier ist bereits das größere Gebiet der Exemplumsfunktion der Figuren berührt, das mit den Adressatenanreden des Lehrgedichts nur noch wenig zu tun hat. „Wir“-Einbeziehung des Adressaten Rekapitulieren wir soweit: Auch wenn einige Apostrophen auch auf die Belehrung des Adressaten (bzw. des Rezipienten) abzuzielen scheinen, findet sich kein Fall, der vollauf und unzweifelhaft mit dem Lehrgedicht vergleichbar wäre, und erst recht keine solche Frequenz der Anreden, wie sie im Lehrgedicht üblich ist. Vergleichsweise oft verwendet Victorius dagegen eine andere Technik, um den Adressaten einzubeziehen, nämlich die erste Person Plural. Formulierungen in der ersten Person Plural begegnen auch im Lehrgedicht nicht selten, einerseits natürlich als auktorialer Plural, mit dem der Sprecher sich selbst meint, andererseits jedoch auch – und darum soll es hier gehen –, wenn es um

|| 244 D. h. die Schamteile. 245 Gemeint ist: Die Tatsache, dass Ham über Noah lacht und ihn nicht zudeckt, macht das Handeln der Brüder erforderlich.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 95

Tatsachen geht, die Sprecher und Adressaten gleichermaßen betreffen.246 Im Epos ist die Lage komplexer: Zunächst findet die ‚eigentliche‘ erste Person Plural außerhalb wörtlicher Reden nur vereinzelt und meist an herausgehobenen Stellen Verwendung.247 Eine Abkehr von dieser Praxis zeigt sich zuerst bei Lukan, der die erste Person Plural etwas häufiger verwendet, meist in Betrachtungen zum Geschehen, in denen sich der Erzähler als Teil der römischen Gemeinschaft begreift.248 In der Spätantike begegnet die erste Person Plural regelmäßig in der panegyrischen Epik, wo der Sprecher sich als Teil der römischen Gemeinschaft versteht, zu der auch das Publikum und ein Teil der Menschen in der Erzählung gehören.249

|| 246 Ich greife exemplarisch den Gedanken heraus, dass, wenn anderswo eine bestimmte Tageszeit ist, „bei uns“ (d. h. der Gemeinschaft, der der Sprecher und seine Adressaten angehören) eine andere herrscht; der Gedanke begegnet in Variationen bei mehreren Lehrdichtern, so bei Lucr. 1,1065–1067 (hier kritisch referiert: illi cum videant solem, nos sidera noctis / cernere, et alternis nobiscum tempora caeli / dividere et noctes parilis agitare diebus), Verg. Georg. 1,250sq. (nosque ubi primus equis Oriens adflavit anhelis / illic sera rubens accendit lumina Vesper) und Manil.1,243–245 (… illic orta dies sopitas excitat urbes / et cum luce refert operum vadimonia terris; / nos in nocte sumus somnosque in membra vocamus). 247 Vgl. etwa Verg. Aen. 7,1sq. (am Buchbeginn: tu quoque litoribus nostris, Aeneia nutrix, / aeternam moriens famam, Caieta, dedisti …) und 7,646 (im Binnenproöm: ad nos vix tenuis famae perlabitur aura, nach Hom. Il. 2,486, dort ebenfalls im Binnenproöm; vgl. zu beiden Stellen Williams 1983, 199). An weniger exponierter Stelle begegnet die 1. Person Plural z. B. in Ov. Met. 1,414sq. (inde genus durum sumus experiensque laborum / et documenta damus qua simus origine nati). 248 Deutlich ist diese Identifikation mit den handelnden Figuren z. B. in 7,58–60 (vor der Schlacht von Pharsalos: hoc placet, o superi, cum vobis vertere cuncta / propositum, nostris erroribus addere crimen? / cladibus inruimus nocituraque poscimus arma …); auf die Vergangenheit zielt auch 8,831–834 (der Erzähler wendet sich an Ägypten, wo sich nun Pompeius’ Grab befindet: nos in templa tuam Romana accepimus Isim / … / tu nostros, Aegypte, tenes in pulvere manes). Gegenwartsgebunden ist dagegen z. B. 7,643–645 (der Erzähler beklagt, dass sie, die Römer der Jetztzeit, unverschuldet die Folgen von Pharsalos tragen: pavide num gessimus arma / teximus aut iugulos? alieni poena timoris / in nostra cervice sedet). 249 Ich nenne exemplarisch einige Fälle aus Claud. Get.: 41sq. (an Stilicho: tua nos urgenti dextera leto / eripuit …); 44–49 (iam non … prospicimus … metimur … poscimus … querimur); 87 (nostri); 133sq. (quanto maius opus solo Stilichone peractum / cernimus!).

96 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

a) Gegenüberstellung von „Wir“ und Gott Betrachten wir nach diesen Vorbemerkungen nun die Lage bei Victorius, wo sich neben gelegentlichen auktorialen Pluralen250 etliche Stellen finden, an denen der Erzähler sich eindeutig als Teil einer Gemeinschaft versteht. Victorius setzt dabei einige besondere Akzente. Auffällig ist zunächst, dass an den meisten der betreffenden Stellen dem „Wir“ ein „Du“ oder „Er“ gegenübersteht, nämlich Gott. Die Personenkonstellation ist hiermit eine deutlich andere als im paganen Lehrgedicht: Dort ist das Figureninventar im Wesentlichen auf den Lehrer und den Schüler beschränkt, die sich in der Regel gegenüberstehen, gelegentlich aber auch zu einer „Wir“-Gemeinschaft zusammengefasst sind. In der Alethia ist hingegen mit Gott eine weitere, entscheidende Person im Spiel, die auch das Verhältnis des Erzählers zu seinen Adressaten bestimmt. Wesentlich ist nun nicht mehr die Opposition zwischen Lehrer und Schüler(n), sondern die zwischen den Menschen und Gott. Diese Konstellation wird schon gleich am Beginn der precatio programmatisch ausgesprochen, wenn es in der Art eines Glaubensbekenntnisses heißt nam te ratione profunda / in tribus esse deum … credimus … (prec. 4sq.).251 Ein derartiges „Wir“-„Du“-Gegenüber, das hier durch den „Du“-Stil der precatio begünstigt ist, findet sich im weiteren Werk nur noch einmal, nämlich nach der Geschichte von Kains Brudermord. Der Erzähler meditiert hier angesichts der Verschonung Kains über Gottes Gnade und bricht in den Ausruf aus (2,307): o bona maiestas, quid non sperare queamus! O gute Majestät, worauf sollten wir nicht hoffen können!

Doch auch wenn der Sprecher von Gott in der dritten Person spricht, bleibt die Konstellation die gleiche. Am bemerkenswertesten ist hier eine Reflexion, die dem Bericht von der Erschaffung des Menschen nach Gen. 2 vorangestellt ist. Victorius liest die Genesis linear und beschäftigt sich daher mit dem Problem, warum Gott am siebten Tag, an dem er doch ruhte, anscheinend auch den Men-

|| 250 Auktoriale Plurale treten auf in prec. 104 (dum … formare … paramus), 2,165 (nostra chelys) und wahrscheinlich in 1,78 (mens … nostra). 251 Das „Wir“ kann sich hier natürlich nur auf die Christen beziehen (wenngleich kein Gegensatz zu den Heiden intendiert zu sein scheint), wohingegen an den nachfolgend zu diskutierenden Stellen teilweise auch die Menschheit insgesamt gemeint sein kann. Ich unterscheide die Stellen nicht hiernach, weil es hier nur darauf ankommt, dass der Sprecher sich als Teil einer Menschengemeinschaft begreift.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 97

schen schuf, und warum die Erschaffung des Menschen überhaupt vom sonstigen Schöpfungswerk abgegrenzt ist. Dabei erwägt er zunächst die Möglichkeit, dass es sich für Gott noch um den sechsten Tag handelte, weil für ihn alles gegenwärtig sei, „was uns entflieht“ (deo … praesto omnia habenti, / quae nobis fugiunt, 1,192sq.). Noch aufschlussreicher als diese einfache Gegenüberstellung von Gott und Mensch ist jedoch die zweite Erklärung. Victorius sieht offenbar einen qualitativen Unterschied zwischen der Erschaffung der übrigen Dinge und Tiere in Gen. 1, die durch einen bloßen Befehl erfolgte, und der Erschaffung des Menschen, bei der Gott selbst gleichsam handwerklich tätig war. Daher erwägt er als weitere Möglichkeit (1,195–197): sive, ut nos merito rebus praestare creatis, 195 quos facit ipse manu, doceat, manifestius edit nunc, quod factus homo est, solidoque hoc intimat orbi … Oder aber, um zu lehren, dass wir, die er selbst mit der Hand macht, mit Recht das Geschaffene übertreffen, erklärt er deutlicher, dass der Mensch gemacht wurde, und verkündet dem ganzen Erdkreis … (Es folgt eine kurze Rede, in der Gott den kategorialen Unterschied zwischen der übrigen Schöpfung und dem Menschen herausstellt.)

Gott erscheint hier selbst als der Lehrer (vgl. doceat), die Menschen, und mit ihnen der Erzähler, sind seine Schüler. Die Aussage, dass Gott oder andere Gegenstände und Figuren der Erzählung etwas lehren (docere oder edocere), ist bezeichnend für die lehrdichterische Ausrichtung der Alethia und begegnet im Werkverlauf noch einige weitere Male. Bemerkenswert ist dabei, dass als Empfänger der Lehre meist weniger die unmittelbar beteiligten Figuren als die Menschheit insgesamt gemeint scheint.252 Der Erzähler der Alethia wird so zu einem Teil derer, die aus dem biblischen Geschehen zu lernen suchen, was im zitierten Beispiel natürlich eine paradoxe Situation ergibt, weil er selbst ja Gott diese Rede in den Mund legt und diese auch nur eine von mehreren Erklärungsmöglichkeiten ist (beachte die Struktur seu … sive, die sich von 190 bis 199 durchzieht).253

|| 252 Gott oder eine göttliche Qualität erscheint als lehrend in prec. 99; 1,325 und 2,557sq.. Andere Figuren oder Gegenstände werden als lehrend bezeichnet in 1,133 (Vögel); 1,178 (der siebte Tag); 2,148 (Gold); 2,315 (Kain) und 3,464 (Abram). 253 Vgl. zur Gegenüberstellung mehrerer Deutungsmöglichkeiten Kap. 1.3.3. Weitere Stellen, in denen Victorius die 1. Person Plural zur Gegenüberstellung von Menschen und Gott verwendet, begegnen vor allem im ersten Buch (1,17; 1,202; 1,330; hinzu kommt 3,16), was vielleicht dadurch zu erklären ist, dass sich hier die beginnende Menschheit und Gott noch besonders klar gegenüberstehen, während anschließend die Konflikte der nun in Gruppen und Individu-

98 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

b) Identifikation von Figur, Erzähler und Adressat An der Ausdrucksweise in 1,195sq. fällt noch ein weiterer Aspekt auf: Im eigentlichen Sinne hat Gott natürlich nur Adam und Eva „selbst mit der Hand“ gemacht, also eine Gruppe, der der Erzähler nicht angehört. Es handelt sich also um eine Synekdoche, durch die Victorius sich und seine Adressaten in eins setzt mit den handelnden Personen seines Werkes. Diese Technik wird an einer Stelle im zweiten Buch noch deutlicher, die zur Klage über Kains Brudermord gehört. Die erste Person Plural tritt hierbei in einem Vergleich mit dem der Schlange zugeschriebenen Sündenfall auf (2,232–234; die Verse passen übrigens nicht in das Schema der bisher erwähnten Passagen, da hier das Gegenüber von Gott und Menschen keine ersichtliche Rolle spielt): et ne aliquam saltim vel de serpente querelam quod morimur quisquam superesse existimet, ante coepimus occidi. Und damit keiner meint, dass zumindest irgendeine Klage über die Schlange übrigbleibt, weil wir sterben, haben wir vorher selbst angefangen, uns töten zu lassen.

Auch diese Formulierung lässt sich als Synekdoche verstehen, da im strengen Sinne ja lediglich die Menschen in der Generation nach Adam und Eva anfingen, sich töten zu lassen. Der Effekt ist ein ähnlicher wie an der vorgenannten Stelle, wenngleich die Implikationen hier negativ sind: Der Erzähler stellt eine Kontinuität zur sündigen Menschheit der Frühzeit her und macht deutlich, dass das hier in die Welt kommende Fehlverhalten auch noch ihn und seine Adressaten betrifft.254 Die beiden Stellen gehen über die in Kap. 1.2.1 beobachtete Nähe des Erzählers zu seinen Figuren hinaus, indem sie auch den Adressaten in dieses enge Verhältnis hineinziehen. Vorbilder für die Technik, sich mit den Menschen einer vergangenen erzählten Zeit durch eine 1. Person Plural zu identifizieren,

|| en zerfallenden Menschen das Gegenüber zu Gott überlagern. Eine eindeutig pluralisch gemeinte 1. Person Plural ohne Gegenüberstellung von Gott und Menschen begegnet nur in 2,232–234 (dazu nachfolgend) und in 3,781–183 (Deutungsversuche zur Entstehung des Toten Meeres nach der Vernichtung von Sodom und Gomorrha: quidnam esse putamus / quod raptim lacus est mira virtute refertus, / qui fuit ante rogus?). 254 Vgl. zur Identifikation mit der Figur auch 1,465–469, wo der Erzähler sich selbst in der 1. Person Singular neben Adam stellt (ein Bezug zum Adressaten ist hier freilich nur implizit gegeben, insofern das Verhalten des Erzählers als vorbildhaft für die Rezipienten verstanden werden kann, vgl. oben S. 81f.).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 99

lassen sich zunächst bei Lukan finden, bei dem sogar noch drastischere Fälle dieser Art auftreten.255 In der Spätantike sind am ehesten die zeitgeschichtlichpanegyrischen Epen Claudians zu vergleichen, in denen der Sprecher ebenfalls oft durch die 1. Person Plural eine Verbindung zu den Figuren der Erzählung herstellt, was hier freilich weniger auffällt, weil die berichteten Ereignisse meist der jüngsten Vergangenheit angehören und der Dichter und sein Publikum diese als Angehörige der römischen Gesellschaft tatsächlich miterlebt haben.256 Victorius überträgt somit eine Technik, die bei Werken über die jüngere bis jüngste Nationalgeschichte von vornherin naheliegt, auf seine alttestamentliche Bibeldichtung, deren Figuren weit entfernten Zeiten und Völkern angehören. Die Konstruktion einer kollektiven Identität weicht die Grenzen zwischen den Welten der Erzählung, des Erzählers und der Adressaten auf. Victorius gelingt es so, die erzählten Geschehnisse zu aktualisieren, ja er vermittelt den Eindruck, dass sie die Menschen innerhalb und außerhalb der Diegese gleichermaßen betreffen, und man darf wohl so weit gehen, hierin den Anspruch der Alethia insgesamt zu sehen. Zusammenfassung Am Anfang dieses Teilkapitels stand die Frage nach den Gattungsbezügen. Wie wir gesehen haben, spricht der Erzähler seinen Adressaten zwar nie so direkt und eindeutig an, wie dies im Lehrgedicht üblich ist, bezieht ihn aber relativ regelmäßig durch Formulierungen in der ersten Person Plural und möglicherweise durch doppeldeutige Apostrophen in die Darstellung ein. In gewisser Weise ist in den drei Büchern also durchaus ein Adressatenbezug gegeben, wie er in der precatio ja auch angekündigt wird, allerdings nimmt dieser eine auffällig andere Form als im Lehrgedicht an, sodass sich die Alethia hier letztlich nur sehr eingeschränkt mit der didaktischen Tradition vergleichen lässt. Fraglich bleibt überdies, ob die betreffenden Stellen auf die in der precatio genannte Jugend oder nicht vielmehr auf beliebige (oder zumindest beliebige christliche) Rezipienten zu beziehen sind. So oder so wird man schwerlich sagen können, dass Victorius einen intratextuellen, vom realen Rezipienten unterscheidbaren Adressaten konstruiert, wie es für das Lehrgedicht üblich ist.257

|| 255 Vgl. die Beispiele in Anm. 248. 256 Vgl. die Beispiele in Anm. 249. 257 Dieser Befund passt damit zusammen, dass auch zwischen dem Erzähler und dem realen Autor kein klarer Unterschied auszumachen ist.

100 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Überdies lassen sich Ähnlichkeiten mit gewissen Teilen der Epik beobachten. Wie am Ende des letzten Teilkapitels bietet sich speziell ein Vergleich mit dem spätantiken panegyrischen Epos an. Wie erwähnt, ist der wesentliche Bezugspunkt in der Rezitationssituation die zu preisende Person. Ihr gegenüber verschmelzen der Dichter, das Publikum und die Menschen der Erzählung (freilich mit Ausnahme der jeweiligen Feinde) zum Kollektiv der Römer, das mit der ersten Person Plural bezeichnet werden kann. In der Alethia ist teilweise Vergleichbares zu beobachten: Hier ist es das Gegenüber zu Gott, das Erzähler, Rezipient und Figuren aneinanderrücken lässt und ihre Verbundenheit als Vertreter der Menschheit erkennbar macht.

1.2.3 Poetic self-consciousness und poetic simultaneity In diesem Teilkapitel soll ein Aspekt des Erzählerverhaltens zur Sprache kommen, der bisher außer Acht gelassen wurde, nämlich die Äußerungen des Erzählers über sein eigenes dichterisches Handeln. Dichterische Texte haben, wie Katharina Volk in ihrer Monographie zum Lehrgedicht treffend herausstellt, die Wahl, ihren Status als Dichtung nur durch ihre poetische Machart erkennbar werden zu lassen oder auf diesen durch entsprechende Bemerkungen des Sprecher-Ichs explizit hinzuweisen. Den letzteren Fall, der hier in erster Linie interessiert, bezeichnet Volk als poetic self-consciousness.258 In den meisten Texten, die ihr dichterisches Wesen explizit machen, fällt zusätzlich auf, dass der Sprecher den Eindruck erweckt, der Dichtungsvorgang vollziehe sich gleichsam vor den Augen oder Ohren des Rezipienten, eine Eigenart, die Volk als poetic simultaneity bezeichnet. Beide Phänomene begegnen prinzipiell sowohl im Epos als auch im Lehrgedicht, doch unterscheiden sich die Gattungen erheblich, was das Maß ihres Einsatzes eingeht: Im Epos sind die Stellen, an denen der Dichtungsstatus oder -vorgang bewusst gemacht wird, vergleichsweise selten, wenngleich sie im Laufe der Gattungsentwicklung häufiger werden, und sie konzentrieren sich mehr oder weniger deutlich auf herausgehobene Stellen wie Proömien und Musenanrufe.259 Im Lehrgedicht sind Bemerkungen über den Dichtungsvorgang

|| 258 Vgl. Volk 2002, 9: „a poem (identified by its audience or readers as ‘poetry’, whatever it is that this means to them) can, in addition, explicitly present itself as poetry or, otherwise, choose not to draw attention to this fact. The former kind is what I have called the ‘self-conscious poem’ …“ 259 Vgl. Effe 2004 passim, bes. 25f. (zu Apollonios Rhodios), 38f. (zu Vergil), 51f. (zu Ovid), 62 (zu Lukan), 75 (zu Valerius Flaccus), 81–83 (zu Statius), 89f. (zu Silius Italicus).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 101

dagegen weitaus häufiger und können auch länger ausfallen; hinzu kommen zahlreiche Hinweise, die den Eindruck erwecken, die Dichtung entstehe gleichzeitig mit der Belehrung des Schülers vor dem Rezipienten.260 Da Epos und Lehrgedicht sich also hinsichtlich der poetic self-consciousness und poetic simultaneity deutlich unterscheiden, bietet es sich an, auch die Alethia auf diesen Aspekt hin zu untersuchen. Vorausgeschickt sei, dass die betreffenden Stellen recht heterogen sind und die unterschiedlichen Einflüsse im Werk widerspiegeln. Ich beginne mit den Fällen, die sich mit dem Lehrgedicht vergleichen lassen, und hierbei wiederum mit den Stellen, an denen der Sprecher das Werk explizit als Dichtung qualifiziert. Anzeichen für poetic self-consciousness Die ersten und längsten Stellen, an denen der Erzähler auf den dichterischen Charakter seines Werks und den Dichtungsprozess hinweist, finden sich in der precatio, die ja überhaupt trotz mancher Brüche sehr dem Lehrgedicht verpflichtet ist, und hier konkret in den preces (prec. 101–126), die die Voraussetzungen und Umstände der Werkentstehung betreffen. Schon die der ersten Bitte vorausgehende Aussage, Gott treibe die Herzen, Wahres zu sagen, „auch wenn der Künder unwissend ist“ (qui verum pectora cogis / ignaro quoque vate loqui, prec. 102sq.), ist hier von Bedeutung, da beim Begriff vates das poeta-vatesKonzept mitschwingt, das Victorius hier aus christlicher Perspektive umzudeuten scheint (ausführlicher oben S. 32f.). Dass es sich bei dem begonnenen Werk um Dichtung handelt, wird noch deutlicher in prec. 119–121 herausgestellt, wo der Beter sich zu den Schwierigkeiten einer dichterischen Umsetzung des Stoffes äußert (vgl. besonders den Verweis auf die lex metri und die Wendung incauto … decurrere versu; ausführlicher oben S. 39f.). Dass die precatio Zeichen von poetic self-consciousness aufweist, überrascht angesichts ihrer herausgehobenen Stellung vielleicht nicht allzu sehr. Wie steht es hiermit jedoch im weiteren Verlauf des Werkes? Tatsächlich finden sich hier nur noch zwei Stellen, an denen das Werk als Dichtung qualifiziert wird. Am

|| 260 Vgl. Volk 2002 passim, bes. 39, wo Volk programmatisch Epos und Lehrgedicht kontrastiert: „… epic always exhibits poetic self-consciousness, but the law of ‘epic objectivity’ does not allow wide scope for reflection on the speaker’s role as poet or the poetic nature of his words; didactic, by contrast, has the possibility to stress the persona’s poetic activity and to reflect at great length on its own status as poetry.“ Volk weist diese Eigenart anhand der Lehrgedichte des Lukrez, Vergil, Ovid und Manilius nach; exemplarisch sei auf ihre instruktive Zusammenstellung entsprechender Passagen aus Lukrez auf S. 75f. und 83f. verwiesen.

102 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

deutlichsten ist dies im Proöm zum zweiten Buch, also wieder an einer exponierten Stelle, die auch sonst mit dem Lehrgedicht vergleichbar ist. Wie in Kap. 1.1.2 dargestellt, reflektiert der Erzähler hier in auffälliger, wenn auch nicht ganz leicht deutbarer Weise über sein dichterisches Vorgehen, wobei er den poetischen Status des Werks durch die Ausdrücke versu und veris miscere poetam explizit macht (2,4sq.). Jenseits dieser beiden herausgehobenen Stellen findet sich eine selbstreferenzielle poetologische Bemerkung nur im Schlussteil der Digression des zweiten Buches, wo es heißt (2,163–165): forsitan et cunctos quos fingit opinio casus artifices summos operum percurrere versu possit nostra chelys …

165

Vielleicht könnte unsere Leier noch alle weiteren Fälle, die einer gewissen Meinung zufolge die Werke hervorgebracht haben,261 (165) im Vers durcheilen …

In den Versen äußert sich der Erzähler zwar nicht so detailliert wie in der precatio oder im zweiten Proöm zu seinen dichterischen Prinzipien, doch weist er mit versu und nostra chelys262 ähnlich wie dort in unmissverständlicher Weise auf seine Rolle als Dichter hin. Anzeichen für poetic simultaneity Weitaus häufiger finden sich in der Alethia Bemerkungen über den Darstellungs- oder Erzählprozess, die sich unter dem Begriff poetic simultaneity zusammenfassen lassen. Auch hier ist zunächst an die precatio zu denken. Besonders die Bitte um Wissen bei der anstehenden Belehrung der Jugend (da nosse precanti …, prec. 103–111) erweckt hier den Eindruck, das Werk entstehe unmittelbar vor den Augen oder Ohren des Rezipienten. Die folgende Bitte, Gott möge auch Verstand, Zeit und Eifer geben, „damit einer so großen Arbeit die Sorgfalt nicht fehlt“ (da simul et mentem, da congrua tempora menti, / da studium, tanto ne desit cura labori, prec. 112sq.), untermalen das Bild des ‚hier und jetzt‘ entstehenden Gedichts.

|| 261 Die ersten beiden Verse sind nicht ganz eindeutig zu übersetzen, dazu genauer unten Anm. 680. 262 Vgl. zur Verwendung von chelys für Dichtung das Material im ThLL s. v. chelys Bd. 3, p. 1005,77–1006,39. Besonders häufig begegnet das Wort demnach bei Statius, ähnlich wie bei Victorius z. B. in Silv. 1,5,1 (non Helicona gravi pulsat chelys …).

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 103

Im weiteren Verlauf des Werks begegnen mehrfach – und auch abseits exponierter Stellen – Bemerkungen, die diesen Eindruck fortsetzen. Ich zitiere zunächst die erste betreffende Passage, an der sich exemplarisch die auch sonst verwendeten Ausdrucksformen zeigen lassen. Die Verse stehen nach dem Bericht von der Erschaffung der Tiere und kündigen eine neue Erzählweise an (1,144–146): hinc iam fas mihi sit quaedam praestringere, quaedam sollicito trepidum penitus transmittere cursu, 145 mutata quaedam serie transmissa referre. Ab hier sei es nunmehr erlaubt, manche Dinge zu raffen, manche (145) eilig in rastlosem Lauf gänzlich zu übergehen, manche in veränderter Reihenfolge, nachdem ich sie übergangen habe, zu berichten.

Bedeutsam ist hier bereits der deiktische Marker hinc iam. Die Worte dienen natürlich der Gliederung, indem sie den bisherigen und den kommenden Teil des Werks unterscheiden, zugleich richten sie jedoch das Augenmerk auf den Erzähl- und Dichtungsvorgang und erzeugen die Illusion, dieser finde ‚hier und jetzt‘ statt. Wichtig ist ferner die Weg- oder Bewegungsmetaphorik, die in sollicito … cursu anklingt. Die Formulierung evoziert das Bild von der dichterischen Darstellung als einer Reise, die der Sprecher oder Erzähler Stück für Stück zurücklegt, eine Vorstellung, die zu den typischen Ausdrucksformen poetischer Simultaneität gehört.263 Beide genannten Merkmale – deiktische Marker und Bewegungsmetaphorik – begegnen in der Alethia teils zusammen, teils alleine noch einige weitere Male: Eine Apostrophe an die „ganz törichte Schar“ wird mit dem deiktischen hoc nunc … loco in den Erzählprozess eingebunden (1,371). Ein längerer Kommentar wird mit den Worten hic nunc excurrere paulum / fas fuat (1,405sq.) angekündigt, in denen sich wieder beide Merkmale verbinden. Im Proöm zum zweiten Buch wird in ähnlicher Weise auf den bisherigen Inhalt mit hactenus … cucurri verwiesen (2,1sq.), der neue wird mit nunc … ingressum (2,4sq.) eingeführt. In den bereits zitierten Versen aus dem Schlussteil der Digression des zweiten Buches wird metaphorisch von percurrere versu gesprochen (2,164; vgl. schon decurrere versu in prec. 121). Die Digression des dritten Buches wird schließlich mit der ebenso metaphorischen Formulierung sed redeo ad summam, qua sum degressus beendet (3,210).

|| 263 Hierzu Volk 2002, 20f., die Beispiele seit Homer und Hesiod nennt (vgl. dort auch für weiterführende Literatur).

104 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Die Beispiele zeigen, dass der Erzähler vor allem in der ersten Werkhälfte (bis einschließlich zur Digression des zweiten Buches) regelmäßig den Erzähloder Dichtungsvorgang bewusst werden lässt, wobei die betreffenden Bemerkungen meist zugleich eine dispositorische Funktion haben.264 Victorius nähert sich hiermit in auffälliger Weise der Lehrdichtung an, wo gerade dispositorische Zwischenbemerkungen in großer Zahl begegnen.265 Auch für einige der von ihm verwendeten Verben oder Satzstrukturen lassen sich Vorbilder in Zwischenbemerkungen des Lehrgedichts finden.266 Bibelparaphrastische self-consciousness Die Ähnlichkeiten zum Lehrgedicht dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die betrachteten Stellen auch Gedanken enthalten, die in eine ganz andere Richtung gehen. Betrachten wir dafür erneut die oben zitierten Verse 1,144–146. Eine weitere, noch nicht erwähnte Auffälligkeit in den Versen ist die Formulierung fas mihi sit. Es handelt sich nicht um das einzige Mal, dass der Erzähler um Erlaubnis für bestimmte Aussagen oder Erzählweisen bittet: Schon in der precatio stellt der Beter einer gewagten These über Gottes Bewertung der Sünde ähnliche Worte voran (praefata fas sit dixisse trementi / pace tua, genitor, prec. 78sq.). Im ersten Buch bittet der Erzähler nach der genannten Stelle noch zwei weitere Male um Erlaubnis für das Folgende, einmal vor einem emotiona-

|| 264 Als weitere dispositorische Bemerkung, die jedoch sprachlich nicht mit den oben genannten Fällen vergleichbar ist, sei 1,222 genannt, wo ein Ausblick auf die Auferstehung mit utile praeseritur („es wird als etwas Nützliches vorangestellt“ = „es ist nützlich, voranzustellen“) eingeführt wird. 265 Besonders zahlreich bei Lukrez, vgl. die Beispiele bei Volk 2002, 75f. Zur Veranschaulichung der Verbreitung entsprechender Stellen einige willkürlich ausgewählte Beispiele von verschiedenen lateinischen Lehrdichtern: quoniam docui (Lucr. 1,265), ut repetam (Lucr. 1,418), nunc … scrutemur (Lucr. 1,830), possum … referre (Georg. 1,176), dicam (Georg. 2,226), quid … versu / prosequar (Georg. 3,339sq.), docebo (Georg. 3,440), restat ut … reddere coner (Manil. 1,561), canam (Manil. 2,713), currimus atque … eruimus (Aetna 572sq.), nec mea Musa … relinquet (Avien. Arat. 440), quid … canam (Avien. Arat. 1774). 266 Vgl. zu currere im Sinne von ‚nennen, behandeln‘ Aetna 572 (cunctasque libet percurrere gentes), zu percurrere im selben Sinne Manil. 1,117 (magnaque … percurrere), zu redire nach einer Digression Lucr. 5,780 (nunc redeo ad mundi novitatem), zu degredi Verg. Georg. 3,300 (hier digredi, oft mit digredi vermischt: hinc digressus); zur Vorbildhaftigkeit von Verg. Georg. 2,1sq. für Aleth. 2,1–5 sei auf Kap. 1.1.2 verwiesen. Angemerkt sei, dass die Verben in ihrer hier interessierenden Funktion häufiger in Prosa, vor allem in rhetorischen Texten begegnen; innerhalb der Dichtung lassen sie sich jedoch am ehesten mit den Ausdrucksformen des Lehrgedichts in Verbindung bringen.

Präsenz und Verhalten des Erzählers | 105

len Kommentar (hic nunc excurrere paulum / fas fuat et turpes veterum deflere ruinas, 1,405sq.), einmal vor der Aussage, Gottes Milde übersteige seine Gerechtigkeit (fas dixisse mihi, fas sit quoque dicta probasse, 1,464). Schließlich enthält das schon mehrfach erwähnte Proöm zum zweiten Buch die Bitte, „mit Wahrem den Dichter mischen“ zu dürfen (fas sit veris miscere poetam, 2,5, vgl. zur Übersetzung und Deutung Kap. 1.1.2, besonders S. 48). In den fas-sit/fuat-Formulierungen kommt eine vorsichtige, ja ehrfürchtige Sprechhaltung zum Ausdruck, für die sich im Lehrgedicht schwer Parallelen finden lassen und die für eine Erzählerfigur, die sich zuvor als Lehrer der Jugend ausgewiesen hat (vgl. prec. 104sq.), überhaupt ungewöhnlich anmutet. Sucht man in der lateinischen Dichtung nach vergleichbaren Ausdrucksweisen außerhalb von wörtlicher Rede, so zeigt sich, dass diese hauptsächlich da auftreten, wo der Erzähler bzw. das Sprecher-Ich eine numinose Scheu vor dem darzustellenden Gegenstand empfindet, so zuerst im sechsten Buch der Aeneis, wenn der Erzähler die Unterweltsgötter anspricht und um die Erlaubnis bittet, das Gehörte auszusprechen (sit mihi fas audita loqui …, Verg. Aen. 6,266). Später begegnen ähnliche Bitten z. B. in Ovids Heroides, in Statius’ Silven oder in Ausonius’ Mosella, und zwar zumeist, wenn der Sprecher Gotteserscheinungen beschreiben will.267 Schließlich verwenden auch einige christliche Dichter ähnliche Formulierungen, wenn sie sich anschicken, Gottes Taten oder Werke zu besingen.268 Kommen wir zurück zur Alethia. Die fas-sit-Bitten in prec. 78sq. und 1,464 lassen sich ohne Weiteres mit den skizzierten Beispielen vergleichen: Der Erzähler versucht, in die Geheimnisse von Gottes Wesen einzudringen, und versichert sich dafür vorab des göttlichen Einverständnisses. Warum aber bittet der Erzähler an den drei weiteren Stellen im ersten und zweiten Buch, wo es nicht unmittelbar um göttliche Geheimnisse geht, um Erlaubnis für seine Darstellung? Die numinose Scheu betrifft hier offenbar die Vorlage, also den Bibeltext, den der Erzähler modifiziert oder erweitert. Im ersten Fall geht es um Kürzungen, Aus-

|| 267 Vgl. Ov. Her. 16,63 (Epiphanie des Merkur: fas vidisse fuit, fas sit mihi visa referre); Stat. Silv. 3,2,15 (über die Nereiden: dicere quae magni fas sit mihi sidera ponti); Auson. Mos. 187 (Spiele der Nymphen in der Mosel: fas mihi sit pro parte loqui …). Anders ist der Gebrauch z. B. in Stat. Silv. 1,5,61: fas sit componere magnis / parva). Vgl. zur ehrfürchtigen Haltung vor göttlichen Geheimnissen schon Apoll. Rhod. 1,919–921 und 4,247–250, wo der Erzähler „sich mit naiv-gläubiger Gebärde davor zurück[ruft], von sakralen und geheimen Vorgängen zu erzählen“, wobei allerdings ein ironischer Unterton mitschwingt (vgl. Effe 2004, 26). 268 Vgl. Paul. Pell. Euch. 17sq. (sit mihi fas igitur versu〈s〉 tua dona canentem / pangere et expressas verbis quoque pendere grates …); Ps.-Hil. Evang. 46sq. (modo pandere fas sit / o celsa secreta poli).

106 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

lassungen und Umstellungen gegenüber der Vorlage, also die zentralen Techniken der Bibelparaphrase (1,144–146),269 im zweiten um einen deutenden und wertenden Zusatz zur Erzählung (1,405sq.), im dritten um längere eigene Erfindungen (2,5, vgl. die Interpretation in Kap. 1.1.2). Der Erzähler macht an den Stellen darauf aufmerksam, dass er eine Vorlage verarbeitet und dass er von dieser in manchen Punkten abweicht. Das Werk weist somit selbst auf seinen Charakter als Bibelparaphrase hin, was übrigens noch deutlicher in prec. 106 der Fall war, wo die scrinia Moysis als Quelle der Darstellung genannt wurden. Die Alethia zeigt an den genannten Stellen gleichsam bibelparaphrastische selfconsciousness, womit sie sich natürlich denkbar weit von der Selbstpräsentation des Lehrgedichts und des Epos entfernt. Dass Victorius, den man hier wohl mit dem Erzähler gleichsetzen darf, sich für die Abweichungen von der Vorlage derart umständlich entschuldigen zu müssen glaubt, deutet darauf hin, dass er sich nicht vollständig innerhalb anerkannter Gattungsnormen bewegte, und in der Tat zeigt die Alethia ja einen wesentlich freieren Umgang mit der Vorlage als sein mutmaßlicher unmittelbarer Vorgänger, der Heptateuchdichter.270 So verstanden, markieren die fas-sit/fuat-Bitten den Übergang von der historischgrammatischen Paraphrase zur neueren rhetorisch-didaktischen Paraphrase in der alttestamentlichen Bibeldichtung, betreffen also nicht nur den Vorgang der Werkentstehung, sondern auch den der Gattungsentwicklung.271 Zusammenfassung Die Durchsicht der Stellen hat gezeigt, dass der Erzähler der Alethia an einer ganzen Reihe von Stellen die Aufmerksamkeit auf den Darstellungsvorgang lenkt, wobei das Werk zumindest dreimal explizit als Dichtung gekennzeichnet wird. Dabei erinnern vor allem die Stellen, an denen der Erzähler sein Vorgehen

|| 269 In dieser Hinsicht wurde die Stelle auch bereits mehrfach behandelt, so etwa von Roberts 1985, 98, Martorelli 2008, 25f. und Cutino 2009, 114. Wo und in welcher Form Victorius tatsächlich Inhalte seiner biblischen Vorlage übergeht, verkürzt, umstellt oder auch erweitert, ist im Detail bei Martorelli 2008 in seinem Kapitel „Caratteri parafrastici dell’Alethia“ dargestellt (S. 53–103). 270 Traditionell gilt die Heptateuchdichtung als etwas früher entstanden, doch hat K. Pollmann, Der sogenannte Heptateuchdichter und die Alethia des Claudius Marius Victorius. Anmerkungen zur Datierungsfrage und zur Imitationsforschung, Hermes 120 (1992), 490–501, gezeigt, dass die relative Datierung auf höchst unsicheren Argumenten beruht. Sicher ist also nur, dass die Heptateuchdichtung formgeschichtlich eine frühere Stufe repräsentiert, was für eine Priorität spricht, sie aber nicht sicher macht. 271 So nach der Typologie Klaus Thraedes, vgl. Thraede 1962a, 1026–1029.

Einzelne Elemente der Darstellung | 107

mit disponierenden Einschaltungen kommentiert, bis zu einem gewissen Grad ans Lehrgedicht, und man kann sagen, dass der Erzähler sich hier der Haltung eines Lehrgedichtsprechers annähert, wenngleich sich diese teilweise mit der Haltung des die Gattung weiterentwickelnden Bibeldichters vermischt. Auffällig ist bei alledem, dass die selbstreferenziellen Bemerkungen im Laufe des Werks immer seltener werden. Im Falle der fas-sit/fuat-Bitten könnte dieser Rückgang vielleicht dadurch bedingt sein, dass die betreffenden Darstellungsweisen nur einmal angekündigt werden müssen und danach ohne neuerliche Entschuldigung praktiziert werden. Darüber hinaus kann man im Nachlassen der poetic self-consciousness und poetic simultaneity einen weiteren Beleg dafür sehen, dass das Werk sich allmählich vom Einfluss des Lehrgedichts löst und zu einer eher dem Epos entsprechenden Erzählweise entwickelt.

1.3 Einzelne Elemente der Darstellung 1.3.1 Darstellungselemente mit vorwiegendem Bezug zum Epos 1.3.1.1 Ekphraseis Ein Darstellungselement, das in keinem Epos fehlen darf, ist die Ekphrasis (lateinisch meist descriptio), also die in die Erzählung eingelegte Beschreibung, einem engeren, modernen Verständnis nach speziell die Beschreibung eines Kunstgegenstandes.272 Ziel der Ekphrasis ist nach der antiken rhetorischen Theorie, dem Rezipienten das jeweilige Objekt so anschaulich vor Augen zu stellen, als ob er es leibhaftig vor sich hätte.273 Die neuere Forschung richtet den Blick stärker auf das Verhältnis von Beschreibung und Erzählung, wobei mehr oder

|| 272 Vgl. zur Definition M. Fantuzzi/C. Reitz/U. Egelhaaf-Gaiser, Art. „Ekphrasis“, in: DNP 3, Stuttgart/Weimar 1999, 942–950. Nach der weiteren Definition können Gegenstände der Ekphrasis demnach „Personen, Sachen, Situationen, Orte, Jahreszeiten, Feste usw.“ sein (so Sp. 942 unter Berufung auf die griechische Rhetorik, die aber die lateinische beeinflusste). Zur modernen Einschränkung vgl. Sp. 946, wonach als Gegenstände „Waffenzubehör, bes. - Homer folgend - der Schild, Gewebe, Schmuckstücke, Gefäße, figürliche Darstellungen aus Malerei oder Plastik, v.a. auf Gebäuden, schließlich auch unsichtbare Phänomene“ infrage kommen. 273 Vgl. in der griechischen Rhetoriktheorie z. B. Theon Prog. 11 p. 118 Sprengel (ἔκφρασίς ἐστι λόγος περιηγηματικὸς ἐναργῶς ὑπ’ ὄψιν ἄγων τὸ δηλούμενον. γίνεται δὲ ἔκφρασις προσώπων τε καὶ πραγμάτων καὶ τόπων καὶ χρόνων), vgl. auf lateinischer Seite z. B. Quint. Inst. 6,2,32 (ausgehend vom Begriff ἐνάργεια, der hier fast gleichbedeutend mit ἔκφρασις ist: insequetur ἐνάργεια, quae a Cicerone inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter quam si rebus ipsis intersimus sequentur); weitere Stellen bei Lausberg 1990a, 399–402; vgl. auch Roberts 1989, 38–40.

108 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

weniger subtile Bezüge zwischen der Ekphrasis und der Gesamterzählung zutage treten.274 Die Tradition der Ekphrasis lässt sich bis Homer zurückverfolgen, der mit der Schildbeschreibung (Il. 18,468–608), aber auch mit seinen Ortsschilderungen (z. B. Od. 7,111–132) großen Einfluss auf die weitere (nicht nur epische) Literatur ausübte. In der Kaiserzeit gewinnt die Ekphrasis auch in der Rhetorik als Progymnasma große Bedeutung, und wohl nicht zuletzt durch diesen Einfluss erfreut sie sich auch in der Spätantike – und zwar nicht zuletzt in der christlichen Dichtung – großer Beliebtheit.275 Man kann also erwarten, dass auch Victorius daran gelegen ist, ekphrastische Darstellungen in sein Werk zu integrieren. Tatsächlich findet sich in der Alethia immerhin eine längere beschreibende Partie, nämlich die breit angelegte Paradiesdarstellung (1,223–304). Hinzu kommen einige schildernde Einlagen kürzeren Umfangs, in denen es ebenfalls um Orte geht.276 Beschreibungen von Gegenständen, insbesondere von Kunstwerken, fehlen dagegen. Eine Ekphrasis im modernen, engeren Sinne enthält die Alethia also nicht. Nach dem weiteren Verständnis, das in der Antike üblich war und dem auch ich folgen möchte, knüpft das Werk immerhin an einen Teil der Tradition an, nämlich an Ortsbeschreibungen (ἔκφρασις τόπου, in der rhetorischen Terminologie auch als τοπο-

|| 274 Vor allem im angloamerikanischen Raum ist seit Ende der 1980er Jahre ein verstärktes Interesse an der Ekphrasis wahrzunehmen; stellvertretend genannt sei der grundlegende Aufsatz von D.P. Fowler, Narrate and describe: The problem of ekphrasis, JRS 81 (1991), 25–35 (zu verschiedenen Deutungsansätzen besonders 66–69). Vgl. auch den forschungsgeschichtlichen Überblick in H. Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2003, 2–12 (den dort als weiteren Forschungsschwerpunkt genannten Intermedialitätsdiskurs übergehe ich, weil er nur Kunstbeschreibungen betrifft). Besonders weit gehen die Bezüge zwischen Beschreibung und Erzählung bei Kunstgegenständen, deren Inhalte die Rahmenerzählung spiegeln (so z. B. bei Moschos) oder Rückblicke in die Vorgeschichte (so z. B. bei Vergil, Valerius Flaccus und Silius) bzw. ‚Fenster‘ in die Zukunft eröffnen (so besonders bei Vergil), doch können die Bezüge auch hintergründigerer Art sein, vgl. Fantuzzi/Reitz/Egelhaaf-Gaiser (oben Anm. 272), 944. 946, Fowler op. cit. 69 und Wandhoff op. cit. 9f. 275 Vgl. zur rhetorischen Ekphrasis und ihrer Bedeutung für die spätantike Dichtung Roberts 1989, 38–56; siehe auch G. Downey, Art. „Ekphrasis“, in: RAC 4, Stuttgart 1959, 921–944, hier 937f., der von den christlichen Dichtern Paulinus von Nola (Beschreibung von Gottesdienstgebäuden) und Prudentius (Beschreibung von Bildern zum AT und NT im Dittochaeum) hervorhebt. 276 2,11–14 (Beschreibung des Landes außerhalb des Paradieses); 2,532–535 (das wiedergewonnene Land nach der Sintflut); 3,65–70 (Fruchtbarkeit des Landes nach der Sintflut). An die Beschreibung von Gemälden erinnert 3,523–530, wo der Erzähler allerdings keinen Gegenstand, sondern Abrams Traumvision beschreibt (dazu unten Kap. 2.1.3).

Einzelne Elemente der Darstellung | 109

γραφία oder τοποθεσία bezeichnet),277 die im Epos ebenfalls häufig begegnen und sich als eine Subkategorie epischer Ekphraseis verstehen lassen. Damit erhebt sich die Frage, wie eng sich er an diesen Teil der Ekphrasistradition anschließt. Die Frage soll auf den folgenden Seiten anhand der Beschreibung des Paradieses geklärt werden. Da die eingelegten Kataloge und das Verhältnis der Paradiesdarstellung zum Mythos des Goldenen Zeitalters in späteren Teilkapiteln behandelt werden sollen (Kap. 1.3.2.3 bzw. Kap. 2.2.2), kann die Betrachtung sich hier auf die für die Verwendung der Ekphrasis wichtigen Aspekte beschränken. Formale und inhaltliche Bezüge zu epischen Ortsbeschreibungen Betrachten wir zunächst den formalen Rahmen: Der erste Satz des Paradiesabschnitts nennt die Lage (Eoos aperit felix qua terra recessus, editiore globo, V. 224sq.) und die Art (nemoris paradisus amoeni, V. 225, wobei paradisus zugleich als Eigenname fungiert) des zu beschreibenden Ortes. Mit hic wird eine genauere Beschreibung des Ortes angeschlossen. Nach dieser wird die Erzählung mit einem Demonstrativpronomen wiederaufgenommen (haec igitur … regna, V. 305sq.). Eine solche Rahmung, besonders die Wiederaufnahme der Erzählung mit einem Demonstrativpronomen, lässt sich auch in vielen epischen Ortsbeschreibungen beobachten.278 Auffällig ist freilich die Länge der Paradies-

|| 277 Vgl. zum Begriff Lausberg 1990a, 406f. Demnach unterscheiden einige Grammatiker zwischen der τοποθεσία als Beschreibung eines fingierten Ortes und der τοπογραφία als Beschreibung eines realen Ortes (so z. B. Serv. Aen. 1,159: topothesia est, id est fictus secundum poeticam licentiam locus). Ich vermeide die Begriffe hier, weil sich das Paradies nicht sinnvoll einer der beiden Kategorien zuordnen lässt. 278 Vgl. zur Einleitung z. B. Verg. Aen. 1,159 (Angabe der Lage: est in secessu longo locus … ); 7,563sqq. (Lage, Art und Name: est locus Italiae medio sub montibus altis … Amsancti valles); Ov. Met. 3,407 (Art: fons erat inlimis …); 10,644 (Art und Name: est ager, indigenae Tamasenum nomine dicunt …); 11,592 (Lage und Art: est prope Cimmerios longo spelunca recessu ...); Lucan. 3,399 (Art: lucus erat …). Zur Wiederaufnahme der Erzählung mit einem Demonstrativpronomen seien exemplarisch genannt Verg. Aen. 1,170 (huc …); Ov. Met. 3,413 (hic …); 10,649 (hinc …); 11,616 (relativischer Anschluss: quo …); Sil. 11,511 (hic …); Lucan. 3,426 (hanc …); Stat. Theb. 2,55 (hac …). Eine Besonderheit ist, dass der Ort bei Victorius erst angelegt wird, wie sich in den nachgestellten Hauptsatzprädikaten des ersten Satzes zeigt (pangitur … distinguitur, V. 226). Victorius verzichtet damit zugleich auf die im Epos gebräuchlichen Einleitungsformeln wie est locus (siehe die genannten Beispiele, vgl. auch Lausberg 1990a, 407). Avitus und Dracontius werden sich hier enger an den epischen Gebrauch anlehnen (Alc. Avit. SHG 1,193: est locus eoo mundi servatus in axe …; Drac. Laud. 1,180: est locus interea …; vgl. schon Lact. Phoen. 1 über das Paradies: est locus in primo felix oriente remotus …).

110 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

ekphrasis, die über das für epische Ortsbeschreibungen übliche Maß deutlich hinausgeht und mit der, wie noch zu zeigen sein wird, inhaltliche Besonderheiten einhergehen. Gerade am Anfang erinnert die Paradiesekphrasis stark an Schilderungen eines locus amoenus, wie sie in verschiedenen Gattungen, auch in der Epik, seit frühester Zeit regelmäßig begegnen.279 Die Parallelen zum Topos des locus amoenus sind teilweise schon im Bibeltext selbst angelegt, handelt es sich doch schon dort um einen überschaubaren Landschaftsausschnitt mit Bäumen und einer Quelle (alles typische Merkmale des locus amoenus).280 Victorius nähert sich – wie übrigens auch andere christliche Autoren281 – noch weiter an den Topos an, indem er die Bäume als „lieblichen Hain“ bezeichnet (nemoris … amoeni, V. 225), womit er den Topos schon fast wörtlich benennt, ferner indem er zur Darstellung der Genesis einen blumenbedeckten Erdboden (V. 233sq.), verschiedene Düfte (V. 234–244) und sanften Windhauch mit Blätterrauschen hinzufügt (V. 245. 248–251). Eigenheiten der Darstellung: Systematik und Betonung nicht-sinnlicher Aspekte Was bei genauerem Hinsehen im Verhältnis zur literarischen Tradition auffällt, ist die Systematik, mit der Victorius die Sinneseindrücke beschreibt. An erster Stelle stehen dabei natürlich die visuellen Informationen (Lage, Flora, später die Quelle). Hinzu kommen jedoch bald Aussagen über das Klima, womit der Temperatursinn angesprochen wird (V. 228), und über den Geschmack und Geruch der Früchte, womit auch diese beiden Sinne einbezogen werden (V. 232). Die olfaktorische Seite wird im folgenden Aromatakatalog noch ausführlicher dargestellt (V. 234b–247), bevor die Verse über das melodische Blätterrauschen schließlich auch den akustischen Eindruck beschreiben (V. 248–251).

|| 279 Dies stellt auch Cutino 2009, 131f. fest. Ein Gegenbild hat die Paradiesschilderung der Alethia in 2,11–14, wo das Land außerhalb des Paradieses zum locus horridus ausgemalt wird, möglicherweise in Anlehnung an das Chaos in Ovids Metamorphosen, vgl. die gedanklichen und teilweise auch verbalen Parallelen zwischen Aleth. 2,11sq. (bruta coacto / pondere congeries nec lecta mole locata est) und Met. 1,7–9 (rudis indigestaque moles / nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem / non bene iunctarum discordia semina rerum). 280 Vgl. etwa die Merkmalkataloge bei Haß 1998, 19f. und Schlapbach 2010, 232; eine ausführlichere Zusammenstellung typischer Merkmale von locus-amoenus-Darstellungen bietet G. Schönbeck, Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962, 18–60). 281 So in Prosa Aug. Gen. ad litt. 8,1, in Dichtung Lact. Phoen. 25–30 und Prud. Cath. 3,101– 105, vgl. Schlapbach 2010, 241 (dort auf 241f. auch zu ähnlichen Beschreibungen des himmlischen Paradieses).

Einzelne Elemente der Darstellung | 111

Victorius arbeitet also konsequent die von Aristoteles so eingeteilten fünf Sinne des Menschen ab (die Temperaturempfindung ordnete Aristoteles ja dem Tastsinn zu).282 Mit seiner umfassenden Beschreibung suggeriert er intime Sachkenntnis und erfüllt den antiken Anspruch an die Ekphrasis, den Gegenstand dem Rezipienten so lebendig zu präsentieren, als ob er ihn leibhaftig vor sich hätte. Man kann daher vermuten, dass Victorius die Paradiesdarstellung zumindest auch genutzt hat, um sich mit der literarischen Tradition zu messen und so seine dichterischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und dies umso mehr, als die Ekphrasis ja auch in seinen Aufgabenbereich als Rhetor fiel. Zugleich entspricht die geradezu wissenschaftlich anmutende Systematik jedoch den Bedürfnissen des Lehrgedichts, sodass sich auch hier beide Gattungen berühren. Hinzu kommt nun – und dies ist für die Paradiesekphrasis insgesamt von großer Bedeutung –, dass Victorius auch auf nicht-sinnliche Aspekte große Aufmerksamkeit verwendet. Dies bahnt sich schon in der Beschreibung der Früchte an, wenn es heißt, sie seien „voll von erstaunlicher Stärke“ und nährten „Glieder und Herzen“ (miri plena vigoris / membra animosque fovent, V. 231sq.). Zusätzlich zu den sinnlichen Qualitäten der Früchte wird hier also ihre Wirkung beschrieben, die anscheinend über das rein Physische hinausgeht. In der zweiten Hälfte der Ekphrasis (ab V. 251) rückt das Nicht-Sinnliche dann stärker in den Vordergrund. Victorius verwendet etliche Verse darauf, das Sicht- und Hörbare zu deuten, womit er in die traditionelle Form der Ekphrasis sein eigenes bibeldichterisches Anliegen integriert. Am weitesten geht er in den Versen 255– 263, die eine der Bibelexegese entnommene allegorische Deutung für die Paradiesbäume enthalten und im Zusammenhang mit Katalogen näher behandelt werden sollen.283 Vollständig zitiert sei – als Beispiel für den raschen Übergang vom Visuellen zur Kommentierung – die Beschreibung der Paradiesquelle (1,268–275): at gremium sacri nemoris, quod silva coronat, fons rigat et diti prolem virtute maritat, quadrifido tumidum laetus caput amne resolvens ditior oceano; iugi nam gurgite promptus hic proprios donat latices, ille accipit omnes et non sentit aquas; minor est qui crescere tantis fluctibus infusis quam qui decrescere nescit amnibus effusis.

270

275

|| 282 Vgl. Aristot. An. 2,7–11 (zur Einheit von Temperatur- und Tastsinn 2,11). 283 Vgl. zum Katalog selbst S. 150, zu den Quellen der allegorischen Interpretation S. 151f.

112 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Aber die Mitte des heiligen Hains, die Wald bekränzt, bewässert ein Quell, und er befruchtet mit reicher Kraft seine Kinder; in viergeteiltem Strom öffnet er fruchtbar sein schwellendes Haupt, reicher als der Oceanus; denn, mit ständigem Strudel bereit, schenkt dieser eigenes Nass, während jener sämtliche Wasser aufnimmt und sie nicht spürt; kleiner ist der, der nach dem Einfließen so großer Fluten nicht zu wachsen, als der, der nicht zu schrumpfen weiß (275) nach dem Ausfluss der Ströme.

Zum Bild des Paradieses tragen fast nur die ersten anderthalb Verse bei; den Hauptteil der Beschreibung macht ein Vergleich zwischen der Paradiesquelle und dem Oceanus aus, der dazu dient, die Bedeutung der Quelle hervorzuheben, die Victorius offenkundig wichtiger ist als ihre äußere Erscheinung. Aus den Versen geht noch eine weitere Tendenz hervor, die sich auch sonst in der Ekphrasis beobachten lässt, nämlich die Ausweitung des Blicks auf die Gesamtwelt, die in diesem Fall durch die Einführung des Oceanus bewirkt wird. Noch deutlicher wird dies im folgenden Flusskatalog, in dem der Verlauf der Flüsse durch verschiedene Völker und Länder beschrieben wird, dem Rezipienten also statt des Paradieses gleichsam eine Weltkarte vor Augen geführt wird (V. 275–304).284 Im ersten Teil lässt sich der Aromatakatalog vergleichen, in dem ebenfalls zahlreiche Völker und Länder genannt werden (V. 237–242).285 Hinter den wiederholten Bezügen zur größeren Welt steht, wie noch im Zusammenhang mit den Katalogen genauer zu zeigen sein wird, eine theologische Aussage über das Paradies als Abbild der Welt. Für die Verwendung der Ekphrasis bedeuten die genannten Stellen, dass Victorius nicht bei einer Detailbeschreibung des vorliegenden Gegenstandes bleibt, sondern immer wieder von diesem ablenkt, um ihn in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dadurch gewinnt seine Paradiesschilderung zwar an innerer Bedeutung, verliert aber zugleich an Anschaulichkeit. Zusammenfassung Bei der Untersuchung der Paradiesbeschreibung ist eine Tendenz zutage getreten, die in gewisser Weise für die gesamte Alethia und ihr Verhältnis zum Epos gilt: Wie Victorius auf der Ebene des Gesamtwerks das eigentliche Kernelement

|| 284 Vgl. besonders Gangetisque … populos ac regna Evilantum (V. 278); Niliacas … aquas (V. 285); Aethiopum … auras (V. 287); Armeniae saltus ac Medica pascua (V. 291); Assyrios … campos (V. 298); Persidis agros (V. 300). 285 Vgl. S. 147. Vielleicht lässt sich auch V. 227sq. hinzuzählen, wo der im Paradies herrschende ewige Frühling durch den gleichbleibenden Abstand zur Sonne begründet wird, das Paradies also in seinem kosmisch-astronomischen Zusammenhang gesehen wird.

Einzelne Elemente der Darstellung | 113

des Epos, die sinnlich vorstellbare Erzählung, immer wieder durch kommentierende Zusätze verdeckt und bisweilen verunklärt, so verfolgt er auch das in der Antike formulierte Ziel der Ekphrasis, die Anschaulichkeit, nur bis zu einem gewissen Punkt und durchkreuzt die zunächst höchst lebendige Beschreibung bald durch Ausblicke und Kommentare. Victorius stellt die Schilderung so in den Dienst eines inhaltlichen Anliegens. Man kann diese Verwendung der Ekphrasis durchaus positiv werten, insofern diese bei ihm kein mechanisch übernommenes Schmuckelement bildet, sondern funktional ins Werk eingefügt ist, wie man es ja auch im Epos erwartet. Andererseits bewirken besonders die Kommentare eine Tendenz zur Unanschaulichkeit, die der klassischen epischen Ekphrasis, deren Deutung stärker dem Rezipienten überlassen bleibt, fremd ist.

1.3.1.2 Beinahe-Episoden Immer wieder begegnen im griechischen und römischen Epos Stellen, an denen der Erzähler zunächst ausmalt, wie sich das Geschehen nun hätte entwickeln können und beinahe auch entwickelt hätte – bevor er dann erklärt, dass es doch ganz anders kam. Die so entstehenden ‚Beinahe-Episoden‘286 sind schon bei Homer ein fester Bestandteil der epischen Erzähltechnik und bleiben es mit gewissen Neuerungen bis in die Spätantike und darüber hinaus. In ihrer einfachsten und konventionellsten Form umfassen die entsprechenden Konstruktionen lediglich einen oder zwei Sätze, je nachdem ob sie hypotaktisch in der Form ‚Beinahe, wenn nicht …‘ (bzw. umgekehrt: ‚Wenn nicht, beinahe …‘) oder parataktisch in der Form ‚Beinahe, aber …“ konstruiert sind, wobei sich gerade in der lateinischen Dichtung auch freiere Verwendungsweisen entwickeln. Beinahe-Episoden bieten Dichtern, die einen feststehenden mythologischen oder historischen Stoff verarbeiten, die Gelegenheit, andere denkbare Handlungsverläufe in längerer oder kürzerer Form vor dem Rezipienten durchzuspielen, bevor sie wieder zum Vorgegebenen zurückkehren. Bemerkenswerterweise scheinen die Bibeldichter, die sich ja eigentlich in einer ähnlichen Situation befanden, von dieser Möglichkeit nur eingeschränkt Gebrauch gemacht zu haben, möglicherweise, weil ihnen der Respekt vor der biblischen Vorlage entsprechende Gedankenspiele verbot.287 Victorius ist hier indes eine Ausnahme,288

|| 286 So bezeichnet von Nesselrath 1992, der das Phänomen umfassend in der lateinischen und griechischen Epik von Homer bis zu Claudian und anderen spätantiken Epikern untersucht (mit Exkursen zur neuzeitlichen Epik und zum Drama), auf den ich mich im Folgenden stütze. 287 Vgl. Nesselrath 1992, 138f. mit Anm. 230. Demnach setzt Prudentius dieses Mittel zweimal in seiner Psychomachie ein, die übrigen christlichen Epiker dagegegen „offenbar kaum“ (Nes-

114 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

konstruiert er doch immerhin vier Beinahe-Episoden, die im Folgenden einzeln behandelt werden sollen. Vor dem Sündenfall: Betonung eines entscheidenden Wendepunktes Am längsten und auch inhaltlich am auffälligsten ist die erste der Stellen, die die Erzählung vom Sündenfall einleitet und die hier am genauesten betrachtet werden soll (1,387–397): quid? iam una duos in carne manere aeternam pariter vitam ducentibus esset – nam dum terrarum vitiis et labe carerent, divinis viguere animis, nullius egeni quas dabat orbis opes; non quippe obnoxia morbis corpora gestabant cupidi nec ventris alumna; tantum in deliciis cibus et quod postulat usus nondum erat auxilium vitae propriumque vigebat immortale animae –, ni serpens dira veneno maioris stimulata mali dissolvere legem talibus incautam suasisset fraudibus Evam: „…“

390

395

Wie? Nun hätten die zwei in einem Fleisch bleiben und vereint ein ewiges Leben verbringen können – denn solange sie frei von Fehlern und Schande der Erde waren, (390) hatten sie Kraft durch göttliche Seelen, keines der Güter bedürftig, die der Erdkreis hervorbrachte; denn sie hatten Körper, die keinerlei Krankheit ausgesetzt und nicht vom begierigen Magen genährt waren; nur zur Lust diente die Speise, und was das Bedürfnis erfordert, war noch nicht Hilfe zum Leben; (395) die Unsterblichkeit der Seele blühte als ihr eigenes Gut –, hätte nicht die grausige Schlange, vom Gift eines größeren Übels angestachelt, der unvorsichtigen Eva das Gesetz zu lösen geraten mit solchen Täuschungen: „…“

Victorius konstruiert seine Beinahe-Episode in einem einfachen ‚Beinahe, wenn nicht‘-Schema, das er freilich durch die Parenthese streckt. Mit der Satzstruktur iam – ni mit irrealem Konjunktiv in Haupt- und Nebensatz lehnt er sich an gängige Muster für Beinahe-Episoden an: Die Kombination aus Hauptsatz im irrea-

|| selrath nennt die Evangeliorum libri Juvencus, den Cento der Proba, das Carmen Paschale des Sedulius, die griechischen Paraphrasis des Nonnos und die Vita Sancti Martini des Venantius Fortunatus, wo er keine Beispiele gefunden habe; mindestens eines gibt es freilich auch hier, vgl. Sedul. Carm. pasch. 2,18–29). Nesselrath vermutet, dass für diese Dichter angesichts ihrer Treue zur Vorlage (Bibel bzw. Heiligenvita) „die Konstruierung von ‘Beinahe-Episoden’ (die ja immer ein Zeichen | freieren dichterischen Spiels sind) nicht in Frage kam“. 288 Eine weitere Ausnahme ist offenbar Avitus, vgl. Arweiler 1999, 260 mit Anm. 137, der aber außer SHG 5,538sq. keine Stellen nennt.

Einzelne Elemente der Darstellung | 115

lem Konjunktiv und ni ebenfalls mit irrealem Konjunktiv ist bereits bei Vergil in einigen seiner Beinahe-Episoden zu beobachten.289 Die Einleitung einer Beinahe-Episode mit iam ist ebenfalls schon bei Vergil geläufig, wenngleich in den entsprechenden Fällen im Hauptsatz fast immer der Indikativ steht und meist ein cum inversum und nur selten ni mit irrealem Konjunktiv folgt.290 Sprachlich ist der Satz jedenfalls fast schon überdeutlich als konventionell-episches Element markiert.291 Inhaltlich fällt auf, dass die Beinahe-Schilderung (um eine eigentliche Episode handelt es sich ja nicht) nicht nur der Erhöhung der Spannung oder der Variation der Erzählung dient, wie dies in vielen epischen Beispielen der Fall ist; vielmehr scheint der Erzähler bzw. der Dichter hiermit einen Wunsch auszusprechen, nämlich dass die Menschen nach wie vor im paradiesischen Urzustand, frei von Schuld und Sterblichkeit, leben könnten, einen Wunsch, den er an anderer Stelle auch explizit als solchen formuliert (2,184–188). Die Stelle erinnert damit an die in Kap. 1.2.1 behandelten subjektiven Einlagen, und ähnlich wie dort mehrfach beobachtet, ist auch hier eine gewisse Nähe zu Lukan zu konstatieren: Beide Autoren erzählen von einer negativen Entwicklung, und wie Lukan Beinahe-Episoden – freilich kaum so einfache und konventionelle wie hier – verwendet, um anzuzeigen, dass das schreckliche historische Geschehen an einigen Punkten fast abgewendet worden wäre, so deutet Victorius hier an, dass das Leben der Menschen auch einen viel besseren Verlauf hätte nehmen

|| 289 So in Verg. Aen. 5,232–234: et fors aequatis cepissent praemia rostris, / ni … Cloanthus / fudissetque preces divosque in vota vocasset …; ähnlich 10,324–329; in 11,912–913 mit Potentialis statt Irrealis, in 2,54 mit si … non (Stellen nach Nesselrath 1992, 74f.). 290 So z. B. Verg. Aen. 5,327: iamque fere spatio extremo fessique sub ipsam / finem adventabant, levi cum sanguine Nisus / labitur infelix … (vgl. Nesselrath 1992, 76); ähnlich z. B. Verg. Aen. 12,940–942 (vgl. op. cit. 78f.); Ov. Met. 7,75sq. (vgl. op. cit. 88); 14,532–537 (vgl. op. cit. 90); die Kombination mit ni begegnet zuerst in Aen. 6,358–361: iam tuta tenebam, / ni gens crudelis madida cum veste gravatum / … / ferro invasisset … (vgl. op. cit. 77). Am ehesten mit unserer Stelle vergleichbar ist Sil. 14,580–584, wo iam allerdings nicht als Einleitung fungiert: nec mora quin trepidos hac clade irrumpere muros / signaque ferre deum templis iam iamque fuisset, / ni subito importuna lues inimicaque pestis, / … / polluto miseris rapuisset gaudia caelo (vgl. Nesselrath 1992, 109 Anm. 190). 291 Dass Victorius zwei Schemata vermischt, könnte auf eine gewisse Unsicherheit in der Verwendung dieser epischen Technik hindeuten, sollte aber vor dem Hintergrund, dass die sprachlich-formale Gestalt von Beinahe-Episoden im Lateinischen von Beginn an freier als im Griechischen ist, nicht überbewertet werden (vgl. Nesselrath 1992, 74, wonach „es ein wirkliches lateinisches Äquivalent zu dem im Griechischen so oft auftauchenden καί νυ κε / ἔνθα κε – εἰ μή / ἀλλά nicht gibt“).

116 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

können.292 Die Beinahe-Form markiert und retardiert einen entscheidenden Wendepunkt des Geschehens, nämlich den, an dem die Sünde Gottes vollkommene Welt zu verderben beginnt. Victorius hebt durch den Kontrast die Schwere des Sündenfalls hervor und bringt zugleich seine Betroffenheit über den Fall der Menschheit zum Ausdruck. Weitere Stellen: knappe Bewahrung der Menschheit oder eines Menschen Die drei übrigen Beinahe-Episoden stehen inhaltlich in deutlichem Kontrast zu dieser Stelle. Ging es dort um den erst noch vermeidbar scheinenden Fall der Menschheit, so wird nun dreimal die knappe Bewahrung der Menschheit oder eines Menschen vor Augen geführt. Am Beginn des zweiten Buches, also nach dem Sündenfall, schildert Victorius die drückende Not der aus dem Paradies vertriebenen Menschen. Tatsächlich hätten die Menschen ihm zufolge fast schon den Tod gesucht (2,27–29): hic vitae perit almus amor, penuria rerum insinuat iam dulce mori, ni maior egestas succurrat graviore malo … Hier vergeht die nährende Liebe zum Leben, die Armut an Dingen flüstert schon ein, zu sterben sei süß – wenn nicht ein größerer Mangel zu Hilfe käme mit einem ernsteren Übel …

Was die Menschen rettet, ist etwas recht Banales, nämlich der Hunger, der sie nach Nahrung suchen lässt und so letztlich dazu bringt, Gott anzurufen und ihn um Hilfe bei der Nahrungsbeschaffung zu bitten. Am Ende des Buches steht die Menschheit dann noch einmal kurz vor dem Untergang, nämlich bei der Sintflut. Victorius lenkt hier das Augenmerk darauf, dass die Menschen und Tiere in der Arche paradoxerweise hätten verdursten können, wenn Gott sie nicht erhalten hätte (2,544–548): namque hoc constat, si cetera vitae suppeterent, clausos, dum fluctuat arca, necari inter aquas potuisse siti, nisi rector Olympi depositos penitus nec iam ulla extrema timentis sustinuisset eo, quo condidit omnia, nutu.

545

|| 292 Vgl. die Zusammenstellung und Interpretation der einzelnen Lukanstellen bei Nesselrath 1992, 94–106.

Einzelne Elemente der Darstellung | 117

Denn das steht fest, wenn der Rest auch zum Leben (545) gereicht hätte, hätten die Eingeschlossenen, während die Arche schwamm, zwischen den Wassern sterben können an Durst, hätte sie nicht der Herr des Olymps, während sie tief im Inneren293 verwahrt waren und kein Unglück mehr befürchteten,294 durch ebenden Willen gehalten, mit dem er alles gegründet hat.

Im dritten Buch ist dann schließlich eine Einzelperson gefährdet, nämlich Hagar, die Mutter Ismaels und Stammmutter der Ismaeliten. Victorius malt aus, wie Hagar sich bei ihrer Flucht um jeden Preis von Sara fernhalten will und so sich und ihren ungeborenen Sohn und sein Geschlecht in Gefahr bringt. In diesem Fall ist – dem biblischen Bericht gemäß – es ein Engel, der Hagar zurückschickt und damit rettet (3,572–576): … dominam nimios mentita timores contemnit, quo more potest, mavultque pericla secretae perferre viae, ni missus Olympo angelus occurrat famulamque ad pristina iura restituat miti dominae …

575

… sie verachtet, gewaltige Ängste heuchelnd, ihre Herrin, wie sie’s nur kann, und will lieber die Gefahren eines einsamen Weges erdulden – wenn nicht ein vom Olympus gesandter (575) Engel zu ihr träte und die Magd ihren alten Rechten entsprechend der milden Herrin zurückgäbe …

Die erste und die dritte Stelle sind wie diejenige im ersten Buch mit ni konstruiert (in der ersten steht im Hauptsatz sogar ebenfalls iam, wenn auch nicht am Satzanfang) und entsprechen damit wie jene den gängigen Ausdrucksformen für Beinahe-Episoden.295 Lediglich die zweite Stelle hebt sich durch ihren kom|| 293 In diesem Sinne auch Papini (vgl. Malsbary 1985, 76). Zum Gebrauch von depositus vgl. ThLL s. v. depono p. 582,15sq., wo die vorliegende Stelle genannt wird. Nicht auszuschließen ist, dass depositus im Sinne von ‚aufgegeben‘ bzw. ‚sich aufgegeben habend‘ gemeint ist (vgl. ThLL s. v. depono p. 583,74sq.). 294 Wörtl. „nichts Äußerstes“. Gemeint ist wahrscheinlich, dass die in der Arche Eingeschlossen sich von Gott beschützt wissen. Auch möglich, aber weniger wahrscheinlich ist, dass ihnen Leben und Tod gleichgültig geworden sind und sie deswegen vor nichts mehr Angst haben (dies am ehesten dann, wenn depositus als ‚sich aufgegeben habend‘ verstanden wird, vgl. die vorangehende Anmerkung). 295 Ein Unterschied zu jener Stelle liegt freilich darin, dass hier kein durchlaufender Irrealis vorliegt, sondern auf einen Hauptsatz im Indikativ ein potentialer Konditionalsatz folgt. Indikativ im Hauptsatz einer Beinahe-Episode bei noch im Vollzug befindlicher Handlung begegnet schon in Verg. Aen. 6,358–361 (paulatim adnabam terrae; iam tuta tenebam, / ni …, vgl. oben Anm. 290; ähnlich auch 8,520–523), ni mit potentialem Konj. Präs. in Verg. Aen. 11,912– 914 (continuoque ineant pugnas et proelia temptent, / ni roseus fessos iam gurgite Phoebus Hibe-

118 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

plexeren argumentierenden Stil und die Nebensatzeinleitung nisi von den übrigen ab und erinnert daran, dass Victorius’ Dichtung eben keine reine Erzählung ist, sondern auch erörternde Teile umfasst.296 Vergleicht man die Stellen inhaltlich mit der Beinahe-Episode des ersten Buches, wozu die ähnliche Darstellungsform ja einlädt, so wird eine einfache, aber wichtige Wahrheit über die gefallene Welt deutlich: Während die Menschen im Paradies, wenn sie nicht der Schlange gehorcht hätten, ungefährdet für immer hätten leben können, ist das Leben nach dem Sündenfall stets bedroht, und in einigen Fällen bedurfte es göttlicher Unterstützung, um die Menschheit oder ein Geschlecht zu bewahren. Zusammenfassung Auch wenn die vier Beinahe-Episoden der Alethia aus sprachlicher Sicht mit einer Ausnahme recht konventionell erscheinen, handelt es sich doch um mehr als wahllos eingestreute Schmuckelemente oder Reminiszenzen aus dem Epos. Die erste Stelle hebt hervor, wie sehr sich die Welt durch den Sündenfall verändert hat, die übrigen machen deutlich, wie gefährdet das Überleben der Menschheit und der einzelnen Menschen in der gefallenen Welt ist. Ob Victorius die Beinahe-Episoden gezielt dazu eingesetzt hat, um diesen Gegensatz vor Augen zu führen, lässt sich nicht sicher sagen, klar ist jedoch, dass alle vier Stellen Aussagen über die Welt vor und nach dem Sündenfall transportieren.

1.3.1.3 Pro- und Analepsen Episches Erzählen (und Erzählen überhaupt) vollzieht sich nie vollständig linear, sondern umfasst immer Vorverweise und Rückblicke, die von knappen Andeutungen bis zu den ausgedehnten Apologen der Odyssee und der Aeneis reichen können. Die Durchbrechungen der Linearität werden in der Eposforschung seit langem behandelt, haben aber unter dem Eindruck der modernen Narrato-

|| ro / tingat equos noctemque die labente reducat; Stellen nach Nesselrath 1992, 75); zur Kombination von beidem vgl. Sil. 1,373–375 surgebat cumulo certatim prorutus agger, / obstabatque iacens vallum, ni protinus instent / hinc atque hinc acies media pugnare ruina). 296 Ich rechne die Stelle trotz der erörternden Formulierung zu den sonst nur in narrativen Kontexten auftretenden Beinahe-Episoden, weil sie sich auf eine Erzählung bezieht und der Sache nach ganz dem ‚Beinahe, wenn nicht‘-Schema entspricht. Dagegen zähle ich 1,120–122 (über große Meertiere: squalentia gurgite terga / nullo fine levent molli differta sagina, / ni velox vastis praescribat terminus aevi) nicht als Beinahe-Episode, weil hier keine Erzählung zugrunde liegt.

Einzelne Elemente der Darstellung | 119

logie neue Aufmerksamkeit erfahren.297 Ich orientiere mich im Folgenden an Irene de Jongs einflussreicher Analyse der Ilias, die ihrerseits auf Gérard Genettes narratologischer Terminologie aufbaut.298 De Jong verwendet zur Beschreibung drei Kriterien: 1.) die Richtung des Verweises (weist er in die Zukunft, handelt es sich um ein Prolepse, weist er in die Vergangenheit, um eine Analepse), 2.) das Verhältnis der Verweise zur eigentlich erzählten Zeitspanne (liegt das betreffende Ereignis innerhalb dieser Spanne, spricht sie von internen, sonst von externen Pro- bzw. Analepsen), und 3.) die narrative Situation der Pro- oder Analepse (einfacher Erzählerbericht, Erzählung aus Sicht einer Figur, Figurenrede). Analepsen in der Alethia Auch in der Alethia finden sich, obwohl sie wie der Bibeltext weitestgehend chronologisch aufgebaut ist und keine ausgedehnten Binnenerzählungen wie etwa die Odyssee oder die Aeneis enthält, eine Reihe von Pro- und Analepsen verschiedener Art. Betrachten wir zunächst die Analepsen, die seltener als die Prolepsen sind. Alle Analepsen sind intern (tatsächlich sind externe Analepsen ja auch unmöglich, weil die Erzählung schon vor der Erschaffung der Welt einsetzt), und mehr noch, alle beziehen sich auf Ereignisse, die erst wenig vorher erzählt worden sind. Die beiden längsten und auffälligsten Analepsen, die hier genauer betrachtet werden sollen, finden sich nach dem Sündenfall und nach der Sintflut. Im ersten Fall handelt es sich um ein längeres Gebet, in dem Adam auf vergangene Erfahrungen und Ereignisse Bezug nimmt, am ausführlichsten auf den Sündenfall (2,57–68): … si, cum me parti damnatae adnectere vellet ille caput scelerum, mundi reus et suus hostis,

|| 297 Besonders die Homerforschung hat sich intensiv mit dem Phänomen beschäftigt, vgl. z. B. K. Kraut, Die epische Prolepsis, nachgewiesen in der Ilias. Ein Beitrag zur Kenntniss des epischen Stils, Tübingen 1863; C. E. Duckworth, Foreshadowing and suspense in the epics of Homer, Apollonios and Vergil, Princeton 1933 (und ders., Προσαναφώνησις in the Scholia to Homer, AJPh 52 [1931], 320–338, wo nachgewiesen wird, dass schon die antiken Homerscholiasten die Technik der Prolepse kannten); I. J. F. de Jong, Narrators and focalizers. The presentation of the story in the Iliad, Amsterdam 11987, London 22004, 81–90; E.-R. Schwinge, Homerische Epen und Erzählforschung, in: J. Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung, Stuttgart 1991, 482–512, hier 504–508; M. Reichel, Fernbeziehungen in der Ilias, Tübingen 1994. 298 Vgl. de Jong 2004, 81–90; de Jong bezieht sich auf G. Genette, Figures, III, Paris 1972, 77– 121.

120 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

nil per se solum, ne victus cederet, ausus, serpentis miseram, cui mens incauta, per artem meque per affectum, quem sexus sentit uterque, artificis scelerum fraus improvisa subegit et, cum damnarer iusta pro crimine poena, sic piguit culpae, tanto mens icta dolore indignata sibi est, ut te, mitissime iudex, tunc mihi vindictam de me praestare putarem. idcirco et gemitus causae lacrimasque negavi …

60

65

… wenn – als das Haupt der Vergehen mich an die schändliche Seite binden wollte, er, der schuldig an der Welt und sein eigener Feind ist, der nichts alleine wagt, damit er nicht weicht als Verlierer –, (60) 〈wenn da also〉 unvermuteter Betrug des Verbrechensmeisters die Arme, deren Sinn unbedacht war, durch die List der Schlange und mich durch das Gefühl, das beide Geschlechter spüren, bezwungen hat, und wenn ich, als ich mit einer gerechten Strafe für den Fehltritt belegt wurde, meine Schuld so bereute und mein Sinn, von solchem Schmerz getroffen, (65) sich so erregte über sich selbst, dass ich, o mildester Richter, meinte, du würdest mir jetzt vor mir selbst Rettung verschaffen.299 Deshalb habe ich meiner Sache auch Seufzen und Tränen verweigert …

Der Sündenfall wurde kurz zuvor ausführlich vom Erzähler dargestellt, sodass Adams Worte zunächst wie eine Wiederholung wirken. Bei genauerer Betrachtung liefert der Rückblick jedoch einige neue Informationen, die in der Sündenfallerzählung selbst in dieser Form nicht gegeben wurden: So nennt Adam Hintergründe und Zusammenhänge des Geschehens, indem er auf das hinter der Schlange stehende caput scelerum, also den Teufel, hinweist (2,58–60) und indem er sein Verhalten auf die Zuneigung zu Eva zurückführt (2,61); überdies stellt er seine Reaktionen auf sein eigenes Fehlverhalten dar, die in der Sündenfallerzählung keine Rolle spielen (2,63–68). Die Analepse dient also dazu, die Sündenfallerzählung zu vertiefen, zum einen psychologisch, zum anderen aber auch theologisch, womit sich Anliegen des kommentierenden Bibeldichters in die Analepse mischen.300 Ähnliches lässt sich bei der zweiten längeren Analepse beobachten, die die Sintfluterzählung am Ende des zweiten Buches abschließt (2,535–552). Die Analepse beginnt als Reflexion der erlebenden Personen, die an die Flut zurück-

|| 299 Ich folge hier Staats Erklärung ad loc., wonach praestare vindictam de im Sinne von vindicare a zu verstehen ist; der Gedanke ist demnach, dass Adam in seiner gegen sich selbst gerichteten Zerknirschung in Gott eher einen Retter vor sich selbst als einen strafenden Richter sieht. Sprachlich und inhaltlich weniger plausibel ist die Übersetzung von Papini: „… pensare che tu … mi offrissi allora la possibilità di punire me stesso.“ 300 Vgl. auch die ausführliche Behandlung des Gebets in Kap. 2.1.1.

Einzelne Elemente der Darstellung | 121

denken und Gottes Hilfe zu ermessen versuchen (V. 535–544). Es folgt eine Partie, in der der Erzähler selbst die Schwierigkeiten des Überlebens in der Arche und Gottes Hilfe für die Eingeschlossenen erörtert (V. 544–552). Auch hier vertieft die Analepse das Erzählte also psychologisch und theologisch. Sie ergänzt damit die eigentliche Flutdarstellung, in der die Arche und ihre Passagiere kaum eine Rolle spielten, nimmt aber erneut partiell Züge eines Kommentars an (so besonders ab V. 544: namque hoc constat …).301 Auch in den übrigen, kürzeren Analepsen, die hier nicht mehr im Einzelnen besprochen werden sollen, liegt das Interesse meist auf dem Erleben der Figuren und auf der Deutung des Geschehens.302 Wir können also festhalten: Victorius verwendet Analepsen nicht, wie es in den größeren Epen zu beobachten ist, um weitreichende interne Beziehungen herzustellen, und erst recht nicht, um ein längeres Geschehen in eine überschaubare erzählte Zeit einzubinden, wie Odyssee und Aeneis tun, sondern hauptsächlich, um das Erzählte und speziell das Innenleben seiner Figuren zu vertiefen. Prolepsen in der Alethia Prolepsen begegnen in der Alethia weitaus häufiger als Analepsen. In ihrem zeitlichen Bezug bilden sie ein breites Spektrum ab: Abgesehen von einigen wenigen internen Prolepsen303 betreffen die meisten Prolepsen Ereignisse, die

|| 301 Ich verzichte auf eine genauere Behandlung der Analepse, da diese schon von Homey 1972, 118–123 (ohne den Begriff) analysiert worden ist; vgl. zur Sintflutepisode auch Kap. 2.1.5 dieser Arbeit. 302 Vgl. 1,423–433 (der Erzähler merkt nach dem Sündenfall an, dass die Menschen vor diesem nackt sein konnten, und führt mögliche Gründe hierfür an, d. h. er deutet den schuldlosen Urzustand der Menschen im Rückblick); 2,15–23 (der Erzähler beschreibt, wie Adam und Evas sich an das Paradies erinnern, das im Rückblick noch verlockender erscheint, als es war; beleuchtet wird also das Innenleben der Figuren). Das Proöm des zweiten Buches, das vor- und rückverweisende Elemente enthält, ist nicht mit den epischen Verweisen vergleichbar, weil es eine Bucheröffnung des Lehrgedichts imitiert und nicht darauf verweist, was geschehen ist bzw. wird, sondern was dargestellt worden ist bzw. werden wird (vgl. hierzu oben Kap. 1.1.2). 303 Eindeutige interne Prolepsen sind 1,449 (in einer Apostrophe an Adam nach dem Sündenfall: qui mox retrahendus es), 2,85–88 (Adam gibt am Schluss seines Gebets einen Ausblick auf Evas Geburten und die weitere Reihe der Nachkommen: tunc erit, ut rerum compos et certa salutis / serviat Eva mihi saevumque experta creandi / supplicium pariat populos, qui crimine nostro / plectantur, purgetque patrum peccata nepotum / mortibus aeternam faciens successio poenam) und 3,214 (über die Erbauer des Turms zu Babel: per varias orbis partes spargenda iuventus). Unsicher ist 3,57–59, wo möglicherweise auf die am Buchende dargestellte Zerstörung von Sodom und Gomorrha verwiesen wird (so nach Martorelli 2008, 94), vielleicht aber

122 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

außerhalb der erzählten Geschichte liegen. In einigen schon im Bibeltext vorhandenen Prophezeiungen geht es um Ereignisse, die im weiteren Verlauf des Pentateuch erzählt werden.304 Die zahlreicheren von Victorius selbst eingefügten Ausblicke betreffen größtenteils Christus und den Neuen Bund, reichen teilweise aber auch bis zur Endzeit.305 In der Digression des dritten Buches werden überdies zur Veranschaulichung Personen und Begebenheiten aus verschiedenen Epochen bis zur Gegenwart des Dichters angeführt.306 Zu diesen expliziten Verweisen kommen implizite Gegenwartsbezüge, insbesondere in den kulturgeschichtlichen Partien, die ja vorfindliche Praktiken erklären sollen, auch wenn Victorius das nicht offen sagt (vgl. insgesamt Kap. 2.2.3). Schon der Überblick deutet darauf hin, wie sehr Victorius daran gelegen war, das von ihm behandelte Geschehen in unübersehbarer Form mit der weite-

|| auch ausschließlich an das Jüngste Gericht gedacht wird. Als Schwundstufe der internen Prolepse lässt sich 3,365 verstehen, wo mit linquenda auf das schon im nächsten Vers erzählte Verlassen des erreichten Ortes vorausverwiesen wird. 304 So 3,472–485 (Prophezeiung der Geburt Isaaks an Abram); 3,523–544 (Israel in Ägypten und Rückkehr nach Kanaan; Abrams Tod); 3,590–624 (Wiederholung der Verheißung Isaaks); 3,661sq. (nochmalige Wiederholung der Verheißung). 305 Christologische Prolepsen (ohne christologische Aussagen in der precatio): 1,181–183 (der Sabbat als Tag der Höllenfahrt Christi); 1,545–547 (Holz des Baums der Erkenntnis als Typos des Kreuzes); 2,218sq. (Abel als Typos des Opferlamms Christus); 2,336 (Henoch als Ahne Jesu bzw. Josefs); 2,556–558 (die Sintflut als Typos der Taufe); 3,250sq. (Gott nennt in seiner Rede über den Turmbau Christi Abstieg auf die Erde und Aufstieg in den Himmel); 3,343 (Gott verweist auf ein aevum renatum, wobei vermutlich an die durch Taufe wiedergeborenen Christen gedacht ist; möglich ist auch ein Bezug zum Leben nach dem Tod, womit es sich um eine eschatologische Prolepse handeln würde); 3,357–363 (Bethlehem als Geburtsort Jesu; im Bibeltext Bethel, das Victorius aber mit Bethlehem identifiziert); 3,490sq. (Abrams Glaube als Vorbild für den Glauben an Christus, Gottes Stimme an Abram mit Christus identifiziert); 3,659– 661 (Gotteserscheinung bei Mamre als Verweis auf den fleischgewordenen Christus); 3,788sq. (der Jordan als Ort der Taufe). – Eschatologische Prolepsen: 1,213–222 (Entstehung des Menschen aus Erde als Typos der Auferstehung aus der Erde); 3,57–59 (der Regenbogen als Verweis auf das Jüngste Gericht, möglicherweise auch auf die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, vgl. die vorletzte Anm.); 3,784–788 (die Entstehung des Toten Meeres nach der Zerstörung von Sodom und Gomorrha als Verheißung der Erlösung im Jüngsten Gericht). 306 Pyrrhus (3,130. 158); Galba (3,158sq.); die Alanen, wobei wohl die Rheinüberschreitung von 406/407 im Hintergrund steht, nach der sich die Alanen teilweise zunächst in Gallien ansiedelten (3,192, man beachte das nunc; zum historischen Bezug Papini 2006, 99 Anm. 14); Verlagerung des Apollokultes von Delphi zu den Leukern und anschließend zu den Germanen, wobei wohl auf die Schließung des Orakels von Delphi durch ein Edikt Kaiser Theodosius’ I. im Jahr 391 und auf die kürzlich erfolgte Christianisierung der Leuker angespielt ist (3,204–209, man beachte erneut nunc in V. 207; vgl. zum realgeschichtlichen Hintergrund Martorelli 2008, 183, ausführlich Duval 1969).

Einzelne Elemente der Darstellung | 123

ren Heils- und Menschheitsgeschichte in Verbindung zu bringen. Diese Neigung ließe sich sicherlich weitgehend durch den Einfluss der christlichen Exegese erklären, in der es üblich war, das Alte Testament als Vorgeschichte des Neuen Bundes zu lesen und wo immer möglich Vorausverweise auf Christus zu erblicken. Darüber hinaus dürfte Victorius jedoch an epische Vorbilder anknüpfen, und zwar vor allem an einen bestimmten Gattungsvertreter, nämlich Vergil, der als erster systematisch die Zeit nach der eigentlichen Handlung bis zur Gegenwart durch explizite und implizite Ausblicke in die Erzählung einbezieht und das erzählte Geschehen so in ein teleologisches Geschichtskonzept einbindet.307 Da Victorius die Aeneis als lateinisches Epos par excellence und Schullektüre ohnehin stets vor Augen gestanden haben muss, bietet sich ein Vergleich mit den bei Vergil verwendeten externen Prolepsen an. Ich konzentriere mich dabei auf die Art von Prolepsen, die bei Victorius am auffälligsten ist, nämlich solche, die der Sinnstiftung für die Gegenwart dienen (im Folgenden zur Variation teils als Prolepsen, teils als Ausblicke bezeichnet). Vergleich mit Vergils Aeneis: Sinnstiftung für die Gegenwart Betrachten wir vor der Diskussion einzelner Stellen und Techniken zunächst die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen Victorius und Vergil. Beide Autoren erzählen von Ereignissen, die zwar einer fernen Vergangenheit angehören, für sie und ihre Zeitgenossen jedoch eine fundierende Bedeutung haben, und beide machen diese Bedeutung wiederholt durch Überblendungen in spätere Zeiten sichtbar. Das erzählte Geschehen bildet dabei den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die ihre Erfüllung in einer viel späteren ‚Heilszeit‘ findet. Bei Vergil bereitet Aeneas’ Ankunft in Italien die Gründung Roms und damit letztlich die augusteische Ära vor, die explizit als neues Goldenes Zeitalter bezeichnet wird

|| 307 Instruktiv zusammengefasst bei Suerbaum 1999, 299–329, besonders 299. Dass auch spätantike Leser hierin ein Charakteristikum der Aeneis sahen, zeigt Don. Vita Verg. 21: … in quo [sc. argumento; gemeint ist die Aeneis], quod maxime studebat, Romanae simul urbis et Augusti origo contineretur). Andere Epen enthalten zwar auch Gegenwartsbezüge (vgl. schon Aussagen des Typs οἷοι νῦν βροτοί εἰσ’ in Il. 5,304 u. ö.) und letztlich dient natürlich jedes Epos in irgendeiner Weise der Gegenwartsdeutung, doch sind die Bezüge bei Vergil weitaus systematischer. Auch die späteren lateinischen Großepen, ob mythologischen (Statius, Valerius Flaccus und Claudians De raptu Proserpinae; Ovids Metamorphosen sind ein Sonderfall, weil sie bis zur Gegenwart reichen) oder historischen Inhalts (Lucan, Silius und Claudians zeitgeschichtlich-panegyrische Epen), sind zwar in je eigener Weise auf die Gegenwart bezogen, doch wird nirgends wieder so explizit und konsequent eine zweite Zeitebene ins Werk eingezogen.

124 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

(Aen. 6,791–794);308 bei Victorius bildet der Fall Adams und Evas den Hintergrund für die spätere Erlösung durch Christus, wobei die Bundesschlüsse Gottes mit Noah und Abraham auf den Neuen Bund in Christus vorausweisen. Zentrale Figuren in der Erzählung sind jeweils genealogisch mit späteren Personen und Gruppen verbunden: Bei Vergil stehen Aeneas und Iulus als Ahnen des Romulus und Stammväter der gens Iulia im Mittelpunkt, bei Victorius ist vor allem Abraham als Stammvater Israels und der Christenheit zu nennen. Sowohl die Aeneis als auch die Alethia sind also um Sinnstiftung für die Gegenwart bemüht, und so kann man insgesamt sagen, dass Victorius ein zentrales Anliegen des kanonischen römischen Epos aufgreift. Diese Aussage muss indes in mehrfacher Hinsicht spezifiziert und relativiert werden. Zunächst ist zu beachten, dass Victorius’ Verhältnis zu Vergil in diesem Punkt polemisch ist. Während Vergil eine Weltmacht und ihren neuen Herrscher durch die Erzählung der Vorgeschichte zu legitimieren und zu überhöhen sucht, propagiert Victorius ein Reich, das „nicht von dieser Welt“ ist (auch wenn das Christentum seit dem 4. Jh. immer mehr zu einem politischen Faktor wurde). Victorius setzt an die Stelle der nationalen Weltordnung Vergils eine spirituelle Weltordnung, und dies passenderweise in einer Zeit, in der die staatliche Macht des (west-) römischen Reiches immer schwächer wurde. Zudem geht er in gewisser Hinsicht über Vergil hinaus, indem er nicht nur auf eine bereits angebrochene neue Herrschaft, sondern darüber hinaus auch auf das Weltende vorausweist und so die Gegenwart in einen noch weiter gespannten Sinnzusammenhang stellt. Ein weiterer Unterschied zu Vergil besteht darin, dass die Alethia bei weitem nicht so konkret wie die Aeneis auf das historische Umfeld des Dichters verweist. Während die Ausblicke der Aeneis in der augusteischen Ära und damit in Vergils eigenen Lebzeiten kulminieren, geht es in den meisten Prolepsen bei Victorius um Jesus Christus, dessen Kreuzestod zum Entstehungszeitpunkt der Alethia schon rund 400 Jahre zurücklag, also um eine schon längst vergangene Zukunft. Dies bedeutet nicht, dass die Alethia nicht auch auf jüngere und aktuelle Entwicklungen Bezug nehmen würde: Victorius’ Exegese ist oft von Ambrosius und Augustinus beeinflusst, und es spricht viel dafür, dass er mit der Ent|| 308 Ob Vergils Augustusbegeisterung tatsächlich so ungeteilt war, wie einige Stellen glauben lassen, ist freilich spätestens seit A. Parrys vieldiskutiertem Aufsatz The two voices in Vergil’s Aeneid (Arion 2 [1963], 66–80) umstritten (einen guten Überblick über den Forschungsstand bietet z. B. Schauer 2007, 27f.). Für das Thema dieser Arbeit kommt es in erster Linie darauf an, wie die Aeneis in der Spätantike verstanden wurde, und hier scheinen die optimistischen Ausblicke auf Augustus betont worden zu sein (so jedenfalls bei Servius, vgl. z. B. Ser. Aen. praef. p. 4 Thilo: intentio Vergilii haec est, Homerum imitari et Augustum laudare a parentibus; vgl. auch Don. Vita Verg. 21 in der vorangehenden Anm.).

Einzelne Elemente der Darstellung | 125

faltung von Themen wie dem freien Willen und der Rolle göttlicher Gnade und menschlichen Verdienstes auf den Streit zwischen den Anhängern von Augustinus’ Prädestinationslehre und den sogenannten Semipelagianern reagiert, der in Südgallien in den 420er Jahren entbrannte.309 Allerdings sind diese Bezüge natürlich keine Ausblicke im Sinne Vergils. Echte Vorverweise auf die Gegenwart sind nur in der Digression des dritten Buches zu finden, doch handelt es sich hier um Beispiele zur Veranschaulichung der Argumentation, die nur lose mit der Gesamthandlung der Alethia verbunden sind.310 Wichtiger ist ein anderer, allgemeinerer Gegenwartsbezug: Für einen Christen wie Victorius ist die Erlösung durch Jesus Christus und besonders die mehrfach erwähnte Taufe von zeitloser Gültigkeit. Insofern verweist die Alethia auf eine Ära, die zwar schon lange nicht mehr neu, aber doch immer noch aktuell ist (und bleiben wird).311

|| 309 Die mit einem neuzeitlichen Begriff sogenannten Semipelagianer, unter ihnen Johannes Cassianus und weitere Asketen aus Marseille, wandten sich gegen Augustinus’ Lehre, wonach Gott die Menschen ganz ohne deren Zutun erwähle oder verwerfe (so besonders in Augustinus’ Werk De correptione et gratia aus dem Jahr 426 vertreten, vgl. G. Bonner, Art. „Pelagius/Pelagianischer Streit“, in: TRE 26, Berlin/New York 1996, 176–185, hier 180–182). Welches Verhältnis Victorius zur Prädestinationslehre einerseits und zu den Semipelagianern andererseits einnahm, ist umstritten. Exemplarisch für die verschiedenen Positionen genannt seien Hovingh 1955, 22–36, der die Alethia für frei von semipelagianischem Gedankengut hält, Papini 2006, 19–24, die sehr wohl eine Nähe zu den Semipelagianern beobachten zu können glaubt, und Martorelli 2008, 129–138, der dafür argumentiert, dass Victorius einen mittleren Weg zwischen beiden Fronten beschreite (für ältere Forschungsmeinungen siehe besonders Papini und Martorelli). Bemerkenswert ist, dass Victorius in 1,329–331 (nostrae laudis opus fieri, quod sponte benigna / largitur famulis, nostri cupit esse laboris / et se quod donat mavult debere videri) einen wohl Prosper von Aquitanien zuzuschreibenden Zusatz zu Coelestins I. Brief an die Bischöfe Galliens aufzugreifen scheint (cap. 9, zitiert nach Denzinger 2014, 110, vgl. [Coelestin.] Epist. 21,12 in PL 50,536: tanta enim est erga omnes homines bonitas Dei, ut nostra velit esse merita, quae sint ipsius dona, et pro his, quae largitus est, aeterna praemia sit daturus; vgl. Hovingh 1955, 27 und Martorelli 2008, 131f.; der Gedanke findet sich in anderer Formulierung schon in Aug. Epist. 196,5). Die Parallele spricht dafür, dass Victorius, wie Prosper selbst seit seinem Aufenthalt bei Coelestin, einem gemäßigten Augustinismus anhängt. 310 Veranschaulicht wird die Ausbreitung des Aberglaubens; vgl. zu den Stellen oben Anm. 306. 311 Zu bedenken ist dabei, dass auch die Ausblicke der Aeneis für Victorius und seine Zeitgenossen in eine längst vergangene Zeit verweisen – tatsächlich ja genau die Zeit, in der auch Jesus geboren wurde –, sodass für einen Leser des 5. Jh. kein Unterschied zwischen den Vorverweisen der Aeneis und der Alethia bestand. Erwähnt sei noch, dass das Christentum zu Victorius’ Zeit insofern einen gewissen Neuheitsanspruch erheben konnte, als es erst seit wenigen Jahrzehnten Staatsreligion war, doch scheint Victorius hierauf kein Gewicht zu legen.

126 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Formen der Prolepsen bei Vergil und Victorius Betrachten wir nach diesem grundsätzlichen Vergleich nun die Formen der Prolepsen. An erster Stelle sind Ankündigungen aus dem Mund einer göttlichen oder göttlich inspirierten Instanz zu nennen. In der Aeneis sind bekanntlich gerade die größten und hervorstechendsten Ausblicke auf diese Weise in die Erzählung integriert.312 Bei Victorius finden sich ebenfalls einige Prophezeiungen, die über das Buch hinausreichen, allerdings sind diese mit einer Ausnahme dem biblischen Bericht entnommen und betreffen Ereignisse, die im Pentateuch selbst dargestellt sind.313 Auf Christus wird lediglich in knapper Form in Gottes Rede über den Turmbau zu Babel angespielt (3,250sq.). Da eine besonders ausführlich gestaltete Prophezeiung später gesondert als Szene mit Bezug zu epischen Tradition untersucht werden soll (vgl. unten Kap. 2.1.3), müssen die Stellen hier nicht im Detail mit dem Brauch des Epos verglichen werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Victorius Prophezeiungen fast nur da einsetzt, wo es der Bibeltext selbst vorgibt, sie also nicht im größeren Stil für christologische oder eschatologische Ausblicke nutzt.314 Eine größere Rolle spielen bei Victorius Prolepsen durch Erzählerkommentare.315 Auch diese Technik setzt schon Vergil häufig ein. Meist handelt sich dabei um Aitiologien, bei denen nach dem Schema ‚damals – noch heute‘ o. ä. Namen, Personen, Orte und Bräuche der Vorzeit und der Gegenwart in eine historische Kontinuität gestellt werden.316 Hier folgt Victorius Vergil nur sehr bedingt. Am ehesten vergleichbar sind zwei Stellen, an denen der Bezug zur Zukunft über den Ort hergestellt wird. Exemplarisch genannt sei Abrams Aufenthalt in Bethel, das Victorius mit Bethlehem identifiziert und dementsprechend mit Jesus in Verbindung bringt (3,357–363, vgl. Gen. 12,8):317

|| 312 So das Gespräch zwischen Juppiter und Venus in 1,227–296, die sogenannte Heldenschau in 6,756–886 und der Dialog zwischen Juppiter und Juno in 12,819–839. 313 Vgl. die oben in Anm. 304 genannten Stellen. 314 Vielleicht hätte Victorius in einer größeren dazuerfundenen Prophezeiung eine zu starke Abweichung vom Bibeltext gesehen – obwohl er sich nicht scheut, Gott am Ende der Digression des zweiten Buches eine erfundene Lehrrede in den Mund zu legen (2,180–184). 315 Vgl. die oben in Anm. 305 genannten Stellen. Ein Sonderfall ist dabei der Abschluss des ersten Buches (1,545–547), wo Adam und Eva selbst überlegen, ob durch ein Holz das Leben zurückkehren könne, worin der Rezipient natürlich einen Vorverweis auf das Kreuz sieht. 316 Vgl. die Übersicht über entspreche Ausblicke in der Aeneis bei Suerbaum 1999, 322–327. 317 Er folgt mit dieser Identifikation Ambrosius; vgl. auch die Anmerkungen zu Gen. 12,8 in Fischers Vetus-Latina-Edition. Eine weitere Stelle, wo der Ausblick sich am Ort festmacht, ist 3,788sq., wo der Jordan eine Anspielung auf die Taufe auslöst.

Einzelne Elemente der Darstellung | 127

inde petit Bethlem, sedes quae lecta beati hospitiis sacrata viri est cunctasque superbis excessit meritis terras, quandoque, secundo post iam commemoranda loco cum sede superna, dignior ista, dei quae pignus lege salutis emissum mundo tantum mirante paratum exciperet, visa est, hominemque remitteret astris.

360

Darauf sucht er Bethlehem auf, den erwählten Wohnsitz, der durch die Beherbergung des seligen Mannes geweiht ist und an stolzen Verdiensten jedes Land übertroffen hat, weil er, (360) der später schon an zweiter Stelle zu nennen sein wird gleich nach dem himmlischen Wohnsitz, würdiger schien, um Gottes Pfand, das nach dem Gesetz des Heiles ausgesandt wurde (die Welt staunte vor 〈diesen〉 Anstalten nur), aufzunehmen und den Menschen zu den Sternen zurückzusenden.

Vergleichbare Ausblicke auf die spätere Bedeutung eines in der Erzählung auftauchenden Ortes begegnen auch bei Vergil mehrfach, besonders in der sogenannten Perihegese Roms, wo die Erzählerkommentare freilich viel knapper gehalten sind (Aen. 8,306–368). Die Mehrzahl der Prolepsen bei Victorius ist jedoch nach einem anderen Prinzip gebildet, das sich zwar mit der Aitiologie überschneiden kann, hier aber von ihr unterschieden werden soll, nämlich dem der Typologie, um die es im Rest dieses Teilkapitels gehen wird. Häufige Konstruktionsform der Prolepsen bei Victorius: die Typologie Anders als bei der Aitiologie wird bei der Typologie nicht oder nicht notwendig eine historische Kontinuität behauptet, sondern implizit oder explizit eine innere Korrespondenz zwischen einer früheren und einer späteren Person, Handlung, Begebenheit oder Einrichtung hergestellt, die als Typos und Antitypos aufeinander bezogen werden.318 Typologie, konkret meist die typologische Deu-

|| 318 Vgl. zu Definition und Geschichte der Typologie S. G. Hall, Art. „Typologie“, in: TRE 34, Berlin/New York 2002, 208–224 und R. Suntrup, Art. „Typologie1“, in: RLW 3, Berlin 2003, 707– 709. Zur Terminologie ist anzumerken, dass in der Antike die Begriffe Typologie und Allegorie teilweise gleichbedeutend verwendet wurden (so schon in Gal. 4,24 Allegorie für einen nach heutigem Verständnis typologischen Gedankengang) und dass die Grenzen tatsächlich nicht immer scharf zu ziehen sind (vgl. unten Anm. 325 zur Vergilphilologie, in der ebenfalls beide Begriffe verwendet werden). Hall art. cit. 209 formuliert unter Rückgriff auf L. Goppelt die Unterscheidung, die Allegorie hänge „am Wortlaut ohne Bezug auf historische Ereignisse, Personen oder Einrichtungen“, „Gegenstand typologischer Deutung“ könnten dagegen „nur geschichtliche Fakta, d. h. Personen, Handlungen, Ereignisse und Einrichtungen, sein, Worte und Darstellungen nur insofern, als sie von solchen handeln“. Die Unterscheidung ist insofern

128 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

tung des Alten Testaments auf Christus, ist schon im Neuen Testament und in der Alten Kirche fest etabliert,319 und so liegt es nahe, dass auch Victorius das Verfahren übernimmt. Tatsächlich formuliert er das Prinzip bei seiner ersten typologischen Prolepse sogar explizit. Ausgangspunkt ist die Erschaffung des Menschen aus Erde, in der Victorius einen Typos der Auferstehung sieht, bei der erneut aus der Erde Menschen hervortreten werden (1,213–222):320 non aliter ruptis mandata resurgere bustis corpora vera fides, cum caelo inlapsa patenti maiestas gravidae reserat cava viscera terrae. 215 nam quod non habuit cum sic e pulvere summo informante deo propriae virtutis egena ediderit, facile est, ut iudice reddat eodem iussa quod accepit. sic totum forma futuri est quod prius est genitum, dumque ipse ita conditur Adam, 220 ut repetita sacrum geminet narratio munus, utile praeseritur populos quandoque renasci. Nicht anders (sagt wahrer Glaube) stehen auf Befehl hin die Leiber wieder auf aus zerbrochenen Gräbern, wenn die Hoheit vom offenen Himmel gleitet321 (215) und der trächtigen Erde hohles Innere auftut. Denn weil sie das, was sie nicht besaß, aus der Stauboberfläche so durch Gottes Gestaltung ohne eigene Stärke von sich gab, kann sie leicht, von demselben Richter geheißen, hergeben, was sie empfing. So ist alles Abbild der Zukunft, (220) was vorher gezeugt worden ist, und weil Adam selbst so geschaffen wird, dass eine wiederholte Erzählung die heilige Gabe verdoppelt, ist es nützlich, voranzustellen, dass die Menschen einst wiedergeboren werden.

Die Verse weisen enge Bezüge zum Neuen Testament auf. Am deutlichsten ist dies bei der programmatischen Aussage totum forma futuri est (V. 219), mit der Victorius in verallgemeinernder Form Röm. 5,14 aufgreift, wo Adam als forma futuri bezeichnet wird (grch. τύπος τοῦ μέλλοντος).322 Auch die typologische || problematisch, als man nicht immer zwischen einem Bezug auf den Wortlaut und auf ein Faktum trennen kann, lässt sich aber auf Victorius anwenden, da bei ihm die Grundlage der Deutung nicht der Wortlaut des AT, sondern die dahinterstehenden Fakta sind (ähnlich unten bei Vergil). 319 Vgl. hierzu Hall art. cit. (vorangehende Anmerkung) 209–212. 320 Die Typologie ist in der Form eines Gleichnisses eingeführt, vgl. dazu unten S. 168. 321 Zur Verbindung von inlabi mit ablativus separativus vgl. ThLL s. v. illabor p. 334,17. 20, wo neben der vorliegenden Stelle der auch inhaltlich vergleichbare Vers Prud. Psych. 818 (hominis … filius arce aetheris lapsus) genannt ist. 322 In Röm. 5,14 bleibt im Griechischen wie im Lateinischen unklar, ob ein Neutrum („Zukunft“) oder ein Maskulinum („der Kommende“, also Christus) gemeint ist (vgl. zur Forschungsdiskussion K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, Leipzig 32006, 135 und M.

Einzelne Elemente der Darstellung | 129

Gegenüberstellung von Urzeit und Endzeit (bzw. konkret von Schöpfung und Auferstehung) hat bereits eine gewisse Parallele in den paulinischen Briefen, nämlich in 1Kor. 15,42–45. Paulus zitiert an dieser Stelle sogar den bei Victorius zugrunde liegenden Vers Gen. 2,7, wenn auch nicht mit der dort herausgearbeiteten Analogie zwischen dem ersten und dem letzten Hervorgehen eines Leibes aus der Erde, für die sich jedoch ein mögliches Vorbild in einer lateinisch erhaltenen Origenespassage findet.323 Auch bei den übrigen typologischen Prolepsen lassen sich meist Vorbilder im Neuen Testament oder in der patristischen Literatur finden. Herausgegriffen sei noch der Abschluss des zweiten Buches, wo die Sintflut antithetisch auf die Taufe bezogen wird (2,556–558; Subjekt ist Gott): … qui tempore parvo, ut nunc edocuit populos sic posse necari, ipse docebit aquis populos sic posse renasci. … der in kurzer Zeit, wie er jetzt gelehrt hat, dass Menschen auf diese Weise getötet werden können, selbst lehren wird, dass Menschen durch Wasser auf diese Weise von Neuem geboren werden können.

Als neutestamentliches Vorbild ist hier 1Petr. 3,20sq. zu nennen, wobei die Sintflut-Taufe-Typologie bei den Kirchenvätern so weite Verbreitung findet, dass hier eher von der Aufnahme einer Deutungstradition als vom Aufgreifen einer konkreten Stelle zu sprechen ist.324

|| Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 1: Röm 1–8), Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2014, 348 Anm. 34). Angesichts von Aleth. 1,219 scheint Victorius die Stelle im ersteren Sinne zu verstehen (so übrigens auch Haacker, dagegen Wolter). 323 Die Paulusverse münden ebenfalls in eine Adam-Christus-Typologie und unterscheiden sich so im Konkreten von der Alethia-Stelle, doch ist immerhin die Verbindung von Gen. 2,7 und der Auferstehung schon hier zu finden (zur genaueren Deutung der in der Forschung vieldiskutierten Bibelstelle vgl. z. B. A. Lindemann, Die Auferstehung der Toten. Adam und Christus nach 1. Kor 15, in: M. Evang et al. [Hgg.], Eschatologie und Schöpfung. Festschrift E. Gräßer, Berlin 1997, 155–167). Zur Verbindung von Erschaffung aus der Erde und Auferstehung aus der Erde vgl. Rufinus’ lateinische Übersetzung von Orig. Princ. 3,6,5: … ut quae primo fuit caro ‚ex terra terrena‘, tum deinde dissoluta per mortem et iterum facta „cinis ac terra“ („quoniam terra es“ inquit „et in terram ibis“) rursum resuscitetur e terra … 324 Nach der Vetus-Latina-Edition der katholischen Briefe von W. Thiele (Typ T, der im 5. Jh. in Gallien verbreitet war): (20) … in diebus Noe cum fabricaretur arca in qua pauci id est octo animae salvae factae sunt per aquam (21) quod et vos nunc simili forma baptisma salvos facit … (man beachte auch das typologische Vokabular im Griechischen: ὃ καὶ ὑμᾶς ἀντίτυπον νῦν σῴζει βάπτισμα). Zur Verbreitung bei den Kirchenvätern vgl. die in Anm. 164 angegebene Literatur.

130 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Typologische Prolepsen vor dem Hintergrund Vergils Die Parallelen zu neutestamentlichen und patristischen Schriften könnten den Eindruck erwecken, dass die typologischen Vorverweise in der Alethia ausschließlich von christlichen Vorbildern herzuleiten sind und nichts Episches an sich haben. In zweifacher Hinsicht lässt sich Victorius’ Vorgehen jedoch selbst hier mit dem Epos in Verbindung bringen. Zunächst ist zu bedenken, dass Vergil in impliziter Form durchaus typologische Bezüge zwischen mythischen und historischen Figuren zu konstruieren scheint, so etwa bei der Figur des Aeneas, die sich als Typos des Augustus verstehen lässt.325 Hinzu kommt, dass es Teil der schulischen Vergillektüre gewesen zu sein scheint, solche Bezüge zu erkennen und zu benennen.326 Ein zweiter Aspekt ist die typologische Umdeutung Vergils. Hierbei werden in den Werken Vergils Vorverweise auf die nachvergilische Zukunft angenommen. Einen Höhepunkt erreicht dieses Verfahren in den christlichen Vergilcentonen, besonders dem der Proba, in dem es geradezu zum Programm wird, im Vergiltext typologische Vorverweise auf Christus zu entdecken oder zu konstruieren.327 Beide Arten von Typologie unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von den typologischen Prolepsen in der Alethia, nicht zuletzt, weil sich keine von ihnen in expliziten Erzählerkommentaren niederschlägt,328 doch bilden beide in je eigener Art eine Brücke zwischen Vergil und den christlichen Vorverweisen bei Victorius. In Bezug auf die typologischen Bezüge zwischen mythischen und historischen Figuren in der Aeneis könnte man sagen, dass Victorius lediglich explizit ausführt, was Vergil implizit anlegt. Es gilt demnach auch hier, was oben bereits allgemein festgestellt wurde (vgl. S. 55f.): Victorius integriert in die Erzählung, was der Schulunterricht als enarratio zur Aeneis hinzufügte. Die Vergiltypologie der Centonen ist zwar kein konkretes Vorbild für die Alethia, || 325 Die ältere Forschung spricht hier meist von Allegorien oder mit Viktor Pöschl von Symbolen, doch hat sich seit den 1970er Jahren weitgehend der bewusst an die Bibelexegese angelehnte Terminus Typologie durchgesetzt, vgl. die forschungsgeschichtlichen Überblicke bei Suerbaum 1999, 334–336, Margoni-Kögler 2001, 144f. oder Schauer 2007, 28f. (mit weiterführender Literatur in Anm. 25–29). 326 Dies zeigt der Kommentar des Servius, der mehrfach auf solche Bezüge hinweist (vgl. dazu J. W. Jones Jr., Allegorical Interpretation in Servius, CJ 56 (1961), 217–226, hier 219f. mit Beispielen; weitere Literatur bei Margoni-Kögler 2001, 144 Anm. 20). 327 Vgl. den programmatischen V. 25 von Probas praefatio: Vergilium cecinisse loquar pia munera Christi. Zum typologischen Verfahren vgl. Margoni-Kögler 2001, 146–151 mit älterer Literatur. 328 Der in der vorangehenden Anmerkung zitierte Satz aus Probas praefatio bildet hier eine Ausnahme, die sich im eigentlichen Werk nicht wiederholt.

Einzelne Elemente der Darstellung | 131

aber doch insofern relevant, als hier speziell christliche Typologien mit dem paganen Epos in Interaktion kommen. Zusammenfassung Während die wenigen Analepsen vor allem der Vertiefung bestimmter Aspekte der Erzählung dienen und nur bedingt mit dem Epos vergleichbar sind, lassen sich bei den zahlreicheren Prolepsen stärkere Bezüge zum Epos und vor allem zu Vergils Aeneis feststellen, insofern Victorius wie Vergil regelmäßig eine zusätzliche Zeitebene in seine Erzählung integriert. Gewiss sind auch bei den Prolepsen Unterschiede zum Epos zu konstatieren, vor allem weil viele Prolepsen in der Alethia typologisch angelegt sind und zunächst in christlicher Tradition stehen, doch lassen sich Indizien dafür anführen, dass typologische Prolepsen gerade für einen spätantiken Dichter keinen Bruch mit dem vergilischen Epos bedeuten mussten. In der Alethia verbinden sich somit die christliche Rezeption des Alten Testaments und die Vergilrezeption in einer Weise, die zwar in der Aeneis selbst schwer vorstellbar wäre, aber durchaus ein Grundanliegen der Aeneis, nämlich die Sinnstiftung für die Gegenwart, aufnimmt.

1.3.2 Darstellungselemente mit Bezug zu Epos und Lehrgedicht 1.3.2.1 Wörtliche Rede Der häufige Einsatz wörtlicher Rede gehört zu den typischsten Erzähltechniken des antiken Epos. In allen vollständig erhaltenen Großepen nimmt wörtliche Rede einen erheblichen Anteil der Textmasse ein, und bekanntlich sah bereits Aristoteles ein wesentliches Qualitätsmerkmal der homerischen Epen gerade darin, dass der Dichter (nach heutiger Terminologie: der Erzähler) selbst relativ wenig spricht und in großem Umfang seine Figuren zu Wort kommen lässt.329 Die Reden dienen dabei nicht bloß dazu, die Handlung voranzutreiben, sondern tragen wesentlich zur Charakterisierung der Figuren und zur Dramatisierung der Darstellung bei.330 Im Lehrgedicht treten wörtliche Reden demgegenüber

|| 329 Zum Lob der wörtlichen Rede bei Homer vgl. Aristot. Poet. 24 p. 1460a5–7 (Hintergrund ist der für die Poetik zentrale Mimesisgedanke): Ὅμηρος δὲ ἄλλα τε πολλὰ ἄξιος ἐπαινεῖσθαι καὶ δὴ καὶ ὅτι μόνος τῶν ποιητῶν οὐκ ἀγνοεῖ ὃ δεῖ ποιεῖν αὐτόν. αὐτὸν γὰρ δεῖ τὸν ποιητὴν ἐλάχιστα λέγειν … 330 So bereits Heinze 1915, 410–412, wonach das „Gespräch … die beste Möglichkeit zu charakterisieren, zu individualisieren, zu differenzieren“ (411) bietet, wobei es Vergil lediglich auf

132 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

nur vereinzelt auf, und zwar vor allem in angedeuteten Dialogen mit dem Schüler oder in narrativen Einlagen.331 Wörtliche Rede ist also in erster Linie ein typisch episches Element, soll aber hier als erstes Element mit Vorbildern in Epos und Lehrgedicht behandelt werden, weil, wie sich zeigen wird, beide Einflüsse für Victorius relevant sind. Statistik der Reden und globale Überlegungen In der bisherigen Victoriusforschung wurden die Reden zwar als eigener Untersuchungsgegenstand zur Kenntnis genommen, dies jedoch kaum vor dem Hintergrund des paganen Epos oder des Lehrgedichts. Gleichwohl lassen die bereits geleisteten Untersuchungen bereits einige erste Schlüsse für unsere Frage zu. Aufschlussreich für unser Thema sind etwa die statistischen Auswertungen, die Michael Roberts vorgenommen hat.332 Demnach beträgt der Anteil wörtlicher Rede in der Alethia ca. 17%. Victorius liegt damit deutlich unter den im Epos üblichen Werten, die üblicherweise größer als 30% sind.333 Schon hier zeigt sich also, das wörtliche Rede für Victorius keine solch bedeutende Rolle spielt wie für das Epos, wobei Roberts’ Vergleichszahlen für den Heptateuchdichter und Avitus zeigen, dass Victorius sich durchaus im Rahmen der für Bibeldichter des 5./6. Jh. üblichen Werte bewegt.334 Wertet man die Alethia-Bücher einzeln aus (was Roberts nicht tut), so zeigt sich, dass die Werte von 11% im ersten Buch über 17% im zweiten auf 21% im dritten zunehmen. Wieder einmal zeigt sich also, dass das erste Buch besonders stark dem Lehrgedicht verpflichtet ist, während in den beiden folgenden Büchern allmählich stärker der Einfluss des Epos

|| „die moralische Eigenart und den Affekt“ ankomme (ibid.). Ausführlicher zur charakterisierenden Funktion der Reden M. Helzle, Der Stil ist der Mensch. Redner und Reden im römischen Epos, Stuttgart/Leipzig 1996, der an Vergil, Lukan, Statius und Silius Italicus nachweist, dass „Sprecher im römischen Epos eine eigene, durch verschiedene linguistische Elemente individualisierte Stimme haben können“ (301), und konstatiert: „Diese Individualisierung der Redeweisen einzelner Darsteller trägt entscheidend zum Dramatischen im Epos bei“ (302). 331 Vgl. Pöhlmann 1973, 881 Anm. 413 (genauer unten Anm. 342). 332 Roberts 1980, 193, teilweise zitiert von Martorelli 2008, 87. 333 Der Anteil wörtlicher Rede beträgt in der Ilias 45%, in der Odyssee (inkl. des Apologs) 67%, bei Apollonios Rhodios 29%, in Vergils Aeneis ohne den Apolog 38%, mit Apolog 47%, bei Lukan 32%, bei Valerius Flaccus 34%, bei Statius 37%, bei Silius Italicus 31%, in Claudians mythologischen und historischen Epen 36 % bzw. 46% (Zahlen nach Lipscomb 1909, 15 und Sangmeister 1978, 4, für Homer nach W. Schmid/O. Stählin, Geschichte der griechischen Literatur 1,1 [HAW 7,1,1], München 1929, 92). 334 Beim Heptateuchdichter 17,4%, bei Avitus 22,4%, vgl. Roberts 1985, 193.

Einzelne Elemente der Darstellung | 133

durchschlägt – wobei dieser nicht so weit geht, dass die Reden einen ähnlich hohen Anteil wie im paganen Epos erreichen würden. Besondere Aufmerksamkeit verwenden Roberts und nach ihm Martorelli auf das Verhältnis der Reden zur biblischen Vorlage.335 Demnach setzt Victorius, wie auch andere Bibeldichter seiner Zeit, viele in der Genesis enthaltene wörtliche Äußerungen in oratio obliqua um oder lässt sie ganz aus, während er andere mit mehr oder weniger großen Freiheiten gegenüber dem Bibeltext zu ausgefeilten Reden ausbaut. Speziell Dialoge setzt Victorius nie vollständig in direkte Rede um, sondern gestaltet allenfalls eine Rede breit aus, die dann aber zwei oder mehr kurze Reden der Vorlage verschmelzen kann. Für unser Thema ist hieraus zweierlei abzuleiten: Zunächst bedeutet die Umsetzung wörtlicher Reden in oratio obliqua eine Einbuße an Dramatik und Anschaulichkeit, ja man könnte sagen, dass der Bibeltext an einigen Stellen hierdurch ent-episiert wird. Andererseits kann man in der Ausgestaltung einzelner großer Reden einen punktuellen Annäherungsversuch an das Epos sehen, das ja ebenfalls von umfangreicheren und sorgfältig ausgearbeiteten Reden geprägt ist. Tatsächlich folgt Victorius hiermit sogar einer Tendenz seiner Zeit, denn die spätere Epik neigt dazu, weniger, dafür aber längere und stärker rhetorisierte Reden zu verwenden und auf eigentliche Dialoge zu verzichten.336 So gesehen kann gerade

|| 335 Vgl. Roberts 1985, 145 und Martorelli 2008, 86–96. Nützlich ist Martorellis Übersicht über die Reden in der Alethia auf S. 87f., in der freilich die Rede des interlocutor (1,72–77) fehlt; zwei weitere kurze Reden werden nur in Anm. 125 genannt. 336 Vgl. Roberts 1985, 145 und Cameron 1970, 266–269. Die Entwicklung ist freilich nicht ganz kontinuierlich, vgl. die Zahlen über die durchschnittliche Häufigkeit und Länge der epischen Reden bei Lipscomb 1909, 15: Demnach findet sich in Vergils Aeneis durchschnittlich eine Rede auf 30 V. bei einer durchschnittlichen Länge von 11,35 V., bei Lukan eine Rede auf 67 V. (durchschnittl. Länge 21,55 V.), bei Val. Fl. eine Rede auf 30 V. (durchschnittl. Länge 10,16 V.), bei Stat. eine Rede auf 39 V. (durchschnittl. Länge 14,42 V.), bei Sil. eine Rede auf 41 V. (durchschnittl. Länge 12,57 V.), bei Claud. in mythologischer und historischer Epik eine Rede auf 48 bzw. 69 V. (durschnittl. Länge 17,27 bzw. 31,71 V.). Victorius liegt mit einer durchschnittlichen Länge von 14,6 V. tatsächlich über Vergil, bleibt jedoch hinter Lukan und Claudian zurück (die Frequenz ist mit einer Rede auf 88 V. geringer als bei allen genannten Epikern). Die Durchschnittslänge liegt über der des Heptateuchdichters (7,8 V.) und gleichauf mit Avitus (14,6 V., beide Zahlen nach Roberts 1985, 193). – Dagegen lässt der Prozentsatz der im Vers beginnenden bzw. endenden Reden keine Orientierung an spätantiken Tendenzen feststellen: Im Vers beginnen bei Victorius 26% der Reden (meine Zahl) und damit etwa so viele wie bei Vergil (vgl. Lipscomb 1909, 37, wonach bei Vergil 25%, bei Lukan 35%, bei Val. Fl. 36%, bei Stat. 45%, bei Sil. 41%, bei Claud. 38% der Reden im Vers beginnen); größer – auch größer als bei Vergil – ist der Anteil der im Vers endenden Reden, nämlich 43% (meine Zahl; nach Lipscomb loc. cit. enden bei Vergil 24%, bei Lukan 61%, bei Val. Fl. 21%, bei Stat. 43%, bei Sil. 25%,

134 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

die Abkehr von den vielen und vergleichsweise ‚natürlichen‘ Reden der Genesis als eine Orientierung an der höchst artifiziellen Redegestaltung des späteren Epos verstanden werden.337 Reden nach dem Vorbild des Lehrgedichts? Nach diesen etwas widersprüchlichen Betrachtungen aus der Vogelperspektive ist ein genauerer Blick auf die Reden nötig. Dabei wird schnell deutlich, dass die Reden in sehr unterschiedlichem Maß episch geprägt sind. Gänzlich aus der epischen Redetradition fällt die erste wörtliche Rede der Alethia. Bemerkenswerterweise lässt Victorius die Gottesreden der biblischen Schöpfungsgeschichte bis zur Erschaffung des Menschen aus oder ersetzt sie durch angedeutete indirekte Rede. Dafür lässt er bei der Darstellung des zweiten Schöpfungstages einen anonymen interlocutor auftreten, der selbst nicht zur Erzählung gehört, sondern von außen auf das Geschehen blickt und damit auf einer Ebene mit dem Hauptsprecher der Alethia steht (1,71–78): forsitan hic aliquis sic secum errore perito disserat: „aetheriis ne desint pabula flammis et nimius calor ima petens alimenta sequendo exurat mortale genus caelumque coruscum non possint terrena pati, subiecta deorsum est machina firma poli quae, dum nos protegit umbra, et velatur aquis.“ talis sed quaerere causas mens fuge nostra procul …

75

Vielleicht wird hier jemand bei sich in gebildetem Irrtum darlegen: „Damit den himmlischen Flammen nicht das Futter fehlt und die gewaltige Hitze auf Suche nach Nahrung herabkommt und das Menschengeschlecht verbrennt, und die Erdenwelt dann den blitzenden Himmel (75) nicht338 aushalten kann, ist darunter das feste Bauwerk des Himmels-

|| bei Claud. 29%; Victorius ist hier insofern mit Lukan vergleichbar, als auch bei diesem mehr Reden im Vers enden als anfangen, wobei beide Prozentsätze bei Lukan höher sind). 337 Vgl. die Aussagen über Claudian bei Cameron 1970, 267, die ebenso auf Victorius zutreffen: „In Claudian, speeches no longer arise naturally and frequently from the narrative. … There is almost no genuine dialogue.“ 338 Im Lateinischen liegt eine doppelte Verneinung vor (ne … non, strukturell vergleichbar mit Mart. 9,29,9: ne tua non possint …); gemeint ist wohl: Das Wasser über dem Firmament solle verhindern, dass die Erde von unerträglicher Hitze heimgesucht wird. Anders Hovingh und Papini, die die zweite Negation (non) übergehen.

Einzelne Elemente der Darstellung | 135

poles gesetzt, das, derweil es uns schützt mit Schatten, auch von Wassern verhüllt wird.“ Doch solche Gründe zu suchen hüte dich, unser Geist …339

Die Technik, in die eigenen Darlegungen die Einwände oder Gegendarstellungen eines fiktiven Gegenübers einzuschalten und sich anschließend gegen diese zu wenden, stammt aus der Diatribe.340 Für Victorius als Hexameterdichter kommt besonders die römische Verssatire als Vorbild infrage, und in der Tat lassen sich hier zahlreiche Beispiele für die Einführung eines opponierenden anonymen Zwischenredners finden.341 Freilich drang die dialogische Technik schon lange vor Victorius auch in andere Gattungen ein. Besonders erwähnt sei die Lehrdichtung, die sich bereits mehrfach als wichtiges Vorbild für Victorius erwiesen hat und die seit Lukrez den Dialog mit einem kritischen Schüler kennt.342 Einnert sei ferner daran, dass der interlocutor auch in der christlichen Predigt- und Traktatliteratur seit den paulinischen Briefen ihren Platz hat.343 Welche Einflüsse für Victorius an der zitierten Stelle relevant waren, lässt sich angesichts der Verbreitung der Technik kaum entscheiden. Die Redeeinleitung forsitan hic aliquis findet sich vor Victorius jedenfalls schon in der pseudoovidischen Nux und in einem Psalmkommentar des Augustinus.344 Dafür, dass

|| 339 Die wiedergegebene Ansicht entspricht weitgehend der Erklärung in Ambr. Hex. 2,3,12, vgl. unten S. 243. 340 Vgl. zum (etwas unscharfen) Begriff H. Görgemanns/K.-H. Uthemann, Art. „Diatribe“, in: DNP 3, Stuttgart/Weimar 1997, 530–533. 341 Ich zitiere exemplarisch Hor. Sat. 1,3,19, wo die Rede wie bei Victorius einem aliquis zugeschrieben wird: (nunc aliquis dicat mihi „quid tu? …“). Die Technik, einen anonymen Redner auftreten zu lassen, ist übrigens viel älter, vgl. die Reden eines (zur Diegese gehörigen) τις bei Homer (ὧδε δέ τις εἴπεσκεν …, Il. 2,271 u. ö.). 342 So z. B. Lucr. 1,803–808 (im Rahmen einer Widerlegung der Kosmologie des Empedokles): „at manifesta palam res indicat“ inquis „in auras / aëris e terra res omnis crescere alique; …“ Auch bei Manilius finden sich Beispiele, so etwa 4,869–872 (zur Frage nach der Möglichkeit zur Einsicht in den Kosmos): „conditur en“ inquit „vasto natura recessu / mortalisque fugit visus et pectora nostra, / nec prodesse potest quod fatis cuncta reguntur, / cum fatum nulla possit ratione videri.“ Weitere Stellen: Lucr. 1,897–900; 3,356. 894–915; 6,673 sowie Manil. 4,387–389 (alle Stellen nach Pöhlmann 1973, 881, Anm. 413). 343 Vgl. etwa R. M. Thorsteinsson, Paul’s interlocutor in Romans 2. Function and identity in the context of ancient epistolography, Stockholm 2003, 123–148. – Erwähnt sei auch die im Roman begegnende Spielart, dass der (außerhalb der Diegese stehende) Leser als interlocutor auftritt (so in Apul. Met. 9,30,1: sed forsitan lector scrupulosus reprehendens narratum meum sic argumentaberis: „unde autem …“). 344 Vgl. Ps.-Ov. Nux 133 (forsitan hic [v.l.: hoc] aliquis dicat „…“) sowie Aug. In Ps. 67,9 (hier ohne wörtliche Rede, aber ebenfalls zur Einführung einer Gegendarstellung: forsitan hic aliquis recolat illud tempus, quando in deserto deus transibat coram populo suo …).

136 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

das Lehrgedicht, von dem Victorius in anderen Punkten so offensichtlich beeinflusst ist, auch hier nicht ganz unwichtig war, spricht vor allem der Kontext. Die Rede gehört zur Kosmogoniedarstellung, die, wie noch genauer zu zeigen sein wird, insgesamt an die Lehrgedichtung und speziell an Lukrez anknüpft (vgl. unten Kap. 2.2.1). Auch wenn die Rede formal nicht ganz mit dem lehrdichterischen Brauch übereinstimmt (besonders die ausführliche und vorab verurteilende Einleitung weicht vom Lehrgedicht ab, wo die Einschübe lediglich durch inquis, inquit, aiunt oder gar nicht markiert sind), liegt somit der Gedanke an die Dialogtechnik des Lehrgedichts nahe – was freilich den Einfluss der Diatribe nicht ausschließt. Ebenfalls eher in die Richtung des Lehrgedichts weist die Rede am Ende der Kulturentstehungstheorie im zweiten Buch (2,180–184, vgl. unten S. 276f.). Victorius lässt hier Gott selbst sprechen, um bestimmte Missverständnisse hinsichtlich der Kulturentstehung auszuräumen.345 Die Rede steht ebenfalls auf der Ebene der Argumentation, nicht der Erzählung, wenngleich Gott an anderen Stellen auch innerhalb der Erzählung spricht. Inhaltlich ist die Lage im Vergleich zu 1,71–77 genau umgekehrt: Wurde in der dortigen Rede eine ‚Irrlehre‘ vorgetragen, so soll hier möglichen ‚Irrlehren‘ die Wahrheit entgegengesetzt werden. Die Technik lässt sich so beschreiben, dass Victorius die von ihm selbst vertretene Lehre einem ‚Gegenstand‘ seiner Abhandlung in den Mund legt. So betrachtet, besteht eine gewisse Verwandtschaft zu einer Stelle, an der Lukrez seinem Hauptgegenstand, der natura, zwei Scheltreden in den Mund legt, wofür die natura freilich im Unterschied zu Gott personifiziert werden muss (3,933– 949. 954–962). Doch unabhängig davon, ob Victorius selbst an dieser Stelle ein solches Vorbild im Sinn hatte, klar ist, dass die Gottesrede in 2,180–184 weit näher am Lehrgedicht als am Epos steht. Reden nach dem Vorbild des Epos Die übrigen Reden sind in die Erzählung eingebettet, d. h. es sprechen zur Diegese gehörige Figuren innerhalb der erzählten Zeit, was zumindest formal eher dem Epos entspricht. In der Mehrzahl dieser Reden, nämlich 16 von 21, spricht Gott.346 Darüber hinaus sprechen je einmal die Schlange, Adam, Eva, Noah und die Bewohner von Schinar. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Gott der

|| 345 Grammatikalisches Subjekt ist nicht Gott, sondern die gloria larga patris, was aber leicht als abstractum pro concreto aufzulösen ist. 346 Ich rechne dabei die kurzen Bemerkungen Gottes in 1,198sq. und 3,676 mit ein, die Martorelli in seiner Tabelle übergeht (2008, 87f., vgl. Martorellis Anm. 123).

Einzelne Elemente der Darstellung | 137

einzige durchgehende Akteur der Genesis ist, bildet die Verteilung der Reden schon für sich genommen einen bemerkenswerten Befund. Offenbar ist Victorius nicht sonderlich daran gelegen, seine menschlichen Figuren in der Weise des Epos als sprechende Charaktere hervortreten zu lassen. Victorius steht mit der ungleichen Verteilung der wörtlichen Reden auf die einzelnen Figuren freilich unter den Bibeldichtern nicht alleine da. Schon Juvencus gibt bevorzugt die Äußerungen Jesu in wörtlicher Rede wieder, während er die von Randfiguren einschließlich der Jünger meist indirekt paraphrasiert. Reinhart Herzog (1975, 128) bezeichnet die zugrunde liegende Technik als „Applanierung und Reliefierung“: Während als weniger wichtig erachtete Aussagen durch indirekte Rede eingeebnet (‚applaniert‘) werden, hebt der Dichter die Worte Jesu durch wörtliche Rede hervor (‚reliefiert‘ sie also). Dies lässt sich auf die Alethia übertragen: Auch wenn Victorius bei weitem nicht alle Gottesreden der Genesis in direkter Rede wiedergibt, stellt er durch die vorhandenen Reden doch unverkennbar Gott in den Mittelpunkt, während er die Menschen hinter ihm zurücktreten lässt. Am deutlichsten ist der Gegensatz bei Abram, an den Gott sieben teils ausführliche Reden richtet, der selbst aber kein einziges Mal in wörtlicher Rede zitiert wird.347 Seine eigene Leistung scheint geradezu im Hören auf Gottes Stimme zu bestehen, und vielleicht soll die auffällige Verteilung dies insgesamt zum Ausdruck bringen: dass es die Aufgabe der Menschen ist, auf Gott zu hören,348 und die Aufgabe des Dichters, Gottes Stimme hörbar zu machen. Unepische Redegestaltung: die Gottesreden Vergleicht man die zahlreichen Gottesreden der Alethia mit den Reden des Epos, so fällt schnell die Unanschaulichkeit des Redevorgangs ins Auge. Im Epos werden redende Figuren – Götter ebenso wie Menschen – in der Regel so eingeführt, dass der Rezipient sie sich bildlich vorstellen kann, es wird also beispielsweise geschildert, wo sie sich befinden und was sie zuvor getan haben; bei Göttern im Gespräch mit Menschen erfährt man oft, in welcher Gestalt sie an die Menschen herantreten. In der Alethia werden dagegen nur Gottes Worte

|| 347 Nämlich 3,332–343. 400–409. 472–485. 492–511. 432–544. 606–624. 676, vgl. Martorelli 2008, 88. In der Genesis spricht Abram z. B. in 15,2sq. 8; 17,18; 18,23–32 mit Gott. 348 Diese Rollenverteilung wird im Falle Abrams auch im Text deutlich, vgl. 3,344sq. (nach Gottes erster Rede an Abram: dixit [sc. deus] et imperiis mentem qua serviat indit / promissisque piis credat) und 3,410 (ebenfalls nach einer Gottesrede: sic ait [sc. deus]: ille libens paret …). Abram erscheint somit als Vorbild im Hören und Gehorchen.

138 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

wiedergegeben, während visuelle Informationen fehlen.349 Dies ist natürlich in erster Linie durch die biblische Vorlage bedingt, wo die meisten Gottesreden eben bloß aus Gottes Stimme bestehen, und hängt überhaupt mit dem jüdischchristlichen Gottesbild zusammen, dem Anthropomorphisierungen, wie sie die griechisch-römische Mythologie prägen, weitgehend fremd sind. Bemerkenswerterweise geht Victorius in dieser Hinsicht jedoch noch über die Genesis hinaus. In den von Victorius bearbeiteten Kapiteln finden sich nämlich zumindest zwei Stellen, wo zu Gottes Stimme auch konkret-visuelle Angaben hinzutreten und wo es sich bei einer Episierung angeboten hätte, eine Gottesrede mit einer anschaulichen Szenerie zu verbinden: So wird in der Sündenfallerzählung geschildert, wie Gott durch den Garten geht und nach Adam ruft, den er dann anschließend mit Eva zur Rede stellt (Gen. 3,8sq.).350 Victorius referiert Gottes Suchruf in indirekter Rede, übergeht jedoch die Angabe, dass Gott sich dabei im Paradies ergeht.351 Victorius verzichtet also trotz seiner Vorlage darauf, Gott über seine Stimme hinaus konkret vorstellbar zu machen. Umgekehrt ist die Situation beim Besuch der drei Männer bei Abram in Mamre (Gen. 18,1–15). Sowohl der Bibeltext als auch Victorius halten ausdrücklich fest, dass in den drei Männern Gott selbst Abram erscheint.352 Doch während in der biblischen Vorlage ein Gespräch zwischen den Männern und Abram geschildert wird, Gott also in konkreter Gestalt mit Abram spricht, lässt Victorius die Männer weder in direkter noch in indirekter Rede zu Wort kommen. Auch wenn Victorius Gott wie im Bibeltext in leibhaftiger Gestalt erscheinen lässt, vermeidet er erneut die Kombination aus Rede und anschaulicher Szenerie, die der Episode epische Züge hätte verleihen können. Dass Victorius es so konsequent vermeidet, Gott zugleich hörbar und sichtbar werden zu lassen, hat

|| 349 Die einzige Stelle, an der Victorius (in Abweichung von der Genesis) eine konkrete Szenerie zumindest andeutet, ist 3,246 (beim Turmbau zu Babel): … cum pater haec propriis regni consortibus infit: „…“. Victorius evoziert hier geradezu eine Götterratsszene. Anstoß könnte die 1. Pl. in der nachfolgend paraphrasierten Rede in Gen. 11,7 sein (europäischer Text: venite descendamus et confundamus illis linguas eorum …), die suggeriert, dass Gott vor dem himmlischen Hofstaat spricht. 350 Nach Fischers Vetus-Latina-Edition (allgemeine Form): (8) et audierunt vocem domini deambulantis in paradiso ad vesperam … (9) et vocavit dominus deus Adam et dixit illi Adam ubi es. 351 Aleth. 1,456 (in Form einer Apostrophe an Adam): voce vocans ubi sis, pariter testatur utrumque … (nämlich sowohl Adams Fall als auch Gottes Fürsorge für Adam). 352 Siehe Gen. 18,1sq. (nach Fischers Veus-Latina-Edition, V. 1 allgemeine Form, V. 2 europäischer Text): (1) visus est autem ei deus ad ilicem Mambre … (2) … et ecce tres viri stabant super eum. Noch deutlicher und differenzierter in Aleth. 3,642–644: [deus] alumni, / quamvis caelitibus famulis comitatus adiret, / visibus obiecit.

Einzelne Elemente der Darstellung | 139

sicherlich primär theologische Gründe,353 doch kann man hierin auch das Bestreben sehen, Gottes Reden an die Menschen in einer Weise zu präsentieren, die sich möglichst deutlich vom Epos unterscheidet. Punktuelle Episierung 1: Menschenreden mit Ethopoiia-Funktion Mit seinem restriktiven Einsatz wörtlicher Rede verzichtet Victorius zugleich weitgehend darauf, die Menschen durch Reden zu charakterisieren, wie es im Epos üblich ist. Auch dies fällt am stärksten bei Abram auf, der zwar der Held des dritten Buches und die markanteste menschliche Figur der Alethia überhaupt ist, trotzdem aber nie mit einer wörtlichen Rede auftritt. Davon abgesehen finden sich jedoch einige Stellen, an denen wörtliche Rede in durchaus mit dem Epos vergleichbarer Weise eingesetzt wird, um Stimmungen oder Wesenszüge von Figuren zu schildern. Hierzu gehört der Anfang des zweiten Buches, wo Victorius sich völlig vom Bibeltext löst und überhaupt zum ersten Mal Menschen in wörtlicher Rede sprechen lässt. Zuerst formuliert Adam ein längeres Gebet (2,42–89, hierzu auch unten Kap. 2.1.1). Nach dem Gebet richtet Eva eine kurze Rede an Adam, in der sie ihn auffordert, die soeben wieder erschienene Schlange zu töten (2,95–99). Die beiden Reden führen in eindrücklicher Form den emotionalen Zustand ihrer Sprecher vor Augen und werfen ein Licht auf ihren jeweiligen Charakter. Im Gebet demonstriert zunächst die Anrede mit dem folgenden Anruf Adams Zerknirschung (2,42sq.): omnipotens auctor mundi rerumque creator, vae mihi labe mali! … Allmächtiger Gründer der Welt und Schöpfer der Dinge, weh mir, welch Unglücksfall!354

|| 353 Vgl. bereits die programmatische Aussage in prec. 13sq., wo Victorius eine Sichtbarkeit Gottes negiert (was freilich nicht ganz zur Mamre-Episode passen will): nec fas contingere menti, / quae sit imago tibi … 354 Wörtl. etwa „wegen des Unglücksfalls“. Der offenbar singuläre Ablativ nach vae könnte durch Analogie zu sinnverwanden Ausdrücken wie doleo oder crucior erklärt werden. Hovinghs Text beruht hier auf einer Konjektur von Schenkl; Staat verficht demgegenüber den überlieferten Text (quae statt vae), dem man in der Tat einen Sinn abgewinnen kann, wenngleich die Formulierung hart und unidiomatisch scheint (mit Annahme einer Ellipse von sunt wörtlich: „Was ich durch den Unglücksfall habe“, freier Staat selbst: „welk een lot is mijn …“; vgl. auch Staats Begründung im Kommentar ad loc.). Möglicherweise ist der richtige Text noch nicht gefunden.

140 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Die folgenden Verse mit ihren langen, wohlkomponierten Sätzen und ihren anspruchsvollen theologischen Gedanken zeigen, wie Adam sich wieder fasst, und charakterisieren ihn als nüchtern denkenden Menschen, der sich seiner Schuld in Demut bewusst ist und deshalb sogar auf Klagen und Tränen verzichtet (2,67sq.):355 idcirco et gemitus causae lacrimasque negavi, indignum venia quia me reus ipse probabam … Deshalb habe ich meiner Sache auch Seufzen und Tränen verweigert, weil ich mich als Angeklagter selbst für keiner Nachsicht würdig erklärte …

Die abschließenden Gedanken zur Landwirtschaft, die im Rahmen der Kulturentstehungstheorie genauer zu betrachten sein werden (vgl. Kap. 2.2.3.1), zeichnen schließlich das Bild eines praktisch und kreativ denkenden, zugleich aber in allen Dingen auf Gott vertrauenden Adam (2,77–84). Deutlich anders wirkt Eva in ihrer kurzen Rede. Die vergleichsweise kurzen Sätze mit ihren Aufforderungen zeugen von Wut und Kampflust und scheinen Eva insgesamt emotionaler als Adam zu zeichnen (2,95–99): si te suprema malorum causa movet, rape saxa manu; datur ecce facultas auctorem leti leto dare. prima docere suppliciis debet propriis et morte cruenta, quam sit triste mori, quae me male perdidit et te.

95

Wenn des Unheils äußerster Grund dich antreibt, nimm Steine zur Hand; siehe, die Gelegenheit ist da, den Schöpfer des Todes zu Tode zu bringen. Als erste soll sie durch ihre eigene Bestrafung und ihren blutigen Tod zeigen, wie betrüblich der Tod ist, sie, die mich böse zugrunde gerichtet hat und dich.

Die Reden lassen die beiden Figuren schlagartig lebendiger und plastischer erscheinen, ja man kann sagen, dass sie durch die Rede bis zu einem gewissen Grad epische Qualitäten gewinnen, bevor sie in der weiteren Erzählung wieder zurücktreten (nach V. 95 fällt erst in V. 196 wieder ein Name). Zugleich fällt allerdings auf, dass Adam und Eva keinerlei wirklich individuelle Züge tragen, sondern lediglich als Typen gezeichnet werden, und dies, wie es scheint, unter

|| 355 Die Charakterisierung ist natürlich nicht die einzige Funktion der theologischen Überlegungen, vielmehr scheint Victorius hier in der Figurenrede Gedanken fortzuführen, die er an anderer Stelle ‚in eigener Person‘ (d. h. durch das Sprecher-Ich der Alethia) vorträgt, vgl. unten S. 193.

Einzelne Elemente der Darstellung | 141

Rückgriff auf geschlechtsspezifische Stereotype: Dem nüchtern-praktischen Mann steht die emotionalere Frau gegenüber. Auch diese Art von Ethopoiia, die nicht auf die Person, sondern auf den Typ zielt, ist charakteristisch für das späte Epos und findet sich in ähnlicher Weise bei Claudian.356 Eine gewisse Nähe zum Epos kann man auch darin sehen, dass hier – einmalig in der Alethia –357 zwei Reden direkt aufeinanderfolgen, wenngleich Evas Rede keine eigentliche Antwort auf das Gebet ist und sich kein eigentlicher Dialog entspinnt. Schließlich sind beide Reden rhetorisch sorgfältig durchstilisiert, was ebenfalls der Praxis des Epos (und gerade des späten Epos) entspricht.358 Ähnlich deutlich ist die Ethopoiia-Funktion in der eindrucksvollen Rede in 3,216–237, wo der Redeeinleitung zufolge allerdings keine Einzelfigur, sondern ein Kollektiv spricht, nämlich die Bewohner des Landes Schinar, die anschließend den Turm zu Babel bauen.359 Auch hier entfernt Victorius sich weit vom Bibeltext, wo die entsprechende Rede lediglich einen halben Vers umfasst.360 Die Rede wird von vornherein als Klage qualifiziert (… iuventus / rupit in haec maestas tristissima verba querelas, 3,214sq.). Die Unzufriedenheit und Verzweiflung der jungen Männer kommt bereits in dem die Rede einleitenden Ausruf zum Ausdruck (3,216sq.): heu quam non certus vitae status ordine coepto fert homines …

|| 356 Vgl. Cameron 1970, 268, der exemplarisch Stilichos Reden betrachtet: „… each [sc. speech] is designed exclusively to represent him, in different ways, as the bulwark and saviour of Rome. There are no personal touches, nothing that one could say was characteristic of Stilico rather than of a Camillus, a Scipio, a Cato. … paradoxicalley, we learn nothing whatever of Stilico the man.“ 357 Dicht aufeinander folgen auch die nachfolgend zu besprechende Rede der Turmbauer 3,216–237 und die Gottesrede 3,247–261, doch liegt zwischen diesen Reden eine längere Zeit. 358 Beispiele für rhetorischen Schmuck: Paradoxon vidi non posse videri (V. 48), doppelte Anaphorik in da menti, quae sint herbae, quae forma laboris, da, pater, auxilium … (V. 83sq.), Polyptoton auctorem leti leto dare (V. 97); bemerkenswert ist auch die an forensische Rhetorik angelehnte Argumentation in Adams Gebet, die insgesamt auf eine captatio benevolentiae hinausläuft (juristisches Kolorit verleihen dabei Formulierungen wie cum damnarer iusta pro crimine poena, V. 63; mitissime iudex, V. 65; vindictam praestare, V. 66; causae, V. 67; me reus ipse probabam, V. 68 usw.). 359 Auch Roberts 1985, 146 nennt die Rede als Beispiel für eine Ethopoiia, in der Charakter und Emotionen des Sprechers offenbart werden. 360 Gen. 11,3 (nach Fischers Vetus-Latina-Edition, italischer Text): et dixit homo proximo venite faciamus lateres et coquamis illos igni …

142 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Wehe, welch unsicherer Stand trägt die Menschen hinfort von des Lebens anfänglicher Ordnung …361

Der Unmut mündet schließlich in Entschlossenheit und Ruhmstreben, wobei die Verse den Eindruck erwecken, dass hier nicht mehr die Jugend insgesamt, sondern ein Anführer eine anfeuernde Rede an seine Gefolgschaft hält, wie es im Epos so häufig geschieht (3,230–237):362 quare agite, o iuvenes, dum vires turba ministrat, quae vobis superesse queat finemque severum nesciat, aeternam factis extendite famam. urbem condamus, cuius sub nomine turrem tanto attollamus, donec pingentia mundum sidera et excelsi convexa inrumpat Olympi, ut nos posteritas, terras quod linquimus istas, in caelum migrasse putet.

230

235

Daher, ihr Jünglinge, auf, solange die Menge über Kräfte verfügt, breitet ewigen Ruhm aus durch Taten, der auch nach euch fortzubestehen vermag und das strenge Ende nicht kennt. Eine Stadt lasst uns gründen, in deren Namen wir einen Turm so weit aufrichten wollen, bis er in die das Weltall zierenden Sterne (235) dringt und in des steilen Olymps Gewölbe, auf dass die Nachwelt, wenn363 wir diese Erde verlassen haben, glaubt wir seien zum Himmel gezogen.

Punktuelle Episierung 2: Redeeinleitungen und -abschlüsse Die Technik des Victorius, sich zumindest punktuell dem Epos anzunähern, zeigt sich nicht nur in der charakterisierenden Funktion einzelner Reden, sondern auch in den Redeeinleitungen und noch häufiger in den Redeabschlüssen, wo Victorius sich oft typisch epischer Phrasen bedient. Nach der Rede gebraucht er häufig dixit et (1,496; 1,520; 2,100; 3,262; 3,344) oder bloßes dixit

|| 361 Wörtl. „angefangener Ordnung“. Ich beziehe vitae auf ordine und verstehe den Ablativ separativ zu fert (im Sinne von aufert). Anders Papini, die vitae auf status bezieht (was in der Tat nicht auszuschließen ist) und ordine coepto offenbar übergeht („… davvero incerta è la condizione della vita umana“). 362 Passenderweise sind die ersten Verse gespickt mit Vergilreminiszenzen, die allerdings anderen Kontexten entstammen (vgl. Hovinghs Similienapparat): quare agite, o iuvenes, Aleth. 3,230 ~ quare agite …, o iuvenes, Aen. 1,627; vires turba ministrat, Aleth. 3,230 ~ virisque ministrat, Aen. 11,71; factis extendite famam, Aleth. 3,232 ~ famam extendere factis, Aen. 10,468. 363 Zum temporalen quod vgl. HSz 5802–5812, v. a. 5811; anders Papini, die quod kausal auffasst, was m. E. weniger Sinn ergibt, da ja nicht das Verlassen der Erde (= der Tod), sondern der Turm Grund für die Vorstellung der Himmelfahrt sein soll.

Einzelne Elemente der Darstellung | 143

(3,512; 3,625), zweimal sic fatus (3,485; 3,544) und je einmal dixerat haec (1,163), haec fatus (3,95) und sic ait (3,410) – sämtlich Überleitungsformeln, die im Epos spätestens seit Vergil gebräuchlich sind.364 Mit den je einmal verwendeten Überleitungen talibus orantes (2,90) und talibus attoniti imperiis (3,60) lehnt Victorius sich sogar an konkrete Vergilstellen an, wo mit ähnlichen Worten nach einer Rede in die Erzählung übergeleitet wird.365 Auch vor Reden verwendet Victorius mehrfach Formen von talis (tali prece, 1,41; talia fante deo, 2,352; tali mercede rependit, 3,87), wie es – auch wenn sich hier keine exakten Entsprechungen finden – im Epos sehr häufig zu beobachten ist.366 Eine weitere Rede wird mit dem im Epos seit Vergil vielfach belegten incipit (ohne Infinitiv) eingeleitet (1,472),367 wobei hier zusätzlich die zwischen verbum dicendi und der Rede eingeschobene Parenthese, in der unter anderem die Erschütterung der Erde angesichts der Gottesrede beschrieben wird (caelum mare terra loquenti / intremit …, 1,472–474), an epische Vorbilder erinnert.368 An zwei weiteren Stellen steht die Redeeinleitung in einem mit cum inversum eingeleiteten Nebensatz (cum pater haec propriis regni consortibus infit …, 3,246; cum

|| 364 Besonders häufig ist dixit et (Verg. Aen. 1,402. 737 u. ö., Ov. Met. 1,466 u. ö., Sil. 8,225 u. ö., Lucan. 4,167 u. ö., Stat. Theb. 2,120 u. ö., Val. Fl. 1,120 u. ö., Claud. Rapt. Pros. 3,66). Zahlreiche Belege finden sich auch für sic fatus (Verg. Aen. 1,610 u. ö. in der lateinischen Epik) und sic ait (Verg. Aen. 1,142 u. ö. in der lateinischen Epik), weniger für dixerat haec (Verg. Aen. 5,84 u. ö. in der lateinischen Epik) und haec fatus (Verg. Aen. 2,721 u. ö. in der lateinischen Epik). Die Überleitungsphrasen sind teilweise nach dem Vorbild homerischer Formeln wie ὣς ἔφατο, ὣς εἰπών und ἦ καί gebildet; vgl. zu den Übergangsphrasen nach Reden in der Aeneis Lundström 1971, 10–15, zur Verwendung dieser Formeln bei Silius op. cit. 16–23. Erwähnt sei noch, dass Aleth. 3,95 (haec fatus senior) speziell an Verg. Aen. 2,544 (sic fatus senior) erinnert. 365 Zu talibus orantes vgl. talibus orantem, Verg. Aen. 4,219 (nachgeahmt in Val. Fl. 4,38; 5,519; ähnlich auch talibus orabat, Verg. Aen. 4,437), zu talibus attoniti imperiis vgl. talibus attonitus visis, Verg. Aen. 3,172, nachgeahmt bei Val. Fl. 7,101 in der Form talibus attonitos dictis). 366 Vgl. Ausdrücke wie talia fatur (vor der Rede, Verg. Aen. 1,131. 256; 3,485 et sescenties in der lateinischen Epik), talia voce refert (vor der Rede Verg. Aen. 1,94, nach der Rede Aen. 1,208), talia reddit (vor der Rede Verg. Aen. 2,323; 10,530; Stat. Theb. 4,625) und viele ähnliche in der gesamten lateinischen Epik. 367 Vgl. Verg. Aen. 6,103; 8,373; 10,5 und zahlreiche weitere Belege in der gesamten lateinischen Epik. 368 So z. B. Verg. Aen. 10,100–103, wo von der Erschütterung bei einer Juppiterrede die Rede ist (tum pater omnipotens, rerum cui prima potestas, / infit (eo dicente deum domus alta silescit / et tremefacta solo tellus, silet arduus aether, / … : / „…“); den letzten Vers überträgt schon Proba auf eine Gottesrede, allerdings die aus Gen. 1,28, siehe Proba 138). Vgl. D’Auria 2009, 38f. mit weiteren Belegen für das Motiv der Erderschütterung durch eine Gottesrede bei Vergil und Homer; hinzugefügt sei die Nachahmung in Claud. Rapt. Pros. 1,84–87.

144 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

deus hac Abram maesti spe pectora firmans / … ait …, 3,399sq.), was ebenfalls schon seit Vergil eine gängige Technik im Epos ist.369 Insgesamt lassen sich traditionelle epische Rahmungstechniken also bei einem erheblichen Teil der Reden beobachten. Allem Anschein nach ist Victorius bestrebt, auch auf formaler Ebene einen Anklang an das Epos herzustellen, und dies sogar bei den Gottesreden, die ansonsten eher wenig Episches an sich haben; lediglich die beiden zuerst besprochenen Reden in der Argumentation, die eher in der Tradition der Lehrdichtung stehen, bleiben konsequenterweise ohne epische Rahmung. Zusammenfassung Bei den Reden ergibt sich ein ähnliches Bild wie auch sonst in der Alethia: Einerseits sind durchaus starke Bezüge zur paganen Dichtungstradition zu beobachten, vor allem zum Epos, teilweise aber auch zum Lehrgedicht (und zur Diatribe), was umso mehr auffällt, als das Lehrgedicht an wörtlicher Rede viel ärmer als das Epos ist. Andererseits sind diese Bezüge immer wieder gebrochen, hier besonders durch die geringe Zahl der Menschenreden und die eher unepische Gestaltung der Gottesreden, sodass sich insgesamt ein anderes Erscheinungsbild als in den paganen Vorbildern ergibt.

1.3.2.2 Kataloge Kataloge – definiert als Aufzählungen gleichartiger Begriffe in einem einheitlichen Zusammenhang – sind seit den frühesten Zeugnissen fester Bestandteil

|| 369 Vgl. Verg. Aen. 1,34–37 (vix e conspectu Siculae telluris in altum / vela dabant laeti et spumas salis aere ruebant, / cum Iuno aeternum servans sub pectore vulnus / haec secum: „…“); 2,730–733 (iamque propinquabam portis omnemque videbar / evasisse viam, subito cum creber ad auris / visus adesse pedum sonitus, genitorque per umbram / prospiciens „nate“ exclamat, „fuge …“) und zahlreiche weitere Belege in der lateinischen Epik, wobei Vergil die Technik besonders häufig gebraucht, Lukan dagegen z. B. gar nicht. – Angemerkt sei, dass Victorius auch sonst die Redeeinleitung mehrfach in einen Nebensatz am Ende eines längeren Satzgefüges verlegt, so auch in 1,320 (… qui causam meritis statuit, cum „vescere“, dixit, „…“), 1,395–397 (… ni serpens dira … talibus incautam suasisset fraudibus Evam: „…“) und 3,491 (… qui … sic fatus ad Abram: „…“), ähnlich auch 2,352 (Einleitung durch abl. abs.: talia fante deo: „…“). Das gehäufte Auftreten solcher Einleitungen ist teilweise durch Victorius’ generelle Neigung zu komplexer Syntax bedingt, doch zeigt sich darüber hinaus das Bestreben, die einzelnen Teile seiner Erzählung, hier Erzählerbericht und Rede, möglichst eng miteinander zu verbinden (vgl. Kap. 1.1.4 zur Verbindung von Episoden).

Einzelne Elemente der Darstellung | 145

epischen Erzählens, wobei der Umfang von knappen Listen bis zu mehrere hundert Verse langen Abschnitten reichen kann. Meistens enthalten die Kataloge Elemente der Erzählung, besonders oft Truppenkontingente oder Einzelpersonen.370 Daneben treten jedoch auch im Lehrgedicht Kataloge auf, die hier meist Gegenstände mit Bedeutung für das jeweilige Fachgebiet enthalten oder eine These durch mehrere Beispiele untermauern.371 Für das Thema dieser Arbeit ist besonders interessant, dass seit Ovid auch in epischen Katalogen gelegentlich Gegenstände mit Bezug zu einer Fachwissenschaft aufgezählt werden, wie sie ursprünglich eher dem Lehrgedicht angehören (z. B. geographische Angaben, Pflanzen, Tiere). Hierdurch etabliert sich ein Mischtyp zwischen epischem und didaktischem Katalog, der zwar in episch-narrativem Kontext steht, inhaltlich aber an die lehrdichterische Tradition anknüpft.372 Erwähnt sei schließlich noch, dass auch in der Rhetorik Kataloge eine Rolle spielen, und dass gerade die spätantike Dichtung auf paganer und christlicher Seite – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Rhetorik – überaus reich an Katalogen ist.373

|| 370 Vgl. die Definition von C. Reitz, Art. „Katalog“, in: DNP 6, Stuttgart/Weimar 1999, 334– 336: „Der K. ist eine zumeist formal deutlich abgegrenzte Aufzählung gleichartiger Begriffe in einem einheitlichen Zusammenhang.“ Vgl. zum Phänomen des Katalogs auch den (manches Grundlegende enthaltenden) Aufsatz von Reitz 1998, ferner die ausführlichen älteren Untersuchungen von W. Kühlmann, Katalog und Erzählung. Studien zu Konstanz und Wandel einer literarischen Form in der antiken Epik, Diss. Freiburg 1973 und J. Gäßner, Kataloge im römischen Epos. Vergil – Ovid – Lucan, Diss. München 1972. 371 Das formale Spektrum ist auch hier groß und reicht von der kurzen Reihung von Beispielen (z. B. Lucr. 2,500–506; 5,1034–1038; etwas länger z. B. der Prodigienkatalog in Verg. Georg. 1,471–497) über längere katalogartige Partien (z. B. Sternenkataloge bei den astronomischen Dichtern) bis zum reihenden Aufbau ganzer Werke (besonders ausgeprägt bei Nikander; vgl. aber auch Hesiods Theogonie, die freilich nur bedingt mit dem späteren Lehrgedicht zu verlgleichen ist). 372 Vgl. zu solchen Gattungsmischungen Lausberg 1990b, 187–191 (hauptsächlich zum auf lehrdichterische Vorbilder zurückgehenden Schlangenkatalog bei Lucan) und Reitz 1998, 368f. (vor allem zum Reisekatalog in der Medeaerzählung in Ov. Met. 7). 373 Auf paganer (oder jedenfalls nicht dezidiert christlicher) Seite ist etwa Claudian zu nennen (Beispiele bei Cameron 1970, 286, der so weit geht, Claudian eine „inability to resist the temptation of making a list“ zu unterstellen). Speziell zur christlichen Dichtung sei verwiesen auf W. Speyer, Zur Bedeutung des Kataloges in der christlichen Dichtung der Spätantike, in: V. Panagl (Hg.), Dulce melos. La poesia tardoantica e medievale. Atti del III Convegno internazionale di studi, Vienna, 15-18 novembre 2004 = Akten des 3. internationalen Symposiums, Wien 15-18 November 2004, Alessandria 2007, 285–300 (vor allem zu Epen und Hymnen, wo Kataloge besonders oft auftreten). Vgl. zu Aufzählungen als typischem Merkmal der spätantiken Dichtung auch Roberts 1989, 59–61 (mit Schwerpunkt auf der enumeratio).

146 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Auch bei Victorius treten Kataloge in beträchtlicher Zahl auf. Es handelt sich, wenn man kurze Aufzählungen mitrechnet, um ingesamt zwölf Stellen, von denen die längste einen Umfang von 30 Versen erreicht.374 Damit stellt sich wieder die Frage, wie Victorius sich in diesem Punkt zwischen Epos und Lehrgedicht einordnen lässt. Überblick: Kontext und Inhalt der Kataloge Betrachten wir die Kataloge zunächst im Überblick. Mit wenigen Ausnahmen375 stehen sie in Kontexten, die sich formal mit dem Epos vergleichen lassen, nämlich in der Erzählung selbst oder allenfalls in einer Ekphrasis. Die aufgezählten Gegenstände sind jedoch nicht die im klassischen Epos üblichen, sondern mit einer Ausnahme376 Gegenstände der Natur (darunter mehrfach Tiere und geologische Objekte wie Flüsse und Vulkane), deren systematische Aufzählung ursprünglich eher Sache des Lehrgedichts ist, wenngleich sie in einigen Fällen zu Victorius’ Zeit bereits zu einem Topos der gesamten Dichtung geworden ist.377 Schon jetzt lässt sich also sagen, dass die Kataloge größtenteils in der Tradition des oben beschriebenen Mischtyps stehen, also Einflüsse aus Epos und Lehrgedicht verbinden. Diese allgemeine Einordnung soll nun durch die genauere Betrachtung einiger Kataloge vertieft werden. Ich konzentriere mich dabei auf zwei Abschnitte des Werkes, in denen sich die Kataloge häufen und, wie es scheint, besonders gezielt eingesetzt werden, nämlich die Paradieserzählung und die Sintflutepisode.

|| 374 Längere Kataloge: 1,234–242 (paradiesische Duftbäume), 1,259–263 (durch die Paradiesbäume repräsentierte menschliche Verhaltensweisen, einziger Fall mit nicht-gegenständlichem Inhalt), 1,275–304 (Paradiesflüsse), 1,345–355 (Tiere, die Gott Adam bringt), 2,123–127 (aus der Erde austretende Metalle), 2,441–450 (Tiere der Arche), 2,524–527 (nochmals Tiere der Arche); 3,7–10 (Opfertiere nach der Sintflut); 3,735–739 (Vulkane, zur Erläuterung der Vernichtung von Sodom und Gomorrha). Kurze Aufzählungen: 2,13sq. (Teile der Landschaft außerhalb des Paradieses); 3,33sq. (vier Jahreszeiten); 3,107sq. (vier Elemente). 375 Nämlich 1,259–263 (trotz der Zugehörigkeit zur Paradiesekphrasis konkret in einen theologischen Kommentar eingebunden) und 3,107sq. (zur Digression des dritten Buches gehörig, die in ihrer nicht-narrativen Gestalt formal dem Lehrgedicht entspricht; hier kann man also von einem rein lehrgedichtartigen Katalog sprechen). 376 1,259–263 (menschliche Verhaltensweisen). 377 So z. B. die vier Himmelsrichtungen (Aleth. 2,447–449) oder die vier Jahreszeiten (Aleth. 3,33sq.), vgl. zu beidem Roberts 1989, 43 (Roberts spricht von einer spätantiken „preference for subjects that lent themselves readily to such enumerative treatment, especially those that were numerically quantifiable – hence the frequency of passages on the four seasons or the four points of the compass in the poetry of the empire“, mit Beispielen in Anm. 20).

Einzelne Elemente der Darstellung | 147

Die paradiesischen Aromata: Schmuck, Gelehrsamkeit und Exegese Betrachtet werden sollen zunächst drei Kataloge, die dicht nacheinander in der Paradiesekphrasis stehen (1,223–304; ein vierter Katalog, der noch zur Paradieserzählung gehört, aber außerhalb der Ekphrasis steht, wird unten zu betrachten sein). Im ersten der Kataloge werden die im Paradies wachsenden Duftbäume aufgezählt bzw. umschrieben (1,234–242):378 … quaeque arida tegmine sicco iam fragiles solvunt calamos, animata vigore muneris ambrosii spirantia cinnama fundunt. sed nec quod Medus redolet vel crine soluto fragrat Achaemenius, quod molli dives amomo Assyrius messisque rubens Mareotica nardo, quod Tartesiaci frutices, quod virga Sabaei quodque Palaestinus lacero flet vulnere ramus, aera diverso cessant infundere sensu.

235

240

… und das dürre Land, das den durch seine trockene Außenhaut379 schon brüchigen Kalmus380 auflöst, schüttet, belebt durch die Stärke der ambrosischen Gabe, (235) den duftenden Zimt aus. Aber wonach der Meder riecht oder mit offenem Haare der Perser duftet,381 wonach, reich an weichem Amomum, der Assyrer,382 und die von Narde rote Ernte

|| 378 Vgl. zu diesem Katalog insgesamt die Interpretationen von Roberts 1985, 210f. und von Homey 2008. 379 Zur Verwendung von tegmen vgl. OLD s. v. tegimen e („applied to the outer covering of a fruit, seed etc.“). Vergleichbar in Wortverwendung und Kontext ist Apul. Met. 10,29,2 (quod … dirrupto spineo tegmine spirantes cinnameos odores promicarent rosae). Anders Homey 2008, 78, der tegmine sicco mit „durch das trockene Klima“ wiedergibt, was sich allenfalls durch den Gebrauch von tegmen caeli für das Himmelsgewölbe in Lucr. 1,988 u. ö. sowie Cic. Arat. fr. 34,47 Soubiran stützen ließe. Unklar Papini („dalla secca copertura“). 380 Das lateinische calamus bezeichnet im engeren Sinne die Duftpflanze Kalmus, wird im weiteren Sinne jedoch auch für beliebige Rohre, Halme oder Stengel verwendet; in der Überleitung zum Aromatakatalog ist diese Doppeldeutigkeit vielleicht sogar intendiert, vgl. Homey 2008, 78. 381 „Meder wie auch Perser standen in der Antike im Ruf eines verschwenderischen Konsums verschiedener Aromata, die sie vor allem zu Pomaden und Schminken verarbeiteten.“ (Homey 2008, 79). Möglicherweise ist speziell auf das costum (Kostwurz) angespielt (Homey 2008, 79– 81). 382 „Das amomum ist eine hauptsächlich in Assyrien einheimische Gewürzstaude, aus deren Fruchttrauben ‚ein oftgenannter und hochgepriesener Balsam desselben Namens bereitet wurde, eine kostbare aromatische Salbe, die besonders als Haarpomade Verwendung fand …‘ (WAGLER, RE I,2, 1873, s.v. Amomum).“ (Homey 2008, 81; Kürzung des RE-Zitats in dieser Form von mir).

148 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht von Marea,383 (240) was die Sträucher von Tharsis,384 was der Zweig von Saba,385 und was der palästinische Ast aus zerrissener Wunde quellen lässt:386 All das füllt die Luft unaufhörlich mit unterschiedlicher Empfindung.

Der Katalog besteht größtenteils aus einer anaphorischen Reihung von mit quod eingeleiteten Relativsätzen, die in der Länge zwischen einem halben und anderthalb Versen variieren, und folgt damit einem in Katalogen häufig verwendeten syntaktischen Schema.387 Was die Funktion des Katalogs angeht, seien zunächst zwei Aspekte genannt, die unmittelbar ins Auge fallen. Klar ist, dass die Verse mit ihrer kunstvollen Gliederung und der Häufung exotischer Namen ein Schmuckelement in der Paradiesekphrasis bilden. Der Katalog dient Victorius somit dazu, seine artistischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und dies umso mehr, als er in seiner virtuosen formalen Gestaltung speziell spätantike Geschmacksbedürfnisse bedient.388 Ebenso offensichtlich ist die Zurschaustellung von Gelehrsamkeit. Auch diese passt zum Geschmack seiner Zeit, in der Gelehrsamkeit und das wissen-

|| 383 Marea war eine Stadt und ein See in Unterägypten. Die Zuordnung verwundert insofern, als die in der Antike zu Salbe und Duftöl verarbeitete Narde aus Indien stammte. Im Hintergrund stehen wohl unklare geographische Vorstellungen, nach denen Indien sich südlich an Afrika anschließt; Isid. Orig. 17,7,36 lokalisierte Marea sogar in Indien, dazu genauer Homey 2008, 82. 384 Das Adjektiv Tartesiacus gehört üblicherweise zum südwestspanischen Tartes(s)us, das allerdings nicht als Herkunfts- oder Handelsort für Aromata bekannt war. Homey 2008, 84–89 vermutet daher, das Victorius eigentlich die biblische Stadt Tharsis meinte, entweder weil er zwei Orte dieses Namens annahm (Tharsis im Westen = Tartessus, Tharsis im Osten = das biblische Tharsis) und so das eigentlich auf den westlichen bezogene Adjektiv auf den östlichen Ort übertrug, oder weil er beide Orte miteinander identifizierte. Das gemeinte Aroma ist demnach vermutlich Myrrhe. 385 Gemeint ist Weihrauch. Das im heutigen Jemen liegende Königreich Saba galt als Herkunftsland des Weihrauchs schlechthin (vgl. Homey 2008, 83). 386 Gemeint ist Balsam, der in der Antike vor allem mit Palästina in Verbindung gebracht wurde (vgl. Homey 2008, 83f.). 387 Tatsächlich lassen sich sogar Beispiele finden, in denen Aromata in dieser syntaktischen Form aufgezählt sind, so Mart. 3,65,1–9 (über die Düfte eines Kusses, genannt von Homey 2008, 75 Anm. 10) und Lact. Phoen. 79–88 (als mögliches Vorbild zuerst genannt von Roberts 1985, 211 Anm. 139, vgl. unten Anm. 398); ähnlich auch der mit quidquid konstruierte Aromatakatalog in locus-amoenus-Kontext in Claud. Rapt. Pros. 2,81–84, vgl. Homey loc. cit.). 388 Vgl. Roberts 1989, 12 (über einen Katalog bei ‚Cypr. Gall‘): „It is just this combination of regularity of outline, and brilliance and variation in detail, that the period most prized“; vgl. auch Roberts 1989, 14f. über einen ähnlichen Fall formaler Virtuosität in Aleth. 2,13sq.

Einzelne Elemente der Darstellung | 149

schaftliche Element in der Literatur generell hoch um Kurs standen.389 Zugleich ist sie jedoch für das Thema der Gattungsbezüge von Belang, zum einen, weil das gelehrte Faktenwissen ursprünglich eher im Lehrgedicht beheimatet ist, zum anderen, weil Victorius mit der Aufzählung ferner Völker und Orte mit ihren typischen Produkten einen Topos aufgreift, für den sich die einflussreichsten Vorbilder in Vergils Georgica finden.390 Bemerkenswert ist dabei, dass er die gemeinten Aromata überwiegend nicht explizit nennt, sondern sie durch Ortsnamen umschreibt, sodass selbst ein gebildeter Leser sicher nur mit Mühe das Gemeinte dechiffrieren konnte und ein Schüler (wenn die Alethia wirklich als Schullektüre diente) mit Sicherheit auf die Erklärungen des Lehrers angewiesen war.391 Beide Funktionen (Schmuck und Demonstration von Gelehrsamkeit) lassen sich auch in den folgenden Katalogen, bald mehr, bald weniger ausgeprägt, beobachten.392 Zugleich – und damit kommen wir zu den Spezifika der Kataloge bei Victorius – stehen hinter den Katalogen indes exegetische Anliegen. Die Aussage, die der betrachtete Katalog vermitteln soll, ist, dass im Paradies alle Güter, die sonst nur getrennt an verschiedenen Orten der Erde auftreten, zugleich vorhanden sind, wie es nach dem Katalog denn auch ausdrücklich heißt (namque huc cuncta deus pariter, quae singula certis / accepit natura locis, conferta regessit, V. 243sq.). Die Nennung der entlegenen Orte dient vor diesem Hintergrund dazu, das Paradies als vollkommenes Abbild der Welt im Kleinen darzustellen, die Katalogform soll den Eindruck der Vollständigkeit vermitteln.393

|| 389 Vgl. Döpp 1988, 43–47, der dies als Charakteristikum der spätantiken lateinischen Literatur herausstellt. 390 Vgl. Roberts 1985, 211 Anm. 139, der Verg. Georg. 1,56–59; 2,109–135 nennt (zum möglichen Bezug des Katalogs zur letzteren Stelle siehe unten S. 254), von wo aus der Topos sich in verschiedene Gattungen ausbreitet. Übrigens sind auch einige der bei den Orts- und Aromanamen verwendeten Junkturen von klassischen Dichtern übernommen, vgl. die Angaben in Hovinghs Similienapparat und bei Roberts 1985, 210 Anm. 138. 391 Wie schwierig es jedenfalls für die heutige Forschung ist, den Katalog zu entschlüsseln, zeigt der tiefgehende Aufsatz von Homey 2008 (vgl. besonders den Stellenkommentar zu den einzelnen Aromata, S. 78–91). 392 Als Beispiel für eine besonders deutliche Zurschaustellung von geographischem Wissen sei auf den Vulkankatalog in 3,735–739 verwiesen. 393 So auch die Gesamtdeutung von Homey 2008, 94f., der als Parallele für den Gedanken Clem. Alex. Strom. 5,11,72,2 anführt (… ἐν τῷ παραδείσῳ πεφυτευμένον, ὃς δὴ παράδεισος καὶ κόσμος εἶναι δύναται).

150 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Verhaltensweisen und Paradiesflüsse: das Paradies als Haupt und Urbild der Welt Was zuletzt über den Aromatakatalog gesagt wurde, gilt auch für die weiteren hier zu betrachtenden Kataloge. Vollständig zitiert sei – auch wegen seiner formalen Besonderheiten – der zweite Katalog, in dem die Paradiesbäume allegorisch als Repräsentanten von menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen gedeutet werden (1,259–263): gloria, simplicitas, studium, vigilantia, somnus, cura, salus, terror, facundia, gratia, motus affectusque animae stimuli, custodia, virtus, et totum quod mundus habet, quia nascitur illic, hic viget ac mentes agitat sensusque ministrat.

260

Ehre, Aufrichtigkeit, Bemühung, Wachen, Schlafen, (260) Sorge, Heil, Schrecken, Beredsamkeit, Gunst394, Erregung und Gefühl (die Stacheln der Brust), Schutz, Tugend und all das, was die Welt besitzt, weil es dort an den Tag kommt, steht hier in Kraft, beschäftigt den Geist und verschafft ihm Empfindung.

Der eigentliche Katalog besteht aus einer weitestgehend asyndetischen Aufreihung von Begriffen. Es handelt sich also um eine enumeratio, ein Stilmittel, das eigentlich aus der Rhetorik stammt, aber schon früh in der Dichtung aufgegriffen wurde, wenn auch zunächst kaum in der Epik, und sich gerade bei den spätantiken christlichen Autoren großer Beliebtheit erfreut.395 Der zitierte Passus unterscheidet sich auch insofern vom ersten Katalog (und tatsächlich von allen anderen Katalogen in der Alethia), als in ihm Abstrakta aufgezählt wer-

|| 394 Auch möglich: „Dankbarkeit“ (vgl. Papini: „gratitudine“), weniger wahrscheinlich „Gnade“. 395 Vgl. zur enumeratio als rhetorischem Mittel Lausberg 1990a, 337–340. Beispiele in der Hexameterdichtung finden sich zunächst am ehesten bei den Satirikern, in der Epik bis zum 1. Jh. n. Chr. dagegen nur vereinzelt und in kürzerer Form (Beispiele bei Kühlmann 1973, 361 Anm. 92f.). In der spätantiken christlichen Dichtung finden sich etwa bei Prudentius zahlreiche Fälle, so Ham. 395–397 (Laster, weitgehend asyndetisch); Psych. 30sq. (Beutestücke Abrahams, asyndetisch); Psych. 448sq. (verlorene Gegenstände der Luxuria und ihrer Begleiter, asyndetisch); Psych. 464sq. (personifizierte Laster als Furien, asyndetisch); bemerkenswert auch das Orientius zugeschriebene Gedicht De epithetis salvatoris nostri (neun Verse lange asyndetische Reihung von Epitheta; Stellen nach Kühlmann 1973, 315f. mit Anm. 93, wo auch die vorliegenden Verse genannt sind). Häufig sind enumerationes auch bei Sidonius und Dracontius (vgl. Roberts 1989, 59f.). Als ältere Vorform lassen sich die Kataloge von Eigennamen verstehen (vgl. etwa schon den Nereidenkatalog in Hom. Il. 18,39–48 oder die Kataloge in Hesiods Theogonie; ausführlich zu Namenskatalogen S. Kyriakidis, Catalogues of proper names in Latin epic poetry. Lucretius – Virgil – Ovid, Newcastle upon Tyne 2007).

Einzelne Elemente der Darstellung | 151

den. Was die transportierte Aussage anbelangt, geht der Katalog jedoch in eine ähnliche Richtung wie der erste: Er bringt zum Ausdruck, dass auch die nichtmateriellen Bestandteile der Welt sämtlich im Paradies vorgebildet sind, wie ja auch hier nach der Aufzählung explizit festgestellt wird (V. 262sq.). Im folgenden Katalog der vier aus Gen. 2,10–14 bekannten Paradiesflüsse, der hier nicht im Detail besprochen werden soll, setzt sich diese Linie fort (1,275–304). Formal ist erneut eine andere Darstellungsart gewählt, nämlich die breite Beschreibung der einzelnen Flüsse (bis zu 11 Verse pro Fluss). Inhaltlich ist jedoch neben dem wissenschaftlich-gelehrten Interesse wieder der Vollständigkeitsanspruch spürbar, und zwar hier sowohl auf der materiell-literalen als auch auf der immateriell-allegorischen Ebene. In materieller Hinsicht resultiert der Ganzheitseindruck vor allem daraus, dass die vier Flüsse mit den vier bekannten Hauptströmen der Erde identisch sind (so bei Euphrat und Tigris) oder mit ihnen assoziiert werden (der Phison mit dem Ganges, V. 285, der Geon mit dem Nil, V. 278),396 sodass die Paradiesquelle als Hauptquelle der Welt erscheint. Auf immaterieller Ebene kommt hinzu, dass die Flüsse in teilweise recht subtiler Weise als Vertreter der vier Kardinaltugenden dargestellt werden, die so ebenfalls gleichsam vom Paradies ausgehen.397 Hinter den Katalogen steht also eine theologische Aussage über das Paradies als vollkommenen Mikrokosmos, als Urbild und Haupt der Welt. Hierzu passt es denn auch, dass die drei Kataloge keineswegs freie Erfindungen des Victorius sind, sondern jeweils exegetische Traditionen aufnehmen, wie in der Forschung auch bereits herausgearbeitet wurde. So steht hinter dem Aromatakatalog ein breiter Strom jüdischer und christlicher Texte, in denen eine Verbindung zwischen dem Paradies und Duftbäumen hergestellt wird.398 Der Katalog der Eigenschaften und Verhaltensweisen geht auf die allegorische Inter-

|| 396 Victorius geht hier zwar nicht so weit, explizit eine Identität zu behaupten, bringt aber die Flüsse durch die Formulierungen Phison … Gangetis replet populos (V. 275. 278) und Geon … Niliacas attollit aquas (V. 284sq.) miteinander in Verbindung. 397 Der Phison steht dabei für Klugheit (vgl. prudentia, V. 277), der Geon für Mäßigung (vgl. temperat, V. 287), der Tigris für Tapferkeit (vgl. fortior, V. 296) und der Euphrat für Gerechtigkeit (vgl. iustior, V. 299); vgl. zu den Einzelheiten Homey 1972, 74–91. 398 Im Einzelnen nachgezeichnet von Homey 2008, 73–76. Als mögliches dichterisches Vorbild ist Lact. Phoen. 79–88 besonders bemerkenswert, wo die Aromata aufgezählt werden, die der oft im Paradies angesiedelte Phönix sammelt: colligit hinc sucos et odores divite silva, / quos legit Assyrius, quos opulentus Arabs, / quos aut Pygmeae gentes aut India carpit / aut molli generat terra Sabaea sinu. / cinnamon hinc auramque procul spirantis amomi / congerit et mixto balsama cum folio: / non casiae mitis nec olentis vimen acanthi / nec turis lacrimae guttaque pinguis abest. / his addit teneras nardi pubentis aristas / et sociam myrrae vim, Panacea, tuam.

152 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

pretation der Paradiesbäume als Tugenden zurück, die Teil der umfassenderen Deutung des Paradieses als Allegorie auf die menschliche Seele ist und zuerst bei Philon, später auch bei lateinischen Kirchenvätern wie Ambrosius und Augustinus begegnet.399 Im Falle des Flusskatalogs ist die Gleichsetzung mit den vier Hauptströmen zu Victorius’ Zeit bereits konventionell, die Identifikation mit den Kardinaltugenden geht wiederum auf Philon zurück und findet sich ebenfalls später bei Ambrosius und Augustinus.400 Die Tiere vor Adam: Verarbeitung eines philosophischen Topos Wie oben angekündigt, begegnet nach der Ekphrasis noch ein weiterer zur Paradieserzählung gehöriger Katalog, den es sich genauer zu betrachten lohnt. Aufgezählt werden die Tiere, die Gott zu Adam bringt (1,345–355, vgl. Gen. 2,19sq.): nec fit mora: sistit omne genus natura deo, quacumque creatum est mundi parte novi; coeunt tam dissona motu temporis unius spatio, quae fortia nisu, molli lenta gradu, rapido promptissima cursu, impete praecipiti vel prona per aëra labi vel subnixa fretis et pondere lubrica ferri instruxit genitor, diverso munere donans, armavitque manu, cornu, pede, dente, veneno

345

350

|| 399 Vgl. Phil. LA 1,56 und QG 1,6 (letztere Stelle ist nur in armenischer Übersetzung erhalten, dürfte zu Victorius’ Zeit jedoch auch in lateinischer Übersetzung vorgelegen haben, vgl. F. Petit, L’ancienne version Latine des questions sur la Genèse de Philon d’Alexandrie, I: Edition critique, Berlin 1973, 7; zu Philons Paradiesverständnis insgesamt Grimm 1977, 23f.), später Ambr. Par. 1,3. 6 und Aug. Quaest. hept. 1,27; Civ. 13,21 (Stellen nach Martorelli 2008, 125f.). Victorius vertritt offenbar die Ansicht, dass die Paradiesbäume zugleich reale Pflanzen und Repräsentanten der Abstrakta sind, womit er Augustinus besonders nahesteht (vgl. Civ. 13,21: unde nonnulli totum ipsum paradisum, ubi primi homines parentes generis humani sanctae scripturae veritate fuisse narrantur, ad intellegibilia referunt arboresque illas et ligna fructifera in virtutes vitae moresque convertunt; tamquam visibilia et corporalia illa non fuerint, sed intellegibilium significandorum causa eo modo dicta vel scripta sint). 400 Zur Identifikation der Flüsse mit den vier Hauptströmen vgl. die Stellen bei Homey 1972, 82 Anm. 14 (expliziter in der Bibeldichtung nach Victorius bei Alc. Avit. SHG 1,262. 290: Geon, Latio qui nomine Nilus … Physon, quem possidet India Gangen). Die Gleichsetzung mit den Kardinaltugenden findet sich in Phil. LA 1,63 und QG 1,12 (letztere Stelle nur armenisch erhalten, vgl. die vorangehende Anm.; zur Sache Grimm 1977, 25f.), später bei Ambr. Par. 3,14–18 und Aug. Civ. 13,21. Die Zuordnung ist dabei nicht ganz einheitlich; Victorius folgt Phil. QG und vor allem Ambr. Par.; vgl. zu den Einzelheiten Homey 1972, 74–91.

Einzelne Elemente der Darstellung | 153

atque aliis, quibus artis inops animique minoris concretum munivit opus.

355

Und unverzüglich stellt die Natur jede Gattung vor Gott, in welchem Teil der neuen Welt sie auch immer geschaffen wurde; da kommt, an Bewegung so ungleich, in einem Moment zusammen, was stark ist im Ansturm, langsam mit weichem Schritt, höchst gewandt in eiligem Laufe, (350) oder in stürzendem Drang vornübergebeugt durch die Luft gleitet,401 oder gestützt aufs Meer und durch die Masse schwankend, dahinzieht – alles so, wie der Schöpfer es fügte, der sie mit verschiedener Gabe beschenkte; und er bewaffnete sie mit Hand, Horn, Fuß, Zahn, Gift und anderem, wodurch er das Werk, dem Kunst fehlt und das von geringerem Mut ist, (355) panzerte und beschirmte.

Der Katalog enthält nicht, wie man erwarten könnte, die Namen der Tiere, sondern lediglich Umschreibungen.402 Die Tiere werden dabei zunächst systematisch nach ihrer Bewegungsart und ihrem Lebensraum eingeteilt (V. 347–349 bezogen auf die Landtiere, V. 350 auf die Vögel, V. 351 auf die Seetiere), anschließend werden ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel aufgezählt (V. 352– 355). Der Katalog vermittelt zunächst natürlich wieder den Eindruck der Vollständigkeit, transportiert also die Aussage, dass Gott tatsächlich alle erdenklichen Tierarten zu Adam ins Paradies brachte. Darüber hinaus hat der Katalog jedoch, wie Homey (1972, 23–28) nachweist, eine philosophische Tiefendimension, die mit der erwähnten Neigung zur Gelehrsamkeit zusammenpasst, hier jedoch in eine neue Richtung geht. Die Verse über die ‚Waffen‘ der Tiere knüpfen an die seit der Sophistik greifbare Diskussion über die Vorrangstellung oder Benachteiligung des Menschen gegenüber den Tieren und der Tiere untereinander an.403 Das Thema wurde zu einem Gemeinplatz der Philosophie, wurde als || 401 Ich verstehe den Vers gegen Papinis Übersetzung und Hovinghs Interpunktion (kein Komma nach V. 349) als eine Einheit mit nachgestelltem vel, die sich vollständig auf die Vögel bezieht. Andernfalls müsste man impete praecipiti mit dem vorigen Glied zusammenziehen, wo es neben rapido cursu redundant wäre und außerdem weniger gut passen würde als bei den Vögeln, die ja tatsächlich ‚kopfüber‘ stürzen können. 402 Wie die Passage auch hätten aussehen können, zeigen die Tierkataloge in der Schöpfungs- und Paradieserzählung des an Katalogen insgesamt sehr reichen Dracontius, in denen stets (zumindest auch) die Tiernamen genannt sind, vgl. Laud. 1,273–283 (neuerschaffene Tiere); 1,295–297 (gefährliche Tiere); 1,305–314 (Tiere in verschiedenen Erdteilen); 1,527 (enumeratio wetterkundiger Tiere). 403 Homey 1972, 24 nennt als früheste greifbare Beispiele Plat. Prot. 320e (Prometheus-Epimetheus-Mythos; ich zitiere 320d8–231a1, wo es über die Tiere heißt: νέμων δὲ [sc. Ἐπιμηθεὺς] τοῖς μὲν ἰσχὺν ἄνευ τάχους προσῆπτεν, τοὺς δ’ ἀσθενεστέρους τάχει ἐκόσμει· τοὺς δὲ ὥπλιζε, τοῖς δ’ ἄοπλον διδοὺς φύσιν ἄλλην τιν’ αὐτοῖς ἐμηχανᾶτο δύναμιν εἰς σωτηρίαν. ἃ μὲν γὰρ αὐτῶν σμικρότητι ἤμπισχεν, πτηνὸν φυγὴν ἢ κατάγειον οἴκησιν ἔνεμεν· ἃ δὲ ηὖξε μεγέθει, τῷδε αὐτῷ αὐτὰ ἔσῳζεν· καὶ τἆλλα οὕτως ἐπανισῶν ἔνεμεν …) und Xen. Kyr. 2,3,9 (Rede des

154 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

solcher auch in der Lehrdichtung aufgegriffen, und fand auch schon vor Victorius Eingang in die christliche Literatur, wo die individuelle physische Ausstattung der Tiere als Argument für die providentia des Schöpfergottes verstanden wird (ähnlich übrigens auch in der Stoa).404 Diese Sicht auf die natürliche Ausstattung der Tiere findet sich auch in den zitierten Versen wieder. Victorius will dabei offenbar den Gegensatz zwischen dem Menschen, der sich durch technisch-kulturelle Errungenschaften (ars) und Mut (animus, vgl. jeweils V. 354) im Leben behaupten kann, und den Tieren, die nur durch ihren je unterschiedlichen Körper geschützt sind, erkennbar werden lassen, und verweist zugleich auf die lenkende Rolle Gottes, der die Geschöpfe in verschiedener Weise ausstattet (V. 352sq.). Victorius nutzt also die im Kontext des zweiten Schöpfungsberichts naheliegende Form des Tierkatalogs, um in die Erzählung unauffällig philosophisches (bzw. theologisches) Gedankengut zu integrieren. Kataloge in der Sintfluterzählung Die drei Kataloge in der Sintflutepisode, die abschließend noch kurz betrachtet werden sollen, behandeln ebenfalls ausnahmslos Tiere. Anlass der Aufzählung

|| Pheraulas, der mit der Kampfkraft der Menschen diejenige der Tiere vergleicht: … ὥσπερ γε καὶ τἆλλα ζῷα ἐπίσταταί τινα μάχην ἕκαστα ..., οἷον ὁ βοῦς κέρατι παίειν, ὁ ἵππος ὁπλῇ, ὁ κύων στόματι, ὁ κάπρος ὀδόντι. καὶ φυλάττεσθαί γ’, ἔφη, ἅπαντα ταῦτα ἐπίστανται ἀφ’ ὧν μάλιστα δεῖ ...). 404 Vgl. in der lateinischen Philosophie z. B. Cic. Nat. deor. 2,127 (iam illa cernimus, ut contra vim et metum suis se armis quaeque defendat: cornibus tauri, apri dentibus, cursu leones, aliae fuga se aliae occultatione tutantur, atramenti effusione saepiae torpore torpedines, multae etiam insectantes odoris intolerabili foeditate depellunt; im Lehrgedicht begegnet der Topos in Lucr. 5,857–859. 1034–1040 und ‚Ov.‘ Hal. 1–6, in der christlich-lateinischen Literatur Min. Fel. 17,10 (in einem Katalog göttlicher providentiae: quidve animantium loquar adversus sese tutelam multiformem, alias armatas cornibus, alias dentibus saeptas et fundatas ungulis et spicatas aculeis aut pedum celeritate liberas aut elatione pinnarum?) und besonders Lact. Opif. 2,1–4 (im Kontext einer Besprechung der Schöpfung, mit Gegenüberstellung von Menschen und Tieren, beides wie bei Victorius: dedit enim homini artifex ille noster ac parens deus sensum atque rationem … (2) ceteris animantibus quoniam rationalem istam vim non attribuit, quemadmodum tamen vita earum tutior esset, ante providit. … (3) singulis autem generibus ad propulsandos impetus externos sua propria munimenta constituit, ut aut naturalibus telis repugnent fortioribus aut quae sunt inbecilliora, subtrahant se periculis pernicitate fugiendi aut quae simul et viribus et celeritate indigent, astu se protegant aut latibulis saepiant. (4) itaque alia eorum vel plumis levibus in sublime suspensa sunt vel suffulta ungulis vel instructa cornibus, quibusdam in ore arma sunt dentes aut in pedibus adunci ungues: nulli munimentum ad tutelam sui deest; ähnlich auch Inst. 3,8,4). Vgl. auch das reiche Stellenmaterial bei A. S. Pease, M. Tulli Ciceronis De natura deorum. Lib. 2/3, Cambridge 1958, 875f. (zur o. g. Stelle).

Einzelne Elemente der Darstellung | 155

sind das Betreten und Verlassen der Arche sowie das Opfer nach dem Ende der Sintflut. Die Kataloge sind im weitesten Sinne nach den Lebensräumen der Tiere aufgebaut: Der erste (2,441–450) nennt zunächst die Elemente, in denen die Tiere leben, dann die Himmelsrichtungen, der zweite (2,524–527) differenziert genauer die Aufenthaltsorte, die die Tiere nach dem Verlassen der Arche aufsuchen (Luft, Wald, Höhlen etc.), der dritte (3,7–10) nennt erneut Elemente und Regionen.405 Die Kataloge sind in ihren Funktionen mit den bisher betrachteten vergleichbar: Sie erheben durch ihre Systematik den Anspruch der Vollständigkeit, nur dass sich dieser nun nicht auf das Paradies, sondern auf die Arche bezieht, in der sich alle Arten von (Land- und Luft-) Tieren befinden. Victorius stilisiert die Arche so in ähnlicher Weise wie das Paradies zu einem Mikrokosmos, und tatsächlich bezeichnet er sie bei ihrer Erbauung auch einmal fast wörtlich als solchen (mundi … minoris, 2,424).406 Die Arche, Ursprung der zweiten Welt (vgl. mundi pars altera, 3,57), wird also (nicht nur, aber doch in auffälliger Weise) durch die Kataloge mit Paradies, dem Ursprung der Welt überhaupt, parallelgesetzt.407 Zusammenfassung Durch seine Kataloge knüpft Victorius zugleich an die epische und an die lehrdichterische Tradition an, wobei sich beide Traditionen bereits im nachvergilischen Epos zu vermischen beginnen. Der Reichtum an Katalogen ist dabei typisch für die spätantike Dichtung. Die Kataloge sind indes nicht (oder jedenfalls nicht alle) bloße Schmuckelemente. Zumindest in den betrachteten Fällen setzt Victorius sie gezielt für exegetische Zwecke ein und nutzt sie, um Themen der

|| 405 2,441–450: … animantia cuncta, / qua sua tellus alit, quae non sua sustinet aër / … / … / nec mora fit: quicquid convexo cardine caeli / nascitur ignotum diversis partibus orbis, / quod stupet Eous, quod pallidus horret Hiberus, / australis Libyae calidis quod saevit harenis, / scindit Hyperboreas miro quod lumine noctis, / una ruit trepidans et apertae immergitur arcae. – 2,524– 527: pars saltus silvasque petunt, pars mersa cavernis / infoditur patulis terrae, pars libera campis / exultat siccis et prato vernat aperto … – 3,7–10: septenis hostia praeceps / affluit e gregibus, mollis quos sustinet aër, / quos generat terrae …………… / …………… sternuntur Eois / aut Arabum silvis. 406 Vgl. zur Einordnung der Stelle in die Exegese zur Arche Homey 1972, 57 (dabei in Anm. 3 gegen Schenkl, der unter mundus minor die Erde versteht). 407 Die Parallelität geht so weit, dass die Tierkataloge im zweiten Schöpfungsbericht und zu Beginn der Sintflut fast mit den gleichen Worten eingeleitet werden, sodass im direkten Vergleich der Eindruck eines gewissen Schematismus entsteht (vgl. nec fit mora, 1,345 mit nec mora fit, 2,445).

156 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Philosophie und der Theologie in relativ organischer, wenn auch nicht immer luzider Form in die Darstellung einzufügen. Das traditionelle Formelement wird so in den Dienst christlicher Anliegen gestellt.

1.3.2.3 Gleichnisse Auch Gleichnisse – ausgedehnte Vergleiche, in denen sich ein ausführlicher ‚Wie‘-Teil, das eigentliche Gleichnis, und ein ‚So‘-Teil gegenüberstehen – gehören seit den frühesten Zeugnissen zu den typischen Merkmalen epischen Dichtens.408 Die Epiker treten mit Gleichnissen oft in Wettstreit mit dem als Meister des Gleichnisses geltenden Homer, indem sie dessen Gleichnisse nachzuahmen oder zu übertreffen suchen.409 Die Gleichnisse unterbrechen dabei die epische Erzählung, indem sie eine Handlung oder eine Figur durch eine Begebenheit aus der Natur oder dem allgemeinen (nicht historisch fixierten) menschlichen Leben illustrieren.410 Freilich verwenden neben den Epikern auch Lehrdichter Gleichnisse, die dann nicht die Erzählung, sondern den Lernstoff veranschaulichen.411 Gleichnisse können also als ein weiteres Element gelten, das die Gattungen Epos und Lehrgedicht teilen, jedoch in je eigener Weise verwenden. Wenn nun auch Victorius, dessen Werk Züge des Epos und des Lehrgedichts besitzt, Gleichnisse verwendet – und dies tut er an einigen Stellen in markanter || 408 Vgl. die klassische Untersuchung von Fränkel 1921. Die Unterscheidung zwischen Vergleich und Gleichnis findet sich im deutschen und z. B. auch im griechischen Sprachgebrauch (εἰκών vs. παραβολή), nicht dagegen im lateinischen, wo beide Elemente simile oder similitudo heißen (ähnlich im Englischen simile, im Italienischen similitudine usw.). Im modernen literaturwissenschaftlichen Sinne ist ein Gleichnis „ein (1a) selbständiger oder (1b) integrierter Text, der die (2a) explizit formulierte oder (2b) aufgrund von konventionellen Signalen sinngemäß unterlegbare (2c) Basisstruktur des Vergleiches (,X ist so f wie Y‘) überschreitet, und zwar (3a) durch amplifizierende Beschreibungen zu mindestens einem der Glieder der Basisstruktur oder aber (3b) durch hypothetischfiktionale Handlungsschilderungen, die sich an mindestens eines der Glieder der Basisstruktur knüpfen“ (so nach R. Zymner, Art. „Gleichnis“, in: RLW 1, Berlin 1997, 724–727, hier 725). Zur antiken Theorienbildung siehe M. H. McCall, Ancient rhetorical theories of simile and comparison, Cambridge 1969. 409 Exemplarisch seien dazu genannt: G. Carlson, Die Verwandlung der homerischen Gleichnisse in Vergils Äneis, Diss. Heidelberg 1972 sowie Rieks 1981, 1034–1051. 410 Das letztgenannte Kriterium ist wichtig für die Abgrenzung zum Exemplum, vgl. Lausberg 1990a, 419 (Lausberg unterscheidet freilich, der lateinischen Terminologie folgend, nicht zwischen Vergleich und Gleichnis, sondern spricht nur von similitudines verschiedenen Umfangs; vgl. insgesamt S. 419–422). 411 Zur Verwendung von Gleichnissen im römischen (und teilweise auch im griechischen) Lehrgedicht sei verwiesen auf Schindler 2000; vgl. auch R. C. Hohler, Lucretius’ use of the simile, CJ 21 (1925–1926), 281–285.

Einzelne Elemente der Darstellung | 157

Weise –, so erhebt sich erneut die Frage, an welche der Dichtungstraditionen er anknüpft und wie er sich überhaupt zur langen Tradition des Gleichnisses stellt.412 Überblick: Kontext, Verteilung und sprachliche Form der Gleichnisse Betrachten wir zunächst, in welchen Kontexten Victorius Gleichnisse verwendet. Das Ergebnis ist eindeutig: Sämtliche Gleichnisse stehen in narrativen Partien, wie es im Epos üblich ist, und mit einer Ausnahme werden Ereignisse oder Figuren illustriert, die auch im biblischen Bericht genannt sind.413 Die Verteilung über die Bücher ist dabei ungleichmäßig: Im ersten Buch, das insgesamt recht stark dem Lehrgedicht verpflichtet ist, begegnet gar kein Gleichnis (zu einem gleichnisähnlichen Phänomen siehe unten S. 168f.), im zweiten, das durch seine Erzählungen dem Epos näherkommt, drei, im dritten, das als das epischste Buch gelten kann, vier Gleichnisse. Auch wenn die Frequenz der Gleichnisse nie sehr hoch wird (vielleicht, weil die Gleichnisse teilweise durch deutende Kommentare verdrängt werden), spiegeln die Gleichnisse also die allmähliche Annäherung an den epischen Erzählstil wider. Auch in der sprachlichen Gestalt folgen die Gleichnisse weitgehend den epischen Konventionen, wenngleich Victorius teilweise auffällige Vorlieben zeigt. Vier der sieben Gleichnisse konstruiert er als Hauptsatz mit einleitendem Adverb, eine Technik, die sich in der lateinischen Epik nach Vergil ausbreitet, aber stets seltener als die hypotaktische Form bleibt.414 Bei den Einleitungsformen, die stets am Versanfang stehen, scheint Victorius um Variation bemüht: || 412 Ich verfolge damit eine andere Fragestellung als Martorelli 2008, 150–152, der den Gleichnissen bei Victorius ebenfalls ein Kapitel widmet, hierbei jedoch nicht näher auf das Verhältnis zu den dichterischen Vorläufern eingeht. Erwähnt sei noch Smolak 1975, 358, der Vergleiche (zu denen er wohl auch die Gleichnisse zählt) als episches Element in den Genesisdichtungen einordnet. 413 2,265–269: Das Zittern, das Kain als Strafe auferlegt wird, wird mit Lichtreflexionen verglichen. 2,270–272: Das Zittern wird kontrastiert mit der Bewegung, die kaltes Wasser bei Sterbenskranken verursacht. 2,503–510: Die Freude nach dem Ende der Sintflut wird mit drei verschiedenen Beispielen illustriert (ich zähle den Block wegen der durchlaufenden Konstruktion als ein Gleichnis). 3,276–281: Die Zerstreuung nach der Sprachverwirrung wird mit dem Verhalten von Vögeln verglichen. 3,310–318: Die Ausbreitung des Aberglaubens wird mit der Pest verglichen (Ausnahme, weil das Ereignis in dieser Form nicht im biblischen Bericht genannt wird). 3,439–453: Der kämpfende Abram wird mit einem Löwen verglichen. 3,550–554: Das Feuer, das Abrams Opfer verzehrt, wird mit Kometen verglichen. 414 Exemplarisch genannt sei die Übersicht über Gleichniseinleitungen des Valerius Flaccus bei Gärtner 1994, 53–57, in der die Einleitung mit Adverbien eine Minderheit bildet.

158 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Zweimal verwendet er haud aliter (3,276. 550), je einmal non secus (3,310) und sic (3,439), sämtlich Ausdrücke, die in der nachvergilischen Epik mehr oder weniger regelmäßig als Gleichniseinleitung am Versanfang verwendet werden, im Lehrgedicht dagegen selten oder nie.415 Die im Epos und Lehrgedicht verbreitetere Form, in der der ‚Wie‘-Teil des Gleichnisses einen Nebensatz bildet, tritt bei Victorius nur dreimal auf. Als Einleitung verwendet er hierbei einmal das auch in Epos und Lehrgedicht sehr häufige ut (2,265), einmal das bei Gleichnissen seltenere quantus (dreimal wiederholt zur Einführung von drei Einzelbildern, 2,505. 507. 509, mit vorausgehendem tantus), einmal das nur gelegentlich für Gleichnisse verwendete einfache Relativpronomen (2,270).416 In formaler Hinsicht ist noch erwähnenswert, dass Victorius’ Gleichnisse durchweg recht ausführlich sind (wenn auch nicht überlang: drei bis acht Verse, durchschnittlich 5,3 Verse) und damit etwas über den Durchschnittswerten der früheren Epiker liegen.417 Victorius zeigt sich hier wohl wie bei den Reden beeinflusst von der spätantiken Tendenz, dichterische Einzelelemente breiter als zuvor üblich auszugestalten.418

|| 415 Beispiele aus dem Epos für Gleichniseinleitungen mit haud aliter: Lucan. 6,220; fr. 7,1; Stat. Theb. 3,45; 6,880; Val. Fl. 1,489 (das Incipit an sich begegnet auch bei Vergil, aber nur zum Abschluss von Gleichnissen, so z. B. Aen. 4,256). Beispiele für non secus: Stat. Theb. 10,182; 12,169 (verbreiteter ist die Gleichniseinleitung non secus ac/atque, z. B. Verg. Aen. 3,346 und Georg. 3,346). Beispiele für sic: Ov. Met. 1,422; 3,111; Sil. 4,331; 6,321; Lucan. 4,134. 237; Stat. Theb. 8,691; Val. Fl. 1,682; 3,558. Einzig für einleitendes sic konnte ich einen Beleg in der Lehrdichtung finden (Manil. 4,924. 926. 927); vgl. immerhin noch haud secus in Nemes. Cyn. 272 (und schon nec ratione … alia in Lucr. 1,280). 416 Gleichnisse mit ut begegnen z. B. Lucr. 1,404. 1060; Verg. Aen. 5,448; 7,587 und in der gesamten lateinischen Epik und Lehrdichtung (wenn auch nicht ganz so oft wie mit velut[i] oder ceu), mit quantus z. B. Verg. Aen. 9,668; 12,701sq. (im letztern Fall ebenfalls dreimal wiederholt für drei Einzelbilder) und in der weiteren Epik, mit Relativpronomen z. B. Val. Fl. 3,88; 5,558 (wie bei Victorius beide Male mit Negation). 417 J. G. Fitch, Aspects of Valerius Flaccus’ use of similes, TAPhA 106 (1976), 113–124, hier 118 nennt für Vergil 3,94, für Lukan 3,45, für Valerius Flaccus 2,95 Verse, für Statius 3,74 (die Zahlen hängen natürlich von der zugrunde gelegten Gleichnisdefinition und -auswahl ab, liegen aber eindeutig unter dem Wert für Victorius). 418 Die Tendenz zu längeren Gleichnissen scheint übrigens nicht Claudian zu betreffen, der zwar deutlich mehr, nicht aber längere Gleichnisse als seine epischen Vorläufer einsetzt (so jedenfalls nach C. Schindler, Tradition – Transformation – Innovation: Claudians Panegyriken und das Epos, in W.-W. Ehlers u. a. [Hgg.], Aetas Claudianea. Eine Tagung an der Freien Universität Berlin vom 28. bis 30. Juni 2002, München 2004, 16–37, hier 32).

Einzelne Elemente der Darstellung | 159

Eposbezug 1: Nachbildung eines konkreten Vorbilds Auch inhaltlich zeigt die Mehrzahl der Gleichnisse Berührungspunkte mit der epischen Tradition. Dabei begegnen unterschiedliche Grade und Formen der Imitation. Am engsten ist der Eposbezug in einem Löwengleichnis, das einer konkreten Eposstelle nachgebildet ist und auf seinen ursprünglichen Kontext angewandt ist. Das Gleichnis soll den Kampf Abrams bei seinem nächtlichen Angriff auf das feindliche Lager illustrieren (3,439–454): sic, cum ieiuni rabies vaesana leonis in pecudum saltu penetravit saepta volucri, 440 cunctas dente, pede exanimat cupidamque vorandi differt ira famem clauditque doloris acerbi oppressis gemitum patientia mira timoris: haec tum forma ducis. So ist es, wenn rasend vor Wut ein ausgehungerter Löwe (440) in ein Gehege voll Vieh mit fliegendem Sprunge eindringt: Alle entseelt er mit Zahn und Fuß; den aufs Fressen erpichten Hunger verschiebt der Zorn; bei den Niedergestreckten verschließt ein seltsames ängstliches Dulden das Stöhnen bitteren Schmerzes: Dies 〈war〉 da die Gestalt des Anführers.

Löwengleichnisse sind generell seit den Anfängen der Epik ein beliebtes Mittel, um die Kampfkraft eines Helden zu veranschaulichen und tragen so ein besonders starkes episches Kolorit.419 Victorius dürfte hier jedoch nicht bloß diesen Gleichnistyp, sondern eine konkrete Stelle vor Augen haben, nämlich ein Löwengleichnis Vergils, das zur Episode vom nächtlichen Ausfall des Nisus und Euryalus gehört und seinerseits auf ein homerisches Löwengleichnis in ähnlichem Kontext zurückgeht (Verg. Aen. 9,339–341):420 impastus ceu plena leo per ovilia turbans (suadet enim vesana fames) manditque trahitque

340

|| 419 Schon in der Ilias finden sich zahlreiche Stellen, so 3,24–28; 5,134–143. 161–164. 472–476; u. ö., vgl. Fränkel 1921, 59–70. In der lateinischen Literatur seien exemplarisch genannt: Verg. Aen. 9,339–341; 10,454–456. 723–728; Sil. 2,683–691; 4,372–479; Stat. Theb. 2,675–681; 8,124– 126; Val. Fl. 3,587–589; 6,613sq.; Claud. Rapt. Pros. 2,209–213. Weitere Stellen bei R. B. Steele, The similes in Latin epic poetry, TAPhA 49 (1918), 83–100, hier 90. 420 Vgl. Homey 1972, 105. Bei Homer steht das Gleichnis in der Erzählung von Odysseus’ und Diomedes’ nächtlichem Überfall auf die Thraker (Il. 10,485–487): ὡς δὲ λέων μήλοισιν ἀσημάντοισιν ἐπελθών, / αἴγεσιν ἢ ὀΐεσσι κακὰ φρονέων ἐνορούσῃ, / ὣς μὲν Θρήϊκας ἄνδρας ἐπῴχετο Τυδέος υἱός … Ob sich Victorius der Tiefe der von ihm aufgerufenen literarischen Tradition bewusst war, muss offen bleiben.

160 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

molle pecus mutumque metu, fremit ore cruento … Wie ein hungriger Löwe in vollen Schafställen ringsumher Verwirrung anrichtet (340) (denn der rasende Hunger treibt ihn dazu) und das sanfte und vor Angst stumme Vieh frisst und wegreißt, und brüllt mit blutigem Maul …

Die beiden Gleichnisse haben zwar im sprachlichen Ausdruck kaum Gemeinsamkeiten (auffällig ist immerhin das beiden gemeinsame Adjektiv vae-/vesanus), sind aber, wie noch genauer zu zeigen sein wird (vgl. unten Kap. 2.1.2), durch den ähnlichen Kontext miteinander verbunden. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Victorius seine Vorlage nicht bloß imitieren, sondern überbieten wollte, indem er die drei Verse des vergilischen ‚Wie‘-Teils auf fünf streckte und das rastlose Wüten des Löwen noch stärker betonte.421 Eposbezug 2: Übertragung eines konkreten Vorbilds auf eine neue Situation Ein etwas loserer, aber immer noch recht enger Eposbezug liegt im ersten Gleichnis des zweiten Buches vor, wo Victorius zwar ein konkretes episches Gleichnis imitiert, dieses aber auf eine andere Situation überträgt. Victorius vergleicht hier das Zittern, das Kain nach seinem Brudermord als Strafe auferlegt wird,422 mit zuckenden Lichtreflexen aus einem Wasserbecken (2,265–269): … ut, labris saepti latices cum luce recussa 265 exceptos frangunt radios, subit atria fulgor lubricus et totum perlustrans nusquam et ubique est, cumque tremit, sensim sublustri intexta corusco linea caeruleae sine fine intermicat umbrae. … wie, wenn von Rändern umgebene Flüssigkeiten das Licht reflektieren und die aufgenommenen Strahlen brechen, ein flimmernder Glanz in die Räume kommt und, alles durchstreifend, zugleich überall ist und nirgends, und wenn er zittert, allmählich, von halblichtem Funkeln umwoben, die Linie des bläulichen Schattens ohne Unterlass blitzt.

Das Gleichnis ist offenkundig einer Vergilstelle nachgebildet, wo Aeneas’ hinund hereilende Gedanken in ähnlicher Weise veranschaulicht werden. In die-

|| 421 Dasselbe tut übrigens bereits Vergil, der Homers lediglich zwei Verse langes Gleichnis erweitert (vgl. auch Homey 1972, 106, der die Stellen im Detail vergleicht und Victorius vorwirft, hinter Vergils Subtilität und Raffinesse zurückzubleiben). Interessanterweise ahmt übrigens auch Sedulius das vergilische Gleichnis nach, wobei er es ebenfalls auf viereinhalb Verse streckt, vgl. Carm. pasch. 2,110–114 (dort bezogen auf Herodes). 422 So jedenfalls nach der Vetus Latina, vgl. oben Anm. 45.

Einzelne Elemente der Darstellung | 161

sem Fall zeigen sich auch sprachliche Parallelen (Verg. Aen. 8,22–25, ich markiere besondere Ähnlichkeiten durch gleiche Auszeichnung wie oben):423 … sicut aquae tremulum labris ubi lumen aënis sole repercussum aut radiantis imagine lunae omnia pervolitat late loca iamque sub auras erigitur summique ferit laquearia tecti.

25

… wie wenn zitterndes Licht, von den ehernen Rändern des Wassers durch die Sonne oder das Bild des scheinenden Mondes reflektiert, alle Orte weithin durchstreift und sich schon in die Lüfte (25) erhebt und die Täfelung ganz oben an der Decke trifft.

Eposbezug 3: Adaption eines epischen Gleichnistyps Die beiden eben betrachteten Gleichnisse lassen sich also mit einer bestimmten Vorbildstelle in Verbindung bringen. An einer anderen Stelle greift Victorius lediglich auf einen Gleichnistyp zurück, der in der epischen Tradition ingesamt verbreitet ist, und schneidet diesen auf seinen eigenen, nichtepischen Kontext zu. Das betreffende Gleichnis illustriert das Entstehen neuer Volksgruppen nach der Sprachverwirrung und gehört wohl zu den ansprechendsten Gleichnissen bei Victorius (3,276–282):424 haud aliter volucres campi per mollia plana, quas gregibus mixtis errare et quaerere victum persuasit secura dies, cum nocte propinqua frondea tecta petunt, extemplo congrege turba vulgus quaeque suum sequitur rapidoque volatu miscentur, similis qua duxerit aut color aut vox. sic tunc in partes populus se dissicit unus …

280

Ebenso ist es bei Vögeln in weichen Ebenen des Feldes, die der sichere Tag dazu bewog, in gemischten Schwärmen zu streifen und nach Nahrung zu suchen; wenn sie jedoch bei nahender Nacht zu den Laubnestern eilen, folgt augenblicks aus der vereinten Schar (280) ein jeder dem eigenen Volk und in eiligem Fluge mischen sie sich, wie die ähnliche Farbe oder Stimme sie führt: So spaltet sich da ein Volk in Teile …

|| 423 Die Stelle ist auch in Hovinghs Similienapparat genannt. Vorbild der Vergilverse ist Apoll. Rhod. 3,755–760, wo das Gleichnis auf Medeias Gedanken bezogen ist: πυκνὰ δέ οἱ κραδίη στηθέων ἔντοσθεν ἔθυιεν, / ἠελίου ὥς τίς τε δόμοις ἔνι πάλλεται αἴγλη, / ὕδατος ἐξανιοῦσα τὸ δὴ νέον ἠὲ λέβητι / ἠέ που ἐν γαυλῷ κέχυται, ἡ δ’ ἔνθα καὶ ἔνθα / ὠκείῃ στροφάλιγγι τινάσσεται ἀίσσουσα· / ὧς δὲ καὶ ἐν στήθεσσι κέαρ ἐλελίζετο κούρης … 424 Vgl. auch Martorelli 2008, 150f. mit Anm. 204 zu den literarischen Qualitäten des Gleichnisses.

162 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Gleichnisse mit Vogelschwärmen begegnen in der Epik ebenfalls schon seit Homer, oft auch wie hier in Bezug auf Menschenmassen.425 Der Aspekt, den Victorius hierbei betont, d. h. die gattungsweise Trennung der erst noch vereinten Vögel, scheint vor ihm jedoch noch nicht verwendet worden zu sein. Victorius modifiziert offenbar also einen gängigen Gleichnistyp, um ihn an seine biblische Erzählung anzupassen. Eposbezug 4: ein Gleichnis aus einem epischen Gegenstandsbereich Eine wiederum andere Art von Eposbezug weist das Dreifach-Gleichnis in 2,503–510 auf, bei dem Victorius die Freude über das Ende der Sintflut mit drei Szenen aus verschiedenen Lebensbereichen illustriert. Hier interessiert besonders das erste Bild (2,503–507. 510): tantus ad indicium magni cum laude parentis clausorum fletus, quo se quoque laeta revelant, exoritur, quantus, muris cum victor acerbus insultat, subitum obsessis si forte feratur auxilium …, … fletus.

505 507 510

Auf dieses Zeichen hin brach, zusammen mit Lob für den großen Vater, ein Weinen bei den Eingeschlossenen (505) aus (denn dadurch tut sich auch Frohes kund), so groß, wie es ist, wenn, derweil auf den Mauern der grausame Sieger springt, plötzliche Hilfe zufällig den Bedrängten gebracht werden sollte …

Der Gegenstandsbereich, dem das Bild entnommen ist (also der Bildspenderbereich)426 ist der Krieg und damit ein typisches Thema des Epos, das allerdings in der Alethia, bedingt durch die Vorgaben der Genesis, nur geringen Raum einnimmt (eine Ausnahme ist die Kampfepisode in 3,415–464, die in Kap. 2.1.2 behandelt werden soll). Man kann vermuten, dass Victorius die Gelegenheit genutzt hat, zumindest im beschränkten Rahmen eines Gleichnisses ein weite-

|| 425 So Hom. Il. 2,459–466; 3,2–7; 17,755–759, jeweils in Bezug auf Menschenmassen; vgl. Fränkel 1921, 72f. Lateinische Beispiele für die Verwendung in Bezug auf Menschenansammlungen: Verg. Aen. 10,264–266; 11,456–458; Stat. Ach. 1,372–378; Val. Fl. 3,359–361 (ähnlich noch Lucan. 5,711–716 in Bezug auf eine Flotte); vgl. Gärtner 1994, 254 (Stellensammlung ausgehend von der Val.-Fl.-Stelle). 426 So mit der Terminologie von Harald Weinrich; vgl. zu Weinrichs Theorie U. Meyer, Stilistische Textmerkmale, in: Th. Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2007, 81–110, hier 99.

Einzelne Elemente der Darstellung | 163

res Mal eine kriegerische Szene zu skizzieren, um seinem Werk etwas mehr episches Kolorit zu verleihen.427 Lehrgedichtbezug 1: ein naturphilosophisch interessiertes Gleichnis Die bis jetzt betrachteten Gleichnisse stehen trotz der Unterschiede in der Imitationsform formal wie inhaltlich ganz in der epischen Tradition. In einigen Fällen zeigen sich inhaltlich jedoch weitere Einflüsse, die bezeichnend für Victorius sind. Betrachten wir zunächst das Gleichnis, mit dem Victorius das Feuer veranschaulicht, das Abrams Opfer verzehrt (3,550–554, vgl. Gen. 15,17): haud aliter crasso vibrantes aere corpus obliquum per inane volant undantque coruscae nocturno splendore faces crinemque rubentem mendax stella trahit concussaque nubila ventis excutiunt pronum, qui terram everberet, ignem.

550

(550) Nicht anders, indem sie in dichtem Dunst ihren Körper zitternd bewegen, fliegen schimmernde Fackeln schräg durch die Leere428 und wogen im nächtlichen Glanz, und der unechte Stern zieht einen rötlichen Schweif nach sich her, und die von Winden getroffenen Dünste stoßen das Feuer hinab, das die Erde schlagen soll.

Auf den ersten Blick steht Victorius auch hier in epischer Tradition. Kometen, an die Victorius hier denkt, begegnen schon lange vor ihm in epischen Gleichnissen, so vielleicht schon bei Homer, später beispielsweise bei Vergil, Lukan, Valerius Flaccus und Claudian, bei denen meistens Bewegungen von Menschen und Göttern oder blitzende Waffen veranschaulicht werden.429 Victorius über-

|| 427 Es ist wohl kein Zufall, dass auch Vergil in seinen unkriegerischen Georgica mehrfach Gleichnisse aus dem Sachbereich Krieg verwendet (Georg. 2,276–283; 3,343–348), in der von vornherin kriegslastigen Aeneis dagegen nie (vgl. die Übersicht über die Gleichnisse in der Aeneis bei Rieks 1981, 1093–1096. 428 Wörtl. „durch die schräge Leere“, falls obliquum nicht als Adverb gedacht ist (vgl. ThLL s. v. obliquus p. 103,37–41. 429 In Hom. Il. 4,75–78 wird Athenes Abstieg vom Olymp veranschaulicht (οἷον δ’ ἀστέρα ἧκε Κρόνου πάϊς ἀγκυλομήτεω / ἢ ναύτῃσι τέρας ἠὲ στρατῷ εὐρέϊ λαῶν, / λαμπρόν, τοῦ δέ τε πολλοὶ ἀπὸ σπινθῆρες ἵενται, / τῷ ἐϊκυῖ’ ἤϊξεν ἐπὶ χθόνα Παλλὰς Ἀθήνη …; nach Gundel 1921, 1145 „könnte ein K[omet] gemeint sein, der eine sehr schnelle Bewegung hatte und nur kurze Zeit zu sehen war“; möglicherweise ist auch ein Meteor gemeint oder Züge von beiden sind kombiniert, vgl. G. S. Kirk, The Iliad: A commentary. Vol. 1: books 1–4, Cambridge u. a. 1985, 338), vgl. Apoll. Rhod. 3,1377–1379, wo mit einem ähnlichen Bild Iasons Stürmen illustriert wird. In Verg. Aen. 5,527sq. veranschaulicht ein Kometengleichnis einen brennenden Pfeil (…

164 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

trägt den Gleichnistyp nun auf einen gänzlich anderen Bereich, wobei er am ehesten mit Lukan vergleichbar ist, der ebenfalls – von der epischen Tradition abweichend – einen tatsächlich brennenden Gegenstand, nämlich geschleuderte Pechfackeln, durch ein Kometen- oder Meteorgleichnis veranschaulicht.430 Bemerkenswert ist nun, dass Victorius’ Gleichnisgebrauch vor dem Hintergrund des antiken Kometenverständnisses nur teilweise passend ist: In der paganen Volksreligion und Literatur galten Kometen als von Göttern gesandte Zeichen, was soweit noch zu Gen. 15 passt, doch fasste man sie üblicherweise (auch in den Gleichnissen) als unheilvolle Prodigien auf, was in Gen. 15 ja gerade nicht der Fall ist.431 Indem Victorius das Kometengleichnis auf ein segensreiches göttliches Zeichen überträgt, entkleidet er es seiner prodigienhaften Konnotation. Unterstützt wird diese Umdeutung durch eine Rationalisierung der Kometenerscheinung: Victorius wendet sich gegen die verbreitete Vorstellung, Kometen seien Sterne (vgl. mendax stella, V. 553),432 und erklärt stattdessen, es handle sich um vom Wind getroffene brennende Dünste (concussaque nubila ventis / excutiunt … ignem, V. 553sq.). Hiermit greift er eine philosophische Erklärung von Kometen auf, die zuerst bei Xenophanes belegt ist und auch von einigen lateinischen Autoren vertreten wird, unter anderem von den Lehrdichtern Manilius und Avien, die das Phänomen teilweise sogar mit ähnlichen Begriffen beschreiben.433 Vielleicht ist Victorius auch hier von Lukan beeinflusst, || caelo ceu saepe refixa / transcurrunt crinemque volantia sidera ducunt), in Aen. 10,272–274 den leuchtenden Helmbusch des Aeneas (… non secus ac liquida si quando nocte cometae / sanguinei lugubre rubent …, dazu Gärtner 1994, 149). Anders ist die Verwendung in Lucan. 10,500– 503, wo die von Caesars Soldaten geschleuderten Pechfackeln mit Kometen (oder Meteoren?) verglichen werden; Val. Fl. 6,607sq. ist wieder ähnlich wie Vergil (bezogen auf Iasons Rüstung, dazu Gärtner 1994, 163), Claud. Rapt. Pros. 1,231–236 erinnert an Homer (bezogen auf den Weg der Göttinnen Venus, Minerva und Diana). Auffällig ist, dass Claudians und Victorius’ Gleichnisse mit fünf Versen deutlich länger als die der älteren Autoren sind. 430 Lucan. 10,500–503, vgl. die vorangehende Anmerkung. Auch sprachlich übernimmt Victorius manches von Lukan, allerdings aus einer anderen Stelle, wo die Kometen aber zur Erzählung gehören (Lucan. 1,526–529: ignota obscurae viderunt sidera noctes / ardentemque polum flammis caeloque volantes / obliquas per inane faces crinemque timendi / sideris et terris mutantem regna cometen, vgl. Hovinghs Similienapparat). 431 Vgl. die in den letzten beiden Anmerkungen zitierten Stellen, wo meist auf die Interpretation der Kometen als Omina hingewiesen wird, ferner Gundel 1921, 1143–1150. 432 Vgl. Gundel 1921, 1145 zur Bezeichnung von Kometen als ἀστήρ bzw. stella. 433 Vgl. Xenophan. VS 21 A 44 (Ξ. πάντα τὰ τοιαῦτα [sc. κομήτας, διάιττοντας, δοκίδας] νεφῶν πεπυρωμένων συστήματα ἢ κινήματά [sc. φησιν εἶναι]), später Manil. 1,817–830 (sive, quod ingenitum terra spirante vaporem / umidior sicca superatur spiritus aura, / nubila [vgl. Aleth. 3,553] cum longo cessant depulsa sereno / et solis radiis arescit torridus aer, / apta alimenta sibi demissus corripit ignis / materiamque sui deprendit flamma capacem …) sowie Avien. Arat.

Einzelne Elemente der Darstellung | 165

denn auch dieser deutet die xenophanische Erklärung in seinem bereits erwähnten Kometen- oder Meteorgleichnis an, wenn auch in knapperer und sprachlich anderer Form.434 Sowohl Lukan als auch Victorius verleihen ihrem Gleichnis also eine naturphilosophische Wendung und zeigen so ein Interesse, das gewöhnlich eher dem Lehrgedicht als dem Epos entspricht.435 Lehrgedichtbezug 2: ein Gleichnis aus einem lehrgedichttypischen Gegenstandsbereich Einen Bezug zum Lehrgedicht weist auch ein anderes Gleichnis im dritten Buch auf. Es illustriert einen Vorgang, der in dieser Form nicht in der Bibel beschrieben ist, nämlich die Ausbreitung des Götzendienstes nach dem Turmbau zu Babel, bei der allmählich auch die zunächst noch frommen Nachkommen Sems erfasst werden. Victorius vergleicht den Götzendienst (im Lateinischen als dementia, 3,303, furor, 3,317 und error, 3,318 bezeichnet) mit einer Seuche (3,310–318): non secus Aethiopum ferventibus excita terris nubila morborum corrupto tramite caeli implicuere avida vitalis436 peste lacunas,

310

|| 1816–1819 (spiramenta soli, si iustus defuit humor, / arida, per caelum surgentia, desuper aethrae / ignescunt flammis, mundique impulsa calore / excutiunt [vgl. Aleth. 1,554] stellas et crebro crine rubescunt); vgl. auch Sen. Nat. 7,4,1 (Seneca referiert Epigenes: videri illos [sc. cometas] accendi turbine quodam aeris concitati et intorti); weitere Stellen bei Gundel art. cit. 1164–1167. 434 Vgl. Lucan. 10,502sq.: … quam solet aetherio lampas decurrere sulco / materiaque carens atque ardens aere solo. 435 Auch der Versschluss nubila ventis stammt aus einem Lehrgedicht, was jedoch Zufall sein kann (Lucr. 6,513, dort über die Entstehung von Regen). Angemerkt sei noch, dass Kometen als mögliches Thema der Lehrdichtung auch in Claudians Lehrgedicht Magnes genannt werden, wenn auch nur im Rahmen eines Katalogs von Fragestellungen, die der Dichter nicht behandeln will (Carm. min. 29,4: unde rubescentes ferali crine cometae). 436 Ich übernehme hier die Konjektur von Petschenig (hier nach ThLL s. v. lacuna p. 857,71–73 leicht modifiziert von vitales zu vitalīs, was noch näher am überlieferten victoris steht); die Konjektur wird außer im ThLL auch von Martorelli 2008, 151 mit Anm. 208 verteidigt, während Hovingh victoris im Text belässt und mit einer crux versieht. Papini übersetzt den überlieferten Text wenig sinnvoll mit „le nubi … avvolgono gli stagni nell’insaziabile flagello del vincitore“). Wörtlich wäre nach Petschenig zu übersetzen: „in die lebensnotwendigen Höhlungen“; vgl. ThLL loc. cit., wo lacunas mit „sc. internas“ erläutert wird, sowie die häufige Verwendung des n. Pl. vitalia im Sinne von ‚Eingeweide‘. Schwer haltbar ist dagegen die Erläuterung von lacunas als λαγόνας in Schenkls index grammaticae et elocutionis s. v. lacuna (bereits abgelehnt im ThLL loc. cit.). Martorelli 2008, 151 mit Anm. 208 verteidigt vitales, versteht die vitales lacunae

166 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

cum quisquis celeri percussum fulmine leti ingemuit, simul ipse ruit, quicumque cadentem conspexit, cecidit, congestaque funera passim dira luis stravit campis bellumque peregit: sic tunc praecipiti complexus mole furoris et quos praeteriit repetens comprenderat error …

315

(310) Nicht anders drängen sich Krankheitswolken, erregt aus der siedenden Erde der Äthiopen, über des Himmels verdorbene Pfade in die Eingeweide hinein mit gieriger Seuche; wenn jemand über den, der vom schnellen Blitz des Todes getroffen wurde, noch stöhnt, stürzt er gleichzeitig selbst; wer auch immer ihn fallen (315) sieht, der fällt 〈ebenfalls〉, und die schreckliche Seuche streckt weit und breit auf den Feldern Haufen von Leichen nieder und führt den Krieg bis zum Ende: So hatte da der Fehltritt mit der stürzenden Masse des Wahnsinns auch die, die er erst übergangen hatte, auch noch erreicht und ergriffen …

Das Thema der Pest ist für diese Arbeit insofern besonders interessant, als es sich um ein typisches Thema des Lehrgedichts handelt. Zwar findet sich eine frühe dichterische Darstellung der Pest bereits am Anfang der Ilias (1,8–52);437 die erste ausführliche und für die weitere literarische Tradition entscheidende poetische Umsetzung stammt jedoch von einem Lehrdichter, nämlich von Lukrez, der am Ende seines Werkes die bereits von Thukydides beschriebene Pest von Athen schildert (Lucr. 6,1138–1286, eingeleitet von einem allgemeinen Passus über Seuchen, 6,1090–1137). Die Darstellung muss schon auf antike Rezipienten großen Eindruck gemacht haben. Jedenfalls sahen sich nachfolgende Lehrdichter immer wieder dazu herausgefordert, dem lukrezischen Vorbild eine eigene Krankheitsdarstellung entgegenzusetzen, so Vergil, der in den Georgica in klarer Abhängigkeit von Lukrez eine Viehseuche beschreibt (Verg. Georg. 3,440–566), später Manilius und Grattius (Manil. 1,880–895; Grattius Cyn. 366–496).438 Nach Lukrez und Vergil wird das Thema auch außerhalb der Lehrdichtung aufgegriffen (so in Ov. Met. 7,523–613, Lucan. 6,80–105 und Sil.

|| aber im Sinne von „‘sacche vitali’, contingenti di populazione non ancora contagiata, che viene poi colpita“. 437 Zur Tradition der Pestschilderungen sei verwiesen auf J. Grimm, Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und der Romania, München 1965, darin zu den für uns relevanten Darstellungen von Homer bis Ammian 24–87. 438 Vgl. Gale 2007, 114: „From Lucretius onward … the detailed description of plagues and diseases becomes de rigueur [sc. in didactic epic]“ (das Gleichnis könnte also auch in Kap. 2.2 dieser Arbeit behandelt werden).

Einzelne Elemente der Darstellung | 167

14,580–617), doch bleibt es durch das prägende Vorbild des Lukrez in besonderer Weise mit dem Lehrgedicht verbunden.439 Auch Victorius’ Gleichnis weist trotz seiner Kürze gewisse Berührungspunkte mit Lukrez auf, die in der jüngeren Forschung bereits erkannt worden sind (hinzu kommen Parallelen mit späteren, nach Lukrez’ Vorbild entstandenen Seuchenschilderungen). So beschreibt Lukrez in ähnlicher Weise wie hier in V. 310sq., wie die Krankheitswolken aus der heißen Erde aufsteigen und sich über den Himmel ausbreiten.440 Auch die in V. 313–315 dargestellte Schnelligkeit der Ansteckung wird schon bei Lukrez betont, wobei Victorius mit dem Entstehen von Leichenbergen einen Topos aufgreift, den nach Lukrez auch z. B. Vergil und in ihren Pestschilderungen bedienen.441 Sprachlich fällt vor allem eine Parallele mit Ovid ins Auge, der in Pestschilderungen zweimal das Incipit dira lues verwendet, das Victorius in der Form dira luis in V. 316 gebraucht.442 Fraglich bleibt bei alledem, welcher Quelle Victorius den Verweis auf Äthiopien entnahm. Zwar sieht schon Thukydides den Ursprung der Pest von Athen in Äthiopien (vgl. Thuk. 2,48), doch gerade Lukrez spricht lediglich von Aegypti fines (Lucr. 6,1141). Möglicherweise schöpft Victorius hier aus einer späteren

|| 439 Vgl. auch Bailey 1950, 1723, der Vergil, Ovid, Lukan und Silius als Imitatoren des Lukrez aufführt. 440 Lucr. 6,1098–1102 (besondere Ähnlichkeiten hervorgehoben): atque ea vis omnis morborum pestilitasque / aut extrinsecus ut nubes nebulaeque superne / per caelum veniunt, aut ipsa saepe coorta / de terra surgunt, ubi putorem umida nactast / intempestivis pluviisque et solibus icta (Stelle nach Papini 2006, 104 Anm. 18); vgl. auch die Nachahmung in Lucan. 6,89sq.: traxit iners caelum fluvidae contagia pestis / obscuram in nubem. – Zu V. 312 lassen sich keine deutlichen Parallelen finden, die zur Klärung von Text und Aussage beitragen könnten. Cutino 2009, Anm. 124, der lacunae (wie Papini 2006) als ‚Sümpfe‘ versteht, verweist auf Lucr. 6,1125sq. (haec igitur subito clades nova pestilitasque / aut in aquas cadit …), doch schon die Tatsache, dass das Wasser bei Lukrez nur ein Stoff unter vielen ist, die von der Pest befallen werden (vgl. die dort folgenden Verse), spricht m. E. dagegen, dass Victorius hier ausschließlich die Sümpfe als Sammlungsort der Erreger nennen wollte. 441 Allgemein konstatiert in Lucr. 6,1235–1237 (ohne den von Müller und anderen Editoren nach V. 1236 eingefügten V. 1245): quippe etenim nullo cessabant tempore apisci / ex aliis alios avidi contagia morbi, / idque vel in primis cumulabat funere funus (Stelle nach Papini 2006, 104 Anm. 18 und Martorelli 2008, 152 Anm. 12). Speziell zu den Leichenbergen siehe Lucr. 6,1215sq. (multaque humi cum inhumata iacerent corpora supra / corporibus …). Ähnlich nach Lukrez Verg. Georg. 3,556 (iamque catervatim dat stragem atque aggerat ipsis / in stabulis turpi dilapsa cadavera tabo) und Ov. Met. 7,584sq. (quo se cumque acies oculorum flexerat, illic / vulgus erat stratum …; Stellen nach Martorelli 2008, 152 Anm. 13; weitere, weniger deutliche Parallelen bei Cutino 2009, 184 Anm. 126). 442 Vgl. Ov. Met. 7,523 (Pest auf Aigina); 15,626 (Pest in Rom; beide Stellen nach Hovinghs Similienapparat).

168 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Quelle, etwa Ammian, der sich explizit auf Thukydides’ Bericht bezieht und dabei auch Äthiopien nennt, oder auf Orosius, der andere Seuchen mit Äthiopien in Verbindung bringt.443 Doch unabhängig von dieser Frage sprechen die Ähnlichkeiten zu dichterischen Pestschilderungen dafür, dass Victorius hier nicht bloß den Götzendienst durch ein passendendes Bild veranschaulichen wollte, sondern zugleich eine Gelegenheit suchte, auf ein prominentes und schon vor ihm mehrfach imitiertes Thema des lukrezischen Lehrgedichts Bezug zu nehmen. Das Gleichnis bot ihm dazu einen bequemen Raum, da er so keine eigene Episode zum Bibeltext hinzuerfinden musste (wie er es im Falle der Kulturentstehung teilweise tat) und seine Schilderung überdies auf den überschaubaren Umfang eines Gleichnisses beschränken konnte. Sonderfall: eine Prolepse in Gleichnisform Zuletzt sei noch eine Stelle genannt, die zwar durch ihren Inhalt aus den eingangs genannten Kriterien für Gleichnisse herausfällt, formal aber so weit dem epischen Gleichnisstil entspricht, dass sie bei einer Untersuchung der Gleichnisse nicht außer Acht bleiben kann. In der Umsetzung des zweiten Schöpfungsberichtes beschreibt Victorius, wie aus Erde der Mensch entsteht, und stellt anschließend eine Verbindung zur Auferstehung der Toten her (1,213–215): non aliter ruptis mandata resurgere bustis corpora vera fides, cum caelo inlapsa patenti maiestas gravidae reserat cava viscera terrae.

215

Nicht anders (sagt wahrer Glaube) stehen auf Befehl hin die Leiber wieder auf aus zerbrochenen Gräbern, wenn die Hoheit vom offenen Himmel gleitet444 (215) und der trächtigen Erde hohles Innere auftut.

Die Verse werden, ähnlich wie einige der oben behandelten Gleichnisse, mit non aliter eingeleitet, einem Ausdruck, der im nachvergilischen Epos häufiger zur

|| 443 Vgl. Amm. 19,9,4 (atque ut Thucydides exponit, clades illa … ab usque ferventi Aethiopiae plaga paulatim proserpens Atticam occupavit; man beachte das Adjektiv ferventi, das auch Victorius benutzt) sowie Oros. Hist. 1,9,3 (tunc etiam in Aethiopia pestes plurimas dirosque morbos paene usque ad desolationem exaestuavisse Plato testis est). Beide Stellen nach Martorelli 2008, 152 Anm. 210; denkbar ist natürlich auch, dass Victorius eine andere, heute verlorene Quelle verwendete. 444 Zur Verbindung von inlabi mit ablativus separativus vgl. oben Anm. 321

Einzelne Elemente der Darstellung | 169

Einleitung von Gleichnissen verwendet wird.445 Während in Gleichnissen jedoch ein Gegenstand oder eine Tatsache aus dem Erfahrungsbereich der Rezipienten zur Veranschaulichung herangezogen wird (vgl. das Kriterium vom nicht historisch fixierten Natur- und Menschenleben), führt Victorius hier ein zukünftiges, ja endzeitliches Ereignis ein, das naturgemäß niemand erlebt hat und das den Rezipienten nur durch die christliche Lehre und bildliche Darstellungen bekannt ist. Die Stelle dient damit nicht oder allenfalls sekundär der Veranschaulichung, vielmehr nutzt Victorius die Gleichnisform zur Einführung einer eschatologischen Prolepse (vgl. zu Prolepsen oben Kap. 1.3.1.3). Es gelingt ihm so, in scheinbar epischer Form einen Bezug zwischen Schöpfung und Weltende herzustellen und von der Erzählung des Schöpfungsvorgangs zur Exegese überzuleiten, die er dann bis V. 220 entfaltet. Das epische Gestaltungsmittel bekommt dadurch in diesem einen Fall eine neue, spezifisch bibeldichterische Funktion.446 Zusammenfassung Auch wenn Gleichnisse sowohl im Epos als auch im Lehrgedicht eine Rolle spielen, orientiert sich Victorius beim Einsatz von Gleichnissen hauptsächlich an der Epik. Er verwendet die Gleichnisse zur Ausschmückung der Erzählung, gebraucht epische Ausdrucksformen und greift teilweise auf episches Bildmaterial zurück. Bezüge zur Lehrdichtung lassen sich immerhin über den Gleichnisinhalt feststellen, wenn auch nur in einem oder zwei Fällen. Indem er die Gleichnisse auf die Erzählung beschränkt, verzichtet Victorius zugleich darauf, die lehrhaften Partien seines Werks durch Gleichnisse zu veranschaulichen, wie es etwa Lukrez tut.447 Bildhaft-konkret und sinnlich vorstellbar ist bei ihm vor

|| 445 Beispiele für non aliter: Ov. Met. 9,46; Sil. 3,410; 9,604; Lucan. 7,145; Stat. Theb. 2,595; Val. Fl. 3,737; 4,236 (bei Vergil ebenfalls nur nach dem Gleichnis, so z. B. Aen. 4,176, zur Gleichniseinleitung nur in der Form non aliter quam si, so Aen. 4,669). 446 Victorius ist nicht der einzige Bibeldichter, der die Gleichnisform in dieser Weise verwendet: Ähnliches ist z. B. bei Avitus zu beobachten, vgl. SHG 3,213–215, wo das Schuldbewusstsein Adams und Evas nach ihrer Bestrafung mit dem Schuldbewusstsein des Geistes nach dem Tod in Verbindung gebracht wird (haud aliter vivax deceptus mole caduca / spiritus, inpleto venit cum terminus aevo, / post obitum peccata dolet; vgl. den – freilich etwas pauschalisierenden – Kommentar zur Stelle von Hoffmann 2005, 161: „Bei Avitus werden Typologien generell mit denselben Formulierungen eingeleitet (oder abgeschlossen) wie Gleichnisse und verdrängen diese teilweise.“ Vgl. auch Arweiler 1999, 36f. zu Typologien bei Avitus). 447 Allerdings verwendet er in der Digression des dritten Buches Exempla, die zugleich eine veranschaulichende und eine beweisende Funktion haben. Hingewiesen sei besonders auf

170 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

allem der Bibeltext; seine eigenen Deutungen und Argumentationen sind entweder abstrakt und auf die im Bibeltext selbst enthaltenen Bilder bezogen, die so umso stärker wirken können.

1.3.3 Ein Darstellungselement der Lehrdichtung: Reihung von Deutungen mit sive – sive Eine Darstellungstechnik, deren Victorius sich bei Erklärungen und Argumentationen auffällig oft bedient, ist die Aufzählung verschiedener möglicher Interpretationen mit sive – sive (bzw. seu – seu usw.). Diese Technik ist für unser Thema wichtig, weil sie, wie bereits Roberts und Martorelli angemerkt haben, auch im Lehrgedicht regelmäßig auftritt.448 Als ihr Archeget kann Lukrez gelten, der die Konstruktion häufig verwendet und sogar explizit den methodischen Grundsatz formuliert, er wolle bei Phänomenen, deren Erklärung schwierig ist, mehrere Möglichkeiten darlegen, von denen dann eine die Wahrheit treffen müsse.449 Hintergrund dieses Vorgehens ist sein Anliegen, die Menschen von der Angst vor unverstandenen und deswegen mit göttlichem Walten assoziierten Naturphänomenen zu befreien. Hierbei kommt es ihm offenbar weniger darauf an, wie genau jedes einzelne Phänomen zu erklären ist, sondern vor allem darauf, dass das Phänomen ohne göttliches Wirken erklärbar ist.450 Von den späteren Lehrdichtern benutzt Manilius besonders oft die Aufzählung mehrerer Möglichkeiten mit sive – sive, wenn die Klärung einer Streitfrage für seine astrologische Grundüberzeugung nicht von Belang ist.451

|| 3,153–156, wo Victorius den Verweis auf die Hundeherrschaft bei den Äthiopen mit fast den gleichen Worten einführt wie das wenig später folgende Pestgleichnis (haud secus Aethiopum …, vgl. 3,310: non secus Aethiopum …). 448 Vgl. Roberts 1985, 193 Anm. 90 und Martorelli 2008, 203 Anm. 87. Martorelli widmet der Technik auch ein eigenes Kapitel (S. 147–150), in dem er jedoch nicht genauer auf das Verhältnis zum Lehrgedicht eingeht. 449 Vgl. Lucr. 5,525–531: nam quid in hoc mundo sit eorum ponere certum / difficile est; sed quid possit fiatque per omne / in variis mundis varia ratione creatis, / id doceo plurisque sequor disponere causas / … / e quibus una tamen siet hic quoque causa necessest … Stellen mit sive – sive begegnen ebenfalls gehäuft im fünften Buch, so 5,519–525; 5,575–579; 5,1244–1251; vgl. auch aut … aut in 5,651–655. 450 Vgl. Effe 1977, 74f., der die Technik im Kontext von Lukrez’ Kampf gegen die religio behandelt. 451 Manil. 1,122–146. 865–875; 3,149–145, in anderer sprachlicher Form 1,718–734, vgl. Effe 1977, 121f. Beispiele finden sich auch in Verg. Georg. (1,86–93), der Aetna (102–116; 282–292) und in den vom Lehrgedicht geprägten Teilen von Ov. Met. (1,78–81, dazu Horstmann 2014,

Einzelne Elemente der Darstellung | 171

Victorius verwendet sive-sive-Konstruktionen in nicht weniger als acht Fällen, vor allem im ersten und zweiten Buch.452 Hinzu kommen mehrere Stellen, an denen mit anderen sprachlichen Mitteln alternative Deutungen aufgeführt werden.453 Die Vermutung liegt nahe, dass Victorius auf diese Art einen augenfälligen Bezug zur Tradition lukrezischer Lehrdichtung herstellen will. Zu fragen ist allerdings, in welchen Kontexten und zu welchen Zwecken er diese Technik verwendet und inwieweit sein Gebrauch damit tatsächlich dem des Lehrgedichts entspricht. Aufnahme exegetischer Kontroversen Bei einer Durchsicht der Stellen fällt schnell auf, dass sich die sive-Konstruktionen mit einer Ausnahme454 unmittelbar an ein Ereignis der biblischen Erzählung anschließen, für das dann zwei mögliche Deutungen gegeben werden. Victorius verwendet die Konstruktion also keineswegs bevorzugt in Abschnitten, die auch inhaltliche Bezüge zur Lehrdichtung aufweisen, etwa am Anfang des ersten Buches oder in den beiden Digressionen;455 stattdessen dient ihm die Technik vor allem dazu, in sein paraphrastisch angelegtes Werk Elemente der Exegese zu integrieren, wie er es ja überhaupt sehr oft tut. Als erstes Beispiel sei die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag angeführt. Victorius knüpft hier an die Gottesrede und die Konstatierung des Schöpfungsaktes, die Gen. 1,26sq. nachbilden, weitergehende exegetische Überlegungen darüber an, wie denn diese Erschaffung im Lichte des Schöpfungsberichtes von Gen. 2 zu verstehen ist (1,163–166): || 231; 15,324–328. 342–355; die Konstruktion findet sich dort freilich auch außerhalb dieser Teile). Außerhalb der Lehrdichtung begegnen sive-sive-Konstruktionen öfter in Ovids Fasten, wenn mehrere Aitien nebeneinanderstellt werden (z. B. 2,475–480; 3,371–378; 4,170–178); es ist möglich, dass sich Victorius auch dieses Vorbilds bewusst war, doch scheint eine (vorwiegende) Anknüpfung an die Lehrdichtung angesichts der auch sonst häufigen Lukrezbezüge näherliegend. 452 Aleth. 1,100–102; 1,163–166; 1,190–197; 1,424–433; 2,119–225; 2,356–363; 2,489–492; 3,121– 138, vgl. Martorelli 2008, 147–150. 453 Verknüpfung zweier Erklärungen mit vel quod in prec. 74–81 und 1,375–380, Aufzählung mit aut – aut in 3,641, disjunktive Frage mit -ne – an in 3,783–789 (Martorelli nennt hiervon nur 1,375–380). 454 Nämlich 3,121–138, d. h. in der Digression zur Entstehung von Magie und Aberglauben (unten genauer behandelt). 455 Als Ausnahme ist außer der in der vorangehenden Anmerkung genannten Stelle auch 1,100–102 zu nennen, wo Victorius die schon von Lukrez in ähnlicher Form behandelte Frage aufgreift, ob der Mond selbst leuchtet, dazu unten S. 174.

172 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

dixerat haec [sc. deus] et factus homo, seu corpore toto, sive anima ac specie, forsan quo more futura, quo facienda facit, quo factum semper habebat 165 iam prope 〈prae〉terito quod nondum accesserat aevo. Sprach’s, und so wurde der Mensch gemacht, sei es mit ganzem Leib, sei es als Seele und als Idee, vielleicht so, wie er Künftiges, (165) wie er noch zu Machendes macht, wie er immer als Gemachtes besaß, was noch nicht ins fast schon vergangene Leben getreten war.

Ähnlich ist der Fall bei der Umsetzung von Gen. 3,7. Victorius konstatiert hier zunächst, dass die Menschen vor dem Sündenfall sich ihrer Nacktheit nicht bewusst waren (dies geht unmittelbar aus der biblischen Aussage hervor, wonach die Menschen erst jetzt ihre Nacktheit bemerkten), und schließt Deutungen an, wie es zu dieser Unwissenheit kam (1,424–433): … quippe antea degere nudis et nescire datum, sive almi plena vigoris corda rudes homines celsarum conscia rerum et caelo tantum mundoque intenta ferentes pectora ad exemplum semper conversa parentem, dum secretorum miracula divinorum paene incorporeae mentis splendore notarent, nondum contigerat membrorum cura suorum amentes meliore anima, seu corpora nulla in senium solvenda mora penetrare nequibat motus, qui sciri faceret quodcumque necesse est.

425

430

… denn vorher war es ihnen gegeben, nackt zu sein und es nicht zu wissen: Sei es, dass die neugeschaffenen Menschen (425) Herzen in sich trugen, die voll von nährender Kraft und wissend um erhabene Dinge waren und die sich nur auf den Himmel und auf das Weltall richteten, Herzen, die stets zum Vorbild, dem Vater, hingewandt waren, und dass sie, während sie die Wunder göttlicher Geheimnisse mit dem Glanz des fast körperlosen Verstandes ansahen, (430) noch nicht die Sorge um ihre eigenen Glieder getroffen hatte, da sie durch ihre bessere Seele von Sinnen waren; oder sei es, dass die Körper, die durch keine Zeit zum Greisenalter erschlaffen sollten, keine Regung durchdringen konnte, die sie all das hätte wissen lassen, was nötig ist.

Victorius setzt die Konstruktion offenbar an Stellen ein, für die mehrere Interpretationen im Umlauf waren, zwischen denen er sich nicht festlegen wollte. Die Hauptquelle für die beiden oben angeführten Beispiele ist dabei Augustinus’ Kommentar De Genesi ad litteram. Im ersten Fall (1,163–166) stammen hieraus gleich beide Deutungsmöglichkeiten. Hintergrund ist die Frage, wie die beiden Schöpfungsberichte aus Gen. 1 und Gen. 2 miteinander zu vereinbaren sind. Augustinus erwägt wie Victorius zunächst die naheliegende Ansicht, wo-

Einzelne Elemente der Darstellung | 173

nach Gott den Menschen am sechsten Tage in seinem körperlichen ‚Endzustand‘ erschuf (Gen. ad litt. 6,1), wiederlegt diese im Gegensatz zu Victorius jedoch im Anschluss (Gen. ad litt. 6,2–5). Seine eigentliche These ist die zweite, derzufolge Gott die Menschen am sechsten Schöpfungstag „unsichtbar, fähigkeitsweise und ursächlich“, erst danach hingegen sichtbar schuf (Gen. ad litt. 6,6), und wie der Fortgang bei Victorius zeigt, hängt auch dieser trotz des scheinbar untentschiedenen seu – sive letztlich dieser Ansicht an.456 Im zweiten Beispiel (1,424–433) hat zumindest die erste Deutung eine Paralle bei Augustinus, der in ähnlicher Weise die Ausrichtung nach oben als Grund für das Unwissen um die Nacktheit anführt.457 Zwei Fälle mit inhaltlichem Bezug zum Lehrgedicht Diesen der Bibelexegese verpflichteten Stellen, denen sich noch weitere hinzufügen ließen,458 stehen nur zwei Fälle gegenüber, die auch inhaltlich eher dem

|| 456 Vgl. besonders 6,6,10: redeat ergo ad scripturam, inveniet sexto die hominem factum ad imaginem dei, factos autem masculum et feminam. item quaerat, quando facta sit femina, inveniet extra illos sex dies; … ergo et tunc et postea. … quaeret ex me: quomodo postea? respondebo: visibiliter, sicut species humanae constitutionis nota nobis est, non tamen parentibus generantibus, sed ille de limo, illa de costa eius. quaeret: tunc quomodo? respondebo: invisibiliter, potentialiter, causaliter, quomodo fiunt futura non facta (vgl. Hovingh 1955, 125 und Papini 2006, 49 Anm. 11). Vgl. bei Victorius besonders die Formulierung in V. 165f. (futura, / … facienda). Dass Victorius die zweite Deutung vertritt, zeigt sich in V. 187–190, wo er diese voraussetzt. 457 Aug. Gen. ad litt. 11,34: quos tamen [sc. deus] numquam permisit advertere nuditatem suam eorum intentionem in superna sustollens, nisi post peccatum pudendum in membris motum poenali membrorum lege sensissent. Vgl. bei Victorius besonders V. 427: caelo tantum mundoque intenta; vgl. Papini 2006, 60 Anm. 21. 458 In 1,190–199 geht es um die Frage, ob Gott den Menschen tatsächlich am siebten Tage erschuf, wie eine chronologische Lektüre von Gen. 1sq. nahelegt. Victorius erwägt erst, der siebte Tag sei für Gott derselbe wie der sechste (seu cum sic septima currat, / ut maneat quoque sexta dies, quia sexta profecto / hoc quod prima deo est praesto omnia semper habenti …), womit er Augustinus’ Simultantheorie aufgreift, nach der die sechs Schöpfungstage eigentlich nur Wiederholungen desselben Tages sind (vgl. besonders Gen. ad litt. 4,33: istos dies sex vel septem, vel potius unum sexies septiesve repetitum, simul fecit, qui fecit omnia simul). Nach der zweiten Deutung bringt die Erschaffung des Menschen durch Gottes eigenes Tun die besondere Stellung des Menschen zum Ausdruck (… sive, ut nos merito rebus praestare creatis, / quos facit ipse manu, doceat …), eine Interpretation, die Augustinus nur ablehnend referiert (Gen. ad litt. 6,12: nec illud audiendum est, quod nonnulli putant, ideo praecipuum dei opus esse hominem, quia cetera dixit, et facta sunt, hunc autem ipse fecit, sed ideo potius, quia hunc ad imaginem suam fecit). In 2,221–224 führt Victorius zwei mögliche Gründe für die Verwerfung von Kains Opfer an (seu quod votas praelegerit ante / pollueritque dapes seu totum tempore in uno /

174 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

Lehrgedicht entsprechen. Der erste Fall – es ist überhaupt das erste Vorkommen der Konstruktion in der Alethia – findet sich in der Behandlung des vierten Schöpfungstages. Victorius knüpft hier zwar an ein Stichwort des Bibeltextes an, nämlich den Mond, allerdings weist die gesamte Kosmogoniedarstellung eine gewisse Affinität zum Lehrgedicht auf (dazu genauer in Kap. 2.2.1), und die Frage, der Victorius in den betreffenden Versen nachgeht, gehört eher in den Bereich der Astronomie als der Exegese (1,100–102): lunaque, noctis honor, proprio seu lumine fulsit seu veniente globo radios percussa refudit, inferiore via soli subiecta pependit …

100

Und der Mond, Zier der Nacht, sei es, dass er aus eigenem Licht erstrahlte, sei es, dass er vom Kommen des Sonnenballs getroffen die Strahlen zurückstößt, schwebte auf niederer Bahn, der Sonne untergeordnet …

Das Vorbild für die Verse ist leicht auszumachen: Es ist Lukrez, der im fünften Buch, also auch in kosmogonisch-kosmologischem Kontext, und ebenfalls in Form einer sive-Konstruktion, dieselben beiden Möglichkeiten aufzählt (Lucr. 5,575sq.):459 lunaque sive notho fertur loca lumine lustrans, sive suam proprio iactat de corpore lucem … Und der Mond, sei es, dass er mit fremdem Licht dahinzieht und Orte erleuchtet, sei es, dass er sein eigenes Licht von seinem Körper verbreitet …

Eine weitere sive-Konstruktion, die einen Berührungspunkt mit der Lehrdichtung aufweist, begegnet in der Digression des dritten Buches, die sich, wie spä-

|| cernenti reus est praesens quandoque futurus / mente nocens), offenbar in Anlehnung an Ambrosius’ Schrift De Cain et Abel, wo fast dieselben Gründe aufgeführt werden (wobei es hier konkreter heißt, Kain habe Gott nicht die Erstlingsgaben, sondern spätere Früchte dargebracht; vgl. zum Nebeneinander beider Erklärungen besonders Cain et Ab. 1,7,25: duplex culpa: una quod post dies optulit, altera quod ex fructibus, non ex primis fructibus, sacrificium autem et celeritate conmendatur et gratia, auch angeführt von D’Auria 2012, 107). 459 Vgl. Martorelli 2008, 148 mit Anm. 190. Hovingh 1955, 114 möchte Victorius’ Zweifel dagegen damit erklären, dass der Bibeltext eher die erste Ansicht nahezulegen scheine, der von Victorius oft als Quelle gebrauchte Ambrosius dagegen die zweite vertrete (Hovingh gibt keine konkrete Stelle an, denkt aber vermutlich an Hex. 4,8,32, wo der Mond in dieser Hinsicht mit der Kirche verglichen wird, die Gottes Licht widerspiegelt). Dass Victorius sich auch von diesen Überlegungen beeinflussen ließ, ist natürlich nicht auszuschließen, doch wäre die Lukrezstelle auch für sich eine hinreichende Erklärung für Aleth. 1,100–102.

Einzelne Elemente der Darstellung | 175

ter genauer zu zeigen sein wird, in gewisser Hinsicht als Pendant zu Lukrez’ Religionstheorie lesen lässt (vgl. unten Kap. 2.2.3.5). Victorius behandelt hier unter anderem die Frage, wie Wahrsagerei zu erklären ist (3,121–138). Dabei erwägt er drei Möglichkeiten, von denen sich die zweite, wonach die „einfache Bewegung der Welt“ alles mit sich bringe, tatsächlich auch mit Ansichten des Lukrez vergleichen lässt (seu simplex potius mundi fert omnia motus, 3,135; die erste und dritte Möglichkeit, wonach Gott selbst Zeichen in der Schöpfung angelegt habe oder der Teufel die Menschen zum Glauben an die Macht von Sternen u. ä. verführe, sind dagegen der patristischen Literatur verpflichtet, vgl. die Analyse in Kap. 2.2.3.5). Einander ausschließende oder ergänzende Möglichkeiten? Was den Kontext der sive-Stellen angeht, war nur in wenigen Fällen eine Nähe zum Lehrgedicht zu beobachten. Hinzu kommt ein weiterer Unterschied, der mit der Verwendung in exegetischen Kontexten zusammenhängt: Lukrez’ eigener Aussage zufolge trifft von den mehreren genannten Möglichkeiten jeweils nur eine die Wahrheit (vgl. Lucr. 5,531). Dies gilt auch für gewisse sive-Stellen bei Victorius, etwa für die oben genannten Überlegungen zum Leuchten des Mondes (1,100–102) und zur Erschaffung des Menschen (1,163–166).460 In der Mehrzahl der Fälle schließen sich die von ihm genannten Erklärungsmöglichkeiten jedoch nicht zwingend aus, sondern können auch beide zutreffen, sodass man den Eindruck hat, dass lediglich verschiedene Aspekte oder Ebenen des behandelten Geschehens beleuchtet werden sollen.461 Besonders deutlich ist dies bei den Erklärungen dafür, dass Gott die Sintflut nur langsam sinken ließ (2,488–492): … clausorum omnipotens miserans decedere magnum paulatim iussit pelagus, seu parcere cunctis,

|| 460 Im letztgenannten Fall lässt sich sogar mit einiger Sicherheit sagen, welche Alternative Victorius für die richtige hält, nämlich die zweite, augustinische, da er auf dieser die Darstellung des siebten Schöpfungstages aufbaut (vgl. besonders 1,188, wonach der Mensch erst jetzt mit einem Körper versehen wird: primumque hominem iam corpore donat). Echte Alternativen liegen auch in der aut – aut-Konstruktion in 3,641 vor (Gott erscheint Abram aut verum aut qualem norat se posse videri). 461 Dies beobachtet auch Martorelli 2008, 147, der – vielleicht etwas zu allgemein – formuliert: „Le soluzioni non sono presentate in genere come rigide alternative, bensì come differenti piani di lettura, ciascuno adatto a mettere in luce una particolare implicazione del fatto commentato.“

176 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

quas poterat fugiens raptim subvertere, terris seu clausis voluit, sensim quos unda relabens tutius in sedem stabilem subducta locaret.

490

… da erbarmte sich der Allmächtige über die Eingeschlossenen und befahl der großen See, allmählich zu weichen, sei es, dass er sämtliche Länder, (490) die sie bei reißender Flucht hätte fortwälzen können, sei es, dass er die Eingeschlossenen schonen wollte, die die Woge durch langsames Sinken sicherer auf einen festen Platz setzen sollte, nachdem sie gesunken ist.

Die Schonung der Erde und der Eingeschlossenen schließt sich sicher nicht aus, vielmehr geht beides Hand in Hand, und so kann man auch leicht annehmen, dass Gott beides im Sinn hatte und beide Interpretationen gleichermaßen berechtigt sind. Ähnlich ist der Fall bei den oben zitierten Überlegungen, warum die Menschen vor dem Sündenfall nicht ihre Nacktheit bemerkten (1,424–433): Auch hier schließt es sich nicht unbedingt aus, dass die Menschen zuvor nur auf Gott ausgerichtet waren und dass ihre alterslosen Körper noch keine Bedürfnisse spürten. Möglicherweise sind auch die drei Erklärungen zur Wahrsagerei in der Digression des dritten Buches (3,121–138) nicht als strikte Alternativen gemeint, wäre es doch denkbar, dass teils Gottes Zeichen, teils die Bewegung der Welt und teils die Machenschaften des Teufels Weissagungen ermöglichen.462 Ähnliches gilt für die übrigen Fälle, wenngleich sich nicht immer mit Sicherheit sagen lässt, ob Victorius an sich ausschließende oder sich ergänzende Möglichkeiten denkt.463 Klar ist jedenfalls, dass sich die sive-

|| 462 Victorius scheint freilich der dritten Erklärung zuzuneigen, da er an diese seine weiteren Ausführungen anknüpft (3,139–165, wo der Teufel auch schließlich wieder zum Subjekt wird). 463 So geht es in 1,190–197 um die Frage, wie nach dem Anbruch des siebten Tages noch die Erschaffung des Menschen berichtet werden kann: Nach der ersten Erklärung steht Gott außerhalb der Zeitlichkeit, nach der zweiten will er betonen, dass er den Menschen durch eigene Arbeit schafft; ob sich dies ausschließen oder ergänzen soll, bleibt ungewiss. In 2,221–225 werden Erklärungen dafür erwogen, dass Gott Kains Opfer verwarf: Nach der ersten befleckte er die Gaben durch Auswählen, nach der zweiten machte er sich durch Gedanken schon jetzt schuldig; beides könnte zugleich zutreffen, doch wäre eine Möglichkeit als Erklärung ausreichend. In 2,356–363 wird das Entstehen von Riesen erklärt, wobei Gott nach der ersten Erklärung zeigen wollte, dass die Menschen mehr von ihrer „rohen Mutter“ haben, nach der zweiten, dass die Lebensgabe nun vom ganzen Menschen auf den Körper übergegangen sei; vermutlich können beide Erklärungen zugleich zutreffen. Auch bei der disjunktiven Frage in 3,783–789 (bedeutet das Feuer und Wasser bei der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas, dass Gott die Schuldigen mit allen Elementen vernichten wollte, oder hat das Wasser eine typologische und eschatologische Bedeutung?) lassen sich beide Deutungen vereinbaren.

Zwischenfazit | 177

Konstruktionen bei Victorius auch in dieser Hinsicht deutlich vom Lehrgedicht unterscheiden. Zusammenfassung Insgesamt ergibt sich bei den sive-Konstruktionen ein gemischtes Bild: Sprachlich erinnert die regelmäßige Verwendung der Konstruktion stark ans Lehrgedicht und vor allem an Lukrez, inhaltlich und funktional heben sich die Stellen jedoch vom Lehrgedicht ab, insofern sie meist Fragen der Bibelexegese aufgreifen und oft keine echten Alternativen, sondern lediglich sich ergänzende Aspekte nebeneinanderstellen. Die Anknüpfung ans Lehrgedicht ist also vorwiegend formaler Art. Immerhin bleibt – mutatis mutandis – hinsichtlich der inneren Haltung eine gewisse Parallele zu Lukrez bestehen: Kam es diesem darauf an, dass alle Naturphänomene natürlich erklärbar sind, auch wenn die konkrete Erklärung in einzelnen Fällen unsicher ist, so geht es Victorius darum, dass das in der Bibel berichtete Geschehen theologisch sinnvoll und erklärbar ist und dass hinter allem ein gütiger und den Menschen zugewandter Gott steht – auch wenn in einigen Fällen verschiedene Deutungen möglich sind, die sich teils ausschließen, teils ergänzen, in jedem Fall aber keine Festlegung des Dichters erfordern.464

1.4 Zwischenfazit Der erste Teil dieser Arbeit hat zu zeigen versucht, wie Victorius in seiner poetischen Technik teils dem Vorbild des Epos, teils dem des Lehrgedichts folgt. Die Orientierung am Epos zeigte sich vor allem in der narrativen Anlage des Werks (Kap. 1.1.3), dem Streben nach epischer Einheit (Kap. 1.1.4), der beteiligten Erzählweise (Kap. 1.2.1) sowie in der Verwendung von Ekphraseis (Kap. 1.3.1.1), Beinahe-Episoden (Kap. 1.3.1.2), Pro- und Analepsen (Kap. 1.3.1.3), Reden (Kap. 1.3.2.1), Katalogen (Kap. 1.3.2.2) und Gleichnissen (Kap. 1.3.2.3). Die Annäherung an das Lehrgedicht wurde besonders deutlich in der hymnischen Werkeinleitung (Kap. 1.1.1), dem Proöm vor dem zweiten Buch (Kap. 1.1.2) und den lehrhaf|| 464 Diese Haltung formuliert Victorius an einer Stelle sogar explizit (freilich nicht im Kontext einer sive-Konstruktion, sondern nach der Rede des interlocutor in 1,77–79, vgl. unten S. 243): talis sed quaerere causas / mens fuge nostra procul; plus sit tibi credere semper / posse deum quicquid fieri non posse putatur. Entscheidend ist also der Glaube an Gottes Allmacht, nicht die genaue Erklärung. Vgl. auch Homey 1972, 120, der eine ähnliche Haltung in der Reflexion nach der Sintfluterzählung beobachtet.

178 | Die poetische Technik vor dem Hintergrund von Epos und Lehrgedicht

ten Zusätzen zur Erzählung (Kap. 1.1.3), ferner mit gewissen Einschränkungen in der Einbeziehung des Adressaten (Kap. 1.2.1), den Elementen von poetic selfconsciousness und poetic simultaneity (Kap. 1.2.2), bestimmten Reden (Kap. 1.3.2.1), Katalogen (Kap. 1.3.2.2) und Gleichnissen (Kap. 1.3.2.3) und schließlich in der Verwendung von sive-Konstruktionen (Kap. 1.3.3). Insgesamt war über die drei Bücher hinweg eine Entwicklung hin zu einer stärker dem Epos entsprechenden Darstellungsweise zu beobachten. Wichtig anzumerken ist bei alledem, dass Victorius der jeweiligen Vorbildgattung oft nur partiell folgt. Im Hinblick auf das Epos fiels beispielsweise auf, dass Victorius zwar eine ausführliche Ekphrasis in sein Werk einfügt, hierin aber auf ganz andere Gesichtspunkte Wert legt, als es das traditionelle Epos tut, oder dass er sein Werk zwar mit ausgefeilten Reden ausstattet, diese aber meist anders als im Epos üblich gestaltet. Was das Lehrgedicht angeht, ist etwa an die precatio zu denken, in der Victorius Lukrez zugleich imitiert und sich von ihm abgrenzt und in der sich lehrdichterische und christliche Proömialtopik miteinander vermischen. Erinnert sei auch an die Einbeziehung des Adressaten, die an sich der Lehrdichtung entspricht, aber weitestgehend durch andere Mittel als dort erreicht wird, ferner an die sive-Konstruktionen, die sich zwar formal ans Lehrgedicht und besonders an Lukrez anlehnen, in Kontext und Funktion aber in eine deutlich andere Richtung gehen. Dafür, dass sich die poetische Technik der Alethia gerade in den Bereichen, in denen sie Einflüsse aus dem Epos oder dem Lehrgedicht aufzugreifen scheint, in mancherlei Hinsicht vom Brauch der beiden Gattungen unterscheidet, lassen sich verschiedene Gründe anführen. Zunächst ist zu bedenken, dass Victorius als christlicher Bibeldichter die weltanschaulichen Prämissen seiner paganen Vorbilder nur eingeschränkt teilt. So ist etwa die von lehrdichterischen Eingangshymnen abweichende Gestaltung der Anrufung und Doxologie in der precatio oder die unepische Darbietung der Gottesreden durch Victorius’ jüdisch-christliches Gottesbild zu erklären. Hinzu kommt, dass Victorius als Bibeldichter auch an die jüdische und christliche Bibelexegese anknüpft. Nicht wenige epische oder lehrdichterische Darstellungselemente – so die Ekphrasis, die meisten Katalogen und Prolepsen und fast alle sive-Konstruktionen – transportieren exegetische Inhalte und sind dementsprechend teilweise auch anders gestaltet als ihre paganen Pendants. Ein weiterer, für das Thema dieser Arbeit besonders interessanter Grund für die Eigenheiten der poetischen Technik ist darin zu sehen, dass Victorius vielfach Darstellungsweisen des Epos und des Lehrgedichts miteinander vermischt. Dies gilt bereits auf ganz allgemeiner Ebene: Erzählung und Lehre sind meist so eng miteinander verknüpft, dass weder eine reine Erzählung vorliegt, wie man

Zwischenfazit | 179

sie als Grundform des Epos erwartet, noch eine reine Lehre, wie sie, von vereinzelten narrativen Einlagen abgesehen, im Lehrgedicht üblich ist. Im Konkreten ließ sich die Vermischung von Epischem und Lehrdichterischem beispielsweise darin erkennen, dass Victorius in episch anmutenden Katalogen oder Gleichnissen Themen behandelt, die eigentlich der Lehrdichtung zuzuordnen sind (oder sogar tatsächlich in der Lehrdichtung behandelt wurden, wie im Falle des Pestgleichnisses, vgl. Kap. 1.3.2.3). Überdies ist daran zu erinnern, dass Victorius, so vertraut er mit klassischen Autoren wie Lukrez oder Vergil sein mag, auch von den literarischen Entwicklungen seiner Zeit beeinflusst ist, und zwar vor allem von der Entwicklung des Epos. Am deutlichsten wird dies an seiner subjektiv-emotionalen Erzählweise, die in vielem an Lukan erinnert, damit aber zugleich den Tendenzen der spätantiken Epik entspricht. Spätantiker Geschmack zeigt sich auch in der Neigung zu wenigen, dafür aber breit ausgeführten Reden und in der Vorliebe für Kataloge und Systematisierungen. Auch die Vermischung epischer und lehrdichterischer Erzähltechniken passt gut zu den literarischen Entwicklungen der Spätantike, die generell zur Aufweichung der Gattungsgrenzen neigt (wobei gerade die Grenzen zwischen den Hexametergattungen nie ganz scharf gezogen waren).465 Als aufschlussreich hat sich schließlich ein Vergleich mit der in der Spätantike so verbreiteten panegyrischen Epik erwiesen. Wie das panegyrische Epos darauf abzielt, eine bestimmte Person durch eine gefärbte Darstellung der Ereignisse in ein möglichst günstiges Licht zu rücken, so geht es der Alethia darum, Gott durch eine kommentierende und wertende Erzählung zu verherrlichen; und wie im panegyrischen Epos – begünstigt durch die Rezitationssituation – dem „Du“ des zu preisenden Menschen gegenüber der Dichter, das Publikum und die intradiegetischen Figuren zu einem „Wir“ verschmelzen, so steht in der Alethia dem oft als „Du“ angeredeten Gott das „Wir“ der Menschen innerhalb und außerhalb der Erzählung gegenüber. Victorius – und dies lässt sich weitgehend auf die gesamte Bibeldichtung übertragen – schafft somit eine christliche Gegenform zur verbreiteten panegyrischen Epik, wobei als Grundlage statt ephemerer zeitgeschichtlicher Ereignisse die als überzeitlich bedeutsam empfundene biblische Erzählung dient.

|| 465 Vgl. z. B. Roberts 1989, 60, der, ausgehend von der Ausbreitung von enumerationes in der Spätantike von einem „blurring of genre distinctions typical of that period“ spricht. Zur Flexibilität der Hexametergattungen siehe z. B. Schindler 2009, 24–26.

2 Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition Nachdem die Alethia im ersten Teil dieser Arbeit auf ihre poetische Technik hin untersucht wurde, soll es nun um inhaltliche Bezüge zu Epos und Lehrgedicht gehen. Da die jeweiligen Inhalte meist klar mit dem Epos oder dem Lehrgedicht in Verbindung stehen, bietet sich eine Zweiteilung an: Zunächst sollen Szenen betrachtet werden, die einen Bezug zur epischen Tradition aufweisen (Kap. 2.1). Größtenteils handelt es sich dabei um typische Szenen des Epos, mehrfach spielen jedoch auch konkrete epische Vorbilder eine Rolle, an denen Victorius sich zu orientieren scheint. Anschließend werden Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition in den Blick genommen, wobei es sich ebenfalls im Großen und Ganzen um typische Themen des Lehrgedichts handelt, für die im Einzelnen jedoch konkrete Vorbilder relevant sein können (Kap. 2.2). Ziel der folgenden Seiten ist nicht, die Alethia erschöpfend auf die Verarbeitung epischer Szenen bzw. lehrdichterischer Themen zu untersuchen; vielmehr sollen ausgewählte längere Partien betrachtet werden, die in auffälliger Weise mit einer der beiden Traditionen in Verbindung stehen, diese dafür aber möglichst eingehend. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Victorius als christlicher Bibeldichter die Modelle der paganen Tradition verarbeitet und wie er sich so zu den beiden Gattungen positioniert. Einige weitere, meist kürzere Stellen, die sich ebenfalls mit Epos oder Lehrgedicht in Verbindung bringen lassen, interpretatorisch aber weniger ergiebig sind, müssen hierbei ununtersucht bleiben.466

|| 466 Zum Epos ließen sich etwa ergänzen: 2,420–424 (Fällen von Bäumen für die Arche; Baumfällen für den Schiffbau begegnet z. B. in Hom. Od. 5,228–245; Verg. Aen. 3,5sq.; 9,80–92; Ov. Fast. 4,273sq., noch häufiger ist das Baumfällen für Scheiterhaufen; für weitere Stellen siehe E. A. Schmidt, Vergil und episches Holzfällen. Zu einer unerkannten Technik poetischer Verdichtung, Hyperboreus 3 [1997], 57–81; Roberts 1985, 210 Anm. 37 führt als Vorbild Verg. Aen. 6,179–182 an, wofür es jedoch keine konkreten Anhaltspunkte gibt, vgl. Green 2010, 61); 3,246 (Andeutung eines Götterrats, sehr oft im mythologischen Epos). – Zum Lehrgedicht wären vor allem weitere Stellen mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung anzuführen, so 3,50–56 (Zustandekommen des Regenbogens, auch beschrieben in Lucr. 6,524–526, vgl. Papini 2006, 93 Anm. 3); 3,550–554 (Beschaffenheit von Kometen, in einem Gleichnis, vgl. oben S. 163); 3,733– 781 (Zerstörung von Sodom und Gomorrha mit Details über das Verhalten des Feuers u. a.); zur zwischen Epos und Lehrgedicht stehenden Sintflutbeschreibung vgl. Kap. 2.1.5.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 181

2.1 Szenen mit Bezug zur epischen Tradition 2.1.1 Gebet in epischer Form (2,42–89) Am Beginn der langen Digression, die das zweite Buch eröffnet, schildert Victorius eingehend die Gefühle und Gedanken der aus dem Paradies vertriebenen ersten Menschen, die sich nun in einer viel raueren Umgebung wiederfinden und sich zahlreichen Beschwernissen ausgesetzt sehen. Zu diesem Abschnitt gehört auch ein 48 Verse umfassendes Gebet, das Adam an Gott richtet. Gebetsszenen, speziell solche, in denen eine Figur aus Not und Problemen heraus eine Gottheit um Hilfe bittet, gehören bekanntlich zu den typischen Szenen des paganen Epos, das seit Homer zahlreiche Beispiele bietet.467 Wir greifen mit dem Gebet also eine erste Partie, in der Victorius sich an vergleichbaren Szenen im Epos orientieren konnte. Inwieweit er dies tat und inwieweit sich andere Einflüsse, besonders solche aus der Lehrdichtung, in das Gebet mischen, soll auf den folgenden Seiten geklärt werden. Strukturelle Parallelen zu epischen Gebeten Betrachten wir zunächst die Struktur des Gebets. Epische Gebete folgen, eine entsprechende Länge vorausgesetzt, meist wie auch andere antike Gebete grob dem dreiteiligen Schema aus invocatio, pars epica und preces, das in der Analyse der precatio dargestellt worden ist (vgl. oben S. 25 mit Literatur). Unterschiede zu den dort im Zentrum stehenden selbständigen Hymnen ergeben sich daraus, dass die Gebete im Epos in aller Regel in eine konkrete erzählerische Situation eingebettet sind. In der pars epica begegnen daher neben Appellen an || 467 So schon gleich zu Beginn der Ilias, wo Chryses in seiner Not Apollon anruft (Il. 1,37–42; J. V. Morrison, The function and context of Homeric prayers. A narrative perspective, Hermes 119 [1991], 145–157, hier 147f. mit Anm. 5 nennt 30 Gebete in direkter Rede in den beiden homerischen Epen, die größtenteils denselben Typus aufweisen). Die folgende epische Tradition ist stark von der homerischen Praxis geprägt; um die Häufigkeit von Elementen im lateinischen Epos zu illustrieren, seien exemplarisch die Gebete aus den ersten beiden Büchern der Aeneis genannt: 1,327–334 (Aeneas); 603–605 (Aeneas); 1,731–735 (Dido); 2,190sq. (Sinon); 2,535–539 (Priamos); 2,689–691 (Anchises); 2,701–703 (Anchises; alle Gebete aus der Aeneis sind zusammengestellt bei Hickson 1993, 161–166. 171f. 177f.). Situation und Atmosphäre des hier vorliegenden Gebetes erinnern bis zu einem gewissen Grad an das Gebet Deukalions und Pyrrhas nach dem Ende der Flut in Ov. Met. 1,377–380: Ein einzelnes Paar versucht sich in einer völlig veränderten Welt zurechtzufinden und sucht Hilfe von göttlicher Seite (vgl. da … auxilium, Aleth. 2,84 mit fer opem, Met. 1,380); bei Ovid geht dem kurzen Gebet freilich eine längere Rede Deukalions an Pyrrha voraus (Met. 1,351–366), während Adam sich direkt an Gott wendet.

182 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

das Mitleid und die Gerechtigkeit des Gottes468 oft Verweise auf die bisherigen Taten des Beters für den Gott (seltener des Gottes für den Beter) oder allgemein auf die Leistungen und Mühen des Beters.469 Möglich ist auch, dass der Beter, meist am Ende des Gebets, eine Gegenleistung für die Hilfe des Gottes in Aussicht stellt oder einen Ausblick auf die positiven Folgen eines göttlichen Eingreifens gibt.470 Die preces hängen ganz von der jeweiligen Situation ab und fallen dementsprechend meist konkreter als im Hymnus aus. Adams Gebet entspricht dem dreiteiligen Schema in groben Zügen, wenngleich dieses durch Wiederholungen gestreckt ist: Auf die relativ knappe invocatio (V. 42sq.) folgt eine erste pars epica, in der Adam Gottes Allgegenwart betont, die eine Voraussetzung für die Erhörung des Gebets ist (V. 43–53). Nach einer neuerlichen Anrede und allgemeinen Bitte um Erhörung (V. 54–56) folgt eine weitere pars epica, in der Adam den Hergang des Sündenfalls und seine Zerknirschung angesichts des Vergehens darstellt (57–72). Anschließend legt Adam seine eigentlichen Bitten dar, in denen es um Hilfe beim Pflanzenanbau geht, ohne die die ersten Menschen verhungern würden (preces, V. 72–84). Am Schluss stellt Adam, ähnlich wie in einigen epischen Gebeten, ‚Gegenleistungen‘ in Aussicht, nämlich dass Eva (durch Gehorsam und die schmerzliche Ge-

|| 468 Beispiele zur Veranschaulichung: Verg. Aen. 2,536sq. (di, si qua est caelo pietas quae talia curet, / persolvant grates dignas …); 2,689 (precibus si flecteris ullis); Ov. Met. 1,377 (si precibus … numina iustis / victa remollescunt, si flectitur ira deorum …); Val. Fl. 5,19 (si nostri te cura movet …). 469 Beispiele: Hom. Il. 1,39–41 (Chryses verweist auf seine Taten für den Gott: εἴ ποτέ τοι χαρίεντ’ ἐπὶ νηὸν ἔρεψα, / ἠ’ εἰ δή ποτέ τοι κατὰ πίονα μηρί’ ἔκηα / ταύρων ἠδ’ αἰγῶν, τὸ δέ μοι κρήηνον ἐέλδωρ ...); 1,453–455 (Chryses verweist auf frühere Taten des Gottes für ihn: ἠμὲν δή ποτ’ ἐμέο πάρος ἔκλυες εὐξαμένοιο· / τίμησας μὲν ἐμέ, μέγα δ’ ἴψαο λαὸν Ἀχαιῶν· / ἠδ’ ἔτι καὶ νῦν μοι τόδ’ ἐπικρήηνον ἐέλδωρ ...); Verg. Aen. 9,406–409 (Nisus verweist auf seine und seines Vaters Leistungen: si qua tuis umquam pro me pater Hyrtacus aris / dona tulit, si qua ipse meis venatibus auxi / suspendive tholo aut sacra ad fastigia fixi, / hunc sine me turbare globum et rege tela per auras); 2,690sq. (Anchises führt seine pietas an: si pietate meremur, / da deinde auxilium …); Stat. Theb. 1,60–62 (Ödipus an Tisiphone über ihre frühere Hilfe: si bene quid merui, si me de matre cadentem / fovisti gremio et traiectum vulnere plantas / firmasti …). 470 Beispiele: Hom. Il. 6,308–310 (Theano an Athene: … ὄφρά τοι αὐτίκα νῦν δυοκαίδεκα βοῦς ἐνὶ νηῷ / ἤνις ἠκέστας ἱερεύσομεν, αἴ κ’ ἐλεήσῃς / ἄστύ τε καὶ Τρώων ἀλόχους καὶ νήπια τέκνα); Verg. Aen. 1,334 (Aeneas an die unerkannte Venus: multa tibi ante aras nostra cadet hostia dextra); Aen. 8,76 (Aeneas an den Tiber: semper honore meo, semper celebrabere donis; vgl. die Zusammenstellung der Gelübde in der Aeneis bei Hickson 1993, 171f.); Val. Fl. 1,88–90 (Iason an Iuno und Minerva: vestris egomet tunc vellera templis / illa dabo, dabit auratis et cornibus igni / colla pater niveique greges altaria cingent); Stat. Theb. 1,86sq. (Ödipus an Tisiphone: nec tarda sequetur / mens iuvenum: modo digna veni, mea pignora nosces).

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 183

burt) und die gemeinsamen Nachkommen (durch ihren Tod) die Schuld weiter sühnen werden (V. 85–89). Sprachliche Parallelen zu epischen Gebeten Mit der Übernahme der traditionellen Struktur gehen sprachliche Parallelen zu epischen Gebeten einher. Dies gilt bereits für die Anrede omnipotens auctor mundi rerumque creator … (2,42). Die im Hexameter bequem zu verwendende Anrede omnipotens findet sich in zahlreichen epischen Gebeten, besonders bei Vergil, kann also als epostypisch gelten (wenngleich sie nicht auf epische oder auch nur auf pagane Gebete beschränkt ist, vgl. oben S. 29f.).471 Eine auffällige Anlehnung an traditionelle Gebetsformen zeigt auch die zweite pars epica (2,56–69): exaudi miseros, quos semper cernis et audis, si, cum me parti damnatae adnectere vellet ille caput scelerum, mundi reus et suus hostis, nil per se solum, ne victus cederet, ausus, serpentis miseram, cui mens incauta, per artem meque per affectum, quem sexus sentit uterque, artificis scelerum fraus improvisa subegit et, cum damnarer iusta pro crimine poena, sic piguit culpae, tanto mens icta dolore indignata sibi est, ut te, mitissime iudex, tunc mihi vindictam de me praestare putarem. idcirco et gemitus causae lacrimasque negavi, indignum venia quia me reus ipse probabam …

60

65

Erhöre uns Arme, die du immer siehst und hörst, wenn – als jener mich an die schändliche Seite binden wollte, er, das Haupt der Vergehen, der schuldig an der Welt und sein eigener Feind ist, der nichts alleine wagt, damit er nicht weicht als Verlierer –, (60) 〈wenn da also〉 unvermuteter Betrug des Verbrechensmeisters die Arme, deren Sinn unbedacht war, durch die List der Schlange und mich durch das Gefühl, das beide Geschlechter spüren, bezwungen hat, und wenn ich, als ich mit einer gerechten Strafe für den Fehltritt be-

|| 471 Vgl. z. B. Verg. Aen. 2,689, wo Anchises sein Gebet mit der Anrufung Iuppiter omnipotens beginnt. Auch andere Figuren eröffnen ihre Gebete mit derselben Junktur, vgl. 4,206 (Iarbas); 5,687 (Aeneas); 9,625 (Ascanius). Ohne die Junktur begegnet die Anrede noch in 10,668 (am Beginn eines Gebets des Aeneas: omnipotens genitor) sowie 11,790 (mitten im Gebet des Arruns an Apoll). Nach Vergil ist vergleichbar: Stat. Theb. 3,471 (im Gebet des Amphiaraos, wieder in der Junktur Iuppiter omnipotens) und 4,383 (Bacchanalienführerin an Bacchus: omnipotens Nysaee pater …); Val. Fl. 1,81 (Iason an Iuno: omnipotens regina …) und 8,70 (Medea an den Schlaf: Somne omnipotens …).

184 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

legt wurde, meine Schuld so bereute und mein Sinn, von solchem Schmerz getroffen, (65) sich so erregte über sich selbst, dass ich, o mildester Richter, meinte, du würdest mir jetzt vor mir selber Rettung verschaffen. Deshalb habe ich meiner Sache auch Seufzen und Tränen verweigert, weil ich mich als Angeklagter selbst für keiner Nachsicht würdig erklärte …

Die Konstruktion der pars epica mit einem Konditionalsatz ist seit Homer weitverbreitet und auch im lateinischen Epos vielfach belegt, sodass man auch hier von einer epostypischen Ausdrucksform sprechen kann.472 Auffällig ist freilich – deshalb musste die Passage so ausführlich zitiert werden –, dass Adam gerade nicht seine Würdigkeit und Verdienste darlegt, die so viele epische Beter, gerade in den traditionellen Konditionalsätzen, zur Legitimierung ihrer Bitten anführen, sondern sich im Gegenteil sogar für mitleidunwürdig erklärt (V. 69). Trotz der sprachlichen Nähe zum paganen Epos ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch hier offenbar ein anderes als dort: Um die Bitte zu legitimieren, kommt es nicht auf eigene Leistungen, sondern auf Reue an. Letztlich dient die Partie damit zwar wie in paganen Gebeten dazu, die folgenden Bitten zu legitimieren, weil Adam durch seine Zerknirschung an Gottes Gnade appelliert, doch mischt sich hier unverkennbar christliche Theologie in die pagane Gebetsform. Schließlich erinnert auch die Formulierung der Bitten mit dem fast schon formelhaften da und der Anrede pater an traditionelle Gebetsformulierungen (2,83sq.): da menti, quae sint herbae, quae forma laboris, da, pater, auxilium miserans atque imbue sensus. Zeig dem Verstand, was die Pflanzen sind, was die Gestalt der Mühsal ist, gib, dich erbarmend, Hilfe, o Vater, und erfülle473 das Denken.

Hier ist es vor allem das Incipit da pater, das auf epische Vorbilder verweist, wenngleich die Bitten thematisch, wie noch zu zeigen sein wird, eher in die Richtung des Lehrgedichts gehen.474 Insgesamt ergibt sich so, wenn auch sehr || 472 Vgl. bei Homer z. B. Il. 1,39 (vgl. Anm. 469); 1,503; 5,116; Od. 3,98; zur lateinischen Epik siehe die in Anm. 468f. zitierten Stellen. 473 In diesem Sinne auch Staat („doordring“); anders Papini („educa“). Beide Übersetzungen von imbuere sind sprachlich und inhaltlich möglich (vgl. zum Bedeutungsspektrum ThLL s. v. imbuo p. 428,34–37), und Victorius benutzt das Verb auch sonst in beiden Bedeutungen (‚erfüllen‘ z. B. 1,491, ‚unterweise‘ 2,330, dort allerdings mit Infinitiv). 474 Vgl. Verg. Aen. 3,89 (die Stelle steht Victorius auch klanglich nahe: da, pater, augurium atque animis inlabere nostris); 10,62; 11,789; Sil. 12,644; 15,161. Zu möglichen weiteren Vorbildern außerhalb der Epik vgl. unten Anm. 477.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 185

gestreckt und über mehrere Sätze verteilt, eine Struktur omnipotens … si … da … pater und damit ein sprachliches Gerüst, das in kürzerer Form auch zweimal in der Aeneis angewandt wird und das Adams Gebet trotz seiner inhaltlichen Eigenheiten ein episches Kolorit verleiht.475 Funktionale Parallelen zu epischen Gebeten Auch was die Funktionen des Gebets in der Erzählung angeht, lassen sich Bezüge zum Epos beobachten. Die betreffenden Aspekte sind bereits in Kap. 1 behandelt worden und sollen hier nur kurz wiederholt werden. Evident ist zunächst, dass das in direkter Rede wiedergegebene Gebet die Erzählung dramatisiert und dazu beiträgt, Adam als epische Figur hervortreten zu lassen und seine Gefühle sichtbar zu machen. Das Gebet setzt damit teilweise die vorangehenden Verse 6–41 fort, in denen der Erzähler in der dritten Person die Gefühle und Gedanken Adams und Evas schildert. Indem Victorius so großes Gewicht auf die ‚Innenseite‘ der Handlung legt, folgt er der Entwicklung des römischen Epos, das in wachsendem Maße Interesse an psychologischen Vorgängen zeigt (Genaueres in Kap. 1.3.2.1, besonders auf S. 139). Hinzu kommt eine narratologische Funktion: In der bereits zitierten zweiten pars epica (2,56– 69) erzählt Adam den Sündenfall knapp aus seiner eigenen Sicht nach; in den Schlussversen (2,85–89) gibt er einen Ausblick, was geschehen wird, wenn Gott die erbetene Hilfe gewährt. Beide Stellen haben, wie oben ausgeführt, eine Funktion im klassischen Gebetsschema, sind zugleich jedoch narratologisch bedeutsam, weil Adam in ihnen über die erzählerische Gegenwart hinausgreift. Victorius nutzt das Gebet also für Pro- und Analepsen, die einen festen Bestandteil epischer Erzähltechnik und überhaupt jedes komplexeren Erzählens bilden (Genaueres in Kap. 1.3.1.3, besonders auf S. 119f.). Besonderheiten des Gebets: Nähe zum Lehrgedicht Zu diesen strukturellen und funktionalen Bezügen zum Epos treten jedoch inhaltliche Besonderheiten, die dem Epos zuwiderlaufen. Weite Teile des Gebets lassen sich als ein Kommentar zum Sündenfall lesen. Im ersten größeren Ab-

|| 475 Am klarsten in einem Gebet des Aeneas in Aen. 5,687–690: Iuppiter omnipotens, si nondum exosus ad unum / Troianos, si quid pietas antiqua labores / respicit humanos, da flammam evadere classi, nunc, pater, … Noch knapper in Aen. 2,689–691: Iuppiter omnipotens, precibus si flecteris ullis, / aspice nos: hoc tantum; et si pietate meremur, / da deinde auxilium, pater, atque haec omina firma.

186 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

schnitt nach der Anrede geht es um die Fähigkeit, Gott zu erkennen. Die Darlegungen laufen darauf hinaus, dass die Menschen auch nach dem Sündenfall und dem damit einhergehenden Verlust der unmittelbaren Erkenntnisfähigkeit für das Heilige noch Gottes Allgegenwart spüren können (2,49–53) und ihn aus der Gewissheit dieser Allgegenwart heraus anrufen und auf Erhörung hoffen können (atque ideo omnipotens, qui semper totus ubique es, / ad te confugimus … / exaudi miseros, quos semper cernis et audis …, 2,54–56). Adams Ausführungen haben zwar eine Funktion im Gebet, doch gehen seine elaborierten Gedankengänge zur Sicht- und Spürbarkeit Gottes weit über das hinaus, was für ein demütiges (vgl. supplicat, 2,41) Gebet nötig oder dem gerade erst wieder zu sich kommenden Adam zuzutrauen wäre. Offenbar kommt es dem Dichter hier im Letzten doch nicht auf Realismus in der Figurendarstellung an, vielmehr legt er der handelnden Figur seine eigenen theologischen Überlegungen in den Mund, fügt also in das epische Element der Figurenrede eine eigentlich an den Rezipienten gerichtete Belehrung ein, was in so auffälliger Form im Epos nur selten zu beobachten ist.476 Dazu passt es auch, dass in Adams Gebet Formulierungen und Themen aus der precatio wieder aufgegriffen werden. Eine gewisse Verbindung zur precatio stellt bereits die Anrede omnipotens her (2,42, wiederholt in 2,54), mit der Gott auch in der precatio angerufen wird (prec. 2). Ein offensichtlicher Anklang an die precatio ist auch die auf die zweite omnipotens-Anrede folgende relativische Prädikation qui semper totus ubique es (in der precatio in etwas anderer Reihenfolge: quia totus semper ubique es, prec. 16). Mit den sprachlichen Übereinstimmungen gehen inhaltliche einher. Grob vergleichbar ist, dass beide Beter zunächst über Gottes Eigenschaften nachsinnen (prec. 1–100 bzw. 2,42–54) und später – zumindest unter anderem – in irgendeiner Form um Wissen bitten (prec. 101–111 bzw. 2,83sq.). Überdies enthalten beide Gebete mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sprachlich und inhaltlich Bezüge zum Omnipotenshymnus des Neuplatonikers Tiberianus.477

|| 476 Bis zu einem gewissen Grad vergleichbar sind lehrhaft-theoretische Reden, die im Epos seit Apollonios Rhodios gelegentlich begegnen, am auführlichsten in Ov. Met. 15 (Lehrvortrag des Pythagoras). Angemerkt sei, dass Adams Gebet mit der Ovidstelle auch einen konkreten Gedanken teilt, nämlich den der „inneren Augen“, vgl. Aleth. 2,47 (mentis sc. oculi) mit Ov. Met. 15,62–64 (über Pythagoras: isque licet caeli regione remotos / mente deos adiit et quae natura negabat / visibus humanis, oculis ea pectoris hausit). Ob Victorius sich der Parallele bewusst war, muss offen bleiben. Für weitere Lehrreden im Epos siehe Anm. 149. 477 Bei der precatio ist die Abhängigkeit von Tiberianus sicher, vgl. oben S. 29f. In Adams Gebet ist auf sprachlicher Ebene die Kombination der Anrede omnipotens (Tiberianus 4,1) und der Bittformel da pater (4,28) zu nennen, die freilich lange vor beiden Autoren bei Vergil mehr-

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 187

Die wichtigste inhaltliche Gemeinsamkeit zwischen der einleitenden precatio und Adams Gebet ist jedoch das Thema der Wahrnehmbarkeit Gottes. In der precatio geht es nur um den jetzigen Zustand, in dem die Menschen Gott nicht mit ihrem sensus erfassen und sich bildlich vorstellen können und dürfen (quem nec … / mentibus humanis sensu comprendere fas est, prec. 2sq.; nec fas contingere menti / quae sit imago tibi, quia fine coercita nullo / forma fugit sensus …, prec. 13–15). Adam ergänzt diese Aussagen, indem er vor allem den Zustand vor dem Sündenfall in rhetorischer Zuspitzung beschreibt (2,43–48): felix dum vita maneret et celeres animos visu super astra daretur posse sequi, late circum perque omnia fusum 45 semper et ingesto visus splendore tegentem his oculis – ceu mentis erant arcana tuentes –, quod dictu proprium est, vidi non posse videri. Solange mein Leben glücklich blieb und mir gewährt war, die schnellen Geister jenseits der Sterne mit dem Blick (45) verfolgen zu können,478 sah ich, dass du, der du dich weit ringsum und über alles immer erstreckst und durch den verströmten Glanz deinen Anblick vor diesen Augen verdeckst – es waren gleichsam die Augen des Geistes, die Geheimes erblickten –, um es in besonderer Weise zu sagen:479 〈Ich sah,〉 dass man dich nicht sehen kann.

Über den Zustand nach dem Sündenfall heißt es anschließend knapper, es bleibe lediglich zu spüren, dass alles von Gott erfüllt sei (omnia plena tui tantum

|| fach auftritt (vgl. oben Anm. 475; beide Elemente finden sich übrigens auch in Auson. Ephem. 3,1. 31. 43. 58, der sicher von Tiberianus beeinflusst ist). Inhaltlich ähneln sich der neuplatonische Hymnus und Adams Gebet, insofern sie theologische Überlegungen und die Bitte um Wissen vereinen (Letztere eben mit dem erwähnten Ausdruck da pater eingeleitet, Tiberianus 4,28). Die Bezüge zu Tiberianus sind in Adams Gebet sicherlich weniger deutlich als in der einleitenden precatio, doch allein schon die Tatsache, dass Tiberianus dort unverkennbar als Vorbild gedient hat, spricht dafür, dass Victorius auch hier zumindest latent von ihm beeinflusst ist. 478 Mit den animi veloces sind offenbar die Engel gemeint, vgl. Staat 1952 ad loc. Anders und m. E. weniger sinnvoll übersetzt Papini: „… ed era concesso all’animo, veloce, di procedere con lo sguardo oltre gli astri …“. 479 Wörtl. etwa „was eigen/besonders zu sagen ist“. Die Verbindung von proprius mit einem Supin II scheint singulär zu sein, und so ist auch nicht ganz sicher, in welchem Sinne proprium hier zu verstehen ist. Während die bisherigen Übersetzungen versuchen, die Bedeutung von proprius ohne solide lexikalische Basis in Richtung von ‚eigenartig‘ oder ‚treffend‘ zu verschieben (Staat: „’t is eigenaardig het te zeggen“, Papini: „cosa che è giusta a dirsi“), versuche ich, näher an der Grundbedeutung zu bleiben.

188 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

sentire remansit, 2,53).480 Man kann hierin eine Variation und Erklärung der paradoxen Aussage der precatio sehen, obwohl man Gott nicht erfassen könne, könne man ihn doch nicht nicht kennen (… et nescire nefas, prec. 4). Das Thema der Erkenntnisfähigkeit des Menschen für Gott und seine Welt beschäftigt Victorius indes nicht nur in den beiden genannten Gebeten. Erwähnenswert ist etwa der Abschluss der Digression des zweiten Buches, wo Victorius Gott eine Rede darüber in den Mund legt, wie der Mensch ursprünglich durch die Wahrnehmung der größeren, geistlichen Welt Gott selbst erkennen sollte (ego nosse creatis / quae bona sunt cum luce dedi mundoque minori / quicquid maior habet sacro notescere sensu / meque per haec volui, 2,181–184). Ein weiteres Mal taucht das Thema in 2,451–454 auf, hier in Bezug auf die Tiere. Victorius trägt seine Gedanken über die Wahrnehmung Gottes mithin nicht in Form einer geschlossenen Lehrrede vor, sondern behandelt einzelne Aspekte an verschiedenen Stellen des Werks. Dabei nutzt er verschiedene Stimmen – erst seine eigene bzw. die seines Sprechers, dann die Adams und schließlich die Gottes –, um das Thema von mehreren Seiten zu beleuchten und die Aussagen durch die Autorität der Sprecher zu beglaubigen. Auch wenn die betreffenden Stellen jeweils eine werkimmanente Funktion haben, ist die eigentliche Absicht offensichtlich die Belehrung der Rezipienten, wie es im Lehrgedicht üblich ist, wenngleich die Verteilung des Stoffes auf verschiedene Stellen und Sprecher natürlich den Gewohnheiten der Lehrdichtung zuwiderläuft und eher dem Epos entspricht. Noch deutlichere Parallelen mit dem Lehrgedicht weisen schließlich die Verse 77–84 auf, in denen Victorius seinem Adam eine Art Programm zur Erfindung der Landwirtschaft unter Gottes Hilfe in den Mund legt und so ein typisches Thema der Lehrdichtung aufgreift. Die Verse leiten die Kulturentstehungslehre ein, also ein typisches Thema der Lehrdichtung, das hier aber aus dem epischen Element des Gebets heraus erwächst; sie werden im Kontext der Kulturentstehungslehre in Kap. 2.2.3.1 genauer zu betrachten sein.

|| 480 Der Gedanke, dass alles von Gott erfüllt ist, hat übrigens auch pagane Parallelen, und die Formulierung verweist sogar recht deutlich auf einen klassischen Autor, nämlich Verg. Ecl. 3,60 (Iovis omnia plena, vgl. Staat 1952 ad loc.), wobei die Vergilstelle wiederum von Arat inspiriert ist (Phain. 2–4: μεσταὶ δὲ Διὸς πᾶσαι μὲν ἀγυιαί, / πᾶσαι δ’ ἀνθρώπων ἀγοραί, μεστὴ δὲ θάλασσα / καὶ λιμένες, vgl. W. Clausen, A commentary on Virgil, Eclogues, Oxford 1994, 106).

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 189

Zusammenfassung Die Analyse hat gezeigt, dass Adams Gebet eine Fülle höchst verschiedener Funktionen in sich vereint. Zunächst ist das Gebet ein typisches Element des Epos, und tatsächlich ließen sich auch in der Diktion einige Parallelen zu Gebeten etwa bei Vergil finden. Überhaupt trägt die wörtlich wiedergegebene längere Rede einer Figur zur epischen Ausgestaltung der Darstellung bei und ermöglicht dem Autor Pro- und Analepsen, wie sie für das Epos charakteristisch sind. Zugleich benutzt Victorius Adams Gebet jedoch dazu, theologische Gedanken zu entwickeln, die teils schon in der einleitenden precatio angesprochen wurden. Darüber hinaus enthält das Gebet mit seinen Gedanken zur Erfindung der Landwirtschaft ein Thema, das typischerweise dem Lehrgedicht zugehört. Der Bezug zum Epos wird also von lehr- und bibeldichterischen Interessen überlagert, sodass sich epische und didaktische Züge untrennbar miteinander verbinden.

2.1.2 Kampfszenen nach vergilischem Vorbild (3,415–464) Zu den charakteristischsten Szenen des traditionellen Epos gehören ohne Zweifel Kampfdarstellungen.481 Ein Autor, der sich in der Tradition des Epos sah, musste folglich geradezu daran interessiert sein, in sein Werk Kampfszenen epischer Manier zu inkorporieren und so eine Probe seiner Darstellungskunst zu liefern. Tatsächlich hat auch Victorius dies zumindest punktuell getan. Im behandelten Teil der Genesis bot sich hierfür am ehesten eine Gelegenheit in Kap. 14,1–16. Die Ausgangssituation ist eine Serie von Kämpfen zwischen mehreren (in der Genesis namentlich genannten) Völkern und Städten, zu denen auch Sodom gehört. In der abschließenden Schlacht im Tal Siddim wird Abrams in Sodom wohnender Neffe Lot gefangen genommen, woraufhin Abram mit seinen Knechten auszieht und Lot in einem nächtlichen Überfall befreit. Victorius behandelt die Episode kurz nach der Mitte seines dritten Buches (3,415–464). Sie erfährt dabei gegenüber der Genesis eine weitgehende Umgestaltung. Im ersten Teil, der bis zur Gefangennahme Lots reicht (Gen. 14,1–12; Aleth. 3,415–430),

|| 481 Auf Beispiele kann angesichts der Verbreitung solcher Szenen verzichtet werden; erinnert sei an die Charakterisierung des (homerischen) Epos in Hor. Ars 73: res gestae regumque ducumque et tristia bella … Wie eng Kampfszenen mit der Gattung Epos zusammengedacht wurden, zeigt sich auch instruktiv daran, dass eine Eposparodie wie die Batrachomymachie offenbar unbedingt in eine große Schlacht münden musste.

190 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

kondensiert Victorius die komplexe Gemengelage der Genesis zu einem einfachen Gegenüber zwischen den Sodomitern mit Lot und einer namenlosen Schar von Angreifern (hostis, 3,415). Den zweiten Teil dagegen, also den Auszug und Überfall Abrams (Gen. 12,13–16; Aleth. 3,431–464), baut Victorius zu einer eindrucksvollen Nachtkampfszene aus, die weit über die knappen Andeutungen des biblischen Berichtes hinausgeht. Es liegt nahe, dass für die Neugestaltung der Szene bei Victorius vor allem das Epos Pate gestanden haben dürfte, und in der Tat wurden in der Forschung schon längst Berührungen mit der Epik beobachtet. Was den sprachlichen Ausdruck angeht, zeigt allein schon ein Blick in den Similienapparat von Hovinghs Ausgabe, wie sehr Victorius aus den Kampfdarstellungen des Epos geschöpft hat.482 Noch weiter geht der Eposbezug bei Abrams nächtlichem Überfall, der mit guten Gründen als Imitation von Nisus’ und Euryalus’ nächtlichem Ausfall in B. 9 von Vergils Aeneis interpretiert wurde.483 Dass Victorius in seiner Darstellung epische Szenen nachahmt, bedarf also keines weiteren Beweises. In diesem Teilkapitel soll es daher vor allem darum gehen, wie weit die Übereinstimmungen gehen und welche eigenen Tendenzen und Interessen zur Imitation hinzutreten (wofür die bereits entdeckten Parallelen freilich zum Teil nachgezeichnet werden müssen). Die Schlacht im Tal Siddim: schematisierte Kampfschilderung Betrachten wir zunächst den ersten Teil der Episode, in dem der Zusammenstoß der verschiedenen Heere dargestellt wird (3,415–430): interea magno circum turbante tumultu 415 hostis adest avidus, varia quem dote referta sollicitat tellus; campis inlisa resultat ungula et effusis errat populator habenis. Loth cum rege simul portis erumpit apertis et vicina manus regum socia arma ferentum; 420 secum equites peditesque trahunt, distenditur agmen, confligunt acies, pariter sternuntque caduntque. his satis auxilii est, quod bellum inferre parantes

|| 482 Weitere Reminiszenzen nennt Homey 1972, 100f. Anm. 3; vgl. auch die hauptsächlich auf sprachliche Parallelen zu verschiedenen Autoren abzielende Untersuchung von Cutino 2009, 191–197. 483 So bereits Schenkl im Vorwort zu seiner Ausgabe (1888, 350), wo er allerdings keinen weiteren Nachweis führt. Den gründlichsten Vergleich unternimmt Homey 1972, 98–114; vgl. auch Ferrari 1912a, 71f., Martorelli 2008, 74f. sowie Cutino 2009, 192–194.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 191

praecepere animis casuros clade repente; istos sola tenet causae melioris imago. sed turpi Sodomae luxu emollita iuventus, ut rursum exarsit repetitus clamor in iras, vertunt terga metu: rapido pars moenia cursu, pars montes silvasque petunt, pars saepta catervis porrigit ignavas ad tristia vincula palmas.

425

430

(415) Unterdessen erregt ringsum ein großer Aufruhr Verwirrung und ein gieriger Feind ist da, den die mit mancherlei Gabe gefüllte Erde anstachelt; aufs Feld gestoßene Hufe hallen wider, der Plünderer schweift mit fliegendem Zügel. Lot stürzt mit dem König zusammen aus geöffneten Toren, (420) zugleich mit der Schar der benachbarten484 Könige, die mit ihnen verbündet sind;485 mit sich ziehen sie Reiter und Fußvolk, es streckt sich der Heerzug, Schlachtreihen stoßen zusammen, sie töten ebenso wie sie fallen. Diesen ist Hilfe genug, dass sie sich beim Rüsten zum Angriff vorgestellt haben, sie würden in jähem Untergang fallen; (425) jene hält allein die Vorstellung der besseren Sache.486 Sodoms Jugend jedoch ist von schlimmer Genusssucht verweichlicht: Als das Geschrei, erneut wiederholt, sich zum Zorn entzündet, fliehen sie voller Angst: Teils eilen sie in rasendem Lauf zur Mauer, teils zu Bergen und Wäldern, und teils, umzingelt von Truppen, (430) strecken sie feige Hände aus nach betrüblichen Fesseln.

Victorius’ Darstellung trägt unübersehbar episches Kolorit, zu dem maßgeblich die sprachlichen Reminiszenzen an epische Schlachtdarstellungen beitragen (am deutlichsten ist wohl die schon in Hovinghs Similienapparat verzeichnete Übernahme eines ganzen Halbverses aus Lukan: pariter sternuntque caduntque, Aleth. 3,422 ~ Lucan. 4,558). Gleichwohl kommt nur sehr eingeschränkt der Eindruck einer epischen Schlachtschilderung auf. Dies liegt hauptsächlich an der extremen Verknappung der Erzählung, die bereits Homey beobachtet hat.487 Insbesondere fehlen jegliche Details, die die Kombattanten anschaulich machen würden. Namentlich ist von sämtlichen Kriegsteilnehmern lediglich Lot genannt (der sodomitische König bleibt namenlos, 3,419), die Angreifer werden nicht einmal durch Volks- oder Städtenamen spezifiziert. Die beiden Parteien agieren überwiegend als homogene Masse, ohne dass einzelne Kämpfer sichtbar würden, erst der Ausgang der Schlacht und die Reaktionen verschiedener Gruppen von Sodomiten werden genauer dargestellt (pars … pars … pars, 3,328– 330). Weite Teile der Darstellung wirken passepartoutartig und hätten über || 484 Im Lat. bezieht sich vicina auf manus (Hypallage). 485 Wörtl. „verbündete Waffen tragen“. 486 Die Verse 423–425 sind sprachlich und sachlich nicht sicher zu deuten, vgl. die übernächste Anmerkung. 487 Vgl. Homey 1972, 99f., der der Darstellung „Unanschaulichkeit und Leblosigkeit“ (100) vorwirft.

192 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

jeden beliebigen erfolgreichen Angriff auf eine Stadt geschrieben werden können, ja in V. 423–425 lassen sich Angaben nicht einmal sicher den Angreifern und den Verteidigern zuordnen.488 Zur Holzschnittartigkeit der Darstellung trägt auch die strenge, fast schematische Gliederung der Passage bei, die ebenfalls von Homey beobachtet wurde.489 Auch die Syntax ist im Vergleich zur sonstigen Komplexität bemerkenswert einfach gehalten (kurze Sätze, wenig Hypotaxe, Kolon- und Versende fallen oft zusammen). Insgesamt haftet der Passage so etwas Schulmäßiges an: Sie soll offenbar in möglichst augenfälliger Weise das Epos imitieren, tut dies jedoch in quantitativ und qualitativ reduzierter und weitgehend entindividualisierter Form, sodass sich gleichsam eine Schwundstufe des Epos ergibt. Mit der Reduktion gegenüber den epischen Vorbildern geht nun freilich eine Tendenz einher, die, gerade in Verbindung mit dem zweiten Teil, auf ein spezifisches und damit über das Schulmäßige hinausgehendes Darstellungsinteresse des Dichters hinweist. Die wenigen genaueren Informationen, die uns der Erzähler über die Kombattanten mittteilt, betreffen auffälligerweise fast ausschließlich deren innere Verfassung: Die Angreifer werden von Gier angelockt (3,416sq.), sie bereiten sich mental auf die Schlacht vor (3,423sq.). Die Sodomiten sehen sich zwar als Vertreter der besseren Sache (3,425), doch sind sie durch Genusssucht verweichlicht (3,426; hier Übergang vom ImmateriellCharakterlichen ins Konkret-Physiologische) und geraten schnell in Furcht || 488 Nach meiner Interpretation geht es in V. 423sq. um die Angreifer, die sich im Gegensatz zu den Verteidigern ihren möglichen Tod schon innerlich vorstellen konnten (zu praecipere animo vgl. ThLL s. v. praecipio p. 452,75–453,7). Dabei ist als Subjektsakkusativ des AcI se zu ergänzen (vgl. HSz 3623.4, wonach es gerade im nachklassischen und späteren Latein viele Belege für den Ausfall eines aus dem Zusammenhang erschließbaren Subjektsakkusativs gibt). In V. 425 geht es demnach um die Verteidiger. Möglich ist auch die umgekehrte Auffassung: Dabei wäre bellum inferre parantes der Subjektsakkusativ (also: „…dass sie sich innerlich vorgestellt haben, die Angreifer würden in jähem Untergang fallen“). In V. 425 wäre imago dann als „Trugbild“ oder „Vortäuschung“ zu verstehen (vgl. ThLL s. v. imago p. 410,74–411,3). Wieder anders übersetzt Papini, die in V. 423sq. als implizierten Subjektsakkusativ die Feinde annimmt („… che i nemici sarebbero morti …“). 489 Vgl. Homey 1972, 99, der in der Gliederung einen weitgehenden Parallelismus feststellt. Ich zitiere seine Gliederung der „1. Kampfphase“ (V. 415–425): „A. Der heranziehende Feind verwüstet das Land in der Umgebung der Stadt (v. 415 – v. 418). B. Von der Stadt aus zieht man gegen den Angreifer (v. 419 – v. 421). A B. Zusammenprall der feindlichen Truppen; gleiche Kampfkraft und gleicher Kampfesmut beider Heere (v. 422), A. des Angreifers (weil er sich physisch und seelisch auf den Kampf einstellen konnte, v. 423f.) B. und des Angegriffenen (allein im Bewußtsein der guten Sache, v. 425).“ Bei umgekehrter Zuordnung von V. 423f. und 425 (vgl. die vorangehende Anm.) ergäbe sich stattdessen ein spiegelsymmetrischer Aufbau (A B AB B A).

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 193

(3,428). Auch wenn die Aussagen recht summarisch bleiben, treten hier doch ein Interesse an inneren Vorgängen und Zuständen sowie eine Moralisierungstendenz zutage, vor denen die konkreten Gegebenheiten der Schlacht teilweise in den Hintergrund treten. Auf diese Tendenz, die auch für die Alethia insgesamt bedeutsam ist, wird weiter unten zurückzukommen sein. Abrams Nachtkampf als Verarbeitung von Nisus’ und Euryalus’ Nachtkampf Nehmen wir nun den zweiten, ausführlicheren Teil der Episode hinzu (3,331– 364). Die Darstellung ist zunächst immer noch recht knapp, doch fällt sofort ein wesentlicher Unterschied ins Auge: Während zuvor fast nur namenlose Massen auftraten und selbst Lot nur als Teil der Sodomiten erwähnt wird, gibt es nun einen entscheidenden Protagonisten, ja man darf sagen: einen Helden, nämlich Abram. Zunächst wird kurz mitgeteilt, dass Abram von der Gefangennahme Lots erfährt und dem Feind nachzieht, um ihn im Schutz der Dunkelheit zu überfallen (3,331–338). Größere Aufmerksamkeit verwendet Victorius auf den eigentlichen Kampf. Die Schilderung beginnt mit einem Gleichnis, das sich natürlich auf den dux Abram bezieht (3,339–344): sic, cum ieiuni rabies vaesana leonis in pecudum saltu penetravit saepta volucri, 340 cunctas dente, pede exanimat cupidamque vorandi differt ira famem clauditque doloris acerbi oppressis gemitum patientia mira timoris: haec tum forma ducis. So ist es, wenn rasend vor Wut ein ausgehungerter Löwe490 (440) in ein Gehege voll Vieh mit fliegendem Sprunge eindringt: Alle entseelt er mit Zahn und Fuß; den aufs Fressen erpichten Hunger verschiebt der Zorn; bei den Niedergestreckten verschließt ein seltsames ängstliches Dulden491 das Stöhnen bitteren Schmerzes: Dies 〈war〉 da die Gestalt des Anführers.

Dass Victorius hier ausgerechnet ein Löwengleichnis verwendet, ist sicher kein Zufall, denn ein solches verwendet auch Vergil in der Episode vom nächtlichen Ausfall des Nisus und Euryalus, um die Kampfkraft des Nisus zu veranschaulichen (Verg. Aen. 9,339–341). Victorius scheint Vergil überbieten zu wollen,

|| 490 Wörtl. „die rasende Wut eines ausgehungerten Löwen“ (das Abstractum vertritt das eigentlich handelnde konkrete Subjekt, „ein Charakteristikum des Spätstils“, wie schon Homey 1972, 106 anmerkt). 491 Wörtl. „Dulden der Angst“.

194 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

indem er das Gleichnis streckt und das Wüten des Löwen breiter ausmalt.492 Jedenfalls ist das Auftreten des Löwengleichnisses ein deutliches Indiz dafür, dass ihm bei der Gestaltung der Szene tatsächlich die vergilische Nisus-undEuryalus-Episode vor Augen stand, die inhaltlich ohnehin vergleichbar ist. Auch in den folgenden Versen sind Vergilbezüge sichtbar, so bereits in dem unmittelbar auf das Gleichnis folgenden Ausdruck somno vinoque sepultos (3,444), der die am Beginn der vergilischen Nachtkampfszene stehende Formulierung somno vinoque … / corpora fusa vident aufnimmt (Verg. Aen. 9,316sq.).493 Eine Überbietungsabsicht ist hier freilich nicht so deutlich spürbar, allenfalls insofern sepultos eine Steigerung gegenüber fusa darstellt.494 Augenfälliger ist die Vergil-aemulatio einige Verse später. Nachdem der Erzähler wiederum knapp, aber eindrücklich berichtet hat, wie Abram und seine Knechte die Gegner niedermachen, bevor diese auch nur einen Laut von sich geben können (3,444–450), beschreibt er den entstehenden Blutmorast (3,449–451): sanguine cuncta madent, siccis resoluta serenis tellus tabe coit, gressumque morante cruore lubrica signato titubant vestigia campo.

450

Alles trieft von Blut, die von trockenem Wetter gerissene (450) Erde schließt sich durch Schlamm, und weil Blut den Schritt hemmt, wanken die Füße, auf dem befleckten Schlachtfeld gleitend.

Eine Bemerkung über die blutnasse Erde findet sich auch in der Nisus-undEuryalus-Erzählung, wo diese allerdings wesentlich kürzer ausfällt (atro tepe-

|| 492 Für einen genaueren Vergleich der beiden Stellen siehe oben S. 159f. (dort auch zur homerischen Vorlage der Vergilpassage, der Erzählung vom nächtlichen Überfall des Odysseus und Diomedes auf die Thraker). 493 Vgl. Homey 1972, 106. 494 Wenn überhaupt, dann überbietet Victorius Vergil hier allerdings mit seinen eigenen Mitteln, denn die vollständige Verbindung somno vinoque sepultus stammt aus der Iliupersis im zweiten Buch der Aeneis (V. 265: invadunt urbem somno vinoque sepultam, vor Victorius auch in der Ilias Latina imitiert, dort V. 730). Cutino 2009, 192–194 geht so weit, in der Iliupersis insgesamt eine Vorlage für Victorius’ Nachtkampfdarstellung zu sehen, da es ja auch dort um einen nächtlichen Überfall auf eine Stadt gehe. Verglichen mit den engen Bezügen zur Nisus-und-Euryalus-Episode sind die Parallelen mit der Iliupersis jedoch eher vage, besonders weil die durch List erreichte Invasion in eine Stadt (Aen. 2) und der Überfall auf ein Soldatenlager (Aen. 10, Aleth. 3) doch recht verschiedene Szenarien darstellen. An konkreten motivischen oder sprachlichen Übereinstimmungen scheint die vorliegende Formulierung (die ja in kürzerer Form auch in Aen. 9 auftritt) die einzige zu sein. M. E. fehlen somit klare Indizien für eine Iliupersis-Imitation.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 195

facta cruore / terra torique madent, Verg. Aen. 9,333sq.).495 Die Überbietungsbemühung ist hier noch offensichtlicher als beim Löwengleichnis. Victorius baut die ohnehin schon eindrückliche Bemerkung Vergils zu einem Tableau des Ekels aus, das sich mit Lukan messen kann, mit dem Victorius ja wohl auch tatsächlich vertraut war (vgl. oben Kap. 1.2.1). Diese engen Vergilbezüge dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieser Teil von Victorius’ Kriegsepisode im Ganzen nur eingeschränkt episch wirkt. Was man im Vergleich zum Epos am meisten vermisst, ist eine ausführliche Kampfschilderung. Im Epos nehmen die Schlachtdarstellungen üblicherweise breiten Raum ein, wobei stets zumindest einige Akteure einzeln genannt und oft Monomachien zweier Kontrahenten oder Aristien eines einzelnen Helden detailliert ausgestaltet werden. Vielfach werden zudem die Waffen und die Tötungsarten genauer genannt. Auch die Nisus-und-Euryalus-Episode folgt hier dem epischen Brauch, wobei der Erzähler erst Nisus (V. 324–341), dann Euryalus (V. 342–353) in ihrem Wüten beschreibt und die Opfer einzeln und meist namentlich aufführt. Gemessen hieran fällt die eigentliche Kampfschilderung bei Victorius reichlich knapp aus (3,444–448, der erste Halbvers wurde bereits zitiert): somno vinoque sepultos sternentes tacitis populum regesque trucidant 445 vulneribus. nullus confundit castra tumultus, nemo gradum sentit, nisi quem iam mens fugit et vox, nemo sonum caedis, nisi quem mors excitat, audit. Sie strecken die im Schlaf und Weinrausch (445) Begrabenen dahin und metzeln mit stillen Wunden Volk und Könige nieder. Kein Aufruhr verwirrt das Lager, keiner spürt einen Schritt, nur wen Geist schon und Stimme verlässt, keiner hört ein Geräusch des Mordes, nur der, den der Tod weckt.

Wie schon für den ersten Teil der Kriegsepisode beobachtet, handeln auf beiden Seiten nur anonyme Massen: Abram, dem das vorangehende Löwengleichnis galt, rückt durch den unbestimmten Plural in den Hintergrund. Die getöteten Feinde, für die Victorius ja durchaus Namen vom Anfang des Genesis-Kapitels hätte einsetzen können, werden nur generisch als populus regesque bezeichnet.

|| 495 Vgl. Homey 1972, 108f. Auch dieses Motiv hat bereits einen Vorläufer in Homers Erzählung vom Nachtkampf des Odysseus und Diomedes, wobei die Formulierung auch hier noch knapper als bei Vergil ist (Hom. Il. 10,484): ἐρυθαίνετο δ’ αἵματι γαῖα. Sprachlich erinnert Aleth. 3,449 noch stärker an eine andere Vergilstelle, nämlich Aen. 12,691 (über das Vordringen des Turnus: sanguine terra madet), vgl. Hovinghs Similienapparat.

196 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Die im Epos so detailreich geschilderten Tötungsakte werden dabei summarisch in einem knapp zwei Verse langen Satz abgehandelt (V. 444b–446a); schon der nächste Satz behandelt eher den Zustand des Lagers, das durch die Schnelligkeit der Operation ruhig bleibt (V. 446b–448), bevor in den folgenden, bereits zitierten Versen über den Blutmorast die beteiligten Menschen fast ganz aus dem Blick geraten. Die größte Aufmerksamkeit verwendet der Dichter mithin gerade nicht auf den Kern des Kampfgeschehens, sondern auf Aspekte, die in der epischen Tradition eher als Beiwerk fungieren. Dies gilt in besonderer Weise für das Löwengleichnis, das im Verhältnis zur Kampfdarstellung auffällig viel Raum einnimmt und dabei bemerkenswerterweise eine Handlung illustriert, die dann gar nicht mehr erzählt wird, nämlich wie Abram seine Feinde tötet. Eine ähnliche Umkehrung des üblichen Verhältnisses von Erzählung und Veranschaulichung liegt in der Schilderung des Blutmorasts vor, die ja ebenfalls das Kampfgeschehen illustriert, ohne die Tötungsakte direkt zu nennen und zu beschreiben. Alles in allem ist Victorius’ Nachtkampferzählung durchaus atmosphärisch dicht und eindrucksvoll (man beachte auch die rhetorische Emphase, etwa in V. 447sq.), und doch zeichnet sie kein anschauliches Bild des Geschehens, wie man es im Epos erwarten würde. Die Schlachtepisode als Enkomion auf Abram Das unepische und vor dem Hintergrund des Epos unorganisch anmutende Verhältnis der einzelnen Teile sollte nicht vorschnell als Indiz für die mangelnde poetische Feinfühligkeit des spätantiken Dichters gewertet werden. Vielmehr deutet es darauf hin, dass Victorius hier mehrere miteinander widerstreitende Interessen verfolgt.496 Einerseits will er sich in eine Reihe mit einer klassischen Autorität wie Vergil stellen und liefert darum einige Proben seiner mit dem großen Vorbild konkurrierenden Darstellungskunst, wobei er jedoch außer der Grundidee der Nachtkampfszene nur einige wenige Versatzstücke herausgreift und überbietend ausgestaltet. Andererseits richtet sich Victorius’ Hauptaugenmerk hier wie auch sonst nicht auf die konkrete äußere Form des Geschehens, sondern auf seine innere Bedeutung. In dieser Szene geht es ihm offenbar hauptsächlich um das Wesen oder den Charakter seines Protagonisten Abram.

|| 496 Auch hier trifft zu, was Pollmann 2001, 125 allgemein über das spätantike Epos feststellt: „Die im Vergleich zu antiken Epen wesentlich freiere, unorganisch wirkende Abfolge von Handlungsblöcken … ist nicht ein Zeichen von mangelnder Kunstfertigkeit des Dichters, sondern hat in der Regel eine Funktion, die der übergeordneten Intention des Epos dient …“.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 197

Schon für den ersten Teil der Kriegsepisode wurde festgestellt, dass dem Rezipienten mehr Informationen über den Charakter der Handelnden gegeben wurden als über das eigentliche Kriegsgeschehen. Dies setzt sich in der Nachtkampfszene fort, wenn auch unter veränderten Vorzeichen: Ging es dort um ganze Gruppen – der namentlich genannte Lot tritt ja lediglich als Teil einer Gruppe auf –, so steht nun eine Einzelperson im Mittelpunkt, und während dort sowohl die Angreifer als auch die Sodomiten eher negativ beurteilt wurden, wird Abram als Held aufgebaut. Zu dieser Charakterisierung tragen bereits die ersten, noch nicht zitierten Verse des zweiten Teils bei, in denen Abram als pius und von der ratio bestimmt dargestellt wird (3,431–433): Loth captum patruus ut primum comperit Abram, non fletu – quid enim fletus conferret inanis? – sed ratione pius … Als sein Onkel Abram von Lots Gefangennahme erfährt, ist er sogleich nicht mit Weinen – was brächte auch nichtiges Weinen? – sondern mit Vernunft treu …497

Auch das Löwengleichnis verrät mehr über Abrams Emotionen als über sein konkretes Vorgehen, wobei man sich fragen muss, wie sich die rabies vaesana (3,339) und die ira (3,342) mit seiner zuvor genannten ratio vertragen, auch wenn sich die Wutbegriffe nicht direkt auf Abram, sondern auf den Löwen beziehen.498 Noch expliziter (und auch wieder stimmiger) wird die Charakterisierung nach den Versen über Gemetzel und den Blutmorast, in denen Abram kurzzeitig in den Hintergrund gerückt war. Der Erzähler bescheinigt Abram nun moderatio und nennt ihn iustus (3,453–455): servantur praedae – tanta est moderatio iusti victoris –, quos iam cunctis sine fraude licebat posse capi …

455

|| 497 D. h. er beklagt Lots Gefangennahme nicht, sondern hilft ihm planvoll und durchdacht. 498 Hierzu ausführlicher Homey 1972, 110f. Homey stellt fest, dass Löwengleichnisse in der Aeneis außer auf Nisus nur auf Turnus bezogen sind und stets ein besonders wildes und unbedachtes Wüten illustrieren, was in der Tat schlecht zu Abram passen will. Gleichwohl hält Homey Victorius mit Recht „eine gewisse Behutsamkeit hinsichtlich der Verknüpfung der beiden so konträren Elemente“ zugute, insofern sich „das Töten des Patriarchen … einzig auf der Ebene des Gleichnisses, im Bild des Löwen [vollzieht]; d.h. Abraham selbst tritt nicht unverschleiert als Mordender auf. Man gewinnt den Eindruck, als solle das Gleichnis sein Vorgehen eher verdecken als veranschaulichen.“ (S. 111).

198 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition Für die Beute aufgespart werden499 – so groß ist des redlichen Siegers Mäßigung – jene, die nunmehr alle ohne List (455) aufgreifen konnten …

Zur Charakterisierung tragen auch noch die anschließenden, schon zur Melchisedek-Episode überleitenden Feststellungen bei, Abram sei „vom Ruhm des so großes Triumphs nicht beeindruckt“ worden (tanti nil motus laude triumphi, 3,457) und „unter so großen Freuden mild und im Herzen auf die Geschicke der Menschen bedacht“ gewesen (tanta inter gaudia mitis / et casus hominum reputans sub pectore, 3,460sq.). Sieht man vom problematischen Löwengleichnis ab, so ergibt sich das Bild eines vollkommen tugendhaften Helden, der insbesondere dem stoischen Apathieideal entspricht.500 Die Charakterisierung erfolgt überwiegend direkt und schiebt sich damit bisweilen vor die eigentliche Handlung, wodurch sich der Eindruck verstärkt, dass man es mehr mit einem allgemeingültigen Exemplum oder der Personifikation bestimmter Tugenden als mit einem leibhaftigen Menschen zu tun hat.501 Erblickt man in der Stilisierung Abrams zum Exemplum der Tugend die wesentliche Intention der Passage, so wird verständlich, warum die Schlacht im (hier nicht so genannten) Tal Siddim so knapp dargestellt ist. Victorius musste diese zwar in irgendeiner Form mitbehandeln, nicht nur aus Gründen der Texttreue, sondern auch weil die Gefangennahme Lots in der Schlacht Abrams nächtlichen Überfall erst motiviert; andererseits taucht Abram in diesem ersten Teil noch gar nicht auf. Victorius scheint daher versucht zu haben, das Geschehen möglichst schnell bis zum Auftreten des Partriarchen voranzutreiben. An einer anschaulichen und inviduellen Ausgestaltung hatte der Dichter somit kein Interesse, wichtig war allenfalls noch die negative Charakterisierung der beteiligten Gruppen, die als Kontrastfolie zu Abram dienen.502

|| 499 Oder „Als Beutestücke bewahrt“ (vgl. Papini: „come bottino“). 500 Zu den stoischen Zügen vgl. Homey 1972, 102. 113 (besonders Anm. 7, wonach es eine längere Tradition gab, „die in Abraham das Idealbild des stoischen Weisen verwirklicht sah“). 501 Victorius geht damit zumindest ansatzweise in eine Richtung, die auch Prudentius – freilich in viel radikalerer Weise – verfolgt hat, als er in seiner Psychomachie gar nicht mehr Menschen, sondern nur noch personifizierte Tugenden und Laster gegeneinander antreten ließ. 502 Das Vorgehen entspricht dem von Herzog 1975, 124 formulierten Prinzip der „Applanierung und Reliefierung“ (vgl. oben S. 137 in Bezug auf Reden). Herzog spricht mit Blick auf Juvencus von einer „Neigung zum Abstreifen der historischen Kontingenz“ (S. 125), d. h. von Orts-, Zeit- und Namensangaben, die ja auch in der hier untersuchten Episode weitgehend fehlen. Die hier beobachtete Darstellungstechnik des Victorius kann also als ein Charakteristikum spätantiker Bibeldichtung gelten, wenngleich sie sich teilweise auch außerhalb der Bibeldichtung beobachten lässt (vgl. H. Hofmann, ‚Andachtsbilder‘ bei Claudian?, in: I. Volt/J. Päll (Hgg.), Quattuor Lustra. Papers celebrating the 20th anniversary of the re-establishment of

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 199

Zusammenfassung Victorius greift im untersuchten Abschnitt eines der typischsten Themen des Epos auf, und dementsprechend sind auch die Bezüge zu epischen Vorbildern dichter und deutlicher als in den meisten übrigen Teilen der Alethia. Am wichtigsten ist hier die Nisus-und-Euryalus-Episode, die Victorius im zweiten Teil des Abschnitts nachbildet und in einzelnen Punkten zu überbieten sucht. Doch obwohl der Einfluss des Epos hier so eindeutig ist und auch nicht, wie sonst gelegentlich beobachtet, von Elementen des Lehrgedichts überlagert wird, erweist sich das Verhältnis zum Epos als gebrochen. Gerade die für das Epos so charakteristischen anschaulichen Kampfszenen fehlen vollständig. Im ersten Teil wirkt die Darstellung überdies recht schematisch, ja teils scheint der Dichter bloß episierendes Mustermaterial aneinandergereiht zu haben, und man kann vermuten, dass sich hier der Einfluss schulischer Dichtübungen zeigt, die Victorius als Lehrer anleiten musste und für die er hier vielleicht ein kurzes Musterbeispiel geben wollte.503 Darüber hinaus konnte jedoch ein durchaus individuelles Darstellungsinteresse nachgewiesen werden, nämlich die Charakterisierung Abrams als tugendhafter Held. Die Charakterisierung vollzieht sich überwiegend direkt, was eine Verlagerung des Erzählschwerpunkts vom Äußerlichen zum Innerlichen mit sich bringt. Dass Abram gerade in einer Kampfsituation als Held aufgebaut wird, kann dabei als episches Element aufgefasst werden, wenngleich die Stilisierung zum Ideal oder Exemplum dem epischen Interesse an individueller Figurenzeichnung zuwiderläuft. Alles in allem ist die Szene eines der wichtigen Beispiele für die epische Seite der Alethia, zugleich aber auch ein Beleg für ihr gebrochenes Verhältnis zur epischen Tradition.

2.1.3 Zukunftsschau mit Vergilreminiszenzen (3,512–554) Eine weitere Szene, bei der man leicht an epische Entsprechungen denken kann, ist der in 3,512–554 dargestellte Bundesschluss zwischen Gott und Abram. Abram bringt hier nach Gottes Anweisungen ein Opfer dar und fällt anschließend in einen tiefen Schlaf. In der Darstellung der Genesis fängt Gott hierauf || classical studies at the University of Tartu, Tartu 2012, 136–159, der das Vorgehen Claudians mit dem der Bibeldichter vergleicht). 503 Victorius folgt hier auch generell einer Tendenz seiner Zeit, vgl. die auf die Kampfepisode übertragbare Beschreibung bei Roberts 1989, 58: „The tendency to fragmentation of the poetic text and to analytic modes of composition was promoted by the schools of grammar and the methods of enarratio practiced there.“

200 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

sogleich an, mit Abram zu sprechen und ihm das künftige Schicksal seiner Nachkommenschaft in Ägypten vorauszusagen (15,12–16). Victorius erweitert die Erzählung, indem er Abram die kommenden Ereignisse zunächst in einer Traumvision sehen lässt und so die weissagende Rede mit einer weiteren Form des Ausblicks in die Zukunft kombiniert. Träume, und gerade auch solche, die in irgendeiner Form die Zukunft betreffen, sind auch im paganen Epos ein häufiges Element.504 In einigen Epen spielen überdies weitere Formen von Zukunftsschau eine Rolle, etwa in der Katabasis oder der Schildbeschreibung der Aeneis. Auch hier lohnt sich also die Frage, ob Victorius in seiner Ausgestaltung von Abrams Traum in irgendeiner Weise Bezüge zur epischen Tradition gesucht hat. Tatsächlich gibt es über die Frage, ob der untersuchte Abschnitt unter epischem Einfluss steht, bereits eine lange Kontroverse in der Forschung. Schenkl führt die Passage im Vorwort zu seiner CSEL-Ausgabe zusammen mit weiteren Parallelen zu klassischen Autoren auf und deutet sie als Imitation der vergilischen Heldenschau, in der Anchises seinem Sohn die Zukunft offenbart.505 Die Forschung blieb gegenüber Schenkls These zunächst eher skeptisch und sah speziell in der von Victorius hinzugefügten Traumvision statt einer Vergilreminiszenz eine unabhängige Zutat des Dichters, die letztlich auch bloß Gottes Rede visuell dupliziere.506 In den letzten Jahren erlebte Schenkls Ansatz dagegen eine gewisse Renaissance, da mehrere italienische Studien wieder für eine Vergilanspielung plädierten und diese teils genauer zu belegen suchten.507 Abrams Zukunftsschau und epische Traumdarstellungen Für das Thema dieser Arbeit muss die Frage nach epischen Vorbildern auf eine breitere Basis als in den bisherigen Untersuchungen gestellt werden. Zunächst ist zu fragen, ob die Szene tatsächlich Bezüge zu epischen Traumdarstellungen aufweist, wie Martorelli und Cutino mit ihrem Hinweis auf das typisch-epische || 504 Vgl. die Übersichten bei Walde 2001, 436–439 zur Verbreitung des Traummotivs in der griechisch-römischen Dichtung (vor allem Epos und Drama). Nach Walde 2001, 261 finden sich die meisten Träume in Vergils Aeneis (14x) sowie bei Statius (10x) und Silius Italicus (15x). 505 Schenkl 1888, 350: „… ac III, 520 sqq., quo ante Abrahae sopiti animum saecula uentura deo auctore uersata esse narrat, non immemor fuisse uidetur Anchisae apud Uergilium Aen. VI, 756 sq. Aeneae fata futura aperientis“ (zitiert von Homey 1972, 115). 506 So Homey 1972, 116–118, der sich dabei auch auf die ähnlich skeptischen Einschätzungen von Maurer 1896, 16 und Ferrari 1912a, 72 beruft. 507 Consolino 2001, 497, Martorelli 2008, 76f. und Cutino 2009, 197–204. Von diesen Autoren weist freilich nur Martorelli darauf hin, dass die These auf Schenkl zurückgeht.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 201

Element des Traums postulieren und wie man in der Tat leicht vermuten kann. Bei epischen Träumen lassen sich formal zwei Gruppen unterscheiden: Im einen Fall erlebt der Schlafende Bildsequenzen, die mit Rede kombiniert sein können, aber nicht müssen („Handlungstraum“). Im anderen Fall erscheint dem Schlafenden eine Figur, teils ein Gott, teils aber auch ein (oft verstorbener) Mensch, und richtet eine Rede an den Träumenden, die als eigentlicher Inhalt des Traum gelten kann („Redetraum“).508 In Handlungsträumen werden Informationen über die Zukunft meist in Gestalt symbolhafter Szenen oder bildlicher Vorahnungen transportiert; dokumentarisch genaue Blicke in die Zukunft sind selten.509 In Redeträumen können die Aussagen über die Zukunft eine konkretere Gestalt annehmen, doch begegnen sie in aller Regel nicht in isolierter Form, sondern in Verbindung mit einer Ermahnung oder Handlungsanweisung für den Schlafenden (oft einer Aussendung durch einen Gott; die Prophezeiungen müssen dabei übrigens nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen).510 In beiden || 508 Zur begrifflichen Unterscheidung siehe Walde 2001, 18; vgl. auch die Einteilung in „la visita in sogno di un dio o di una persona scomparsa ad un protagonista“ und „il sogno a carattere allegorico, premonitore-augurale“ bei Fo 1982, 139f. (Fo bezieht sich dabei speziell auf Träume, in denen es um zukünftige Ereignisse geht, oder zumindest um solche, von denen der Träumer noch nicht wissen kann), ferner die klassische Unterscheidung von homerischem Traum (= Erscheinung eines Gottes oder Toten) und Traumrätsel bei F. Leo, Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, Berlin 1913, 178–180. 509 Vgl. Hom. Od. 19,508–604 (Penelope träumte von Gänsen und einem Adler, der die Gänse tötete; Odysseus deutet dies auf seine Ankunft), Mosch. Eur. 1–15 (Europa träumt von zwei um sie streitenden Frauen, was auf ihre Entführung hindeutet), Ov. Met. 7,634–651 (Aeacus sieht im Traum Ameisen zu Menschen werden, bevor ihn ebendiese Menschen als König begrüßen), Stat. Theb. 9,570–601 (Atalanta sieht unheilvolle Bilder, die das Schicksal ihres Sohnes andeuten); relativ genau ist Stat. Theb. 8,622–635 (Ismene sieht im Schlaf ihren künftigen Gatten). Vgl. auch die thematisch geordneten Listen von Träumen bei Walde 2001, 441f. sowie die Beispiele prophetischer Redeträume bei Fo 1982, 239f. mit Anm. 81. 510 Träume im Zusammenhang mit Aussendungen finden sich z. B. in Hom. Il. 2,1–83 (Agamemnon wird zum Kampf aufgefordert, wobei ihm trügerisch der Sieg in Aussicht gestellt wird), Od. 6,1–71 (Nausikaa wird zum Waschen aufgefordert, da ihr die Hochzeit bevorstehe), Verg. Aen. 2,268–302 (Hektor fordert Aeneas zur Flucht auf und prophezeit ihm eine neue Stadtgründung; der Traum wird später durch weitere bestätigt und ergänzt, etwa 3,147–178, wo die Penaten Italien als Ziel nennen, oder 5,720–740, wo Anchises Aeneas zur Sibylle schickt, von der er Weiteres erfahren werde). Weitere Situationen, in denen Träume mit Elementen einer Prophezeiung auftreten, sind der nahende Tod (z. B. Hom. Il. 23,59–110 vor Achills Tod, Lucan. 3,1–40 vor Pompeius’ noch einige Zeit entferntem Tod), die baldige Ankunft einer Person (so z. B. Hom. Od. 4,787–847 vor der Heimkehr des Telemachos) und eine bevorstehende Hochzeit (so außer der o. g. Nausikaa-Stelle auch Verg. Aen. 7,81–105, wo Latinus die Ankunft eines Schwiegersohns und die Herrschaft seiner Nachkommen prophezeit werden). Vgl. erneut Walde 2001, 441f. sowie die Beispiele prophetischer Redeträume bei Fo 1982, 240.

202 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Fällen wird dem Träumer nie eine bloß informative Auskunft über eine spätere Zeit, sondern ein Einblick in sein Schicksal gegeben, der für sein weiteres Handeln oder Ergehen in der Erzählung unmittelbar relevant ist. Betrachten wir nun vor diesem Hintergrund Victorius’ Darstellung von Abrams Traum. Wie bereits angedeutet, beginnt der Traum mit einer Zukunftsvision, also in der Art eines Handlungstraums; das einleitende credo deutet dabei an, dass der Sprecher hier nicht der autoritativen biblischen Vorlage folgt, sondern lediglich mutmaßt, was Abram widerfährt, nachdem er vom Schlaf übermannt worden ist (3,523–530): credo, videbatur saeptum sibi cernere Nilum Hebraeae gentis populis serosque nepotes et quae se ad summum numerent cognoscere turbas; 525 inde truces motus deductaque castra suorum, transmissum pelagus sicco pede, mersa profundo agmina, naufragium nulla cum classe secutam terrestrem fecisse manum; dehinc tota beatae regna Palaestinae populo patuisse reverso. 530 Ich glaube, er meinte den Nil umgeben zu sehen von Völkern hebräischen Stamms, meinte späte Enkel (525) und Menschenmengen zu erkennen, die sich zu ihm als ihrem Ahnherren511 zählen, darauf wilde Bewegungen, das verlegte Lager der Seinen, ein trockenen Fußes durchquertes Meer, in der Tiefe versenkte Truppen, und wie ein Landheer, das ohne Flotte nachsetzte, Schiffbruch erlitt, und wie darauf des fruchtbaren Palästina sämtliche (530) Reiche dem zurückgekehrten Volk geöffnet waren.

Schon die Art, in der Abram hier die Zukunft vor Augen gestellt wird, ist für das Epos ungewöhnlich, scheint er doch statt der dort üblichen symbolhaften Bildfolgen oder andeutenden Eindrücke konkrete Episoden aus der Geschichte des Volkes Israel in klarer, gleichsam photographisch genauer Weise vor dem inneren Auge zu sehen. Auch der Inhalt entspricht nicht ganz dem im Epos Üblichen: Während es in den dortigen prophetischen Träumen zumeist um unmittelbar bevorstehende, den Träumer direkt betreffende Ereignisse geht, liegen die hier genannten Begebenheiten ausnahmslos in einer fernen, bei Victorius gar nicht mehr erzählten Zukunft und betreffen Abrams eigenes Leben nur indirekt (nämlich insofern sie einen Sohn voraussetzen). Immerhin lässt sich hier eine Parallele zu bestimmten Träumen in der Aeneis sehen, in denen – freilich nicht durch optische Eindrücke, sondern in einer Rede, und auch nicht isoliert,

|| 511 Wörtl. bloß „als Obersten“.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 203

sondern in Verbindung mit Aussagen zur jeweiligen Situation – ein Ausblick auf die künftige Herrschaft der Römer gegeben wird.512 Bevor auf diese Parallele weiter eingegangen werden kann, ist erst noch der zweite Teil des Traums hinzuzunehmen. Wie erwähnt, folgt auf die Vision eine erklärende Rede Gottes, d. h. der Handlungstraum mündet offenbar in einen Redetraum (3,531–544):513 talibus attonito visis non defuit almus interpres: „praenosce tuos subolemque tuorum, crescet in externis quae post vos edita terris Niliaci famulare iugum sensura tyranni, quam, quadringentos cum duro expleverit annos servitio, eripiam dominosque ulciscar iniquos et reddam terris, blando quas gurgite cingunt Nilus et Euphrates, sed cum peccata nocentum gentis Amorraeae populi〈que〉 haec regna tenentis explerint summam scelerum dignique paternis sedibus expelli fuerint. at tu tamen ante longaevo felix decedens limite vitae laudatus natis cum pace et munere nostro ad sanctos migrabis avos“.

535

540

Als er von solchen Erscheinungen betäubt war, fehlte ihm nicht der gütige Deuter: „Erkenne im Voraus die Deinen und die Nachkommenschaft der Deinen, die, nach euch in fremdem Lande geboren, wachsen wird, um das Knechtsjoch des Herren am Nil zu erleiden; (535) und wenn sie vierhundert Jahre in harter Knechtschaft verbracht hat, werde ich sie herausreißen, die ungerechten Herren bestrafen und sie zurückbringen in das Land, das mit schmeichelndem Strudel Nil und Euphrat umfassen, doch nachdem die Sünden der Schuldigen, des Amoriterstamms und des Volks, das diese Herrschaft innehat, (540) die Summe der Untaten vollgemacht haben und sie es verdienen, von ihren heimischen Wohnsitzen vertrieben zu werden. Doch du wirst schon vorher, glücklich an des Lebens betagter Schwelle verscheidend, gelobt wegen deiner Söhne,514 mit Frieden und unserer Gunst zu deinen heiligen Vorvätern ziehen.“

|| 512 Es handelt sich um einen Traum des Aeneas (Aen. 3,147–178) und einen Traum von Aeneas’ späterem Schwiegervater Latinus (Aen. 7,81–105); beiden Träumern wird hier unter anderem die Herrschaft ihrer nepotes vorausgesagt. 513 Denkbar wäre auch, dass Abram nach der Vision aufwacht und im Wachzustand Gottes Stimme hört (ein Indiz hierfür wäre attonitus, das in Verg. Aen. 3,172 auf das Erwachen nach einem Traum bezogen ist), doch da die Gottesrede in der biblischen Vorlage offenbar an den schlafenden Abram ergeht (in Gen. 15,12 schläft Abram ein, in Gen. 15,13 beginnt die Rede), liegt es näher, die Rede auch bei Victorius dem Traumgeschehen zuzuordnen. 514 Papini übersetzt weniger sinnvoll „tra le lode dei figli“.

204 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Auch hier stechen Unterschiede zur epischen Tradition ins Auge. Dass ein Handlungstraum in einen Redetraum übergeht, kommt im Epos durchaus vor, gänzlich unepisch (und dafür dezidiert biblisch) ist es jedoch, dass die Stimme gleichsam aus dem Off ein Bild kommentiert, ohne dass der Sprecher sichtbar wäre.515 Inhaltlich ist wieder zu konstatieren, dass Gott ausschließlich und relativ ausführlich die Zukunft beschreibt, ohne den Protagonisten in seiner jetzigen Situation anzusprechen oder ihm Anweisungen zu geben (immerhin findet sich unter den Weissagungen auch eine, die Abram selbst betrifft, nämlich die über seinen Tod). Was bleibt also von der These eines ‚epischen‘ Traums in der Alethia? Bei allen Unterschieden im Konkreten ist zumindest eine grundlegende Parallele zum Epos festzuhalten: Wenngleich der Ausblick weiter über seine Lebzeit hinausreicht, erhält Abram, ähnlich wie die Figuren des Epos, im Traum von göttlicher Seite einen Einblick in seine Bestimmung, der für ihn in der gegenwärtigen Situation wichtig ist. Der Traum hat für Abram eine affirmative Funktion, da er bekräftigt, dass er, obwohl noch kinderlos und schon alt, zum Stammvater eines großen Volkes bestimmt ist. Letztlich steht der Traum sogar im Zusammenhang mit einer göttlichen Aussendung, nämlich derjenigen aus Ur nach Kanaan, an die Gott in der dem Traum vorangehenden Rede noch einmal erinnert.516 Funktional lässt er sich demnach mit den schon kurz erwähnten Träumen vergleichen, die Aeneas während seiner Fahrt zuteil werden und ihn darin bestärken, sein ‚verheißenes Land‘ zu erreichen. Mögliche Vorlage 1: der Penatentraum der Aeneis Von den sechs Stellen, an denen in der Aeneis Träume des Titelhelden dargestellt werden, ist für unsere Passage vor allem die zweite relevant, in der die Penaten in einer nächtlichen Erscheinung zu Aeneas reden (Verg. Aen. 3,147– 178). Wichtig ist zunächst, dass die Penaten – eher ungewöhnlich für das Epos, aber ähnlich wie bei Victorius – unter anderem auf die nepotes des Träumers eingehen (idem venturos tollemus in astra nepotes / imperiumque urbi dabimus,

|| 515 Zu Mischtypen siehe Walde 2001, 448; für Redeträume ohne Bild nennt Walde 2001, 47 aus dem Epos lediglich ein Beispiel, nämlich den bereits wegen des Ausblicks auf die nepotes erwähnten Traum des Latinus (Verg. Aen. 7,81–105), in dem dieser im Schlaf eine Stimme aus dem Hain hört. 516 3,492–494: omnipotens ego sum dominus, qui teque tuosque / Chaldaea de gente tuli tandemque paternis / exemptum vitiis terra meliore locavi … Die Aussendung selbst ist in 3,332–343 (Gen. 12,1–3) dargestellt.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 205

Aen. 3,158sq.; vgl. das Stichwort nepotes in Aleth. 3,524); auch der Name des verheißenen Landes wird dabei, wiederum ähnlich wie bei Victorius, genannt (Hesperia bzw. Italia, Aen. 3,163. 166; vgl. die Nennung Palästinas, freilich außerhalb der Rede, in Aleth. 3,550). Noch auffälliger ist es, dass Victorius einen halben Vers fast wörtlich aus der vergilischen Traumszene zitiert (talibus attonito visis, Aleth. 3,551 ~ talibus attonitus visis, Aen. 3,172).517 Auch wenn die Funktion der Worte nicht ganz vergleichbar ist – bei Vergil beenden sie den Traum, bei Victorius leiten sie lediglich von der Vision zur Gottesrede über –, ist das Zitat doch ein deutliches Indiz dafür, dass Victorius bei der Gestaltung seiner Traumszene tatsächlich an den Penatentraum der Aeneis dachte. Beim Vergleich mit der epischen Traumtradition ergibt sich also ein zwiegespaltenes Bild: Einerseits sind grundlegende funktionale Übereinstimmungen zwischen Abrams Traum und bestimmten Traumdarstellungen des Epos evident, und gerade die auffälligen Parallelen zum Penatentraum der Aeneis sprechen für eine bewusste Orientierung an einem epischen Vorbild. Andererseits fallen in der konkreten Ausgestaltung zahlreiche Abweichungen vom epischen Usus ins Auge. Mögliche Vorlage 2: die Heldenschau der Aeneis Eine mögliche Erklärung für die Abweichungen von epischen Traumszenen wäre, dass Victorius in der Passage noch andere epische Vorbilder verarbeitet hat, die die Konventionen der Traumdarstellung überlagert haben könnten. Ein guter Kandidat wäre hier die schon erwähnte vergilische Heldenschau aus Aen. 6,672–892, deren Einfluss Schenkl und einige jüngere Forscher bei Victorius feststellen zu können glauben. Gewisse Übereinstimmungen zwischen den Stellen sind nicht von der Hand zu weisen: Ähnlich wie Abram bei Victorius sieht auch Aeneas bei Vergil seine noch ungeborenen Nachkommen, und beiden wird das Gesehene von einer höheren Instanz (Anchises bzw. Gott) erklärt. Zudem handelt es sich, anders als bei den oben behandelten Träumen, um eine reine und ausführliche Zukunftsschau. Außerdem haben beide Szenen (wie auch Aeneas’ Träume) eine affirmative Funktion für die zuvor mit einer Verheißung ausgesandten Protagonisten. Gleichwohl sind auch hier gravierende Unterschiede festzuhalten: Zunächst sind natürlich die Umstände der Zukunftsschau (Unterweltsgang vs. Schlaf) || 517 Der Vergilvers ist bereits im Similienapparat von Hovingh aufgeführt; auch Martorelli 2008, 76 Anm. 84 und Cutino 2009, 203 weisen in ihren Untersuchungen der Victoriuspassage auf die Parallele hin und betonen den ähnlichen Kontext der beiden Stellen.

206 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

verschieden, jedenfalls wenn man die Katabasis nicht, wie einige Interpreten es aufgrund der sie abschließenden Bemerkungen über die somni portae (Aen. 6,893–899) tun, als Traumerleben versteht.518 Davon abgesehen unterscheiden sich aber auch Inhalt und Art der Visionen deutlich voneinander: Während Aeneas eine lange Reihe namentlich genannter Einzelpersonen mit Kurzbeschreibung ihrer künftigen Taten vorgeführt wird, erblickt Abram sein Volk als Ganzes in bestimmten Situationen; während Aeneas lediglich die Seelen seiner Nachkommen in der Unterwelt wandeln sieht, erscheinen Abram konkrete Bilder und Szenen von den jeweiligen Schauplätzen.519 Überdies liegt die Dopplung von Visuellem und Auditivem, die ja ein wichtiges Verbindungsglied zwischen beiden Szenen zu sein scheint, in der Aeneis in der erzählerischen Umsetzung gar nicht vor, da das Gesehene nur aus den Worten des Anchises zu erschließen ist und nicht, wie bei Victorius, auch vom Erzähler geschildert wird. Martorelli und Cutino suchen die Abhängigkeit von der Vergilstelle noch durch verbale Anklänge zu belegen, doch auch diese erweisen sich bei genauerer Betrachtung als wenig aussagekräftig.520 Ingesamt liegen also eher grobe inhaltlich-funktionale Übereinstimmungen vor; es fehlt ein konkreter Anhaltspunkt, der ähnlich deutlich wie das Zitat aus der Penatentraumszene belegen würde, dass Victorius Abrams Traum tatsächlich in die Nähe der Heldenschau rücken wollte. Dass Victorius an diese Unterweltsszene gedacht hat (vgl. Schenkl 1988, 350: „non immemor fuisse uidetur“), ist damit sicher nicht ausgeschlossen, zumal diese ja eine ähnliche Funktion wie der Penatentraum hat, doch scheint sie für seine Gestaltung der Passage keine allzu große Rolle gespielt zu haben.

|| 518 Vgl. zu dieser Interpretation N. Horsfall, Virgil, ‘Aeneid’ 6. A commentary, Vol. 2, Berlin/ Boston 2013, 615f. (zur genannten Stelle) mit älterer Literatur. Horsfall sieht in der Katabasis zwar gewisse „[d]ream-like qualities“, will sie aber im Ganzen nicht als Traum verstanden wissen. 519 Vgl. teilweise auch bereits die Kritik von Ferrari 1912a, 72 (zitiert von Homey 1972, 116 Anm. 3). 520 Martorelli 2008, 76f. Anm. 87 und Cutino 2009, 201 vergleichen (ohne Verweis aufeinander oder auf eine gemeinsame Quelle) Aen. 6,681sq. ([Anchises] lustrabat studio recolens, omnemque suorum / forte recensebat numerum, carosque nepotes …) und Aleth. 3,524sq. ([Abram videbatur sibi cernere …] serosque nepotes / et quae se ad summum numerent cognoscere turbas). Abgesehen davon, dass die beiden Wörter bei Victorius räumlich und syntaktisch deutlich weiter voneinander getrennt sind als bei Vergil und numerent auch nur ungefähr numerum entspricht, steht der Vergilvers weit vor der eigentlichen Heldenschau, die erst in V. 756 beginnt (diesen Vers nennt auch Schenkl 1888, 350); Subjekt ist zudem Anchises statt, wie man bei einer Korrespondenz erwarten würde, Aeneas.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 207

Mögliche Vorlage 3: die Schildbeschreibung der Aeneis Da sich zur Heldenschau nur sehr grobe Parallelen ziehen ließen, soll hier noch ein weiterer möglicher Eposbezug diskutiert werden, der der in der Forschung bislang noch nicht erwogen wurde. Es fällt auf, dass die in der Vision geschilderten Eindrücke sehr statisch sind und somit fast an Bildbeschreibungen erinnern.521 Bildbeschreibungen sind als Subgattung der Ekphrasis bekanntlich auch ein fester Bestandteil von Epen (vgl. Kap. 1.3.1.1), und in der Tat gibt es einige Fälle, in denen auf den Bildern Zukünftiges dargestellt ist. Das prominenteste Beispiel in der lateinischen Literatur ist sicherlich die Beschreibung von Aeneas’ neuem Schild in Aen. 8,626–728, und da für die untersuchte Passage bereits Bezüge zu Vergil festgestellt oder erwogen wurden, soll hier nur diese Passage betrachtet werden.522 Ähnlich wie in Abrams Vision wird auf dem Schild des Aeneas das Schicksal der Nachkommenschaft in Gestalt mehrerer zeitlich aufeinanderfolgender Bilder dargestellt. Auch die affirmative Funktion für den jeweiligen Protagonisten ist vergleichbar, was freilich in ähnlicher Weise schon für den Penatentraum und die Heldenschau zu konstatieren war. Hinzu kommen Parallelen in den dargestellten Ereignissen: Im Mittelpunkt von Abrams Traum steht der für das Selbstverständnis der späteren Israeliten so wichtige Auszug aus Ägypten, der wie eine paradoxe Art von Seeschlacht dargestellt wird (so besonders V. 527– 529). Eine Seeschlacht, in der die Nachkommen des Verheißungsempfängers über eine (teilweise) ägyptische Streitmacht triumphieren, ist auch auf dem Schild des Aeneas als zentrales Bild dargestellt, nämlich die Seeschlacht bei Actium, in der sich Octavian gegen Marcus Antonius und Kleopatra durchsetzte (Aen. 8,675–713). Auch wenn sich erneut deutliche Unterschiede zwischen Abrams Traum und der möglichen Vorlage finden lassen (verschiedene Medien, bei Vergil keine zusätzliche Rede), spricht somit einiges dafür, dass die Schild-

|| 521 Man könnte die Vision in folgende Bilder einteilen (alternative Einteilungen, vor allem weitere Zerlegungen sind denkbar): Abrams Nachkommen am Nil (V. 523–525); kriegerische Bewegung mit Lager (V. 526); Durchzug durchs Rote Meer mit Untergang der Ägypter (V. 527– 529); Einzug in Kanaan (V. 529sq.). 522 Mehr zu proleptischen Ekphraseis bei S. J. Harrison, Picturing the future. The proleptic ekphrasis from Homer to Vergil, in: ders. (Hg.), Texts, ideas and the classics. Scholarship, theory and classical literature, Oxford 2001, 70–92. Zur Schildbeschreibung der Aeneis vgl. etwa M. C. J. Putnam, Virgil’s epic designs. Ekphrasis in the Aeneid, New Haven/London 1998, 119–188; U. Eigler, Augusteische Repräsentationskunst als Text? Zum Problem der Erzählbarkeit von bildender Kunst in augusteischer Dichtung am Beispiel des Schildes des Aeneas, Gymnasium 105 (1998), 289–305; C. Becker, Der Schild der Aeneas, WSt 77 (1964), 111–127.

208 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

beschreibung die vorliegende Szene mindestens ebenso sehr wie der Penatentraum beeinflusst hat. Die Zukunftsschau als epische Kriegsschilderung en miniature Abschließend sei noch ein letzter, allgemeinerer Eposbezug betrachtet, auf den Cutino aufmerksam macht (2009, 202). Ein Gutteil der in der Vision beschriebenen Szenen hat kriegerischen Charakter oder wird zumindest mit militärischen Ausdrucksformen beschrieben (v. a. die Verse 526–529a). Die Vision rückt so in die Nähe von Kampfszenen, die für das pagane Epos so wichtig sind, und so lassen sich auch besonders viele verbale epische Reminiszenzen in den Versen finden.523 Dass die Vision einen solch kriegerisch-heroischen Charakter hat, ist umso bemerkenswerter, als es ja zunächst um die Unterdrückung des Volkes Israel geht und auch der Auszug aus Ägypten durch göttliche Wunder und nicht durch kriegerische Stärke zustande kam. Auch wenn der Vision dieselben Ereignisse zugrunde liegen wie der folgenden Rede, zeichnet Erstere also ein positiveres und ruhmvolleres Bild von der Zukunft als die näher am Bibeltext bleibende Gottesrede. Man kann hier mehrere Intentionen vermuten: Wenn Victorius bei der Gestaltung der Szene tatsächlich den Penatentraum und die Schildbeschreibung im Kopf hatte (übrigens auch, falls er an die Heldenschau gedacht haben sollte), kann er das Bedürfnis empfunden haben, der dort verheißenen durch ruhmreichen Krieg zu erwerbenden Herrschaft ein geeigneteres Pendant entgegenzusetzen als die vierhundertjährige Knechtschaft in Ägypten, mit der Gottes Rede in der Genesis einsetzt. Darüber hinaus könnte er die Gelegenheit genutzt haben, seinem im Vergleich mit dem Epos kampfarmen Werk (die einzige echte Ausnahme wurde im letzten Teilkapitel behandelt) zumindest in Miniaturform einige weitere kriegerische Szenen hinzuzufügen. Zusammenfassung und Erklärungsversuche Blicken wir zurück, und hierbei vor allem auf die strittigen Vorbilder aus dem Bereich der Zukunftsschauszenen: Abrams Traum lässt sich mit drei Vergilstellen in Verbindung bringen, mit denen er, abgesehen von den grundlegenden inhaltlichen und funktionalen Übereinstimmungen, jeweils bestimmte Aspekte exklusiv teilt: die Traumsituation mit dem Penatentraum, die (wenn auch nicht in beiden Fällen in der Erzählung abgebildete) Kombination von Gesehenem

|| 523 Vgl. Cutino 2009, 202, der die wesentlichen Parallelen aufführt und diskutiert.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 209

und Gehörtem mit der Heldenschau und die Reihung statischer Bilder mit der Schildbeschreibung. Einigermaßen sicher ist die Nachahmung indes nur bei der Penatentraumszene, aus der Victorius einen Halbvers zitiert, und in allen drei Fällen offenbaren sich bei einem genaueren Vergleich deutliche Unterschiede. Damit erhebt sich die Frage, warum Victorius, wenn er den Passus schon offensichtlich zu einer Szene mit epischen Reminiszenzen erweitert und ausgestaltet, nicht konsequenter dem (bzw. einem bestimmten) epischen Vorbild folgt. Man kann sich der Frage aus verschiedenen Richtungen nähern. Betrachtet man zunächst das Verhältnis zum Epos und versucht, aus dem komplexen Geflecht partieller Berührungen die wesentlichen Gestaltungsinteressen herauszusondern, so kristallisieren sich zwei übergeordnete Bezüge heraus, die vielleicht wichtiger sind als das Verhältnis zu einer bestimmten Einzelszene: Erstens ist bei den Vergleichen deutlich geworden, dass Abram in seinem Traum etwas Ähnliches erlebt, wie es Aeneas bei Vergil mehrfach zuteil wird. Offenbar sucht Victorius seinen Abram hier also mit der Figur Aeneas zu parallelisieren, indem er mehrere Zukunftserfahrungen des vergilischen Titelhelden überblendet und auf Abram projiziert. Zweitens lassen sich die besprochenen Szenen zusammenfassen unter der Rubrik der Zukunftsschau, die sich im Epos insgesamt und besonders bei Vergil in verschiedenen Formen findet (vgl. Kap. 1.3.1.3). Auffällig bleibt, dass Victorius keinen bestimmten Typus der Zukunftsschau konsequent nachahmt, sondern vielmehr Aspekte mehrerer Schau-Arten miteinander kombiniert, sodass sich trotz zahlreicher epischer Ingredienzien keine konventionell-epische Szene ergibt. Ein zweiter Erklärungsansatz geht von der Bibel aus. Es hat den Anschein, dass Victorius sich trotz seiner mit credo (3,353) markierten Hinzufügung möglichst genau an den Bibeltext halten wollte. Bereits Homey weist in Auseinandersetzung mit der These einer Heldenschau-Imitation darauf hin, dass Victorius Abrams Zukunftsvision keineswegs frei hinzuerfunden habe, sondern mit ihr vielmehr die biblische Gottesrede ins Visuelle dupliziere.524 In der Tat decken sich beide Teile im Großen und Ganzen (auch wenn sie unterschiedliche Details enthalten und die Vision die Zukunft etwas positiver erscheinen lässt): Die wesentlichen Themen sind Abrams Nachkommenschaft in Ägypten und die Rück-

|| 524 Homey 1972, 117f. Homey zieht hier das Fazit: „So ist in der Alethia 3,520 ff. das, was Schenkl als Nachahmung Vergils ansieht, letztlich Wiedergabe des im Genesistext selbst vorgegebenen.“ Diese Aussage ist freilich im Lichte der letzten Vergilvergleiche zu relativieren, vielmehr hat es den Anschein, dass Victorius in der Passage zugleich der Bibel und Vergil (und zwar nicht nur und wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie der Heldenschau) zu folgen sucht.

210 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

kehr ins Land Kanaan; einzig Abrams Tod kommt nur in Gottes Rede vor. Victorius konnte also für sich beanspruchen, nichts Unbiblisches in die Erzählung eingefügt zu haben.525 Überdies erweckt er durch das spekulative credo den Anschein, die Visionsschilderung sei lediglich ein Erklärungsversuch für den Schrecken, der Abram bereits nach der biblischen Schilderung zusammen mit dem Schlaf überkommt und der dort nicht weiter begründet wird.526 Aus bibelparaphrastischer Sicht wäre die Vision so nicht einmal eine Verfremdung der biblischen Erzählung, sondern lediglich eine exegetische Spekulation. Hinzu kommt nun noch ein weiteres mögliches Modell, das zuerst von Homey erwogen wurde und hier nur noch am Rande erwähnt sei: Homey beobachtet, dass die Traumszene in ihrer formalen Struktur (Kombination aus Bild und erklärender Rede) den Visionsberichten der Apokalyptiker ähnele, die ebenfalls oft Schau und Rede in dieser Weise kombinieren.527 Das Verhältnis soll hier nicht weiter untersucht oder problematisiert werden (zu fragen wäre z. B., ob die recht klar anmutenden Szenen aus Aleth. 3,523–530 mit apokalyptischen Bilderwelten vergleichbar sind), wichtig ist hier nur, dass das Nacheinander von Bild und Stimme, das in den epischen Zukunftsschauen so nie zu finden war, in der Bibel durchaus nichts Ungewöhnliches ist. Victorius sucht also den Spagat zwischen dem Bibeltext und biblischen Konventionen und bestimmten epischen und vor allem vergilischen Modellen, die er miteinander und mit der biblischen Vorlage verquickt.

2.1.4 Epiphanien mit epischen Elementen (3,574–579. 639–656. 683–687) Im dritten Buch der Alethia erscheinen mehrfach kurz nacheinander Gott oder Engel sichtbar vor Menschen: Ein Engel stärkt Hagar (3,574–579, vgl. Gen. 16,7–

|| 525 Ähnlich Martorelli 2008, 77: „Per non violare troppo vistosamente il rispetto della pagina biblica e il principio della verisimiglianza, lo scrittore si pone nell’ottica di Abrama e non esplicita ufficialmente i fatti anticipati, che corrispondono comunque alle parole divine parafrasate nei versi successivi.“ 526 Das Element des Schlafes (sopor) kommt freilich nur in der Vulgata vor, von der Victorius hier beeinflusst zu sein scheint (dazu oben Anm. 45), vgl. Gen. 15,12: cumque sol occumberet sopor inruit super Abram et horror magnus et tenebrosus invasit eum (nach Fischers VetusLatina-Edition, europäischer Text: ad solis autem occasum pavor cecidit super Abram et ecce timor tenebrosus magnus incubuit ei); vgl. Aleth. 3,521: ecce niger terror, tremor horridus et sopor intrat … 527 Homey 118 Anm. 8, aufgegriffen von Martorelli 2008, 76 mit Anm. 86 und Cutino 2009, 200f. mit Anm. 33.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 211

11), Gott und zwei Engel besuchen Abraham bei Mamre (3,639–682, vgl. Gen. 18,1–33), die beiden Engel kehren anschließend bei Lot ein (3,683–687). Die drei Szenen sind zwar vom Bibeltext vorgegeben, bilden aber zugleich eine Brücke zur epischen Tradition, denn auch hier gehören Epiphanien seit frühester Zeit zum Szenenrepertoire des Epos. Die Erscheinungen können hier verschiedene Formen annehmen: Häufig verwandelt die Gottheit sich in einen Menschen, mitunter erscheint sie jedoch auch in eigener Gestalt, die sich meist durch Größe, Schönheit oder Glanz auszeichnet, in wieder anderen Fällen bleibt sie unsichtbar; meist tritt die Gottheit an einen bestimmten Menschen heran, und richtet eine Rede an ihn, seltener hilft sie praktisch; erscheint die Gottheit unverhüllt, erkennt der Mensch sie meist sofort, andernfalls kann sie im Gespräch oder bei ihrem meist plötzlichen Verschwinden erkannt werden oder auch unerkannt bleiben.528 Victorius bot sich also die Gelegenheit, den biblischen Bericht nach dem Vorbild epischer Epiphanien auszuschmücken oder umzugestalten. Inwieweit er von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, soll auf den nächsten Seiten durch eine Betrachtung der einzelnen Stellen geklärt werden. Der Engel bei Hagar (3,574–579) Im ersten Fall, der Engelserscheinung vor Hagar (im engeren Sinne handelt es sich also um eine Angelophanie), ist die Darstellung zu einem einzigen Nebensatz komprimiert. Man erfährt lediglich, dass der Engel zu Hagar tritt (occurrat, V. 575) und zu ihr spricht, wobei seine Worte nicht einmal in direkter Rede referiert werden. Mit epischen Epiphanieszenen sind diese Verse also nur sehr eingeschränkt vergleichbar. Erwähnenswert ist immerhin, dass Victorius den Engel als vom Olymp gesandt (missus Olympo, V. 574) bezeichnet, eine Formulierung, die nicht nur an die pagane Götterwelt insgesamt, sondern speziell an Epiphanien von Botengottheiten im Epos, vor allem bei Vergil, erinnert.529

|| 528 Für Beispiele vgl. E. Pax, Art. „Epiphanie“, in: RAC 5, Stuttgart 1960, 832–909, hier 839f. (zu Homer), 847 (zu Apollonios Rhodios) und 853 (zu römischen Dichtern, vor allem Vergil); vgl. auch F. Graf, Art. „Epiphanie“, in: DNP 3, Stuttgart/Weimar 1997, 1150–1152); eine gute Übersicht zu Epiphanien bei Vergil bietet immer noch Heinze 1915, 311–313. 529 Vgl. im Epos Verg. Aen. 4,268sq. (der vor Aeneas erschienene Merkur über sich selbst: me claro demittit Olympo / regnator); 4,694 (Irim demisit Olympo [sc. Iuno]); 12,634sq. (über Iuturna: Olympo / demissam); Sil. 9,551 (Irim propere demittit Olympo [sc. Iuppiter]). – Die Verwendung von Olympus für den Himmel ist bei Victorius übrigens auch sonst häufig, vgl. prec. 63; 1,58. 314. 158; 2,437. 546; 3,10. 235. 574 (ähnlich auch Tartara in prec. 87; 1,181. 474; 2,431, Erebus in prec. 89 und Avernus in 1,182. 293 für das Totenreich oder die Unterwelt).

212 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Gott und zwei Engel bei Abraham in Mamre (3,639–656) Ergiebiger für einen Vergleich mit dem Epos ist die Mamreszene, und zwar vor allem der Beginn des Abschnitts. Auffällig ist hier zunächst, dass Victorius die drei Gestalten als leuchtend beschreibt (augusta luce micantes, V. 645), wovon im Bibeltext (Gen. 18,1) keine Rede ist, und sie so für Abraham unmittelbar als himmlische Wesen erkennbar macht. Für das Motiv kommen mehrere Quellen infrage: Zunächst ist zu bedenken, dass Engel oder Gotteserscheinungen in der späteren biblischen Tradition und vor allem im Neuen Testament sehr oft als glänzend beschrieben werden oder von plötzlichem Licht begleitet werden.530 Darüber hinaus gehen jedoch auch in der paganen Literatur, wie erwähnt, Epiphanien oft mit Licht einher.531 Dafür, dass die pagane Tradition für die vorliegende Stelle nicht ganz unwichtig war, sprechen gedankliche und verbale Parallelen zu einer Epiphanie bei Vergil, nämlich die unverhüllte Erscheinung der Venus vor Aeneas im Kampf um Troia (Verg. Aen. 2,589–592; auf der rechten Seite Aleth. 3,641–645, Parallelen durch gleiche Auszeichnung hervorgehoben): … mihi se, non ante oculis tam clara, videndam obtulit et pura per noctem in luce refulsit alma parens, confessa deam qualisque videri caelicolis et quanta solet …

aut verum aut qualem norat se posse videri et numen numerumque suum confessus alumni, quamvis caelitibus famulis comitatus adiret, visibus obiecit. iuxta aedes quippe sedenti tres subito adstiterunt augusta luce micantes.

… da bot sich mir – so deutlich hatte sie mir noch nie vor Augen gestanden – die gütige Mutter zu sehen dar (590) und leuchtete durch die Nacht in reinem Licht, wobei sie sich als Göttin in der Art und Größe offenbarte, wie sie den Himmelsbewohnern zu erscheinen pflegt.

Er offenbarte – entweder wahrheitsgemäß oder so, wie er wusste, dass man ihn sehen konnte – sowohl seine Gottheit als auch seine Anzahl, und obgleich er in Begleitung himmlischer Diener herbeikam, trat er dem Schützling vor Augen. Als der nämlich neben dem Zelt saß, (645) standen bei ihm plötzlich drei, in erhabenem Lichte funkelnd.

|| 530 Vgl. Hes. 1,4. 7. 13. 27sq. (visionäre göttliche Wesen); Dan. 10,6 (zu Daniel gesandter Engel); Mt. 28,3 ~ Luk. 24,4 (Engel am Grab Jesu); Luk. 2,9 (Engel bei den Hirten); Apg. 9,3 (Bekehrung des Saulus); 12,7 (Engel bei Petrus im Gefängnis). 531 Schon die Götter der Ilias sind gelegentlich an strahlenden Augen (1,200 über Athena: δεινὼ δέ οἱ ὄσσε φάανθεν; 3,397 über Aphrodite: ὄμματα μαρμαίροντα) oder Attributen (14,386 über Poseidons Schwert: εἴκελον ἀστεροπῇ) kenntlich. Seit den Homerischen Hymnen (5,86. 174sq.; 2,189. 278) sind Epiphanien häufiger mit Licht verbunden; vgl. in der lateinischen Dichtung z. B. Verg. Aen. 2,590; 9,110; Ov. Fast. 1,94.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 213

Angesichts der Ähnlichkeiten kann man kaum daran zweifeln, dass Victorius den Anfang seiner Mamreszene gegen die Folie der vergilischen Epiphanie geschrieben hat. Aufschlussreich sind die Unterschiede zur Vorlage: Während Vergil (bzw. der hier sprechende Aeneas) ohne Umstände behaupten kann, Venus sei erschienen, „wie und wie groß sie den Himmelsbewohnern zu erscheinen pflegt“ (Aen. 2,591sq.), steht Victorius vor dem Problem, dass Gott seiner Auffassung nach eigentlich gar keine fassbare imago besitzt (vgl. Aleth. prec. 13sq.); er behilft sich damit, offen zu lassen, ob Gott in seiner wahren Gestalt oder nur in einer für den Menschen wahrnehmbaren Erscheinungsform auftritt (Aleth. 3,641).532 Interessant ist außerdem, wie Victorius das schlichte vergilische confessa deam (Aen. 2,591) zu et numen numerumque suum confessus (Aleth. 3,642) erweitert, also die Erscheinung der drei Gestalten als einen Hinweis auf die Trinität deutet, womit er ein Stück biblischer Exegese in den episierenden Szeneneinstieg integriert.533 Eine weitere Reminiszenz an epische (konkret: vergilische) Epiphanien findet sich im Abschluss der Mamreszene, d. h. nach dem Gespräch zwischen Abraham und Gott (3,681sq.): … in medio famulum sermone reliquit tendentem ulterius seque in sua regna recepit. … er verließ seinen Diener mitten im Gespräch, als dieser noch weiter strebte, und kehrte zurück in sein Reich.

Dass die Gottheit den Menschen unvermittelt verlässt, was in der biblischen Vorlage übrigens gerade nicht der Fall ist,534 gehört, wie erwähnt, generell zu den Charakteristika epischer Epiphanien. Mit in medio sermone … reliquit greift Victorius überdies eine Formulierung auf, die zweimal fast wortgleich zum Abschluss von Epiphanien in der Aeneis gebraucht wird (Verg. Aen. 4,276–278

|| 532 Der Gedanke wird wenig später erneut aufgegriffen (Aleth. 3,652–654, Subjekt ist Abraham): usque adeo visus inter sensusque vigentes / errabat dubitans, hominem quod forma referret, / quem norat mens esse deum tamen. 533 Er folgt hier speziell Augustinus, vgl. Aug. Trin. 2,11; Serm. 7,6; C. Maximin 2,26,5. 7 (siehe Cutino 2009, 53 Anm. 67 für weitere Parallelen). 534 Man beachte besonders den abschließenden Vers Gen. 18,33 (nach der Vetus Latina, dier hier freilich nur durch Aug. C. Maximin. 2,26,5 repräsentiert ist: abiit autem dominus ut desiit loquens ad Abraham, nach der Vulgata und Aug. Trin. 2,21: abiit dominus ut desiit loquens ad Abraham). Demnach verlässt Gott Abraham gerade nicht mitten im Gespräch, sondern nach dem Gespräch.

214 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

und 9,656–658, jeweils unmittelbar nach der Rede des Gottes; ich zitiere die erste Stelle): tali Cyllenius ore locutus mortalis visus medio sermone reliquit et procul in tenuem ex oculis evanuit auram. Nachdem der Kyllenier mit solcher Rede gesprochen hatte, verließ er der Sterblichen Blicke mitten im Gespräch und entschwand aus den Augen fernhin in leichten Dunst.

Anfang und Ende der Mamreszene sind also mit deutlichen Bezügen zu vergilischen Epiphanien gestaltet. Demgegenüber wirkt das Kernstück der Szene weitaus weniger episch. Vor allem der fast vollständige Verzicht auf wörtliche Rede (einzige Ausnahme ist Gottes wörtlich referiertes non perdam, V. 676) läuft dem Usus epischer Epiphanien und des Epos überhaupt zuwider.535 Victorius hat die biblische Erzählung, die zahlreiche wörtliche Reden enthält, somit eher ent-episiert; sein Augenmerk liegt offenbar weniger auf dem sinnlich wahrnehmbaren Geschehen als auf seiner inneren Bedeutung (vgl. besonders V. 652–654. 657–662). Der Bezug zur korrespondierenden typischen Szene des Epos bleibt so punktuell. Die beiden Engel bei Lot (3,683–687) Die dritte, unmittelbar folgende Epiphanieszene bringt für die vorliegende Fragestellung wenig Neues. Wie am Beginn der Mamreszene (und wie dort gegen den Bibeltext, hier Gen. 19,1) beschreibt Victorius die beiden Männer als leuchtend (miro splendore … / angelicos radiare viros, V. 685sq.). Lot kann sie dementsprechend sofort als gottgesandt erkennen (ratus adfore caelo, V. 686) und verehren (prostratus adorat, V. 687). Wörtliche Rede, die in der biblischen Vorlage breiten Raum einnimmt, fehlt wieder vollständig. Genauere Betrachtung verdient die Aussage, die beiden Männer würden bei der Rettung des von seinen Mitbürgern bedrohten Lot „die Engelskräfte an ihrem vorgetäuschten Körper“ enthüllen (angelicas nudant mentito corpore vires, V. 707).536 Auf den ersten Blick scheint die Formulierung gut zur Vorstellungswelt des paganen Epos zu

|| 535 Wie bereits oben bei der Behandlung der Gottesreden beobachtet wurde, scheint Victorius es generell zu vermeiden, Gott zugleich sichtbar und hörbar werden zu lassen, wie es im Epos der Regelfall ist (vgl. oben S. 138f.). 536 Zur Junktur mentito corpore (mit passivischem mentitus) vgl. Stat. Silv. 4,6,21; Paul. Petric. Mart. 1, 216.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 215

passen, wo die Götter ja auch oft in falscher Gestalt auftreten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Victorius etwas anderes meint, nämlich dass die Engel eigentlich nicht anthropomorph, sonst rein geistig sind (vgl. die Bezeichnung als spiritus in prec. 52) und deshalb nur einen „vorgetäuschten Körper“ haben. Wenn diese Deutung zutrifft, würde sich Victorius hier in subtiler Weise vom anthropomorphen epischen Gottesverständnis abgrenzen.537 Zusammenfassung Die drei Epiphanieszenen zeigen erneut, dass Victorius zwar recht deutliche Bezüge zu epischen Szenen herstellen kann und will, im Ganzen aber eine Darstellungsform wählt, die sich stark vom Epos unterscheidet. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die häufigere Form, in der Gott in der Alethia (und in Gen. 1–19) mit den Menschen in Kontakt tritt, gerade nicht die leibhaftige Erscheinung von Engeln oder gar seiner selbst, sondern die bloße Audition ist, wofür es im Epos nur ganz vereinzelt Parallelen gibt.538 Die punktuellen Bezüge zum Epos in den drei Epiphanieszenen scheinen somit weniger der Episierung als vor allem der Kontrastierung gegenüber dem Epos zu dienen.

2.1.5 Sonderfall: die Sintflut zwischen Epos und Naturwissenschaft (2,454– 485) Auch die Sintflutepisode, die das Ende des zweiten Buches einnimmt (die eigentliche Flut umfasst die Verse 454–485), weist Bezüge zu epischen Szenen auf, und dies sogar in zweifacher Weise. Zunächst lässt sich die Erzählung mit Unwetter- und vor allem mit Seesturmschilderungen vergleichen, die im paganen Epos von Beginn an – auf griechischer Seite zum ersten Mal fassbar in der

|| 537 Nur am Rande erwähnt sei, dass die ersten Verse der Szene (interea Sodomam missi Loth forte sedentem / ante fores urbis … / inveniunt, V. 683–685) bis zu einem gewissen Grad an homerische Epiphanieszenen erinnern, in denen ebenfalls oft dargestellt wird, wo und wie die Gottheit einen Meschen findet (vgl. z. B. Hom. Il. 2,167–170, dort über Athene: βῆ δὲ κατ’ Οὐλύμποιο καρήνων ἀΐξασα. / … / εὗρεν ἔπειτ’ Ὀδυσῆα Διὶ μῆτιν ἀτάλαντον / ἑσταότ’ …; ähnlich Il. 4,89; 5,794 u. ö.). In der erhaltenen lateinischen Epik kommen derartige Epiphanieeinleitungen, soweit ich sehe, nicht vor. Ob Victorius den Einleitungstyp aus der Epik kannte (sei es aus verlorener lateinischer Epik, sei es, falls er doch griechisch lesen konnte, aus Homer) oder ob die Ähnlichkeit zufällig ist, muss offen bleiben. 538 Vgl. etwa Verg. Aen. 9,110–117, wo die Mater ohne visuelle Erscheinung ihre Stimme vernehmen lässt (dazu Heinze 1915, 331 Anm. 1).

216 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Odyssee, in der lateinischen Tradition bei Naevius und Ennius – zum Repertoire der typischen Szenen gehören.539 Noch näher steht die Episode den Fluterzählungen der griechisch-römischen Mythologie, wobei besonders an die bekannte und wirkmächtige Deukalionerzähung in Ovids Metamorphosen zu denken ist (1,253–312).540 Allerdings wird sich bei der Betrachtung der Episode schnell zeigen, dass der Einfluss möglicher epischer Vorbilder nicht sehr weit reicht und dass Victorius das größte Gewicht auf die Erläuterung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge legt, die man eher im Lehrgedicht erwarten würde, auch wenn keine ausführliche Flutdarstellung im Lehrgedicht überliefert ist.541 Victorius’ Sintflutdarstellung steht also noch stärker als die bisher betrachteten Szenen, selbst stärker als Adams Gebet, zwischen epischen Vorbildern und lehrdichterischen Interessen und soll daher als Sonderfall zum Abschluss des Teilkapitels 2.1 untersucht werden. Verhältnis zu epischen Sturmschilderungen Betrachtet sei zunächst das Verhältnis zu den im Epos regelmäßig auftretenden Seesturmerzählungen. Die entsprechenden Szenen – die berühmteste und prägendste ist die Schilderung des von Juno ausgelösten Seesturms in Verg. Aen. 1,50–156 – zeigen generell das Bemühen, die Naturgewalt in allen ihren Phasen || 539 Eine ausführliche Liste mit Seesturmschilderungen in der römischen Dichtung bietet Arweiler 1999, 245 Anm. 81, der die Sintflutschilderung des Avitus mit epischen Seesturmszenen vergleicht (mit weiterführender Literatur in Anm. 82). Vgl. auch insgesamt die instruktive Zusammenstellung der Motivbestände paganer und christlicher Flut- und Sturmschilderungen bei Arweiler 1999, 221–249, auf die ich mich im Folgenden immer wieder stütze. 540 Zur Stellung der Ovidpassage im Kontext der griechisch-römischen Flutüberlieferung vgl. Bömer 1969, 100–102. Eine Verbindung zwischen biblischer Sintflut und Deukalionischer Flut konnte auch theologisch gerechtfertigt erscheinen, da viele jüdische und christliche Autoren beide Fluten miteinander identifizieren, meist indem sie Deukalion als alternativen oder falschen Namen für Noah verstehen (so z. B. Phil. Praem. 23; Iust. Mart. Apol. 2,7,2; Lact. Inst. 2,10,23; Rufin. Clement. 8,50; Apoc. Adam NHC V,5 p. 70,17–19; Schol. rec. Pind. O. 9,70 p. 217 Boeckh; Theoph. Autol. 3,19; vgl. auch Alc. Avit. SHG 3,1–10, der Deukalion nennt, sich aber von der fabula mendax abgrenzt; andere Autoren unterscheiden dagegen die einzelnen Fluten, so z. B. Eus. Arm. Chron. p. 34,27–35,4 Karst, der eine chronologische Abfolge Noah–Ogyges– Deukalion etabliert, ähnlich Aug. Civ. 18,8, der die Fluten des Ogygos und des Deukalion anerkennt, aber für geringer als die Sintflut hält). Für eine umfassende Behandlung der griechischrömischen und altorientalischen Fluterzählungen sei verwiesen auf G. A. Caduff, Antike Sintflutsagen, Göttingen 1986 (man beachte besonders die Zusammenstellung der Quellen auf S. 16–72, wo auch die oben genannten Stellen zu finden sind). 541 Lukrez erwähnt die Deukalionische Flut zwar in 5,411–415, führt sie aber als Mythos ein und unternimmt keinen Versuch, die Flut naturwissenschaftlich zu erklären.

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 217

und Wirkungen möglichst konkret und sinnlich vorstellbar werden zu lassen. Typische Elemente sind dabei die Auslösung und Stillung des Sturms durch einen Gott, die namentliche Aufzählung der widerstreitenden Winde, die nicht selten personifiziert dargestellt werden, sowie die wörtlich referierte Klage eines oder mehrerer vom Sturm betroffenen Seefahrer.542 Victorius müssen derartige Schilderungen als typisch episches Element wohlvertraut gewesen sein, zumal die nachahmende Abfassung eigener Unwetterschilderungen zur rhetorischen Ausbildung gehört haben dürfte. Gleichwohl ist in seiner Flutdarstellung von diesen epostypischen Elementen nur wenig zu finden. Sein Sintflutregen geht zwar auch mit Sturm (vgl. rapido cum turbine mota / tempestas, 2,460sq.) und Gewitter (vgl. ignis / fulminis sowie tonitru, 2,461sq.) einher, womit die Darstellung bereits über den biblischen Bericht hinausgeht, doch teilt der Erzähler dies lediglich knapp mit, ohne die Winde zu benennen oder sonst irgendwie zu veranschaulichen. Die von der Sintflut betroffenen Menschen werden nur summarisch und distanziert erwähnt (mixtis cultoribus, V. 470; cum civibus urbes, V. 471; populi periere, 2,472). Gott sowie die in der Arche eingeschlossenen Menschen und Tiere treten nach V. 455 bis zum Ende der Flut gar nicht mehr in Erscheinung, übrigens im Gegensatz zur biblischen Darstellung, wo die Menschen und Tiere in Gen. 7,13–16 noch einmal einzeln aufgeführt werden (erst im Rückblick beschreibt Victorius die Zustände in der Arche, vgl. V. 535–558). Wörtliche Reden, die für das Epos so wichtig sind, fehlen bis zum Ende des Buches völlig. Auch in der sprachlichen Gestalt lassen sich keine klaren Parallelen zu epischen Sturmschilderungen finden.543

|| 542 Beispiele aus dem erwähnten Seesturm in Verg. Aen. 1,50–156: Iuno löst den Sturm aus, indem sie Aeolus Instruktionen gibt (1,65–80); die Winde brechen los (1,81–101, namentlich genannt in 84–86: incubuere mari totumque a sedibus imis / una Eurusque Notusque ruunt creberque procellis / Africus, et vastos volvunt ad litora fluctus); Aeneas beklagt sein Geschick (1,92–101); nach weiterer Sturmschilderung (1,102–123) tritt Neptun auf (1,124–156; Analyse nach Burck 1978, der die Vergilszene anschließend mit Unwetterschilderungen aus den flavischen Epikern vergleicht). Für einen genaueren Merkmalkatalog siehe Arweiler 1999, 246, der sich auf M. P. O. Morford, The poet Lucan. Studies in rhetorical epic, London 1996 (= 1967), 21 beruft. 543 Green 2010, 61 erwägt eine schwache Reminiszenz an Verg. Aen. 1,89 (ponto nox incubat atra) in Aleth. 2,485sq. (cum quadraginta diebus / unius pluviae furor et nox una fuisset), was mir etwas gezwungen scheint. Auffälliger ist die Parallele zwischen Aen. 1,81 (über die von Aeolus entfesselten Winde: qua data porta, ruunt) und Aleth. 2,524 (über die aus der Arche eilenden Tiere: postquam data porta, ruunt), doch gehört die Victoriusstelle nicht mehr zur eigentlichen Flutschilderung (vgl. zu dieser und weiteren sprachlichen Vergilparallelen in der Sintflutepisode Malsbary 1985, 70–73, hier 72).

218 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Vehältnis zu Ovids Metamorphosen Mehr, aber auch nur partielle Parallelen zeigen sich beim Vergleich mit Ovids Metamorphosen (1,253–312).544 Ovids Flutdarstellung ist nach einer kurzen Einleitung (Met. 1,253–261) im Wesentlichen dreigeteilt:545 Zunächst werden der Südwind und der von ihm gebrachte Regen geschildert (Met. 1,262–273), anschließend die anschwellenden Flüsse und die von ihnen verursachten Zerstörungen (Met. 1,274–292), schließlich die Menschen und Tiere in der nun alles bedeckenden Flut (Aleth. 1,291–312). Victorius folgt dieser Gliederung weitgehend: Zuerst erwähnt er den schon im biblischen Bericht genannten Regen (Aleth. 2,456–462, vgl. Gen. 7,12), dann die über die Ufer tretenden Flüsse und die Verwüstungen durch die Wassermassen, wobei die Flüsse kein Pendant in Gen. 7 haben (Aleth. 2,465–472; zu 2,463–465 siehe unten); zuletzt beschreibt er wie Ovid, wie sich das Meer über alles ausbreitet und seine Küsten verliert, wobei er jedoch nicht auf das Schicksal von Menschen und Tieren eingeht (Aleth. 2,473–481). Konkret erinnern vor allem die Überleitung zum zweiten Teil sowie die Aussagen über die Zerstörungen und das Überhandnehmen des Meeres an Ovid, wenngleich sich kaum wörtliche Anklänge finden.546 Diesen strukturellen und teilweise auch inhaltlichen Parallelen stehen gravierende Unterschiede gegenüber. Ovid steht hier, wie zu erwarten, fest in der Tradition des Epos und bemüht sich um konkrete und anschauliche Ausgestaltung, etwa indem er dem Rezipienten den Notus als wassertriefenden Windgott vor Augen malt (Met. 1,264–267), indem er Neptun eine Rede an die versammelten Flussgötter halten lässt (Met. 1,276–280) oder indem er im dritten Teil seiner Flutdarstellung anschauliche Beispiele für das Schicksal der Menschen und Tiere gibt (Met. 1,293–310). Victorius verzichtet auf eine derartige Ausmalung || 544 Ich übergehe dabei die Übereinstimmungen, die bereits zwischen dem biblischen Bericht und Ovid bestehen, also nicht auf bewusster Gestaltung durch Victorius beruhen, z. B. dass in beiden Fällen der Flut die Überlegungen des höchsten Gottes vorangehen. 545 Ich übernehme die Gliederung aus Bömer 1969, 102. 546 Zur Überleitung vgl. Aleth. 2,463 (nec satis excidio est qui nubibus effluit imber …) mit Met. 1,274 (nec caelo contenta suo est Iovis ira …). Zu den Zerstörungen vgl. Aleth. 2,470–472 (involvit [sc. aqua] mersos mixtis cultoribus agros / implicitosque greges stabulis, cum civibus urbes / obruit …) mit Met. 1,286sq. (cumque [sc. flumina] satis arbusta simul pecudesque virosque / tectaque cumque suis rapiunt penetralia sacris; man beachte die bei beiden Autoren auftretende Abfolge Felder–Städte/Häuser sowie die ähnlichen cum-Formulierungen; die von Victorius verwendete Junktur cum civibus urbes stammt übrigens nicht von Ovid, sondern aus Lucr. 6,590, wo es ebenfalls um das Versinken von Städten geht; vgl. auch Lucr. 6,1140; Verg. Aen. 5,631; 8,571). Zum Überhandnehmen des Meeres vgl. Aleth. 2,473 (tegit omnia fluctus) mit Met. 292 (omnia pontus erat).

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 219

fast vollständig. Dass er Ovids Fluss- und Meergötter nicht übernimmt, versteht sich dabei von selbst, doch zumindest die Tatsache, dass bei ihm, anders als bei Ovid (und auch in epischen Seesturmszenen) weder Gott noch einzelne Menschen in der Flut sichtbar werden, deutet darauf hin, dass er an einer vollgültigepischen Ausgestaltung des biblischen Stoffes tatsächlich kein Interesse hatte. Naturwissenschaftliches Interesse Im Vergleich zur epischen Tradition ist Victorius’ Darstellung eher distanziert und abstrahierend. Große Aufmerksamkeit verwendet Victorius stattdessen auf die meteorologischen Einzelheiten der Sintflut, die er differenzierter als im biblischen Bericht und auch als bei Ovid darstellt.547 Wie erwähnt, wird zunächst der aus den Wolken fallende Regen beschrieben (V. 456–462). Die Partie ist in sich wiederum dreigeteilt, wobei an erster Stelle eine plötzliche Verfinsterung des Himmels steht (V. 456), auf die dann starker und anhaltender Regen folgt (V. 457–460), der schließlich in ein Gewitter übergeht (V. 460–462). Anschließend wird der Blick auf eine weitere, bei Ovid nicht genannte Wasserquelle gerichtet, nämlich das bei der Schöpfung über dem Firmament abgetrennte Wasser, das nun durch die leeren Wolken hindurch auf die Erde regnet (V. 463– 465).548 Zuletzt werden, nun wieder ähnlich wie bei Ovid, die Wassermassen genannt, die die Erde durch Quellen hervorströmen lässt (V. 465–467; vgl. auch 474sq.). In den folgenden zwei Versen (V. 468sq.) werden die drei Wasserquellen noch einmal zusammengefasst (hier in veränderter Reihenfolge: caelum, terra und nubila). Wie die Nachzeichnung erkennen lässt, geht Victorius hier vor allem der Frage nach, woher die großen Wassermassen der Sintflut stammten. Dies ist ein genuin wissenschaftliches Erkenntnisinteresse, und so passt es auch, dass einzelne Menschen und selbst Gott in der Beschreibung der Flut, anders als in der biblischen Vorlage oder auch bei Ovid, gänzlich außer Acht bleiben. Die eigentlichen Akteure des Abschnitts sind die Natur und die Naturphänomene, die dementsprechend auch in den meisten Sätzen das Agens bilden.549 Die in || 547 Schon Codoñer 1977, 93 spricht vom „predominio del interés por el proceso natural“; ähnlich auch Martorelli 2008, 79: „Vittorio evidenzia le cause naturali e isola i diversi fenomeni.“ 548 Um dieses Wasser geht es bereits in 1,71–84 (vgl. die Erläuterung bei Martorelli 2008, 79 mit Anm. 100). 549 Codoñer 1977, 92f. weist darauf hin, dass in Gen. 7,10–12. 17–23 eine Reihe von Formulierungen im Passiv begegnen, die den Eindruck vermitteln, dass die Ereignisse von einer höheren Instanz kontrolliert werden, wohingegen bei Victorius das Aktiv vorherrscht. Ihre Vergleiche zwischen Bibeltext und Alethia sind zwar insofern problematisch, als sie sich ausschließ-

220 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

V. 470–472 erwähnten Menschen sind lediglich gesichtslose Opfer der Flut und werden nur kurz und gleichsam aus der Vogelperspektive beschrieben, bevor sich Victorius wieder mit größerer Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel der einzelnen Wassermassen zuwendet (V. 473–481). In seiner Beschreibung der Naturphänomene geht Victorius mitunter bis an die Grenze zur Personifikation – am deutlichsten, wenn er den Oceanus die Wassermassen „spüren“ lässt (nullis satiabilis umquam / amnibus oceanus tam magna mole ruentes / iam persentit aquas …, V. 475–477) –, doch greift er dabei nie zu mythologisierender oder rein dramatisierender Bildhaftigkeit, wie sie für das Epos typisch ist. In der erhaltenen lateinischen Literatur vor Victorius wurde die Frage nach den meteorologischen Zusammenhängen einer weltumspannenden Flut und namentlich nach der Herkunft des Wassers am ausführlichsten von Seneca im dritten Buch seiner Naturales quaestiones behandelt, wo es um den Kataklysmos am Weltende geht (3,27–30).550 Tatsächlich teilt Victorius mit Seneca auch über das Interesse an der Herkunft des Wassers hinaus einige Gedanken und Formulierungen, insbesondere das auffällige Motiv der umgekehrten Flüsse (Aleth. 2,476–481):551

|| lich auf die Vulgata stützt, die Victorius nur vereinzelt benutzt zu haben scheint (siehe oben oben S. 17 mit Anm. 45), doch trifft die Tendenz auch auf die in Fischers Vetus-Latina-Edition dargebotenen Versionen zu, siehe z. B. Gen. 7,11sq. (europäischer Text): et cataractae caeli apertae sunt et facta est pluvia super terram; dagegen Aleth. 2,456sq.: nox ruit … obduxere tenebrae / …. ferit … nimbus. 550 Die Senecapassage wurde zuerst von Codoñer 1977, 93–96 mit Victorius in Verbindung gebracht (vgl. auch Martorelli 2008, 19 Anm. 101). Die Frage nach der Herkunft des Wassers wird gleich am Anfang der Senecakapitel formuliert (Sen. Nat. 3,27,1): admonet me locus ut quaeram, cum fatalis diluvii dies venerit, quemadmodum magna pars terrarum undis obruatur: utrum oceani viribus fiat, et externum in nos pelagus exsurgat, an crebri sine intermissione imbres et elisa aestate hiems pertinax inmensam vim aquarum ruptis nubibus deiciat, an flumina tellus largius fundat aperiatque fontes novos, an non sit una tanto malo causa, sed omnis ratio consentiat, et simul imbres cadant, flumina increscant, maria sedibus suis excita procurrant, et omnia uno agmine ad exitium humani generis incumbant. 551 Eine weitere inhaltliche Parallele ist der Gedanke, dass die Flüsse ihren Namen verlieren, vgl. Aleth. 2,474sq. (crescendoque suum perdunt et flumina nomen, / mox etiam cursum) mit Sen. Nat. 3,27,8 (flumina vero suapte natura vasta et tempestatibus rapida alveos reliquerunt. quid tu esse Rhodanum, quid putas Rhenum atque Danuuium … cum superfusi novas sibi fecere ripas ac scissa humo simul excessere alveo? Der Gedanke ist, wie Green 2010, 59 anmerkt, für sich genommen topisch, wird sonst jedoch stets auf Nebenflüsse angewendet, die in einen größeren einmünden, vgl. Ov. Fast. 4,338; Lucan. 4,23; Sil. 3,454; Auson. Mos. 353). Im Wortlaut ähneln sich Aleth. 2,470–472 (involvit [sc. aqua] mersos mixtis cultoribus agros / implicitosque greges stabulis, cum civibus urbes / obruit …) und Sen. Nat. 3,27,7 (abluit [sc. torrens] villas et intermixtos dominis greges devehit; … urbes et implicitos trahit moenibus suis populos …; gemein-

Szenen mit Bezug zur epischen Tradition | 221

… oceanus tam magna mole ruentes iam persentit aquas, aucto quas gurgite maior pellit et in cumulum redeuntes surgere cogit, donec contractis aestum attollente profundo undique litoribus summo se circite iungat fluctus et oppressis concurrant aequora terris.

480

… schon spürt der Oceanus die in so großer Masse stürzenden Wasser, die er, nun größer durch den vermehrten Strudel, zurückstößt und zwingt, umzukehren und zu einem aufgetürmten Haufen zu wachsen, bis, da die See ihren Schwall erhebt, (480) sich überall die Küsten zusammenziehen und sich das Gewoge im höchsten Kreise schließt und die Meeresfluten, nachdem die Erde besiegt ist, gegeneinanderlaufen.

Die Vorstellung, wenn auch nicht der Wortlaut, erinnert stark an Sen. Nat. 3,27,10: … procellaeque quatiunt mare, tunc primum auctum fluminum accessu et sibi angustum. iam enim promovet litus nec continetur suis finibus, sed prohibent exire torrentes aguntque fluctum retro. pars tamen maior ut maligno ostio retenta restagnat et agros in formam unius lacus redigit. … und Stürme peitschen das Meer, das damals zum ersten Mal durch den Zustrom der Flüsse angeschwollen und sich selbst zu eng war. Denn schon schiebt es sein Ufer voran und hält sich nicht in seinen Grenzen, aber die Reißbäche lassen es sich nicht ausbreiten und drängen die Flut zurück. Doch der größere Teil, von einer gleichsam geizigen Mündung zurückgehalten, staut sich auf und lässt die Felder wie ein einziger See aussehen.

Auch wenn manche Ähnlichkeiten zwischen Victorius und Seneca durch das ähnliche Thema und das gemeinsame Vorbild Ovid zu erklären sind, spricht viel dafür, dass Victorius die Senecapassage gekannt und benutzt hat.552 Das bedeutet nicht, dass sich Victorius’ und Senecas Erklärungen vollständig decken – eine auffällige Eigenheit bei Victorius ist der schon erwähnte Gedanke, dass

|| sames Vorbild ist Ov. Met. 1,286sq., vgl. oben Anm. 546). Möglicherweise ist auch der Verzicht auf eine Schilderung von Menschen und Tieren durch die Orientierung an Seneca zu erklären, da dieser in Nat. 3,27,13 die entsprechenden Ovidverse (konkret: Ov. Met. 1,304) als pueriles ineptiae tadelt (vgl. R. Degl’Innocenti Pierini 1990, Tra Ovidio e Seneca, Bologna 1990, 192 Anm. 33, die außer Victorius auch Dracontius von Senecas Kritik beeinflusst sieht; zuvor scheint sich schon Lukan bei seiner Überschwemmungsbeschreibung in 4,48–129 von dem Verdikt haben leiten lassen, vgl. Degl’Innocenti Pierini 191f. sowie Arweiler 1999, 236 mit Anm. 54f.). 552 Erwähnt sei noch, dass auch die kurz vor den Kapiteln über den Kataklysmos stehende Bemerkung über den unterirdischen Lauf des Tigris (Sen. Nat. 3,26,4) eine Entsprechung in der Alethia hat (1,294–298), was zusätzlich für Victorius’ Kenntnis des Buches spricht (vgl. zum Versinken des Tigris allerdings auch Lucan. 3,256–263 und Plin. Nat. 6,128sq.).

222 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

auch das Wasser über dem Firmament auf die Erde regnet (V. 463–465) –, doch zeigen beide ein ähnliches Interesse, das in Fluterzählungen insgesamt ungewöhnlich ist. Für diese Arbeit ist hierbei wichtig, dass sich Victorius, indem er naturwissenschaftliche Überlegungen in die Erzählung einträgt, dem Lehrgedicht annähert. Einen Vorläufer hat er hierbei übrigens in Lukan, der in seiner Beschreibung der Überschwemmungen von Ilerda am Anfang des vierten Buches ebenfalls auf Seneca zurückgreift und weitreichende meteorologische Betrachtungen über das Zustandekommen des Unwetters anstellt, bei denen die beteiligten Menschen eine Zeitlang in den Hintergrund treten (Lucan. 4,48–129, beachte besonders 48–87).553 Ob Victorius sich von der Lukanpassage bewusst anregen ließ, muss mangels konkreter Parallelen offen bleiben;554 klar ist jedenfalls, dass er nicht der Erste ist, der beim Thema der Flut epische und lehrdichterische Darstellungsweisen vermischt. Die Frage bleibt, warum Victorius in seiner Darstellung solch großen Wert auf die meteorologischen Zusammenhänge legt. Kommt hier lediglich sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen zum Tragen, das auch an vielen anderen Stellen zutage tritt?555 Oder wollte er die Überlieferung von der Sintflut durch eine streng physiologische Erklärung gegen Kritik verteidigen? Für die letztere Erklärung spricht, dass Victorius schon vor der eigentlichen Fluterzählung zwei mögliche Einwände gegen die Glaubwürdigkeit der Erzählung auszuräumen sucht (Verträglichkeit der Tiere untereinander, Versorgung mit Essen, V. 414–417) und sich später noch einmal im Rückblick mit verschiedenen denkbaren Problemen auseinandersetzt (u. a. der Versorgung mit Trinken, V. 543– 552). Vor allem im Falle des Rückblicks lässt sich klar zeigen, dass Victorius die Diskussion über die Glaubwürdigkeit der Arche-Erzählung aufgreift, die durch die Kritik von Markion und seinem Schüler Apelles sowie von Kelsos ausgelöst wurde.556 Gut möglich also, dass Victorius auch in der Flutdarstellung selbst verdeutlichen wollte, dass die Sintflut tatsächlich so stattfinden konnte, wie sie in der Bibel berichtet wird. Die den paganen Texten fremden Elemente (besonders das Wasser über dem Firmament) sollen dabei vielleicht unterstreichen,

|| 553 Die Senecabezüge wurden ausführlich herausgearbeitet in der Analyse der Überschwemmungsdarstellung von H.-W. Linn, Studien zur aemulatio des Lucan, Diss. Hamburg 1971, 12– 60 (vgl. auch Arweiler 1999, 240). 554 Green 2010, 60–62, der die Sintflutepisode nach signifikanten verbalen Reminiszenzen an die frühere Dichtung durchsucht, stellt zwar generell einen Einfluss Lukans fest, nennt aber auch keine Stellen aus der genannten Passage. 555 Im Umfeld der Fluterzählung ist die Erklärung des Regenbogens in 3,50–56 vergleichbar. 556 Im Detail nachgewiesen von Homey 1972, 121f. (mit zahlreichen Stellenangaben).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 223

dass es sich nicht bloß um ein Missverständnis oder eine Nachahmung einer paganen Flutüberlieferung handelt.557 Zusammenfassung Alles in allem hat Victorius seine Flutdarstellung weniger in der Weise des Epos, wie man erwarten könnte, als in der des Lehrgedichts gestaltet, auch wenn sich keine Bezüge zu einem bestimmten Lehrgedicht nachweisen lassen. Gewisse epische Züge sind sicherlich nicht zu leugnen (vgl. die oben genannten Ovidparallelen), doch überwiegt offenkundig das Anliegen, die Sintflut in ihrem Zustandekommen wissenschaftlich zu erklären. Noah und die Arche und selbst Gott sind für diesen Abschnitt daher unwichtig, der Blick ist ganz auf die Natur gerichtet, gerade so, wie man es auch in einem naturphilosophischen Lehrgedicht erwarten würde.

2.2 Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition 2.2.1 Die Kosmogonie zwischen Bibel, Patristik und Lehrgedicht (1,1–170) Das erste Thema, das Victorius nach dem einleitenden Gebet behandelt, ist, wie von der Genesis vorgegeben, die Entstehung der Welt. Hiermit nimmt Victorius einen Fragenkomplex in den Blick, der weit über die Bibel hinaus die Menschen der Antike (und sicherlich nicht nur der Antike) bewegt hat.558 In der griechischrömischen Literatur findet die Auseinandersetzung mit der Weltentstehung zunächst in mythologischen Theogonien ihren Niederschlag, wobei die älteste erhaltene ausführliche Darstellung Hesiods gleichnamiges Werk ist (darin zur Kosmogonie Theog. 116–138). In den folgenden Jahrhunderten sind es vorwiegend Philosophen, die neue Konzepte zur Kosmogonie vorlegen, so zunächst die Vorsokratiker, die verschiedene materielle und immaterielle ἀρχαί postulie-

|| 557 Als solche verstand z. B. Kelsos die Sintfluterzählung, vgl. Orig. Kels. 4,11 (die KelsosZitate kursiv gesetzt: βουλόμενος ἡμᾶς παραδεῖξαι μηδὲν παράδοξον μηδὲ καινὸν λέγειν περὶ κατακλυσμοῦ ἢ ἐκπυρώσεως, ἀλλὰ καὶ παρακούσαντας τῶν παρ’ Ἕλλησιν ἢ βαρβάροις περὶ τούτων λεγομένων ταῖς ἡμετέραις πεπιστευκέναι περὶ αὐτῶν γραφαῖς, φησὶ ταῦτα ...) sowie Orig. Kels. 4,41 (εἶτα κατακλυσμόν τινα καὶ κιβωτὸν ἀλλόκοτον, ἅπαντα ἔνδον ἔχουσαν, καὶ περιστεράν τινα καὶ κορώνην ἀγγέλους, παραχαράττοντες καὶ ῥᾳδιουργοῦντες τὸν Δευκαλίωνα …). 558 Eine knappe Übersicht bieten A. Merkt/L. Käppel, Art. „Weltschöpfung. IV. Griechenland und Rom“, in: DNP 12/2, 465–467; für ausführlicheres Stellenmaterial siehe H. Schwabl, Art. „Weltschöpfung“, in: RE Suppl. 9, Stuttgart 1962, 1433–1582.

224 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

ren, später vor allem Platon und die hellenistischen Schulen. Wichtig für diese Untersuchung ist nun, dass das Thema gerade auf römischer Seite auch in der Lehrdichtung eine Rolle spielt. An erster Stelle ist hier (nach dem griechischen Vorläufer Empedokles) Lukrez zu nennen, der sich im fünften Buch seines Werks in Anknüpfung an Demokrit und Epikur ausführlich mit Fragen der Kosmologie und Kosmogonie befasst (Lucr. 5,64–782). Zumindest teilweise in der Tradition des Lehrgedichts steht auch die Weltentstehungserzählung am Anfang von Ovids Metamorphosen, die als die prominenteste antike Behandlung der Thematik gelten kann (Ov. Met. 1,5–88).559 Hinzu kommen die kurze und vor allem als Hinführung auf das Thema der Liebe als Naturmacht dienende Kosmogonie in Ovids Ars amatoria (2,467–473) und die ernsthaftere Auseinandersetzung mit verschiedenen Weltentstehungstheorien in Manilius’ Astronomica (1,118–148). Auch wenn die Kosmogonie keineswegs ein Spezifikum des Lehrgedichts ist, kann man sie also – mit gewissen Einschränkungen – als ein typisches Thema zumindest des lateinischen Lehrgedichts bezeichnen.560 Wenn Victorius nun nach einem Hymnus, der zumindest teilweise die Form des Lehrgedichts und speziell Lukrez kontrastiv imitiert, auf das Thema der Kosmogonie eingeht, so liegt es nahe, seine Darstellung ebenfalls vor dem Hintergrund der Lehrdichtung zu betrachten und vor allem nach Bezügen zu Lukrez zu suchen. Tatsächlich war der Blickwinkel der Forschung meist ein anderer: Von den Studien Maurers (1896, 17–60) und Ferraris (1912a, 62–65) über Hovinghs Teilkommentar (1955) bis hin zu den jüngeren Monographien Martorellis (2008, 107–111) und Cutinos (2009, 99–107) stand meist die Frage im Vordergrund, welchen christlichen Autoren Victorius in seiner Schöpfungslehre verpflichtet ist, während Bezüge zur klassischen Tradition eher am Rande behandelt wurden (eine Ausnahme ist ein Aufsatz von Smolak, der kurz Lukrezbezüge betrachtet).561 Dass die in den Untersuchungen genannten Autoren – im

|| 559 Zu Übereinstimmungen und Unterschieden der Passage gegenüber dem Lehrgedicht vgl. Horstmann 2014, 232–236. Hauptunterschied ist demnach das Fehlen von Adressatenanreden, dem aber beachtliche inhaltliche und sprachlich-stilistische Parallelen zum Lehrgedicht gegenüberstehen. 560 Die wichtigste Einschränkung ist, dass bei weitem nicht alle Lehrdichter das Thema behandeln; dies gilt auch für Vergils Georgica, wobei anzumerken ist, dass Vergil immerhin in Ecl. 6,31–40 die Kosmogonie darstellt (Pöhlmann 1973, 836 mit Anm. 135 führt die Stelle ensprechend im Zusammenhang mit weiteren „lehrgedichthafte[n] Einsprengsel[n] in anderen Gattungen“ auf). 561 Smolak 1973, 236f. Erwähnt sei auch Smolak 1975, wo mehrere spätantike lateinische Umdichtungen des biblischen Schöpfungsberichtes, darunter auch die des Victorius, mitein-

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 225

Wesentlichen handelt es sich um Ambrosius, Augustinus und Laktanz – wichtige Vorbilder für die Gestaltung der Passage sind, soll hier nicht infrage gestellt werden. Trotzdem werde ich mich im Folgenden auf die Bezüge zur Lehrdichtung konzentrieren, um diese Sicht zu ergänzen. Erster Teil: die Einleitung der Kosmogonie als Auseinandersetzung mit Lukrez (V. 1–47) Victorius beginnt seine Kosmogoniedarstellung nicht direkt mit der Paraphrase des Genesis-Berichts, sondern mit einigen grundlegenden Überlegungen zur Schöpfung. Besonders in diesem Teil ist die Auseinandersetzung mit Vorbildern in der Lehrdichtung unverkennbar. Hauptbezugspunkt ist dabei Lukrez. An erster Stelle fällt jedoch eine Anspielung auf Ovid ins Auge. Dieser beginnt die Weltentstehungserzählung am Anfang seiner Metamorphosen mit den bekannten Versen (Met. 1,5–9): ante mare et terras et quod tegit omnia caelum 5 unus erat toto naturae vultus in orbe, quem dixere Chaos; rudis indigestaque moles nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem non bene iunctarum discordia semina rerum. Vor dem Meer und der Erde und dem Himmel, der alles bedeckt, hatte die Natur auf dem ganzen Erdkreis eine einzige Gestalt, die man Chaos nannte; eine rohe und ungeordnete Masse und nichts als träges Gewicht und zusammengehäufte widerstreitende Samen schlecht verbundener Dinge.

Es ist sicher kein Zufall, dass Victorius seine Darstellung mit einem ähnlich aufgebauten Satz beginnt (Aleth. 1,1–4, Übereinstimmungen hervorgehoben):562 ante polos caelique diem mundique tenebras, ante operum formas vel res vel semina rerum, … … erat deus unus … Vor dem Firmament und dem Tageslicht am Himmel563 und den Schatten auf Erden, bevor es Ideen der Werke oder Dinge oder auch nur Samen der Dinge gab, … war der eine Gott …

|| ander verglichen werden und auf S. 358–360 auch kurz die Beeinflussung der Gedichte durch klassische Dichtungsformen behandelt wird. 562 Die Parallele wird genannt, aber nicht gedeutet bei Hovingh 1955 ad loc. (S. 97); etwas ausführlicher Smolak 1973, 237 und Cutino 2009, 104 Anm. 13.

226 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Bemerkenswert ist dabei, dass Victorius über Ovid noch hinausgeht: Bilden bei Ovid die semina rerum den Anfang, so setzt Victorius mit dem ein, was schon vor den semina rerum besteht, nämlich dem dreieinigen Gott. Gleich am Beginn der Kosmogonie markiert Victorius also den Anspruch, die bekannteste Vorgängerdarstellung zu überbieten und auf Grundlage der christlichen Lehre zu korrigieren. In dieser polemischen Ovid-aemulatio ist zugleich eine Anspielung auf Lukrez enthalten, der die von Ovid aufgegriffene Junktur semina rerum prägte, um damit die Atome zu bezeichnen, und der die Wortverbindung ebenfalls stets am Versende verwendete.564 Die sprachliche Anlehnung an Lukrez ist kein Einzelfall: Auch die Versschlüsse fatendum est (V. 28) und necesse est (V. 35), die Victorius wenig später verwendet, gehören zu den Formeln lukrezischer Argumentationen,565 ebenso wie sich das Incipit corpus enim (V. 29) auf Lukrez zurückführen lässt.566 Smolak weist im bereits erwähnten Aufsatz überdies mit Blick auf die Junktur causas rerum (V. 10) darauf hin, dass „schon Vergil an der berühmten Stelle Georg. 2, 490 das Anliegen des Lukrez“ so genannt habe.567 Zu diesen verbalen Bezügen treten strukturelle und inhaltliche Übereinstimmungen mit Lukrez: Beide Autoren beginnen ihre Lehre zur Kosmogonie nicht direkt mit einer Erzählung des Entstehungsvorgangs, sondern stellen zunächst in einem argumentierenden Abschnitt grundlegende Überlegungen zum Wesen der Welt an (bei Victorius in den der Bibelparaphrase vorangehenden Versen 1,1–47, bei Lukrez in 5,91–415, bevor ab V. 416 die eigentliche Entstehung beschrieben wird). Ein wichtiges Thema ist dabei in beiden Fällen die Gewordenheit und Endlichkeit der Welt (dazu unten genauer).

|| 563 Wörtl. „des Himmels Tag“; gemeint ist: bevor das Licht des Tages am Himmel leuchtete. 564 Insgesamt elfmal, so z. B. 1,59. 176; 2,677; auch im Kontext der Kosmogonie: 5,916. Vgl. zur Verwendung bei Ovid Bömer 1969 ad loc. (S. 20), wonach Ovid den Terminus „durchaus nicht im lucrezischen Sinne, sondern eigentlich auf die vier stoischen Elemente bezogen“ verwendet. 565 Für fatendum est finden sich sechs Belege, z. B. 1,205. 462, für necesse est insgesamt 82, unter denen vor allem 1,302 als Vorbild in Betracht kommt (corporea constare necessest, Lucr. 1,302 ~ corporibus constare necesse est, Aleth. 1,35); vgl. Maurer 1896, 108, Hovingh 1955 ad 1,28 (S. 103) und Cutino 2009, 104 Anm. 13. 566 Vier Belege, z. B. 1,422; 3,573, vgl. Cutino 2009, 104 Anm. 13. 567 Smolak 1973, 236; die genannte Stelle lautet: felix qui potuit rerum cognoscere causas … Zum Lukrezbezug der Stelle siehe Mynors 1990 ad loc. (S. 169) mit weiterer Literatur.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 227

Eine „mit lexikalischen Mitteln geführt Polemik“ gegen Lukrez? Dass Victorius hauptsächlich einen Bezug zu Lukrez herstellen will, dürfte schon jetzt klar geworden sein; zu klären ist noch, welchen Charakter dieser Bezug hat. Smolak bezeichnet Victorius’ Vorgehen als eine „mit lexikalischen Mitteln geführte Polemik“ gegen Lukrez (Smolak 1973, 236). Inwieweit dieses Urteil zutrifft, soll im Folgenden durch eine genauere Untersuchung einzelner Stellen geprüft werden. An einigen Punkten wird in der Tat scharfe Kritik an Lukrez und seiner Lehre deutlich, am deutlichsten in den auch von Smolak zitierten Versen 22–24: nam nec sacrilegi sensit quod lingua furoris, casus mentis inops, dum nescia semina volvit, tam prudens contorsit opus … Denn keineswegs hat, wie die Zunge frevelnden Rasens glaubte, sinnloser Zufall, während er unwissende Samen wälzte, solch ein durchdachtes Werk zusammengefügt …

Auch wenn Victorius mit sacrilegi … lingua furoris eine verhüllende Formulierung wählt, ist unverkennbar, dass er die auf Demokrit zurückgehende und vor allem von den Epikureern vertretene Lehrmeinung vor Augen hat, wonach die Welt aus ungeordneten Bewegungen von Atomen entstand. Das Perfekt sensit könnte dafür sprechen, dass er an eine konkrete Person denkt, und zwar wahrscheinlich an denjenigen Vertreter dieser Lehre, den Victorius am intensivsten rezipiert hat, eben Lukrez. Jedenfalls lehnt Victorius die atomistische Vorstellung in aller polemischen Schärfe ab, da für ihn die Welt das planvolle Werk eines kreativen Schöpfergottes ist. Die Stelle ist damit von programmatischer Bedeutung, da die Zurückweisung epikureisch-lukrezischer Konzepte bei Victorius auch im weiteren Verlauf ein Anliegen ist, am deutlichsten in der noch zu besprechenden Kulturentstehungstheorie in 2,6–196. Was die Terminologie angeht, lehnt Victorius sich zumindest mit dem Begriff semina an Lukrez an und geht hier somit in Smolaks Sinne verbal-polemisch vor.568

|| 568 Gleiches gilt für die vorherige Formulierung semine nullo / corpora dans rebus (1,15sq.; Subjekt ist Gott), mit der Victorius der lukrezischen Lehre der uranfänglichen semina die christliche creatio ex nihilo entgegensetzt.

228 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Weltentstehung durch Zufall: Verzerrung der lukrezischen Lehre? Anders ist die Situation beim Begriff casus, der hier offenkundig den ‚blinden‘ Zufall bezeichnet. Das Wort tritt zwar auch bei Lukrez gelegentlich in der vorliegenden Bedeutung auf, dies jedoch gerade nicht im Zusammenhang mit der Weltentstehung, und überhaupt handelt es sich nicht um einen Kernbegriff lukrezischer Terminologie.569 Victorius formuliert an dieser Stelle also eigenständig und prägt selbst eine Art Kampfbegriff, den er auch später offenbar in Auseinandersetzung mit Lukrez verwendet.570 Dass Victorius den Begriff selbst gewählt hat, ist relevant für seine Lukrezrezeption, stellt sich doch die Frage, ob er Lukrez’ Ansicht mit casus überhaupt angemessen beschreibt, ob Lukrez also tatsächlich eine Weltentstehung aus reinem Zufall ohne jede Finalität lehrt. Tatsächlich ist dies in der heutigen Lukrezforschung umstritten. Während die Mehrheit der Forscher Lukrez in ebendiesem Sinne versteht, hat vor kurzem Ernst A. Schmidt, ausgehend von der epikureisch-lukrezischen clinamen-Lehre, dafür argumentiert, dass die atomistische Kosmogonielehre durchaus Raum für teleologische Elemente lasse und gerade bei Lukrez im Rahmen der Bewegungsmöglichkeiten der Atome „so etwas wie eine Intention auf Schöpfung“ erscheine.571

|| 569 Am ehesten mit der Victoriusstelle vergleichbar ist Lucr. 6,1096, wo von den Bewegungen krankheitserregender semina die Rede ist (ea cum casu sunt forte coorta); in ganz andere Richtungen gehen Lucr. 4,741 (über Kentauren: verum ubi equi atque hominis casu convenit imago); Lucr. 6,30sq. (Epikur habe gelehrt, quod fieret naturali varieque volaret / seu casu seu vi). 570 So in sehr ähnlicher sprachlicher Gestalt in 2,181 (casus virtutis inops; dazu unten S. 284). Victorius verwendet den Begriff freilich nicht immer in dieser polemischen Form, und die Bedeutung scheint nicht immer ‚Zufall‘, sondern gelegentlich eher ‚Vorfall, Ereignis‘ zu sein, so schon in 1,10sq.: [deus] iam res et causas rerum casusque futuros / … videns (Smolak 1973, 236 kommentiert, der „epikureische casus“ werde „in Gottes Vorwissen einbezogen und dadurch in sein semantisches Gegenteil verkehrt“, wobei freilich zu fragen ist, ob der Begriff casus hier wirklich schon mit Epikur oder Lukrez in Verbindung gebracht werden sollte). Eher in die Richtung ‚Vorfall, Ereignis‘ geht auch 2,149sq. (… casumque magistrum / admonet arte sequi [sc. nova cura]), fraglich ist 1,163sq. (… cunctos quos fingit opinio casus / artifices summos operum …). 571 Schmidt 2007, 148. Als Beispiele für die gängigere Interpretation der lukrezischen Kosmogonie seien genannt: Bailey 1950, 1345 (zu Lucr. 5,187–194): „… Lucr. states, as he often does, his own theory of the origins of the world in the chance clashing and union of the atoms“ oder Costa 1984, 65 (zur selben Stelle): „The true cause of creation was the haphazard meetings and combinations of atoms“ (beide zitiert von Schmidt loc. cit.). Schmidts Gegenargumentation setzt bei der Lehre an, die Atome könnten von ihrer gradlinigen Fallbewegung spontan abneigen (inclinamen, ausführlich dargestellt in Lucr. 2,216–293). Konkret verweist er auf Stellen, an denen den Atomen ein eigenes Streben zugeschrieben wird (z. B. Lucr. 5,190sq.: [primordia

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 229

Die Problematik kann in diesem Rahmen nicht geklärt werden, und so muss auch offen bleiben, ob Victorius die lukrezische Lehre an dieser Stelle vereinfacht oder verzerrt darstellt, was freilich gut zu seiner polemischen Intention passen würde. Zu bedenken ist bei alledem noch ein Weiteres, nämlich dass Victorius Lukrez bereits durch den Filter einer jahrhundertelangen Deutungstradition liest. Er ist dabei keineswegs der erste oder einzige, der die demokriteisch-epikureisch-lukrezische Weltentstehungslehre in dieser Weise darstellt: So kritisiert innerhalb der paganen Lehrdichtung etwa bereits Manilius aus stoischer Perspektive die Vorstellung einer Entstehung der Welt aus Zufall (einmal als fors, einmal als casus bezeichnet).572 Auch unter den Kirchenvätern wenden sich mehrere, nun natürlich aus christlicher Sicht, gegen die Lehre, die Welt sei „zufällig“ (fortuito) oder „durch zufällige Zusammenstöße“ (fortuitis concursibus) entstanden.573 Da Victorius sowohl mit der paganen als auch mit der christlichen Literatur wohlvertraut war, dürfte ihm die Interpretation der lukrezischen Kosmogonie im Sinne eines bloßen Zufallsgeschehen vertraut

|| rerum consuerunt] omnia pertemptare, / quae cumque inter se possint congressa creare …) und regt an, hierin mehr als eine bloße Metapher zu sehen; vgl. insgesamt Schmidt 2007, 139–152. 572 Vgl. Manil. 1,483–487: ac mihi tam praesens ratio non ulla videtur, / qua pateat mundum divino numine verti / atque ipsum esse deum, nec forte coisse magistra, / ut voluit credi, qui primus moenia mundi / seminibus struxit minimis inque illa resolvit (die dort vertretene Ansicht, der Kosmos sei selbst Gott, teilt Victorius natürlich nicht, vgl. Aleth. 3,121sq.) sowie 1,531 (über die Ordnung des Kosmos: non casus opus est, magni sed numinis ordo). Vgl. in der Dichtung auch später (wohl schon zu Victorius’ eigenen Lebzeiten) Claud. Rufin. 1,1–19, wo eine Welterklärung durch Gott und durch den Zufall gegenübergestellt werden, von denen letztere offenbar die epikureisch-lukrezische Lehre abbilden soll (vgl. V. 16–18: vacuo quae [sc. causa] currere semina motu / adfirmat magnumque novas per inane figuras / fortuna non arte regi …; den Hinweis auf die Stelle verdanke ich H.-G. Nesselrath). 573 Vgl. die bei Ferrari 1912a, 63f., Hovingh 1955, 102 und Martorelli 2008, 108 Anm. 18–20 genannten Stellen: Ambr. Hex. 1,2,7: non ille [sc. deus], ut atomorum concursione mundus coiret, serum atque otiosum expectavit negotium neque discipulum quendam materiae, quam contemplando mundum posset effingere, sed auctorem deum exprimendum putavit. … iudicavit quod telam araneae texerent qui sic minuta et insubstantiua principia caelo ac terris darent, quae ut fortuito coniungerentur ita fortuito ac temere dissolverentur, nisi in sui gubernatoris divina virtute constarent. – Hil. In Ps. 148,3: primum enim errorem hunc humanae ignorationis avertit, quo fortuitis concursibus hunc mundi habitum in se coisse atque ita ex inordinatione in ordinem constitisse quidam ausi sunt opinari … Vgl. auch Lact. Inst. 7,7,8, wo freilich mit sua sponte ein Ausdruck gewählt ist, der etwas eher in die Richtung von Schmidts Interpretation geht: errant igitur qui vel omnia sua sponte nata esse dixerunt vel minutis seminibus conglobatis, quoniam tanta res, tam ornata, tam magna neque fieri neque disponi et ordinari sine aliquo prudentissimo auctore potuit et ea ipsa ratio, qua constare ac regi omnia sentiuntur, sollertissimae mentis artificem confitetur.

230 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

gewesen sein. Doch wie auch immer Victorius dazu gekommen ist, Lukrez’ Weltentstehungslehre mit dem Begriff casus zu charakterisieren, die Stelle zeigt, dass er neben der verbal-polemischen Auseinandersetzung auch eigene Prägungen gegen Lukrez verwenden konnte. Weitere gegen Lukrez gerichtete Aussagen In den oben zitierten Versen verdient noch ein weiterer Aspekt Beachtung, und zwar die Charakterisierung der Welt als tam prudens … opus (V. 24), die Victorius als Argument gegen die Zufälligkeit der Welt dient. Auch hierin ist eine Spitze gegen Lukrez enthalten, die übrigens wiederum nicht von verbaler Imitation getragen wird. Lukrez stellte die Welt als voller Mängel dar und schloss eben aus dieser Unvollkommenheit darauf, dass sie nicht von göttlicher Seite geschaffen sein könne (Lucr. 5,195–234). Victorius vertritt nun die genau gegenteilige Ansicht, indem er die Welt als prudens bezeichnet und hieraus auf den Schöpfer schließt, und auch wenn sich erneut Vorläufer für diese Argumentation finden lassen, darf man wohl annehmen, dass er bewusst Lukrez’ Darstellung umkehrt.574 Eine weitere, ebenfalls bereits von Smolak (1973, 237) diskutierte Stelle, die sich ersichtlich gegen Lukrez richtet, ist der Abschluss der Partie, wo vom Ende der Welt die Rede ist (1,44–46): et si maluerit totum dissolvere raptim, esse adimat rebus nec solum hoc esse, sed ipsum praeteritis tollat qua scit ratione fuisse.

45

Und sollte er das Universum575 lieber eilends auflösen wollen, (45) könnte er den Dingen das Sein entreißen, und nicht nur dieses Sein, sondern früheren Dingen könnte er sogar nehmen, gewesen zu sein, wie sie seinem Wissen gemäß waren.

Mit dem Weltende greift Victorius ein Thema auf, das auch Lukrez im fünften Buch behandelt (5,91–109).576 Freilich ist das Weltende bei Lukrez ein ebenso mechanisch-planloser Vorgang wie die Weltentstehung, und ebendiese Aussage || 574 Ähnliche Gedanken enthalten etwa die in Anm. 572 genannten Manilius-Stellen (ergänzt sei Manil. 1,478sq.: nec quicquam in tanta magis est mirabile mole / quam ratio et certis quod legibus omnia parent) sowie die in der vorangehenden Anm. zitierte Passage Lact. Inst. 7,7,8. 575 Mit totum ist hier offenbar das Weltganze gemeint, so schon in prec. 100. 108. 576 Siehe besonders 5,93–96 (vgl. Smolak 1973, 237): quorum [sc. von Himmel, Erde und Meer] naturam triplicem … / … / una dies dabit exitio multosque per annos / sustentata ruit moles et machina mundi.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 231

kehrt erneut Victorius um, indem er Gott als den Herrn der Schöpfung und des Weltendes herausstellt. Dabei lehnt er sich mit Termini wie totum und dissolvere wiederum an Lukrez’ Sprachgebrauch an. Im letzten Vers geht er zudem über Lukrez’ Materialismus hinaus, indem er Gott die Möglichkeit zuspricht, den Dingen sogar ihr Gewesensein zu rauben. Partielle Übereinstimmungen mit Lukrez Soweit ist Smolaks Interpretation der Passage als „mit lexikalischen Mitteln geführte Polemik“ also in groben Zügen zu bestätigen, auch wenn Victorius bei seinen Angriffen nicht immer in Lukrez’ Terminologie bleibt (vgl. den Begriff casus, V. 23) und teilweise eher durch die Abwandlung lukrezischer Argumente statt durch das Aufgreifen seiner Termini Bezüge herstellt (vgl. das prudensopus-Argument, V. 24). Zur Differenzierung des Bildes ist jedoch anzumerken, dass Victorius nicht in allen Punkten sogleich in Opposition zu Lukrez tritt, sondern gelegentlich zumindest teilweise mit dem Lehrdichter übereinstimmt. Gut zu beobachten ist dies in den Überlegungen zur Gewordenheit der Welt. Nachdem Victorius die Vorstellung einer zufälligen Weltentstehung abgelehnt hat, wendet er sich unter anderem gegen die Meinung, die Welt bestehe schon von Ewigkeit her (V. 26sq.). Zur Widerlegung entwickelt er eine Kette logischer Folgerungen, an deren Beginn das Argument steht, dass die Materie, weil sie vergänglich sei, auch einen Anfang haben müsse (1,28–31): … nam quod corporibus constat coepisse fatendum est. corpus enim, quod plaga terit, quod tempora solvunt atque abolent, ipso qui tendit in ultima fine 30 principium ostendit … … denn was aus Körpern besteht, das hat, wie man zugeben muss, begonnen. Ein Körper nämlich, den der Schlag zerreibt, den die Zeitläufe auflösen (30) und zerstören, der zeigt durch eben die Grenze, die sich gen Ende erstreckt, den Beginn …

Victorius kommt Lukrez hier für einige Verse erstaunlich nahe, denn auch dieser sah eine wichtige Aufgabe darin, gegen anderslautende Vorstellungen die Nicht-Ewigkeit der Welt zu beweisen, wobei er ebenso wie Victorius Gewordenheit und Vergänglichkeit unmittelbar miteinander verknüpft sieht.577 Victorius’

|| 577 Vgl. zuerst in der Inhaltsankündigung Lucr. 5,64–66: quod super est, nunc huc rationis detulit ordo, / ut mihi mortali consistere corpore mundum / nativomque simul ratio reddunda sit esse …, ähnlich später 5,238. 373–379 Zur Abgrenzung von anderslautenden Vorstellungen vgl.

232 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Verse über die Vergänglichkeit (29–30a) erinnern dabei an Lukrez’ ausführliche Darlegungen zum Vergehen der vier Elemente (5,247–305). Sprachlich lehnt Victorius sich durch die schon erwähnten Versteile fatendum est und corpus enim an Lukrez an. Bis hierher geht Victorius also in eine durchaus ähnliche Richtung wie Lukrez. Dies ändert sich in den folgenden Versen, in denen er zwischen den Möglichkeiten unterscheidet, dass die Welt „geboren“ (natum) und dass sie „gemacht“ (factum) ist. Lukrez nennt eine solche Unterscheidung zwar nicht, doch ist klar, dass die Welt für ihn nicht gemacht, sondern von sich aus ‚geboren‘ wurde (vgl. Ausdrücke wie corpore … nativo, zuerst Lucr. 5,65sq.). Victorius argumentiert, wie zu erwarten, für die Gemachtheit der Welt und stellt sich so letztlich gegen Lukrez.578 Trotzdem bleibt der Eindruck, dass er zumindest den Ansatz seiner Argumentation gegen die Ewigkeit der Welt letztlich dem abgelehnten Lehrdichter verdankt. Zusammenfassung erster Teil Die untersuchten Stellen haben deutlich gemacht, dass Victorius in der Passage auf verschiedenen Ebenen – teils durch terminologische Anklänge, teils durch die Übernahme oder Abwandlung von Argumenten – Bezüge zur Lehrdichtung und vor allem zu Lukrez herstellt. Diese Beobachtung behält ihre Gültigkeit auch angesichts der Tatsache, dass die abgelehnten Ansichten meist schon älter als Lukrez sind579 und dass Victorius sich keineswegs als erster gegen diese Ansichten stellt, sondern auf Vorbilder bei den Kirchenvätern zurückgreifen || etwa 5,97–99: nec me animi fallit quam res nova miraque menti / accidat exitium caeli terraeque futurum, / et quam difficile id mihi sit pervincere dictis … 578 Er argumentiert dabei über die Zeit: Was geboren wird, bewege sich in der Zeit, die Zeit sei jedoch erst nach der Welt gekommen, folglich könne die Welt nur gemacht worden sein (1,33– 36). Die Prämisse, dass die Zeit erst nach oder seit der Weltentstehung ablaufe, geht auf Platon zurück (χρόνος δ’ οὖν μετ’ οὐρανοῦ γέγονεν, Tim. 38b) und ist namentlich bei den Kirchenvätern weit verbreitet (z. B. Origenes, Basilius, Ambrosius, Augustin, vgl. die Stellen bei Hovingh 1955, 102f. und Cutino 2009, 103 Anm. 10; siehe auch Hovingh 1955, 100 zum Aufbau der Argumentation). 579 So ist etwa die Frage, ob die Welt ewig ist, lange vor Lukrez ein Streitpunkt der Philosophie. Bereits Platon vertrat die Ansicht, die Welt sei geworden (Tim. 28bc), ähnlich später Stoiker und Epikureer (beide u. a. gegen Aristoteles, der die Welt als anfangs- und endlos ansah; vgl. den Überblick bei Hovingh 1955, 101, der in seinem Kommentar auch sonst oft auf Quellen in der griechischen Philosophie verweist). In der nachlukrezischen Lehrdichtung kommt auch Manilius auf das Problem zu sprechen, indem er im Kontext verschiedener Lehren zur Weltentstehung auch die Ansicht referiert, die Welt sei ewig (1,122–124).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 233

konnte. Auch wenn alle diese Einflüsse eine Rolle spielen und Victorius’ Urteil beeinflussen mögen, spricht viel dafür, dass der Bibeldichter sich auch direkt mit Lukrez auseinandergesetzt hat und die Verse 1–47 speziell als einen Gegenentwurf zu dessen fünftem Buch angelegt hat. Klar ist jedenfalls, dass er das epikureisch-lukrezische Weltbild trotz gewisser Berührungspunkte alles in allem auf den Kopf stellt. Zweiter Teil: das Sechstagewerk zwischen Patristik und Lehrgedicht (V. 48–170) In Vers 48 beginnt Victorius mit der Paraphrase des Bibeltextes. Damit treten die Bibel selbst und die sie interpretierende Hexaemeronliteratur in den Vordergrund, während die Lehrgedichtbezüge sporadischer werden. Der Text soll daher nur noch punktuell auf seine Stellung zum Lehrgedicht betrachtet werden, dessen Einfluss, wie sich zeigen wird, in einigen Punkten weiterhin spürbar bleibt. Fehlende Gottesreden und gesteigertes Interesse an der Natur Betrachtet sei zunächst ein Aspekt, in dem Victorius sich deutlich von der biblischen Fassung unterscheidet, nämlich der Einsatz wörtlicher Rede. Während in der Genesis jeder einzelne Schöpfungsakt mit einer wörtlich wiedergebenen Gottesrede verbunden ist („Es werde …“), fehlen diese Reden bei Victorius fast vollständig. Die erste wörtliche Rede in der Alethia ist die eines fictus interlocutor, der eine (von Victorius als solche qualifizierte) Irrlehre über das Firmament vertritt (V. 72–77). Gott lässt der Dichter erst bei der Erschaffung des Menschen, also am sechsten Tag, sprechen (159–162). Da der Umgang mit wörtlicher Rede bereits in einem eigenen Teilkapitel behandelt worden ist, soll dieser Aspekt hier nicht weiter vertieft werden; wiederholt sei nur, dass Victorius seiner Darstellung vor allem durch die Rede des fictus interlocutor ein wissenschaftliches Gepräge verleiht und sie so an die Diatribe und die Lehrdichtung annähert (vgl. oben Kap. 1.3.2.1, besonders S. 135). Mit dem Fehlen der Gottesreden rückt zugleich die Natur weiter in den Vordergrund. Zwar unterlässt Victorius es nicht, bei jedem Schöpfungstag in irgendeiner Form auf den Schöpfer hinzuweisen, doch gerade in den eigentlichen Entstehungsszenen droht Gott mitunter aus dem Blick zu geraten, am deutlichsten beim zweiten Schöpfungstag, wo er zunächst gar nicht genannt wird (1,63– 70): rursum mane novum: primo iam vespere pulso reddita lux nituit, cum se firmissima moles

234 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

fluctibus a mediis concreto corpore tendens extulit et duro late solidata rigore divisas suspendit aquas gelidumque profundum axibus obiecit calidis seque aequore saepto nixa superfudit rebus, quas circite vasto clausit, et antiquum spoliavit nomine caelum.

65

70

Wieder war ein neuer Morgen: Da der erste Abend nunmehr vertrieben war, glänzte das wiedergekehrte Licht – als sich eine überaus feste Masse (65) mitten heraus aus den Fluten, mit hartem Körper sich spannend, erhob. Durch steife Härte weithin verfestigt, teilte und hob sie die Wasser und setzte die eisige Tiefe gegen den heißen Himmel, und, auf die umschlossenen Fluten aufgestützt, wölbte sie sich über den Dingen, die sie in weitem Kreise (70) einschloss, und beraubte den alten Himmel seines Namens.580

Ähnlich ist das Bild beim fünften Schöpfungstag, wo der Tag, das Nass und die Natur als Akteure auftreten, bevor kurz erwähnt wird, dass sie (bzw. dort konkret die Natur) nur auf Befehl handeln (1,114–119): quinta dies movit spirantia corpora ponto, quae liquor ex facili genuit sparsitque profundo, delicias pelagi, vario quas germine miris formavit natura modis, quae iussa creare pro toto partes etiam sibi vivere rerum cogit et in brutas animam dedit ire figuras …

115

Der fünfte Tag erweckte dem Meere atmende Körper, (115) die das Nass ohne Mühe581 gebar und im Wasser verstreute, Wonnen der See, die die Natur aus unterschiedlichem Keim in wunderbaren Weisen geformt hat. Diese zwang, als ihr zu schaffen geboten worden war, auch Teile statt des Ganzen zu leben582 und ließ den Lebensatem in vernunftlose Formen hineingehen …

|| 580 Der Gedanke ist: Das neugeschaffene Firmament trennt die Wasser auf der Erde und die Wasser am Himmel voneinander und bildet so einen neuen Himmel (im Gegensatz zum „alten Himmel“). 581 Die Verbindung ex facili ist wohl adverbial zu verstehen, vgl. ThLL s. v. facilis p. 59,31–44, Schenkls index grammaticae et elocutionis s. v. facilis sowie Hovinghs Kommentar ad loc. 582 Die in biblischem Kontext zunächst verwunderliche Aussage erinnert, wie Hovingh ad loc. bemerkt, in frappierender Weise an Empedokles, dem zufolge zunächst einzelne Glieder der Lebewesen entstanden, die sich dann miteinander verbanden (fr. 57–62 D.-K.; die betreffenden Fragmente stammen ausnahmslos von griechischen Autoren, doch kann Victorius das Konzept auch durch eine verlorene lateinische Quelle kennen gelernt haben, die entweder Empedokles selbst oder ihrerseits einen vermittelnden Autor wie Aristoteles benutzte).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 235

Victorius verlässt hier an keiner Stelle den Boden der christlichen Schöpfungslehre, und in vielen Punkten konnten die bisherigen Untersuchungen eine Abhängigkeit von der christlichen Hexaemeronliteratur nachweisen.583 Andererseits zeigt Victorius jedoch ein Interesse an Vorgängen in der Natur, das in der antiken lateinischen Literatur am ehesten mit naturwissenschaftlichen Fachschriftstellern wie etwa Plinius dem Älteren oder eben bestimmten Lehrdichtern wie Lukrez, Manilius oder dem Aetna-Dichter zu vergleichen ist. Auch sprachlich und inhaltlich lassen sich weiterhin Parallelen zu Lehrgedichten oder lehrdichterisch beeinflussten Texten, vor allem zu Lukrez, beobachten.584 Trotz der stärkeren Orientierung an der Bibel bleibt Lukrez also weiterhin ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Bezugspunkt. Kritik an naturwissenschaftlichen Überlegungen? In einem gewissen Spannungsverhältnis hierzu steht es, dass Victorius sich an einer Stelle in der Schöpfungsdarstellung gegen naturwissenschaftliche Fragestellungen auszusprechen scheint, und zwar im Anschluss an die kürzlich erwähnte Rede des fictus interlocutor (V. 72–77). In der Rede wird die Ansicht vertreten, das Wasser über dem Firmament diene dazu, die Erde vor der Hitze der Sonne zu schützen. Victorius lässt seinen Sprecher die Rede in scharfen Worten kritisieren (1,77–79):

|| 583 Die Bezüge sind herausgearbeitet in den bereits genannten Untersuchungen von Maurer 1896, 17–60 (mit Schwerpunkt auf der Verwendung von Ambrosius’ Hexaemeron) und Ferrari 1912a, 63–65, im Kommentar von Hovingh 1955, sowie bei Martorelli 2008, 107–111 und Cutino 2009, 99–107. 584 Beispiele für sprachliche Parallelen zu Lehrdichtern: 1,54 (semina rerum ist lukrezischer Terminus, vgl. Lucr. 1,59 u. ö.); 1,65 (concreto corpore in derselben Stellung in Lucr. 5,495); 1,76 (die Junktur machina … poli erinnert an Lucr. 5,96: moles et machina mundi); 1,79 (Versschluss fieri non posse putatur ähnlich wie Lucr. 5,756: facere id non posse putetur); 1,87 (inane ist lukrezischer Terminus, vgl. Lucr. 1,1018 u. ö.); 1,170 (Versschluss natura creandi wie in Lucr. 5,186); 1,85. 105sq. (tertia lux tumidos stupuit discedere fluctus bzw. caelum splendere … / caerula nox stupuit erinnert an Verg. Ecl. 6,37 [die Stelle gehört einer Kosmogoniedarstellung an und steht in Lehrgedichttradition, vgl. Pöhlmann 1973, 836 Anm. 135]: iamque novum terrae stupeant lucescere solem; Smolak 1975, 359 will das Motiv dagegen aus Zauberhymnen herleiten). – Gedankliche Parallelen: 1,86–88 (Anspielung auf die Lehre von der vertikalen Schichtung der vier Elemente, u. a. bei Lucr. 5,449–470; Ov. Met. 1,26–31 und Manil. 1,149–170, aber auch bei Bas. Hex. 1,7 und Aug. Gen. ad litt. 5,21), 1,100sq. (Schwanken, ob der Mond selbst leuchtet oder reflektiert, ähnlich bei Lucr. 5,575sq., vgl. oben S. 174). Vgl. auch Hovinghs Similienappart und seinen Kommentar zu den Stellen, wo einige der hier aufgeführten Parallelen bereits genannt werden.

236 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

talis sed quaerere causas mens fuge nostra procul; plus sit tibi credere semper posse deum quicquid fieri non posse putatur. Doch solche Gründe zu suchen hüte dich, unser Geist: Es soll stets für dich mehr sein, zu glauben, dass Gott alles vermag, von dem man meint, das es nicht geschehen kann.

Die Aussage, dass man naturwissenschaftliche Ursachenforschung hinter den Glauben an Gottes Allmacht zurückstellen solle, ist durchaus pikant, scheint sie sich doch nicht nur gegen naturwissenschaftlich interessierte Autoren wie den nach den causae rerum (vgl. causas, V. 77) fragenden Lukrez, sondern letztlich auch gegen Victorius selbst zu richten, der, wie oben gezeigt, durchaus ähnliche Fragen verfolgt. Widerspricht Victorius sich hier also selbst? Zu bedenken ist immerhin, dass die Rede des fictus interlocutor auf einer Partie in Ambrosius’ Hexaemeron basiert, wo ebendiese Überlegung angestellt wird.585 Unmittelbar angegriffen wird also nicht die pagane Naturforschung, sondern ein christlicher Vorläufer, dessen Exegese Victorius an dieser Stelle – anders als an vielen anderen – nicht folgen will. Gleichwohl bleiben die Verse in ihrer Allgemeinheit (talis …) problematisch. Am ehesten lassen sie sich wohl verstehen als Ausdruck einer inneren Spannung zwischen dem Glauben an den nicht bis ins Letzte zu verstehenden Schöpfergott und dem Interesse an einer möglichst genauen Erklärung von Gottes Handeln.586 Zusammenfassung zweiter Teil Trotz der zuletzt betrachteten Rede vermittelt die Schöpfungsdarstellung insgesamt den Eindruck eines starken Interesses an Vorgängen in der Natur. Wenn Victorius seine Kosmogonie also tatsächlich nicht zuletzt als Gegenentwurf zu Lukrez angelegt hat, wie oben vermutet wurde, so entspringt dieser Gegenentwurf einem durchaus ähnlichen Erkenntnis- und Darstellungsinteresse. Letztlich zeugt der Passus damit von Bewunderung für den zugleich kritisierten und imitierten Autor, ja man könnte so weit gehen zu behaupten, dass Victorius sich deswegen so stark von Lukrez abzugrenzen bemüht, weil er ihm in manchem so

|| 585 Vgl. Ambr. Hex. 2,3,12 (vgl. Hovingh 1955 ad loc. und Papini 2006 ad loc.): deinde cum ipsi dicant volvi orbem caeli stellis ardentibus refulgentem, nonne divina providentia necessario prospexit, ut intra orbem caeli et supra orbem redundaret aqua, quae illa ferventis axis incendia temperaret? Ambrosius schöpft seinerseits aus Bas. Hex. 3,5. 586 Der Gedanke, dass man Gott nicht völlig durchschauen kann, wird schon gleich am Anfang der precatio betont (vor allem prec. 2–4).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 237

ähnlich ist, auch wenn er als Christ natürlich nicht bei Lukrez’ Materialismus stehen bleiben kann.

2.2.2 Ein Paradies mit Zügen des Goldenen Zeitalters (1,223–304) Die Mitte des ersten Buches nimmt bei Victorius eine breit angelegte Darstellung des Paradieses ein. Die Schilderung fällt schon durch ihre schiere Länge auf, mit der sie weit über die knappen Bemerkungen zum Garten Eden in Gen. 2,8–14 hinausgeht.587 Victorius greift in seiner Darstellung eine Vielzahl unterschiedlicher literarischer Einflüsse auf, die teils der jüdisch-christlichen, teils der paganen Literatur zuzuordnen sind.588 An dieser Stelle soll nur ein Einfluss betrachtet werden, der sowohl für die Frage nach Lehrgedichtbezügen als auch für die Gesamtkonzeption der Alethia besonders aufschlussreich ist, nämlich die Vorstellung vom Goldenen Zeitalter, also der idealen Zeit am Anfang der Menschheitsgeschichte, von der sich in Victorius’ Paradiesschilderung gewisse Elemente finden.589 Das Konzept lässt sich in der griechisch-römischen Literatur zuerst im bekannten Zeitaltermythos in Hesiods Werken und Tagen greifen, wo das χρύσεον || 587 Zur Paradiesschilderung als Beispiel einer Ekphrasis vgl. oben Kap. 1.3.1.1. 588 Vgl. etwa Homey 1972, 74–91 (zur Verbindung der vier Paradiesflüsse mit den Kardinaltugenden, die auf Philons Allegorese zurückgeht), Homey 2008 (zum Aromatakatalog und seinen vielfältigen Hintergründen), Martorelli 2008, 125f. (zu den Paradiesbäumen als Repräsentanten von Abstrakta, hinter denen erneut Philons Allegorese steht) und Cutino 2009, 130–136 (zu verschiedenen Aspekten der Paradiesdarstellung). 589 Auf diesen Einfluss weist von den in der vorangehenden Anmerkung genannten Beiträgen nur Cutino 2009, 131f. hin, der allerdings nicht die Bedeutung der Bezüge für das Gesamtwerk betrachtet. Cutino nennt als weiteren klassischen Einfluss den Topos des locus amoenus, also der Vorstellung vom ‚idealen Ort‘, die sich auch sonst gelegentlich mit der Vorstellung der ‚idealen Zeit‘ verbindet (vgl. Haß 1998, 127. 139 zum Verhältnis beider Konzepte). Auf die Parallelen zwischen Victorius’ Paradiesschilderung, die sich ja tatsächlich auf einen bestimmten Ort bezieht, und dem Topos des locus amoenus wurde bereits in Kap. 1.3.1.1 eingegangen. Eine weitere ‚Idealvorstellung‘, deren Ähnlichkeiten mit der Paradiesdarstellung man untersuchen könnte, sind die Elysischen Gefilde bzw. die Inseln der Seligen, die oft mit ähnlichen Zügen wie das Goldene Zeitalter beschrieben werden. Diese Tradition soll hier jedoch außer Acht bleiben (obwohl V. 225: nemoris … amoeni ~ Mart. 9,51,5: tu colis Elysios nemorisque habitator amoeni … einen sprachlichen Ansatzpunkt dafür gäbe), da es in der Paradiesbeschreibung des Victorius um einen Urzustand der Erde und des menschlichen Lebens geht, nicht aber um ein Leben nach dem Tod, wie es in vielen anderen christlichen Texten zum Paradies der Fall ist (vgl. schon Luk. 23,43; in der Exegese unterscheidet man seit Augustinus irdisches und himmlisches Paradies).

238 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

γένος das erste in einer Reihe von fünf Menschengeschlechtern bildet (Erg. 109– 201).590 Die Idee des Goldenen Zeitalters wird in der Folgezeit teils im Rahmen vollständiger Geschlechterreihen, häufiger noch jedoch isoliert im Sinne einer verlorenen Idealzeit vielfältig rezipiert, zunächst vor allem in der Philosophie, später auch in anderen literarischen Texten.591 Eine besonders enge Verbindung behält das Konzept des Goldenen Zeitalters jedoch zur Lehrdichtung, wo es regelmäßig verarbeitet oder zumindest erwähnt wird, so schon bei Empedokles, dann bei Arat und den lateinischen Aratübersetzern, in Vergils Georgica, in didaktisch geprägten Teilen von Ovids Metamorphosen und in der Aetna.592 Das Goldene Zeitalter kann damit – wie der Zeitaltermythos überhaupt – als ein typisches Thema des Lehrgedichts gelten.593 Nun liegt es auf der Hand, dass die biblische Erzählung vom Paradies auf Erden und die griechisch-römische Überlieferung vom Goldenen Zeitalter von vornherein miteinander verwandt sind, da ja beide einen glücklichen Urzustand der Menschen schildern, wie er übrigens Bestandteil der Mythologie vieler Völ|| 590 Hesiod greift hierbei eine ältere Einteilung der Menschheitsgeschichte nach den Metallen auf, die möglicherweise mesopotamischen Ursprungs ist, erweitert sie jedoch bereits um ein Heroisches Zeitalter; vgl. Heckel 2002, 706 (mit älterer Literatur). 591 So z. B. Plat. Polit. 271d–272b; Krat. 397e–398c; Dikaiarch. fr. 49 Wehrli, später z. B. Verg. Ecl. 4; Aen. 6,791–805 (beides mit dem neuen Gedanken einer Wiederkehr der Goldzeit); Tib. 1,3,35–48; Ov. Am. 3,8,35–44; Ps.-Sen. Oct. 391–407; Claud. Rapt. Pros. 3,20–26 (mit Bezug auf Verg. Georg., vgl. die nächste Anmerkung). Vgl. die Stellenauswahl bei Haß 1998, 138 und Heckel 2002; für ausführliches Stellenmaterial mit Interpretationen siehe Kubusch 1986, Gatz 1967 und Schwabl 1978 (die beiden letztgenannten Autoren behandeln den vollständigen Weltaltermythos und das Motiv der Goldenen Zeit je für sich, was ich hier nicht tue, da sich beide Konzepte von Beginn an überschneiden und hier ohnehin das Goldene Zeitalter im Mittelpunkt steht). 592 Vgl. Emp. VS 31 B 77sq. 128–130. 136–139 (freilich ohne den Begriff Goldenes Zeitalter, aber ebenfalls Beschreibung eines idealen Urzustands); Arat. 105–116; Cic. Arat. fr. 17–19 Soubiran; Verg. Georg. 1,125–132; 2,536–540; Ov. Met. 1,89–112; 15,96–110. 260sq.; Aetna 9–16; Germ. Arat. 103–119; Avien. Arat. 292–317; vgl. Pöhlmann 1973, 881 Anm. 416. Eine Abfolge mehrerer Zeitalter wie bei Hesiod bieten dabei nur Arat und seine Übersetzer (reduziert auf drei, golden, silbern und ehern) und Ovid (die vier metallischen Zeitalter); Vergil nennt nicht die Metalle, sondern differenziert zwischen Saturns und Juppiters Zeit, wobei Erstere offensichtlich mit dem Goldenen Zeitalter gleichzusetzen ist (vgl. aureus … Saturnus, Georg. 2,538). Lukrez greift den Zeitaltermythos in rationalisierter Form im Passus zur Metallerfindung auf (Lucr. 5,1241–1296, dazu unten Kap. 2.2.3.3), schildert jedoch die Urzeit nicht als Goldene Zeit wie die anderen genannten Autoren (vgl. Kubusch 1986, 67f., der Gatz’ [1967, 151. 158] Ansicht, die epikureisch-lukrezische Kulturtheorie deute die Urzeit in eine goldene Periode um, mit Verweis auf die differenzierte Bewertung der Urzeit bei Lukrez zurückweist). 593 Vgl. Gale 2011, 205f, die so weit geht, den Geschlechtermythos als „virtual sine qua non of all subsequent didactic poetry“ zu bezeichnen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 239

ker ist.594 Trotzdem deuten einige Stellen darauf hin, dass Victorius sich über die durch die Bibel vorgegebenen Ähnlichkeiten hinaus an den Mythos des Goldenen Zeitalters anlehnt und das Bild des Paradieses dadurch konzeptionell verändert. Auf den folgenden Seiten sollen die entsprechenden Indizien zusammengetragen und interpretiert werden. Motivische Anreicherung der Paradiesdarstellung Einen ersten Anhaltspunkt für die aufgestellte These einer Annäherung an die Goldzeitvorstellung liefert der zweite Satz der Paradiesschilderung, der mit einer Aussage über das Klima im Paradies beginnt (1,227sq.): hic, ubi iam spatiis limes distinguitur aequis solis et aeternum paribus ver temperat horis … Hier, wo die Bahn der Sonne sich schon in gleicher Entfernung hält und ewiger Frühling gleiche Jahreszeiten im Maß hält …

Dass im Paradies ewiger Frühling geherrscht habe, wird im Bibeltext nirgends gesagt, auch wenn man aus der Tatsache, dass Adam und Eva vor dem Sündenfall nackt sein konnten (Gen. 2,25), ableiten kann, dass die Temperatur mild gewesen sein muss.595 Das Motiv in dieser expliziten Form stammt aus der paganen Dichtung und hat eine komplexe Geschichte: Ursprünglich scheint es eher mit der Schilderung idealer Landschaften als mit dem Zeitaltermythos verknüpft zu sein, doch kennen spätestens Lukrez und Vergil einen die Urzeit beherrschenden Frühling, und schließlich integriert Ovid das Motiv des ewigen Frühlings in seine Darstellung der Goldenen Zeit.596 Über das irdische Paradies findet || 594 Vgl. den Überblick über Parallelen zum Weltalter- und Goldzeitmythos in außerklassischen Kulturen bei Gatz 1967, 208–210, wo auch der biblische Schöpfungsbericht genannt ist. 595 Hierauf weist auch Becker 2006, 149 in Bezug auf dasselbe Motiv in Prud. Cath. 3,103 hin (zur Stelle siehe die übernächste Anmerkung). 596 Zuerst begegnet das Motiv in Hom. Od. 4,567sq. (Elysische Felder) und 7,117–119 (Garten des Alkinoos), dann in zahlreichen idealisierten Landschaftschilderungen. Zum Frühling der Urzeit vgl. Lucr. 5,801sq. 818–820 (wobei die letzten Verse in ihrer Echtheit umstritten sind, vgl. Deufert 1996, 287–289), Verg. Georg. 2,338–342 und Pervigilium Veneris 2, vielleicht auch schon Emp. VS 31 B 77sq., der eine weltgeschichtliche Phase mit ganzjähriger Fruchtbarkeit zu beschreiben scheint. Mit explizitem Bezug zum Goldenen Zeitalter tritt das Motiv zuerst in Ov. Met. 1,107sq. auf: ver erat aeternum, placidique tepentibus auris / mulcebant Zephyri natos sine semine flores (vgl. aber immerhin die Verbindung der mit dem ewigen Frühling verwandten κρᾶσις τῶν ὡρῶν und der Goldenen Zeit in Plat. Polit. 272a). Über den Topos des ewigen Frühlings und seiner Geschichte informiert neben Becker 2006, 149f. und Bömer 1969, 55 besonders

240 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

sich zum ersten Mal eine vergleichbare Aussage im pseudocyprianischen Werk De laude martyrii, deutlicher dann im wohl zu Recht Laktanz zugeschriebenen Gedicht De ave Phoenice, später bei Prudentius und bei Proba.597 Angesichts eines so breiten Traditionsgeflechts ist natürlich unsicher, ob Victorius überhaupt an einen bestimmten Überlieferungsstrang anknüpft. Wichtig werden für ihn sicherlich die genannten Vorläufer in der christlichen Dichtung und besonders Laktanz gewesen sein. Gleichwohl erinnert seine Formulierung ver … aeternum am ehesten an einen Text zur Goldenen Zeit, nämlich Ov. Met. 1,107. Zumindest ein schwacher Bezug zum Mythos der Goldenen Zeit scheint also doch vorzuliegen – wenngleich zu beachten ist, dass der ewige Frühling anders als bei Ovid nicht durch die besonderen Bedingungen der Urzeit, sondern durch die Lage des Paradieses begründet wird, womit Victorius Laktanz zu folgen scheint.598 Eine gewisse – wieder nicht eindeutige – Nähe zur Goldzeitvorstellung weist auch der zweite Teil des Satzes auf, in dem die Früchte des Paradieses beschrieben werden (1,229–232): … illic quaeque suis dives stat fructibus arbor pomaque succiduis pelluntur mitia pomis, 230 quae sunt blanda oculis et miri plena vigoris membra animosque fovent pascuntque sapore et odore.

|| Reynen 1965; vgl. auch H. Heckel, Art. „Jahreszeiten. II.B“, DNP 5, Stuttgart/Weimar 1998, 839– 841. Angemerkt sei noch, dass Aleth. 1,340, wo die Erde als vernans in corpore bezeichnet wird, an Lukrez’ Aussagen über die Kraft der novitas mundi erinnert (vgl. Lucr. 5,818. 943). 597 Vgl. Ps.-Cypr. Laud. mart. 21 (omnia illic non frigoris nec ardoris nec ut autumno arva requiescant aut iterum tellus vere novo fecunda parturiat. unius cuncta sunt temporis, unius poma feruntur aestatis), Lact. Phoen. 3sq. (über den locus im Osten, in dem ein christlicher Leser das Paradies erkennen soll: nec tamen aestivos hiemisve propinquus ad ortus, / sed qua sol verno fundit ab axe diem), Prud. Cath. 3,103 (ver ubi perpetuum redolet) sowie Proba 164 (zitiert unten in Anm. 614). Das Werk Laud. mart. gehört wohl noch ins 3. Jh. (vgl. J. Doignon, HLL 4, München 1997, §480.1), Phoen. dürfte zwischen 303 und 311 entstanden sein (jedenfalls, wenn es tatsächlich von Laktanz stammt, wozu die Forschung mittlerweile tendiert, vgl. K. H. Schwarte, Art. „Laktanz“, in: LACL, Freiburg u. a. 32002, 443–445; gegen die Echtheit z. B. noch W. Richter, Zwei spätantike Gedichte über den Vogel Phoenix, RhM 136 (1993), 62–90, der in dem Gedicht eine Nachahmung von Claudians Phoenixgedicht sieht). Auf weitere Stellen in der christlichen Exegese führt das Sachregister bei Grimm 1977 (Stichwort „Jahreszeiten und Klima im Irdischen Paradies“). 598 Vgl. die vorangehende Anmerkung mit dem Ausdruck sol verno … ab axe in Phoen. 4.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 241

… da steht jeder Baum reich an je eigenen Früchten, (230) und das zarte Obst wird vom folgenden Obste vertrieben, das schmeichelnd ist für die Augen und, voll von erstaunlicher Stärke, Glieder und Herzen erwärmt und nährt mit Geschmack und Geruch.

Dass im Paradies Bäume mit schönen und gut essbaren Früchten wuchsen, konnte Victorius schon der biblischen Vorlage entnehmen (Gen. 2,9). Trotzdem fällt auf, wie sehr er den Überfluss betont, den die Natur ohne menschliches Zutun hervorbringt (dass die Früchte von selbst wachsen, wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, versteht sich aber von selbst, weil der Mensch ja in den vorhandenen Garten gesetzt wird). Die Verse erinnern zunächst an dichterische Beschreibungen außergewöhnlich fruchtbarer Orte (V. 230, der als versus aureus in der Form AbxaB besonders herausgehoben ist, ähnelt etwa der Beschreibung des Alkinoosgartens in der Odyssee).599 Darüber hinaus klingt jedoch wieder die Vorstellung des Goldenen Zeitalters an, zu der seit den frühesten literarischen Zeugnissen der Gedanke gehört, dass die unbestellte Erde von selbst alles Nötige hervorbringt (αὐτόματος βίος).600 Auf Victorius’ Verhältnis zu diesem Motiv wird noch zurückzukommen sein. Eine letzte Aussage in der Paradiesekphrasis, die in der Tradition des Goldenen Zeitalters stehen könnte, ist die, dass Gott im Paradies alles zusammengebracht habe, was die Natur an verschiedenen Orten empfing (namque huc cuncta deus pariter, quae singula certis / accepit natura locis, V. 243sq.). Auch für diesen Gedanken findet sich keine Parallele in der biblischen Paradiesbeschreibung, dafür ist jedoch die Goldene Zeit in Vergils Eclogen und in Aviens

|| 599 Vgl. Hom. Od. 7,117–121 (τάων οὔ ποτε καρπὸς ἀπόλλυται οὐδ’ ἀπολείπει / χείματος οὐδὲ θέρευς, ἐπετήσιος· ἀλλὰ μάλ’ αἰεὶ / ζεφυρίη πνείουσα τὰ μὲν φύει, ἄλλα δὲ πέσσει. / ὄγχνη ἐπ’ ὄγχνῃ γηράσκει κτλ. Ob Victorius tatsächlich (durch lateinische Vermittlung?) hiervon beeinflusst ist oder z. B. an die monatlich Früchte tragenden Bäume im neuen Jerusalem (Offb. 22,1sq.) denkt, muss offen bleiben. 600 Der Gedanke begegnet schon in Hes. Erg. 117sq.: καρπὸν δ’ ἔφερε ζείδωρος ἄρουρα / αὐτομάτη πολλόν τε καὶ ἄφθονον …, vgl. später z. B. Verg. Georg. 1,125. 127sq. (ante Iovem nulli subigebant arva coloni; / … ipsaque tellus / omnia liberius nullo poscente ferebat); Ov. Met. 1,101sq. 109sq. (ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis / saucia vomeribus per se dabat omnia tellus / … / mox etiam fruges tellus inarata ferebat, / nec renovatus ager gravidis canebat aristis …); Aetna 9–12 (aurea securi quis nescit saecula regis, / cum domitis nemo Cererem iactaret in arvis / venturisque malas prohiberet fructibus herbas, / annua sed saturae complerent horrea messes …); Germ. Arat. 117sq. (fructusque dabat placata colono / sponte sua tellus …). Nur in einigen wenigen Darstellungen wird schon für die Goldene Zeit Landwirtschaft angenommen, so bei Arat. Phain. 112sq. und in der Rede des Stoikers Balbus in Cic. Nat. deor. 2,159 (vgl. Bömer 1969, 60); erwähnt sei noch Verg. Georg. 2,536–540, wonach Saturn selbst das Leben eines Bauern führte (in Widerspruch zu Georg. 1,125–128, vgl. Kubusch 1986, 99f.).

242 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Aratea in ähnlicher Weise dadurch charakterisiert, dass jedes Land alles hervorbringt.601 Gewiss hätte Victorius noch deutlichere Bezüge zum Goldzeitmythos herstellen können, etwa durch die Hinzufügung ‚schlaraffenlandartiger‘ Züge (Ströme von Wein oder Milch, von den Blättern triefender Honig usw.), die ja in einigen Texten mit dem Goldenen Zeitalter verbunden sind und später auch in bibeldichterischen Paradiesdarstellungen auftreten.602 Dass Victorius auf derartige Motive verzichtet, mag daran liegen, dass diese ihm zu offensichtlich der biblischen Vorlage widersprochen hätten; eine Rolle könnte auch gespielt haben, dass die Menschen seiner Vorstellung nach vor dem Sündenfall eigentlich gar keiner Nahrung bedurften, sodass eine breitere Darstellung paradiesischer Speisen unpassend gewirkt hätte.603 Doch auch wenn dergleichen auffällige Motive in der Alethia fehlen, kann man schon jetzt sagen, dass Victorius das biblische Bild des Paradieses in einigen Punkten durch behutsame motivische Anreicherungen an das Bild des Goldenen Zeitalters annähert. Paradies und Arbeit: Vorbereitung der Kulturentstehungslehre Wie angekündigt, ist nun noch ein genauerer Blick auf Victorius’ Verhältnis zum Motiv des αὐτόματος βίος nötig. Der konzeptionelle Unterschied zwischen der biblischen Paradies- und der paganen Goldzeitvorstellung reicht in diesem Punkt weiter, als es auf den ersten Blick scheint. Nach Gen. 2,15 erhielt der Mensch von Gott den Auftrag, den Garten zu bebauen und zu bewahren. Der Satz lässt sich bei literaler Auslegung – jedenfalls so, wie er im Masoretischen Text und in der Septuaginta überliefert ist – kaum anders verstehen, als dass der

|| 601 Bei Vergil über das wiederkehrende Goldene Zeitalter, Ecl. 4,39sq. (omnis feret omnia tellus), bei Avien dann über die einstige Goldzeit in Arat. 316sq. (omnia sed cunctis nasci dabat aurea terris / Iustitia …). Bei beiden Autoren wird die Aussage, anders als bei Victorius, als Erklärung des fehlenden Seehandels angeführt. Möglicherweise liegt auch im den zitierten Versen vorangehenden Aromatakatalog eine Reminiszenz an die Goldzeitdarstellung in Ecl. 4 vor (amomo / Assyrius, V. 38sq. ~ Assyrium … amomum, Ecl. 4,25). 602 Vgl. z. B. Verg. Georg. 1,131sq. (mellaque decussit [sc. Iuppiter] foliis … / et passim rivis currentia vina repressit); Ov. Met. 1,111sq. (flumina iam lactis, iam flumina nectaris ibant, / flavaque de viridi stillabant ilice mella); ähnlich auch Aetna 13sq. Vorläufer haben die Vorstellungen teilweise in der attischen Komödie (vgl. Schwabl 1978, 821f.). In der Bibeldichtung tauchen entsprechende Motive zuerst bei Dracontius auf (vgl. Laud. 1,201–203). 603 Vgl. Aleth. 1,390–394 (nullius egeni / quas dabat orbis opes; non quippe obnoxia morbis / corpora gestabant cupidi nec ventris alumna; / tantum in deliciis cibus et quod postulat usus / nondum erat auxilium vitae …).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 243

Mensch schon im Paradies in irgendeiner Form das Land gestalten und Pflanzen kultivieren sollte (wenngleich sicherlich ohne Mühe).604 Selbst wenn die Arbeit des Bauern, die der biblische Autor offenbar in erster Linie vor Augen hatte, letztlich vielleicht nur ein Beispiel für menschliche Arbeit überhaupt sein soll, ergibt sich hier also ein deutlich anderes Bild als in den meisten Texten zur Goldenen Zeit: Während körperliche und speziell landwirtschaftliche Arbeit diesen zufolge im Idealzustand der Menschheit unnötig und unbekannt war, gehört sie nach der Bibel schon zur ursprünglichen göttlichen Schöpfungsordnung und ist damit viel positiver konnotiert.605 In der Vetus Latina liest sich der Satz freilich nicht ganz so konkret. Der zweite Versteil ist hier in der verbreitetsten Fassung übersetzt mit ut operaretur ibi [sc. homo] et custodiret eum (teilweise fehlen auch ibi und eum), sodass offen bleibt, worin die Arbeit des Menschen bestehen soll. Der Vers konnte so leicht von seinem (wenn auch vielleicht nur exemplarischen) Bezug zur Landwirtschaft gelöst werden, und dies umso mehr, als das Paradies oft auch oder sogar ausschließlich als ein geistiger Ort verstanden wurde, für den körperliche Arbeit natürlich a priori keine Rolle spielt.606 Immerhin vertrat jedoch noch Augustinus in seinem Kommentar De Genesi ad litteram die Ansicht, Adam werde hiermit zum Ackerbau aufgefordert, und da Victorius das Werk mehrfach benutzt, darf man annehmen, dass auch ihm diese Deutung bekannt war.607 || 604 Im Masoretischen Text: ‫׃וּל ָשׁ ְמ ָ ֽרהּ‬ ְ ‫ת־ה ָא ָ ֑דם וַ יַּ נִּ ֵ ֣חהוּ ְבגַ ן־ ֔ ֵ ֶדן ְל ָ ְב ָ ֖דהּ‬ ֽ ָ ‫הים ֶא‬# ֖ ִ ‫הו֥ה ֱא‬ ָ ְ‫;וַ יִּ ַ ֛קּח י‬ ähnlich in der Septuaginta: καὶ ἔλαβεν κύριος ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον, ὃν ἔπλασεν, καὶ ἔθετο αὐτὸν ἐν τῷ παραδείσῳ ἐργάζεσθαι αὐτὸν καὶ φυλάσσειν (wörtliche Übersetzung des Hebräischen bis auf die Hinzufügung von ὃν ἔπλασεν). 605 Vgl. Westermann 1974, 300–302, der die Bedeutung dieser (seiner Ansicht nach menschliche Arbeit überhaupt meinenden) Bestimmung für die biblische Schöpfungskonzeption betont und in ihr einen wesentlichen Unterschied zu anderen ‚Paradiesvorstellungen‘ sieht. Vgl. auf paganer Seite die in Anm. 600 genannten Stellen (zu Hesiod sei angemerkt, dass in Erg. 118sq. immerhin von ἔργα die Rede ist, dies allerdings gleich in Verbindung mit Lust, Ruhe und Überfluss: οἳ δ’ ἐθελημοὶ / ἥσυχοι ἔργ’ ἐνέμοντο σὺν ἐσθλοῖσιν πολέεσσιν). 606 Als bloß realer Ort gilt das Paradies z. B. bei Laktanz (Inst. 2,13), als rein geistiger Ort z. B. bei Origenes (Princ. 4,3,1). Die meisten Autoren verstehen das Paradies sowohl räumlich als auch geistig, so schon Philon (LA 1,43; Plant. 32; QG 1,6), später auch Ambrosius (Par. 11,5sq.) und Augustinus (Gen. ad litt. 8,1sq.; weitere Stellen bei A. Louth, Art. „Paradies“, in: TRE 25, Berlin/New York 1995, 714–719, hier: 714f.). Zur verallgemeinernden Deutung von Gen. 2,15 vgl. etwa Ambr. Par. 4,25, der aus dem Vers die moralische und spirituelle Aufforderung ableitet: haec duo ab homine requiruntur, ut et operibus nova quaerat et parta custodiat, quod est generale (vgl. dazu Grimm 1977, 52; zu Ambrosius’ Ansichten zu körperlicher Arbeit ingesamt Rijkers 2007, 69–88, zur vorliegenden Stelle 82f.). 607 Aug. Gen. ad litt. 8,8, der das scheinbare Paradox der Arbeit im Paradies durch den Hinweis auf die der Landwirtschaft (zumal der prälapsarischen) innewohnende Lust zu lösen

244 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Wie geht nun Victorius mit Gen. 2,15 um? Tatsächlich greift er das Stichwort der Arbeit auf, allerdings lediglich in dem Sinne, dass der Mensch lernen solle, „durch Arbeit zu verdienen, was er besaß608“ (… dum fit dignus adhuc discitque labore mereri, / quo potitur …, V. 310sq.). Diese Formulierung bildet recht getreu die Aussage der Vetus Latina nach und lässt ebenso offen wie diese, worin die Arbeit bestehen soll.609 Wie der Fortgang der Erzählung zeigt, handelt es sich offenbar gerade nicht um Landwirtschaft, da Pflug und Getreideanbau erst im zweiten Alethia-Buch erfunden werden (2,77–84, vgl. unten Kap. 2.2.3.1). Man wird wird V. 310sq. demnach so zu verstehen haben, dass der Mensch im Paradies zwar in irgendeiner Form zu arbeiten lernen sollte, gleichwohl aber bis zum Sündenfall in einem voragrarischen und vorkulturellen Stadium lebte, weil der Überfluss und die Bedürfnislosigkeit Entwicklungen verhinderten.610 Dass Victorius Gen. 2,15 in dieser unbestimmten Form und nicht etwa im Sinne des Augustinus paraphrasiert, ist für die Anlage des Gesamtwerks von großer Bedeutung: Nur so kann er – wohl gegen den urspünglichen Sinn des Bibeltextes, dafür aber in Übereinstimmung mit paganen Zeitaltervorstellungen – klar zwischen einem primitiven Urzustand und einer Entwicklungsphase unterscheiden, die nach dem Sündenfall einsetzt und besonders in der Digression am Beginn des zweiten Buches behandelt wird (vgl. die folgenden Teilkapitel). Die beobachteten Parallelen zur Vorstellung des Goldenen Zeitalters dienen also nicht nur der Ausschmückung des Paradieses, sondern sind eingebunden in ein größeres Konzept der Menschheitsentwicklung.

|| versucht: quid operaretur vel quid custodiret? numquid forte agriculturam dominus voluit operari primum hominem? an non est credibile, quod eum ante peccatum damnaverit ad laborem? ita sane arbitraremur, nisi videremus cum tanta voluptate animi agricolari quosdam, ut eis magna poena sit inde in aliud avocari (vgl. auch insgesamt 8,8,15–10,23; anzumerken ist, dass Augustinus sich nicht nur auf die lateinische Übersetzung stützt, sondern auch explizit auf das Griechische verweist, so 8,10,19, wo er den griechischen Text übersetzt mit et posuit eum in paradiso operari eum et custodire; vgl. zu Augustinus’ Ansichten zu körperlicher Arbeit ingesamt Rijkers 2007, 90–136, zur genannten Passage 93–109). Auch Philon geht in QG 1,14 von körperlicher Arbeit im Paradies aus, vgl. dazu Grimm 1977, 31f. und Rijkers 2007, 58–65. Für die Positionen weiterer christlicher Prosaautoren in Antike und Mittelalter sei auf das Stichwort „opus in paradiso“ in Grimms Sachregister verwiesen. 608 Oder „in Besitz nahm“. Zur Bedeutung „besitzen“ vgl. ThLL s. v. potior p. 330,6–31. 609 Ähnlich vage übrigens nach Victorius Avitus (SHG 1,308sq.): hic operis dulci studio secura quiescat / deliciisque fruens longaevo in tempore vita. Proba lässt den Vers bezeichnenderweise ganz aus (stattdessen sogar: requies ea certa laborum, V. 141). 610 Vgl. dazu auch V. 431–433, wo es zur Erklärung, warum die Menschen nicht vor dem Sündenfall Kleidung erfanden, in recht allgemeiner Form heißt: … seu corpora nulla / in senium solvenda mora penetrare nequibat / motus, qui sciri faceret quodcumque necesse est.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 245

Vorläufer in der Verknüpfung von Paradies und Goldenem Zeitalter Dass Victorius tatsächlich an die genannten Texte zur Goldenen Zeit anknüpft, erscheint umso plausibler, als er hierbei auf einer gewissen Tradition aufbauen konnte. Schon Laktanz bringt in seinen Divinae institutiones in erörternder Form Paradies und Goldene Zeit miteinander in Verbindung (5,5–8).611 Laktanz versucht dabei, den wahren Kern des Mythos herauszuarbeiten, indem er Aussagen paganer Dichter über das Goldene Zeitalter mit der christlichen Vorstellung einer Zeit vor dem Abfall von Gott in Deckung bringt. Dabei zitiert und kommentiert er hauptsächlich Texte, die der Lehrdichtung zugehören oder in ihrer Tradition stehen.612 Auch wenn er mit seinen Zitaten einen anderen Schwerpunkt als Victorius setzt – Laktanz betont vor allem die in der Urzeit herrschende Gerechtigkeit –, bereitet er so den Weg für eine dichterische Überblendung beider Vorstellungen.613 Eine solche findet sich zuerst bei Proba, die bei der Beschreibung des Paradieses mehrfach in auffälliger Weise Verse zitiert, die bei Vergil auf das Goldene Zeitalter bezogen sind. Tatsächlich betont Proba sogar ähnliche Züge wie Victorius, nämlich den ewigen Frühling, den αὐτόματος βίος und – besonders aufschlussreich für die Überlegungen zu Gen. 2,15 – das Fehlen der Landwirtschaft.614 Ingesamt ergibt sich bei Proba also in wesentlichen Punkten ein frappierend ähnliches Bild wie bei Victorius, und es ist gut möglich, dass dieser sich von ihr anregen ließ, wenngleich er mit der biblischen Vorlage viel behutsamer || 611 Vgl. hierzu V. Buchheit, Goldene Zeit und Paradies auf Erden (Laktanz, inst. 5,5-8), WJA N. F. 4 (1978), 161–185. Laktanz nennt in der Passage aus Rücksicht auf seine heidnischen Leser zwar nicht explizit den Garten Eden oder das Paradies, doch ist offensichtlich, dass er die christliche Paradiesvorstellung vor Augen hat (vgl. art. cit. 163, Anm. 11). 612 Im Einzelnen zitiert Laktanz: Cic. Arat. fr. 17. 19 Soubiran; Germ. Arat. 112. 113; Verg. Georg. 1,126sq. 129sq.; Verg. Aen. 8,320. 327; Ov. Met. 1,111 (alle Zitate in 5,5). 613 Vgl. Herzog 1975, 197 Anm. 140, der die enge Verbindung zwischen Laktanz und der entstehenden Bibeldichtung betont. 614 Die betreffenden Stellen bei Proba sind V. 144 (non rastros patietur humus, non vinea falcem, wörtlich übernommen aus Verg. Ecl. 4,40, wo es um das wiedergekehrte Goldene Zeitalter geht); V. 163 (hic ver purpureum atque alienis mensibus aestas, aus Ecl. 9,40 und Georg. 2,149 zusammengesetzt, wobei die letztere Stelle zu den laudes Italiae gehört, die Elemente des Goldzeitmythos aufnehmen, vgl. die folgenden Absätze); V. 168sq. (ipsaque tellus / omnia liberius nullo poscente ferebat, wörtlich übernommen aus Georg. 1,127sq., wo die Herrschaft Saturns beschrieben wird). Dass der Bezug zum Goldzeitmythos bewusst und absichtsvoll ist, zeigt sich daran, dass Proba die Zeit nach der Vertreibung aus dem Paradies in noch auffälligerer Weise mit Versen über das Silberne Zeitalter bzw. die Herrschaft Juppiters beschreibt, dazu unten S. 262f.; vgl. zur Paradiesdarstellung bei Proba auch Herzog 1975, 29 und ausführlicher Bažil 2009, 148–150.

246 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

umgeht und keine derart offensichtlichen Verbindungen zu Texten über das Goldene Zeitalter herstellt, wie die Centonendichterin es tat (und angesichts der von ihr gewählten Dichtungsform tun musste). Die Paradiesschilderung als Imitation der vergilischen laudes Italiae? Nach diesen Überlegungen zur Anknüpfung an die literarische Tradition soll nun noch ein Einzeltext betrachtet werden, der selbst von der Vorstellung des Goldenen Zeitalters beeinflusst ist und schon von Schenkl im Vorwort zu seiner Ausgabe als Vorbild für Victorius’ Paradiesschilderung erwogen wurde (vgl. Schenkl 1888, 351). Es handelt sich um die sogenannten laudes Italiae in Vergils Georgica, in denen der Dichter nach einem Katalog von in verschiedenen Umgebungen und Ländern wachsenden Bäumen seine Heimat Italien als bestes Land preist und mit Zügen des Goldenen Zeitalters ausstattet, die, so die Botschaft, sich in Italien am ehesten erhalten haben (Verg. Georg. 2,109–176, das eigentliche Italienlob ab V. 136).615 Was ist von Schenkls Überlegung zu halten? Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen Victorius’ Paradiesbeschreibung und der Vergilpassage finden. An erster Stelle sind hier die exotischen Völker und Länder zu nennen, die Vergil teils im Baumkatalog, teils im eigentlichen Lob zum Vergleich mit Italien anführt (namentlich nennt er Araber, Gelonen, Indien, Sabäer, Äthiopen, Serer, Medien, Baktra, Panchaia, durch Anspielungen außerdem Lydien und Kolchis, Georg. 2,114–142). Victorius scheint sich hiermit im Katalog der paradiesischen Aromata zu messen, wo er Meder, Perser, Assyrer, Marea, Tartessus (wohl für Tarsis),616 Saba und Palästina aufführt (V. 237–242). Zu beachten ist besonders, dass Victorius zwei Aromata, die schon in Vergils Katalog nacheinander genannt werden, nämlich Weihrauch und Balsam (Georg. 2,117–119), ebenfalls unmittelbar nacheinander umschreibt, und dies im Falle des Weihrauchs sogar mit einer klaren Anspielung auf die entsprechende Vergilstelle (V. 240sq.).617 Weitere auffällige Elemente, die beide Darstel-

|| 615 Zur Einordnung der laudes Italiae in die Tradition des Goldenen Zeitalters vgl. Haß 1998, 129–131 mit älterer Literatur. 616 Zu den von den Stichwörtern messis rubens Mareotica nardo (V. 239) und Tartesiaci frutices (V. 240) aufgeworfenen interpretatorischen Schwierigkeiten, vgl. oben Anm. 383f. 617 Vgl. Georg. 2,117 (solis est turea virga Sabaeis) mit Aleth. 1,240 (virga Sabaei). Sowohl den Weihrauch als auch den Balsam nennt Victorius nicht explizit, sondern umschreibt sie durch ihre Herkunftsbezeichnungen, hier Saba, beim Balsam Palästina; vgl. zur Zuordnung Homey 2008, 83f.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 247

lungen teilen, sind das Motiv des ewigen Frühlings (bei Vergil genauer: ewiger Frühling und Sommer) und die Nennung von Edelmetallvorkommen.618 Sieht man von der wörtlichen Reminiszenz in V. 240 ab, ist freilich an keiner der genannten Stellen ganz sicher, ob Victorius tatsächlich Vergil vor Augen hatte oder ob er andere Einflüsse verarbeitete. Das Motiv des ewigen Frühlings scheint Victorius eher Ovid oder christlichen Dichtern zu entnehmen, von Gold im Gebiet des Phison redet schon die Bibel (Gen. 2,11), und selbst hinter dem Aromatakatalog steht eine breitere jüdisch-christliche Tradition.619 Trotzdem bleibt es eine reizvolle Option, in Vergils laudes Italiae einen Subtext von Victorius’ ‚laudes paradisi‘ zu sehen. Denkbar wäre dann eine Kontrastierungs- und Überbietungsabsicht. Während die von Vergil im Baumkatalog genannten Gewächse in je verschiedenen Ländern wachsen (nec vero terrae ferre omnes omnia possunt, Georg. 2,109), vereint Victorius’ Paradies, wie erwähnt, Bäume verschiedenster geographischer Herkunft in sich (namque huc cuncta deus pariter, quae singula certis / accepit natura locis, conferta regessit, Aleth. 1,243sq.). Es übertrifft damit selbst eine nach Vergil so vollkommene Landschaft wie Italien, was im Umkehrschluss bedeutet, dass selbst die am höchsten gelobten jetzigen Länder weit hinter dem verlorenen Paradies zurückbleiben. Möglich wäre auch eine Anknüpfung an den Gedanken der Heimat: Wie für Vergil Italien die Heimat und das beste Land ist, so ist aus Victorius’ Sicht das Paradies die eigentliche Heimat der Menschen und der wahrhaft vollkommene Ort. Zusammenfassung Dieses Teilkapitel konnte und wollte nur einige wenige Aspekte der Paradiesbeschreibung untersuchen. Trotz mancher Unsicherheiten ließen sich einige Hinweise darauf finden, dass Victorius das Paradies zumindest teilweise im Sinne des Goldenen Zeitalters modifiziert und so nicht zuletzt einen Bezug zur Lehrdichtung herstellt. Dabei geht er so subtil vor, dass er der biblischen Vorlage || 618 Der ewige Frühling wird genannt in Georg. 2,149 (hic ver assiduum atque alienis mensibus aestas, vgl. Reynen 1965, 426–429 zur Einordnung in die Tradition der κρᾶσις τῶν ὡρῶν) und Aleth. 1,228 (aeternum paribus ver temperat horis; deutlicher als Victorius lehnen sich Proba und Avitus an die Vergilstelle an [Proba 163, vgl. oben Anm. 614; Alc. Avit. SHG 2,222: hic ver adsiduum caeli clementia servat]). Edelmetalle werden genannt in Georg. 2,165sq. (haec eadem argenti rivos aerisque metalla / ostendit venis atque auro plurima fluxit) und Aleth. 1,280–282 (über den Phison, wo zu den Metallen Edelsteine treten: nudis qua squalet harenis, / aurea fulgentis inter ramenta metalli / fulmineo rutilans carbunculus igne coruscat / ac viridi radiat fulgescens luce smaragdus). 619 Herausgearbeitet von Homey 2008, vor allem 73–76.

248 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

nicht offen widerspricht, andererseits jedoch einen Hintergrund entwickelt, vor dem er ab Buch 2 ein weiteres lehrgedichttypisches Thema entfalten kann, nämlich die kulturelle Entwicklung der Menschheit.

2.2.3 Die Kulturentstehungslehre als Gegenentwurf zu Lukrez (B. 2 und 3) Nachdem Victorius im ersten Buch die Erschaffung der Welt und das voragrarische Stadium der Menschheit dargestellt hat, folgen in Buch 2 und 3 Betrachtungen zur Entstehung und Entwicklung der menschlichen Kultur. Besonders ausführlich beschäftigt Victorius sich mit diesem Thema in zwei Digressionen. So beginnt Victorius das zweite Buch wie schon das erste nicht direkt mit der Paraphrase des Bibeltextes, sondern erzählt in einem fast 200 Verse langen Einschub das Schicksal der aus dem Paradies vertriebenen Menschen. Das Hauptthema ist dabei, wie die ersten Menschen Schritt für Schritt grundlegende Kulturtechniken entdecken, die für ihr Überleben in der neuen Umgebung vonnöten sind, wobei zunächst die Erfindung der Landwirtschaft und die Entdeckung des Feuers sowie der Metalle behandelt werden. Im dritten Buch folgt dann eine weitere Digression, in der es um das Aufkommen des Aberglaubens geht. Auch außerhalb der Digressionen begegnen in den Büchern 2 und 3 vereinzelt Aussagen zur Kulturgeschichte. Die Kulturentstehung kann also als eines der zentralen Themen der Alethia betrachtet werden.620 Die Entstehung der menschlichen Kultur ist – mindestens ebenso sehr wie die der Welt – auch in der paganen griechisch-römischen Literatur seit frühester Zeit ein beliebtes Thema.621 Einer der frühesten greifbaren Vertreter ist Hesiod, der die Menschheitsentwicklung einerseits in der Prometheuserzählung (Theog. 507–616; Erg. 45–105), andererseits im bereits im letzten Teilkapitel genannten Weltaltermythos behandelt (Erg. 106–201, wo freilich nicht der kulturelle Auf-

|| 620 Treffend formuliert bei Herzog 1975, LV: „Die Alethia verformt die Geschichte der Adamiten zur Lukrez ausschreibenden Kulturgeschichte …“ Vgl. auch Cutino 2009, 144 über die Digressionen im zweiten und dritten Buch: „[Le digressioni] … riguardano entrambe la storia dell’umanità primitiva, un topos, com’è noto, delle trattazioni didascaliche.“ Vielleicht gibt es auch schon im ersten Buch eine Ankündigung dieses Themas: In 1,354sq. scheint Victorius einen Gegensatz zwischen Menschen und Tieren herausarbeiten zu wollen, indem er Letztere als artis inops animique minoris / … opus bezeichnet. Die Stelle enthält damit eine Aussage über Victorius’ Menschenbild, nämlich dass eine wesentliche Eigenheit, die Menschen von Tieren unterscheidet, eben die Kulturtechniken (artes) seien. 621 Eine konzise Übersicht über Kulturentstehungstheorien bietet Heckel 1999, etwas ausführlicher zum Thema Manuwald 2003.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 249

stieg, sondern der moralische Niedergang im Vordergrund steht). Die ersten Ansätze zu einer rationalistischen Kulturentstehungstheorie sind bei Xenophanes zu beobachten (VS 21 B 18). In den folgenden Jahrhunderten, besonders bei den Sophisten und in den hellenistischen Philosophenschulen, werden vor allem solche rationalistischen Theorien weiterentwickelt, wenngleich in der Dichtung weiterhin auch mythologische Kulturentstehungserzählungen auftreten. Ähnlich wie bei der Kosmogonie und dem Goldenen Zeitalter ist für diese Arbeit nun entscheidend, dass gerade die Lehrdichter sich seit Hesiod regelmäßig mit dem Thema der Kulturentstehung befassen. Die umfänglichste erhaltene Kulturentstehungslehre der Antike stammt dabei von Lukrez, der im fünften Buch auf epikureisch-rationalistischer Grundlage die Entstehung der menschlichen Zivilisation und der einzelnen Kulturtechniken darstellt (Lucr. 5,925– 1457). Auch die folgenden römischen Lehrdichter legen, meist in Auseinandersetzung mit ihren Vorgängern, Kulturentstehungskonzepte vor, so Vergil (Georg. 1,118–159), Ovid (bes. Met. 1,89–150, wo Ovid noch eher dem Lehrgedicht als dem Epos verpflichtet ist) und Manilius (1,66–112).622 Die Entstehung der menschlichen Kultur kann also, obgleich ebenso wenig wie die Kosmogonie oder der Goldzeitmythos auf das Lehrgedicht beschränkt, als ein weiteres typisches Thema des Lehrgedichts gelten.623 Damit liegt erneut die Deutung nahe, dass sich Victorius, indem er selbst in dichterischer Form und größerem Umfang eine Kulturentstehungstheorie entwirft, in eine Reihe mit den genannten Gattungsvertretern stellt. Die Länge des Passus und die detaillierte Schilderung der Einzelerfindungen erinnern dabei vor allem an Lukrez. Wie genau er sich zu den verschiedenen Lehrdichtern und, soweit relevant, zu bestimmten Mythen über die Kulturentstehung stellt, soll in den folgenden Unterkapiteln im Einzelnen untersucht werden.624 || 622 Vgl. z. B. Gale 2000, 63–69 zur Auseinandersetzung mit Lukrez und anderen bei Vergil (mit weiterer Literatur in Anm. 12) oder Gale 2011, 205–210 zum Umgang des Manilius mit seinen Vorgängern in der Lehrdichtung, vor allem Lukrez und Vergil (mit weiterer Literatur in Anm. 3 und 4). 623 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch im Epos vereinzelt Gedanken zur Kulturentwicklung gibt, so bereits bei Homer, wo der niedrige Entwicklungsstand der Kyklopen mit den fehlenden existenziellen Nöten begründet wird (Od. 9,106–115. 125–129. 275–277), später auch bei Vergil, der Euander die Saturnherrschaft beschreiben lässt (Aen. 8,314–327; beide Angaben nach Heckel 1999). Die Stellen sind aber eher als Ausnahmen oder lehrgedichtartige Einsprengsel im mythologischen Epos zu sehen. 624 Der Anfang des zweiten Buches wird auch in Staats Teilkommentar behandelt. Mein Vorgehen unterscheidet sich insofern von dem Staats, als ich mich weitgehend auf lateinische Vergleichstexte konzentriere, die Victorius mit einiger Sicherheit lesen und verarbeiten konnte, während Staat meist den griechischen Ursprung der für Victorius relevanten Lehren sucht.

250 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

2.2.3.1 Die Erfindung der Landwirtschaft: Theorie und Praxis (2,77–84. 163– 177) Nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies leiden die Menschen nach Victorius an drückendem Nahrungsmangel (2,29–34). Im Paradies hatte sie, wie in Kap. 2.2.2 geschildert, der von Gott angelegte Garten von selbst mit allem Nötigen versorgt. Den Menschen fehlen daher jegliche Kulturtechniken, mit denen sie in der neuen Umgebung ihr Überleben sichern könnten. Kurzum: Sie sind vollkommen hilflos und bedürftig (vgl. cunctarum, quibus indiget usus, egenos / atque inopes rerum, 2,35sq.). Die Not treibt sie schließlich zum Gebet (2,34–41). Hierin kommt Adam nach anderen Themen gegen Ende auf die Nahrungsbeschaffung zu sprechen. Er zählt dabei Gottes Befehle für die Menschen nach dem Sündenfall auf und zieht aus den drei genannten Punkten jeweils Schlüsse, wie mit ihnen umzugehen sei (2,77–84): iussisti mota victum me quaerere gleba (damnatis igitur campi sunt arma movendi danda reis), dumos steriles spinasque tenaces pro fructu dare rura mihi (prius ergo serenda est, ut fallat mea vota seges quaesita labore), herbarum assiduo contexere semine panem; da menti, quae sint herbae, quae forma laboris, da, pater, auxilium miserans atque imbue sensus.

80

Du befahlst mir nach Nahrung durch das Umbrechen der Scholle zu suchen – folglich ist den verurteilten Angeklagten das Gerät für das Umbrechen des Feldes zu geben;625 karge Sträucher und haltende Dornen solle (80) statt Frucht das Land mir geben – also muss man erst säen, auf dass die mit Mühe erlangten Gewächse meine Wünsche enttäuschen;626 durch beharrlichen Anbau von Pflanzen soll ich Brot bereiten – zeig dem Verstand, was die Pflanzen sind, was die Gestalt der Mühsal ist, gib, dich erbarmend, Hilfe, o Vater, und erfülle627 das Denken.

|| 625 Der Vers ist, wie auch die folgenden, textkritisch und interpretatorisch unsicher; ich folge Hovinghs Textkonstitution (gegen Staat). Papini übersetzt, ebenfalls auf der Grundlage von Hovinghs Text, m. E. aber weniger sinnvoll: „i campi da lavorare sono dunque gli strumenti che devono essere dati a noi“. 626 Gemeint ist wohl, dass die Pflanzen, selbst wenn ihr Anbau gelingt, hinter den Wünschen zurückbleiben (vgl. oben V. 513, wo ebenfalls die Junktur fallere votum verwendet wird). Der Begriff seges bezeichnet „die Saat auf den Feldern von der Aussaat bis zum Abmähen“ (Georges s. v. seges), wobei hier vor allem an die schon aufgeschossene Saat gedacht zu sein scheint, darum „Gewächse“. V. 80b ist im Lateinischen persönlich konstruiert, also „... sie (die seges) erst säen …“. Auch in diesen Versen weicht Staats Text ab. 627 Zur Übersetzung vgl. oben Anm. 473

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 251

In der ersten Schlussfolgerung geht es um den bislang unbekannten Pflug (V. 78–79a), in der zweiten um den noch nicht praktizierten Anbau von Pflanzen (V. 80b–81), in der dritten um die zum Ackerbau nötigen Kenntnisse (V. 83sq.). Was Adam hier formuliert, ist also nichts anderes als ein Programm zur Erfindung des Ackerbaus unter Gottes Anleitung. Diesem ersten größeren eigenständigen628 Entwicklungsschritt der Menschheit kommt eine exemplarische Bedeutung für Victorius’ Kulturentwicklungstheorie zu, und so lohnt es sich, vor einer genaueren Analyse der Stelle zuerst Victorius’ Grundidee mit den kulturhistorischen Vorstellungen wichtiger Lehrdichter zu vergleichen, und zwar zunächst unabhängig davon, welche Rolle die Landwirtschaft in den jeweiligen Werken spielt.629 Die Konzepte seien zunächst kurz skizziert. Überblick über lehrdichterische Konzepte der Kulturentstehung Nach der ausführlichen Kulturgeschichte des Lukrez leben die Menschen im voragrarischen primitiven Zustand unter relativ harten Bedingungen, sind aber auch selbst noch robuster, sodass sie etwa die harte Nahrung, die die Erde damals noch in gößerer Menge hervorgebracht habe, als üppig empfanden (5,925– 1010).630 Allmählich kommt es dann zu verschiedenen Entwicklungen und Erfindungen wie der Gründung von Familien, Stammesgemeinschaften, Städten usw., die das zivilisatorische Niveau der Menschen immer weiter heben, teilweise aber auch negative Begleiterscheinungen mit sich bringen (5,1011–1457).631

|| 628 Den ersten, freilich nur kleinen Schritt könnte man in der Bedeckung mit Feigenblättern sehen (Aleth. 1,439sq.: umbrosae foliis nova tegmina fici / texunt consertis), einen weiteren, aber unselbständigen in der Verwendung von Fellkleidung, die Gott den ersten Menschen zum Schutz gab (Aleth. 1,520–522: ignaros caelum defendere membris / veste tegit pecudum miserans vitamque tueri / edocet; vgl. Gen. 3,21). 629 Vorausgeschickt sei, dass das Thema der Landwirtschaft überhaupt mehrfach in der antiken Lehrdichtung behandelt wurde, am prominentesten natürlich in Vergils Georgica, aber auch schon in Hesiods Werken und Tagen, später in Columellas metrischem Buch 10 seines Werks De re rustica sowie in Palladius’ De insitione. 630 Vgl. Lucr. 5,925sq.: at genus humanum multo fuit illud in arvis / durius, ut decuit, tellus quod dura creasset … Zum Fehlen der Landwirtschaft siehe besonders V. 933–936. 943sq.: nec robustus erat curvi moderator aratri / quisquam, nec scibat ferro molirier arva / nec nova defodere in terram virgulta neque altis / arboribus veteres decidere falcibus ramos. / … / multaque praeterea novitas tum florida mundi / pabula dura tulit, miseris mortalibus ampla. 631 Der Aufbau der Darstellung ist in der Forschung teilweise umstritten. Nach Manuwald 1980, 18–30 folgt Lukrez dem Zwei-Phasen Modell des Epikur (vgl. Ep. ad Hdt. 75). Demnach wäre die Passage nach der in V. 925–1010 dargestellten Urzeit zu gliedern in 1011–1104 (= 1.

252 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Wie genau der Ackerbau erfunden wird, schildert Lukrez nicht explizit; über die Baumzucht – inwieweit der Ackerbau dabei mitgemeint ist, bleibt umstritten – heißt es, die Natur selbst habe den Menschen als Vorbild gedient (Lucr. 5,1361– 1378).632 Wichtig für den Vergleich mit Victorius ist jedenfalls, dass die Kulturentwicklung nicht durch ein bestimmtes Ereignis angeregt oder vorangetrieben wird, und dass Götter oder einzelne Kulturstifter keine Rolle spielen. Dieser konsequent rationalistischen Vorstellung setzt Vergil in den Georgica unter Rückgriff auf ältere Traditionen ein Bild entgegen, in dem – wenn man ihn so wörtlich verstehen darf – die Götter und ihr Eingreifen eine entscheidende Rolle spielen (Georg. 1,118–159). Der voragrarische Urzustand der Menschen fällt demnach unter die Herrschaft Saturns, die offenbar mit dem Goldenen Zeitalter gleichzusetzen ist, und wird ganz anders als bei Lukrez als eine Zeit des Überflusses vorgestellt, in der die Menschen noch keine Kulturtechniken nötig hatten, um sich zu ernähren (Georg. 1,125–128).633 Diesem Saturnischen || Phase, in der die kulturelle Entwicklung durch Not und Mangel vorangetrieben wird) und 1105–1457 (= 2. Phase, in der Entwicklung durch Überlegung vorangetrieben wird); vgl. auch Kubusch 1986, 59–74, der, ausgehend von Manuwalds Einteilung, positive, negative und neutrale Charakteristika der einzelnen Phasen zusammenstellt. An weiterer Literatur zu Lukrez’ Kulturentstehungslehre seien genannt: G. Campbell, Lucretius on creation and evolution. A commentary on De rerum natura, book five, lines 772–1104, Oxford 2003; E. Pöhlmann, Lukrez als Quelle griechischer Kulturentstehungslehre: Zu Lukrez 5, 1448–1457, WJA 17 (1991), 217– 228; K. Sallmann, Nunc huc rationis detulit ordo. Noch einmal zum Aufbau der Kulturlehre des Lukrez, in: R. Altheim-Stiehl/M. Rosenbach (Hgg.), Beiträge zur altitalischen Geistesgeschichte. Festschrift G. Radke, Münster 1986, 245–256; K. Büchner, Die Kulturgeschichte des Lukrez, in: H. Bannert/J. Divjak (Hgg.), Latinität und alte Kirche. Festschrift R. Hanslik, Wien 1977, 39– 55 und K. Westphalen, Die Kulturentstehungslehre des Lukrez, München 1957. 632 Vgl. Lucr. 5,1361–1364: at specimen sationis et insitionis origo / ipsa fuit rerum primum natura creatrix, / arboribus quoniam bacae glandesque caducae / tempestiva dabant pullorum examina supter … Die Passage wurde und wird von einigen Interpreten als Aussage zur gesamten Landwirtschaft gedeutet (so etwa noch Gale 2009, 209: „Developments in agriculture“), andere vertreten die Ansicht, dass nur die Baumzucht beschrieben werde (so etwa Bailey 1950, 1537 und ausführlich Manuwald 1980, 43). Die Frage hängt damit zusammen, ob man satio als ‚Pflanzen‘ oder ‚Säen‘ versteht; zu beachten ist auch, dass in V. 1372 von segetes die Rede ist, was dafür spricht, dass zumindest am Rande auch an den Ackerbau gedacht ist. Vgl. zur Entstehung der Landwirtschaft auch die Zusammenfassung in Lucr. 5,1448–1453: navigia atque agri culturas, moenia leges / … / usus et impigrae simul experientia mentis / paulatim docuit pedetemptim progredientis. 633 Ante Iovem nulli subigebant arva coloni … Zur Einordnung in die Tradition des Goldenen Zeitalters sei verwiesen auf Kap. 2.2.2, speziell Anm. 592 und 600. Genaueres zur Entwicklungskonzeption der Georgica und ihren Widersprüchen bietet Kubusch 1986, 94–125, zum Verhältnis zu Lukrez J. Farell, Vergil’s Georgics and the traditions of ancient epic. The art of allusion in literary history, New York/Oxford 1991, 180–184.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 253

Zeitalter habe Juppiter jedoch ein Ende gesetzt, und zwar um die Menschen zu Erfindungen zu stimulieren, zu denen dann auch der Ackerbau gehörte (Georg. 1,129–146).634 In eine ähnliche Richtung geht wenig später auch Ovid in seinem stark vom Lehrgedicht beeinflussten ersten Metamorphosen-Buch, in dem er Vergils Darstellung mit dem vor allem durch Hesiod bekannten Zeitalterschema kombiniert (aus dem er freilich nur die vier metallischen übernimmt, Met. 1,89– 150). Der voragrarische Zustand wird hier nun explizit als Goldenes Zeitalter bezeichnet und mit den entsprechenden Zügen beschrieben (Met. 1,89–112).635 Die ersten zivilisatorischen Schritte, darunter auch die Einführung der Landwirtschaft, finden im Silbernen Zeitalter bzw. unter Juppiter statt (Met. 1,113– 124).636 Nur noch kurz sei auf die Mythologie verwiesen. Hier ist die Einführung des Ackerbaus mit dem Namen Triptolemos verknüpft, der von Demeter bzw. Ceres mit Ähren beschenkt und über den Getreideanbau belehrt wurde und der der Menschheit diese Kulturtechnik weitervermittelte. Der Mythos wurde auch von den drei soeben genannten Dichter verarbeitet, in vollständiger Form in Ovids Metamorphosen (und Fasten), verknappt in Vergils Georgica, wo Ceres als Lehrerin im Pflügen genannt wird, und in Lukrez’ De rerum natura, wo einmal kurz auf den Mythos angespielt wird.637

|| 634 Ille malum virus serpentibus addidit atris / praedarique lupos iussit pontumque moveri, / mellaque decussit foliis ignemque removit / et passim rivis currentia vina repressit, / ut varias usus meditando extunderet artis / paulatim, et sulcis frumenti quaereret herbam, / ut silicis venis abstrusum excuderet ignem. … 635 Siehe besonders Met. 1,101–106: ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis / saucia vomeribus per se dabat omnia tellus, / contentique cibis nullo cogente creatis / arbuteos fetus montanaque fraga legebant / cornaque et in duris haerentia mora rubetis / et quae deciderant patula Iovis arbore glandes. Vgl. erneut oben Anm. 592 und 600. 636 Siehe besonders Met. 1,121–124 (über das Silberne Zeitalter: tum primum subiere domos (domus antra fuerunt / et densi frutices et vinctae cortice virgae); / semina tum primum longis Cerealia sulcis / obruta sunt, pressique iugo gemuere iuvenci). – Auch Manilius streift die Erfindung der Landwirtschaft im Rahmen seiner Kulturentstehungstheorie, doch fehlt eine genauere Darstellung, die zum Vergleich mit Victorius herangezogen werden könnte (Manil. 1,86, in einer Liste von Entwicklungsschritten: et fera diversis exercita frugibus arva). 637 Vgl. Ov. Met. 5,642–666; Fast. 4,507–562; Verg. Georg. 1,147sq. (prima Ceres ferro mortalis vertere terram / instituit …); Lucr. 5,14sq. An weiteren Stellen seien aus der lateinischen Literatur genannt: Hyg. Astr. 2,14; Fab. 147; Val. Fl. 1,68–70 und natürlich Claud. Rapt. Pros., besonders 1,179–201 und 3,48–54.

254 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Entwicklung aus Not: konzeptionelle Nähe zu Vergil Vergleicht man nun Victorius’ jüdisch-christlich grundierte Version der Landwirtschaftserfindung mit ihren Pendants in der paganen Lehrdichtung, so fällt unmittelbar die Ähnlichkeit mit Vergils (und damit auch Ovids) Kulturtheorie ins Auge. Hier wie dort wird der Urzustand als Zeit des Überflusses beschrieben, der kulturelle Entwicklungen überflüssig machte. Dem Saturnischen bzw. Goldenen Zeitalter entspricht bei Victorius das Paradies, und in der Tat ließen sich in seiner Paradiesdarstellung ja Züge aus der paganen Überlieferung vom Goldenen Zeitalter feststellen (vgl. oben Kap. 2.2.2). Hier wie dort nimmt die urzeitliche Überflusssituation dann ein plötzliches Ende, was die Menschen dazu zwingt, Fertigkeiten zu erfinden, die ihnen unter den neuen Umständen das Überleben sichern, darunter auch den Ackerbau. Im Hintergrund steht jeweils eine göttliche Instanz, die die neue Lage herbeigeführt hat und die zivilisatorische Entwicklung stimuliert. Victorius knüpft also an ein mythologisch grundiertes Schema an und tritt damit wie Vergil selbst in Opposition zur rationalistischen Darstellung des Lukrez, der ja jegliche göttliche providentia in der Kulturentwicklung ablehnt. Dass Victorius sich bewusst am vergilischen Zeitalterschema orientiert, ist umso wahrscheinlicher, als er nicht der erste Bibeldichter wäre, der dieses auf die Genesis-Erzählung überträgt. In noch offensichtlicherer Form tut dies vor ihm Proba, die nicht nur das Paradies mit Zügen des Saturnischen bzw. Goldenen Zeitalters ausstattet, wie oben erwähnt wurde, sondern entsprechend auch für die Zeit nach dem Sündenfall zahlreiche Verse und Versteile verwendet, mit denen Vergil die Herrschaft Juppiters und die in ihr eintretenden Veränderungen beschreibt. Dabei geht sie über Vergil (und über Victorius) sogar hinaus, indem sie nicht bloß zwei, sondern vier Zeitalter unterscheidet und zuletzt sogar explizit von einem Eisernen Geschlecht spricht.638 Wichtig im Hinblick auf Vic-

|| 638 Schon Gottes Strafrede an Adam übernimmt mehrere Verse bzw. Versteile aus der Darstellung der Juppiterzeit in den Georgica (Proba 253–260, die hervorgehobenen Teile an Georg. 1,122. 151–159 angelehnt: primusque per artem, / heu, miserande puer, terram insectabere rastris / et sonitu terrebis aves: horrebit in arvis / carduus et spinis surget paliurus acutis / lappaeque tribolique et fallax herba veneni. / at ni triticeam in messem robustaque farra / exercebis humum, frustra spectabis acervum / concussaque famem in silvis solabere quercu). Weitere Verse aus demselben Vergilabschnitt verwendet Proba im Anschluss an den Brudermord Kains, nach dem Gott die Lebensbedingungen bei ihr noch einmal verschärft, also offenbar ein drittes Zeitalter beginnen lässt (Proba 290–298, fast vollständig zusammengesetzt aus Georg. 1,129–132. 150sq. 139sq. 146. 123: tum genitor virus serpentibus addidit atris / mellaque decussit foliis ignemque removit / praedarique lupos iussit pontumque moveri / et passim rivis

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 255

torius ist noch, dass bereits Proba zusätzlich zu den Anlehnungen an die Zeitaltertexte mit einigen aus anderen Kontexten entnommenen Versen ein wenig genauer die Anfänge der Landwirtschaft darstellt, womit sie den Weg vorgibt, den Victorius in seiner Digression, frei von den Beschränkungen der Centonendichtung, weitergeht.639 Gott und Mensch: Eigenheiten und Neuerungen bei Victorius Betrachten wir nach dieser groben Einordnung nun genauer Victorius’ Erzählung über die Erfindung der Landwirtschaft und ihr Verhältnis zur vergilischen Vorlage. Zunächst muss ein offensichtlicher Unterschied zwischen beiden Texten angesprochen werden, nämlich dass bei Victorius mit Adam ein einzelner Mensch im Mittelpunkt der Entwicklung steht, was bei Vergil nicht der Fall ist (übrigens auch bei nicht Proba).640 Dies ist in verschiedenerlei Hinsicht bedeutsam. Zunächst hängt die Rolle Adams natürlich damit zusammen, dass Victorius seine Kulturentstehungsdigression in eine fortlaufende Erzählung mit namentlich bekannten Charakteren einbindet, also das lehrdichterische Thema mit einem epischen Organisationsprinzip verknüpft, wie ja auch das Gebet einer

|| currentia vina repressit; / mox et frumentis labor additus, ut mala culmos / esset robigo et victum seges aegra negaret; / tum laqueis captare feras et fallere visco / inventum et duris urgens in rebus egestas / movit agros, curis acuens mortalia corda …). Die folgenden Verse sind teilweise an die Zeitaltererzählung in Aen. 8,319–327 angelehnt, wobei Proba offenbar an den Übergang zu einem vierten Zeitalter denkt (jedenfalls nennt sie ein Eisernes Geschlecht und weist auf das Scheiden der Iustitia hin, das üblicherweise ins letzte Zeitalter gesetzt wird; siehe Proba 299– 302, wobei V. 299. 301 aus Aen. 8,326sq. stammen: … deterior donec paulatim ac decolor aetas, / ferrea progenies, duris caput extulit arvis, / et belli rabies et amor successit habendi. / Iustitia excedens terris vestigia figit [zum Scheiden der Iustitia Bömer 1969, 67f.]). Vgl. zum Zeitalterschema bei Proba Herzog 1975, 29–31, Kirsch 1989, 131 und Bažil 2009, 148–164. Bezug zu Georg. 1,118–159 in epischem Rahmen begegnet übrigens auch bei Claudian, der Juppiter in einer Rede zentrale Gedanken der Georgica-Stelle wiederholen lässt und so die Fruchtbarkeit der vergilischen Kulturlehre für die spätantike Dichtung demonstriert (Rapt. Pros. 3,18–65, bes. 30–32). In der Bibeldichtung lassen sich nach Proba und Victorius auch bei Avitus Bezüge zu Georg. 1,118–159 finden (SHG 3,315–332, dazu Hoffmann 2005, 215f.). 639 Proba 280–284: inde per artem / aut herbae campo apparent aut arbore frondes, / inque novos soles audent se gramina tuto / credere: et lentis uvam demittere ramis / instituunt udoque docent inolescere libro. 640 Dort sagt Gott zwar in seiner Strafrede zu Adam, er werde als erster das Land pflügen (V. 253sq.), nach dem Sündenfall ist jedoch nur in allgemeiner Form vom Erscheinen des Getreides die Rede (V. 280sq., vgl. die Zitate in den vorangehenden Anmerkungen; angemerkt sei, dass beide Stellen immerhin durch den Versschluss per artem verbunden sind).

256 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Figur ein typisches Element des Epos ist (vgl. oben Kap. 2.1.1).641 Zum anderen greift er hiermit jedoch einen antiken Topos der Kulturentwicklung auf, nämlich den des πρῶτος εὑρετής (lat. primus inventor), der seinen Ursprung im griechisch-paganen Denken hat, aber vor allem von den Apologeten auch im christlichen Bereich adaptiert wurde.642 Adam ist nach Victorius also der πρῶτος εὑρετής des Ackerbaus. So betrachtet, ergibt sich eine gewisse Parallele zum Triptolemosmythos, da ja in beiden Fällen ein Mensch unter göttlichem Einfluss den Schritt zum Ackerbau vollzieht und so zum Kulturbringer für die Menschheit wird, wenngleich es wohl zu weit ginge, in Victorius’ Adam einen jüdischchristlichen Triptolemos zu sehen. Überhaupt geht Victorius in einem Punkt über alle mutmaßlichen paganen Vorläufer (und auch über Proba) hinaus, und zwar beim Zusammenspiel göttlicher Weisung und menschlichen Mitdenkens, das bei ihm besonders eng und auffällig ist. Der erste Anstoß kommt dabei von Gott, denn in seinem Gebet bezieht Adam sich bereits auf eine Rede Gottes, nämlich die, mit der er die Menschen nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertreibt. Gott redet hier erst die Schlange, dann Eva und schließlich Adam an und verflucht im letzten Abschnitt die Erde (1,508–519; ich zitiere nur die für unseren Zusammenhang wichtigsten Verse 1,511–513): criminibus tellus, quam tu sulcabis aratro, sit maledicta tuis, spinas tribulosque minaces culta ferat fallatque tuum spes improba votum. Wegen deiner Verbrechen soll die Erde, die du furchen wirst mit dem Pfluge, verdammt sein, sie soll Dornen und drohende Burzeldorne643 tragen, wenn sie bebaut wird, und falsche Hoffnung soll deinen Wunsch enttäuschen.

Adam, so suggeriert die weitere Erzählung, prägt sich Gottes Worte offenbar aufs Genaueste ein. Jedenfalls greift er die angesprochenen Punkte in seinem

|| 641 Bis zu einem gewissen Grad vergleichbar sind narrative Einlagen im Lehrgedicht, so etwa das Aristaeusepyllion in Verg. Georg. 4, wo ja ebenfalls die Erfindung einer Kulturtechnik (der Bugonie) durch eine namentlich genannte Einzelfigur erzählt wird – aber eben nur in Form einer Einlage in einem ansonsten systematisch angelegten Werk. 642 Die Geschichte des Topos und seiner Christianisierung ist ausführlich dargestellt bei Thraede 1962; vgl. auch M. Baumbach, Art. „Protos Heuretes“, in: DNP 10, Stuttgart/Weimar 2001, 466f. 643 Ein stachliges Unkraut. Das lateinische Wort tribulus oder tribolus (in der ersten Form auch in Gen. 3,18 nach Vetus Latina und Vulgata, vgl. τριβόλους in LXX) bezeichnet im engeren Sinne den Erd-Burzeldorn (Tribulus terrestris), vgl. Georges s. v. tribulus und OLD s. v. tribolus.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 257

Gebet meist umschreibend, teilweise aber auch fast wörtlich auf und denkt sie weiter. Aus Gottes Hinweis auf das Furchenziehen mit dem Pflug schließt er dabei auf die Notwendigkeit entsprechender Geräte (2,78–79a);644 aus den Worten über Dornen und enttäuschte Wünsche leitet er ab, dass man erst säen müsse (2,80b–90; vgl. besonders die Wiederaufnahme von Gottes fallatque tuum spes improba votum, 1,512 in Adams ut fallat mea vota seges, 2,81); einzig Adams dritter Punkt, in der es um das mühsame Bereiten von Brot aus Pflanzen und die hierfür notwendige Kenntnis der Pflanzen und Arbeiten geht (2,83sq.), hat, abgesehen vom Gedanken der Mühsal (1,517: duro nunc vive labore), keine direkte Entsprechung in Gottes Rede, wie sie in Aleth. 1,508–519 wiedergegeben wird.645 Der Gesamteindruck ist jedenfalls, dass Adam Gottes Rede, die ja zunächst wie eine reine Straf- und Verfluchungsrede wirkt, als Hilfestellung zu verstehen und zu nutzen weiß. Zugleich bittet er Gott um die Unterstützung und Unterweisung, die nötig ist, um die soweit entwickelte ‚Idee des Ackerbaus‘ in die Praxis umzusetzen. Adam als Vertreter der Menschheit muss also weder allein Lösungen für die plötzliche Mangelsituation finden, wie es in Vergils oder Ovids Erzählung von der Erfindung des Landbaus unter Juppiter und selbst bei Proba den Anschein hat, noch wird er unversehens und ohne eigene Verstandesleistung von göttlicher Seite beschenkt, wie es im Triptolemosmythos der Fall ist; vielmehr erscheinen Gott und Mensch auch nach dem Sündenfall in engem Austausch und arbeiten gleichsam zusammen.

|| 644 Der Pflug wird in Gen. 3,17–19, der Vorlage für Aleth. 1,508–519, nicht erwähnt, ist also eine Zutat von Victorius, die ihm zur Einfädelung seiner Kulturentstehungstheorie dient. Eine Vorläuferin ist Proba, in deren Paraphrase von Gen. 3,17 ebenfalls noch zu erfindendes Ackergerät auftaucht (253sq., vgl. oben Anm. 638), das später indes nicht wie bei Victorius wieder aufgegriffen wird. Nach Victorius lässt auch Avitus Gott den Pflug nennen, ebenfalls ohne dass dieser später eine Rolle spielte (SHG 3,162sq.). 645 Dafür scheint es Entsprechungen im Bibeltext selbst zu geben, wo von Feldpflanzen und Brot die Rede ist, vgl. Aleth. 2,82sq. (herbarum assiduo contexere semine panem; / da menti, quae sint herbae, quae forma laboris …) mit Gen. 3,18sq. (nach Fischers Vetus-Latina-Edition, europäischer Text, ab V. 19 in Übereinstimmung mit dem afrikanischen Text K: et edes pabulum agri (19) in sudore vultus tui edes panem tuum …; nach Vulgata: comedes herbas terrae …). Ob Victorius es lediglich versäumt hat, auch in seinem eigenen Text eine genaue Entsprechung herzustellen, oder ob in Aleth. 1,508–519 (nach V. 513?) etwas ausgefallen ist, lässt sich nicht mehr entscheiden.

258 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Die praktische Erfindung der Landwirtschaft Bis hierher handelt es sich bei den Gedanken zum Ackerbau lediglich um ein theoretisches Programm. Von der praktischen Erfindung der Landwirtschaft erfährt man erst etwa 80 Verse später. Die Streckung hängt mit der Erzählung zusammen, in die Victorius die einzelnen Erfindungen einreiht. An erster Stelle steht hier, wie unten in Kap. 2.2.3.2–3 näher zu betrachten sein wird, ein Waldbrand, durch den die Menschen das Feuer und anschließend die Metalle entdecken. Mit diesem Waldbrand bringt er sodann auch die ersten Schritte hin zur Landwirtschaft in Verbindung – dies allerdings nicht mehr in einem eigenen Abschnitt, sondern lediglich in einer Praeteritio, die den Schlussteil der Digression einleitet (zu diesem insgesamt unter Kap. 2.2.3.4). Konkret werden dabei zwei Ereignisse genannt, die als Beispiele für kulturstiftende scheinbare Zufälle (2,163sq.) dienen sollen. Als erstes Ereignis, das er poetisch darstellen „könnte“ (2,165a), nennt er … (2,165–171): … tanto patefacta calore ut se decoctis tellus pinguissima glebis moverit in fetus varios, quos imbre marito parturiens putri dissoluerit arva meatu, qua tumidi crepuere sinus elataque messis extitit et motis undans trepidavit aristis, disceret ut speciem segetis novus accola cultae …

165

170

… wie sich die Erde, durch die so große Wärme geöffnet und überaus fruchtbar durch die Erhitzung ihrer Schollen, zu mancherlei Trieben regte und, indem sie diese mit dem Regen als Gatten gebar, die Fluren durch lockere Risse646 aufbrach – hierdurch schwollen und barsten die Erdfalten, und, sich erhebend, (170) trat die Ernte hervor und zitterte wogend mit bewegten Ähren, auf dass der neue Bewohner den Anblick des Ackerfelds kennen lernte …

Das erste Kornfeld entsteht also ohne menschliches Zutun durch die besonderen Bedingungen des Brandes, der die Fruchtbarkeit des Bodens erhöht. Angemerkt sei, dass sich in einzelnen Punkten Bezüge zu Lehrdichtern beobachten lassen: So erinnert der Gedanke der düngenden Wirkung des Brandes an die Ausführungen zur Brandrodung in Vergils Georgica,647 das Bild vom Regen als

|| 646 Vgl. ThLL s. v. meatus, p. 514,28–32, wonach meatus sich hier semantisch foramen oder rima annähert. 647 Vgl. Verg. Georg. 1,84–91 (so schon Staat 1952, 112): saepe etiam sterilis incendere profuit agros / atque levem stipulam crepitantibus urere flammis: / sive inde occultas uiris et pabula terrae / pinguia concipiunt, sive illis omne per ignem / excoquitur vitium atque exsudat inutilis

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 259

Gatten evoziert die Vorstellung eines ἱερὸς γάμος zwischen Himmel und Erde, wie ihn auch Lukrez und – in Anlehnung an diesen – Vergil beschreiben.648 Victorius fügt diese in der Landwirtschaft alltäglichen Vorgänge in ein Entdeckungsszenario ein, in dem die Natur selbst der Akteur ist und die Menschen lediglich in der Rolle der lernenden Zuschauer auftreten (V. 171). Der nachfolgend dargestellte zweite Schritt baut unmittelbar auf dem ersten auf, indem er vom neuentstandenen Kornfeld ausgeht, auf das sich nun Tiere stürzen. Vorausgeschickt sei, dass die Verse sprachlich und gedanklich einige Schwierigkeiten bieten und dementsprechend nur mit Vorsicht interpretiert werden können (2,172–176): … utque avidum ad tantam decurrens undi〈que〉 praedam alituum pecudumque genus turbaeque minoris nigra cohors, maiora suis in pabula trudens semina corporibus, vitae inculcarit amicos 175 materia propiore cibos … … und wie voll Gier, von allen Seiten auf die so große Beute stürzend, das Vögel- und Viehgeschlecht und des kleineren Schwarms schwarze Menge,649 welche als Futter650 (175) Samen, die größer als ihre Körper sind, vor sich her stößt, zum Leben Nahrungsmittel hinzutat, die durch gemäßeren Stoff willkommen sind …651

Die Marginalisierung der Menschen, die bereits in den vorangehenden Versen auffiel, ist hier auf die Spitze getrieben: Die Menschen treten gar nicht mehr in Erscheinung, nur noch die Tiere werden genannt, die den Menschen offenbar als Vorbild dienen (vgl. das kurz danach fallende Stichwort exempla, V. 178), indem sie ihnen zeigen, dass die neugewachsenen Pflanzen essbar sind.652 Die || umor, / seu pluris calor ille vias et caeca relaxat / spiramenta, novas veniat qua sucus in herbas, / seu durat magis et venas astringit hiantis … 648 Vgl. Lucr. 1,250sq. (postremo pereunt imbres, ubi eos pater Aether / in gremium matris terrai praecipitavit) bzw. Verg. Georg. 2,324–327 (vere tument terrae et genitalia semina poscunt. / tum pater omnipotens fecundis imbribus Aether / coniugis in gremium laetae descendit, et omnis / magnus alit magno commixtus corpore fetus, vgl. Martorelli 2008, 170 Anm. 51). 649 Gemeint sind die Ameisen, vgl. Staat 1952 ad loc. und Papini 2006 ad loc. 650 Anders Staat: „naar hun voorraadkamers“. Die Bedeutung „Vorratskammer“ lässt sich durch ThLL s. v. pabulum nicht stützen. 651 Etwas anders Papini: „… abbiano dato degli alimenti che favoriscono la vita, con una materia più simile a quella umana“. 652 So schon eine Erläuterung zur Stelle im ThLL s. v. inculcare p. 1065,73–75: ut … pecudum … genus … hominum vitae -arit … cibos (i. homines docuerit, quibus cibis vescantur)“, die wohl auf Schenkl basiert (im Index seiner Ausgabe, S. 490: „inculcare i. q. docere, II 175“); ähnlich Martorelli 2008, 169 trotz etwas anderen Textverständnisses („… insegnando che essi sono cibi

260 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Grundsituation wäre demnach ähnlich wie im ersten Schritt: Die Natur selbst (in diesem Fall die tierische) macht den Menschen vor, was sie im Folgenden selber tun müssen. Widersprüche zwischen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘? Vergleicht man die theoretische und die praktische Landwirtschaftserfindung direkt miteinander – was ein linear fortschreitender Leser in dieser Form natürlich nicht tun würde –, so gewinnt man den Eindruck einer deutlichen Diskrepanz. Sprach Adam im Gebet bereits visionär von Gerät zur Bodenbearbeitung und vom Säen und bat Gott persönlich um Unterweisung, so scheint der Mensch nun weitgehend passiv einer erstaunlich aktiven Natur gegenüberzustehen, während von Gott gar nicht mehr die Rede ist. Dies ist umso bemerkenswerter, als Victorius damit auf einmal Lukrez’ antireligiöser Vorstellung nahezukommen scheint, wonach den Menschen bei der agronomischen Entwicklung allein die Natur als Vorbild diente (vgl. Lucr. 5,1361sq.). Die Unterschiede zwischen den beiden Passagen sollten jedoch nicht als Inkonsequenz gewertet werden. Bereits in dem hier ausgesparten Teil zwischen den beiden Landwirtschaftserfindungen wird an einer Stelle deutlich gemacht, dass hinter den scheinbar so zufälligen Ereignissen wie dem Waldbrand und der Metallschmelze tatsächlich Gottes Hilfe steht (2,136–140, vgl. unten S. 268f.). Dies ist auf die zitierten Verse zu übertragen: Gott hilft den Menschen bei der Entwicklung der Landwirtschaft eben dadurch, dass er bestimmte Ereignisse in der Natur anstößt, aus denen die Menschen etwas lernen können. So betrachtet, sind die hier geschilderten Vorgänge eine Antwort auf Adams Gebet, auch wenn Gott dabei nicht unmittelbar sichtbar wird und zwischen dem Gebet und seiner Erhörung noch einige andere Entwicklungsschritte standen. Konkret lassen sich die Verse 166–176 am ehesten mit Adams dritter Bitte in Verbindung bringen, da die Menschen hier erst einmal lernen, welche Pflanzen sich für Anbau und Verzehr eignen (vgl. 2,83: da menti, quae sint herbae, quae forma laboris). Dass Pflug und Saat außer Acht bleiben – sofern man nicht in der Metallentdeckung eine Vorbereitung für den Pflug sehen will –, sollte nicht überbewertet werden, da die beiden Entwicklungsetappen ja lediglich als Beispiele (ut … ut …) für ein auch weiterhin wirksames Prinzip eingeführt werden.

|| adatti alla vita“). Die folgenden Verse werden sprachlich und inhaltlich noch schwieriger, möglicherweise wird gesagt, dass die Menschen von den Tieren weitere ‚Pflichten‘, d. h. für das Leben notwendige und gleichsam als Aufgabe zu verstehende Kulturtechniken lernen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 261

Zusammenfassung An den Aussagen zur Landwirtschaft, die, in einen ‚theoretischen‘ und einen ‚praktischen‘ Teil gespalten, die Serie der Entdeckungen rahmen, werden zwei scheinbar gegensätzliche Facetten seines Entwicklungskonzeptes deutlich, die im Folgenden immer wieder zu beobachten sein werden: Im Kern gehen die technisch-kulturellen Entwicklungen auf göttliche Anstöße zurück und sind eine Form der Kommunikation zwischen Gott und den Menschen; sichtbar sind jedoch nur Naturphänomene, aus denen der Mensch zu lernen hat. Zugleich ist ein Charakteristikum im Umgang mit der Lehrdichtung hervorgetreten, das auch für die weiteren Episoden relevant ist: Auch wenn das Thema der Landwirtschaftsentstehung enge Bezüge zur Lehrdichtung aufweist, ist die Darstellungsweise allenfalls im ‚praktischen‘ Teil mit der Lehrdichtung vergleichbar, während der ‚theoretische‘ Teil in den eher epischen Kontext eines Gebets eingelagert ist und so – wie so oft – beide Gattungen in Interaktion bringt.

2.2.3.2 Die Entdeckung des Feuers: ein persischer Mythos bei Victorius? (2,100–117) Nach diesem ersten Ausblick bis zur Schlusspartie der Digression soll der Gang der Darstellung nach dem Gebet wieder aufgenommen werden. Die Erzählung, die nach wie vor unabhängig von der Bibel ist, wirkt hier zunächst epischnarrativ: Die beiden ersten Menschen erblicken die Schlange (2,90–94) und Eva fordert Adam in einer kurzen Rede auf, die Schlange mit Steinen zu töten (2,95– 99). Im weiteren Verlauf verschiebt sich der Fokus jedoch allmählich vom Handeln der beiden Einzelpersonen und der Schlange zu den kulturellen Entdeckungen, die den ersten Menschen, die nun als namenloses Kollektiv agieren, unverhofft widerfahren. An erster Stelle steht hier das Feuer, das durch Funkenschlag beim Steinwurf ausbricht (2,100–107): dixit [sc. Eva] et elapsam cursu telisque sequuntur missilibus cautesque rotant, quarum una reducto altius ad nisum facilem dare certa lacerto obsequitur votis oculosque animamque secuta et nudum in silicem media serpente resultat scintillamque ciet, sicco quae fomite parta ac mox flamma fuit crinita incendia late extendens siccoque floret iam candida fumo.

100

105

262 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Sprach’s [sc. Eva], und sie folgen der entglittenen Schlange mit Lauf und Wurfgeschossen und schleudern Steine, von denen einer – der Arm war weiter erhöht zu einem Schwung, der gewandt ist, zu treffen653 – ihren Wünschen gehorcht, den Augen und Absichten654 folgend, und vom Rumpf der Schlange auf den nackten Felsen zurückspringt (105) und einen Funken schlägt, der, weil er in trockenem Zunder entstand, bald eine Flamme war, die weithin ihr loderndes Feuer ausbreitet und schon weißlich blüht von trockenem Rauche.

Die Entdeckung des Feuers im griechisch-römischen Lehrgedicht und Mythos Auch das Thema der Feuerentdeckung wird in Kulturentstehungstheorien des Lehrgedichts behandelt. Am ausführlichsten ist die Darstellung bei Lukrez, demzufolge die Menschen das Feuer entweder durch einen Blitzschlag oder durch sich aneinander reibende Bäume kennen gelernt haben (Lucr. 5,1091– 1104). Vergil führt das Feuer unter den Entdeckungen an, die der Mangel unter Juppiters Herrschaft hervorgerufen habe, wobei vorausgesetzt ist, dass die Menschen vor Juppiters Herrschaft bereits Feuer besaßen (Georg. 1,135).655 Im Mythos wäre an Prometheus zu denken, der den Menschen das Feuer allerdings ebenfalls nur nach dem Entzug durch Juppiter wiederbrachte.656 Freilich lassen sich zwischen diesen Darstellungen und Victorius allenfalls sehr grobe Parallelen ziehen: So teilt Victorius mit Lukrez die Grundidee, dass die Menschen das Feuer durch ein natürliches und (scheinbar) zufälliges Ereignis kennen lernen, also nicht etwa durch einen direkten göttlichen Eingriff wie im Prometheusmythos.657 In der konkreten Gestaltung geht Victorius indes völ-

|| 653 Ich konstruiere die auf den ersten Blick problematisch erscheinende Stelle in Anlehnung an Staat, dem auch Papini zu folgen scheint: facilis steht im Sinne von „geschickt, fähig“ mit dem Infinitiv, dare certa ist im Sinne von facere certa zu verstehen (vgl. Staat 1952 ad loc. mit Verweis auf die entsprechenden ThLL-Stellen). 654 Ich folge der Erklärung von Staat, wonach animam wie animum zu verstehen ist (vgl. seinen Kommentar ad loc. für Belegmaterial). 655 … ut silicis venis abstrusum excuderet ignem. Dass die Menschen zuvor Feuer kannten, geht aus der vorangehenden Aussage hervor, Juppiter habe den Menschen das Feuer entzogen (ignemque removit, 1,131). 656 Die bekanntesten Darstellungen des Mythos sind zwar griechisch (so Hes. Theog. 507–616; Erg. 45–105 und Ps.-Aischyl. Prom.), doch fand der Mythos auch in der lateinischen Literatur Niederschlag und kann für Victorius als bekannt vorausgesetzt werden, vgl. etwa Hor. Carm. 1,3,25–29; Verg. Ecl. 6,42 und ausführlicher Hyg. Astr. 2,15 und Serv. Ecl. 6,42. 657 Dass Gott bei Victorius trotzdem eine Rolle spielt, wird erst in V. 136–140 und dann ab V. 163 deutlich. Zum Vergleich mit dem Prometheusmythos siehe auch Krappe 1942, 256: „The comparison of this account with the Hellenic myth of the theft of the heavenly fire is hardly apposite: what appears to confer upon this narrative a character apart is its extreme rational-

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 263

lig andere Wege als die bekannten griechisch-römischen Vorläufer, was den Verdacht nährt, dass seine Inspiration aus anderer Richtung gekommen sein könnte. Anknüpfung an die persische Mythologie? Umso interessanter ist es, dass A. H. Krappe in einem Aufsatz von 1942 eine ganz andere Quelle ins Spiel gebracht hat, nämlich einen persischen Mythos.658 Krappe bezieht sich dabei auf eine Passage aus dem Buch der Könige (Schāhnāme) des persischen Dichters Firdausī. An der von ihm zitierten Stelle, die freilich mittlerweile als interpoliert gilt, geht es um den Helden Hoschang, der wie Adam und Eva mit einem Stein nach einer Schlange wirft und durch den unbeabsichtigten Funkenschlag das Feuer entdeckt.659 Der Text wurde in dieser Form zwar mindestens ein gutes halbes Jahrtausend nach Victorius niedergeschrieben (Firdausī starb 1020, der Interpolator könnte noch später gelebt haben), doch da das Schāhnāme größtenteils auf alter Überlieferung basiert, ist es durchaus möglich, dass der Mythos schon zur Zeit des Victorius im Umlauf war. Als Zwischenglied zwischen dem persischen Mythos und Victorius vermutet Krappe entweder eine jüdische Legende, die das persische Motiv der Feuerentdeckung aufnahm und später ins Lateinische übersetzt wurde, oder die mani-

|| ism … If myth it is to be called, it must be admitted, that it is an extremely philosophical myth, one which might have done honor to Democritus, Lucretius, Seneca or Pliny.“ 658 Krappe 1942 passim; vgl. auch Staat 1952, 75–79, Papini 2006, 149f. Anm. 39, Martorelli 2008, 165f. sowie Cutino 2009, 149f. 659 Ich zitiere den Text nach der englischen Übersetzung von A. Warner und E. Werner (The Shahnama, Vol. 1, London 1905, 123): „One day he reached a mountain with his men / And saw afar a long swift dusky form / With eyes like pools of blood and jaws whose smoke / Bedimmed the world. Hushang the wary seized / A stone, advanced and hurled it royally. / The worldconsuming worm escaped, the stone / Struck on a larger, and they both were shivered. / Sparks issued and the centres flashed. The fire / Came from its stony hiding-place again / When iron knocked. The worldlord offered praise / For such a radiant gift. He made of fire / A cynosure. ‘This lustre is divine,’ / He said, ‘and thou if wise must worship it.’“ In neueren Übersetzungen, die auf der Edition von Bertel’s (Moskva 1960) oder Khaleghi-Motlagh (New York 1988) beruhen (so derjenigen von H. Kanus-Credé: Abū’l Qāsim Firdousī. Das Königsbuch, Buch I–VI, Glückstadt 2002), ist die Episode nicht enthalten, weil sie als Interpolament betrachtet wird; vgl. zur Problematik A. Shapur Shahbazi, Art. „Hōšang“, in: Encyclopaedia Iranica 12, London 2004, 491f.

264 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

chäische Literatur, die mit der Ausbreitung des Manichäismus in den Westen kam.660 Auch wenn beide Texte ein höchst markantes Motiv teilen, bleiben unleugbar zahlreiche Unsicherheiten, und so fand Krappes These in der Forschung denn auch ein äußerst geteiltes Echo.661 Dabei scheint indes ein Argument für eine Verwandtschaft der beiden Erzählungen übersehen worden zu sein: Hoschang wird bei Firdausī (und sicherlich nicht erst bei ihm) nämlich auch ansonsten als Kulturbringer dargestellt. Unter anderem wird ihm die Erfindung der Landwirtschaft und der Metallverarbeitung zugeschrieben – also zweier weiterer Erfindungen, die Victorius in seiner Passage behandelt. Wenn Victorius den Hoschangmythos also tatsächlich aus irgendeiner Quelle kannte, muss es für ihn durchaus nahegelegen haben, ihn in einer Kulturentstehungstheorie zu verwenden. Tatsächlich wäre es sogar möglich, dass er sich nicht nur bei der Erfindung des Feuers, sondern auch in weiteren Teilen seiner Darstellung, z. B. was die weiteren Folgen des Waldbrandes angeht, vom Hoschangmythos inspirieren ließ. Zusammenfassung Im Rahmen dieser Arbeit kann die Frage, welcher Quelle Victorius in den betrachteten Versen folgt (bzw. ob er überhaupt eine Quelle hat), nicht abschließend beantwortet werden. Festgehalten werden kann, dass Victorius in seiner Kulturtheorie, die als Thema so lehrgedichttypisch ist, in der konkreten Gestaltung teilweise gänzlich andere Wege als die Lehrdichter geht – und hierbei möglicherweise eben auch eine persische Erzählung verarbeitet und auf Adam und Eva überträgt.

|| 660 Krappe 1942, 259f. Krappe selbst gibt der zweiten Hypothese den Vorzug, da die jüdischen Schriften von jüdischer und christlicher Seite so gut überliefert worden seien, dass der Verlust einer solchen Erzählung hier eher unwahrscheinlich sei, wohingegen das manichäische Schrifttum durch die kirchliche Bekämpfung zu einem Gutteil verloren ging. Martorelli 2008, 166 plädiert dagegen für die erste Hypothese und verweist darauf, dass Victorius auch sonst jüdische Überlieferung aufnahm. 661 Skeptisch bleiben Staat 1952, 75–79, der auf Unterschiede hinweist und die Parallelen nicht als Beweis für eine Abhängigkeit werten will („Krappe heeft gewezen op een parallel, een bron heeft hij nijt aangeboord“, S. 79; vgl. auch S. 80f.), und in seiner Folge Cutino 2009, 149f. Anm. 39., der Victorius’ eigene Erfindungsgabe hervorhebt („Da parte mia, penso che non si debba sottovalutare la autonoma capacità inventiva di Vittorio“). Zustimmend dagegen Papini 2006, 71 Anm. 6 sowie Martorelli 2008, 165f.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 265

2.2.3.3 Die Entdeckung der Metalle: abwandelnde Lukrezimitation (2,118–162) Mehr Bezüge zur klassischen Tradition zeigen sich bei der Entdeckung der Metalle, die Victorius mit dem Waldbrand in Verbindung bringt. Auch diese Entdeckung behandelt Lukrez, wie bereits die des Feuers, im Rahmen seiner Kulturentstehungstheorie im fünften Buch (5,1241–1296).662 In diesem Fall ist jedoch auch die konkrete Erklärung die gleiche wie bei Victorius, nämlich ein Waldbrand, für den freilich andere Ursachen als ein Funkenschlag durch Steinwurf erwogen werden. Die Ausführungen der beiden Autoren lassen sich fast Punkt für Punkt parallelisieren, wenngleich Victorius im sprachlichen Ausdruck nur wenige Gemeinsamkeiten mit Lukrez aufweist und sich im Laufe der Untersuchung einige Unterschiede zeigen werden. Imitation und Überbietung der lukrezischen Vorlage Sowohl Victorius als auch Lukrez gehen von einem Brand aus, der die Erde erwärmt (hier sogar mit gewissen begrifflichen Übereinstimmungen, z. B. radices/radicibus): Aleth. 2,118sq.:

Lucr. 5,1253sq.:

… dum se radices demersus tendit ad imas ignis edax penitus, …

… horribili sonitu silvas exederat altis [sc. ardor] ab radicibus et terram percoxerat igni, …

… während das fressende Feuer zu den untersten Wurzeln tiefhinab eindringt und strebt …

… mit schrecklichem Prasseln hatte sie [sc. die Gluthitze] die Bäume von den Spitzen der Wurzeln an verzehrt und die Erde mit Feuer durchgekocht, …

Es folgt die Verflüssigung der Metalle, …

|| 662 Die Parallele zwischen Victorius und Lukrez wurde (laut Staat 1952, 79) zuerst von Bourgoin 1883, 68 Anm. 3 gezogen; vgl. in der jüngeren Forschung Staat 1952, 79–81, Papini 2006, 73 Anm. 8, Martorelli 2008, 167–169 und Cutino 2009, 147–151. Lukrez’ mögliche Quellen und Vorläufer, die hauptsächlich in der griechischen Philosophie zu vermuten sind (vgl. Bailey 1950, 1521 sowie Staat 1952, 81–85), können für das Thema dieser Arbeit außer Acht bleiben.

266 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Aleth. 2,119–123:

Lucr. 5,1255sq.:

… sumpto quo victa calore terra rudis pandit generosa ad munera venas et, cum iam cuncto fuerit siccata liquore, incipit ipsa liquor fieri rivisque metalla fundere quaeque suis.

… manabat venis ferventibus in loca terrae concava conveniens …

… und als die rohe Erde das Feuer verzehrt hat, öffnet sie, von Hitze bezwungen, (120) Adern zu reichlichen Gaben, und obwohl sie nunmehr von aller Flüssigkeit getrocknet ist, fängt sie selbst an, eine Flüssigkeit zu werden und die Metalle zu ergießen, jedes im eigenen Strom.

… es floss aus glühenden Adern, sich in hohlen Stellen der Erde sammelnd, …

… wobei die Metalle einzeln und mehr oder weniger streng in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit aufgezählt werden (dazu genauer unten S. 271f.): Aleth. 2,123–127

Lucr. 5,1256sq.

fulvo torrente coruscat auri summus honor, candenti lacte renidens effluit argentum, rigor aeris lubricus errat et coit in mollem resoluto corpore massam livida gleba chalybs.

… argenti rivus et auri, aeris item et plumbi.

In rotgelbem Reißbach schimmert die höchste Zierde, das Gold; von weißer Milch erglänzend, (125) strömt das Silber hervor; das feste Erz schweift gleitend; und mit gelöstem Körper fließt zu weicher Masse ein bläulicher Klumpen zusammen, das Eisen.

… ein Bach von Silber und Gold, ebenso von Erz und Blei.

Anschließend wird das Erkalten der Metalle beschrieben, wobei Victorius einen Vergleich zum ausbrechenden Ätna voranschiebt:

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 267

Aleth. 2,127–132

Lucr. 5,1257sq.

ruptis sic Aetna caminis egerit immixtis stridentia sulphura flammis, lubrica dum fervent; at cum spirabilis aurae temperiem sensere, rigent raptimque coruscam vertitur in glebam siccus liquor igne gelato et fit corpus iners.

quae cum concreta videbant posterius claro in terra splendere colore, …

Ebenso stößt der Ätna, nachdem seine Öfen geborsten sind, zischenden Schwefel hervor, mit Flammen vermischt, schlüpfrig, solange er siedet; doch hat er des Lufthauchs milde (130) Temperatur verspürt, wird er starr, rasch verkehrt sich die nun trockene Flüssigkeit zum glänzenden Klumpen, nachdem das Feuer gefroren ist, und wird ein träger Körper.

Als sie dieses später erstarrt mit heller Farbe auf der Erde glänzen sahen, …

Schließlich rücken die Menschen in den Blick (bei Lukrez eigentlich schon ab V. 1257), die das Geschehen beobachtet haben und sich nun sogleich vom Metall angezogen fühlen: Aleth. 2,132–135

Lucr. 5,1259–1261

varios ita sistere cursus mirantur latices, quos, dum qua deficit ardor, iam cupidis spectant oculis, blandumque colorem accipiunt membris et quod timuere sequuntur.

… tollebant nitido capti levique lepore, et simili formata videbant esse figura atque lacunarum fuerant vestigia cuique.

So staunen sie, wie die Schmelzflüsse in verschiedene Bahnen treten, die sie, wenn die Hitze irgendwo nachlässt, nunmehr mit gierigen Augen besehen; die schmeichelnde Farbe (135) nehmen sie auf mit den Händen,663 und was sie gefürchtet haben, dem folgen sie.

… hoben sie es auf, eingenommen vom schimmernden und glatten Glanz, (1260) und sahen, dass es in ähnlicher Gestalt geformt war, wie der Eindruck der Vertiefung eines jeden gewesen war.

Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass Victorius sein Vorbild hier nicht nur zu imitieren, sondern zugleich zu übertreffen sucht, wobei abgesehen von den quantitativen Unterschieden besonders die gesteigerte Bildhaftigkeit ins || 663 Zu membra im Sinne von manus vgl. Staat 1952 ad loc. und ThLL s. v. membrum p. 636,35sq. Anders Papini: „percepiscono nelle loro viscere il colore allettante“.

268 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Auge fällt (man beachte etwa die Schilderung vom Austreten der Metalle, V. 123–125, und natürlich den Ätnavergleich, V. 127–132).664 Die Grundtendenz beider Darstellungen bleibt dabei aber die gleiche: Das Interesse liegt einerseits auf den Naturphänomenen, andererseits auf der Reaktion der als Kollektiv verstandenen ersten Menschen. Die Darstellungsweise ist damit ähnlich wie in der vorigen Episode, in der Victorius inhaltlich noch nicht Lukrez folgte. Victorius gelingt es auf diese Weise, die beiden Erzählsequenzen mit ihrer (mutmaßlich) so unterschiedlichen Provenienz so weit miteinander zu harmonisieren, dass dem Leser kein Bruch auffällt – wobei zur Verzahnung der beiden Teile auch die Tatsache beiträgt, dass der Übergang mitten in einen Satz gelegt ist (nämlich in V. 118: dum …). Theologische Anreicherung In der weiteren Darstellung verarbeitet Victorius seine Vorlage in freierer Weise. Lukrez geht nach den zitierten Versen unmittelbar zu den Anfängen der Metallurgie über und führt aus, wie man sich nach anfänglichen Experimenten mit Gold, Silber und Kupfer/Bronze665 erst auf die besonders harte Bronze konzentriert habe und dann zu Eisen übergegangen sei (5,1262–1296). Auch Victorius wendet sich ab V. 136 dem Umgang mit den neuentdeckten Metallen zu. Dabei übernimmt er, wie zu erwarten, weiterhin wesentliche Elemente von Lukrez, doch zeigt seine Darstellung gerade in diesem zweiten Teil eine Reihe von Eigenheiten, die für sein Verhältnis zu dem paganen Vorbild aufschlussreich sind. Dies gilt bereits für den Anfang der Partie, denn anders als Lukrez stellt Victorius nicht sogleich die Metallverarbeitung dar, sondern schiebt zuvor einige Verse ein, in denen er das scheinbar so zufällige Geschehen auf Gott bezieht (2,136–140): auxilium sensere dei gaudentque reorum et primas nulla culpam virtute secuta ad votum cessisse preces summoque parenti acceptum referunt et quod dedit ignis et ignem

|| 664 Vgl. Martorelli 2008, 168f., der ebenfalls von „aemulatio di Lucrezio“ spricht und als Beispiel unter anderem den Ätnavergleich nennt. Angemerkt sei, dass Lukrez selbst an anderer Stelle einen Ätnaausbruch beschreibt (Lucr. 6,680–702), Victorius seine Darstellung jedoch nicht nachahmt (so schon Staat 1952, 98f., der eher Bezüge zu Verg. Aen. 3,570–582 sieht; vgl. auch Martorelli 2008, 169 Anm. 46 und Cutino 2009, 151 mit Anm. 41). 665 Das lateinische aes kann sowohl das reine Kupfer als auch seine Legierung Bronze bezeichnen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 269

et mentem, cui quo sit opus patefecit.

140

Gottes Hilfe haben sie gespürt, und sie freuen sich, dass schon die ersten Bitten der Schuldigen, obgleich kein Verdienst nach der Schuld folgte, ihnen nach Wunsch ausgegangen sind, und rechnen dem höchsten Vater sowohl das zu,666 was das Feuer gegeben hat, als auch das Feuer selbst (140) als auch den Verstand, dem er zeigte, was nötig war.

Die Verse, die die eigentliche Entdeckungsszene abschließen und zur Anwendung überleiten und schon insofern eine zentrale Stellung haben, sind für das Verständnis des ganzen Passus entscheidend, machen sie doch deutlich, dass Victorius seine Darstellung, die in vielem an Lukrez erinnert, gerade nicht im Sinne des Lukrez verstanden wissen will. Bei Lukrez sind der Zufall und die menschliche Neugier die einzigen Triebkräfte der Entdeckungen; bei Victorius ist der äußere Anschein zwar ähnlich, letztlich folgt das Geschehen aber Gottes Plan und steht im Zusammenhang der Kommunikation zwischen Gott und den ersten Menschen. Konkret wird mit den Stichwörtern auxilium und primas … preces ein Bezug zum oben untersuchten Gebet Adams hergestellt, in dem Adam Gott zwar in erster Linie um die nötige Hilfe für den Ackerbau bittet, am Ende aber auch ganz allgemein auxilium erfleht (da, pater, auxilium miserans atque imbue sensus, 2,85). Die Entdeckung des Feuers und der Metalle wird so als Gottes Antwort auf das Gebet interpretiert und steht bei allen äußeren Ähnlichkeiten zu Lukrez (und, falls die These zutrifft, zum erwähnten persischen Mythos) in einem völlig anderen Rahmen als dort. Zugleich liefern Adam und Eva ein Vorbild für den Umgang mit den natürlichen Gaben, indem sie sie mit Freude annehmen (gaudentque, V. 136) und Gott dafür danken (summoque parenti / acceptum referunt, V. 138sq.). Moralische Wertung Nach diesen Versen geht es wie bei Lukrez um den Umgang mit den einzelnen Metallen (insgesamt 2,140–162). An erster Stelle nennt Victorius (etwas anders als Lukrez, dazu unten mehr) das Gold, doch bevor er auf dessen Einsatz ein-

|| 666 Die Junktur acceptum referre, eigentlich ein terminus technicus der Geschäftssprache (vgl. Georges s. v. accipio I.A.a.α: „jmdm. eine Summe als an uns eingezahlt ins Rechnungsbuch über Ausgabe u. Einnahme eintragen“, vgl. auch das unkommentierte Material im ThLL s. v. accipio p. 314,13–37), wird hier im übertragenen Sinne verwendet (vgl. Georges loc. cit.: „etw. (Gutes od. Böses) auf jmds. Rechnung schreiben, jmdm. etw. zurechnen, jmdm. etwas verdanken, zu verdanken haben“; so auch Staat 1952 ad loc.).

270 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

geht, folgt zunächst ein moralisierender Einschub über die Folgen, die die Entdeckung des Goldes nach sich gezogen habe (2,143–148): … quod [sc. aurum] fulmine mentis iam ferit et cari subigit fulgore veneni nec satiat, donec mirantes pondere multo vincat et elapsum durae ceu murice cautis vulneret ac facilem vitiato corpore plagam posse pati doceat.

145

… weil667 es [sc. das Gold] schon durch den Glanz668 den Sinn trifft und ihn beugt durch den Schimmer des kostbaren Giftes669, (145) aber nicht sättigt, bis es die Bewunderer durch großes Gewicht besiegt, und wenn es entschlüpft ist, wie mit Spitzen harten Gesteins schlägt und lehrt, trotz Verletzung des Körpers Wunden leicht zu ertragen.670

Moralisierende Überlegungen zur Menschheitsgeschichte treten auch bei Lukrez gelegentlich auf, so auch in der Passage über die Metallentdeckung, wo der Dichter die Wechselhaftigkeit der (Metall-) Moden bloßstellt.671 Sogar eine Kritik am Gold als neuem Kriterium des Ansehens ist bei ihm zu finden, und zwar

|| 667 So auch Staat; auch möglich: „das“ (so Papini). 668 Gemeint ist offenbar das Funkeln des Goldes, das die Menschen anlockt; anders und weniger plausibel Papini: „con forza“. 669 So auch Papini; Staat versteht venenum dagegen im Sinne von Purpur (vgl. seinen Kommentar ad loc.), was im vorliegenden Kontext wenig sinnvoll erscheint. 670 Die Verse 145–148 geben sprachlich und inhaltlich große Schwierigkeiten auf; insbesondere stellt sich die Frage, ob das Dargestellte konkret oder bildlich zu verstehen ist, wenn sich nicht gar beides überlagert oder vermischt. Insgesamt scheinen die Gründe für eine bildliche Auffassung zu überwiegen, da die beschriebene Verletzung schlecht zum weichen Gold passt. Ich folge hiermit weitgehend der Deutung von Staat, wonach es um das innere Verhältnis des Menschen zum Gold geht, das durch körperliche Metaphorik veranschaulicht wird (vgl. speziell Staat 1952 ad 2,147): Verliert man Gold, so quält Habsucht den Menschen (und sticht gleichsam den Körper); gleichzeitig härten die unvermeidlichen Verlusterfahrungen den Menschen allmählich ab (zeigen im Bilde also, dass der Körper die Wunde des Geldverlustes ertragen kann). Das Adjektiv facilis ist wohl prädikativ im Sinne von „sine labore, sine difficultate“ (ThLL s. v. facilis p. 56,13, zitiert von Staat 1952 ad loc.). Gänzlich anders und sprachlich schwer nachvollziehbar Papini: „… senza riuscire a saziarla, finché l’oro stesso non li fa desistere, meravigliati, per l’eccessiva sua pesantezza e, fuggendo via dalla punta, per così dire, di una dura roccia, non li ferisce e non insegna loro che facilmente può essere colpito nel suo corpo danneggiato.“ 671 Der Gedanke taucht mehrmals auf, am explizitesten in Lucr. 5,1276–1280: sic volvenda aetas commutat tempora rerum. / quod fuit in pretio, fit nullo denique honore; / porro aliud succedit et 〈e〉 contemptibus exit / inque dies magis adpetitur floretque repertum / laudibus et miro est mortalis inter honore.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 271

schon etwas vor dem Metallpassus im Rahmen seiner Theorie der Herrschaftsentstehung.672 Gleichwohl stellt Victorius’ Goldkritik eine Neuerung gegenüber der lukrezischen Vorlage dar. Auffällig ist zunächst der scharfe Ton und die drastische Ausdrucksweise, die sich von Lukrez’ vergleichsweise nüchternen und nur verhalten kritischen Gedanken zu den Metallen merklich abhebt (man beachte, wie das Gold zum gefährlichen Feind stilisiert wird: subigit, venenum, vincat, vulneret, vitiato und plaga). Hinzu kommt eine andere inhaltliche Ausrichtung, denn während es bei Lukrez um gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen geht, nimmt Victorius, wenn die obige Übersetzung das Gemeinte trifft, ein individuelles Laster bzw. eine Sünde in den Blick, nämlich die Habsucht, deren Aufkommen er eben der Entdeckung des Goldes zuschreibt. Damit erhebt sich die Frage, wie sich die Kritik am Gold mit der Grundaussage der Passage verträgt, wonach die Metalle Gottes Gabe an die hilfsbedürftigen Menschen sind. Möglicherweise war es für den stets auf explizite Werturteile bedachten Victorius geradezu selbstverständlich, mit der ersten Erwähnung des Goldes sogleich die (auch in der paganen Literatur über Lukrez hinaus topische)673 Verurteilung der Goldgier zu verknüpfen – so selbstverständlich, dass der Kontext für ihn von untergeordneter Bedeutung war. Denkbar wäre aber auch, dass er auf die Gefahr eines Missbrauchs der Gottesgabe oder, anders gesagt, auf ihre Ambivalenz hinweisen wollte. Wie auch immer man geneigt ist, die Frage zu entscheiden, klar ist, dass Victorius dem lukrezischen Thema der Metallentdeckung mit seinem Einschub eine neue Ebene hinzufügt, nämlich die der individuellen Moral, ähnlich wie er es mit dem soeben betrachteten Gottesbezug um die theologische Dimension erweitert hat. Tendenz zum Schematismus Nach diesen beiden inhaltlichen Zusätzen, die das lukrezische Gedankengut in einen neuen Rahmen stellen, ist eine strukturelle Besonderheit in Victorius’ Darstellung zu betrachten, die zum Teil auch schon den ersten Teil des Passus betrifft. Lukrez führt die einzelnen Metalle in 5,1261–1296 in je etwas unter-

|| 672 Lukrez zufolge beruhte die Stellung zunächst auf Aussehen und Kraft, bevor Gold und Besitz entdeckt wurden (Lucr. 5,1113–1119): posterius res inventast aurumque repertum, / quod facile et validis et pulchris dempsit honorem; / divitioris enim sectam plerumque secuntur / quamlubet et fortes et pulchro corpore creti. 673 Vgl. Martorelli 2008, 169 Anm. 169, der beispielhaft auf Verg. Aen. 3,57 (auri sacra fames) und Lucan. 3,118–121 (usque adeo solus ferrum mortemque timere / auri nescit amor …); weitere Beispiele für den Topos bei Cutino 2009, 151, Anm. 42).

272 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

schiedlicher Reihenfolge und Zusammenstellung auf:674 In den ersten Versen nennt er in wohl eher vom Metrum bestimmter Stellung Kupfer/Bronze, Gold, Eisen, Silber und Blei (aes atque aurum ferrumque … / et simul argenti pondus plumbique potestas, V. 1241sq.), beim Austreten der Metalle dann, ungefähr nach dem Wert geordnet, Silber und Gold sowie Kupfer/Bronze und Blei (argenti rivus et auri / aeris item et plumbi, V. 1255sq.; Eisen wird Lukrez zufolge erst später bekannt). Was die Verwendung der Metalle angeht, unterscheidet Lukrez sodann drei Phasen, wobei in der ersten, noch experimentellen Phase Gold, Silber und Kupfer/Bronze gleichermaßen verwendet worden seien (V. 1296– 1272), in der zweiten Kupfer/Bronze aufgrund seiner Härte am höchsten geschätzt worden sei (V. 1273–1280) und in der dritten das später entdeckte und noch härtere Eisen an die Stelle von Kupfer/Bronze getreten sei (V. 1281–1296). Victorius ordnet die Metalle demgegenüber strenger: Er nennt nur die ‚kanonischen‘ Metalle Gold, Silber, Kupfer/Bronze und Eisen, und er nennt sie nur in dieser Reihenfolge. Dies gilt bereits für die oben zitierte Schilderung des Ausströmens (wobei das Eisen beim Ausströmen als chalybs bezeichnet wird),675 noch auffälliger aber für die Phasen der Metallverwendung. Nach Victorius wurde zunächst nur Gold verwendet (Aleth. 2,140–155), anschließend wegen der mangelnden Härte des Goldes Silber (V. 156–160), darauf das noch härtere Kupfer/Bronze (V. 160sq.) und schließlich das wiederum härtere Eisen (V. 161sq.). Mit der Einteilung in vier Phasen ändert Victorius nicht nur die Struktur, sondern auch den Geist des Lukrezpassus. Es liegt auf der Hand, dass beide Passagen auf die Einteilung der Menschheitsgeschichte nach den Metallen Bezug nehmen, die in der griechisch-römischen Literatur zuerst bei Hesiod belegt ist und gerade in der Lehrdichtung in verschiedener Variation immer wieder aufgegriffen wird.676 Lukrez rationalisiert den Mythos radikal, indem er die Zeitalter auf das jeweils bevorzugt verwendete Metall bezieht und als Motiv für den Übergang von einem Metall zum andern die Suche nach immer härteren Werkstoffen darstellt. Dabei entfernt er sich vom mythischen Schema so weit, dass er Gold und Silber zusammen mit Bronze einem frühen Experimentalstadium zuordnet und als vollgültige Epochen nur die von Kupfer/Bronze und die von || 674 Auf die Unterschiede innerhalb der Lukrezpassage sowie zwischen Lukrez und Victorius weisen auch Martorelli 2008, 169 Anm. 45 und Cutino 2009, 150f. hin (beide ohne weitergehende Schlüsse); vgl. auch Staat 1952, 98. 675 Üblicherweise ist mit chalybs Stahl gemeint, doch kann es im Sinne einer species pro genere auch für Eisen stehen, vgl. Staat 1952, 97f. 676 Vgl. Hes. Erg. 106–201, wo das Schema indes bereits um ein heroisches Zeitalter erweitert ist. Zur Verbreitung des Zeitalterschemas in der Lehrdichtung vgl. oben S. 245f. (dort mit Fokus auf das Goldene Zeitalter), zur rationalistischen Umdeutung bei Lukrez siehe Gale 2009, 203f.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 273

Eisen geprägte Zeit übrig lässt.677 Victorius folgt dieser Rationalisierung bzw. Historisierung nur teilweise: Die Grundidee, das Schema auf die tatsächlich verwendeten Metalle zu beziehen und der ursprünglichen Deszendenzvorstellung die Steigerung der Härte entgegenzusetzen, stammt natürlich von Lukrez, doch entsprechen die Phasen der Metallnutzung wieder den vier traditionellen metallischen Zeitaltern, wenngleich Victorius nicht angibt, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Schritten vergeht. Die Abfolge ist dabei aus metallurgiegeschichtlicher Sicht kaum zu erklären, da bei Victorius ja alle Metalle (auch das bei Lukrez erst später entdeckte Eisen) auf einmal zutage treten. Victorius führt darum zusätzlich zur Härte ein weiteres Kriterium ein, das die Reihenfolge erklären soll, nämlich die ästhetische Attraktivität der Metalle, bei der Gold an erster Stelle steht (V. 143), Silber an zweiter (V. 158), Kupfer/Bronze an dritter (V. 161) und Eisen – auch wenn dies nicht mehr eigens gesagt wird – offenbar an vierter. Victorius kombiniert so die Aszendenzlinie der Härte mit einem ästhetischen Deszendenzgedanken. Alles in allem gewinnt man den Eindruck, dass es Victorius, anders als Lukrez, nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie um eine möglichst plausible Geschichte der Metallurgie geht; wichtiger scheint ihm zu sein, die innere Ordnung und Regelhaftigkeit der Menschheitsgeschichte herauszuarbeiten. Der Darstellung haftet so etwas Konstruiertes, ja geradezu Schematisches an – eine Tendenz, die sich auch an anderen Stellen im Werk beobachten lässt.678 Narrative Einbindung Zuletzt ist noch ein offensichtlicher, für das Thema ‚zwischen Epos und Lehrgedicht‘ aber besonders wichtiger Unterschied zwischen Lukrez und Victorius anzusprechen. Anders als bei Lukrez ist das Geschehen bei Victorius ja in einen

|| 677 Lukrez kommt damit der modernen Einteilung in Bronze- und Eisenzeit nahe, nimmt tatsächlich aber ein Stück alter Überlieferung auf, denn schon Hesiod, dessen Geschlechtermythos insgesamt sicher nicht als Geschichte der Metallurgie gemeint ist, bemerkt zum Ehernen Geschlecht, es habe χαλκός verwendet, Eisen dagegen noch nicht gekannt (Hes. Erg. 150sq.: τῶν δ’ ἦν χάλκεα μὲν τεύχεα, χάλκεοι δέ τε οἶκοι, / χαλκῷ δ’ εἰργάζοντο· μέλας δ’ οὐκ ἔσκε σίδηρος. Ähnlich in der lateinischen Literatur Varro ap. Aug. Civ. 7,24: antiqui colebant aere, antequam ferrum esset inventum, vgl. Bailey 1950, 1525 und Staat 1952, 109). 678 So besonders in der bereits behandelten Episode der Schlacht im Tal Siddim, die durch ihre strenge Gliederung leblos und konstruiert wirkt (vgl. oben Kap. 2.1.2, bes. S. 197–199). Hinzufügen ließen sich die göttlichen Strafreden am Ende der drei Bücher, die durch die Wiederholung bestimmter Elemente ebenfalls etwas schematisch wirken (dazu Homey 1972, 169– 189, zum Stichwort Schematismus S. 189).

274 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

durchlaufenden narrativen Rahmen eingebunden und wird von namentlich bekannten Akteuren (Adam und Eva, im Hintergrund Gott) getragen. Doch inwieweit prägt diese narrative Grundierung die Passage, oder anders gefragt: Inwieweit wird die lehrgedichtartige Darstellung von epischen Zügen gebrochen? Einerseits verwendet Victorius tatsächlich mehr Aufmerksamkeit als Lukrez auf die Reaktionen und vor allem auf die Gefühle der Menschen, die teilweise mit episch anmutender Einfühlsamkeit geschildert werden (so z. B. in V. 132–135, ähnlich bereits bei der Feuerentdeckung in V. 108–117). Deutlich in die Richtung einer epischen Erzählung gehen auch die oben besprochenen Verse 136–140, in denen sich die Menschen an ihr Gebet erinnern und so eine narrative Verklammerung geschaffen wird. Insoweit trifft also die mehrfach in der Forschung geäußerte Beobachtung zu, Victorius habe die lukrezische Vorlage dramatisiert.679 Andererseits erweitert Victorius hier nur ein Element, das bereits bei Lukrez vorliegt, der die Menschen ja ebenfalls bereits handeln lässt (so z. B. 5,1257– 1270) und mitunter in knapper Form sogar ihre psychischen Vorgänge beschreibt (am deutlichsten in 5,1259: nitido capti levique lepore). Hinzu kommt, dass Victorius ein wesentliches Element, das zur Rahmenerzählung und überhaupt zu jeder Erzählung dazugehört, ab V. 100 in auffälliger Weise ausspart, nämlich die Namen. Adam und Eva agieren bei der Entdeckung des Feuers und der Metalle somit als anonymes Kollektiv, und hierin ähneln sie eher Lukrez’ namenlosen Menschen der Frühzeit als epischen Protagonisten. Insgesamt ergibt sich so der Eindruck, dass man es weniger mit konkreten Charakteren, wie man es im Epos erwarten würde, als vielmehr mit austauschbaren Vertretern der frühen Menschheit zu tun hat. Zusammenfassung Auch wenn der Passus über die Entdeckung der Metalle durch moralische, theologische und psychologische Zusätze und ihre Schematisierungstendenz ein individuelles Gepräge trägt, stellt er in kaum zu überbietender Deutlichkeit einen Bezug zu Lukrez her. Beiden Autoren geht es dabei im Kern um die Entwicklung der frühen Menschheit, wenngleich Victorius die Entdeckung zwei konkreten Figuren zuweist. Man kann die Passage somit als eine christliche

|| 679 So schon Staat 1952, 80: „De korte mededelingen van Lucretius worden door Victor gedramatiseerd.“ Auch Martorelli 2008, 168 spricht vom „aspetto drammatico dell’osservazione e reazione dei primi uomini“.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 275

Antwort auf Lukrez verstehen, die ihre Vorlage umdeutet und in mancher Hinsicht erweitert.

2.2.3.4 Theoretischer Epilog: Abgrenzung vom Lehrgedicht (2,163–196) Nach den Ausführungen zur Metallurgie leitet Victorius zum grundsätzlicher gehaltenen Schlussteil der Digression über, in den freilich in Form einer Praeteritio noch die oben besprochenen Andeutungen zur ‚praktischen‘ Landwirtschaftserfindung eingelegt sind. Für unser Thema ist zunächst zu konstatieren, dass Victorius die fortlaufende Narration, in der er seine Ansichten vorher präsentiert hat, jetzt durch einen (überwiegend) erörternden Teil unterbricht und sich damit nach den thematischen Parallelen auch formal dem Lehrgedicht annähert. Bereits die ersten Verse geben das Thema für die Partie vor (2,163– 165): forsitan et cunctos quos fingit opinio casus artifices summos operum percurrere versu possit nostra chelys …

165

Vielleicht könnte unsere Leier noch alle weiteren Fälle, die einer gewissen Meinung zufolge die Werke hervorgebracht haben,680 (165) im Vers durcheilen …

Victorius lenkt den Blick also auf die Vorstellung (opinio), wonach die Impulse zur Entwicklung technischer Fertigkeiten (opera) von Ereignissen (casus, möglicherweise ist sogar ‚Zufälle‘ zu übersetzen)681 gekommen seien – eine Meinung, die man bei oberflächlicher Lektüre möglicherweise auch aus Victorius’ eigener Erzählung gewinnen konnte, in der ja scheinbar zufällige Ereignisse eine wichtige Rolle spielen. Bei genauerem Hinsehen ist natürlich bereits dort erkennbar, dass Victorius nicht dieser Ansicht anhängt, lässt er die Kulturent|| 680 Die Konstruktion ist nicht ganz klar: fingit kann absolut im Sinne von ‚sich ausdenken‘ verstanden werden (Staat: „… alle andere toevalligheden, die men zich daartoe denkt, als de voornamste oorzaken …“) oder mit doppeltem Akkusativ konstruiert werden, wobei als Prädikatsnomen artifices (so Papini: „… tutti gli altri eventi che l’opinione considera quali principali responsabili delle opere umane“; vgl. ThLL s. v. artifex p. 702,29–35 zum adjektivischen Gebrauch mit Gen.) oder casus möglich sind (dies mit der Bedeutung ‚Zufall‘, vgl. die folgende Anm.: „Stifter von Werken, die die Meinung für Zufälle hält“); schließlich kann casus in schwebender Beziehung als Prädikatsnomen und als Objekt des Hauptsatzes aufgefasst werden („Zufälle, die die Meinung für solche hält“). Die hier gegebene Übersetzung ist nur als eine von mehreren Möglichkeiten anzusehen. 681 Victorius verwendet den Begriff in unterschiedlichen semantischen Schattierungen, vgl. Anm. 570; wenig später in V. 181 ist recht sicher ‚Zufall‘ gemeint.

276 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

wicklung doch in einem Gebet beginnen und die Menschen in den Ereignissen Gottes Hilfe spüren (auxilium sensere dei, 2,156); gleichwohl scheint er das Bedürfnis empfunden zu haben, einen ausführlicheren und unmissverständlichen theoretischen Überbau für seine Erzählung von der Kulturentstehung zu liefern. Dabei setzt er sich in differenzierter Weise mit Entwicklungstheorien der Lehrdichter, teilweise aber auch mit darüber hinausgehendem philosophischem Gedankengut auseinander. Lehrdichterische Konzepte: exempla und meditatio, usus und casus Zunächst formuliert Victorius das Grundmuster der Kulturentwicklung, das implizit bereits in der Erzählung zutage tritt, noch einmal explizit (2,178sq.): … semper ab exemplis meditatio sumpta magistris fecerit artis opus … … 〈wie〉 stets Überlegung, von lehrenden Beispielen genommen, technischen Fortschritt bewirkt hat …682

In den Versen bringt Victorius zugleich zum Ausdruck, inwieweit er den in der Lehrdichtung geläufigen Kulturentwicklungstheorien zu folgen bereit ist: Mit den lehrenden exempla und der menschlichen meditatio erkennt er zwei Faktoren an, die auch etwa bei Vergil und Manilius im Zusammenhang mit der Entwicklung der artes genannt werden.683 Gleichwohl steht Victorius den Konzepten der paganen Lehrdichter in anderen Punkten kritisch gegenüber, wie die folgenden Verse zeigen, in denen Victorius zum gänzlich lehrgedichtuntypischen, dafür aber besonders autoritätsheischenden Mittel einer Gottesrede greift (2,179–181): … sed falsis mota reclamat

|| 682 Wörtl. etwa „ein Werk der Kunstfertigkeit (d. h. des technischen Könnens) bewirkt hat“. Hovingh lässt hier einen neuen Hauptsatz beginnen, ebenso die bisherigen Übersetzer, die dann fecerit als Fut. II verstehen (vgl. Staat 1952 ad loc., der einen potentialen Konj. Perf. ablehnt; Papini übersetzt ungenau Fut. I). Da ein Fut. II (oder auch ein Pot.) inhaltlich wenig Sinn ergeben, mache ich die Verse abhängig vom vorangehenden ut (V. 166. 172). 683 Vgl. Verg. Georg. 1,133sq.: … ut varias usus meditando extunderet artis / paulatim; ähnlich Manil. 1,61sq. (hier freilich konkret über die Astronomie): per varios usus artem experientia fecit / exemplo monstrante viam (beide Stellen werden auch genannt bei Staat 1952, 118f.; Martorelli 2008, 170 Anm. 54 sowie Cutino 2009, 154 Anm. 49). Den hier verwendeten Begriff usus lehnt Victorius freilich ab, vgl. unten.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 277

gloria larga patris: „nil hinc sibi vindicet usus, nil casus virtutis inops …“

180

… doch durch Irrtum erregt, widerspricht (180) der ruhmreiche Vater:684 „Nichts beanspruche hiervon Erprobung, nichts der kraftlose Zufall …“

Victorius lehnt als Kulturmotoren also den usus sowie den casus ab. Mit dem Begriff casus, der in nicht ganz klarer Semantik bereits in V. 163 auftrat, ist hier offensichtlich der Zufall gemeint. Victorius kritisiert den so verstandenen casus in deutlicher Form bereits in der Kosmogonie, wo er sich mit einer sehr ähnlichen Formulierung gegen die Vorstellung vom blinden Zufall wendet (casus mentis inops, 1,23, vgl. oben S. 227). Wie er sich dort gegen die Ansicht wandte, die Welt sei durch Zufall entstanden, so polemisiert er hier gegen den Gedanken einer vom Zufall bestimmten Menschheitsentwicklung. Der Gedanke, wenn auch nicht unbedingt der Begriff, ist wiederum vor allem mit Lukrez in Verbindung zu bringen, der als Hauptvertreter der opinio aus V. 163 gelten kann. Hier wird also noch einmal deutlicher, was teilweise bereits in der Analyse der einzelnen Erfindungen beobachtet wurde: Victorius schreibt seine Kulturentstehungstheorie maßgeblich gegen den Hintergrund der bekannten und wirkmächtigen Darstellung bei Lukrez, wobei er trotz teilweise sehr enger Bezüge (besonders im Metallabschnitt) letztlich dessen Lehre umkehrt, also eine Technik der Kontrastimitation verwendet.685 Victorius befindet sich damit in diesem Punkt eher auf einer Linie mit bestimmten nachlukrezischen Lehrdichtern wie Vergil, zu dessen Konzept göttlicher providentia ja bereits bei der Landwirtschaftserfindung eine gewisse Nähe beobachtet wurde (vgl. oben S. 254f.), oder auch mit Manilius, der als Stoiker in der Welt ebenfalls göttliche Leitung am Werk sieht.686 Lehnt Victorius mit dem casus also vermutlich nur einen bestimmten Lehrdichter ab, so wendet er sich mit der Kritik am usus gegen fast alle Gattungsver-

|| 684 Wörtl. „der große Ruhm des Vaters“ (abstractum pro concreto). Staat 1952 ad loc. argumentiert dafür, gloria als ‚Ruhmsucht‘ zu übersetzen, was mir in diesem Kontext jedoch zu negativ erscheint. 685 Vgl. die treffende Zusammenfassung bei Martorelli 2008, 169: „Infine, a livello del generale impianto concettuale, l’idea che gli esseri umani riconoscano l’esperienza del fuoco come dono divino – pensiero espresso al centro della scena, vv. 136–140 – ribalta l’antiprovvidenzialismo del poeta epicureo.“ 686 Zum kritischen Lukrezbezug in der Kulturentstehungslehre in Manil. 1,66–112 vgl. Gale 2011, 207–209. Angemerkt sei noch, dass Victorius den Begriff casus 2,148–150 auffällig positiv verwendet, was schwer mit seiner sonstigen Kritik vereinbar scheint (subiit nova cura repente / attonitos acuitque animos casumque magistrum / admonet arte sequi).

278 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

treter, die Überlegungen zur Kulturentstehung vortragen. Nicht nur Lukrez, sondern auch (mit mehr oder weniger deutlichem Bezug auf Lukrez) Vergil, Manilius und Columella bringen die Entwicklung von Kulturtechniken mit dem usus in Verbindung, wobei Vergil und Manilius auffälligerweise im selben Atemzug die von Victorius anerkannten Begriffe meditari und exemplum verwenden.687 Der Vergleich zwischen den Autoren wird freilich dadurch erschwert, dass teilweise umstritten ist, ob usus im Sinne von ‚Bedürfnis‘ oder im Sinne von ‚Erprobung, Praxis‘ zu verstehen ist.688 Insgesamt scheint jedoch einiges dafür zu sprechen, dass in allen Fällen die letztere Bedeutung anzusetzen ist,689 und so dürfte dies auch in Aleth. 2,180 die bessere Wahl sein, zumal der Begriff wenige Verse später wiederholt wird und hier sicher nicht ‚Bedürfnis‘ bedeuten kann (… nunc discitur usu …, 2,191).690 Deutlich ist jedenfalls, dass Victorius sich hier nicht nur von Lukrez, sondern auch von weniger streng rationalistischen Lehrdichtern wie Vergil und Manilius abgrenzt. Vor dem Hintergrund der bereits untersuchten Erzählung kann man einen ersten Grund für diese Ablehnung darin sehen, dass Victorius

|| 687 Vgl. den Passus Lucr. 5,1447–1453, der auch dort die Kulturentstehungstheorie abschließt: navigia atque agri culturas moenia leges / arma vias vestes 〈et〉 cetera de genere horum, / praemia, delicias quoque vitae funditus omnis, / carmina, picturas et daedala signa polita / usus et impigrae simul experientia mentis / paulatim docuit pedetemptim progredientis. Bereits zitiert wurden Verg. Georg. 1,133sq. (ut varias usus meditando extunderet artes / paulatim) sowie Manil. 1,61 (über die Astronomie: per varios usus artem experientia fecit); hinzuzufügen sind Manil. 1,83 (quodcumque sagax temptando repperit usus) und 1,90 (semper enim ex aliis alia proseminat usus) sowie Colum. 10,337–341 (haec ne ruricolae paterentur monstra, salutis / ipsa novas artis varia experientia rerum / et labor ostendit miseris ususque magister / tradidit agricolis ventos sedare furentis / et tempestatem Tuscis avertere sacris). Auch in der Verg. Georg. 1,118–146 aufnehmenden Juppiterrede in Claud. Rapt. Pros. 3,18–65 fällt das Stichwort usus (provocet ut segnes animos rerumque remotas / ingeniosa vias paulatim exploret egestas / utque artes pariat sollertia, nutriat usus, V. 30–32). Vgl. Staat 1952, 119–123, der bereits einige der zitierten Stellen aufführt. 688 Vgl. zur Problematik bei Lukrez Manuwald 1980, 27f., der mit Vorläufern für „das Bedeutungsfeld ‚Gebrauch, Nutzen, Praxis‘“ plädiert, weil es sich um die zweite Kulturstufe des epikureischen Zwei-Phasen-Modells handle (was freilich umstritten ist; vgl. zu Epikurs Kulturentstehungslehre Manuwald 1980, 18–22). In Verg. Georg. 1,133 nimmt z. B. Mynors 1990 ad loc. (S. 28) „practical experience“ an, Erren 2003 ad loc. (S. 96) argumentiert dagegen für „Bedarf“. Bei Manilius und Columella scheint allgemein die Auffassung im Sinne von ‚Erprobung, Praxis‘ üblich zu sein. 689 Vgl. außer den Stimmen in der vorangehenden Anmerkung auch Gale 2011, 208 Anm. 8 und 209 Anm. 12, die entsprechende Stellen aus Lukrez, Vergil und Manilius vergleicht und stets „practice“ übersetzt. 690 In diesem Sinne übersetzen auch Staat 1952 („ervaring“) und Papini 2006 („esperienza“).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 279

etwa bei Vergil die Rolle der Gottheit immer noch zu gering veranschlagt schien, denn auch wenn Juppiter dort die kulturelle Entwicklung durch sein Handeln vorantreibt, scheint er die Menschen mit ihrer Not doch weitgehend allein zu lassen, sodass sie in der Tat auf ‚Erprobung‘ angewiesen sind. Bei Victorius stehen Gott und Menschen demgegenüber in weitaus engerem Kontakt: Im Gebet bittet Adam um das, was sie brauchen, und durch den Waldbrand und seine Folgen lässt Gott ihnen genau das zukommen, was für ihre Entwicklung nötig ist. Eine langwierige ‚Erprobung‘erübrigt sich damit weitgehend. Die Entwicklung der ersten Kulturtechniken, die bei den Lehrdichtern als ein mehrere Generationen umfassender Prozess gedacht ist, vollzieht sich in Victorius’ narrativer Kulturlehre innerhalb der Lebensspanne eines Menschen. Gegenentwurf: Makrokosmos und Mikrokosmos Eine Erklärung wie die zuletzt erwogene findet sich freilich in der Gottesrede nicht. Hier folgt als positives Gegenbild zum abgelehnten usus und casus stattdessen ein anderer Gedanke, der über die im Lehrgedicht üblichen Vorstellungen von der Kulturentwicklung deutlich hinausweist (2,181–184): „... ego nosse creatis quae bona sunt cum luce dedi mundoque minori quicquid maior habet sacro notescere sensu meque per haec volui.“ „… Ich habe meinen Geschöpfen das, was gut ist, mit ihrem Lebenslicht zu kennen gegeben und wollte, dass der geringeren Welt all das, was die größere hat, durch heiliges Wahrnehmungsvermögen kund wird und dadurch auch ich.“

Was Victorius Gott formulieren lässt, ist im Wesentlichen das Konzept von Makrokosmos und Mikrokosmos, wonach die ‚große Welt‘ (das Universum) und die ‚kleine Welt‘ (der Mensch) miteinander in Korrelation stehen. Die Makrokosmos-Mikrokosmos-Denkfigur ist in der antiken Philosophie – von den ionischen Naturphilosophen über Platon, Aristoteles und die Stoa bis zum Neuplatonismus – weit verbreitet und fand schon lange vor Victorius Eingang in die jüdische und christliche Literatur.691 Victorius überträgt das Konzept nun jedoch auf || 691 Zur Geschichte des Konzepts sei verwiesen auf die Überblicksdarstellungen von G. Lanczkowski/W. Janke/G. Siegmann, Art. „Makrokosmos/Mikrokosmos“, in: TRE 21, Berlin/New York 1991, 745–754, hier besonders 748–750, sowie M. Gatzemeier, Art. „Makrokosmos/Mikrokosmos. I. Antike und Mittelalter“, in: HWbPh 5, Darmstadt 1980, 640–643; nützliches Material bietet auch immer noch Meyer 1900, darin zur Antike 4–46. Zur Bezeichnung des Menschen als

280 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

einen ungewöhnlichen Kontext, nämlich die Kulturentstehung. Wie genau man sich die Korrelation zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos im Bereich der Kulturtechniken vorzustellen hat, wird nicht mehr ausgeführt. Der Grundgedanke scheint zu sein, dass Gott in den Kosmos eine Ordnung hineingelegt hat, die der Mensch sich zum Vorbild nehmen kann. Der Kosmos wäre demnach eine Art Vermittler, durch den Gott den Menschen in seiner Entwicklung anleitet; ihm käme die Rolle eines von Gott beauftragten Lehrmeisters zu, und in der Tat hat es in der Digression ja zuweilen den Anschein, dass die Natur selbst den Menschen lehrt, obgleich immer Gott im Hintergrund steht. Letztlich soll der Mensch durch die in ihm selbst und im Kosmos waltende Ordnung Gott selbst erkennen, der die Kosmos und Mensch durchwaltende Ordnung gegeben hat (V. 184). Mit der Einführung des Makrokosmos-Mikrokosmos-Konzeptes verschiebt sich allmählich das Interesse von der Kulturentwicklung zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen, einem Thema, das in den letzten Versen der Digression dann ganz in den Vordergrund tritt (V. 184–196). Die Verse führen vom lehrgedichttypischen Thema der Kulturentstehung ab und sollen hier deshalb nicht mehr untersucht werden.692 Zusammenfassung Nachdem Victorius sich im narrativen Teil der Digression nur implizit mit den Kulturentstehungslehren eines Lukrez oder Vergil auseinandergesetzt hat, behandelt er im erörternden Schlussteil der Digression explizit die dort genannten Faktoren und grenzt sich deutlicher – freilich immer noch ohne Namen zu nennen – von seinen paganen Vorläufern ab. Entscheidend ist für ihn der Gedanke, dass der Kulturentwicklung statt dem Zufall oder dem Ausprobieren ein höherer Plan zugrundeliegt und dass sie sich im engen Austausch zwischen Gott und Menschen verwirklicht – oder zumindest verwirklichen sollte.

|| mundus minor vgl. z. B. Arnob. Nat. 2,25 (hic est ille pretiosus et rationibus homo augustissimis praeditus, mundus minor qui dicitur …) und Mar. Victorin. Defin. p. 28 Stangl (Graeci sic definiunt: ἄνθρωπος μικρόκοσμος, id est homo minor mundus, von Staat 1952, 125 noch Boethius zugeschrieben). Zur Rezeption des Mikrokosmos-Makrokosmos-Gedankens bei Victorius siehe auch Staat 1952, 125 und Homey 1972, 56f. mit Anm. 2. 692 Die Bezüge gehen hier eher in Richtung (nichtdichterischer) philosophischer Texte; u. a. spielt die platonische Anamnesislehre eine Rolle. Verwiesen sei auf den Kommentar von Staat 1952 (hier S. 125–133) sowie auf die Untersuchungen von Martorelli 2008, 171f. und Cutino 2009, 153–155.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 281

2.2.3.5 Die Digression des dritten Buches: Divination und Idolatrie (3,99–209) Auch im dritten Buch löst Victorius sich für über hundert Verse vom Bibeltext, und wieder geht es dabei um die Entwicklung der Menschheit und um das Aufkommen bestimmter artes, hier freilich solcher, die Victorius negativ beurteilt (das Stichwort ars fällt in 3,116. 147, vgl. zuvor 2,150. 179). Die Digression des dritten Buches lässt sich somit als Fortsetzung derjenigen des zweiten Buches verstehen,693 und dies umso mehr, als beide Partien über das gemeinsame Hauptthema hinaus miteinander verklammert sind: Hatte Victorius in der ersten Digression zuletzt den Blick auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen gerichtet (2,184–195), so greift er dieses Thema am Anfang dieses Abschnitts wieder auf und beschreibt die Folgen, die der Verlust der unmittelbaren Erkenntnisfähigkeit nach sich zog (3,99–115). Victorius lenkt die Darstellung dabei auf einen Aspekt, den er in der Digression des zweiten Buches unbeachtet ließ, wohl weil er ihn einer späteren Entwicklungsstufe der Menschheit zurechnet, nämlich auf die Entstehung des Irr- und Aberglaubens. Formal ist die Digression deutlich anders gestaltet als die des zweiten Buches: Handelte es sich dort zunächst um eine Erzählung, die von (zumindest am Anfang) namentlich genannten Figuren getragen wird und erst am Ende in eine erörternde und allgemeiner gehaltene Partie übergeht, so geht Victorius hier von vornherein systematisch vor und nennt nur punktuell konkrete Figuren. An erster Stelle behandelt er dabei das Aufkommen und Wesen der Zukunftserforschung (Divination, V. 116–169), anschließend die Verehrung von Bildern und Gegenständen (Idolatrie, V. 170–205). Die Entstehung falscher religiöser Vorstellungen und Praktiken (oder religiöser Vorstellungen und Praktiken überhaupt) wird im Rahmen lehrdichterischer Kulturbetrachtungen normalerweise nicht behandelt. Eine Ausnahme bildet hier jedoch derjenige Lehrdichter, der sich schon in den vorangehenden Teilkapiteln als ein wichtiger Bezugspunkt des Victorius erwiesen hat, nämlich Lukrez. Die Abwehr religiöser Fehlvorstellungen ist ein zentrales Anliegen seines gesamten Werkes, und so widmet er auch im Rahmen seiner Kulturgeschichte der Entstehung der Götterverehrung einen eigenen Abschnitt (5,1161–1249). Da also beide Autoren das Thema in einer vergleichbaren kulturhistorischen Perspektive behandeln und Victorius sich schon in der Digression des zweiten Buches ersichtlich mit Lukrez auseinandersetzt, liegt es nahe, auch diejenige

|| 693 Der Begriff Digression liegt hier sogar besonders nahe, weil Victorius selbst diesen Abschnitt bei der Rückkehr zur biblischen Erzählung als solche charakterisiert, vgl. 3,210: sed redeo ad summam, qua sum degressus … Dass beide Digressionen gleichermaßen die Kulturentwicklung betreffen, bemerkt auch Cutino 2009, 144, zitiert oben in Anm. 620.

282 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

des dritten Buches mit Lukrez als Folie zu lesen. Vorausgeschickt werden muss, dass Victorius mit dem Thema des Aberglaubens zugleich an einen christlichen Diskurs anknüpft, der in dieser Untersuchung jedoch nicht in den Vordergrund gerückt werden soll.694 Religion bei Victorius und Lukrez: Unterschiede und mögliche Gemeinsamkeiten Dass der Epikureer Lukrez und der Christ Victorius in Fragen der Religion grundlegend unterschiedliche Ansichten vertreten, muss kaum gesagt werden. Nach Ansicht des Lukrez existieren zwar anthropomorphe Götter, doch nehmen sie keinen Einfluss auf das Weltgeschehen und das Leben der Menschen. Die Entstehung religiöser Fehlvorstellungen besteht demnach darin, dass die Menschen zu der Meinung gelangen, die Welt und ihr Leben sei von Göttern bestimmt, und dass sie sich vor dem Walten der Götter zu fürchten beginnen. Abhilfe soll ihm zufolge die Einsicht in die Erklärbarkeit der Naturphänomene schaffen, die die Götterfurcht als unbegründet entlarvt.695 Für Victorius gibt es dagegen nur den einen (bzw. dreieinigen) Schöpfergott, der trotz seiner Transzendenz Einfluss auf die Welt nimmt und zumindest mit den ersten Menschen (und auch noch mit Noah) in engem Austausch steht. Die Fehlentwicklung besteht darin, dass die Menschen sich von diesem Gott abwenden, wobei sie zunächst Erkenntnisse aus anderen Quellen zu erlangen suchen und sich schließlich sogar eigene Götter schaffen. Der Lösungsweg, den Victorius propagiert, ohne ihn explizit zu formulieren, wäre die Wiederhinwendung zu Gott. Trotz dieser eklatanten Unterschiede lassen sich jedoch einige Berührungspunkte mit Lukrez finden. Auffällig ist bereits, dass Victorius in den Versen 121– 146 drei Erklärungsmöglichkeiten für Wahrsagerei mit sive – seu – seu aufzählt. Hiermit bedient er sich, wie oben dargestellt, einer typisch lukrezischen Technik (vgl. Kap. 1.3.3). Inhaltlich stützt Victorius sich freilich vorwiegend auf die patristische Literatur: Sowohl der erste Erklärungsansatz (Gott selbst hat in der Schöpfung Hinweise für die Zukunft angelegt, V. 121–134) als auch der dritte (der Teufel ruft bestimmte Ereignisse hervor und lässt die Menschen so an die

|| 694 Für diese Bezugsebene sei auf Martorelli 2008, 173–185 verwiesen, wo zahlreiche Parallelen zur patristischen Literatur (u. a. zu Augustinus, Ambrosius Johannes Cassian, Minucius Felix, [Ps.-] Cyprian, Laktanz) genannt sind; vgl. auch unten Anm. 696. 695 Vgl. die Zusammenfassung von Lukrez’ Anliegen bei Deufert 2009, 604f. Äußerungen zur Religion finden sich bei Lukrez außer im schon genannten Abschnitt 5,1161–1240 auch in 2,646–651; 3,18–24; 5,146–155 und 6,58–79 (vgl. die Einleitung zu 5,1161–1240 bei Bailey 1950, 1507–1509).

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 283

Macht von Vorzeichen glauben, V. 136–146) werden bei Kirchenvätern vertreten, wenn auch nicht in dieser Kombination.696 Interessant für das Thema der Lukrezbezüge ist jedoch der zweite Erklärungsansatz, der nur einen Satz umfasst (V. 135): seu simplex potius mundi fert omnia motus … Oder aber die einfache Bewegung der Welt bringt vielmehr alles mit sich …

Der Gedanke scheint zu sein, dass die Welt von konstanten natürlichen Kräften getrieben wird (Victorius bezeichnet sie als motus), sodass sich aus bestimmten Phänomenen Rückschlüsse auf die Zukunft ziehen lassen. Es handelt sich um die einzige Erklärung, bei der nicht übernatürliche Mächte wie Gott oder der Teufel eine unmittelbare Rolle spielen. Die Erklärung kommt so dem Ansatz des Lukrez erstaunlich nahe, wonach die Naturereignisse sich, nachdem die Welt sich einmal eingerichtet hat, ohne göttliche Einwirkung nach festen Ordnungen wiederholen.697 Auffälligerweise enthält der Vers auch sprachlich einen leichten Anklang an Lukrez.698 Möglicherweise wollte Victorius also zusätzlich zu den beiden theologischen Erklärungen einen eher naturphilosophischen und damit Lukrez nahekommenden Ansatz vortragen. Wenn diese Deutung zutrifft, scheint er von dieser Erklärungsmöglichkeit freilich nicht sonderlich überzeugt gewesen zu sein, sodass er sie nicht weiter vertiefte (und damit auch etwas unklar ließ).699

|| 696 Die erste Erklärung ist vergleichbar mit Aug. Civ. 21,7 (vgl. Martorelli 2008, 177 mit Anm. 84), die dritte ist in der patristischen Literatur weiter verbreitet (vgl. etwa Min. Fel. 27,1sq.; [Ps.-] Cypr. Idol. 7; Lact. Inst. 2,14–19; Aug. Gen. ad litt. 2,17; Stellen nach Martorelli 2008, 178f. Anm. 92). 697 So am explizitesten formuliert in Lucr. 5,677–679: namque ubi sic fuerunt causarum exordia prima / atque ita res mundi cecidere ab origine prima, / consecue quoque iam redeunt ex ordine certo. 698 Nämlich an Lucr. 5,551 bzw. 6,177 (an beiden Stellen omnia motu am Versende; vgl. Hovinghs Similienapparat); inhaltlich sind die Stellen freilich nicht vergleichbar, die Parallele kann also auch zufällig sein. 699 So fragt man sich etwa, was für Ereignisse sich auf diese Art vorhersagen lassen sollen, also z. B. nur Naturereignisse, die ja in der Tat meist Vorboten haben, oder überhaupt alle Ereignisse, was dem Konzept des Laplace’schen Dämons nahekäme.

284 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Wendung gegen Vorstellungen und Praktiken der griechisch-römischen Religion Eine etwas tiefere Verwandtschaft verbindet Lukrez und Victorius in einer anderen Hinsicht: Beide wenden sich nämlich zumindest auch gegen die römische Volksreligion und versuchen alternative Erklärungen für Phänomene zu geben, die die Volksreligion mit dem Walten der Götter in Verbindung bringt. Dabei setzen sie freilich unterschiedliche Schwerpunkte und verfolgen teilweise verschiedene Ansätze. Lukrez ist vor allem daran gelegen, Naturphänomene so zu erklären, dass die Menschen sich nicht mehr vor darin vermeintlich enthaltenen Götterzeichen fürchten zu brauchen. In der Passage zur Entstehung der Götterverehrung (5,1161–1249) nennt er eine Reihe von Beispielen für solche fälschlich mit den Göttern in Verbindung gebrachten Naturerscheinungen. Besonders ausführlich behandelt er dabei die Himmelsbewegung, die die Menschen sich nicht anders als göttlich verursacht vorstellen könnten, sowie die Blitze, in denen die Menschen Zeichen göttlichen Zorns sähen.700 Beiden Erscheinungen widmet er an anderer Stelle umfangreiche Erklärungen, die die falsche Vorstellung vom göttlichen Einfluss widerlegen sollen: Im Falle der Himmelsbewegung tut er dies bereits zuvor in der Darstellung der Kosmogonie (5,509–533), das Entstehen des Blitzes beschreibt er später zusammen mit anderen für seine Zeitgenossen nur durch die Götter erklärbaren Naturerscheinungen im sechsten Buch (6,145– 356), wo er übrigens auch explizit gegen die mit den Etruskern assoziierte Blitzdeutung polemisiert (6,379–386).701 Mit seiner Kritik an falschen religiösen Vorstellungen geht auch eine Kritik an Praktiken der römischen Religion einher, so

|| 700 Beides taucht je zweimal in der Passage auf. Zur Himmelsbewegung vgl. Lucr. 5,1183–1187 (praeterea caeli rationes ordine certo / et varia annorum cernebant tempora verti / nec poterant quibus id fieret cognoscere causis: / ergo perfugium sibi habebant omnia divis / tradere et illorum nutu facere omnia flecti) und 5,1204–1210 (nam cum suspicimus magni caelestia mundi / templa super stellisque micantibus aethera fixum, / et venit in mentem solis lunaeque viarum, / tunc aliis oppressa malis in pectora cura / illa quoque expergefactum caput erigere infit, / ne quae forte deum nobis inmensa potestas / sit, vario motu quae candida sidera verset …). Der Blitz wird zunächst in einer Aufzählung mit anderen Wetterphänomenen in 5,1192 genannt (… nubila sol imbres nix venti fulmina grando …), dann ausführlicher in 5,1218–1225 (praeterea cui non animus formidine divum / contrahitur, cui non correpunt membra pavore, / fulminis horribili cum plaga torrida tellus / contremit et magnum percurrunt murmura caelum? / non populi gentesque tremunt, regesque superbi / corripiunt divum percussi membra timore, / nequid ob admissum foede dictumve superbe / poenarum grave sit solvendi tempus adactum?). 701 Ich zitiere den Beginn, Lucr. 6,379–382: hoc est igniferi naturam fulminis ipsam / perspicere et qua vi faciat rem quamque videre, / non Tyrrhena retro volventem carmina frustra / indicia occultae divum perquirere mentis.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 285

etwa an der Verehrung von Steinbildern, am Anrufen der Götter oder am Opfern.702 Auch Victorius wendet sich, obwohl seine Digression nach der Sintflut einsetzt, überwiegend gegen Vorstellungen und Praktiken der griechisch-römischen Religion (wenngleich er auch andere Kulturkreise streift),703 und tatsächlich greift er sogar gewisse Bereiche auf, die schon bei Lukrez eine Rolle spielen. Ähnlich wie dieser auf die Himmelsbewegung eingeht, so kommt auch Victorius bei der dritten Erklärung der Divination auf die Sternbahnen zu sprechen, in denen viele Menschen göttliche Zeichen sähen.704 Mit seiner Deutung des Phänomens geht Victorius indes andere Wege als Lukrez (V. 139–146, Subjekt ist der Teufel):705 nam dum dinumerat cursus variosque recursus astrorum et miro fruitur discrimine caeli, tempora sic dubii posuit sibi certa favoris atque facultatem pronam metasque nocendi effectus varios variis conventibus edens,

140

|| 702 Vgl. Lucr. 5,1198–1202: nec pietas ullast velatum saepe videri / vertier ad lapidem atque omnis accedere ad aras / nec procumbere humi prostratum et pandere palmas / ante deum delubra nec aras sanguine multo / spargere quadrupedum nec votis nectere vota … Mit velatum spielt Lukrez auf den römischen Ritus an, bei dem verhüllten Hauptes (capite velato) geopfert wurde, vgl. Bailey 1950 ad loc. zu den hier genannten römischen Praktiken. Kritik an der griechischen und römischen Religion findet sich übrigens auch sonst im Werk, so schon in 1,80– 101, wo Lukrez den Mythos von der Opferung der Iphigenie (dort Iphianassa genannt) als Beispiel dafür referiert, dass „jene Religion öfters verbrecherische und flevlerische Taten zustande gebracht hat“ (saepius illa / religio peperit scelerosa atque impia facta, Lucr. 1,82sq.). 703 So in V. 153–156 zum angeblichen Brauch der Äthiopen, den Staat durch Hunde zu regieren, und in V. 166–169 zu Nimrod, der die Perser zum Feuerkult verführt habe. Der besagte Brauch der Äthiopen wird auch in Plut. De comm. not. 1064B und Ail. Nat. 7,36(40) überliefert (letztere Stelle nennt schon Schenkl 1888, 412). Ailian nennt als Quelle Hermipp (fr. 104 Wehrli), der seinerseits aus Aristokreon schöpfe (FGrHist 667 F 4). Auf welchem Weg Victorius die Legende kennen lernte, ist nicht mehr zu rekonstruieren; eine lateinische Vermittlung ist gut möglich (Martorelli 2008, 180 Anm. 98 erwägt als eine Möglichkeit ein Bestiarium). Zu Nimrod vgl. unten S. 296. 704 Die Meinung der Menschen ist freilich nicht genau die gleiche wie bei Lukrez, wo die Menschen lediglich eine göttliche Ursache, keine göttlichen Zeichen in der Himmelsbewegung sehen. 705 Die Verse sind möglicherweise auch sprachlich von Lukrez beeinflusst, vgl. V. 140–142 mit Lucr. 5,690 (caelum discrimine metas). Möglicherweise stammt auch sprachliches Material von Manilius, vgl. zur selben Stelle Manil. 3,620 (discrimine caelum am Versende), ferner zu V. 139 Manil. 1,475 (variosque recursus am Versende); vgl. zu allen Stellen Hovinghs Similienapparat.

286 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

spargat 〈ut〉 invidiam stellis et crimina sacro adleget caelo mundumque ornantibus astris, cum fingat populis quicquid facit ipse futurum.

145

Denn indem er die verschiedenen Bahnen beim Hin- und Rückweg706 (140) der Sterne durchzählte und sich der erstaunlichen Einteilung des Himmels bediente, bestimmte er Zeiten seiner schwankenden Gunst (wobei die Zeiten für sich gewiss sind) und vorteilhafte Gelegenheit und Grenzen des Schadens in solch einer Weise, verschiedene Ergebnisse bei verschiedenen Konjunktionen hervorbringend,707 dass er Missgunst gegen die Sterne erregt und Verbrechen dem heiligen (145) Himmel zur Last legt und den das Weltall schmückenden Sternen, wenn er all das, was er selbst tut, den Völkern als Zukunft vorheuchelt.

Victorius scheint die Himmelsbewegungen wie Lukrez für naturgesetzlich zu halten (vgl. tempora … sibi certa, V. 141), und ähnlich wie jener hat ja auch er die Entstehung der Gestirne und ihrer Bewegungen zuvor im Rahmen einer Kosmogonieerzählung erklärt (freilich auf ganz andere Weise, vgl. 1,96–113). Trotzdem sieht er ganz im Gegensatz zu Lukrez eine übernatürliche Kraft am Werk, nämlich den Teufel, der selbst bestimmte Ereignisse im Einklang mit den Sternen hervorbringe und die Menschen so glauben lasse, dass die Sterne Macht über ihr Schicksal hätten. Damit erkennt er an, dass Astrologie korrekte Vorhersagen treffen kann, bestreitet jedoch, dass die Sterne selbst Einfluss auf den Menschen nehmen. Auch die Blitze, auf die Lukrez so ausführlich eingeht, werden bei Victorius erwähnt, wenn auch nur in einer knappen Zusammenstellung mit zwei weiteren typisch römischen Divinationsmethoden (Eingeweideschau und Deutung des Vogelflugs, 3,147sq.): hinc ars est, quod fibra tremit, quod pinna coruscat, nubibus elisis quod fulmina nuntia signant.

|| 706 Wörtl. „die Bahnen und verschiedenen Rück-Bahnen“. 707 Der Text ist umstritten. Ich folge hier nicht der von Schenkl und Hovingh in den Text gesetzten Konjektur effectu vario, sondern übersetze die überlieferte Lesung effectus varios, mit der sich eine stimmigere Syntax ergibt. Mit der Konjektur wäre facultatem … metasque das Objekt zu edens; atque würde dann erwarten lassen, dass ein weiteres Objekt auf einer Ebene mit tempora oder ein weiterer Hauptsatz folgt, was aber nicht der Fall ist (es ist bezeichnend, dass Papini, die vom konjektural veränderten Text ausgeht und auch atque berücksichtigen zu wollen scheint, den folgenden Nebensatz spargat 〈ut〉 … astris als Hauptsatz übersetzt [die konjekturale Ergänzung 〈ut〉 kann angesichts des vorangehenden sic und des Konjunktivs als sicher gelten]). Die Übersetzung von conventibus ist unsicher; der Kontext legt nahe, dass es sich um astronomische Phänomene handelt (daher hier versuchsweise „Konjunktionen“), allerdings ist eine solche Bedeutung mit Hilfe des ThLL s. v. conventus nicht zu belegen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 287

Hierher kommt die Kunst, das Zucken der Fleischfaser, das Schwingen der Feder und das, was unter Zerstoßen von Wolken die kündenden Blitze bezeichnen, 〈zu deuten〉.708

Victorius’ Erklärung ist ähnlich wie bei der Astrologie: Die Ereignisse selbst sind nicht göttlich beeinflusst – hier spricht er sogar von Zufällen (casus, V. 150) –, doch mache der Teufel sich ebendiese Zufälle „mit schlauem Eifer zunutze“ (sagaci / amplexus … studio, V. 149sq.) und überzeuge die Völker, „diese Erfindungen falschen Gifts für göttlich zu halten“ (divina putare / persuasit populis falsi commenta veneni, V. 151sq.). Alternative Erklärung von mirabilia Neben diesen Naturphänomenen, die schon bei Lukrez eine Rolle spielen, führt Victorius freilich auch legendenartige mirabilia an, die aus dem Bereich der sich wiederholenden und beobachtbaren Naturphänomene, mit denen Lukrez sich beschäftigt, in auffälliger Weise herausfallen.709 Die beiden betreffenden Beispiele verdienen eine kurze Betrachtung, weil sie einiges über Victorius’ Weltbild und damit indirekt über sein Verhältnis zu Lukrez aussagen. Victorius entnimmt die beiden mirabilia offenbar der literarischen Überlieferung und versucht, sie im Sinne des Christentums zu erklären. Das erste Beispiel findet sich in der ersten Erklärung der Divination. Victorius verweist hier auf die Gemme des Pyrrhus, in der ohne menschliche Bearbeitung die Musen und Apoll zu sehen gewesen sein sollen (V. 131sq.).710 Später nennt er die Fortuna des Galba, die einer (von ihm nicht weiter ausgeführten) Legende zufolge nach einem Traum vor der Tür des Kaisers stand (V. 158).711 In beiden Fällen zweifelt er die

|| 708 Die lateinische Konstruktion ist stark verknappt; wörtl. etwa: „Hierher stammt die Kunst, 〈zu deuten,〉 was die Faser zuckt, was die Feder zittert, was … Blitze bezeichnen“. 709 Lukrez behandelt zwar im sechsten Buch durchaus Ereignisse, die seinen Zeitgenossen wie mirabilia vorkommen mussten (z. B. das Phänomen, dass der Nil im Sommer mehr Wasser hat als im Winter, V. 712–737, oder dass eine Quelle nachts warmes und tagsüber kaltes Wasser hat, V. 848–878), doch handelt es sich hier immer noch um regelmäßige Naturphänomene, nicht um singuläre Wundergeschehnisse wie bei Victorius. 710 Pyrrhi gemma …, Musis et Apolline clauso / edita cum mundo … Die Legende ist überliefert bei Plin. Nat. 37,5: … regis alterius in fama est gemma, Pyrrhi illius, qui adversus Romanos bellum gessit. namque habuisse dicitur achaten, in qua novem Musae et Apollo citharam tenens spectarentur, non arte, sed naturae sponte ita discurrentibus maculis, ut Musis quoque singulis sua redderentur insignia (ähnlich auch Sol. 5,25; beide Stellen schon bei Schenkl 1888, 411, vgl. zuletzt Martorelli 2008, 178 mit Anm. 85f.). 711 … Galbae Fortuna … Die Legende ist überliefert bei Suet. Galb. 4,3 (schon genannt bei Schenkl 1888, 412): sumpta virili toga somniavit Fortunam dicentem, stare se ante fores defessam

288 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Überlieferung offenbar nicht an, deutet sie jedoch um: Die Gemme des Pyrrhus ist aus seiner Sicht nicht etwa ein Beleg für die Existenz der paganen Götter, sondern vielmehr ein Beispiel dafür, dass Gott schon bei der Schöpfung neben vielem anderen auch die „Lügen der Welt und spätere Erfindungen“ im Voraus angezeigt habe (mendacia mundi / prodidit anticipans et post fingenda notavit, V. 133sq.). Für die Fortunastatue macht er den Teufel verantwortlich, der sie vorgetäuscht habe (qui potuit … statuam tot fingere lustris, V. 159).712 Dass Victorius zusammen mit (bzw. vor und nach) den Naturphänomenen solche singulären mirabilia nennt, zeigt, wie sehr sich sein Denken trotz mancher Bezüge von dem des Lukrez unterscheidet: Für Victorius folgt die Welt zwar im Normalfall natürlichen Gesetzmäßigkeiten (so z. B. die Sterne, die sich seit der Schöpfung in festen Bahnen bewegen), allerdings ist sie grundsätzlich für übernatürliche Einwirkungen seitens Gottes oder auch des Teufels offen. Man könnte also sagen, dass Lukrez die Interpretation von Naturphänomenen als Götterzeichen für psychologisch schädlich hält, insofern sie dem Menschen seine Lebensqualität rauben,713 Victorius dagegen für frevlerisch, da sich die Menschen hierdurch ihm zufolge auf den Teufel einlassen. Einbettung in die Bibelparaphrase Im weiteren Fortgang weist die Digression immer weniger Berührungspunkte mit Lukrez auf. Dafür integriert Victorius nun auch biblisches Material in seine Darstellung. Dies ist bemerkenswert für die Einbettung der Digression in die biblische Erzählung. Das letzte biblische Ereignis, das Victorius vor der Digression erwähnt, ist der Tod Noahs (Gen. 9,29), das erste nach der Digression der || et nisi ocius reciperetur, cuicumque obvio praedae futuram. utque evigilavit, aperto atrio simulacrum aeneum deae cubitali maius iuxta limen invenit idque gremio suo Tusculum, ubi aestivare consueverat, avexit et in parte aedium consecratum menstruis deinceps supplicationibus et pervigilio anniversario coluit. 712 Victorius schließt hieraus, dass der Teufel auch die Gemme des Pyrrhus vortäuschen konnte (der vollständige Satz V. 158–160 lautet: nam gemmam Pyrri Galbae Fortuna refutat; / qui potuit quippe statuam tot fingere lustris, / et lapidem simulare potest). Martorelli 2008, 180 versucht den Widerspruch zu V. 130–134, wonach die Gemme von Gott stammt, mit der Erklärung aufzulösen, dass der Teufel sich des von Gott geschaffenen Zeichens zu seinen Zwecken bediene; dies passt jedoch nicht zum Ausdruck lapidem simulare, der suggeriert, dass erst der Teufel den Stein erzeugt und nicht schon vorfindet. Es bleibt der Eindruck einer Inkonsistenz, die vielleicht darauf hindeutet, dass Victorius letztlich nur der dritten Erklärung der Divination folgt. 713 Eine solche schädliche psychologische Wirkung beschreibt Lukrez in 6,68–78: Durch die falsche Vorstellung von göttlichem Zorn machten die Menschen sich selbst unnötige Angst.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 289

Turmbau zu Babel (Gen. 11,1sqq.); die Digression ersetzt also Gen. 10, den Stammbaum der Söhne Noahs. Immerhin einen Vertreter dieses Stammbaums greift Victorius aber doch auf, nämlich Nimrod (V. 166–169, vgl. Gen. 10,8–10). Die Nennung einer biblischen Figur mag nach den Beispielen aus dem römischen Reich etwas unerwartet kommen, inhaltlich sind die Verse jedoch ganz auf das Thema der religiösen Verfehlungen zugeschnitten. Victorius folgt hierbei einer auf der Vetus Latina basierenden Auslegungstradition, die in Nimrod – gegen den hebräischen Text – einen Riesen und einen „Jäger wider den Herrn“ sah (3,166–169):714 moxque parum sano genitus de stemmate Nembrod, mole et mente gigans, Babylonis praeditus aulae, Persarum capiens animos venator715 iniquus a veri sacris domini transduxit ad ignem. Bald darauf kam, aus wenig gesunder Ahnenreihe geboren, Nimrod, ein Riese an Masse und Geist, der dem Königshof Babylons vorstand; dieser fing der Perser Gemüt als ein ungerechter Jäger und führte sie von den Opfern des wahren Herren zum Feuer.

|| 714 Im Masoretischen Text von Gen. 10,8sq. heißt es über Nimrod lediglich, er sei „der erste Gewaltige auf der Erde“ (‫ ) ֣הוּא ֵה ֵ֔חל גִּ ֖בֹּר ָבּ ָ ֽא ֶרץ׃‬und ein „gewaltiger Jäger vor dem Herrn“ ָ ְ‫ר־ציִ ד ִל ְפ ֵנ֣י י‬ ֖ ַ ֹ‫וּא־ה ָי֥ה גִ ֽבּ‬ ָ ‫) ֽה‬. Die Septuaginta übersetzt missverständlich οὗτος gewesen (‫הו֑ה‬ ἤρξατο εἶναι γίγας ἐπὶ τῆς γῆς· (9) οὗτος ἦν γίγας κυνηγὸς ἐναντίον κυρίου τοῦ θεοῦ … In der Vetus Latina heißt es dann hic coepit esse gigans super terram (9) hic erat gigans venator ante dominum oder teilweise auch … contra dominum, wobei z. B. Augustinus, der beide Übersetzungen kannte, für die letztere eintrat (Civ. 16,4, weniger entschieden in Loc. hept. 1,30); auch der Heptateuchdichter folgt dieser Übersetzung (Gen. 377–379: Nembrodus … acro / venatu adsuetus et membris grandibus exstans / atque deum gaudens contra se adtollere sanctum …), ähnlich schon Prud. Ham. 142sq. (Nimrod als Exemplum für den Teufel: hic ille est venator atrox qui caede frequenti / incautas animas non cessat plectere, Nebroth …); vgl. auch Fischers Vetus-Latina-Edition mit dem Testimonienapparat zu Gen. 10,9. Dass Nimrod das Feuer verehrt habe, ist dagegen „jüdisches Sagengut, das auch in die christliche Literatur Eingang gefunden hat“ (Homey 1972, 95 Anm. 10), so etwa in die von Rufinus übersetzten pseudoclementinischen Recognitiones, wo auch bereits die Verbindung zu den als Feueranbeter bekannten Persern hergestellt ist (Rufin. Clement. 1,30,7): septima decima generatione apud Babyloniam Nebroth primus regnavit, urbemque construxit et inde migravit ad Persas eosque ignem colere docuit. Vgl. insgesamt Homey 1972, 94–96 und Martorelli 2008, 181. 715 Überliefert ist iniquus venerator; eine handschriftliche Eintragung in einem Exemplar der Morelius-Edition (Bodleian Library, Auct. S. V, 30) konjiziert dagegen venator. Auch wenn der überlieferte Text nicht sicher zu widerlegen ist, entscheide ich mich für venator, das sowohl zur biblischen Vorlage (nach der Vetus Latina: … gigans venator …) als auch zum vorangehenden capiens weitaus besser passt (iniquus venerator wäre zudem inhaltlich etwas unklar: schlechter Verehrer Gottes? ruchloser Verehrer des Feuers?).

290 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Durch den Verweis auf Nimrod gelingt es Victorius, seine eigentlich die chronologische Linie durchbrechende Digression wenigstens punktuell mit der fortlaufenden Erzählung der Genesis zu verzahnen und so die narrative (d. h. eher dem Epos entsprechende) und die systematische (d. h. eher dem Lehrgedicht entsprechende) Darstellungsweise zu kombinieren, wie es für sein Werk ja insgesamt charakteristisch ist. Die Erwähnung Nimrods leitet zugleich zu einer etwas breiter ausgeführten aitiologischen Erzählung über, die ebenfalls auf der Bibel basiert, wenn auch nicht auf der Genesis, sondern auf dem Buch Weisheit: Ein Vater habe aus Trauer um einen verstorbenen Sohn ein Standbild von diesem angefertigt, das er für lebendig hielt und verehrte (V. 174–185).716 Die Erzählung dient als Aition für die Idolatrie, die Gegenstand des zweiten Teils der Digression ist (V. 170–205). Interessant für das Thema dieser Arbeit ist die Passage insofern, als hier in die systematische Darstellung eine anschauliche und geradezu bewegende Erzählung eingelegt ist, deren Protagonist freilich anonym bleibt. Zusammenfassung Ziel dieses Teilkapitels war es, Lukrezbezüge in der Digression des dritten Buches herauszuarbeiten. Angesichts der Vielzahl der Quellen und Einflüsse, die Victorius in der betrachteten Passage verarbeitet und die hier noch nicht einmal vollständig genannt wurden, wäre es natürlich zu kurz gegriffen, die Digression ausschließlich als Reaktion auf Lukrez’ Ausführungen zur Entstehung der Götterverehrung zu interpretieren, zumal sich mögliche Bezüge zu Lukrez weitgehend auf den ersten Teil der Digression beschränken. Gleichwohl hat es sich als durchaus sinnvoll erwiesen, in der Digression auch einen Gegenentwurf zu Lukrez zu sehen, der wesentliche Punkte von Lukrez’ Religionskritik aufnimmt, dabei jedoch ein gänzlich anderes Welt- und Gottesbild entwirft.

|| 716 Vgl. Wsh. 14,15sq. (nach der Vulgata; die Vetus Latina ist für die Verse größtenteils nicht rekonstruiert, vgl. Thieles Edition im Rahmen der Vetus Latina): (15) acerbo enim luctu dolens pater cito sibi filii rapti faciens imaginem illum qui tunc homo mortuus fuerat nunc tamquam deum colere coepit et constituit inter servos suos sacra et sacrificia (16) deinde convalescente iniqua consuetudine hic error tamquam lex custodita est … Vgl. Homey 1972, 96 Anm. 12 zu weiteren Parallelen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 291

2.2.3.6 Verstreute Aussagen zur Kulturentstehung in B. 2 und 3 Auch außerhalb der beiden großen Digressionen finden sich über das Werk verstreut, vor allem aber in den ca. 150 Versen nach der ersten und ca. 100 Versen nach der zweiten Digression Aussagen, die sich als zum Thema der Kulturentstehung gehörig verstehen lassen. Anders als in den untersuchten Digressionen (abgesehen von der Nennung Nimrods) basieren die Überlegungen hier nun auf dem Bibeltext. Gleichwohl stellen sie eine Eigenleistung des kulturhistorisch interessierten Dichters dar, denn auch wenn in der Genesis die Geschichte der ersten Menschen erzählt wird, liegt dort das Interesse fast nie auf der Frage, wer etwas erfunden hat.717 Genau hierauf lenkt Victorius jedoch immer wieder den Blick. Auch hier zeigt er sich also mehr von der lehrgedichttypischen Frage nach der Kulturentstehung als von den Themen des Alten Testaments geleitet. Speziell – soviel sei vorausgeschickt – folgt er an den betreffenden Stellen dem Schema des πρῶτος εὑρετής (lat. primus inventor), das schon bei der Erfindung der Landwirtschaft eine Rolle spielt (vgl. oben S. 256). Weiteres zur Kulturentwicklung im zweiten Buch Die erste hier zu nennende Stelle bleibt noch im Andeutungshaften: Von Adam heißt es, er habe seinen Kindern „unbekannte Liebe“ gespendet (ignotos natis impendit amores, 2,198). Victorius lenkt so behutsam den Blick darauf, dass Adam und Eva die ersten sind, die eine Familie gründen – und damit für die Entwicklung der Menschheit einen wichtigen Schritt gehen, den auch Lukrez am Anfang seiner Kulturentstehungstheorie beschreibt, freilich ohne einen konkreten Erfinder zu benennen (vgl. Lucr. 5,1011–1018). Etwas deutlichere Hinweise auf die Kulturentwicklung finden sich in der Erzählung von Kain und Abel, in der mehrfach mit primus die Erstmaligkeit des Geschehens betont wird. So spricht Victorius im Zusammenhang mit Kains und Abels Opfer von der prima sacerdotum species (2,217). Die beiden Brüder erscheinen so als Erfinder der kultischen Gottesverehrung nach dem ‚informellen‘ Austausch zwischen Gott und den ersten beiden Menschen. Hiermit wird ein weiteres Thema angeschnitten, das Lukrez in seiner Kulturgeschichte behandelt (vgl. Lucr. 5,1161–1240; Victorius kommt auf das Thema der Gottesverehrung ausführlich in der Digression des dritten Buches zurück, vgl. oben Kap. 2.2.3.5). Noch deutlicher wird der Erfindergedanke nach dem Brudermord formuliert, wo Kain als auctor primus

|| 717 Zu einer Ausnahme siehe unten S. 302f.

292 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

(2,241) dieser ‚negativen Kulturtechnik‘ apostrophiert wird, womit die Idee des primus inventor fast schon wörtlich greifbar ist.718 Als πρῶτος εὑρετής im positiven Sinne tritt Kain dann nach seiner Bestrafung auf. Die Stelle verdient genauere Betrachtung. Der Sprecher preist in den betreffenden Versen Gottes Fürsorge für den schuldig gewordenen Kain und skizziert in diesem Zuge auch dessen weiteres Schicksal (2,308–313, der Erzähler redet Gott an): ipse vias veniae tacitas causamque ministras, qua valeas prodesse reo, quem prole sequenti augens multiplicas per nomina mille nepotum et proprii regem populi mox de patre summo constituis. primus nam cingere moenibus urbis erudiit, quod nemo potest nisi plebe coacta.

310

Du bereitest selbst stille Wege der Gnade und einen Grund, durch den du dem Schuldigen nützen kannst, den du durch die folgende Nachkommenschaft (310) über tausend Namen von Enkeln hinweg zu einer großen Menge werden lässt719 und vom Urvater bald zum König über ein eigenes Volk erhebst. Als erster nämlich hat er gelehrt, Städte mit Mauern zu umgeben, was man nur dann kann, wenn ein Volk versammelt ist.

Bemerkenswert ist hier zunächst das Verhältnis zur Vorlage. Im biblischen Bericht findet sich nur die knappe Notiz, Kain habe eine Stadt gebaut und nach seinem Sohn Henoch benannt (Gen. 4,17).720 Victorius leitet hieraus – nicht unplausibel, aber auch nicht zwangsläufig – ab, Kain habe befestigte Städte überhaupt erst erfunden und sei auch der erste König gewesen. Überdies stilisiert er ihn zu einem Lehrer, der der Menschheit seine Erfindung weitergibt (vgl. erudiit, V. 313). Mit dem Themenkomplex Städtegründung und Königsherrschaft deckt Victorius einen weiteren Punkt ab, den Lukrez in seiner Kulturentstehungstheorie behandelt (Lucr. 5,1105–1135). Was in den Versen sowohl im Vergleich zum πρῶτος-εὑρετής-Topos als auch im Vergleich zu Lukrez auffällt, ist, dass Victorius letztlich Gott selbst als Urheber des Geschehens darstellt, denn

|| 718 Noch wörtlicher taucht der Begriff übrigens in 1,488sq. auf (Gott redet die Schlange an: … primus ut esses / inventor mortis). Tatsächlich stehen beide Stellen auch in Zusammenhang miteinander, weil es an beiden um die Ausbreitung des Todes auf der Erde geht, im ersten Fall des Todes im Allgemeinen, im zweiten des gewaltsamen und gezielten Todes. Die Stellen sind insofern auch für Victorius’ Kulturgeschichte von Bedeutung, weil sie für die negativen Entwicklungen stehen, die die positiven technisch-kulturellen Errungenschaften begleiten. 719 Wörtl. „den du … mehrend vervielfachst“. 720 Nach Fischers Vetus-Latina-Edition (italischer Text): et cognovit Cain uxorem suam et concipiens peperit Enoch et erat aedificans civitatem in nomine filii sui Enoch.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 293

ihm zufolge ist dieser es ja, der Kain „mehrt und vervielfacht“ (vgl. augens multiplicas, V. 310) und zum König einsetzt (constituis, V. 312). Das Prinzip ist also ein ähnliches wie in der Digression des zweiten Buches: Victorius greift ein aus der paganen Literatur bekanntes Schema und Thema auf, setzt aber Gott in den Mittelpunkt. Ein ähnlicher Fall von freier Interpretation der biblischen Vorlage findet sich wenig später, wo es um Adams und Evas später geborene Nachkommen geht. In der Genesis heißt es hier in den lateinischen Übersetzungen lapidar, Sets Sohn Enosch habe gehofft oder angefangen, den Herrn anzurufen (Gen. 4,26).721 Ausgehend von dieser knappen und vagen Notiz stilisiert Victorius Enosch zum ersten Priester und Glaubenslehrer, womit er erneut das lukrezische Thema der Religionsentstehung aufgreift (2,326–331):722 huius quippe viri de semine proditus Enos, qui primus tacita lectus virtute sacerdos posse ciere piis precibus et nomine vero speravit meruitque deum populumque secutum imbuit aeterni cultum servare parentis auxilioque sacro, qua vita exposceret, uti …

330

Denn aus dem Samen dieses Mannes ging Enosch hervor, der zuerst, in stiller Kraft zum Priester erkoren, hoffte und erlangte, Gott mit frommen Bitten und seinem wahren Namen bewegen zu können, und das folgende Volk (330) unterwies, die Verehrung des ewigen Vaters zu wahren und die heilige Hilfe, wie es das Leben verlangt, zu nutzen

Weiteres zur Kulturentwicklung im dritten Buch Nach der Digression des dritten Buches kommt das kulturhistorische Interesse noch einmal bei der babylonischen Sprachverwirrung zum Tragen, die Victorius im dritten Buch behandelt. Nachdem er den Turmbau selbst und Gottes Eingreifen dargestellt hat (3,210–269, vgl. Gen. 11,1–7), geht Victorius ausführlich auf || 721 Nach Fischers Vetus-Latina-Edition (italischer Text, Subjekt ist Enos): hic speravit invocare nomen domini dei, nach der Vulgata: iste coepit … Victorius scheint mit primus (V. 227) und speravit (V. 229) beide Übersetzungen zu kombinieren, wie er es auch an einigen anderen Stellen tut, vgl. oben Anm. 45. Im Masoretischen Text heißt es hier allgemeiner: „Damals fing man an, den Namen des Herrn anzurufen“ (‫הוֽה׃‬ ָ ְ‫הוּחל ִל ְק ֖ר ֹא ְבּ ֵ ֥שׁם י‬ ַ֔ ‫) ָ ֣אז‬. 722 Die Aussage steht in gewisser Konkurrenz zu 2,217, wo Kain und Abel als prima sacerdotum species bezeichnet wurden. Hier scheint Victorius eine Unachtsamkeit unterlaufen zu sein, wobei der Widerspruch nicht allzu groß ist, da Kain und Abel durch ihr Opfer lediglich eine ‚Art‘ oder ‚Vorform‘ (vgl. species) von Priestern sind, während Enosch durch die Anrufung Gottes in einem eigentlicheren Sinne Priester ist.

294 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

die Folgen der Sprachverwirrung ein (3,270–302, vgl. Gen. 11,8sq.). Dabei beschreibt er eingehend, wie sich durch die verschiedenen Sprachen neue Stammesstrukturen bilden (3,271–275): iam nemo propinquum, nemo patrem sequitur; quem quisque intellegit 〈aptat〉 adglomeratque sibi; periit cognatio tota, gentem lingua facit; sparguntur classibus aequis diductasque petunt vario sub sidere terras. 275 Schon folgt niemand mehr einem Verwandten, niemand mehr seinem Vater; wen einer versteht, nimmt er zu sich und schließt ihn an sich an; vergangen ist alle Verwandtschaft, Sprache macht einen Stamm; sie zerstreuen sich in Klassen von Gleichen (275) und ziehen in getrennte Länder unter verschiedenem Stern.

Indem Victorius über die biblische Vorlage hinaus so explizit auf die Entstehung neuer Stammesstrukturen hinweist, greift er ein weiteres Thema der lukrezischen Kulturgeschichte auf (vgl. Lucr. 5,1019–1027). Freilich ist hier einschränkend hinzuzufügen, dass es Lukrez um die ersten Stammesgründungen überhaupt geht, während Victorius im Anschluss an die Genesis gewissermaßen eine sekundäre Ethnogenese beschreibt, bei der das Verwandtschaftssystem durch das Prinzip der gemeinsamen Sprache ersetzt wird.723 Ähnliches gilt für die Sprache selbst: Auch deren Ursprung ist ein lukrezisches Thema (vgl. Lucr. 6,1028–1090), doch auch hier fragt Lukrez nach den ersten Anfängen, während die Alethia bzw. die Genesis lediglich die Diversifikation der Sprachen erklären. Jabal, Jubal und Tubal-Kain: Desinteresse an biblischen Vorgaben? Blicken wir zurück: In den behandelten Stellen (freilich am wenigsten bei der letzten) war mehrfach zu beobachten, dass Victorius aus knappen Andeutungen im Bibeltext regelrechte Erfindungsgeschichten oder Erfinderporträts entwickelt. Umso bemerkenswerter ist es, dass er einige andere Bibelverse, in denen vergleichsweise explizite Aussagen über Kulturstifter enthalten sind, völlig übergeht. Unmittelbar nach der erwähnten Notiz, Kain habe eine Stadt gebaut (Gen. 4,17), werden nämlich Kains Nachkommen als Stammväter bestimmter ‚Berufsgruppen‘ dargestellt (Jabal für nomadisierende Viehhalter, Jubal für || 723 Für die primäre Ethnogenese ist bei Victorius allenfalls an 2,311 zu denken (im Kontext zitiert auf S. 299), wo es über Kain heißt, er sei König über sein eigenes Volk (populus) geworden. Die Stelle legt nahe, dass das Volk aus seinen eigenen Nachkommen bestand, und so kann man schließen, dass Völker zunächst nach dem Verwandtschaftsprinzip entstehen.

Themen mit Bezug zur lehrdichterischen Tradition | 295

Musiker, Tubal-Kain für Schmiede, Gen. 4,20–22).724 Die Verse stellen eine Besonderheit im Alten Testament dar, das sonst kein besonderes Interesse an menschlichen Erfindern zeigt und eher Gottes Rolle bei der kulturellen Entwicklung der Menschheit betont.725 Umso mehr muss man sich fragen, warum der so sehr an der kulturellen Entwicklung der Menschheit interessierte Victorius ausgerechnet diese Verse nicht verarbeitet hat. Eine erste, für sich genommen sicherlich noch nicht ausreichende Erklärung wäre, dass Victorius hier wie auch sonst die Häufung von Namen zu vermeiden sucht (speziell Geschlechtsregister lässt er generell weitgehend aus).726 Noch wichtiger dürfte jedoch sein, dass die Verse mit Victorius’ eigener Kulturentstehungserzählung in Konflikt geraten würden. Zumindest die ersten Ansätze zur Landwirtschaft und zur Metallverarbeitung – freilich nicht zur Musik – hat er ja bereits durch den Waldbrand bekannt werden lassen und damit Adam und Eva zugeschrieben. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Victorius den aus dem Bibeltext abgeleiteten ‚Erfindungen‘ Kains und Enoschs im Gegensatz zu denen der Kain-Nachkommen sehr wohl Raum einräumt, denn ebendiese Aspekte – Stadtgründung und Königsherrschaft, Gottesverehrung und Priestertum – waren in der Digression des zweiten Buches noch nicht behandelt worden (und in der Tat hätten sie sich schwer mit dem Waldbrand in Verbindung bringen lassen). Zusammenfassung Die in diesem Teilkapitel behandelten Stellen bilden eine punktuelle Fortsetzung und Ergänzung der Kulturentstehungserzählung in 2,6–196. Insgesamt gelingt Victorius es mit den beiden Digressionen und den hier besprochenen

|| 724 Nach Fischers Vetus-Latina-Edition (italischer Text, in 21a Typ A): (20) et peperit Ada Iobel hic erat pater habitantium in tabernaculis pecuariorium (21) et nomen fratris eius Iobal hic fuit qui ostendit psalterium et citharam (22) Sella autem peperit et ipsa Tobel et erat malleator et aerarius aeramenti et ferri … 725 Beispielhaft sei auf Gen. 3,21 verwiesen, wonach Gott den Menschen nach dem Sündenfall die erste Kleidung gab. Zum weitgehenden Fehlen des Erfindergedankens vgl. Thraede 1962, 1241: Dem AT „fehlt die griech. Frage nach dem Anfang der Welt … Am ehesten gehören noch Jubal als ‚Stammvater‘ der Zither und Schalmeispieler u. Tubalkain als ‚Stammvater‘ der Erzverarbeitung (Gen. 4, 21 ff) in die Nachbarschaft zu außerisraelischen Archegeten.“ 726 Hier spielt natürlich die Schwierigkeit, die hebräischen Namen ins Metrum einzupassen, eine Rolle, wobei die hier relevanten Namen (nach Fischers Vetus-Latina-Edition Iobel, Iobal und Tobel, nach der Vulgata Iabel, Iubal und Thubalcain) keine unüberwindlichen Probleme bereitet hätten.

296 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Stellen, einen erheblichen Teil der Kulturtechniken zu berücksichtigen, die Lukrez in seinem fünften Buch behandelt hat.727 Victorius richtet seine kulturhistorischen Darlegungen demnach weniger an den Andeutungen in der Genesis als an lehrdichterischen Vorbildern aus, wobei er sich freilich immer wieder aus christlicher Perspektive gegen diese Vorbilder wendet. Seine Kulturentstehungstheorie kann damit eine für die Bibeldichtung bemerkenswerte Selbständigkeit gegenüber der Bibel für sich beanspruchen.

2.3 Zwischenfazit Im zweiten Hauptteil dieser Arbeit ging es um Szenen und Themen, in denen Victorius an die epische oder an die lehrdichterische Tradition anknüpft. In beiden Bereichen ließen sich mehrere Abschnitte finden, in denen Victorius mehr oder weniger offensichtlich pagane Dichter als Vorlage oder Folie für seine eigene Darstellung verwendet. In den episch beeinflussten Szenen ließ sich als konkretes Vorbild mehrfach Vergil ausmachen, bei den lehrdichterischen Themen war es vor allem Lukrez, der immer wieder als Imitationsquelle und Kontrastfolie zu nennen war (so ja bereits in der precatio). Wenngleich Victorius, wie in Kap. 1 herausgearbeitet, in seiner poetischen Technik weitgehend als Kind seiner Zeit gelten kann, verarbeitet er inhaltlich also hauptsächlich klassische Autoren. Auch hiermit folgt er indes bis zu einem gewissen Grad seiner Zeit, da der spätantiken Poesie und speziell der Bibeldichtung insgesamt eine klassizistische Grundtendenz zu eigen ist und gerade Vergil bei Heiden wie Christen generell höchste Wertschätzung genießt (womit freilich weder die Beschäftigung mit vor- und nachklassischen Autoren noch die Entwicklung neuer Formen ausgeschlossen ist).728 || 727 Von Victorius behandelt sind (in der Reihenfolge ihres Auftretens bei Lukrez): Familiengründung (durch Adam und Eva, vgl. Lucr. 5,1011–1018), Zusammenschluss von Stämmen/Völkern (nach der babylonischen Sprachverwirrung, vgl. Lucr. 5,1019–1027), Sprache (ebenfalls durch die babylonische Sprachverwirrung, wobei die Entstehung der ersten, gemeinsamen Sprache nicht erklärt wird, vgl. Lucr. 5,1028–1090), Feuer (beim Waldbrand, vgl. Lucr. 5,1091– 1104), Städtegründung und Königsherrschaft (durch Kain, vgl. Lucr. 1105–1135), Gottesverehrung (ansatzweise durch Kain und Abel, dann durch Enosch, vgl. Lucr. 5,1161–1240) und Metalle (beim Waldbrand, vgl. Lucr. 5,1241–1296); es fehlen u. a. Webkunst (Lucr. 5,1350–1360), Musik (Lucr. 5,1379–1435). Über Lukrez hinaus geht Victorius im Bereich der Landwirtschaft (vgl. immerhin Lucr. 5,1361–1378 zur Baumzucht und das Stichwort agri culturae in 5,1448). 728 Vgl. zu den klassizistischen Tendenzen Döpp 1988, 41f. und Kirsch 1989, 35 (siehe auch sein Register s. v. „Klassizismus“, S. 280), zur Bedeutung Vergils für die Bibeldichter Malsbary 1985, 62.

Zwischenfazit | 297

Was die Formen und den Umfang des Bezugs angeht, traten bei der Verarbeitung epischer Szenen und lehrdichterischer Themen erhebliche Unterschiede zutage. An Szenen aus dem Epos lehnt Victorius sich nur sehr punktuell an. Textpassagen, die sich mit Szenen des Epos in Verbindung bringen lassen, begegnen erst ab dem zweiten Buch, solche, bei denen man von einer deutlichen Episierung sprechen kann, erst im dritten Buch, und auch hier nur vereinzelt (Schlacht- und Zukunftsschauepisode). Die Verteilung der Passagen im Werk entspricht der schon in Kap. 1 geäußerten Beobachtung, dass die Alethia sich im Laufe der drei Bücher ans Epos annähert. Zugleich ist jedoch klar, dass Victorius sich längst nicht so sehr am Epos orientiert, wie er könnte. Die biblische Vorlage hätte fraglos Möglichkeiten für weitere epische Szenen geboten: Die Sintflut hätte sich, wie schon erwähnt, zu einer vergilischen Sturmschilderung ausbauen lassen; Götterreden wie diejenige vor der Erschaffung des Menschen oder vor der Sprachverwirrung, bei denen schon der Bibeltext den Eindruck erweckt, dass Gott vor dem himmlischen Hofstaat spricht, hätten deutlicher im Sinne einer Götterratsszene gestaltet werden können;729 zwischenmenschliche Begegnungen hätten zu epischen Dialogszenen durchgeformt, die Erscheinung der drei Männer in Mamre nach dem Vorbild einer epischen Bewirtungsszene ausgemalt werden können usw. Hinzu kommt, dass der Eposbezug auch in den untersuchten Szenen meist auf wenige Motive oder Formulierungen beschränkt ist. Am weitesten geht die Imitation in der Schlachtepisode, doch selbst hier ergibt sich eher ein ‚best of‘ epischer Versatzstücke als eine ausgeführte epische Szene. Dass Victorius sich nur in so beschränktem Umfang am Epos orientiert, lässt sich vielleicht damit erklären, dass er zwar einige Proben seiner traditionell-epischen Darstellungskunst geben wollte, seine biblische Erzählung aber insgesamt nicht zu sehr mit dem mythologischen Epos in Verbindung bringen wollte, dessen Werte er als Christ nur bedingt teilte. Darüber hinaus wird hieran jedoch deutlich, dass die wesentliche Referenzgattung für ihn eine andere war, nämlich das lukrezische Lehrgedicht. Partien mit Bezug zum Lehrgedicht und speziell zu Lukrez finden sich bevorzugt an exponierten Stellen des Werks, so – nach der ebenfalls schon an Lukrez angelehnten precatio – die Kosmogoniedarstellung am Anfang des ersten und die Kulturentstehungslehre am Anfang des zweiten Buches. Im Vergleich zu den episierenden Szenen sind die Behandlungen der beiden lehrdichterischen Themen weitaus ausführlicher. Hinzu kommen die Paradiesbeschreibung, die die Kulturentstehungslehre vorbereitet, sowie die zahlreichen || 729 Ein schwacher Ansatz dazu findet sich in 3,246 (cum pater haec propriis regnis consortibus infit), wo aber abgesehen von einem Dialog jegliche visuelle Ausgestaltung fehlt.

298 | Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition

Fortsetzungen der Kulturentstehungserzählung im zweiten und dritten Buch, einschließlich der Digression des dritten Buches, wenn man der oben vorgestellten Deutung folgt. Anders als die punktuellen und unzusammenhängenden Bezüge zum Epos umspannen diejenigen zum Lehrgedicht also fast das gesamte Werk und sind (abgesehen von einigen für sich stehenden naturwissenschaftlich interessierten Einlagen) miteinander verbunden. Der wesentliche Referenztext ist das fünfte Buch von Lukrez’ De rerum natura, das mit der Entstehung von der Welt und der Zivilisation zwei grundlegende Themen mit der Alethia teilt und das Victorius bei der Entdeckung der Metalle sogar ganz offen imitiert. Der Bezug zu Lukrez unterscheidet sich von dem zu Vergils Aeneis allerdings nicht nur durch seinen systematischen und umfassenden Charakter, sondern auch durch seine polemische Ausrichtung. Victorius setzt Lukrez’ epikureischrationalistischem Ansatz, in dem (zumindest nach Victorius’ Verständnis) der Zufall die wesentliche Triebkraft ist, eine Erzählung entgegen, in der die bleibende Fürsorge Gottes für die Menschen im Zentrum steht, zugleich aber auch einzelne Menschen eine größere Rolle spielen. Die Idee, dass die Not nach der Vertreibung aus dem Paradies die Menschen zu Erfindungen treibt, erinnert dabei stark an Vergils Georgica, die sich ihrerseits gegen den lukrezischen Rationalismus wenden. Insgesamt lässt sich die Alethia somit als eine christliche Gegendarstellung zum fünften Lukrezbuch lesen, die zwar auf der biblischen Erzählung aufbaut, sich gerade beim Thema der Kulturentstehung aber mehr am Lehrgedicht als am Bibeltext orientiert. Interessant ist zuletzt noch die Frage, was für ein Gesamtbild Victorius von der Welt- und Menschheitsentwicklung entwirft. Grob betrachtet lassen sich seit den frühesten Zeugnissen eine kulturpessimistische deszendente und eine optimistische aszendente Theorie unterscheiden, wobei die deszendente Theorie vor allem durch den zuerst bei Hesiod belegten Zeitaltermythos repräsentiert wird, während die aszendente Theorie in den rationalistischen Konzepten der vorsokratischen Philosophie aufkommt.730 Freilich treten die Konzepte gerade in späterer Zeit nicht immer in Reinform auf: Lukrez vertritt im Grundsatz die rationalistische aszendente Theorie, benennt aber auch die negativen Aspekte der einzelnen Entwicklungsstadien.731 Vergil geht in den Georgica zwar vom deszendenten Zeitaltermythos aus, allerdings verschlechtert sein Juppiter die äußeren Bedingungen nur mit dem Ziel, das technisch-kulturelle Niveau zu heben. Victorius’ Konzept ist trotz der grundsätzlichen Nähe zu Vergil wiederum etwas

|| 730 Vgl. zur groben Einteilung Bömer 1969, 47, differenzierter Manuwald 2003, 124–128. 731 Ausführlich zum Verhältnis von Aszendenz und Kulturkritik bei Lukrez Manuwald 1980, 51–61; vgl. auch die Beispiele bei Manuwald 2003, 133f.

Zwischenfazit | 299

anders: Bei ihm hat der Mensch an sich eine deszendente Tendenz, die sich im ersten Buch im Sündenfall, im zweiten in Kains Brudermord und der Verderbnis der Menschen vor der Sintflut, im dritten schließlich im Aufkommen des Aberglaubens, dem Hochmut der Turmbauer und der Gottlosigkeit der Sodomiten niederschlägt. Dass es trotzdem auch Ansätze zu einer aszendenten Entwicklung gibt, verdanken die Menschen demnach Gottes Hilfe, durch die sie nach der Vertreibung aus dem Paradies grundlegende Kulturfertigkeiten entdecken. Davon abgesehen wird die negative moralisch-religiöse Entwicklung der Menschheit insofern durchbrochen, als größere Glaubenshelden auftreten, so nach dem eher ambivalenten Adam erst Noah, dann Abraham, der eine besonders intime Beziehung zu Gott hat. Zu guter Letzt wird die deszendente Menschheitsentwicklung dadurch relativiert, dass immer wieder Ausblicke auf Christus gegeben werden, der den Menschen gleichsam wieder zu Gott emporheben kann. Insgesamt vermittelt die Alethia somit die Lehre, dass sich die Menschheit nur in Verbundenheit mit Gott positiv entwickeln kann, wobei Gott mit seiner Hilfe sogar ein menschliches Vergehen wie den Sündenfall zum Guten wenden kann.

Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung In den beiden Teilen dieser Arbeit wurde aus unterschiedlichem Blickwinkel gezeigt, dass Victorius sowohl die epische als auch die lehrdichterische Tradition intensiv rezipiert und nicht selten Einflüsse beider Gattungen miteinander vermischt. Im Bereich der poetischen Technik (Kap. 1) ließen sich dabei zu Epos und Lehrgedicht etwa gleich viele und enge Bezüge feststellen; hinsichtlich der Szenen und Themen mit Bezug zur epischen und lehrdichterischen Tradition (Kap. 2) fiel dagegen auf, dass sich Victorius mit den betreffenden lehrdichterischen Themen gründlicher und umfassender auseinandersetzt als mit den imitierten epischen Szenen. In beiden Teilen ließ sich beobachten, dass der Einfluss des Epos im Laufe des Werks zunimmt, der des Lehrgedichts dagegen zurückgeht. Anstelle einer ausführlicheren Wiederholung der Ergebnisse, die bereits in den Zwischenfazits geleistet wurde, soll nun abschließend der bisher nur am Rande beachteten Frage nachgegangen werden, wie sich Victorius mit der herausgearbeiteten Stellung zwischen Epos und Lehrgedicht in die christliche Dichtung der Spätantike und speziell in die Bibeldichtung einordnen lässt, d. h. in welchen Punkten er sich in die christliche Dichtungstradition einfügt, in welchen er sich von ihr abhebt. Zu Beginn seien einige wichtige Aspekte genannt, die Victorius mit anderen christlichen Dichtern seiner Zeit teilt. Hierzu zählt zunächst die Anknüpfung an Vorbilder in der paganen Epik, die sich sowohl in der poetischen Technik als auch in der Gestaltung bestimmter Szenen feststellen ließ. Wie schon in der Einleitung erwähnt, nimmt die lateinische Bibeldichtung seit ihren Anfängen bei Juvencus massiv auf das pagane Epos Bezug, und zwar sowohl explizit durch poetologische Aussagen als auch implizit durch die Gestaltung der Erzählung. Hauptanknüpfungspunkt ist dabei Vergil, der seine überragende Stellung als Schulautor in der christlichen Spätantike behielt und sich auch bei Victorius als wichtigstes Vorbild für die Gestaltung episierender Szenen und bestimmter epischer Darstellungselemente erwiesen hat.732 Indem Victorius sein Werk stellenweise in epischer Manier ausgestaltet

|| 732 Auf die Bedeutung Vergils für die Bibeldichtung weist auch Malsbary 1985, besonders 62 hin („One of the most important characteristics of this milieu [d. h. der Bibelepik, TKT] was the reverence felt for Vergil, and although other Latin poets (both old and contemporary, pagan and Christian) were also widely used, the places where Vergilian phrases, lines, or ideas can be

Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung | 301

und hierbei vor allem auf Vergil zurückgreift, erfüllt er also lediglich die Erwartungen an die Gattung Bibeldichtung, ja es fällt sogar eher auf, dass er nirgends explizit auf das pagane Epos oder bestimmte Gattungsvertreter verweist, wie es die meisten Verfasser längerer Bibeldichtungen tun. Wie die generelle Anknüpfung an die pagane Epik, so teilt Victorius auch die subjektive Erzählweise, die den Einfluss der nachklassischen und spätantiken Epik verrät, mit den meisten anderen Vertretern seiner Gattung. Auch bei anderen Bibeldichtern macht sich der Erzähler immer wieder bemerkbar und greift mit Erläuterungen und Wertungen in die Darstellung ein,733 und auch andere Bibeldichter lassen hierbei, wie bereits erwähnt, den Einfluss Lukans erkennen (vgl. oben S. 87 mit Anm. 227). Letztlich streben alle Bibeldichter ähnlich wie Victorius danach, implizit und explizit Gottes Lobwürdigkeit herauszustellen, sind also mehr oder weniger offensichtlich enkomiastisch ausgerichtet. Die aufgestellte These, die Alethia lasse sich (zumindest auch) als Gegenentwurf zur menschenzentrierten panegyrischen Epik, also gleichsam als gottzentrierte Panegyrik, verstehen, gilt daher, wie bereits angedeutet, bis zu einem gewissen Grad für die gesamte Bibeldichtung (vgl. oben S. 88 und S. 179). Ein weiteres Merkmal, das sich auch bei anderen Bibeldichtern finden lässt, ist die in der Alethia immer wieder beobachtete Eingliederung lehrhafter Elemente in die Erzählung. Freilich unterscheiden sich die einzelnen Bibeldichter hier deutlich voneinander, und so ist hier zunächst ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Bibeldichtung nötig: Sowohl die alttestamentliche als auch die neutestamentliche Bibeldichtung durchläuft vom 4. bis zum 6. Jh. einen erheblichen Wandel. Am Anfang steht in beiden Traditionen eine vorwiegend paraphrasierende Form, die den Bibeltext ohne größere Zusätze in Dichtung umsetzt (vertreten durch Juvencus bei den NT-Dichtern, den Heptateuchdichter bei den AT-Dichtern).734 Im Laufe der Zeit wird der Bibeltext dann immer stärker erweitert, wobei die neutestamentlichen Bibeldichter (Sedulius, Arator)735 hauptsächlich einen immer größeren Anteil von lehrhaft-exegetischen Kommentaren in den Bibeltext inkorporieren, während sich die alttestamentlichen Dichter (Victorius, Avitus) immer weiter in Richtung einer freien Nacherzählung oder

|| recognized are particularly well-suited for illustrating the cultural synthesis of the late antique biblical epic“). 733 Vgl. Hecquet-Noti 2009, die Juvencus, Sedulius und Arator in dieser Hinsicht untersucht. 734 Die Aussage steht unter dem Vorbehalt, dass das chronologische Verhältnis des Heptateuchdichters und des Victorius nicht völlig sicher ist, vgl. oben Anm. 270. 735 Ich übergehe hier wie auch bei den alttestamentlichen Bibeldichtern kleinere anonyme Werke.

302 | Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung

Nachempfindung entwickeln, die freilich ebenfalls exegetische Elemente enthält.736 Die Alethia nimmt aus dieser Perspektive eine Mittelstellung in der Entwicklung der Bibeldichtung ein: Mit ihrem ausgeprägten, aber noch nicht dominierenden Anteil an Didaxe hebt sie sich, wie zu erwarten, von der Evangeliendichtung des Juvencus oder der Heptateuchparaphrase deutlich ab. Zugleich steht sie mit ihrer meist recht kleinteiligen Verbindung von Erzählung und Kommentar noch recht nahe am Bibeltext und ist insofern auch noch nicht mit der freieren Genesisnachdichtung des Avitus zu vergleichen, in der erzählende und kommentierende Partien zudem klarer voneinander getrennt sind. Unter den größeren erhaltenen Bibeldichtungen lässt sich die Alethia am ehesten mit dem ebenfalls in der ersten Hälfte des 5. Jh. entstehenden Carmen paschale des Sedulius vergleichen. Ähnlich wie bei Victorius halten sich auch hier Erzählung und Lehre aufs Ganze gesehen etwa die Waage (mit unterschiedlicher Gewichtung in den einzelnen Büchern: Buch 1 ist besonders sachorientiert, die späteren meist stärker narrativ), und tatsächlich wurde in der Forschung auch im Hinblick auf das Carmen paschale diskutiert, ob das Werk eher als Epos oder als Lehrgedicht gelten kann.737 Mit ihrer Verbindung von Erzählung und Lehre entspricht die Alethia also dem Entwicklungsstand der Bibeldichtung in der ersten Hälfte des 5. Jh. Eine formale Eigenart lässt sich allenfalls in Victorius’ Neigung sehen, Erzählung und Kommentar in oft hochkomplexen Satzgefügen miteinander zu verschrän-

|| 736 Gute Bemerkungen zu dieser Entwicklung finden sich z. B. bei Kartschoke 1975, 81 („[D]er Weg von Juvencus bis Arator ist ebenso weit wie der von Cyprian zu Avitus, nur die Richtung ist verschieden. Die Paraphrasen des Juvencus und des Cyprian sind noch durchaus vergleichbar … Die fünf Bücher De spiritalis historiae gestis des Avitus und Arators De actibus apostolorum … sind als freie Nacherzählung und dunkler theologischer Kommentar Gegensätze und Endpunkte“) und bei Roberts 1985, 181 („The New Testament poetry is characterized by the increasing incorporation of interpretative material into the biblical narrative … The development of the Old Testament poetry is very different“). Die Gemeinsamkeiten der Entwicklung alt- und neutestamentlicher Bibeldichtung betonen z. B. Thraede 1962a, 1026 (in beiden Fällen Entwicklung von einer „historisch-grammatischen“ zu einer „rhetorisch-didaktischen“ Form) und Kirsch 1979, 47 (Ausbreitung der Didaxe bis zu Arator). 737 Vgl. Kirsch 1979, 46 Anm. 35 („Ich neige daher dazu, das Werk des Sedulius als Lehrgedicht zu klassifizieren …“), Kartschoke 1975, 42 („Das Carmen paschale präsentiert sich also nicht als Lehrgedicht …“) und Smolak 1999, 15 (die in Sedul. Carm. pasch. 1,37–59 bekundete missionarische Absicht „enthält eine Aussage über die Gattung, welcher der Dichter selbst sein Werk zuordnete: die Lehrdichtung“; weitere Argumente zur Lehrgedichtzugehörigkeit auf S. 15f.). Einen guten Überblick über die Gewichtung von Erzählung und Lehre und die Bezüge zum Epos bieten die Kapitel „Epic“ und „Exegesis“ bei Green 2006, 209–244.

Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung | 303

ken. Victorius nutzt die erklärenden Zusätze dabei vielfach, um Episoden oder Handlungselemente, die in der Bibel lediglich aneinandergereiht werden, in einen gleichsam hypotaktischen Zusammenhang zu stellen, was seiner Darstellung eine im Rahmen der Bibeldichtung ungewöhnlich hohe Kohärenz verleiht, mitunter aber zulasten der Verständlichkeit geht.738 Bemerkenswerter und bezeichnender für Victorius ist jedoch ein anderer Aspekt, der mit der didaktischen Ausrichtung zusammenhängt: Wie sich in beiden Teilen dieser Arbeit gezeigt hat, knüpft Victorius über die generelle Lehrhaftigkeit hinaus auch an das pagane Lehrgedicht und konkret an Lukrez an. Schon die hymnische Einleitung, in der Victorius sich (mit gewissen Brüchen) als Lehrdichter lukrezischen Typs präsentiert (Kap. 1.1.1), ist in dieser Form in der erhaltenen Bibeldichtung singulär.739 Ebenso außergewöhnlich ist das starke wissenschaftliche Interesse, das die Alethia durchzieht (erinnert sei vor allem an die Darstellung der Kosmogonie und der Kulturentstehung, die gemeinsam einen breitangelegten christlichen Gegenentwurf zum fünften Lukrezbuch bilden, Kap. 2.2; vgl. aber auch die meteorologisch interessierte Sintflutdarstellung, Kap. 2.1.5). Hinzu kommen einige Ausdrucksformen, die in der Bibeldichtung unüblich oder selten sind, dafür aber direkte Parallelen in der paganen Lehrdichtung haben, so das Proöm vor dem zweiten Buch, das dem Vorbild von Vergils Georgica folgt (Kap. 1.1.2), die Reihung von Deutungsmöglichkeiten mit sive – sive, die vor allem an Lukrez erinnert (Kap. 1.3.3), und bestimmte disponierende Zwischenbemerkungen, die den Stil der Lehrdichtung insgesamt aufzugreifen scheinen (Kap. 1.2.3).740 Bis zu einem gewissen Grad kann Victorius also tatsächlich seiner Selbstdarstellung gemäß als Erbe des paganen Lehrgedichts und als christlicher Nachfolger und Korrektor des Lukrez gelten. Indem er zusätzlich zum paganen Epos auch und gerade das pagane Lehrgedicht und speziell einen seiner bedeutendsten Vertreter rezipiert, geht Victorius einen bedeutenden Schritt über die in der Bibeldichtung allgemein gängige Verbindung von Erzählung und Lehre

|| 738 Am nächsten kommt Victorius auch hier Sedulius, der stellenweise zu ähnlich komplexer Syntax neigt, diese aber selten dazu verwendet, der Erzählung Kohärenz zu verleihen. 739 Am ehesten vergleichbar ist erneut Sedulius, der zumindest einen Teil seiner Einleitung als Gebet formuliert (Carm. pasch. 1,60–95, eingeleitet mit omnipotens wie Aleth. prec. 2; vgl. Smolak 1999, 15, der das Gebet als weiteren Bezug zwischen Sedulius und der Lehrdichtung deutet). 740 Einzelne disponierende Zwischenbemerkungen finden sich auch bei anderen Bibeldichtern des 5. Jh., vgl. die von Hecquet-Noti 2009, 200f. angeführten Beispiele aus Sedulius und Avitus (rettulimus, dicemus, dicam u. ä.), die freilich schon quantitativ nicht an Victorius heranreichen.

304 | Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung

hinaus. Freilich ist Victorius nicht der einzige christliche Dichter der Spätantike, in dessen Werk sich Bezüge zu Lukrez entdecken lassen.741 Gut herausgearbeitet ist der Lukrezeinfluss etwa bei Prudentius, für den der epikureische Lehrdichter besonders in den epischen und didaktischen Werken ein wesentlicher Bezugsautor ist.742 Aber auch in anderen bibeldichterischen Werken sind Bezüge zu Lukrez beobachtet worden: Schon die ersten Verse der Praefatio von Juvencus’ Evangeliorum libri, in denen die Vergänglichkeit der Welt betont wird, nehmen möglicherweise kritisch auf lukrezisches Gedankengut Bezug.743 Mehr und deutlichere Lukrezbezüge finden sich jedoch in Werken, die nach der Alethia entstanden sind: Besonders ergiebig sind die beiden kürzeren, ursprünglich zusammengehörigen Werke Metrum in Genesin und Carmen de Evangelio, die unter dem Namen des Hilarius von Poitiers überliefert sind, vermutlich aber erst unter Papst Leo I. (440–461) entstanden sind.744 Der Verfasser spielt vor allem am Werkbeginn mit dem lukrezischen Venushymnus und der folgenden Epikuraretalogie, zeigt sich aber auch sonst mit Lukrez wohlvertraut.745 Ps.-Hilarius setzt sich dabei nicht so offen polemisch mit Lukrez auseinander, wie Victorius es stellenweise tut, sondern scheint ihn eher durch verbale und strukturelle Anlehnungen überbieten zu wollen.746 Das gängige Forschungsurteil, wonach Ps.-Hilarius dem Victorius an Raffinesse und Eleganz im Umgang mit Lukrez überlegen ist,747 wäre freilich im Lichte dieser Arbeit, die || 741 Einen guten Überblick bietet Deufert 2009, 617–619; vgl. auch S. Gatzemeier, Ut ait Lucretius. Die Lukrezrezeption in der lateinischen Prosa bis Laktanz, Göttingen 2013 sowie W. Schmid, Art. „Epikur“, in: RAC 5, Stuttgart 1962, 681–819, hier 786–790 (zur Lukrezkenntnis bei spätantiken Prosaautoren bis Isidor von Sevilla). 742 Vgl. Deufert 2009, 618f., der eine Reihe von Beispielen aus verschiedenen Werken nennt (dort auch weitere Literaturangaben). 743 Iuvenc. praef. 1: immortale nihil mundi compage tenetur … Zu den möglichen Lukrezbezügen R. P. H. Green, Approaching Christian epic. The preface of Juvencus, in: M. Gale (Hg.), Latin epic and didactic poetry, Swansea 2004, 203–222, wonach schon immortale in dieser Position an Lukrez erinnert. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Green 2006, 15–20. 744 Zur Datierung Kreuz 2006, 127–131, wonach die Widmung des Werks an Leo vermutlich authentisch ist. 745 Die Lukrezbezüge am Werkbeginn wurden von Smolak 1973 erkannt; zu weiteren Berührungspunkten mit Lukrez siehe die Zusammenstellung bei Kreuz 2006, 130 Anm. 375. 746 Exemplarisch zitiert sei Ps.-Hil. In Gen. 8–10, wo die ‚Allverse‘ des Venushymnus (Lucr. 1,2–5) aufgegriffen und auf Gott übertragen werden: omnipotens mundi genitor [vgl. genetrix, Lucr. 1,1], quo principe cuncta / natalem sumpsere diem atque exorta repente / post tenebras stupidi spectarunt lumina caeli [vgl. visitque exortum lumina solis, Lucr. 1,5]. Genaueres zu den enthaltenen Lukrezbezügen bei Smolak 1973, 218–224. 747 Vgl. Smolak 1973, 236: „Der raffinierten, verbal überbietenden und Strukturen übernehmenden Art, in der Hilarius Lukrez verwendet, steht die direkt polemische des Marius Victorius

Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung | 305

neben offensichtlichen Anspielungen auf Lukrez auch zahlreiche subtilere Bezüge herausgearbeitet hat, vielleicht zu revidieren. Wichtig für den Vergleich mit Victorius ist schließlich noch der im ausgehenden 5. Jh. schreibende Dichter Dracontius, der besonders in der Kosmogonie- und Paradiesdarstellung seines Werks De laudibus Dei an mehreren Stellen ein ähnliches naturphilosophisches und kulturhistorisches Interesse wie Victorius zeigt. Mitunter lässt sich bei Dracontius sogar eine vergleichbare Kontrastimitation zu Lukrez beobachten: In der Kosmogoniedarstellung fällt etwa die Formulierung generata … natura creatrix (Drac. Laud. 1,27) auf, die die von Lukrez geprägte Junktur natura creatrix aufgreift, zugleich aber inhaltlich auf den Kopf stellt, da die Natur so ja gerade nicht mehr am Anfang steht, sondern ihrerseits als geschaffen bezeichnet wird.748 In der Paradiesdarstellung sind es vor allem bestimmte Motive (z. B. das der Nacktheit, Laud. 1,440), die Dracontius mit der lukrezischen Kulturentstehungslehre teilt, zugleich aber um- (hier: auf-) wertet.749 Ein ausführlicher Vergleich der Lukrezrezeption bei Victorius und Dracontius könnte hier möglicherweise weitere Parallelen zutage fördern (ein erster Schritt hierfür wäre eine systematische Auswertung der Lukrezrezeption in De laudibus Dei, die noch nicht unternommen zu worden sein scheint). Die genannten Beispiele relativieren den Sonderstatus der Alethia, heben ihn jedoch nicht auf. Ein Werk, das sich so umfassend mit dem fünften Lukrezbuch auseinandersetzt, ist in der auf uns gekommenen750 christlichen Dichtung || gegenüber …“. Ähnlich Kreuz 2006, 131f., wonach Ps.-Hilarius „selbst den als Polemiker gegen Lukrez bekannten Marius Victorius an Pointiertheit und polemischer Eleganz des öfteren übertrifft …“. 748 Zur Junktur natura creatrix vgl. Lucr. 1,629; 2,1117; 5,1362. Weiteres zur Kosmogoniedarstellung (ohne das angeführte Beispiel) bei W. Speyer, Der Bibeldichter Dracontius als Exeget des Sechstageswerkes Gottes, in: ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften II, Tübingen 1999, 181–206. 749 Vgl. W. Speyer, Das Leben im Garten Eden nach Dracontius, in: ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften III, Tübingen 2007, 271–280, zum genannten Beispiel 275f. 750 Thraede 1962a, 1029 schließt seine Besprechung der Alethia mit dem Hinweis: „Hexaemeron-Dichtungen gleicher Tendenz werden auch von Prudentius und Salvian berichtet (Gennadius vir. ill. c. 13 u. 67 [= 68 Richardson, TKT]).“ Die Notizen bei Gennadius legen in der Tat den Eindruck nahe, die beschriebenen Werke könnten dem ersten oder den ersten beiden Büchern der Alethia geähnelt haben (über Prudentius Vir. ill. 13: commentatus est et in morem Graecorum Hexemeron de mundi fabrica usque ad condicionem primi hominis et praevaricationem eius. – Über Salvianus Vir. ill. 68: in morem Graecorum De principio Genesis usque ad condicionem hominis conposuit versu quasi Hexemeron librum unum … – Vgl. die vermutlich auf Victorius bezogene Beschreibung in Vir. ill. 61: … commentatus est In Genesi, id est … versu edidit libros …). Da Victorius Prudentius mit Sicherheit gelesen hatte, könnte er leicht von dessen

306 | Ausblick: Die Stellung der Alethia in der spätantiken Bibeldichtung

der Spätantike kein zweites Mal zu finden. Besonders die ausgiebige Beschäftigung mit der lukrezischen Kulturentstehungslehre, die im zweiten Buch sogar zur Erfindung neuer Handlungssequenzen führt, ist ohne Beispiel in der erhaltenen Bibeldichtung. Gewiss passt die Alethia mit ihrer Ausrichtung in ihre Zeit, in der klassizistische Tendenzen und gelehrt-wissenschaftliche Interessen auch sonst verbreitet waren,751 und gewiss lassen sich für viele der beobachteten Lehrgedichtbezüge Parallelen bei anderen Dichtern finden. Trotzdem hebt die systematische Verbindung vergilisch-epischer und lukrezisch-lehrdichterischer Elemente die Alethia von den Werken der übrigen Bibeldichter ab und macht sie bis heute zu einem eindrücklichen, wenn auch nicht immer einfach zu lesenden Zeugnis für die Vielfalt und Produktivität der ‚verfehlten‘ (vgl. Curtius 1948, 457) Gattung Bibeldichtung.

|| Hexaemerongedicht beeinflusst worden sein. Auch zwischen Victorius und Salvian kann es leicht Beziehungen gegeben haben, da Salvian spätestens ab ca. 425 in Südgallien, ab ca. 439 in Marseille lebte (wahrscheinlich schrieb er also später als Victorius). Freilich sind die Beschreibungen bei Gennadius so allgemein gehalten, dass nicht mehr sicher zu sagen ist, ob die beiden verlorenen Werke tatsächlich über ihr Thema hinaus mit der Alethia vergleichbar waren – und erst recht nicht, ob sie in ähnlicher Weise wie die Alethia auf Lukrez Bezug nahmen und ob sie sich auch zu den Anfängen der menschlichen Kultur (vgl. immerhin usque ad condicionem hominis bzw. primi hominis) äußerten. 751 Zu klassizistischen Tendenzen in der Spätantike siehe die in Anm. 728 genannten Autoren, zur Verbreitung gelehrt-wissenschaftlicher Interessen vgl. Döpp 1988, 43–47.

Literaturverzeichnis Ausgaben, Kommentare und Übersetzungen der Alethia (alphabetisch nach Editor) Hovingh 1955: Claudius Marius Victorius. Alethia. La prière et les vers 1–170 du livre I avec introd., trad. et comm., door P. F. Hovingh, Groningen/Djakarta 1955. Hovingh 1960: Claudii Marii Victorii Alethia, cura et studio P. F. Hovingh, in: Commodianus. Claudius Marius Victorius, Turnholti 1960 (CCSL 128), 115–193. Papini 2006: Claudio Mario Vittorio. La verità, introd., trad. e note a cura di S. Papini, Roma 2006. Schenkl 1888: Claudii Marii Victoris Oratoris Massiliensis Alethia, recens. et comm. crit. instruxit C. Schenkl, in: Poetae Christiani Minores 1, Vindobonae 1888 (CSEL 16,1), 335– 436. Staat 1952: De cultuurbeschouwing van Claudius Marius Victor. Commentaar op Alethia II 1– 202, A. Staat, Amsterdam 1952. White 2000: Early Christian Latin poets, C. White, London 2000 (darin eine englische Übersetzung einzelner Partien von Claudius Marius Victorius auf S. 118–126). Soweit nicht anders angegeben, folge ich dem Text von Hovinghs CCSL-Edition. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir. Eine vollständige deutsche Übersetzung wird in den Fontes Christiani erscheinen.

Ausgaben weiterer zitierter Werke (alphabetisch nach Autor oder Corpus) Alc. Avit.: Avit de Vienne. Histoire spirituelle, introd., texte critique, trad. et notes par N. Hecquet-Noti, 2 Vol., Paris 1999–2005. Ambr.: Sancti Ambrosii opera, 1: Exameron. De paradiso. De Cain et Abel. De Noe. De Abraham. De Isaac. De bono mortis, recens. C. Schenkl, Vindobonae 1897 (CSEL 32,1). Apoll. Rhod.: Apollonios de Rhodes. Argonautiques, texte établi et comm. par F. Vian …, 3 Vol., Paris 1974–1981. App. Verg.: Appendix Vergiliana, recogn. et adn. crit. instruxerunt W. V. Clausen et al., Oxonii 1966 (darin die Aetna, ediert von F. R. D. Goodyear). Apul.: Apulei Metamorphoseon libri XI, recogn. brevique adn. crit. instruxit M. Zimmerman, Oxonii 2012. Arnob.: Arnobii Adversus nationes libri VII, recens. C. Marchesi, Augustae Taurinorum et al. 2 1953. Aug.: Sancti Aurelii Augustini Episcopi De civitate Dei libri XXII, recogn. B. Dombart/A. Kalb, 2 Vol., Stutgardiae 51981; Sancti Aurelii Augustini opera, 3,2: De genesi ad litteram libri duodecim …, recens. I. Zycha, Vindobonae 1894 (CSEL 28,1); Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in Psalmos, curaverunt E. Dekkers/I. Fraipont, 3 Vol., Turnholti 1956 (CSEL 38– 40). Avien.: Aviénus. La Descriptio orbis terrae d’Avienus, édition critique, P. van de Woestijne, Brugge 1961; Les phénomènes d’Aratos, texte établi et trad. par J. Soubiran, Paris 1981. Claud.: Claudii Claudiani carmina, ed. J. B. Hall, Lipsiae 1985.

308 | Literaturverzeichnis

Clem. Alex.: Clemens Alexandrinus, Bd. 2: Stromata. Buch I–VI, hrsg. von O. Stählin, 4. Aufl. neu hrsg. von L. Früchtel, Berlin 1985 (GCS 52). ‚Cypr. Gall.‘: Cypriani Galli poetae Heptateuchos …, recens. et comm. crit. instruxit R. Peiper, Vindobonae 1881 (CSEL 23). Gennad.: Gennadius. Liber de viris inlustribus, hrsg. von E. C. Richardson, Leipzig 1896 (Text und Untersuchungen 14,1). Drac.: Dracontius. Œuvres, texte établi, trad. et comm. par C. Moussy/C. Camus, 2 Vol., Paris 1985. Germ.: The Aratus ascribed to Germanicus Caesar, ed. with an introd., transl. & comm. by D. B. Gain, London 1976. Hes.: Hesiodi Theogonia. Opera et dies. Scutum, ed. F. Solmsen, Fragmenta Selecta, ed. R. Merkelbach/M. L. West, Oxonii 1970. Hil.: Sancti Hilarii Pictaviensis Episcopi Tractatus super psalmos, cura et studio J. Doignon, 3 Vol., Turnholti 1997–2009 (CCSL 61–61B). Hom.: Homerus. Ilias, recens. et testimonia congessit M. L. West, 2 Vol., Stutgardiae et al. 1998–2000; Homeri Odysseae, recogn. P. von der Mühll, Basileae 1962. Hor.: Q. Horatius Flaccus. Opera, ed. D. R. Shackleton Bailey, Stutgardiae 31995. Iuvenc.: Gai Vetti Aquilini Iuvenci Evangeliorum libri quattuor, recens. et comm. crit. instruxit I. Huemer, Vindobonae 1891 (CSEL 24). Lact.: Lactantius. Divinarum institutionum libri septem, ed. E. Heck/A. Wlosok, 4 Vol., Monachi et al. 2005–2011; Lactance. L’ouvrage du Dieu créateur, par M. Perrin, 2 Vol., Paris 1974; L. Caeli Firmiani Lactanti opera omnia …, 2,1: Libri de opificio dei. Carmina fragmenta. Vetera de Lactantio testimonia, ed. S. Brandt, Vindobonae 1893 (CSEL 27,1, darin das Carmen de ave Phoenice). Lucan.: M. Annaei Lucani De bello civili libri X, ed. D. R. Shackleton Bailey, Stutgardiae 1988. Lucr.: T. Lucreti Cari De rerum natura libri sex, C. Müller recens. et adnotauit, Zürich 1975. LXX: Septuaginta. Vetus testamentum Graecum, auctoritate academiae scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931ff. (die Genesis ediert von J. W. Wevers 1974). Manil.: M. Manilii Astronomica, ed. G. P. Goold, Lipsiae 1985. Masoret. Text: Biblia Hebraica Stuttgartensia, ed. K. Elliger/W. Rudolph, Stuttgart 51997. Orig.: Origène. Contre Celse, texte critique, trad. et notes par M. Borret, 4 Vol., Paris 1967– 1969 (SC 132, 136, 147, 150). Ov.: P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, recogn. brevique adn. crit. instruxit R. J. Tarrant, Oxonii 2004. Pallad.: Palladii Rutilii Tauri Aemiliani viri inlustris Opus agriculturae. De veterinaria medicina. De insitione, ed. R. H. Rodgers, Lipsiae 1975. Paul. Nol.: Paulini Nolani carmina, cura et studio F. Dolveck, Turnholti 2015 (CCSL 21); Sancti Pontii Meropii Paulini Nolani carmina, recens. et comm. crit. instruxit G. de Hartel, ed. altera curante M. Kamptner, Vindobonae 1999 (11894, CSEL 30). Paul. Pell.: Paulinus Pellaeus. Carmina, ed. C. M. Lucarini, Monachii/Lipsiae 2006. Phil.: Philonis Alexandrini opera quae supersunt, ed. L. Cohn/P. Wendland/S. Reiter, 6 Vol., Berolini 1896–1915. Plat.: Platonis opera, recogn. brevique adn. crit. instruxit I. Burnet, 5 Vol., Oxonii 1900–1915. Plin.: C. Plini Secundi Naturalis historiae libri XXXVII, ed. C. Mayhoff, 5 Vol., Lipsiae 21892– 1909. Proba: Faltonia Betitia Proba. Cento Vergilianus, ed. A. Fassina/C. M. Lucarini, Berolini/Bostoniae 2015.

Literaturverzeichnis | 309

Prud.: Aurelii Prudentii Clementis Carmina, cura et studio M. C. Cunningham, Turnholti 1966 (CCSL 126). Ps.-Cypr.: S. Thasci Caecili Cypriani opera spuria …, recens. G. Hartel, Vindobonae 1871 (CSEL 3,3, darin De laude martyrii). Ps.-Hil.: Pseudo-Hilarius. Metrum in Genesin. Carmen de Evangelio, Einleitung, Text und Kommentar, G. E. Kreuz, Wien 2006. Rufin.: Die Pseudoklementinen, Vol. 2: Rekognitionen in Rufins Übersetzung, hrsg. von B. Rehm, Berlin 1965 (GCS 51). Quint.: M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri duodecim, recogn. brevique adn. crit. instruxit M. Winterbottom, 2 Vol., Oxonii 1970. Sedul.: Sedulii opera omnia, recens. et comm. crit. instruxit I. Huemer, ed. altera curante V. Panagl, Vindobonae 2007 (11885, CSEL 10). Sen.: L. Annaei Senecae Naturalium quaestionum libros, recogn. H. M. Hine, Stutgardiae/Lipsiae 1996. Sil.: Sili Italici Punica, ed. I. Delz, Stutgardiae 1987. Stat.: Statius, I: Silvae, II: Thebaid, Books 1–7, III: Thebaid, Books 8–12. Achilleid, ed. and transl. by D. R. Shackleton Bailey, Cambridge/London 2003. Suet.: C. Suetoni Tranquilli De vita Caesarum libri VIII, recens. M. Ihm, Lipsiae 1907. Tiberianus: I carmi e i frammenti di Tiberiano, introd., ed. crit., trad. e comm. di S. Mattiacci, Firenze 1990. Val. Fl.: Gai Valeri Flacci Setini Balbi Argonauticon libros octo, recens. W.-W. Ehlers, Stutgardiae 1980. Verg.: P. Vergilius Maro. Aeneis, recens. atque app. crit. instruxit G. B. Conte, Berolini/Novi Eboraci 2009; P. Vergilius Maro. Bucolica, ed. et app. crit. instruxit S. Ottaviano. Georgica, ed. et app. crit. instruxit G. B. Conte, Berolini/Bostoniae 2013. Vet. Lat.: Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel, … neu ges. und hrsg. von der Erzabtei Beuron, Freiburg 1949ff. (die Genesis ediert von B. Fischer 1951–1954). Vulg.: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, adiuvantibus … recens. et brevi app. crit. instruxit R. Weber, ed. 5 emendatam retractatam … praeparavit R. Gryson, Stuttgart 2007. Xen.: Xenophontis Institutio Cyri, ed. W. Gemoll, ed. corr. curavit J. Peters, Lipsiae 1968. Zur Zitierweise: Die Verwendung des v im Lateinischen und des iota subscriptum im Griechischen wurde in allen Zitaten vereinheitlicht. Die Abkürzungen antiker Autoren und Werke orientieren sich an denen des Thesaurus Linguae Latinae und des Neuen Pauly. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir.

Abgekürzt zitierte Lexika und Hilfsmittel Blaise: A. Blaise, Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, revu spécialement pour le vocabulaire théologique par H. Chirat, Turnhout 1986 (1954). DNP: H. Cancik et al. (Hgg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart/Weimar 1996ff. Georges: K. E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 8. Aufl., bearb. von H. Georges, Hannover 1913–1919. HLL: Reinhart Herzog u. a. (Hgg.): Handbuch der lateinischen Literatur der Antike (= Handbuch der Altertumswissenschaft 8), München 1989ff.

310 | Literaturverzeichnis

HSz: J. B. Hofmann/A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik. Mit dem allgemeinen Teil der lateinischen Grammatik (= Handbuch der Altertumswissenschaft 2,2,2), München 1972 (1965). HWbPh: J. Ritter et al. (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1971–2007. KSt: R. Kühner/C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, 3. Aufl., durchges. von A. Thierfelder, Hannover 1955. LACL: S. Döpp/W. Geerlings (Hgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg et al. 3 2002. OCD: S. Hornblower (Hgg.), The Oxford classical dictionary, Oxford 42012. OLD: P. G. W. Glare (Hgg.), Oxford Latin dictionary, Oxford 22012. RAC: T. Klauser et al. (Hgg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Stuttgart 1950ff. RE: G. Wissowa et al. (Hgg.), Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart u. a. 1893–1978. RLW: K. Weimar et al. (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin/New York 1997–2003. ThLL: Thesaurus Linguae Latinae, Lipsiae et al. 1900ff. TRE: G. Müller et al. (Hgg.), Theologische Realenzyklopädie, Berlin/New York 1976–2004. Die Abkürzungen der Zeitschriften folgen der Année philologique.

Sonstige mehrfach zitierte Forschungsliteratur Arweiler 1999: A. Arweiler, Die Imitation antiker und spätantiker Literatur in der Dichtung ‚De spiritalis historiae gestis‘ des Alcimus Avitus. Mit einem Kommentar zu Avit. carm. 4,429– 540 und 5,526–706, Berlin/New York 1999. Bailey 1950: Titi Lucreti Cari De rerum natura libri sex, ed. with prolegomena, crit. apparatus, transl. and comm. by C. Bailey, Vol. I–III, Oxford 1950. Bažil 2009: M. Bažil, Centones christiani. Métamorphoses d’une forme intertextuelle dans la poésie latine chrétienne de l’Antiquité tardive, Paris 2009. Becker 2006: M. Becker, Kommentar zum Tischgebet des Prudentius (cath. 3), Heidelberg 2006. Berschin 1980: W. Berschin, Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues, Bern/München 1980. Bömer 1969: P. Ovidius Naso. Metamorphosen, Kommentar von F. Bömer, B. I–III, Heidelberg 1969. Bourgoin 1883: A. Bourgoin, De Claudio Mario Victore rhetore christiano quinti saeculi, Diss. Paris 1883. Buchheit 1978: V. Buchheit, Goldene Zeit und Paradies auf Erden (Laktanz, inst. 5,5-8), WJA N. F. 4 (1978), 161–185. Burck 1978: E. Burck, Unwetterszenen bei den flavischen Epikern, Mainz 1978. Cameron 1970: A. Cameron, Claudian. Poetry and propaganda at the court of Honorius, Oxford 1970. Codoñer 1977: C. Codoñer, Un pasaje de Alethia, 2.456–481, Helmantica 28 (1977), 87–96.

Literaturverzeichnis | 311

Consolino 2005: F. E. Consolino, Il senso del passato: Generi letterari e rapporti con la tradizione nella ‘parafrasi biblica’ latina, in: F. Gualandri et al. (Hgg.), Nuovo e antico nella cultura greco-latina di IV–VI secolo, Milano 2005, 447–526. Curtius 1948: E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948. Cutino 2008: M. Cutino, Lʼuccisione di Caino nellʼ«Alethia» di Claudio Mario Vittorio (II, 314– 318), REAug 54 (2008), 285–293. Cutino 2009: M. Cutino, LʼAlethia di Claudio Mario Vittorio. La parafrasi biblica come forma di espressione teologica, Roma 2009. D’Auria 2007: I. DʼAuria, Il giudizio divino (Gn 3,10–19) nella riscrittura esametrica di Claudio Mario Vittorio (Alethia 1, 471–519), VetChr 44 (2007), 33–57. D’Auria 2012: I. DʼAuria, La pericope di Caino e Abele (Gen. 4,1–8) nella riscrittura esametrica di Claudio Mario Vittorio (aleth. 2,195–252), in: A. V. Nazzaro/R. Scognamiglio (Hgg.), Carminis incentor Christus. Atti del Seminario su «Poesia Cristiana tra Oriente e Occidente», Curtea de Argeş (Romania), 6–11 Aprile 2010, Bari 2012, 87–115. De Jong 2004: I. J. F. de Jong, Narrators and focalizers. The presentation of the story in the Iliad, London 22004 (11987). Denzinger 2014: H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lat. – Dt., hg. von P. Hünermann, 442014. Deproost 1997: P.-A. Deproost, L’épopée biblique en langue latine. Essai de définition d’un genre littéraire, Latomus 56 (1997), 14–39. Deufert 1996: M. Deufert, Pseudo-Lukrezisches im Lukrez. Die unechten Verse in Lukrezens „De rerum natura“, Berlin/New York 1996. Deufert 2009, M. Deufert, Art. „Lucretius“, in: RAC 23, Stuttgart 2009, 603–620. Döpp 1988: S. Döpp, Die Blütezeit lateinischer Literatur in der Spätantike (350–430 n. Chr.). Charakteristika einer Epoche, Philologus 132 (1988), 19–52. Döpp 2009: S. Döpp, Eva und die Schlange. Die Sündenfallschilderung des Epikers Avitus im Rahmen der bibelexegetischen Tradition, Speyer 2009. Duval 1969: P.-M. Duval, Un texte du Ve siècle relatif au santuaire apollinien des Leuci, in: J. Bibauw (Hg.), Hommages à Marcel Renard, Vol. 2, Bruxelles 1969, 256–261. Effe 1977: B. Effe, Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977. Effe 2004: B. Effe, Epische Objektivität und subjektives Erzählen. ‚Auktoriale‘ Narrativik von Homer bis zum römischen Epos der Flavierzeit, Trier 2004. Erren 2003: M. Erren, P. Vergilius Maro. Georgica, 2: Kommentar, Heidelberg 2003. Falcidia Riggio 1912: F. Falcidia Riggio, Claudio Mario Vittore, retore e poeta. Saggio critico, Nicosia 1912. Ferrari 1912a: O. Ferrari, Intorno alle fonti del poema di Claudio Mario Vittore, Didaskaleion 1 (1912), 57–74. Ferrari 1912b: O. Ferrari, Un Poeta cristiano del 5. secolo, Claudio Mario Vittore, Pavia 1912. Fo 1982: A. Fo, Studi sulla tecnica poetica di Claudiano, Catania 1982. Foley 2005: J. M. Foley (Hg.), A Companion to Ancient Epic, Malden u. a. 2005 Fuhrmann 1994: M. Fuhrmann, Rom in der Spätantike. Porträt einer Epoche, München/Zürich 1994. Furley/Bremer 2001: W. D. Furley/J. M. Bremer, Greek hymns, 1: The texts in translation, Tübingen 2001. Fränkel 1921: H. Fränkel, Die homerischen Gleichnisse, Göttingen 1921.

312 | Literaturverzeichnis

Gale 2000: Virgil on the nature of things. The Georgics, Lucretius, and the didactic tradition, Cambridge u. a. 2000. Gale 2007: M. Gale, Didactic epic, in: S. Harrison (Hg.), A companion to Latin literature, Malden u. a. 2007. Gale 2009: Lucretius: De rerum natura V, ed. with transl. and comm. by M. R. Gale, Oxford 2009. Gale 2011: M. R. Gale, Digressions, intertextuality, and ideology in didactic poetry. The case of Manilius, in: S. J. Green/K. Volk (Hgg.), Forgotten stars. Rediscovering Manilius’ Astronomica, Oxford 2011, 205–221. Gärtner 1994: U. Gärtner, Gehalt und Funktion der Gleichnisse bei Valerius Flaccus, Stuttgart 1994. Gärtner 2004: Th. Gärtner, Die Musen im Dienste Christi: Strategien der Rechtfertigung christlicher Dich-tung in der lateinischen Spätantike, VChr 58 (2004), 424–446. Gatz 1967: B. Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967. Green 2006: R. P. H. Green, Latin epics of the New Testament. Juvencus, Sedulius, Arator, Oxford 2006. Green 2010: R. P. H. Green, Victorius’ Vergil. Comments on a passage of the Alethia, Millenium 7 (2010), 51–66. Grimm 1977: R. R Grimm, Paradisus coelestis. Paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200, München 1977. Grypeou/Spurling 2013: E. Grypeou/H. Spurling, The book of Genesis in late antiquity. Encounters between Jewish and Christian exegesis, Leiden/Boston 2013. Gundel 1921: W. Gundel, Art. „Kometen“, in: RE 11.1, Stuttgart 1921, 1143–1193. Harrison 2007: S. J. Harrison, Generic enrichment in Vergil and Horace, Oxford 2007. Haß 1998: P. Haß, Der locus amoenus in der antiken Literatur: Zu Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998. Haye 1997: Th. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Leiden u. a. 1997. Hecquet-Noti 2009: N. Hecquet-Noti, Entre exégèse et épopée. Présence auctoriale dans Juvencus, Sédulius et Avit de Vienne, in: H. Harich-Schwarzbauer/P. Schierl (Hgg.), Lateinische Poesie der Spätantike. Internationale Tagung in Castelen bei Augst, 11.–13. Oktober 2007, Basel 2009, 197–215. Heckel 1999: H. Heckel, Art. „Kulturentstehungstheorien. II. Griechenland und Rom“, in: DNP 6, Stuttgart/Weimar 1999, 908–914. Heckel 2002: H. Heckel, Art. „Zeitalter“, in: DNP 12/2, Stuttgart/Weimar 2002, 706–709. Heinze 1915: R. Heinze, Virgils epische Technik, Leipzig/Berlin 31915. Herzog 1975: R. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung, Bd. 1, München 1975. Hickson 1993: F. V. Hickson, Roman prayer language. Livy and the Aneid [sic] of Vergil, Stuttgart 1993. Hoffmann 2005: M. Hoffmann, Alcimus Ecdicius Avitus, De spiritalis historiae gestis. Buch 3, Einleitung, Übersetzung, Kommentar, München/Leipzig 2005. Hofmann 1988: H. Hofmann, Überlegungen zu einer Theorie der nichtchristlichen Epik der lateinischen Spätantike, Philologus 132 (1988), 101–159. Homey 1972: H. H. Homey, Studien zur Alethia des Claudius Marius Victorius, Diss. Bonn 1972. Homey 2008: H. H. Homey, Überlegungen zum paradiesischen Aromata-Katalog in der Alethia des Claudius Marius Victorius, Hermes 136 (2008), 72–96.

Literaturverzeichnis | 313

Horstmann 2014: H. Horstmann, Erzähler – Text – Leser in Ovids Metamorphosen, Frankfurt am Main 2014. Kartschoke 1975: D. Kartschoke, Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg, München 1975. Kirsch 1979: W. Kirsch, Strukturwandel im lateinischen Epos des 4.–6. Jhs., Philologus 123 (1979), 38–53. Kirsch 1989: W. Kirsch, Die lateinische Versepik des 4. Jahrhunderts, Berlin 1989. Krappe 1942: A. H. Krappe, A Persian myth in the Alethia of Claudius Marius Victor, Speculum 1942, 255–260. Kreuz 2006: siehe Ausgaben unter Ps.-Hil. Kubusch 1986: K. Kubusch, Aurea Saecula: Mythos und Geschichte. Untersuchung eines Motivs in der antiken Literatur bis Ovid, Frankfurt am Main u. a. 1986. Kühlmann 1973: W. Kühlmann, Katalog und Erzählung. Studien zu Konstanz und Wandel einer literarischen Form in der antiken Epik, Diss. Freiburg 1973. Kuhn 2012: Th. Kuhn, Die jüdisch-hellenistischen Epiker Theodot und Philon. Literarische Untersuchungen, kritische Edition und Übersetzung der Fragmente, Göttingen 2012. Lausberg 1990a: H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990. Lausberg 1990b: M. Lausberg, Epos und Lehrgedicht. Ein Gattungsvergleich am Beispiel von Lucans Schlangenkatalog, Würzburger Jahrbücher N. F. 16 (1990), 173–203. Lipscomb 1909: H. C. Lipscomb, Aspects of the speech in the later Roman epic, Baltimore 1909 (= Diss. Baltimore 1907). Lundström 1971: S. Lundström, Sprach’s bei Silius Italicus, Lund 1971. Malsbary 1985: G. Malsbary, Epic exegesis and the use of Vergil in the early Biblical poets, Florilegium 7 (1985), 55–83. Manuwald 1980: B. Manuwald, Der Aufbau der lukrezischen Kulturentstehungslehre (De rerum natura 5,925–1457), Wiesbaden 1980. Manuwald 2003: B. Manuwald, Goldene Zeit, Fortschrittsdenken und Grenzüberschreitung. Zu kulturtheoretischen Texten aus der griechischen und römischen Antike, in: O. Krüger/R. Sariönder/A. Deschner (Hgg.), Mythen der Kreativität. Das Schöpferische zwischen Innovation und Hybris, Frankfurt am Main 2003, 123–141. Margoni-Kögler 2001: M. Margoni-Kögler, Typologie in den christlichen Vergilcentonen, in: M. F. Wiles/E. J. Yarnold (Hgg.), Studia Patristica Vol. 36. Papers presented at the thirteenth international conference on patristic studies held in Oxford 1999, Leuwen 2001, 140–152. Martorelli 2008: U. Martorelli, Redeat verum. Studi sulla tecnica poetica dellʼAlethia di Mario Claudio Vittorio, Stuttgart 2008. Mattiacci 1990: siehe Ausgaben unter Tiberianus. Maurer 1896: H. Maurer, De exemplis quae Claudius Marius Victor in Alethia sectutus sit, Diss. Marburg 1896. Meyer 1900: A. Meyer, Wesen und Geschichte der Theorie vom Mikro- und Makrokosmos, Diss. Bern 1900. Mynors 1990: Virgil. Georgics, ed. with a comm. by R. A. B. Mynors, Oxford 1990. Nesselrath 1992: H.-G. Nesselrath, Ungeschehenes Geschehen. ‚Beinahe-Episoden‘ im griechischen und römischen Epos von Homer bis zur Spätantike, Stuttgart 1992. Nodes 1988: D. J. Nodes, The seventh day of creation in Alethia of Claudius Marius Victor, VChr 42 (1988), 59–74.

314 | Literaturverzeichnis

Norden 1913: E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig/Berlin 1913. Opelt 1988: I. Opelt, Trinitätsterminologie in der Alethia des Claudius Marius Victorius, in: dies., Paradeigmata poetica Christiana. Untersuchungen zur christlichen lateinischen Dichtung, Düsseldorf 1988, 106–112. Petschenig 1888: M. Petschenig, Zu Claudius Marius Victor, WSt 10 (1888), 163–164. Pöhlmann 1973: E. Pöhlmann, Charakteristika des römischen Lehrgedichts, in: ANRW I.3, Berlin/New York 1973, 813–901. Pollmann 2001: K. Pollmann, Das lateinische Epos in der Spätantike, in: J. Rüpke (Hg.), Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Stuttgart 2001, 93–129. Reitz 1998: C. Reitz, Zur Funktion der Kataloge in Ovids Metamorphosen, in: W. Schubert (Hg.), Ovid. Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main u. a. 1998, 359–372, Reynen 1965: H. Reynen, Ewiger Frühling und goldene Zeit, Gymnasium 72 (1965), 415–433. Rieks 1981: R. Rieks, Die Gleichnisse Vergils, ANRW II 31.2, Berlin/New Yorik 1981, 1011–1110. Rijkers 2009: F. Rijkers, Arbeit – ein Weg zum Heil? Vorstellungen und Bewertungen körperlicher Arbeit in der spätantiken und frühmittelalterlichen lateinischen Exegese der Schöpfungsgeschichte, Frankfurt am Main u. a. 2009. Roberts 1985: M. Roberts, Biblical epic and rhetorical paraphrase in late antiquity, Liverpool 1985. Roberts 1989: M. Roberts, The jeweled style. Poetry and poetics in late antiquity, Ithaca/London 1989. Roche 2009: Lucan. De bello ciuili. Book I, ed. with a comm. by P. Roche, Oxford 2009. Rüpke 1998: J. Rüpke, Antike Epik. Zur Geschichte narrativer metrischer Großtexte in oralen und semioralen Gesellschaften, Potsdam 1998. Sangmeister 1978: U. Sangmeister, Die Ankündigung direkter Rede im ‚nationalen‘ Epos der Römer, Meisenheim am Glan 1978. Schaller 1993: D. Schaller, La poesia epica, in: G. Cavallo et al. (Hgg.), Lo spazio letterario del medioevo, 1. Il medioevo latino, Vol. I. La produzione de testo, Roma 1993, 9–42. Schauer 2007: M. Schauer, Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit, München 2007. Schindler 2000: C. Schindler, Untersuchungen zu den Gleichnissen im römischen Lehrgedicht: Lucrez, Vergil, Manilius, Göttingen 2000. Schindler 2009: C. Schindler, Per carmina laudes. Untersuchungen zur spätantiken Verspanegyrik von Claudian bis Coripp, Berlin/New York 2009. Schlapbach 2010: K. Schlapbach, Art. „Locus amoenus“, in: RAC 23, Stuttgart 2010, 231–244. Schmidt 2007: E. A. Schmidt, Clinamen. Eine Studie zum dynamischen Atomismus der Antike, Heidelberg 2007. Schwabl 1978: H. Schwabl, Art. „Weltalter“, in: RE Supp. 15, München 1978, 783–850. Smolak 1973: K. Smolak, Unentdeckte Lukrezspuren, WSt N.F. 7 (1973), 216–239. Smolak 1975: K. Smolak, Lateinische Umdichtungen des biblischen Schöpfungsberichtes, StudPatr 12 (1975), 350–360. Smolak 1980: K. Smolak, Die Geburtsschmerzen Evas bei Claudius Marius Victorius, GB 9 (1980), 181–188. Smolak 1999: K. Smolak, Die Bibelepik als ‚verfehlte Gattung‘, WHB 41 (1999), 7–24.

Literaturverzeichnis | 315

Suerbaum 1999: W. Suerbaum, Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999. Thraede 1962a: K. Thraede, Art. „Epos“, in: RAC 5, Stuttgart 1962, 983–1042. Thraede 1962b: K. Thraede, Art. „Erfinder II (geistesgeschichtlich)“, in: RAC 5, Stuttgart 1962, 1191–1278. Volk 2002: K. Volk, The poetics of Latin didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius, Oxford 2002. Walde 2001: C. Walde, Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München u. a. 2001. Waszink 1972: J. H. Waszink, Calcidius, JbAC 15, 1972, 236–244 (Nachtrag zum RAC, wieder abgedruckt in RAC Supp. Lfg. 10, Stuttgart 2003, 283–300). Westermann 1974: C. Westermann, Genesis. 1. Teilband: Genesis 1–11, Neukirchen-Vluyn 1974. Wheeler 1999: S. M. Wheeler, A discourse of wonders. Audience and performance in Ovid’s Metamorphoses, Philadelphia 1999. Williams 1983: G. W. Williams, Technique and ideas in the Aeneid, New Haven 1983. Zyroff 1971: E. S. Zyroff, The author’s apostrophe in epic from Homer through Lucan, Diss. Ann Arbor 1971.

Weitere, in dieser Arbeit nicht zitierte Forschungsliteratur zu Claudius Marius Victorius D’Auria 2009: I. D’Auria, La precatio e il primo libro dell’Alethia di Claudio Mario Vittorio, Diss. Napoli 2009 (nicht veröffentlicht). Flammini 2003: G. Flammini, Caratteristiche prosodiche e metriche dellʼ«Alethia» di Claudio Mario Vittorio, AFLM 36 (2003), 147–158. Hovingh 1956: P. F. Hovingh, La fumée du sacrifice de Caïn et dʼAbel et lʼAlethia de Claudius Marius Victorius, VChr 10 (1956), 43–48.

Stellenregister (in Auswahl) Zur Zitierweise: Sind für ein Zitat der Haupttext und eine bestimmte Fußnote relevant, so sind die entsprechenden Ziffern durch ein „+“ verbunden.

Ailian – Nat. 7,36(40): 20, 285+703 Alcimus Avitus – SHG 1,193: 109278 – SHG 1,308sq.: 244609 Altes Testament – Gen. 2,2 (Vet. Lat. und Vulg.): 1745 – Gen. 2,15 (Masoret. Text, LXX und Vet. Lat.): 243+604 – Gen. 3,8sq. (Vet. Lat.): 138+350 – Gen. 3,18sq. (Vet. Lat.): 257645 – Gen. 4,12 (Vet. Lat. und Vulg.): 1745 – Gen. 4,17 (Vet. Lat.): 292720 – Gen. 4,20–22: 295+724 – Gen. 4,26 (Masoret. Text und Vet. Lat.): 293+721 – Gen. 7,11sq. (Vet. Lat.): 220549 – Gen. 10,8sq. (Masoret. Text, LXX und Vet. Lat.): 289714 – Gen. 11,3 (Vet. Lat.): 141+360 – Gen. 11,7 (Vet. Lat.): 138349 – Gen. 15,12 (Vet Lat. und Vulg.): 210526 – Gen. 18,1sq. (Vet. Lat.): 138+352 – Gen. 18,33 (Vet. Lat. und Vulg.): 213+534 – Wsh. 11,21 (Vet. Lat.): 2773 – Wsh. 14,15sq. (Vulg.): 290+716 Ambrosius – Cain et Ab. 1,7,25: 174458 – Hex. 1,2,7: 229+573 – Hex. 2,3,12: 236+585 – Par. 4,25: 243606 Ammianus Marcellinus – 19,9,4: 168+443 Apollonios Rhodios – 3,755–760: 161423 Appendix Vergiliana – Aetna 9–12: 241600 – Aetna 91sq.: 3391 Arat – Phain. 2–4: 188480

Aristoteles – Poet. 1 p. 1447b17–20: 9+19 – Poet. 23 p. 1459a18–21: 59156 – Poet. 24 p. 1460a5–7: 131139 Arnobius der Ältere – Nat. 2,25: 280691 Augustinus – Civ. 13,21: 152399 – Gen. ad litt. 4,33: 173458 – Gen. ad litt. 6,6: 173+456 – Gen. ad litt. 6,12: 173458 – Gen. ad litt. 8,8: 243f.+607 – Gen. ad litt. 11,34: 173+457 – In Ps. 67,9: 135344 – Serm. 34,9: 41112 Ausonius – Eph. 3,1–5: 30f.+85 – Mos. 187: 105267 Avien – Arat. 316sq.: 242+601 – Arat. 1816–1819: 164f.+433 – Orb. terr. 1–5: 3698 Cicero – Nat. deor. 2,127: 154404 – Opt. gen. 1,1: 9+17 Claudian – Rapt. Pros. 1,25–31: 3699 – Rapt. Pros. 3,30–32: 278687 – Rufin. 1,16–18: 229582 Claudius Marius Victorius – prec. 1–21: 26–31 – prec. 4sq.: 96 – prec. 78sq.: 104 – prec. 101–103: 32 – prec. 102sq.: 101 – prec. 103–113: 102 – prec. 104sq.: 34, 89 – prec. 106: 34f. – prec. 107–111: 36f. – prec. 119–121: 39–41, 101

Stellenregister (in Auswahl) | 317

– 1,1–4: 225f. – 1,1–47: 225–233 – 1,22–24: 227 – 1,24: 230 – 1,28–31: 231f. – 1,44–46: 230f. – 1,48–170: 233–237 – 1,63–70: 233f. – 1,71–78: 134f. – 1,77–79: 177+464, 235f. – 1,100–102: 174 – 1,114–119: 234 – 1,144–146: 103f. – 1,163–166: 171f. – 1,174–183: 74f. – 1,190–199: 173458 – 1,192–197: 97 – 1,213–215: 168f. – 1,213–222: 128 – 1,223–304: 108–113, 237–248 – 1,227sq.: 239 – 1,229–232: 240f. – 1,234–242: 147–149 – 1,243sq.: 149, 247 – 1,259–263: 150–152 – 1,329–331: 125309 – 1,332–334: 93 – 1,332–337: 80 – 1,345–355: 152–154 – 1,371sq.: 91 – 1,387–397: 114 – 1,390–394: 242603 – 1,405sq.: 105 – 1,407sq.: 91 – 1,424–433: 172 – 1,442–446: 76 – 1,448–469: 92 – 1,456: 138+351 – 1,464: 105 – 1,465–469: 81 – 1,511–513: 256 – 1,545–548: 62+164 – 2,1–5: 48–51 – 2,5: 105 – 2,11sq.: 110279 – 2,19–23: 76202 – 2,27–29: 116

– 2,42sq.: 139f. – 2,43–48: 187f. – 2,56–69: 183f. – 2,57–68: 119f. – 2,67sq.: 140 – 2,77–84: 250f. – 2,83sq.: 184 – 2,95–99: 140 – 2,100–107: 161f. – 2,118–135: 265–267 – 2,136–140: 268f. – 2,143–148: 270 – 2,163–165: 102, 275 – 2,172–176: 259 – 2,178sq.: 276 – 2,179–181: 276f. – 2,180–184: 136 – 2,181–184: 188, 279 – 2,184–188: 85f. – 2,195–198: 67 – 2,198: 291 – 2,203–252: 54–58 – 2,217: 291 – 2,221–224: 173f.458 – 2,227–229: 82 – 2,232–234: 98 – 2,238–246: 82f. – 2,241: 291f. – 2,265–269: 160f. – 2,271–275: 294 – 2,307: 96 – 2,307–310: 78f. – 2,308–313: 292 – 2,326–331: 293 – 2,380sq.: 66 – 2,441–450: 155+405 – 2,454–485: 215–223 – 2,456: 220549 – 2,460–462: 217 – 2,463: 218546 – 2,470–472: 217, 218546, 220551 – 2,474sq.: 220551 – 2,475–477: 220 – 2,476–481: 220f. – 2,488–492: 175f. – 2,503–510: 162f. – 2,524: 217543

318 | Stellenregister (in Auswahl)

– 2,524–527: 155+405 – 2,532–534: 76202 – 2,535–552: 120f. – 2,544–548: 116f. – 2,556–558: 62f.+164 – 3,1: 51 – 3,7–10: 155+405 – 3,75–81: 93f. – 3,131sq.: 287+710 – 3,133sq.: 288 – 3,135: 175, 283 – 3,139–146: 285f. – 3,147sq.: 286f. – 3,158–160: 287f.+711f. – 3,166–169: 289 – 3,216–237: 141f. – 3,246: 138349 – 3,310–318: 165–168 – 3,339–344: 193f. – 3,344sq.: 137348 – 3,357–363: 126f. – 3,365–367: 65f. – 3,372–382: 77 – 3,410: 137348 – 3,415–430: 190–193 – 3,431–433: 197 – 3,439–454: 159f. – 3,444–448: 195f. – 3,449–451: 194f. – 3,453–455: 79, 197f. – 3,469–471: 68 – 3,523–530: 202f. – 3,531–544: 203f. – 3,550–554: 163–165 – 3,572–576: 117 – 3,574–579: 211f. – 3,632–637: 66f. – 3,641–645: 212f. – 3,652–654: 213532 – 3,681sq.: 213 – 3,683–687: 214f. – 3,784–789: 62f.+164 Clemens von Alexandria – Strom. 5,11,72,2: 149393 Columella – 10,337–341: 278+687

‚Cyprianus Gallus‘ – Gen. 377–379: 289714 Diomedes Grammaticus – vol. I, p. 482–484 Keil: 10+22–25 Donat – Vita Verg. 21: 123307 Dracontius – Laud. 1,180: 109 Empedokles – fr. 57–62 D.-K.: 234582 Gennadius – Vir. ill. 13: 305750 – Vir. ill. 61: 25, 90238, 305750 – Vir. ill. 68: 305750 Germanicus – Arat. 117sq.: 241600 Hesiod – Erg. 117sq.: 241600 – Erg. 118sq.: 243605 – Erg. 661: 3288 – Theog. 27sq.: 3390, 49136 Hilarius von Poitiers – In Ps. 148,3: 229+573 Homer – Il. 2,167–170: 215537 – Il. 2,484–487: 3288 – Il. 2,488–490: 84f.223 – Il. 10,484: 195495 – Il. 10,485–487: 159420 – Il. 23,598–600: 80213 – Od. 7,117–121: 241+599 Horaz – Ars 151: 49136 – Epist. 2,1,126. 128: 89235 Juvencus – praef. 1: 304+743 – praef. 9sq.: 13, 44119 – praef. 6–18: 46+123 Laktanz – Inst. 5,5–8: 245 – Inst. 7,7,8: 229+573 – Opif. 2,1–4: 154404 – Phoen. 3sq.: 240+597 – Phoen. 79–88: 151398 Lukan – 1,526–529: 164430 – 6,89sq.: 167440

Stellenregister (in Auswahl) | 319

– 7,30–32: 86226 – 7,58–60: 95248 – 7,552–556: 85224 – 7,617sq.: 78205, 84223 – 7,643–645: 95248 – 8,550–559: 81214 – 8,781–815: 81214 – 8,831–834: 95248 – 10,502sq.: 165+434 Lukrez – 1,1–15: 26 – 1,6–8: 29 – 1,51: 3391 – 1,136sq.: 39 – 2,14: 92242 – 2,1040–1044: 91241 – 4,1–5 (= 1,926–930): 43115 – 4,8sq. (= 1,933sq.): 39 – 4,11–25 (= 1,936–950): 43116 – 4,48–129: 222 – 5,64–66: 231+577 – 5,93–96: 230+576 – 5,97–99: 231f.+577 – 5,525–531: 170+449 – 5,575sq.: 174 – 5,677–679: 283697 – 5,925sq.: 251+630 – 5,933–936. 943sq.: 251+630 – 5,1113–1119: 270f.+672 – 5,1183–1187: 284+700 – 5,1194: 92242 – 5,1198–1202: 285+702 – 5,1204–1210: 284+700 – 5,1218–1225: 284+700 – 5,1253–1257: 265–267 – 5,1276–1280: 270+671 – 5,1447–1453: 278+687 – 6,379–382: 284+701 – 6,1098–1102: 167+440 – 6,1215sq.: 167+441 – 6,1235–1237: 167+441 Manilius – 1,4sq.: 43115 – 1,20–24: 40 – 1,61sq.: 276+683, 278+687 – 1,83: 278+687 – 1,90: 278+687

– 1,478sq.: 230574 – 1,483–487: 229+572 – 1,531: 229+572 – 1,817–830: 164+433 – 3,31–42: 40109 – 3,37: 3391 Marius Victorinus – Defin. p. 28 Stangl: 280691 Nemesian – Cyn. 1,5–9: 43115 Neues Testament – Röm. 5,14: 128f. – 1Kor. 15,42–45: 129 – 1Petr. 3,20sq.: 129+324 Origenes – Kels. 4,11: 223557 – Kels. 4,41: 223557 – Princ. 3,6,5: 129323 Orosius – Hist. 1,9,3: 168+443 Ovid – Her. 16,63: 105267 – Met. 1,5–9: 225 – Met. 1,7–9: 110279 – Met. 1,101sq.: 241600 – Met. 101–106: 253+635 – Met. 1,107sq.: 239+596 – Met. 1,109sq.: 241600 – Met. 111sq.: 242602 – Met. 121–124: 253+636 – Met. 1,253–312: 218f. – Met. 7,584sq.: 167441 – Met. 10,317sq.: 81214 – Met. 15,62–64: 186476 Paulinus von Nola – Carm. 6,18sq.: 44120 – Carm. 20,28sq. (= Nat. 12,28sq.): 50136 Paulinus von Pella – Euch. 17sq.: 105268 Platon – Prot. 320e: 153403 – Rep. 3,392d5sq.: 10 – Tim. 32bc: 1849 – Tim. 29de: 1850 – Tim. 38b: 1951, 232578 Plinius – Nat. 37,5: 287710

320 | Stellenregister (in Auswahl)

Plutarch – De comm. not. 1064B: 20, 285+703 Proba – praef. 3sq.: 13, 44119 – 144: 245+614 – 163: 245+614 – 168sq. : 245+614 – 253–260: 254+638 – 280–284: 255+639 – 290–302: 254f.+638 Prudentius – Cath. 3,103: 240+597 – Ham. praef. 1–19: 57 – Ham. 142sq.: 289714 Ps.-Coelestin – Epist. 21,12: 125309 Ps.-Cyprian – Laud. mart. 21: 240+597 Ps.-Hilarius – Evang. 46sq.: 105268 – In Gen. 8–10: 304+746 Quintilian – Inst. 6,2,32: 107273 – Inst. 10,1,46–56. 85–92: 9+18 Sedulius – Carm. pasch. 1,17–22: 13, 44119 – Carm. pasch. 1,280sq.: 78205 – Epist. 1. p. 5 Huemer: 44120 – Op. pasch. p. 172 Huemer: 40110 Seneca – Nat. 3,27,1: 220+550 – Nat. 3,27,7. 8: 220+551 – Nat. 3,27,10: 221 – Nat. 7,4,1: 165433 Servius – Aen. praef. p. 4 Thilo: 10+26, 49f.136, 124308 – Aen. 6 praef.: 55147 – Georg. praef. p. 129 Thilo: 11+27 Silius Italicus – 1,373–375: 118295 – 14,580–584: 115290 Statius – Silv. 3,2,15: 105267 Sueton – Galb. 4,3: 287f.711 Theon von Alexandria – Prog. 11 p. 118 Sprengel: 107273

Tiberianus – 4,1–27: 29f. Tractatus Coislinianus – 1sq.: 9+21 Vergil – Aen. 1,8–11: 3699 – Aen. 1,81: 217543 – Aen. 2,12sq.: 85224 – Aen. 2,589–592: 212f. – Aen. 2,689–691: 185+475 – Aen. 3,89: 184474 – Aen. 3,147–178: 204f. – Aen. 4,276–278: 213f. – Aen. 5,232–234: 115289 – Aen. 5,237: 115290 – Aen. 5,687–690: 185+475 – Aen. 6,266: 105 – Aen. 6,358–361: 115290, 117295 – Aen. 6,672–892: 205f. – Aen. 7,1sq.: 83220, 95247 – Aen. 8,22–25: 161 – Aen. 8,626–728: 207f. – Aen. 8,643: 86226 – Aen. 9,316sq.: 194 – Aen. 9,333sq.: 194f. – Aen. 9,339–341: 159f., 193f. – Aen. 10,100–103: 143368 – Aen. 11,912–914: 117f.295 – Ecl. 3,60: 188480 – Ecl. 4,25: 241+601 – Ecl. 4,39: 241+601 – Ecl. 6,1: 13 – Georg. 1,1–5: 35+97 – Georg. 1,84–91: 258f.+647 – Georg. 1,125–128: 241600, 253+633 – Georg. 1,129–146: 253+634 – Georg. 1,131sq.: 242602 – Georg. 1,133sq.: 276+683, 278+687 – Georg. 2,1sq.: 49 – Georg. 2,109–176: 246f. – Georg. 2,176: 13 – Georg. 3,289sq.: 39108 – Georg. 3,556: 167440 Xenophanes – VS 21 A 44: 164+433 Xenophon – Kyr. 2,3,9: 153f.403

Namens- und Sachregister Bei antiken Autoren sind in der Regel nur Erwähnungen im Haupttext aufgeführt; für weitere Vorkommnisse siehe das Stellenregister. Moderne Autoren sind nicht aufgenommen.

Abel: 53f., 57, 61, 122305, 291, 293722 Abra(ha)m – Kriegsheld: 79f., 159, 189–199 – Verheißungsträger: 163, 188–210, 212–214 – weitere Stellen: 53, 61, 63, 65–69, 77, 124, 126f., 137–139, 299 Adam – Leben im Paradies: 152f., 239 – Sündenfall: 80–82, 76, 92f., 138–141 – Gebet nach Vertreibung: 119, 181–189 – Kulturentwicklung: 250–275, 279, 291, 295 – weitere Stellen: 53, 61, 67f., 299 Adressat: 34, 46, 88–100 Aetherius (Sohn des Victorius): 45122, 90 Aitiologie: 126f., 290 Alanen: 25, 122306 Allegorese/Allegorie: 111, 127318, 151f., 237588 Ambrosius: 20, 124, 152, 225, 236 Angelophanie: 211 Apokalyptik: 210 Apostrophe: 79–82, 91–94, 99, 103 Applanierung und Reliefierung: 137, 198502 Arat: 9–12, 31, 238 Arator: 3, 301 Astrologie: 10, 170, 286 Auferstehung: 128f., 168 Augustinus: 20, 124f., 135, 152, 172f., 225, 243f. Αὐτόματος βίος: 241f., 245 Autor/Autorbegriff: 5f., 73190 Avien: 59, 31, 146, 241f. Avitus: 1, 4, 90, 132, 301f. Bibelübersetzungen: 16–18 Bibeldichtung – Begriffe Bibeldichtung und Bibelepos: 5 – bibelparaphastische self-consciousness: 104–106 – Gattungsentwicklung: 301f.

– historisch-grammatische und rhetorischdidaktische Paraphrase: 106, 302736 – Proömialtopik: 43–45 – Stellung der Alethia in der B.: 300–306 – Tendenz zum Zerfallen in Episoden: 59f. Calcidius: 19f. Charakterisierung: 131, 139–142, 196–199 Claudian: 56, 60157, 87, 99, 141, 163 Claudius Marius Victorius: passim, siehe bes. – Namensform (Victorius oder Victor): 24 – Herkunft und Lebenszeit: 2+5 – Griechischkenntnisse: 15–21 – Tätigkeit als Rhetor: 2+5, 11f., 55f., 111 ‚Cyprianus Gallus‘: siehe Heptateuchdichter Deukalion: 216, 181467 Diatribe: 135f., 144, 233 Elysium: 237589 Emotionalität – des Erzählers: 73–84, 104f., 179 – von Figuren: 139–141 enarratio: 55–58, 130, 199503 Endzeit: 64, 122+305, 129, 169 (siehe auch Weltende) Enkomion: 35, 196–198, 301 Enosch: 61, 293 Enumeratio: 150 Epikur/Epikureismus: 28, 35, 224, 227–229, 249, 298, 304 Epos: passim, siehe besonders – Abgrenzung vom Lehrgedicht: 8–15 – Tendenzen der Spätantike: 56, 60+157, 69, 74, 133f., 141, 179, 196496 Erbaulichkeit: 58154, 60 Erkenntnisfähigkeit: 186, 188, 280f. Erlebte Rede: 76 Ethopoiia: 139–142 Euryalus: 159, 190, 193–196

322 | Namens- und Sachregister

Eva: 140, 182 (weitere Stellen unter Adam) Ewiger Frühling: 239f., 245, 247 Exegese: 52, 55, 75, 111, 123f., 149, 151f., 169, 171–173, 178, 210, 213, 236, 301f. Exemplum: 57f., 83, 94, 198f., 259, 276–279

Kain: 53–58, 61f., 67, 78f., 82f., 96, 160, 291– 295, 299 Kampfdarstellungen: 162f., 189–199, 208 Kataklysmos: 220f. Konjektur: 66175, 139354, 165436, 289715, 286707

Firdausī: 263 Fokalisation: 76 Freier Wille: 125

Laktanz: 225, 240, 245 Lehrgedicht: passim, siehe besonders – Abgrenzung vom Epos: 8–15 – Christliches Lehrgedicht: 57 – Explizite Lehrabsicht: 34, 89 – Merkmale nach K. Volk: 89235, 100–104 – Sachtyp nach B. Effe: 34 Leuker: 122306 Locus amoenus: 110, 237589 Lot: 84f., 189–193, 197f., 214f. Lukan – Vorbild in Erzählweise: 74f., 78f., 81–87, 95, 99, 115f., 179, 301 – Inhaltliches Vorbild: 163f., 191, 195, 222, Lukrez – Muster für Techniken: 9–12, 47, 90–92, 135f., 170f., 177f. – Inhaltliches Vorbild: 3f., 23–47. 64, 166– 168, 174f., 223–299, 303 – Rezeption bei anderen christlichen Dichtern: 304f.

Gattungen – Antike Auffassungen: 8–13 – Aufweichung von Gattungsgrenzen: 179 – Emischer und etischer Ansatz: 7f., 13f. – Gattungserfinder: 12f. – Generic enrichment: 14, 58155 – Kreuzung der Gattungen: 14 Gegenwartsbezug: 83, 122, 125f. Gelehrsamkeit: 148f., 153 Gnade: 58, 79, 96, 125, 184, 292 Goldenes Zeitalter: 237–248, 252–254 Grammatiker: 10–12 , 55f. Grattius: 24, 166 Hagar: 117, 210f. Handlungstraum: 201–204 Heldenschau: 205f., 209 Heptateuchdichter: 106, 132, 301 Homer – Epiker par excellence: 1, 9, 12f., 46 – Beispiel bestimmter Techniken: 22, 73, 79f., 88, 108, 113, 181, 184 – Vorläufer einzelner Gedanken: 159, 161–163 Hesiod: – Lehrdichter par excellence: 8f., 11–13 – Beispiel bestimmter Techniken: 22, 24, 90 – Vorläufer einzelner Gedanken: 33, 237f., 248f., 264, 272, 298 Hymnus: 21–33, 41, 177f., 181f., 303 Interlocutor: 134f., 233, 236 Invektive: 83 Jesus Christus: 54, 62–64, 72, 122–128, 299 Juvencus: 1, 3, 46, 137, 300–302, 304

Makrokosmos/Mikrokosmos: 155, 279f. Manichäer: 91+240, 263f. Manilius: 59, 12, 33, 39f., 164–166, 170, 224, 229, 249, 276–278 Markion/Markioniten: 91+240, 222 Materialismus: 231, 237 Moralisierung: 94, 193, 269–271 Narratologie: 118f., 185 Naturwissenschaft: 55, 216, 219–223, 235f. Nikander: 12, 24 Nimrod: 289f.714 Nisus: 159, 190, 193–196 Noah: 51, 53, 61f., 86f., 223, 288f., 299 Oratio obliqua: 133 Ovid – Gattungsmischung: 14, 69–72, 145

Namens- und Sachregister | 323

– Inhaltliches Vorbild: 167, 218f., 221, 224– 226, 238–240, 249, 253f., 257 Panegyrik: 87f., 95, 99f., 179, 301 Paradies: 62, 108–113, 118, 138, 147–154, 237–248 Pest: 165–168 Philon von Alexandria: 20, 152 Poeta-vates-Konzept: 32, 101 Poetic self-consciousness: 100–102, 107 Poetic simultaneity: 100–104, 107 Prädestinationslehre: 125+309 Proba: 1, 130, 240, 245f., 254–257 Progymnasmata: 108 Πρῶτος εὑρετής: 12, 256, 291f. Providentia: 154, 254, 277 Prudentius: 2464, 57f., 240, 304 Psychologisierung/psychologisches Interesse: 77, 80, 120f., 185, 274 Redetraum: 201, 203f. Rhetorik: 84, 87, 107f., 133, 141, 145, 150, 187, 196, 217 Schematismus: 155407, 192, 271–273 Schildbeschreibung: 108, 200, 207–209 Schlange: 83, 98, 114, 118, 120, 139, 183, 256, 261–263 (siehe auch Teufel) Schule – Einfluss auf die Alethia: 55, 130, 192, 199 – Bestimmung der Alethia?: 46+124, 149 – Unterrichtsinhalte: 11, 13, 43, 123 Schüler: siehe Adressat Sedulius: 1, 3, 90, 301f. Semipelagianismus: 25, 125+309 Simultantheorie: 173458 Sinnstiftung : 123f., 131 Sintflut: 53, 62, 66, 115, 129, 154f., 162, 175, 215– 223, 297 Spätantike (literarische Besonderheiten): 11, 23, 55f., 60, 69f., 74, 145, 148–150, 158, 179, 196+496, 198f.502 Stoa/Stoiker: 154, 198, 229, 277

Sündenfall: 62, 72, 76, 92, 98, 114–116, 119f., 182, 185–188, 244, 250, 254, 256f., 299 Synekdoche: 98 Taufe: 62f., 125, 129 Teufel: 120, 175f., 282f., 285–288 (siehe auch Schlange) Theodosius II.: 25 Tiberianus: 28–31, 33, 186 Topos/Topik: – Proömialtopik: 43–45, 178 – philosophische Topoi: 153f. – sonstige Topoi: 110, 146, 271 Turmbau: 53, 62, 126, 141f., 293f., 299 Typologie: 54, 62–64, 71, 127–131 Überlieferung der Alethia – Angaben im Codex: 24–6, 23 – Frage der Vollständigkeit: 27, 45, 90238 Valentinian III.: 25 Vergil – Epiker par excellence: 1f., 9f., 12, 46, 300 – Beispiel epischer Techniken: 74, 76, 82f., 86f., 115 – Beispiel lehrdichterischer Techniken und Themen: 24, 35, 90, 166f., 238f., 245, 249, 252f., 262, 276–279, 198, 303 – Episches Vorbild für Victorius: 3, 69, 72, 123–127, 130f., 143f., 159–161, 183–185, 189–214, 296–298, 301 – Lehrdichterisches Vorbild für Victorius: 46f., 149, 246f., 254–259, 277 Vorsokratiker: 33, 223, 298 Wahrheitsanspruch: 32–34, 49, 59, 71, 136 Wahrnehmbarkeit (Gottes): 187f., 213 Weltende: 124, 169, 220, 230f. (siehe auch Endzeit) Wunschsatz: 85f. Zufall: 227–230, 269, 277, 280, 298