Die politische Idee der Integration [1 ed.] 9783428535477, 9783428135479

Burkhard Wilk spricht sich in seiner politisch-philosophischen Schrift für eine Integrationspolitik aus, die sich an ein

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Die politische Idee der Integration [1 ed.]
 9783428535477, 9783428135479

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Burkhard Wilk

Die politische Idee der Integration

Duncker & Humblot · Berlin

BURKHARD WILK

Die politische Idee der Integration

Burkhard Wilk

Die politische Idee der Integration

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13547-9 (Print) ISBN 978-3-428-53547-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83547-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieses Buch entspringt einem emotionalen Impuls. Vorausgegangen war eine streitige Diskussion mit Freunden über das Thema der Integration von Zuwanderern, die mich ärgerlich, kämpferisch und nachdenklich zugleich machte. Mir wurde immer bewusster, dass es in der privaten wie öffentlichen Debatte kaum noch darum geht, Politik an einer vernünftigen Idee auszurichten. Dank sei deshalb zunächst denen gesagt, die mich zum Schreiben dieses Buches anregten und mir auch im Nachgang immer wieder als Diskussionspartner zur Verfügung standen. Dank möchte ich auch Annegret Boos-Krüger sagen, die mir in den vielen Gesprächen, die ich mit ihr führte, immer wieder – aus ihrem Arbeitsgebiet der Stadtentwicklung heraus – die politische Wirklichkeit vor Ort transparent machte. Bedanken möchte ich mich ferner bei meinem Kanzleiteam, insbesondere bei denjenigen, die die erforderlichen Schreibarbeiten übernahmen, sowie bei Dagmar Zindel, die das Manuskript Korrektur las und zudem noch wertvolle Hinweise gab. Nicht zuletzt möchte ich Frau Regine Schädlich vom Verlag Duncker & Humblot für die herstellerische Betreuung danken. Kassel, im Januar 2011

Burkhard Wilk

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A. Überblick über die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration . . . 13 I. Integration im allgemeinen Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Philosophische und soziologische Deutungen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Das einheitliche Prinzip bei Spencer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Die synthetische Einheit bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Soziologischer Integrationsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Integration, Assimilation und Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 a) Die strukturelle Integration bei Hoffmann-Nowotny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 b) Das handlungstheoretische Konzept Essers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 c) Die Beschreibung der Akkulturation durch Heckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Die Idee des „melting pot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Multikulturalität, Leitkultur und transkulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 a) Die Lehre vom reinen Multikulturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b) Aufgeklärte Multikulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 c) Leitkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 d) Integration als transkulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 IV. Integration von Zuwanderern in der parteipolitischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 B. Der Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee . . . . . . . 28 I. Begriffliches Denken und dialektisches Bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Begriffliches Denken als Vernunftkriterium des gesellschaftlichen Dialogs . . . . . . . 33 III. Der Allgemeinbegriff der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 IV. Der Artbegriff der gesellschaftlichen Integration von Zuwanderern . . . . . . . . . . . . . 39

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Inhaltsverzeichnis V. Die gesellschaftliche Einheit als das Wesen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Der Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Das Gesellschaftsganze als integrierte Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Die Staatsbildung als weiterer Akt der gesellschaftlichen Zwecksetzung . . . . 44 c) Der Inhalt des Gesellschaftsvertrages: ein ethischer Wertkonsens . . . . . . . . . . 48 aa) Die relative und polardialektische Struktur des ethischen Wertes . . . . . . . 48 bb) Das Wesen des gesellschaftsethischen Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . 54 d) Die Einheit des gesellschaftlichen Wertesystems – Die Würde des Menschen als oberster Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 e) Konkretisierung des gesellschaftsethischen Wertesystems in der staatlichen Verfassung und Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 f) Abgrenzung der gesellschaftsethischen Wertordnung vom religiös-ethischen Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Der ethische Gehalt der Werte der Würde und Freiheit des Menschen . . . . . . . . . 71 a) Der Wert der ethischen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Der ethische Wert der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 c) Die Idee der Menschenwürde im ethischen Spannungsverhältnis . . . . . . . . . . 79 d) Reale Menschenrechte und deren Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 e) Das ethische Prinzip der Toleranz – eine konkrete Form der Menschenwürde und kein Prinzip der Wertebeliebigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 f) Die Basiswerte der Würde und ethischen Freiheit des Menschen als Maßstab gesellschaftsethischer Veränderungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 g) Identität von Wertesystem und Gesellschaftskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 VI. Zuwanderung in die gesellschaftliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Das Wertesystem des Gesellschaftsganzen als Bezugsrahmen des gesellschaftlichen Integrationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Das gesellschaftsethische Wertesystem in seiner Ganzheit als Integrationsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Angebot zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe . . . . . . . . . . . 97 bb) Die ethisch-verpflichtende Seite des gesellschaftlichen Integrationsangebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Gegensätzliche Wertesysteme im Spannungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Die Scharia – die Wertordnung der Muslime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Unterschiedliche Ausrichtung der Wertordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Inhaltsverzeichnis

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cc) Auflösung des dialektischen Widerspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (1) Die Idee des reinen Multikulturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Die Idee des „aufgeklärten Multikulturalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (3) Leitkultur als Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (4) Die monoplurale Integration – ein systemdialektischer Ansatz . . . . . . 119 2. Die Integrierung – ein Identifikationsprozess mit dem gesellschaftsethischen Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Gesellschaftsethische Integration – die Synthese eines vernünftigen dialektischen Bewusstseinsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Gesellschaftsethische Identifikation – ein innerer Überzeugungsakt . . . . . . . . 126 c) Gesellschaftsethische Identifikation – keine menschenunwürdige Assimilation 128 d) Die „äußere Integration“ – Mindestanforderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Die emotionalen Faktoren der Integrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 VII. Integration als Basis eines ethisch-politischen Patriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Die Verfassung als Bezugsgröße des Patriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Die Liebe zur ethisch politischen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Patriotische Gefühlsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 VIII. Die politische Verwirklichung einer Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Der Begriff der Integrationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Vernunft statt machtbewusster Durchsetzung politischer Interessen . . . . . . . . 147 b) Der ganzheitliche teleologische Ansatz der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Politische Prinzipien der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Die Integrationsidee als oberstes Ziel der Integrationspolitik . . . . . . . . . . . . . 152 b) Ohne integrierte Aufnahmegesellschaft keine Integration von Zuwanderern . 155 c) Keine politische Zwangsassimilierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Keine Ergebnisoffenheit des politisch ethischen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 e) Vertrauen gegen Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 f) Integration trotz Segregation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 g) Integration ins Wertesystem aus dem Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 h) Bildung, Bildung und nochmals Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 IX. Recht und Rechtsprechung – Teil der gesellschaftsethischen Integrierung . . . . . . . . 180 1. Die Aufgabe des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

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Inhaltsverzeichnis 2. Die Rechtsprechung: Rationaler Akteur des Integrationsprozesses . . . . . . . . . . . 182 3. Die Glaubensfreiheit – kein Wert „de luxe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 X. Die Rolle der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Die voluntaristische Prägung des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Religiöser Dialog – die Chance zur vollendeten Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Einleitung Die Integration von Zuwanderern ist und bleibt eines der brisantesten und wichtigsten politischen Themen in unserem Land. Der EU-Kommissionspräsident Jos Manuel Barroso spricht sogar von der europäischen Schlüsselfrage für das 21. Jahrhundert. Die politische Bewertung, wann die Integration von Zuwanderern als gelungen oder nicht gelungen anzusehen sei, beherrscht die Integrationsdebatte. Hierüber gehen die Meinungen in der Diskussion, die von politischen Interessen und Bedürfnissen, aber auch von Ängsten und Vorurteilen geprägt sind, weit auseinander. Integrationsziele wie multikulturelle Gesellschaft und Leitkultur sind ein beredtes Beispiel hierfür. Selbst Stimmen, die die Assimilation der deutschen Kultur durch die Migranten fordern, damit sich Deutsche nicht wie Fremde im eigenen Lande fühlen müssen, sind wieder vermehrt zu hören. Die Fragen „Was ist eigentlich Integration?, Worin liegt eigentlich deren wahres Wesen?, Worin liegt deren wahre Idee?“ werden in der politischen Debatte und im gesellschaftlichen Dialog nicht gestellt. Es scheint so, als ob das Sein der Integration, dessen abstrakter Begriff und dessen Begriffsmerkmale für die politischen Akteure bei ihren politischen Bewertungen keine Rolle spielen. Offenbar gilt: Was sollte es für den politischen Dialog schon bringen, wenn man wüsste, wie die Definition des Begriffs Integration lautet. Dem entspricht es, wenn in der politischen Diskussion geringschätzig darauf hingewiesen wird, dass der Begriff der Integration ohnehin nur unbestimmt, vage und unscharf sein könne. Thilo Sarrazin geht sogar so weit zu sagen, dass der Integrationsbegriff nur anhand der Negativmerkmale: „Mängel in Sprache, Bildung, Arbeitsmarkt und fehlende Akzeptanz der Grundregeln unseres Zusammenlebens“ definiert werden könne,1 was ihm sodann wiederum Gelegenheit gibt, im Einzelnen aufzuzählen, was für ihn im gegenwärtigen Prozess alles falsch läuft. Für ihn ist der „Begriff“ der Integration somit ein Synonym für eine nicht gelungene Integration. Meine philosophisch-politische Schrift ist dagegen der Versuch, der Politik aufzuzeigen, dass auch der Dialektik des Integrationsprozesses die abstrakte Vernunft immanent ist und ohne Anwendung des Integrationsbegriffes keine vernünftige und zukunftstaugliche Politik möglich ist. Es ist der Versuch, einen Begriff der Integration zu formulieren, der auf der abstrakten Vernunft basiert, oder anders ausgedrückt, einen Begriff zu entwerfen, der für sich in Anspruch nehmen kann, ungeachtet

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Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 282.

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Einleitung

aller lebendigen Widersprüche und Prozesse, die einem solchen Thema anhaften, sich selbst auf einen Seinszustand zu beziehen, welcher in sich widerspruchsfrei ist. Denn: Orientiert sich die Politik nicht an der abstrakten Vernunft, d. h. am begrifflich systematischen Denken, fehlt ihr nicht nur die aus dem Begriff folgende politische Idee, sondern auch die innere Ordnung für einen vernünftigen gesellschaftlichen Dialog, was nebenbei gesagt nicht nur für die Integrationspolitik, sondern für die Politik überhaupt gilt. Erst wenn der Begriff steht, kann der dialektisch geprägte politische und ethische Prozess beginnen. Ohne abstrakte Vernunft gibt es keine lebendige Vernunft. Wer dies nicht beachtet, wird sich in der politischen Orientierungslosigkeit wieder finden. Die vorliegende Arbeit hat nicht nur die Zuwanderung im Blick. Sie lädt vielmehr zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Integrationsgedanken schlechthin ein. Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen beinhaltet nämlich auch die begriffliche Reflexion über unsere eigene gesellschaftliche Einheit, über unseren eigenen ethischen Konsens und damit über unsere eigene Integration. Die Integrierung von Zuwanderern setzt nämlich – logisch notwendig – eine Gesellschaft voraus, die selbst integriert ist.

A. Überblick über die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration I. Integration im allgemeinen Sprachgebrauch Unter Integration wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Eingliederung außenstehender Elemente in eine größere Ganzheit bzw. Einheit verstanden.1 Diese Sprachbedeutung assoziiert, dass eine Einheit bzw. ein Ganzes vorhanden ist, in welche außenstehende Teile im Rahmen eines Vorgangs bzw. Prozesses aufgenommen werden, wobei das Ganze als solches unversehrt im Sinne von integer bleibt. Unter Integration wird daneben auch die (Wieder-)Herstellung eines Ganzen oder einer Einheit aus Differenziertem2 verstanden. Es handelt sich hierbei um den Prozess der Schaffung eines einheitlichen Ganzen aus einzelnen Elementen, die sich in dauernder Auseinandersetzung miteinander zusammenfinden.3 Dieser Sprachgebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass Integration keine vorhandene größere Ganzheit voraussetzt, in die außenstehende Elemente einzubeziehen wären. Die Einheit wird vielmehr erst im Rahmen einer dauernden Auseinandersetzung hergestellt, weshalb in diesem Zusammenhang auch von Vereinigung und Zusammenschluss die Rede ist.4 Dieser Sprachgebrauch entspricht dem Begriff der Synthese als Zusammenfügung einzelner Teile zu einem höheren Ganzen.5 Dabei geht es um die Vereinheitlichung einer Mannigfaltigkeit, einer Gegensätzlichkeit oder gegensätzlicher Vielheit zu einer Einheit im Rahmen einer wechselseitigen Durchdringung und Beeinflussung, in der die Gegensätze und Widersprüche ausgeglichen und aufgehoben sind und zu einer neuartigen Einheit führen.6 Schließlich wird Integration nicht als Prozess, sondern als Zustand, in dem sich etwas befindet, nachdem es integriert worden ist, bezeichnet.7 Dies dürfte allerdings nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu den vorgenannten Sprachbedeutungen darstellen. Versteht man nämlich unter Integration einen Prozess, bedeutet dies zwangsläufig, dass auch das Ergebnis des Prozesses, d. h. dessen Endzustand als Integration zu bezeichnen ist. Insoweit bezeichnet Integration sowohl den Prozess als 1 2 3 4 5 6 7

Duden, Fremdwörterbuch, unter Integration. Meyers Neues Lexikon, unter Integration. Meyers Neues Lexikon, unter Integration. Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, unter Integration. Duden, Fremdwörterbuch, unter Synthese. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter Synthese. Duden, Fremdwörterbuch, unter Integration.

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

auch das – zum Prozess selbst gehörende – Ergebnis des Prozesses. Es empfiehlt sich deshalb im Sprachgebrauch zu differenzieren, indem man als Integration den Endzustand des Prozesses bezeichnet und den Prozess zur Integration selbst Integrierung nennt.

II. Philosophische und soziologische Deutungen der Integration 1. Das einheitliche Prinzip bei Spencer In der Philosophie hat sich vor allem der bedeutendste englische Philosoph des 19. Jahrhunderts Herbert Spencer mit dem Begriff der Integration auseinandergesetzt. Spencer ging davon aus, dass sich das Denken des Menschen nur im Umgang mit den ihm allein gegebenen Erscheinungen entwickelt habe und nicht tauglich sei, das absolute bzw. das wahre Wesen eines Gegenstandes zu ergründen. Aufgabe der Philosophie sei es, die den Menschen gegebenen Erscheinungen zu ordnen und eine Vereinheitlichung in Vollkommenheit zu leisten. Um die Vereinheitlichung zu leisten, bedürfe die Philosophie eines einheitlichen Prinzips, eines dynamischen Prinzips der Wirklichkeit, welches Spencer das Gesetz der Entwicklung nannte. Wörtlich hat er hierzu ausgeführt: „Die Entwicklung ist eine Integration der Materie, die von einem Aufwand an Bewegung begleitet wird; während ihres Verlaufs geht die Materie aus unbestimmter, zusammenhangloser Homogenität in bestimmte, zusammenhangvolle Heterogenität über, und die aufgewendete Bewegung erleidet eine gleichlaufende Umformung.“8

Integrationen sollen nach Spencer danach Anhäufungen getrennter Teile zu Ganzheiten sein, wozu auch die menschliche Gesellschaft gehöre. Auch diese soll sich nach dem Gesetz der Integration entwickeln.9 Darüber hinaus hat Spencer auch den gegenläufigen Prozess der Desintegration beschrieben. Dieser Prozess führe von der Integration zur Auflösung, vom Zusammengesetzten zum Einfachen zurück. Infolge der Unbeständigkeit des Homogenen beginne allerdings alsbald ein neuer Zyklus der Entwicklung.10 2. Die synthetische Einheit bei Hegel Bei Spencer stand das Prozesshafte der Integration im Vordergrund seiner Philosophie, wobei der Akzent auf der ganz allmählichen, sich fast unmerklich über viele Zwischenglieder vollziehenden Wandlung lag. In diesem Punkt unterscheidet sich 8

Herbert Spencer, zitiert nach Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 550. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 550 f. 10 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 551; Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter Integration. 9

II. Philosophische und soziologische Deutungen der Integration

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Spencer von der Dialektik Hegels.11 Dieser sah die Entwicklung immer nur als Entwicklung der Idee in ihrem Anderssein, also in ihrem dialektischen Gegensatz.12 Während für Spencer Integration das Ergebnis eines evolutionären Prozesses ist, findet nach Hegel die Herstellung einer Einheit dialektisch statt. Dies wird deutlich, wenn Hegel wörtlich von der „Integration beider relativen Totalitäten zur absoluten Identität“13 spricht. Die Einheit ist danach eine Synthese als die Aufhebung des sich in These und Antithese Widersprechenden in einer höheren Einheit. Diese Einheit wird von Hegel auch als eine hervortretende „Mitte“ bezeichnet, welche von der abgeschiedenen Wirklichkeit der Seiten ausgeschlossen und unterschieden werde.14 Entsprechend der Dialektik als einer logischen Bewegung des Begriffs15 bzw. der gesetzmäßigen Entwicklung der Wirklichkeit16 ist Integration nach Hegel somit nichts anderes als ein Prozess der Setzung einer These, einer Antithese und der Synthese, wobei – was von nicht unerheblicher Bedeutung ist – These und Antithese sich keinesfalls gegenüberstehen und die Synthese als ein Drittes wie etwa eine mittlere Linie oder ein Kompromiss hinzukäme. Die These setzt vielmehr die Antithese als ihren Gegensatz voraus, ohne den sie selbst nicht gedacht werden könnte, und setzt sich zugleich als übergreifendes Ganzes, das den Gegensatz in sich aufhebt und so die Synthese ist. Die Synthese kommt so nicht zur These und zur Antithese hinzu. Sie ist vielmehr die Bewegung von der These zur Antithese, eine Bewegung, in der beide nicht nur als einander notwendig fordernd und bedingend erkannt werden, sondern die eine die Entgegensetzung in sich enthält und sie zugleich aufhebt.17 Für das dialektische Denken ist das Wahre die Einheit als der sich aufhebende Unterschied. Das Wahre ist nach Hegel das Ganze, es ist das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.18 Im Resultat soll die ganze Bewegung enthalten sein. Das Ganze ist nach Hegel daher mit dem Ausgangspunkt ebenso identisch wie nicht identisch, also in dialektischer Weise eins. Es ist somit eins, wie die Synthese mit der These, wie das Ganze mit seinem ersten Moment. Es ist dasselbe, aber das in sich Reichere, Entwickeltere oder das seiner Wahrheit. Hegel führt insoweit aus, dass 11

Hans-Heinz Holz, in: Jordan/Nimtz (Hrsg.), Lexikon der Philosophie, S. 66 hat unter dem Stichwort Dialektik deren Ursprungsgedanken wie folgt gefasst: „Zenons Paradox ,der fliegende Pfeil ruht machte darauf aufmerksam, dass in jedem Augenblick ein sich in Bewegung befindliches Objekt in seinem jeweiligen Zustand identisch ist und zugleich in den nächstfolgenden Zustand übergeht, also nicht identisch ist. Platon nahm dieses Problem im Dialog Parmenides auf und argumentierte, der Begriff des Einen schlösse den des Vielen ein und umgekehrt. … Hegel brachte die Denkfigur der Dialektik auf die Formel ,Identität von Identität und Nichtidentität. Diese besagt, dass eine dialektisch strukturierte Gattung zwei und nur zwei Arten umfasst, nämlich sich selbst und ihr Gegenteil (,übergreifendes Allgemeines).“ 12 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 546. 13 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 141. 14 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 360. 15 Larenz, Hegels Begriff der Philosophie und Rechtsphilosophie, S. 13. 16 Zimmer, Das Philosophenportal, S. 220. 17 Larenz, Hegels Begriff der Philosophie und Rechtsphilosophie, S. 14. 18 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, S. 22.

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

das Ganze durch sein dialektisches Fortgehen nichts verliere, noch lasse es etwas dahinter, sondern trage alles Erworbene mit sich und bereichere und verdichte sich in sich.19 Die Glieder des Systems seien die Momente der sich entwickelnden Einheit des Wissens und seiner Gegenstände.20 Von der Dialektik Hegels ist die Theorie einer kritischen Dialektik zu unterscheiden, wie sie unter anderem von dem Neokantianer Siegfried Marck vertreten wurde. Marck verwarf an der Hegelschen Dialektik die die den Widerspruch aufhebende Kraft der Negation. Er insistierte demgegenüber auf der dialektischen Aufbewahrung der Gegensätze, auf einer zwieträchtigen Harmonie, auf dem Beisammensein widersprüchlicher Elemente als Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung.21 Als Anwälte der Antithese verstanden sich auch Theodor Adorno und Max Horkheimer, die im Rahmen der von ihnen vertretenen „negativen Dialektik“ eine synthetische Auflösung im Sinne Hegels für uneinlösbar hielten.22 Integration als synthetische Einheit im Sinne Hegels wäre hiernach nicht zu erreichen, da es konsequenterweise nie zu einer Auflösung bzw. Aufhebung der Gegensätze käme.

3. Soziologischer Integrationsbegriff In der Soziologie wird Integration im Allgemeinen als Verbindung einer Vielheit von Einzelnen oder von Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit verstanden, die sich in der Annahme kulturspezifischer Wertvorstellungen und sozialer Normen durch die Beteiligten äußert. Eine besondere Integrationsfunktion soll dabei den Religionen als Instanzen der Bestätigung geltender kultureller Werte sowie den Erziehungssystemen (Sozialisationsinstanzen) zukommen. Die Integration sei gefährdet, wenn Werte und Normen bestehender Gruppierungen (Subkulturen) mit denen des übergeordneten Systems nicht oder nur partiell übereinstimmen.23 Der Grad der Integration bestimme das Ausmaß der Übereinstimmung der Gesellschaftsmitglieder hinsichtlich gemeinsamer Ordnungsprinzipien und damit die gesellschaftliche Stabilität.24

III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte Die Literatur zur Integration fremder ethnischer Bevölkerungsgruppen in die Aufnahmegesellschaft ist umfangreich. Mit Beginn der sechziger Jahre sind zahlreiche Theorien und Konzepte entwickelt worden, die sich mit der Fragestellung beschäftigten, welche Bedingungen auf Seiten der Aufnahmegesellschaft einerseits und 19 20 21 22 23 24

Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 349. Larenz, Hegels Begriff der Philosophie und Rechtsphilosophie, S. 18 f. Vgl. Walter, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 3. 2007, S. 11. Vgl. Steenblock, Philosophiegeschichte, S. 372. Der große Brockhaus, unter Integration. Meyers Neues Lexikon, unter Integration.

III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte

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auf Seiten der Migranten andererseits gegeben sein müssen, damit ein gesellschaftlich akzeptabler Integrationsprozess zustande kommen kann. Dabei prägen vor allem die Arbeiten von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, Hartmut Esser und Friedrich Heckmann den gegenwärtigen theoretischen Bezugsrahmen.25 1. Integration, Assimilation und Akkulturation a) Die strukturelle Integration bei Hoffmann-Nowotny Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny plädiert dafür, das Verhältnis der Einwanderer zu der sie umgebenden Gesellschaft mittels der Begriffe Integration und Assimilation zu konzeptualisieren. Dabei setzt er die Begriffe Integration und Assimilation mit den beiden nach seiner Auffassung grundlegenden Dimensionen der sozialen Realität in Beziehung, nämlich der Struktur als dem sog. Positionssystem der Gesellschaft und der Kultur als dem Symbolsystem der Gesellschaft. Für Hoffmann-Nowotny bedeutet der Begriff Integration hiernach die Partizipation an der Struktur, der Begriff der Assimilation die Partizipation an der Kultur einer Gesellschaft, wobei der Begriff der Gesellschaft nicht ausschließlich im umfassenden Sinne aufgefasst werden dürfe, sondern auch auf Subkulturen Anwendung finden soll.26 Integration bezieht sich nach Hoffmann-Nowotny bei einer statischen Betrachtung auf den Platz des einzelnen Einwanderers innerhalb der Strukturen der verschiedenen Teilsysteme des Einwanderungslandes (politisches System, Erwerbssystem, Nachbarschaftssystem, Vereinssystem, demographischen System). Bei einer dynamischen Analyse soll dagegen der Prozess, d. h. der Verlauf der Integration, im Mittelpunkt des Interesses stehen. Assimilation meine dagegen bei statischer Betrachtung das Maß, zu dem Einwanderer die Werte, Normen, Gebräuche und verschiedene Rollen, insbesondere aber die Sprache als Symbolsystem par excellence der aufnehmenden Gesellschaft übernommen hätten. Der Grad der Assimilation sei umso höher, je mehr der Einwanderer diese Elemente nicht nur oberflächlich gelernt, sondern auch internalisiert, d. h. in seiner Persönlichkeit aufgenommen habe. In dynamischer Sicht ginge es wiederum um die Art und den Verlauf des Prozesses.27 Nach Hoffmann-Nowotny kann Integration in den verschiedenen Teilsystemen differentiell sein. So könne z. B. ein Einwanderer beruflich marginal, nachbarschaftlich aber gut integriert sein. Analog zu dieser Strukturbetrachtung könne ein Einwanderer im Erwerbssystem assimiliert sein; so könne er zum Beispiel alle Normen beherrschen und befolgen, die für eine erfolgreiche Berufsausübung erforderlich sei; andererseits könne er aber in anderen Systemen, etwa im demografischen System,

25 Vgl. hierzu im Einzelnen Glatzer, Integration und Partizipation, S. 13 ff.; vgl. auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 278 ff. 26 Hoffmann-Nowotny, Integration, Assimilation und „plurale Gesellschaft“, S. 16. 27 Hoffmann-Nowotny, Integration, Assimilation und „plurale Gesellschaft“, S. 17.

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

weniger assimiliert sein, was dadurch zum Ausdruck komme, dass er eine ebenso große Zahl von Kindern habe, wie dies seiner Herkunftskultur entspreche.28 Hoffmann-Nowotny stellt schließlich klar, dass das Integrationsziel nicht in der kulturellen Homogenisierung liege, wie man aufgrund des Konzeptentwurfs der Assimilation meinen könne.29 b) Das handlungstheoretische Konzept Essers Im Unterschied zu Hoffmann-Nowotny, der die Integrationschancen in Abhängigkeit von der Struktur der Aufnahmegesellschaft sieht, betrachtet Hartmut Esser Integration als einen Tatbestand, der über das Individuum vermittelt wird (sog. handlungstheoretischer Ansatz).30 Integration wird als ein Zustand des Gleichgewichts eines Migranten hinsichtlich seiner Beziehungen und seiner Position in der Aufnahmegesellschaft gesehen.31 Esser versteht unter Integration zunächst ganz allgemein den Zusammenhalt von Teilen in einem Ganzen, gleichgültig worauf dieser Zusammenhalt beruhe.32 Bei Analyse dieses Begriffs werde deutlich, dass stets zwei Einheiten angesprochen würden: Das System als Ganzheit und die Teile, die es bildeten. Dementsprechend seien zwei Sichtweisen des Integrationsbegriffs zu unterscheiden, nämlich die Systemintegration und die Sozialintegration. Die Systemintegration beziehe sich dabei auf die Integration des Systems einer Gesellschaft als Ganzheit; sie sei die Form des Zusammenhalts der Teile eines sozialen Systems, die sich unabhängig von den speziellen Motiven und Beziehungen der individuellen Akteure und oft genug sogar auch gegen ihre Absichten und Interessen ergäben und durchsetzten. Die Sozialintegration beziehe sich dagegen auf die Integration der Akteure bzw. der von ihnen gebildeten Gruppen in das System hinein, wobei die Akteure, die Bevölkerung und die verschiedenen Gruppen der Bezugspunkt der Betrachtung seien.33 Sie werde durch den Einbezug, die Inklusion der Akteure in die jeweiligen sozialen Systeme bestimmt, während die Systemintegration die Integration eines sozialen Systems über die Köpfe der Akteure hinweg sei, die etwa durch den Weltmarkt, durch den Nationalstaat, durch die großen kooperativen Akteure wie etwa die internationalen Konzerne besorgt werde.34 Deshalb sei im Zusammenhang der Integration von Migranten und fremdethnischen Gruppen in erster Linie die Sozialintegration gemeint, nämlich der Einbezug der Akteure in das gesellschaftliche Geschehen, etwa in Form der Gewährung von 28

Hoffmann-Nowotny, Integration, Assimilation und „plurale Gesellschaft“, S. 17. Hoffmann-Nowotny, Integration, Assimilation und „plurale Gesellschaft“, S. 17 f.; vgl. auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 280. 30 Vgl. Glatzer, Integration und Partizipation, S. 16. 31 Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie, S. 20. 32 Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 1. 33 Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 3. 34 Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 4. 29

III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte

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Rechten, des Erwerbs von Sprachkenntnissen, der Beteiligung am Bildungssystem und am Arbeitsmarkt, der Entstehung sozialer Akzeptanz sowie die emotionale Identifikation mit dem Aufnahmeland, weshalb unter anderem auch die Wertintegration als die Identifikation eines Akteurs mit dem betreffenden sozialen System als Kollektiv zur Sozialintegration gehöre.35 Die Assimilation ist nach Esser ein spezieller Fall der Sozialintegration. Die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft sei nämlich nur in Form der Assimilation möglich, nämlich im Anschluss an die vier Dimensionen der Sozialintegration (Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation), also: (1) als Akkulturation an die Aufnahmegesellschaft in Hinsicht auf Wissen und Kompetenzen, (2) als Platzierung und Inklusion in die wichtigen Positionen und funktionalen Sphären der Aufnahmegesellschaft, einschließlich der Inanspruchnahme grundlegender Rechte und Pflichten, (3) als Aufnahme interethnischen Kontakten, sozialen Beziehungen und Tauschakten mit den Einheimischen und (4) als – wie immer geartete – emotionale Unterstützung nicht (nur) der Herkunfts-, sondern (auch) der Aufnahmegesellschaft und ihrer grundlegenden Verfassung.36 c) Die Beschreibung der Akkulturation durch Heckmann Friedrich Heckmann hat sich in erster Linie damit beschäftigt, grundlegende Konzepte und theoretische Grundlagen für die Analyse von Akkulturationsprozessen bei Zuwanderern neu zu entwickeln. Heckmann beschreibt zunächst Akkulturation als durch Kulturkontakte hervorgerufenen Veränderungen von Werten, Normen und Neueinstellungen bei Personen, den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Qualifikationen (Sprache, arbeitsbezogene Qualifikation, gesellschaftlich-kulturelles Wissen u. a.) sowie Veränderungen von Verhaltensweisen und Lebensstilen (z. B. in Bezug auf Arbeit, Wohnen, Konsum, Freizeitverhalten, Kommunikationsformen, Heiratsmuster). Im Verlauf von Akkulturationsprozessen komme es dabei notwendigerweise zu einer Veränderung der Selbstidentität. Akkulturation habe zudem Akkommodation im Sinne eines äußeren Anpassungsprozesses zur Voraussetzung.37 Neben Veränderungen von Personen – betrachtet als Einzelpersonen – könne man bei Kulturkontakten feststellen, dass sich auch Gruppen, ihre Strukturen und Institutionen veränderten; man könne also von einer „Personen-Akkulturation und einer Gruppen-Akkulturation“ sprechen. Akkulturation auf der Ebene der Gruppen bedeute eine Veränderung kollektiver Werte und Normen, Veränderungen, d. h. sowohl

35

Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 8. Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 21. 37 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 168; vgl. zur Theorie Heckmanns eingehend Langenfeld, Integration und Kulturelle Identität, S. 282 ff. 36

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

Neugründungen, wie Modifikationen oder Aufgabe sozialkultureller Strukturen in Gruppen, schließlich auch Veränderungen der Gruppenidentität.38 Akkulturation setzt nach Heckmann die Annäherung der Minderheit an die Mehrheit voraus, wobei auch die Mehrheit bestimmte Elemente der Minderheitenkulturen aufnehmen könne. Akkulturation sei somit ein unterschiedlich weit gehender Annäherungs- oder Angleichungsprozess, der die betroffenen Individuen und Gruppen allerdings in ihrer kulturellen Existenz belasse; ethnische und kulturelle Unterschiede blieben bestehen, Grenzziehungen bestünden fort.39 Gehe Akkulturation über diesen Zustand hinaus, spricht man nach Heckmann von Assimilierung. Assimilierung sei, auf der Ebene der Einzelperson wie von Gruppen, die vollständige Übernahme der Kultur der Mehrheitsgruppe durch die bisherige ethnische Minderheit; diese Übernahme schließe die Aufgabe der ethnischen Minderheitenkultur ein und bedeutet das Verschwinden zuvor existierender ethnischer Grenzziehungen. Eine eigenständige ethnische Identität der Minderheitsgruppe löse sich auf.40 Zwischen der Akkulturation und der Assimilation bestehe somit ein bedeutsamer Unterschied insofern, als Assimilierung eine radikalere und vollständige Akkulturation, eine Überlagerung des Sozialisationsprozesses durch einen neuen, eine Veränderung der subjektiven Identität und – für Gruppen-Akkulturation – ein Verschwinden von ethnischen Gruppenstrukturen darstelle. Das Konzept der Akkulturation lasse sich präziser gebrauchen als der umfassendere Begriff der Eingliederung, welcher Veränderungen in der sozialstrukturellen Position der ethnischen Minderheit einschlösse.41 Nach Heckmann hängen Intensität und Tempo der Akkulturation nicht nur von den inhaltlichen Aspekten der Kultur des Aufnahmelandes ab, sondern auch von den spezifischen Merkmalen der ethnischen Minderheiten selbst.42 Wichtig sei auch, dass nicht allein die Akkulturationsbereitschaft und Fähigkeit der Minderheit zu Prozessen der Akkulturation und Assimilation führen könne. Hinzutreten müsse die Offenheit der Aufnahmegesellschaft. Je offener die Mehrheitsgesellschaft sei, desto größer der Grad von Akkulturation bei den ethnischen Minderheiten.43 Akkulturation von Minderheiten finde im Allgemeinen in Richtung der Kultur der Mehrheit statt. Diese verfüge über größere materielle und immaterielle Ressourcen, mit denen sie Akkulturation in ihre Richtung belohnen könne. Entscheidend für die Richtung der Akkulturation sei also das Machtverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit und die Verteilung von Ressourcen.44

38 39 40 41 42 43 44

Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 168. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 169. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 170. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 208. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 112. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 186. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 187.

III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte

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2. Die Idee des „melting pot“ Von dem Gedanken der Akkulturation ist das Modell des „melting pot“ zu trennen. Der Begriff wurde im Wesentlichen mit der Einwanderungsbewegung in die Vereinigten Staaten in Verbindung gebracht. Heckmann hat hierzu ausgeführt, dass die Menschen, die während der Kolonialzeit und den ersten Jahrzehnten der Republik in die Vereinigten Staaten kamen, ihre jeweiligen Herkunftskulturen aufgaben bzw. bestimmte Elemente davon – in einer kulturellen Synthese – in eine sich neu formierende amerikanische Kultur einfließen ließen.45 Deshalb wird die Idee des „melting pot“ als Kulturkontakt beschrieben, in welchem biologische Vermischung46 oder wechselseitige Beeinflussung zur Auflösung beider oder mehrerer Kulturen führt und es zu einer kulturellen Neubildung kommt.47 Die Idee des „melting pot“ begreift man insoweit auch als kulturelle Synthese,48 bei der es zur Bildung eines neuen gemeinsamen Wissensvorrats kommt.49 Dabei wird deutlich, dass es sich hierbei weder um eine Synthese im Sinne der Dialektik Hegels noch im Sinne einer kritischen Dialektik handelt, da es im Ergebnis zu einer völlig neuen Einheit unter Auflösung der ursprünglich aufeinander treffenden Einheiten kommt.

3. Multikulturalität, Leitkultur und transkulturelle Identität a) Die Lehre vom reinen Multikulturalismus In der politischen Debatte um die Migration von Zuwanderern anderer ethnischer Herkunft wird unter anderem die Theorie des Multikulturalismus vertreten.50 Die Vertreter des reinen Multikulturalismus bezeichnen den Zustand der Multikulturalität in Einwanderungsgesellschaften als erstrebens- und erhaltenswert und setzen hierbei im Wesentlichen auf ein entsprechendes Entgegenkommen der einheimischen Bevölkerung. Diese sei moralisch verpflichtet, die kulturelle Eigenart der Einwanderer als gleichwertig und gleichberechtigt zu akzeptieren sowie ihnen entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Bereich einzuräumen.51 Schon aus dem Prinzip der Gleichberechtigung folge, dass Einwanderungsminderheiten über zureichende 45 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 164; kritisch hierzu Puhle, Vom Bürgerrecht zum Gruppenrecht, S. 147. „Die lange gepflegte Legende vom amerikanischen ,Schmelztiegel (,meltingpot), die die überwiegend europäischen Einwanderer unterschiedlichen Herkommens miteinander verbindet, homogenisiert und zu ,gleichen Amerikanern macht, hat nie der Wirklichkeit entsprochen“. 46 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 166. 47 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 171. 48 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 171. 49 Hoffmann-Nowotny, Soziologische Aspekte der Multikulturalität, S. 105. 50 Vgl. hierzu Bade, Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, S. 16 ff., der verschiedene Konzepte des Multikulturalismus beschreibt, die in der Politik und den Sozialwissenschaften vertreten werden. 51 Vgl. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 267 m.w.N.

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

Möglichkeiten verfügen sollten, ihre jeweiligen Kulturen und Identitäten aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.52 Der Multikulturalismus beschreibt eine Form eines Nebeneinanders von Kulturen innerhalb eines Gemeinwesens, die sich widersprechen dürfen, ohne dass der Widerspruch in irgendeiner Weise aufzuheben wäre. Dem entspricht es, wenn unter Multikulturalismus idealiter eine Gesellschaft ohne kulturelles Zentrum, ohne hegemoniale kulturelle Mehrheit oder ohne innere Verbundenheit verstanden wird, womit zugleich der Aggregatzustand dieser Theorie deutlich wird.53 b) Aufgeklärte Multikulturalität Daneben werden Konzepte einer „aufgeklärten Multikulturalität“ vertreten, die für eine möglichst die Identität schonende Integration bzw. eine Integration ohne Assimilation stehen. Dies bedeutet, dass eingewanderte Minderheiten zwar in die Strukturen des Einwanderungslandes integriert werden sollen, gleichzeitig soll ihnen allerdings auch die Möglichkeit eingeräumt werden, in kultureller Distanz zur Kultur des Einwanderungslandes zu verbleiben.54 Als Vertreter einer derartigen Theorie dürfte Heiner Geißler55 genannt werden. Er hat diese Form der multikulturellen Gesellschaft wie folgt beschrieben: „Sie ist das Gegenteil von homogenem Nationalstaat und völkischem Nationalismus. Wesentliche Kennzeichen sind pluralistische und multikulturelle Formen des Zusammenlebens unter dem Dach der Verfassung. Die Idee der multikulturellen Gesellschaft ist der Gegenentwurf zu dem Konzept ,Deutschland den Deutschen. Das bedeutet erstens, dass die Deutschen in dieser Gesellschaft der Zukunft mit Menschen anderer Herkunft gleichberechtigt, tolerant zusammen leben, ohne sie assimilieren zu wollen, und dass diese ihre kulturelle Identität nicht zu verlieren brauchen sondern behalten können. Das bedeutet zweitens, dass diese Ausländer […] die Verfassungsgrundsätze unseres Landes anerkennen müssen und sich in unserer Sprache verständigen können, weil sonst Kommunikation und Integration in einer hochgradig arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft nicht möglich sind.“

c) Leitkultur In Abgrenzung zum reinen Multikulturalismus wurde von Bassam Tibi der Begriff der Leitkultur entwickelt, den er überparteiisch und nur konsensuell verwirklichbar auffasste. Bei der Leitkultur geht es Tibi um eine demokratische, also weder religiös noch ethnisch bestimmte, zivilisatorisch-politische Identität.56 Tibi spricht sich für einen Kulturpluralismus mit Wertkonsens und gegen einen wertebeliebigen Multi-

52

Schulte, Multikulturelle Gesellschaft, S. 4. Vgl. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 265 f. m.w.N. 54 Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 271; Hoffmann-Nowotny, Soziologische Aspekte der Multikulturalität, S. 110. 55 Geißler, Bürger, Nation, Republik, S. 135 ff. 56 Tibi, Europa ohne Identität, S. XIV. 53

III. Integrationskonzepte in der Zuwanderungsdebatte

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kulturalismus und Parallelgesellschaften aus.57 Leitkultur, die er nicht als speziell deutsche, sondern europäische Leitkultur versteht, meint nach Tibi die Anerkennung und Geltung des Primats der Vernunft vor religiöser Offenbarung, der individuellen Menschenrechte, der säkularen, auf der Trennung von Religion und Politik basierenden Demokratie, des Pluralismus sowie der gegenseitigen Toleranz.58 Tibi streitet letztlich wider einen Werterelativismus, der eine auf Geringschätzung und Gleichmacherei der Kulturen basierende Gesinnung darstelle, die zudem übersehe, dass in einem Gemeinwesen eine dominierende Kultur konsensual die Voraussetzung für den inneren Frieden sei.59 Der CDU-Politiker Friedrich Merz hat den Begriff der deutschen Leitkultur geprägt. Was er darunter versteht, hat er in einem am 25. 10. 2000 in der Tageszeitung „Die Welt“ erschienenen Beitrag wie folgt erläutert: „Einwanderung und Integration können auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie die breite Zustimmung der Bevölkerung finden. Dazu gehört, dass Integrationsfähigkeit auf beiden Seiten besteht. Das Aufnahmeland muss tolerant und offen sein. Zuwanderer, die auf Zeit oder auf Dauer bei uns leben wollen, müssen ihrerseits bereit sein, die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland zu respektieren. […] Das kulturelle Miteinander und die gegenseitige Bereicherung durch kulturelle Erfahrungen aus anderen Ländern stößt an ihre Grenzen, wo der Minimalkonsens zur Freiheit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung nicht eingehalten wird.“60

d) Integration als transkulturelle Identität Seyran Ates spricht sich in ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ gegen alle bisher diskutierten Integrationskonzepte aus. Sie versteht Integration, wenn sie gut verlaufen ist, als transkulturelle Identität, die sich im Individuum ausbilde. Das Konzept einer transkulturellen Gesellschaft geht nach Ates in gewisser Hinsicht weiter als das der Multikulturalität. Die Begegnung, der Austausch zwischen zwei unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Kulturen führe zu einer Verwischung der Grenzen, möglicherweise sogar zu einer Aufhebung der Grenzen. Dabei sei das Erkennen der eigenen und fremden kulturellen Einflüsse eine wichtige Grundlage für die transkulturelle Identität. Dies gelte vor allem dann, wenn das Fremde als neue und bereichernde Komponente der eigenen Identität begriffen werde. Dann gelinge transkulturelle Identität. Das Leben mit verschiedenen Kulturen beinhalte somit Eigenes, Fremdes und Neues.61 . . 57 58 59 60 61

Tibi, Europa ohne Identität, S. XVII; vgl. hierzu auch Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 250. Tibi, Europa ohne Identität, S. XVII. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 268. http://www.welt.de/print-welt/article540438/Einwanderung_und_Identitaet.html. Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 256 f.

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

Die Besonderheit des transkulturellen Konzepts bestehe darin, dass es kulturelle Identität nicht aus einer, sondern aus mehreren Perspektiven betrachte. Diese Identität sei nicht auf eine Einzelkultur beschränkt, sondern sei eine kulturübergreifende Identität.62 Transkulturell heiße, dass tatsächlich ein Gleichgewicht der Kulturen vorhanden sei, dass aus den verschiedenen Kulturen eine neue eigene Kultur und kulturelle Identität entstehen könne.63 Der grundlegende Ansatz für eine solche Kultur sei der Austausch von unterschiedlichen Lebensformen, Werten und Weltanschauungen, weshalb die Möglichkeit geschaffen werden müsse, alle in einer Gesellschaft vorherrschenden Lebensformen, Werte und Weltanschauungen kennenzulernen. Die Einigkeit darüber, dass eine gemeinsame europäische Leitkultur existiere, würde diesen Prozess beschleunigen. In jedem Fall müssten die Werte der rechtsstaatlichen Demokratie als Grundlage des Zusammenlebens betont und durchgesetzt werden.64 An anderer Stelle spricht Ates von einer gemeinsamen Leitkultur als Ergebnis des Zusammenlebens von verschiedenen Religionen und Kulturen.65

IV. Integration von Zuwanderern in der parteipolitischen Debatte Unter allen Parteien der Bundesrepublik Deutschland besteht zwischenzeitlich Einigkeit, dass die Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaft eine der wichtigsten politischen Aufgaben ist. Einig ist man sich auch darüber, dass es in der Vergangenheit erhebliche Versäumnisse und Irrtümer gab, die es wegen der Zukunftsbedeutung dieses Thema so schnell wie möglich aufzuarbeiten gilt. Die CDU hat sich in ihrem Grundsatzprogramm 200766 zum christlichen Menschenbild und zu einer Leitkultur, die für Deutsche und Ausländer gelte, bekannt. Integration bedeute die Einbeziehung in das gesellschaftliche Gefüge sowie die Akzeptanz kultureller Vielfalt auf der Grundlage allgemein geteilter und gelebter Grundwerte. Integration bedeute auch, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Integration als fortschreitender positiver Prozess führe zur gleichberechtigten Teilhabe am sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, zum wechselseitigen Verständnis und zugleich zur Identifikation mit unserem Lande. Ein unverbundenes Nebeneinander und Parallelgesellschaften, in denen die geltende 62

Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 257. Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 259. 64 Vgl. auch Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 257. In einem Interview mit der Hessischen Allgemeine vom 5. 07. 2008 fordert Ates bezüglich der Gleichberechtigung der Frauen eine Assimilation. 65 Ates, in: Lammert (Hrsg.),Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 31. 66 http://www.grundsatzprogramm.cdu./de/doc/071203-beschluss-grundsatz-programm-6 -navigierbar.pdf. 63

IV. Integration von Zuwanderern in der parteipolitischen Debatte

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Rechtsordnung missachtet werde, werden abgelehnt. Verlangt wird vielmehr die Akzeptanz und Annahme der zentralen Werte und Normen unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, ohne dass der Migrant seine Herkunft verleugnen oder seine Wurzeln aufgeben müsse. Wenn allerdings die Menschenrechte und die Demokratie in Frage gestellt würden, gäbe es kein Recht auf kulturelle Differenz. Der Grundsatz laute: Fordern und Fördern. Die CSU67 vertritt in ihrem Parteiprogramm aus dem Jahre 2007 die Auffassung, dass Integration die wechselseitige Bereitschaft und Anstrengung für ein soziales Miteinander brauche. Ohne die eigene Anstrengung bleibe Integration ein leerer Begriff, wobei die CSU dafür steht, die Integrationsverpflichtungen der Zuwanderer klar auszusprechen und einzufordern. Hierzu gehörten die uneingeschränkte Anerkennung unserer Rechtsordnung, Rechtstreue, ausreichende deutsche Sprachkenntnisse und die Anerkennung der durch unsere christliche abendländische humanistische Tradition geprägten Werte. Integration in unsere Gesellschaft und unseren Staat lasse genügend Raum, die eigene religiöse Überzeugung und Kultur zu leben. Die SPD wendet sich – wie dies deren ehemaliger Parteivorsitzende Kurt Beck in Vorbereitung auf den SPD Parteitag 2007 formulierte – gegen eine eingrenzende Leitkultur. Integration erfordert nach dem „Hamburger Parteiprogramm“ der SPD gemeinsame Anstrengungen. Dazu müssten beide Seiten bereit sein. Einwanderer müssten sich integrieren; wir müssten ihnen dazu alle Möglichkeiten geben, am Leben unserer Gesellschaft teilzunehmen. Daher verlange Integration faire Chancen, aber auch klare Regeln. Das Grundgesetz biete Raum für kulturelle Vielfalt. Daher brauche niemand seine Herkunft zu verleugnen. Das Grundgesetz setze aber auch Grenzen, die niemand überschreiten dürfe, auch nicht unter Hinweis auf Tradition und Religion. Deshalb dürfe niemand Frauen und Mädchen daran hindern sich frei zu entfalten und zu bilden. Ein religiös begründeter Extremismus habe in unserem Land keinen Platz. Menschenrechte ließen sich auch nicht durch Berufung auf religiöse Regeln oder Traditionen außer Kraft setzen; hier liege die Grenze unserer Toleranz gegenüber anderen Kulturen.68 Die FDP hat sich in ihrem Deutschlandprogramm 2005 zu einem kulturellen Miteinander auf der Grundlage von universellen Werten, die in den Grundrechten der Verfassung verankert seien, bekannt. Demokratie, Rechtsstaat, die Grund- und Menschenrechte, die Trennung von Staat und Religion und die guten Kenntnisse der deutschen Sprache seien Fundamente unserer Gesellschaft, die niemand, auch nicht unter Hinweis auf seine kulturellen und traditionellen Überzeugungen, außer Kraft setzen dürfe, weshalb u. a. Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde sowie die Gewalt gegenüber und Unterdrückung von Frauen inakzeptabel seien.69 Erst die vorbehaltlose Akzep-

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http://www.csu.de/dateien/partei/gsp/grundsatzprogramm.pdf. http://spdnet.sozi.info/bawue/mannheim/seckenheim/dl/71028_Hamburger_Programm _final.pdf. 69 http://www.files.liberale.de/fdp-wahlprogramm.pdf. 68

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A. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus Integration

tanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der Grundwerte stifte eine gemeinsame Identität, ein gemeinsames Wir-Gefühl.70 Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund sei eine staatliche und gesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Voraussetzung für friedliches und partnerschaftliches Zusammenleben auf der Basis gemeinsamer Grundwerte sei die Offenheit und Toleranz der deutschen Bevölkerung und ihr respektvoller Umgang mit dem Anderen und Fremden. Zur Integrationsfähigkeit gehöre die Bereitschaft, die Migration als Tatsache zu akzeptieren und für die Zuwanderer Rahmenbedingungen zu schaffen, die Chancengleichheit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichten. Zum Gelingen von Integration sei aber gleichzeitig ein aktives Engagement jedes einzelnen Zugewanderten bei der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft unabdingbar.71 Für die Partei Bündnis 90/DIE GRÜNEN gehört die Integration von Migranten und Migrantinnen in das gesellschaftliche und politische Leben zu den noch uneingelösten Versprechen unserer Demokratie. Eine multikulturelle Gesellschaft habe eine positive Dimension, weil sie selbstverständlich die kulturelle Freiheit jedes Einzelnen bekräftige, eine Differenzierung zulasse und sich abgrenze – beispielsweise von der Idee einer deutschen Leitkultur, die zur Assimilation und Unterordnung verpflichten will. Kulturelle Vielfalt und interkultureller Austausch seien Zeichen der Vitalität einer Gesellschaft. Gleichzeitig gehörten zur gesellschaftlichen Perspektive einer pluralistischen, multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auch gemeinsame politische Zielvorgaben für das Zusammenleben. Diese seien die zentralen Werte der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der europäischen Verfassungstradition und unseres Grundgesetzes: Demokratie, Gleichheit aller Menschen und Gleichheit der Geschlechter. Diese Werte seien das „einigende Band“.72 Die Verbindung der beiden Felder der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung von Einwanderung, die Verbindung der Begriffe Demokratie und multikulturelle Gesellschaft heiße „multikulturelle Demokratie“.73 Die Partei „Die Linke“ setzt sich für eine liberale Integrationspolitik ein. Ausweislich ihres Parteiprogramms zur Landtagswahl in Hessen am 27. 1. 2008 versteht sie unter Integration die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben in einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft. Die Reduktion des Begriffs der Integration auf ein bloß kulturelles Phänomen wird abgelehnt. Integration auf den Kulturbegriff zu reduzieren, begünstige die gesellschaftliche und politische Ausgrenzung von Migrantinnen.74 Statt einseitig

70

http://www.fdp-fraktion.de/files/1228/P_-_Positionspapier_Integration_-_Endfassung-

pdf. 71 72 73 74

http://www.liberale.de/files/2055/Intergrationpapier.pdf. Vgl. hierzu Lachmann, Tödliche Toleranz, S. 54 m.w.N. http://www.archiv.gruene-partei.de/dokumente/grundsatzprogramm-bundesverband.pdf. http://www.abgeordnetenwatch.de/images/programme/linke_Hessen.pdf.

IV. Integration von Zuwanderern in der parteipolitischen Debatte

27

Integration zu fordern, müsse Deutschland Integration endlich fördern.75 Für die Partei „Die Linke“ steht fest, dass es keine deutsche Leitkultur gibt, sondern nur Grundund Menschenrechte, an die alle gebunden seien.76 Es verwundert nicht, dass sich die politischen Parteien darüber, wie eine gelungene Integration auszusehen hat und welche Wege zu gehen sind, nicht einig sind. Die politische Diskussion gestaltet sich vielfältig und uneinheitlich. Oft ist sie von Vorurteilen und unterschiedlichen politischen Interessen geleitet. Dennoch ist in allen Parteien die Tendenz zu erkennen, die politischen Zielvorgaben einer Integration an der Einhaltung unserer Rechtsordnung, unserer Verfassung und den Menschenrechten zu orientieren. Dies ist ein Minimalkonsens, der zumindest in die richtige Richtung weist.

75 http://www.die-linke.de/nc/presse/presserklärungen/detail/archiv2009/januar/zurück/ presseerklärungen. 76 http://www.abgeordnetenwatch.de/die_linke-788-1393.html.

B. Der Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee I. Begriffliches Denken und dialektisches Bewerten Die Darstellung des gegenwärtigen Meinungsstandes über die Integration macht deutlich, dass kaum versucht wird gemäß der klassischen Logik den Gattungsbegriff und die Artmerkmale der Integration zu definieren, um daraus wiederum logische Schlussfolgerungen für die politische Integration von Zuwanderern zu ziehen. Dabei wird von mir nicht verkannt, dass abstrakte Begriffe oder die Begriffsbildungen, die an Einzelgegenständen (Individualbegriff), an Gegenständen einer Art (Artbegriff) oder Gattungen (Gattungsbegriff) orientiert sind, in den Politik- und Gesellschaftswissenschaften schon immer in der Kritik standen und bezüglich ihrer Tauglichkeit in Frage gestellt wurden, eine Tendenz, die im Übrigen mit einer Entfernung vom logisch begrifflichen Denken aristotelischer Prägung einherging. Dabei beruft man sich gerne auf Hegel, der in seiner Einleitung zur Rechtsphilosophie ausführte, dass es die Philosophie mit Ideen, und darum nicht mit bloßen Begriffen, die er auch reine Verstandesbestimmungen nannte, zu tun habe. Die Philosophie zeige vielmehr nur deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf.1 Dabei ist ein Begriff nichts anderes als ein reiner Denkinhalt oder geistiger Inhalt des Gehirns, der sich auf einen Gegenstand bezieht und diesen sozusagen als Einheit von Merkmalen, die dem jeweiligen Gegenstand entsprechen, geistig erfasst. Unter Gegenstand ist dabei jede Existenz, die Bezugspunkt des Denkens sein kann, gemeint.2 Der Begriff im ontologischen Sinne3 bezieht sich somit nur darauf, wie oder was ein Seiendes bzw. die Welt als Gesamtheit aller Seienden ist.4 Ein solcher

1

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einleitung § 1. Wolf/Wolf, Rechtsphilosophie – ein Irrweg, S. 97; vgl. auch Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 20 ff. Die Kritik, die gegen die logische Begrifflichkeit vorgebracht wird, ist aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt. Dabei wird verkannt, dass nach einer am Sein orientierten auf sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung gegründeter Begriffsbildung, dessen oberster Gattungsbegriff der Begriff des Seienden ist, zunächst erst einmal die sinnlich wahrnehmbare reale Seinswirklichkeit abgebildet wird. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die logische Begriffsbildung der nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände durch Abstraktion und Reduktion. 3 Unter Ontologie verstehe ich in Anlehnung an Ernst Wolf die Lehre von den Seienden als Seiende. 4 In diesem Sinne wird auch davon gesprochen, dass der Begriff die Welt abbildet. Zur Begriffsbildung im naturwissenschaftlichen Sinne vgl. auch Lorenz, Die Rückseite des Spie2

I. Begriffliches Denken und dialektisches Bewerten

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Begriff beschreibt das Sein als solches. Der Inhalt des Begriffs hängt somit nicht davon ab, welche Bedürfnisse der Mensch zu den Seienden hat, wie er sie subjektiv bewertet oder wie er die Welt gerne hätte bzw. wie sie sein soll. Ich will im vorliegenden Zusammenhang nicht auf die unterschiedlichsten Arten der Begriffsbildungen als bestimmte logische Operationen, durch die der Inhalt der Begriffe erschlossen wird, eingehen und auch nicht die „Gretchenfrage der Philosophie“5 aufrollen, woher wir die Begriffe haben. Fest steht allerdings: Ohne Begriffe, die sich in ihrem Ursprung immer an realen, sinnlich wahrnehmbaren Seienden zu orientieren haben, ist wissenschaftliches Erkennen, Urteilen und Schließen sowie logisches Denken nicht möglich, eine Tatsache, welche in der Mathematik, die es mit Zahlbegriffen zu tun hat, und den Naturwissenschaften völlig außer Frage steht. Dass man sich in den Geisteswissenschaften und in der Politik dagegen zunehmend vom begrifflichen Denken verabschiedet, ist deshalb um so verwunderlicher, als feststehen dürfte, dass es ohne begriffliches Denken an sich auch keine Kommunikation, keinen Dialog, keine Verständigung und damit auch keinen Konsens geben kann. Der unbestreitbare Vorteil einer systematisch-logischen Begriffsbildung liegt darin, dass jeder Begriff seinen festen Bezugsrahmen hat, der ihn von anderen Begriffen abgrenzt. Das hat wiederum seinen Grund darin, dass es bei der Begriffsbildung darum geht die Abgrenzungs- und Unterscheidungsmerkmale zu finden, die den begrifflich zu erfassenden Gegenstand von allen ihm ähnlichen Gegenständen trennt. Allein dadurch werden die Begriffe schon zur unverzichtbaren Voraussetzung für das logische Denken und einem seiner tragenden Grundsätze, nämlich dem Identitätssatz, wonach ein Gedanke bei seiner Wiederholung einen und denselben stabilen Inhalt haben muss. Zum Begriff als Denkinhalt gehört auch die Vorstellung eines Wortzeichens einer Sprache.6 Sprache und Begriff gehören zusammen. Deshalb trifft es durchaus zu, wenn Theodor W. Adorno darauf verweist, dass die Begriffe implizit schon konkretisiert seien durch die Sprache, in der sie stünden.7 Die Sprache gibt den begrifflichen Inhalt, der rein geistiger Natur ist, in der Interaktion der Menschen untereinander wieder. Erst durch die Sprache als Begriffsträger in Kombination mit den dazugehörigen Denkinhalten ist eine vernünftige, in sich widerspruchsfreie Kommunikation möglich. Dies wird klar, wenn man sich vorstellte, was geschähe, wenn jeder Worte gebrauchte, die sich nicht auf das bezögen, was der Mensch gerade denkt. Verwirrung wäre die Folge. Entsprechendes gilt, wenn die sprachlichen Merkmale, die dem Denkinhalt entsprechen, nicht gleich bleibend gebraucht würden oder ein Wort gebraucht würde, worunter jeder etwas anderes verstünde. In diesem Sinne forderte schon Aristoteles, dass Personen, die ein Streitgespräch beginnen, in Bezug auf gels, S. 9 ff., 38; zur Begriffsbildung vgl. auch Orthbandt, Geschichte der großen Philosophen, S. 428 f. 5 Orthbandt, Geschichte der großen Philosophen, S. 428. 6 Wolf/Wolf, Rechtsphilosophie – ein Irrweg, S. 97. 7 Adorno, Philosophie der Gesellschaft, S. 17.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

die verwendeten Begriffe zu einer Übereinstimmung kommen müssten, damit sie während des gesamten Diskussionsverlaufs ein und dasselbe verstünden.8 All dies bedeutet allerdings nicht, dass allein und ausschließlich dem abstrakt begrifflichen Denken und der klassisch aristotelischen Logik das Wort geredet werden soll, wie dies in einer streng positivistischen Philosophie der Fall ist. Diese meint alles, d. h. auch gesellschaftliche Vorgänge nach den Grundsätzen der Naturwissenschaften erklären zu können. Das ist allerdings schon deshalb zweifelhaft, weil das individuelle und gesellschaftliche Leben vorwiegend von Bedürfnissen und Interessen geprägt ist, die Menschen zu den Gegenständen haben und aus denen wiederum Ideen, Strebensziele, Zwecke und Werte entstehen. Diese sind vor allem aufgrund der Polardialektik ambivalenter und subjektiver Wertvorstellungen des Menschen, die stets von inneren Widersprüchen geprägt sind, einer objektiven und widerspruchsfreien Begriffsbildung nicht zugänglich. Bei Anwendung seiner eigenen wissenschaftlichen Methoden („der Gegenstand bedingt die Methode“) ist es deshalb einem streng widerspruchsfreien und abstrakt begrifflichen Denken schon im Ansatz nicht möglich diese inneren Widersprüche und polardialektischen Wertungsgegensätze in einer Begriffseinheit abzubilden. In diesem Kontext kommt folgerichtig auch die abstrakte – im Ergebnis einseitige und widerspruchsfreie – klassische Logik an ihre Grenzen. Die klassische Logik ist zwar in der Lage logische Widersprüche aufzudecken. Sie ist aber nicht in der Lage, diese vorhandenen konkreten psychischen Widersprüche im Rahmen strenger logischer Deduktionen aufzulösen. Hierzu bedarf es vielmehr der dialektischen oder paradoxen Logik und Methode, die in der Lage ist, die Ganzheitlichkeiten und Ambivalenzen des Bewusstseins, des konkreten Lebens und Erlebens einschließlich widersprüchlicher Interessen und Bedürfnisse zu erfassen, abzubilden und aufzulösen.9 Die Dialektik ist die Erkenntnismethode des Wertens und Bewertens. Die Gegenstände werden nicht in ihrem objektiven und erfahrbaren Sein erfasst, sondern ausschließlich subjektiv oder intersubjektiv bewertet, wobei die subjektive Zwecksetzung und nicht das (bloße) Sein der Gegenstände im Vordergrund steht. Es ist deshalb von Hegel nur konsequent gewesen eine rein idealistische Philosophie zu formulieren. Erich Fromm hat das Spannungsverhältnis zwischen klassischer Logik und Dialektik, welches sich schon auf die Kontroverse zwischen Parmenides („Alles ist“) und Heraklit („Alles fließt“) zurückführen lässt, wie folgt beschrieben: „Seit Aristoteles ist die westliche Welt den logischen Prinzipien der aristotelischen Philosophie gefolgt. Diese Logik basiert auf dem Satz der Identität – der aussagt, dass A gleich A ist –, auf dem Satz vom Widerspruch (A ist nicht Nicht-A) und auf dem Satz vom ausge8

Albrecht/Asses, Wörterbuch der Logik, unter traditionelle Logik, S. 295. Die Verbindung zwischen Dialektik und Psyche hat bereits Siegmund Freud als Begründer der Psychoanalyse aufgegriffen, als er das Ich-Bewusstsein in drei Teile, nämlich das Es, das Ich und Über-Ich aufteilte und dabei dem Ich, dem wir uns bewusst sind, der Sache nach die Rolle zuwies, die Spannungsverhältnisse zwischen dem durchaus triebgeleiteten Unbewussten und dem von Normen und Regeln geprägten Über-Ich aufzulösen. 9

I. Begriffliches Denken und dialektisches Bewerten

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schlossenen Dritten (A kann nicht A und Nicht-A noch A oder Nicht-A sein). Aristoteles erklärt seine These sehr klar in folgendem Satz: ,Es ist ausgeschlossen, dass ein und dasselbe Prädikat einem und demselben Subjekte zugleich und in derselben Beziehung zukomme und auch nicht zukomme […] Dies ist also das grundlegendste unter allen Prinzipien. […] Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht das, was man als paradoxe Logik bezeichnen könne: Die Annahme, dass A und Nicht-A sich als Aussagen von X nicht gegenseitig ausschließen. Die paradoxe Logik war im chinesischen und indischen Denken dominierend, aber auch in der Philosophie Heraklits, und schließlich wurde sie unter der Bezeichnung ,Dialektik zur Logik von Hegel und Marx […] Die Lehrer der paradoxen Logik sagen, dass der Mensch die Wirklichkeit nur in ihren Widersprüchen wahrnehmen kann, dass er jedoch die letzte Realität, das Eine, niemals gedanklich erfassen kann. Dies führte zur der Folgerung, dass man für das letzte Ziel auch gar nicht versuchte, gedanklich die Antwort zu finden. Der Gedanke kann uns nur zu dem Bewusstsein hinführen, dass er uns die letzte Antwort eben nicht geben kann. Die Welt der Gedanken bleibt in diesem Paradox gefangen. Die einzige Möglichkeit, die Welt letztlich zu erfassen, liegt nicht im Gedanken sondern in dem Erlebnis der Einheit.“10

Dementsprechend legt – wie Fromm es ausdrückt – die paradoxe Logik den Nachdruck nicht auf das Denken, sondern auf das Erleben.11 In der Konsequenz ist es deshalb sicherlich zu kurz gegriffen, wenn – wie dies die Vertreter eines ausschließlich positivistisch naturwissenschaftlichen Vernunftbegriffs tun – unter der Vernunft lediglich Denken, Entschließen, Wollen und Handeln in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik verstanden wird.12 Selbstverständlich ist die Logik eine wesentliche Erkenntnisstufe der Vernunft, weil mit der Begriffsbildung und Logik genaues Wissen gewonnen wird.13 Selbstverständlich ist es auch durchaus vernünftig, sein Leben und Handeln in sich logisch stimmig und nicht widersprüchlich zu gestalten. Man muss sich allerdings immer wieder vergegenwärtigen, dass das Leben und Erleben auch aus Werten und Ideen, aus Bedürfnissen und Trieben, aus Liebe und Glaube und vor allem aus Emotionen und Gefühlen besteht. Deren Äußerungen sind oftmals mit einem logisch widerspruchsfreien, „stringenten“ Leben gar nicht zu vereinbaren. Abgesehen davon muss man nicht selten feststellen, dass gelebte Einseitigkeiten, die aus logisch widerspruchsfreier Konsequenz folgen, in ihrer dialektischen Umkehrung oftmals in der evidenten Unvernünftigkeit enden. Auf dieser Erkenntnis baut die Dialektik auf. Denn Hegel ging es nicht um die Frage des auf Empirie gegründeten erkenntnismethodisch richtigen Denkens, sondern um die Erkenntnis der Weltvernunft schlechthin. Damit stellen sich zwangsläufig auch die Fragen nach der Vernunft des Prozesses selbst sowie der Vernunft einer sittlichen Lebensführung, nämlich der Ethik.

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Fromm, Die Kunst des Liebens, S. 100. Fromm, Die Kunst des Liebens, S. 100. So z. B. Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 15. Albrecht/Asses, Wörterbuch der Logik, unter traditionelle Logik, S. 295.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Diese lebendige dialektische Vernunft ist eine zwecklogische (teleologische) Vernunft. Mit dieser sollen widersprüchliche Interessen und Bedürfnisse in dem angestrebten Zweck aufgehoben werden. Diese Art der Vernunft gibt darüber Auskunft, was bei Abwägung der sich widersprechenden Umstände unter Berücksichtigung des Ziels Sinn macht bzw. richtig oder besser ist. Der dialektische Abwägungsprozess ist durch das subjektive Bewerten des Bewertungsgegenstands geprägt. Die Dialektik ist die besondere Logik der Psyche.14 All dies bedeutet allerdings nicht, dass es außerhalb der Naturwissenschaften auf eine systematische und widerspruchsfreie, an den Seinsgegenständen orientierte Begriffsbildung, auf die aristotelische Logik und die sog. formale Vernunft nicht mehr ankäme und alles nur noch dialektisch oder zweckrational wertend aufzulösen wäre. Es ist auch keinesfalls so, dass die formale Logik in der dialektischen Logik aufginge oder darin sogar verschwände. Dies wäre ein Trugschluss sondergleichen. Richtig ist vielmehr, dass selbst aus der Sicht der Dialektik die Dialektik als die Methode der gedachten Gegensätzlichkeit selbst die Logik in ihrem Anderssein, nämlich die klassische Logik, als ihren Gegenpol geradezu fordert. Die Logik des Denkens ist der Dialektik der Bewertungen immanent. Der Dialektik wird durch die klassische Logik erst die Möglichkeit eröffnet zu erkennen, was widersprüchlich und gegensätzlich ist. Ohne die klassische Logik und eine wissenschaftlich-systematische Begriffsbildung ist die Dialektik nicht denkbar. Deshalb bedeutet es aus meiner Sicht die Negation des Denkens, wenn zunehmend der Versuch unternommen wird, den „Begriff“ selbst durch eine dialektisch-wertende Betrachtungsweise zu prägen und damit Interessen, Bedürfnisse, Ängste, Vorurteile und Wertvorstellungen zum Maßstab der Begriffsbildung zu machen. Mit einem gegenstandsbedingten (objektiven) Denken hätte dies nichts mehr zu tun. Nicht das, was ist, sondern das, was subjektiv wünschenswert, bezweckt oder gewollt wäre, würde zur Grundlage eines angeblich begrifflichen Denkens. Der Begriff und der Wert, die sich beide auf den gleichen Gegenstand beziehen, aber stets hinsichtlich der jeweiligen Gehirntätigkeit voneinander getrennt werden müssen, würden miteinander in eins gesetzt. Denken und Werten wären identisch. Das begriffliche Denken wäre

14 Aus meiner Sicht baut die Dialektik auf der empirischen und psychologischen Tatsache auf, dass Menschen Ambivalenzen in sich tragen. Ambivalenz bedeutet dabei, im Konflikt zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten zu stehen oder sogar sich Widersprechendes gleichzeitig zu wollen, obwohl dies logisch gar nicht möglich ist. Zur Aufhebung dieser Widersprüche dient die Dialektik, die das „Hin und Her“ des Bewertungsprozesses zwischen den Polen offen legt und erfasst. Die Dialektik entspricht somit der Psychologie der Bewertung. Als solcher Vorgang gibt die Dialektik logische Strukturen subjektiver Bewertungen wider, wobei deutlich wird, dass jedes Bewertungsergebnis, d. h. jede Wertentscheidung auch Gegenargumente in sich trägt. Das hängt damit zusammen, dass jedes Gut unterschiedliche Sichtweisen zulässt, was letztlich zur Polardialektik der Werte führt. Die Dialektik bildet letztlich das jeweilige Spannungsverhältnis ab. Sie setzt die Logik und die Vernunft voraus und ist selbst – für sich gesehen – wiederum logisch. Widersprüchlichkeiten müssen deshalb nicht unlogisch sein, wenn der Widerspruch bezüglich des zu beurteilende Gegenstands rational begründbar ist.

II. Begriffliches Denken als Vernunftkriterium

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dem dialektischen Werten nicht mehr als selbständige Denkungsart immanent, sondern würde komplett darin verschwinden und aufgelöst. Es ist deshalb auch in den Geisteswissenschaften und der Politik unabdingbar, sowohl der klassischen Logik als auch der paradoxen Logik Hegels den ihnen zukommenden Stellenwert – und zwar je nach Ausrichtung, Beurteilungsgegenstand und Kontext – zu geben. Begriffliches und logisches Denken ist selbst bei strenger Anwendung dialektischer Methoden kein Auslaufmodell. Wie gesagt: Dialektisches Bewerten ist ohne streng begriffliches Denken nicht möglich.

II. Begriffliches Denken als Vernunftkriterium des gesellschaftlichen Dialogs In der Integrationsdebatte ist immer wieder die Rede davon, dass der Integrationsprozess durch Dialog und Konsens geprägt werde. Dabei ist unter einem gesellschaftspolitischen Dialog in Anlehnung an die Theorie des rationalen Diskurses von Jürgen Habermas15 nichts anderes zu verstehen, als dass einerseits Gesellschaftsbürger untereinander, andererseits Zuwanderer untereinander und schließlich die Gesellschaftsbürger mit den Zuwanderern im Rahmen eines komplexen und keinesfalls hintereinander ablaufenden Dialogs gemeinsam nach dem suchen, was für das Zusammenleben aller richtig ist. Diese geistige Auseinandersetzung ist gewissermaßen dialektisch durch das Infragestellen ursprünglich eingenommener Positionen geprägt. Nur auf der Grundlage dieser Erkenntnisgewinne können Konsense gefunden werden.16 Wenn in diesem Zusammenhang Habermas davon spricht, dass der Diskurs dann richtig verlaufe, wenn er „ohne Zwang“ erfolge, die Kommunikation herrschaftsfrei sei und in einer freiwilligen Zustimmung aller ende,17 darf dies nicht zu gesellschaftspolitischen Irrtümern verleiten. Ebenso wie bei der Synthese Hegels ist der Konsens bei Habermas nämlich nicht irgendein gefundener Kompromiss, der irgendeinem irrationalen Zeitgeist entspricht. Es ist auch kein Konsens, in dem sich einer der Beteiligten mit der Geltendmachung seines subjektiven Richtigkeitsanspruchs ohne sachlichen Grund durchsetzt. Er repräsentiert noch nicht einmal ein Ergebnis, dem alle 15 Habermas hat die diskursive Willensbildung wie folgt zusammengefasst: „… man sieht es sozial geltenden Normen nicht an, ob sie ,zu Recht bestehen. Letztlich können wir das nur von denjenigen Normen wissen, die unter den Bedingungen eines rationalen Diskurses die wohlerwogene Zustimmung aller Adressaten finden … Der Diskurs lässt sich als diejenige erfahrungsfreie und handlungsentlastete Form der Kommunikation verstehen, deren Struktur sicherstellt, (…) dass Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht (…) beschränkt werden; dass kein Zwang außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird: dass infolgedessen alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche ausgeschlossen sind. Wenn unter diesen Bedingungen über die Empfehlung, eine Norm anzunehmen, argumentativ, d. h. aufgrund von hypothetisch vorgeschlagenen alternativreichen Rechtfertigungen, ein Konsensus zustande kommt, dann drückt dieser Konsensus einen ,vernünftigen Willen aus.“ (Diskursethik, S. 12 f.). 16 Vgl. hierzu Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 180 ff. 17 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

faktisch zustimmen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Konsens vernünftig ist, was nichts anderes heißt, als dass jeder gesellschaftliche Diskurs einer transparenten rationalen Begründung und einer rationalen Akzeptabilität18 bedarf, die nach Habermas durch allgemeine und öffentlich einsehbare Gründe gedeckt sein muss.19 Die Frage ist allerdings, ob es – wie Habermas meint – zur Begründung der Rationalität des Diskurses ausreicht, eine ideale herrschaftsfreie Sprechsituation herzustellen, die die Richtigkeit der in den Zusammenhängen kommunikativen Handelns gefundenen Ergebnisse, auf die man sich aufgrund des besseren Arguments verständigt hat, verbürgen soll.20 Der Diskurstheorie von Habermas kann zwar zugestanden werden, dass es grundsätzlich vernünftig ist, alle potentiell betroffenen Bürger in die Entscheidungsfindung, die stets in einem rekursiv geschlossenen Kreislauf von Argumenten verlaufen soll,21 einzubeziehen. Es spricht auch viel dafür, dass die Richtigkeitsgewähr steigt, je mehr Bürger ohne Zwang einem Ergebnis bei Kenntnis aller Umstände zustimmen. Richtig dürfte es auch sein, dass es im Rahmen des Miteinandersprechens schwer ist, Schlechtes und Verlogenes zu sagen, ohne dass der Betreffende sich in Widerspruch begibt.22 Meines Erachtens reichen diese Überlegungen zur Rationalität des Diskurses, an deren Ende das „richtige“ Ergebnis bzw. der „vernünftige Wille“ stehen soll, jedoch nicht aus. Aus meiner Sicht bedarf der Prozess des gesellschaftlichen rationalen Diskurses vor allem einer besonderen Hinwendung zu den Vorteilen des auf Erfahrung gegründeten begrifflichen Denkens, der klassischen Logik und der abstrakten Vernunft. Allein aus der Tatsache, dass Menschen miteinander reden, Verständigungen herbeiführen und sogar meinen, all das sei richtig, folgt logisch noch lange nicht, dass alles tatsächlich richtig, wahr und vernünftig ist. Dies gilt umso mehr, als starke emotionale Bedürfnisse in Rede und Gegenrede wie auch der jeweilige Zeitgeist immer eine Rolle spielen. Die Frage, was im Ergebnis vernünftig ist, ist vor allem am Begriff, der dem Erkenntnisgegenstand entspricht, zu messen. Nur der Begriff, der den Gegenstand und Zustand abbildet, ist als Denkinhalt frei von Interessen und Bedürfnissen. Das impliziert, dass der Begriff selbstverständlich nicht nur der Logik sondern auch der Erfahrung und dem jeweils bezeichneten Gegenstand entsprechen muss. Insoweit hat sich der Begriff selbst wiederum einer ständigen erkenntnistheoretischen Kontrolle zu unterziehen. Dieses ständige Ringen um Objektbezogenheit bedingt höchstmögliche Objektivität und damit höchstmögliche Vernunft.

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Habermas, Diskursethik, S. 410. Habermas, Diskursethik, S. 384. Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 181. Habermas, Diskursethik, S. 410. Tönnies, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. 7. 2008, S. 13.

II. Begriffliches Denken als Vernunftkriterium

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Der Begriff steht darüber hinaus nicht nur für Objektivität, sondern auch für ein Höchstmaß an Wahrheit. Der abstrakte Begriff ist keinesfalls nur ein logisches Konstrukt. Der Begriff spiegelt vielmehr in seiner philosophischen Bedeutung allein durch die Bestimmung und Analyse des Gattungsmerkmals das wahre Wesen des Seins- und Erkenntnisgegenstandes wieder. Zudem geht er durch die Bestimmung seiner Artmerkmale in die Differenziertheit solcher Wesen und gibt ihnen eine zusätzliche spezielle Tiefe, die es wiederum ermöglicht dieses Sein von anderen Seienden zu unterscheiden und Gegensätzliches zu erkennen. Jeder gesellschaftliche Dialog bedarf somit immer auch eines zusätzlichen systematischen und begrifflichen Diskurses. Der emotionale und an subjektive Interessen gebundene, d. h. von subjektiven Richtigkeitsansprüchen geleitete Diskurs hat sich am Wahrheitsgehalt des begrifflichen Denkens, welches seine Informationen unmittelbar und mittelbar durch sinnliche Wahrnehmung aus den real existierenden Tatsachen holt, messen zu lassen. Nur dann steht der gesellschaftliche Diskurs auch mit den unbewerteten realen Existenzen und der Logik in Einklang. Nur so kann eine wahre rationale Akzeptabilität erzielt werden. Nur so kann der Dialog auch dem dialektischen Prozess gerecht werden. Der Dialektik wohnt die abstrakte Vernunft und formale Logik als ihrem Anderssein inne. Nur durch Anwendung der klassischen Logik wird man überhaupt in die Lage versetzt Widersprüchlichkeiten und Spannungsverhältnisse zu erkennen. Der durch logische Operationen gebildete Begriff ist es auch, der durch sein Wesensmerkmal den Zweck und das Ziel eines vernünftigen Dialogs bestimmt. Ein vernünftiger Prozess zeichnet sich nämlich nicht durch eine Ergebnisoffenheit aus, bei der man bei Beginn des Prozesses noch nicht einmal weiß, was man überhaupt anstrebt. Es geht bei einem vernünftigen Prozess auch nicht nur um die Auflösung von wechselseitigen Interessengegensätzen, wie dies wohl Hegel meinte, als er ausführte, dass darin die einzige Aufgabe der Vernunft läge.23 Richtig dürfte vielmehr sein, dass zunächst definiert sein muss, worin das Wesen eines Zustandes besteht, um gesellschaftspolitisch entscheiden zu können, ob man einen derartigen Zustand überhaupt will oder anstreben soll. Der Begriff und der aus diesem herauszulesende Zweck wird somit im Rahmen eines gesellschaftlichen Prozesses zu einer Idee und zum Maßstab des vernünftigen Prozesses. Die Dialektik als die Methode der Auflösung von wechselseitigen Interessen zur Erreichung eines solchen Zustands betrifft dagegen den Prozess selbst. Es geht um die ständige Abwägung von Interessen und die Bewertung von Vor- und Nachteilen, um diesen Prozess „zum Begriffszweck“ hin erfolgreich, nämlich vernünftig, d. h. dem Begriff gemäß zu gestalten. Nicht vergessen werden darf schließlich, dass jeder Dialog durch eine streng begrifflich orientierte Sprache an Klarheit gewinnt. Auch in einem gesellschaftspolitischen Diskurs reicht es auf Dauer nicht aus, lediglich mit Worthülsen und Schlagwör-

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Edmundts/Horstmann, G.F.W. Hegel, S. 25.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

tern zu agieren, denen keine Definitionen zugrunde liegen oder deren Inhalt man allenfalls assoziativ erfassen oder erfühlen kann. Wie konfus sich ein Dialog gestalten kann, wenn keine ausreichende begriffliche und sprachliche Klarheit besteht, zeigt die Integrationsdebatte. Dort werden die Wörter Integration, Assimilation, multikulturelle Gesellschaft, Multikulturalität, Leitkultur und nationale kulturelle Identität in die Diskussion geworfen und es wird nur vereinzelt versucht, den Inhalt des Gemeinten zu bestimmen. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn der Vorsitzende des Islamrates Ali Kizilkaya im Jahre 2006 in einem Streitgespräch fast provokativ gesagt hat: „Was den Dialog oder die Integration angeht, ist mir bis heute keine einheitliche Definition bekannt. Darunter versteht jeder etwas anderes.“24

III. Der Allgemeinbegriff der Integration Bei dem Versuch das Wesen der Integration zu erfassen und dessen Gattungsbegriff zu definieren, ist zunächst klar zu stellen, dass das Phänomen der Integration keinesfalls nur eine Besonderheit der Zuwanderungspolitik ist, sondern es neben der gesellschaftlichen Integration von Zuwanderern noch andere Arten von Integration gibt, auf die sich der Allgemeinbegriff der Integration bezieht.25 Integration spielt insbesondere in den Lebensbereichen eine bedeutende Rolle, in denen eine Einheit hergestellt wird oder werden soll. So gehört zur staatsrechtlichen Entwicklung der Bundesrepublik seit 1949 auch die europäische Integration, d. h. der kontinuierliche Prozess der Eingliederung der Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft.26 Von Integration ist auch dann die Rede, wenn es um die Eingliederung von Menschen in soziale Systeme oder gesellschaftliche Gruppen geht. So spricht man von der Integration von Schwerbehinderten, von einer Integration ins Erwerbssystem, von schulischer Integration. Im Sport heißt es immer wieder, dass ein hinzugekommener Spieler erst noch in das System der Mannschaft integriert werden müsste. In diesem Zusammenhang wird sogar gesagt, dass der Spieler wie ein Fremdkörper wirke, solange er keine Bindung zu seinen Mitspieler habe. Es zeigt sich, dass das gesamte gesellschaftliche Leben durchgängig von verschiedenartigen Integrationsvorgängen durchdrungen ist. Gemeinschaftliches Handeln wäre ansonsten auch kaum möglich. Selbst ein Vertrag oder Konsens stellt letztlich eine „Einheit“ ursprünglich unterschiedlicher Interessen und Willensäußerungen dar. Andererseits kennen wir vor allem im Gesellschaftsleben auch den gegenläufigen Vorgang, dass Menschen – aus welchen Gründen auch immer – aus einem einheitlichen Gefüge herauszufallen drohen, d. h. die Gefahr der Ausgrenzung besteht. Diese Menschen im System zu verankern ist der Versuch Desintegration zu vermeiden. Auf 24 25 26

Abgedruckt in Andresen/Burgdorff, Weltmacht Religion, S. 159 f. (166). Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 1. Maurer, Staatsrecht I, § 4, I Rn. 2, S. 110.

III. Der Allgemeinbegriff der Integration

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diese Problematik hat im Übrigen bereits Herbert Spencer hingewiesen. Er hat ausgeführt, dass es neben dem Prozess der Integration auch einen gegenläufigen Vorgang gebe, der von der Integration zur Auflösung, vom Zusammengesetzten zum Einfachen zurückführe. Das gilt nach Spencer selbstverständlich auch für die menschliche Gesellschaft, die er als das komplizierteste aller Gebilde bezeichnete.27 Die Prozesse der Integrierung und Desintegrierung sind somit gegenläufige Entwicklungen eines einheitlichen Integrationsgedankens. Orientierungspunkt sowohl der Integrierung als auch der Desintegrierung ist gleichermaßen die angestrebte Einheit, an der diese gegenläufigen Vorgänge gemessen werden. Es drängt sich deshalb die Frage auf: Was ist überhaupt eine Einheit? Unter einer Einheit wird im Allgemeinen ein Ganzes verstanden, welches aus in ihm enthaltenen Bestandteilen zusammengesetzt ist.28 Das zusammengesetzte Ganze ist mit den einzelnen Teilen teilidentisch. Die Einheit selbst wird dadurch geprägt, dass die Bestandteile, die die Einheit ausmachen, in der Weise zusammenhängen, wirken und funktionieren, dass sie nicht nur wie ein einziges Ganzes erscheinen,29 sondern sogar ein neues Seiendes, nämlich die Einheit begründen. Die Einheit entsteht somit aufgrund eines zweckbezogenen und funktionalen Zusammenwirkens aller Teile, die in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen. Das Ganze ist hiernach die Gesamtheit der teilidentischen Teile zuzüglich ihres Zusammenwirkens, wobei die Gesamtheit allein durch das zusätzliche Zusammenwirken, welches zweckgerichtet ist, zum Ganzen, d. h. zu etwas anderem wird. Dementsprechend wirkt die Ganzheit auch anders als die bloße Gesamtheit der einzelnen Teile, sofern diese isoliert und zusammenhangslos nebeneinander stünden. Das ist der Grund, weshalb man sagt, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Der gemeinsame Zweck und die Art des Zusammenwirkens machen somit das Besondere, das Wesen und die Idee der Einheit aus. Durch das zweckhafte Zusammenwirken der Teile und die zwischen den Teilen bestehenden Verhältnisse wird die Einheit als selbständiges Seiendes hervorgebracht. Hierdurch bekommt die Einheit des Ganzen eine eigene Existenz, durch die sie sich von der bloßen rechnerischen Zusammenfassung der Teile als Einheiten besonderer Art unterscheidet. Ein so verstandenes ganzheitliches Denken ist keinesfalls irrational, sondern erfasst auch das Zusammenwirken bzw. die einzelnen Verhältnisse, die zwischen den Teilen bestehen und in komplexester Art wirken können, als zusätzliches, die Einheit begründendes Element. Das ist auch der Grund dafür, dass der Einheit in der Regel auch ein besonderer Wert oder eine größere Leistungsfähigkeit als der rein rechnerischen Summe aller Teile zukommt. Deutlich wird dies, wenn man an den Mannschaftssport denkt. So 27

Vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 551. Nach Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 164 kommt Einheit einem Gegenstand im allgemeinsten Sinne zu, wenn ihm der Zahlbegriff eins zukommt. 29 Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter Einheit. 28

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

unterscheidet sich eine Fußballmannschaft, die homogen ist, sich vertraut, Teamgeist entwickelt und durch eine gemeinsame Zweckverfolgung mental verbunden ist, extrem von einer Mannschaft, die diese Merkmale nicht aufweist, auch wenn die Anzahl der Spieler und deren individuelle Leistungsfähigkeit gleich wäre. Es dürfte deshalb zu kurz gegriffen sein, wenn Esser die Integration in seiner allgemeinen Bedeutung lediglich als bloßen Zusammenhalt von Teilen in einem „systemischen“ Ganzen versteht, wobei es gleichgültig sein soll, worauf dieser Zusammenhalt beruhe.30 Eine Einheit ist eben nicht nur die Summe seiner darin enthaltenen Einheiten. Es reicht insbesondere nicht – wie Esser meint – dass die Teile nur etwas miteinander zu tun haben müssten. Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass die Einheit ein zusätzliches konstitutives Merkmal hat, welches in der einheitlichen Zwecksetzung liegt, die wiederum durch die Art des Zusammenwirkens bestimmt wird. Es kommt deshalb auf den Sinn und Zweck und auf das Motiv des Zusammenhalts an. Neben dem Gattungsbegriff der Einheit beinhaltet der Begriff der Integration das Artmerkmal des Einbeziehungsprozesses, weshalb Integration herkömmlich auch als Prozess bezeichnet wird, der die Eingliederung von Außenstehenden in eine bestehende Ganzheit bedeutet. Wie oben allerdings bereits dargelegt wurde, handelt es sich hierbei um eine sprachliche Ungenauigkeit, da Integration lediglich den Endzustand des Prozesses, nämlich die Einheit selbst, bezeichnet. Den Einbeziehungsprozess selbst sollte man deshalb besser Integrierung nennen. Der Einbeziehungsprozess in seiner allgemeinen Bedeutung beinhaltet dabei natürliche oder durch Handlungsprozesse initiierte Vorgänge, die von Anfang bis zum Ende auf eine Idee (Ziel), nämlich die durch den im Rahmen des Prozesses herzustellende Ganzheit gerichtet ist. Dort verschmilzt das ursprünglich nicht zur Einheit Gehörende mit der vorhandenen Einheit, wobei es sich bei dem Endergebnis keinesfalls um eine „höhere“ und damit andere Einheit handelt. Die anzustrebende Idee der Einheit ist dabei selbst Bestandteil und Antriebsfeder des zweckgerichteten Prozesses, der seine Vollendung im verfolgten Ziel, nämlich der Einheit, erhält. Dieser Prozess ist, wenn er ein Komplex von Handlungsprozessen ist, allerdings nicht notwendig logisch im Sinne von widerspruchsfrei, da Handlungen durchaus auch irrationale und emotionale Elemente enthalten. Entscheidend für die gelungenen Handlungsprozesse ist lediglich, dass die Richtung der Entwicklung zum angestrebten Zweck stimmt. Die Definitionen von Integrierung und Integration in ihrer allgemeinen Bedeutung dürften vor diesem Hintergrund deshalb wie folgt lauten: Integrierung ist ein natürlicher oder durch Handlungen hergestellter Vorgang, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein ursprünglich nicht zu einer Einheit gehörendes Seiendes in diese Einheit zweck- und prozesshaft einbezogen und teilidentischer Bestandteil dieser Einheit wird. Die ursprüngliche Einheit selbst hat sich dabei insoweit verändert als ein neuer Bestandteil in der Einheit wirkt. 30

Esser, Integration und ethnische Schichtung, S. 1.

IV. Artbegriff der gesellschaftlichen Integration von Zuwanderern

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Integration selbst ist der Endzustand, der aus dem zweckbestimmten Prozess der Integrierung hervorgegangen ist. Integration stellt die Einheit als Zustand dar. Die Integrierung bezeichnet dagegen den Prozess zu dieser Einheit. Die Integration, d. h. der Zustand der Einheit ist der Zweck der Integrierung. Integrierung ist nach der hier vertretenen Auffassung somit nicht jeder Vereinheitlichungsprozess von Differenziertem oder einer gegensätzlichen Vielheit zu einer neuen Einheit. Die Herstellung einer neuen Einheit allein stellt keine Integrierung dar, weil es logisch nicht aufgeht etwas zu integrieren, wenn vorher noch nichts besteht, in das integriert werden könnte. Integrierung selbst ist vielmehr eine besondere Art der Vereinheitlichung. Deutlich wird dies bei dem Vorgang der Desintegrierung als das Gegenstück zur Integrierung. Dort wird die Abtrennung aus einer bestehenden Einheit beschrieben, wobei allerdings auch hier die ursprüngliche Einheit bestehen bleibt.

IV. Der Artbegriff der gesellschaftlichen Integration von Zuwanderern Die gesellschaftliche Integrierung, insbesondere diejenige von Zuwanderern, stellt eine besondere Art der Integrierung dar. Es entspricht somit der Logik, den Begriff der gesellschaftlichen Integrierung aus dem Gattungsbegriff der Integrierung abzuleiten.31 Dies geschieht dadurch, dass das allgemeine Begriffsmerkmal der Einheit durch die besondere Einheit der Gesellschaft, in die der Zuwanderer einbezogen werden soll, ersetzt wird. Die gesellschaftliche Integrierung von Zuwanderern ist somit ihrem Begriff nach ein Prozess, der auf die Einheit der Zuwanderer mit dem vorhandenen Gesellschaftsganzen gerichtet ist, wobei der Prozess von Anfang bis zum Ende von der Idee der gesellschaftlichen Einheit getragen und geprägt ist. Der Endzustand ist im Fall der Integrierung von Zuwanderern deren Einheit, sprich Integration in dem ursprünglich vorhandenen Gesellschaftsganzen, welches im Laufe des Prozesses allerdings ebenfalls – schon allein durch die Aufnahme der Zuwanderer – Veränderungen erfährt. In der Soziologie wird in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch davon gesprochen, dass unter Integration die Verbindung zu einer gesellschaftlichen Einheit zu verstehen sei. An anderer Stelle heißt es: „Im Gegensatz zur Assimilation, d. h. der völligen Anpassung und Übernahme der vorherrschenden Kultur, handelt es sich bei der Integration um die Einbeziehung in ein größeres

31 Das bedeutet aber nicht, dass Begriffe aus obersten idealen Gattungsbegriffen abzuleiten wären. Richtig ist nach der hier vertretenen ontologischen Begriffsbildung vielmehr, dass Begriffe ihren Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung realer Gegenstände haben. Das bedeutet wiederum, dass auch die Gattungsbegriffe immer auch mit der empirisch wahrnehmbaren Realität in Einklang zu bringen sein müssen und nicht bloß apriorische Gedankeninhalte sind.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee Ganzes oder auch, dass bisher außenstehende Personen oder Gruppen wie Einwanderer zu dazugehörigen Mitgliedern der Gesellschaft des Einwanderungslandes werden.“32

Integration bezeichne eine kombinatorische Schaffung eines neuen Ganzen unter Einbringung der Werte und Kulturen der außen stehenden Gruppe in die neue Gesellschaft bei Erhalt der eigenen Identität.33 Diese Definitionen weisen in die richtige Richtung. Es ist allerdings schon jetzt darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der gesellschaftlichen Integration vorrangig um den Erhalt der eigenen Identität der Aufnahmegesellschaft geht, zumal sie die Ganzheit ist, in die die Integrierung stattfindet. Die Beibehaltung der „eigenen Identität“ der Zuwanderer kann deshalb, sollten die Gesellschaftskulturen nicht miteinander kompatibel sein, kein Begriffsmerkmal der Integration sein, da auf der Hand liegt, dass gesellschaftliche Einheit nicht in der Zusammenfügung zweier bipolarer, sich widersprechender gesellschaftlicher Systeme (Parallelgesellschaften) bestehen kann. Die Integration von Zuwanderern ist vielmehr erst dann erreicht, wenn der Zustand der gesellschaftlichen Einheit der Zuwanderer mit dem ursprünglich vorhandenen Gesellschaftsganzen eingetreten ist. Der Begriff der gesellschaftlichen Integrierung enthält somit die Zwecksetzung die gesellschaftliche Einheit herbeizuführen. Diesen Zweck kann man auch Integrationsidee nennen. Der allgemeine Begriff der Integrierung zeichnet sich durch das Wesensmerkmal der Einheit und des Einbeziehungsprozesses dorthin aus. Bei der Begriffsbestimmung des Artbegriffs der gesellschaftlichen Integration rücken die Begriffe der gesellschaftlichen Einheit (des Gesellschaftsganzen) und der Prozess der Einbeziehung der Zuwanderer in die Gesellschaft in den Fokus der Betrachtung. Dabei fällt auf, dass die Gesellschaft in ihrer Einheit sowohl im Ausgangspunkt als auch im Endzustand wie ein sich prozesshaft entwickelndes Ganzes als Bezugsgegenstand dem Einbeziehungsprozess der Zuwanderer gegenübersteht und der Prozess sozusagen in der Verschmelzung des Gesellschaftsganzen mit den Zuwanderern – und zwar unter der Verwirklichung der Integrationsidee – zu einer gesellschaftlichen Einheit endet. Dreh- und Angelpunkt der Integration von Zuwanderern ist somit die gesellschaftliche Einheit, die Maßstab aller gesellschaftlichen – auch nach innen gerichteten (innergesellschaftlichen) – Integrationsprozesse ist, denn Integration hat nicht nur etwas mit Zuwanderung zu tun, sondern ist Bestandteil des täglichen Zusammenlebens innerhalb einer Gesellschaft. An der Idee dieser Einheit ist der gesamte Prozess auf seinen jeweiligen Stufen zu messen. Nur wenn am Ende des Prozesses die bisherigen Gesellschaftsbürger und Zuwanderer teilidentische Mitglieder eines Gesellschaftsganzen sind, kann man von einer begriffsgemäßen Integrierung oder der vollständigen Verwirklichung der Integrationsidee sprechen. Von der gesellschaftlichen Integration sind die speziellen Arten der Integration in andere gesellschaftliche Einheiten wie z. B. Stadtgesellschaften, Erwerbssysteme 32 33

Thiele, Das Integrationserfordernis für Drittstaatsangehörige, S. 58. Thiele, Das Integrationserfordernis für Drittstaatsangehörige, S. 58.

V. Die gesellschaftliche Einheit als das Wesen der Integration

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und Bildungssysteme logisch zu unterscheiden. Diese Einheiten unterliegen einem speziellen Integrationszweck, auch wenn die Integration in diese Subsysteme zugleich die Integration in das übergeordnete Ganze voraussetzt. Die Termini der gesellschaftlichen Einheit oder des Gesellschaftsganzen haben in der Integrationsdebatte bislang keine hinreichende Bedeutung erlangt. Das mag damit zusammenhängen, dass diese Termini wegen ihrer Abstraktheit für die Debatte um die Integration von Zuwanderern in der Bundesrepublik, vor allem wenn die Migranten anderer ethnischer Herkunft sind, auf den ersten Blick wenig besagen. Zum anderen mag das daran liegen, dass Integrierung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie in reale gesellschaftliche Einzelzusammenhänge erfolgt, weshalb der Blick der Integrierung in das Gesellschaftsganze als solches, welches von der Summe aller Gesellschaftsmitglieder und den in der Gesellschaft existierenden Gruppen, Organisationen und einzelnen Systemen zu unterscheiden ist,34 bislang nicht geschärft wurde. Für die Klärung, was Integration bedeutet, ist es deshalb unerlässlich, sich im folgendem mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Einheit oder Ganzheit im Grundsatz auseinanderzusetzen (vgl. Kapitel V.). Denn wenn nicht klar ist, was im Rahmen der Integrationsdebatte unter gesellschaftlicher Einheit zu verstehen ist, weiß man nicht, was mit der gesellschaftlichen Integration eigentlich bezweckt wird. Erst danach kann eine Hinwendung zum Zuwanderungsprozess selbst erfolgen (vgl. Kapitel VI.).

V. Die gesellschaftliche Einheit als das Wesen der Integration 1. Der Gesellschaftsvertrag a) Das Gesellschaftsganze als integrierte Gesellschaft Bei der Frage, was die Einheit der Gesellschaft ausmacht, ist auf den gedanklichen Entstehungsgrund der Gesellschaft zurückzugreifen, in welchem das Zusammenwirken und Zusammenleben der Mitglieder geregelt und die gemeinsamen Zwecksetzungen festgelegt wurden. Dieser Entstehungsgrund ist – wovon schon die Philosophen Hobbes, Locke, Rousseau und Kant ausgingen35 – in einem Gesellschaftsvertrag zu sehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Gesellschaftsvertrag, dem eine einverständliche Zwecksetzung zugrunde liegt, darf dabei nicht als ein ursprünglicher, tatsächlicher, zweckbewusster Akt von einzelnen Menschen im Sinne einer Zusammenfassung unzähliger übereinstimmender Willenserklärungen verstanden werden. Der Gesellschaftsvertrag darf auch nicht als Rechtsgeschäft bzw. juristische Konstruktion analog der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 705 BGB) aufgefasst werden. Ent34

Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 167. Der Gesellschaftsvertrag wird von diesen allerdings in erster Linie zur Rechtfertigung des Staates gesehen (vgl. Schwinge, Der Jurist, S. 180). 35

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

scheidend ist vielmehr, dass sich eine Gesellschaft in ihrer jeweils historischen Situation und ethischen Zwecksetzung durch einen Vertrag seiner Mitglieder entstanden denken lassen kann.36 Oder anders ausgedrückt: Können sich die Gesellschaftsbürger eines Gesellschaftsganzen in ihrer jeweiligen historischen Situation vorstellen, das geltende ethische Wertesystem vereinbart zu haben? Diese Theorie beschreibt deshalb keinesfalls eine reine Fiktion.37 Sie hat vielmehr Bezüge zur Wirklichkeit, weil die Gesellschaftsbürger zumindest durch ihr fortwährendes Teilnehmen und Teilhaben und nicht zuletzt durch den gelebten gesellschaftlichen Dialog konkludent, d. h. schlüssig zeigen, dass sie mit den jeweiligen gesellschaftlichen Zwecksetzungen einverstanden sind. Ihr tatsächliches Verhalten gibt den jeweils zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konsens wieder, der insoweit nichts anderes ist als die Fortschreibung der Zwecksetzungen eines ursprünglich gedachten Gesellschaftsvertrages. Der Regelungszweck des Gesellschaftsvertrages besteht in der gemeinsamen Verwirklichung von ethischen Werten oder Idealen, die der durch Vernunft und Wertgefühl geprägten Interessenlage zumindest einer überwiegenden Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder entspricht. Durch die Verabredung ethischer Wertvorstellungen wird eine ethische Ordnung hergestellt, die dazu dient, das Zusammenwirken und Zusammenleben der Menschen in einem bestimmten Raum trotz unterschiedlicher Prägung, Herkunft, unterschiedlicher Einzelkulturen und unterschiedlicher wirtschaftlicher Voraussetzungen möglich zu machen. Sicher ist nämlich, dass den Werten als fühlbaren Phänomenen,38 wenn sie ethisch akzeptiert und internalisiert sind, im sozialen Zusammenleben der Menschen eine steuernde und stabilisierende Funktion zukommt.39 Sicher ist auch, dass Werte nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem gesellschaftlichen Leben Sinnhaftigkeit geben. Der Gesellschaftsvertrag – wie ich ihn verstehe – ist somit weder der originäre Entstehungsgrund des Staates noch stellt er ein politisches Modell dar. Er gibt insbesondere keine politische Ordnung wieder.40 Bei dem Gesellschaftsvertrag handelt es sich vielmehr um ein außerstaatliches wie auch nichtreligiöses ethisches Konzept, welches lediglich als Vorstufe der Entwicklung zu einem politischen System anzusehen ist. Der Staat entwickelt sich erst aus der ethisch verbundenen Gesellschaft, ohne dass die Gesellschaft als ethische Größe damit an Bedeutung verlöre. Aus dem Gesellschaftsvertrag können sich dementsprechend auch keine positiv-rechtlichen, sondern nur ethische Ansprüche und Verpflichtungen ergeben. 36

Vgl. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 26. Zum fiktiven Vertragsschluss Boshammer, Minderheitsrechte und ihre moralische Begründung, S. 262: „Die Legitimität des Staates beruht nach liberaler Überzeugung auf einer rationalen Zustimmung aller Bürger, eine Idee, die traditionell am Modell eines fiktiven Vertragsabschlusses veranschaulicht wird. Demnach wird die staatliche Gewalt durch einen fiktiven Vertrag gestiftet, den die Bürger abschließen und der nur dann Geltung hat, wenn alle ihn aus guten Gründen unterschreiben“ können. 38 Scheler, Der Formalismus in der Ethik, S. 39. 39 Walter Schweidler, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 131. 40 Vgl. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 50. 37

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Dieser Denkansatz, wonach der Gesellschaftsvertrag eine ausschließlich ethische Übereinkunft ist, weist eine gewisse Nähe zu der von John Rawls konzipierten Theorie eines Gesellschaftsvertrages auf. Auch Rawls hat in seiner viel beachteten Theorie der Gerechtigkeit den Gesellschaftsvertrag als die ursprüngliche Übereinkunft von Gerechtigkeitsgrundsätzen aufgefasst, wobei es ihm um die gesellschaftliche Festlegung gewisser moralischer Grundsätze ging.41 Im Unterschied zu der hier vertretenen Auffassung vertrat Rawls allerdings die These, dass diese moralischen Grundsätze ausschließlich in einer fairen Ausgangssituation, die man auch Urzustand nennen könne, von freien und vernünftigen Menschen in ihrem eigenen Interesse bestimmt würden. Diesen Grundsätzen der Gerechtigkeit hätten sich alle weiteren Vereinbarungen anzupassen. Die im Zustand der Gleichheit ursprünglich festgelegten Grundsätze bestimmten die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung.42 Meines Erachtens gibt es diesen rein theoretischen Urzustand, in dem von Anfang an allgemeine Gerechtigkeitsgrundsätze festzusetzen wären43, nicht. Orientiert man sich an der Wirklichkeit, ändert sich der Inhalt der gedachten Vereinbarung, d. h. die Wertvorstellungen einer Gesellschaft durchaus. Der Inhalt der ethischen Vereinbarung konkretisiert sich historisch, indem sich das gesellschaftliche Wertesystem gemäß der menschlichen Vernunft unter Berücksichtigung der jeweiligen Bedürfnisse, Interessen und Gerechtigkeitsvorstellungen sowie des zunehmenden Erkennens real existierender angeborener Menschenrechte mitentwickelt.44 Die Gesellschaft erhält durch die Befolgung der im Gesellschaftsvertrag festgelegten Wertvorstellungen, durch die Einhaltung und Verfolgung des Vertragszwecks, ihre besondere Einheit und ihre Identität. Durch das aufgrund gesellschaftlicher Übereinkunft veranlasste Zusammenwirken entwickelt sich die Gesellschaft zu einem zweckhaft geprägten Ganzen, d. h. zu einer Einheit, die mehr ist als die bloße Summe oder bloß willkürliche Zusammenfassung ihrer realen Gesellschaftsmitglieder oder Gruppen mit ihren jeweiligen Einzelinteressen. Dabei ist es das vereinbarte und akzeptierte Wertesystem, welches der Zusammenfassung aller Bürger Einheit gibt und diese zu einem Gesellschaftsganzen macht. Das Gesellschaftsganze ist eine Wertegemeinschaft. Das Gesellschaftsganze ist bedeutungsgleich mit der gesellschaftlichen Einheit. Das Ganze ist zugleich das Synonym für Integration. Das Gesellschaftsganze repräsentiert somit die integrierte Gesellschaft. Das Gesellschaftsganze unterscheidet sich deshalb wesentlich von einer atomisierten Gesellschaft, die keine gemeinsame ethische Zweckverfolgung mehr aufweist und in der jeder im Zustand der Desintegration nur noch das macht, was er – radikal egoistisch – will.

41 42 43 44

Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 27 ff. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. Zu den real existierenden Menschenrechten vgl. Kapitel V. 2. d).

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Das Gesellschaftsganze in dem hier verstandenen Sinne ist keine Fiktion oder eine absolute Idee, auch wenn die im Gesellschaftsganzen verbundenen Bürger aufgrund ihres zweckgerichteten Zusammenwirkens wie Eins wirken und als Einheit behandelt werden. Die dem Ganzen zugehörigen Menschen sind ebenso real wie die unter ihnen bestehenden realen Verhältnisse, die das Zusammenwirken ausmachen. Der einzelne Mensch bleibt Träger des Ganzen und geht nicht in dem Ganzen unter, auch wenn das Gesellschaftsganze durchaus als einziges zielorientiertes Subjekt mit einem (kollektiven) Bewusstsein begriffen werden kann. Insoweit unterscheidet sich das Gesellschaftsganze im Prinzip nicht von einer Fußballelf, die als Ganzes und Einheit mit einer inneren Ordnung auftritt. b) Die Staatsbildung als weiterer Akt der gesellschaftlichen Zwecksetzung Der Gesellschaftsvertrag ist letztlich auch Grundlage der Errichtung des Staates als einem – wie schon der Staatsrechtler Georg Jellinek sagte – „gesellschaftlichem Gebilde“, das die Aufgabe hat, die gesellschaftlichen Akte auf bestimmten Gebieten zu ordnen und die für die Ordnung der Gesellschaft notwendigen politischen Entscheidungen zu fällen,45 was einer weiteren im Gesellschaftsvertrag angelegten Zwecksetzung entspricht. Der Staat ist insoweit – wie es Kant formulierte – ein von der Gesellschaft installiertes Herrschafts- oder rechtlich verfasstes46 Ordnungsgefüge, weil dieser durch seine Organe und Institutionen das gesellschaftliche Leben, u. a. im Wege der Gesetzgebung, Rechtsprechung und gesetzmäßigen Verwaltung, regelt. Man könnte auch sagen, die Gesellschaftsbürger haben ihre originären Kompetenzen im Rahmen des Gesellschaftsvertrages auf Staatsorgane übertragen, um durch die zentralisierte Staatsorganisation47 die gesellschaftliche Einheit, die innergesellschaftliche Integration sowie die Einhaltung der ethischen Gesellschaftszwecke sicherzustellen. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass sich die Gesellschaftsbürger der Herrschaftsgewalt des Staates, dem ein Monopol zur legitimen Gewaltanwendung zukommt, unterwerfen. Das ändert allerdings nichts daran, dass es sich beim Staat als konkreter Ausprägung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ebenfalls um eine geistige Einheit der sich verbunden fühlenden Bürger handelt, worauf Rudolf Smend im Rahmen seiner Integrationslehre zu Recht hinwies.48 Es zeigt sich, dass es vor allem die Unterwerfung unter die Herrschafts- oder Staatsgewalt ist, die den wesentlichen Unterschied zwischen Gesellschaftsganzem und Staat ausmacht. Die Gesellschaftsbürger erhalten ihre Einheit nur dadurch, dass sie einvernehmlich in einem bestimmten Raum unter Beachtung des gesellschaftsethischen Wertesystems zusammenleben. Durch die Staatsbildung soll sicher45 46 47 48

Vgl. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 134. Vgl. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 148. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 70. Vgl. Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 87.

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gestellt werden, dass die wichtigsten und wesentlichen Handlungsanforderungen an das Zusammenleben eingehalten werden, indem man rechtlich verbindliche Gesetze schafft, um der Einhaltung der moralischen Normen durch Ausübung von Zwang Geltung verschaffen zu können. Andererseits funktioniert die Sicherungsfunktion des Staates legitim nur dann, wenn den Bürgern wiederum subjektive Abwehrrechte gegenüber dem Staat garantiert werden, an deren Einhaltung sich die konkreten Herrschaftsstrukturen messen lassen müssen.49 Hierin besteht der wesentliche Unterschied des Staates zum Gesellschaftsganzen, welches nur durch die freiwillige Einhaltung der ethischen Normen Zusammenhalt erfährt. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich das Staatsgebilde ansonsten nur noch dadurch auszeichnet, dass es aus einem Staatsvolk und einem Staatsgebiet besteht. Das Staatsgebiet entspricht dabei durchaus dem Raum, in welchem sich die Gesellschaftsbürger aufhalten. Das Staatsvolk ist nahezu deckungsgleich mit der Gesamtheit aller Gesellschaftsbürger, wenn man einmal davon absieht, dass der Staat an die Anerkennung der Staatsbürgerschaft gewisse Anforderungen stellen kann. Soweit Deckungsgleichheit besteht, ist die Rolle des Bürgers als Staatsbürger – wie auch Habermas zutreffend ausführt – von seiner Rolle als Gesellschaftsbürger zu unterscheiden, da er unterschiedliche Funktionen wahrnimmt.50 So wird er nur in seiner Rolle als Staatsbürger in einer Demokratie zum demokratischen Mitgesetzgeber, während er sowohl als Gesellschaftsbürger als auch als Staatsbürger Adressat des Rechts ist. Der demokratische Staat, bei dem alle Staatsgewalt von den Staatsbürgern ausgeht, stellt hiernach in seiner historischen Entwicklung eine konkretere Form einer auf dem freien Willen seiner Bürger gegründeten Gesellschaft dar, aus der er sich prozesshaft entwickelt hat, ohne das Gesellschaftsganze und dessen Wertvorstellungen aufzulösen. Ganz in diesem Sinne hat schon Hegel darauf hingewiesen, dass der Staat die konkrete Einheit des Willens seiner Bürger sei, die den Staat anerkennen und sich in ihm wieder finden würden.51 Die hier vertretene Auffassung vom Verhältnis von demokratischem Staat und Gesellschaft unterscheidet sich wesentlich von der in der Politikwissenschaft vertretenen Ansicht, wonach die Formel Staat und Gesellschaft ein Modell bezeichne, das wie kein anderes soziale Ordnung und soziales Chaos, zentrale Regelung und dezentrales Wachstum aufeinander beziehe und miteinander verbinde. Unter der Gesellschaft versteht man dort diejenige Sphäre innerhalb des Gemeinwesens, die vorwiegend von ökonomischen Gesetzen bestimmt wird. In der Gesellschaft triumphiere daher der Egoismus des Einzelnen. Die Gesellschaft sei nämlich so organisiert, dass der Einzelne gar nicht anders könne, weil dies umgehend zum privaten Scheitern führen würde. Über dieser von privaten Egoismen beherrschten Gesellschaft erhebe sich des49 50 51

Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 103. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats, S. 22. Larenz, Hegels Dialektik des Willens, S. 751.

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halb als zweites Teilsystem des Gemeinwesens der Staat und sorge mit politischen Mitteln für das Allgemeine, indem er die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen reguliere und die Ströme bei Bedarf in wünschenswerte Bahnen lenke.52 Diese Darlegungen können nicht überzeugen. Menschliches Zusammenleben funktioniert grundsätzlich auch ohne Ausübung der staatlichen Macht und Gewalt. Menschen fallen von Natur aus auch nicht über den anderen her oder sind des anderen ein Wolf gemäß dem durch Thomas Hobbes bekannt gewordenen Ausspruch „homo homini lupus“. Sie sind vielmehr auch ohne Staatsgewalt durch gemeinsame Werte und Interessen ethisch verbunden, was letztlich ihre gesellschaftliche Einheit und somit das Gesellschaftsganze ausmacht. Dementsprechend war auch Hegel der Auffassung, dass es nicht die Staatsgewalt, sondern das Grundgefühl der Ordnung sei, das alle haben, welches Zusammenhalt gibt.53 Es liegt deshalb nahe, zwischen den Menschen, die in einem Raum zusammenhanglos (atomisiert) miteinander leben, dem Gesellschaftsganzen und dem Staat begrifflich scharf zu trennen.54 In diesem Denkmodell steht das durch einen Gesellschaftsvertrag hervorgebrachte Gesellschaftsganze sozusagen als Bindeglied zwischen der realen zusammenhanglosen Menge von Menschen und dem rechtlich verfassten Staat und bildet den ethischen Entstehungsgrund des demokratischen Staates. Das Gesellschaftsganze einschließlich des gesellschaftlichen Wertesystems löst sich allerdings nicht in dem Augenblick auf, in dem der Staat entstanden ist. Das Gesellschaftsganze geht insbesondere nicht in einem Staatsganzen auf. Es existiert als Träger rein ethischer Normen vielmehr parallel neben dem Staat weiter und wirkt fort. Das gesellschaftliche Wertesystem existiert als ethisches System neben den staatlich gesetzten rechtlichen Normen, d. h. dem positiven Recht weiter und prägt das gesellschaftliche Leben in rein ethischer Hinsicht. Nur so kann es auch zur Fortentwicklung des staatlichen Rechts kommen. Änderungen des positiven Rechts sind nämlich im Rahmen eines demokratischen Prozesses die notwendige Folge, wenn sich die Moralvorstellungen der im Ganzen zusammengefassten Gesellschaftsbürger geändert haben. Der Staat und das Gesellschaftsganze sind schließlich von der Nation oder dem Volk zu unterscheiden. Unter einer Nation wird im Allgemeinen die Gesamtheit der Bewohner eines Landes, d. h. ein Volk verstanden, welches ihre Einheit nicht durch einen ethischen Gesellschafts- oder Staatsvertrag, sondern durch Abstammung, Sprache, historische Entwicklung, kulturelle Überlieferung, Sitten und Bräuche und vor allem durch das Bewusstsein seiner Bewohner, ein Volk zu sein, erhält.55 Die Einheit der Nation ist somit in objektiver Hinsicht durch eine einheitliche Spra52

Vgl. im Einzelnen, Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 155. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 268. 54 Braun (Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 156) vertritt dagegen die Auffassung, dass der Staat mit der Gesellschaft identisch sei. 55 Vgl. zur Begriffsbestimmung Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 36 ff.; Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 338 f. 53

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che, eine gemeinsame Abstammung und eine zusammenführende kulturelle und historische Entwicklung geprägt, die allerdings sehr vielschichtig sein kann. Ihre wahre Einheit bekommt die Nation deshalb erst durch ihre subjektive Seite, nämlich durch das Bewusstsein aller Bürger der Nation, sich selbst als eine Nation zu begreifen. Dieses Bewusstsein einer in einem bestimmten Raum lebenden Menschengruppe, welches Lord Dahrendorf „sense of belonging“ nannte, ist das, was die Bürger einer Nation im Unterschied zu den Gesellschaftsbürgern zusammenhält und dafür sorgt dafür, dass die nationale Kultur in ihrer Vielfältigkeit in der Nation fortwirkt.56 Das einheitliche Bewusstsein ist das Nationalbewusstsein, welches einzig die nationale Zusammengehörigkeit der in dem Land lebenden Menschen ausdrückt. Symbolisiert wird diese bewusstseinsmäßige Einheit z. B. durch die Nationalflagge und Nationalhymne, aber auch durch Nationalmannschaften. Von der reinen Begriffsbestimmung her gibt es deshalb überhaupt keinen Grund den Begriff des Nationalbewusstseins als ein intolerantes und übersteigertes Bewusstsein zu bezeichnen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn man zusätzlich die Macht und die Größe der eigenen Nation als höchsten Wert ansähe. In der Integrationsdebatte werden die Begriffe von Gesellschaft, Staat und Nation, die jeweils andere Wirklichkeiten abbilden, leider nicht immer hinreichend auseinander gehalten. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft zur semantischen Einheit der Nation verschmolzen werden, wie dies im Nationalen Integrationsplan geschieht, oder gar von einer nationalen Gesellschaft die Rede ist. All dies muss zwangsläufig zu Verwirrungen und Irrtümern führen, weil je nach dem kulturellen Bezugsrahmen die Integration, Akkulturation und Assimilation anderen Zwecksetzungen unterliegt. Deshalb ist es schon ein gravierender Unterschied, ob Bezugsrahmen der Integration die Nation, der Staat oder das Gesellschaftsganze ist. Daran ändert auch nichts, dass die Menschengruppen, die mit den jeweiligen Begriffen bezeichnet werden, in tatsächlicher Hinsicht nahezu identisch sind, was selbstverständlich auch eine komplexe Überlagerung und Überschneidung der durch sie repräsentierten normativen Ordnungen und Kulturen beinhaltet. Dass die Gesellschaftsmitglieder mit dem einer bestimmten Nationalität zugehörigen Volk nicht identisch sind, zeigt sich schon daran, als die Gesellschaft ihrem Begriff nach – anders als die Nation – keinen ethnisch kulturellen Ursprung hat, sondern ihre Einheit ausschließlich über die wertorientierte und ethische Zwecksetzung ihrer Mitglieder enthält. Dementsprechend umfasst die Gesellschaft auch Menschen anderer Nationalitäten, soweit sie an dem gesellschaftlichen Konsens bzw. der gemeinsamen ethischen Zweckverfolgung teilnehmen.

56

Vgl. Böckenförde, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. 03. 2003, S. 8.

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c) Der Inhalt des Gesellschaftsvertrages: ein ethischer Wertkonsens aa) Die relative und polardialektische Struktur des ethischen Wertes Da der Zweck des Gesellschaftsvertrages in der gemeinsamen Wertverwirklichung besteht, stellt sich zwangsläufig die Frage, was unter den Werten, die den Menschen ethische und damit auch solidarische Einheit geben sollen, zu verstehen ist. Über das, was Werte sind oder sie ausmacht, ist schon viel nachgedacht und geschrieben worden. Insbesondere hat die Wertphilosophie mit dem Wertbegriff das ganze Geflecht der philosophischen Rekonstruktion menschlicher Handlungsweisen und ihrer sittlichen Beurteilungen, das traditionell mit den Begriffen der Tugend, des Gesetzes, der Pflicht, der Normen und des Nutzens in Verbindung gebracht wurde, zu fassen versucht.57 Hier ist jedoch nicht der Ort, den grundlegenden Fragestellungen nachzugehen und diese historisch und hermeneutisch abzubilden. Für den vorliegenden Zusammenhang reicht es vielmehr aus, sich der Wertbetrachtung wie folgt zu nähern: Werte gibt es, weil es – wie es ähnlich auch der Wertphilosoph Max Scheler ausdrückte – bewusste Lebewesen mit den Anlagen zur Entschließungsfähigkeit, zur Vernunft und zu emotionalen Empfindungen, nämlich die Menschen gibt, die Strebensziele, Bedürfnisse, Einstellungen und Gesinnungen haben. Zudem besitzt der Mensch die Fähigkeit des Wertens und Bewertens, was ihn in die Lage versetzt, zu Objekten und Dingen jeder Art, die an und für sich wertfrei sind, anerkennend, verehrend und strebend, aber auch missbilligend Stellung zu nehmen, wodurch dieser Gegenstand ein Wertträger (Gut) wird. Werte sind somit keine Eigenschaften irgendwelcher Dinglichkeiten, sondern eine erst durch die Fähigkeit des Wertens und durch die Bewertung selbst hervorgebrachte58 und erkennbare selbstständige Wesenheit, die zugleich die Bedingung für das Wertvollsein des Objektes für den Menschen ist.59 Das Bewerten bedeutet somit in erster Linie Wertgebung, womit dem Beurteilungsgegenstand generell durch den beurteilenden Menschen ein Wert zugesprochen wird. Dabei geht mit der Wertgebung in der Regel die Einschätzung einher, ob dem Gut eine positive Bedeutung (positiver Wert) oder negative Bedeutung (negativer Wert, Unwert) zugebilligt wird. Damit eröffnet sich schon bei der Wertgebung, mit der an sich die Entstehung des Wertes beschrieben wird, die Bandbreite der Bewertung durch den jeweiligen Menschen. Er beurteilt das jeweilige Gut als Bewertungsgegenstand danach, ob es sehr vorteilhaft oder wertvoll, weniger wertvoll, nicht wertvoll oder gar nachteilig oder sehr schädlich ist. Ganz in diesem Sinne findet im Rahmen der Wertgebung eine Wertbemessung statt, in der die Intensität der Bedeutung 57 58 59

Walter Schweidler, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 132. Austeda, Wörterbuch der Philosophie, unter Wert. Schischkoff, Wörterbuch der Philosophie, unter Wert.

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des Gutes für den Menschen, d. h. eine messende Erfassung des Wertes festgelegt wird. Diese Bemessung, die sprachlich ebenfalls als Bewertung beschrieben wird, kann wiederum je nach den jeweiligen Bedürfnissen und objektiv vernünftigen Interessenlagen unterschiedliche Inhalte haben. Daneben zeichnet sich die Wertbemessung aber auch durch die Fragestellung aus, was dem Menschen wichtiger, angenehmer oder nützlicher ist, womit das Vorziehen oder Nachsetzen des einen Gutes gegenüber einem anderen Gut gemeint ist, was wiederum zur Rangfolge der Güter und der sich darauf beziehenden Werte führt. Es zeigt sich also, dass die Bewertungselemente Wertgebung, Wertbemessung und Wertrangfolgenbestimmung gedanklich zu unterscheiden sind, im Rahmen der Bewertung in der Regel jedoch nur ganzheitlich wahrgenommen werden. Nur so ist es zu verstehen, wenn zusammengefasst gesagt wird, dass Werte das Ergebnis des Bewertens seien60 und das ausdrückten, was für den Menschen wertvoll und wünschenswert sei.61 Bei dem Wert handelt es sich um eine reine Existenz des Bewusstseins, d. h. um eine Idee. Als solche bildet der Wert in seiner ganzheitlichen Struktur die Gefühle, Bedürfnisse und Interessen sowie die Überlegungen logischer und teleologischer Art ab, die ein Mensch in seiner Komplexität bezüglich eines Gutes hat. Der Wert bezieht sich allein auf das – sich änderbare – subjektive Verhältnis eines Menschen zu einem Gut oder, anders ausgedrückt, auf die ganzheitliche Haltung und Gesinnung zu einem Gut, welches letztlich auch sein Handeln bezüglich dieses Guts beeinflusst. In der Wertdebatte wird das Gut oftmals mit dem Wert selbst identifiziert.62 Max Scheler brachte dies mit den Worten, dass erst in den Gütern Werte wirklich würden, zum Ausdruck.63 Diese Identifikation von Wert und Gut hat sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert. Sachlich ist sie allerdings nicht korrekt. Der Wert ist ein aus dem Verhältnis Person und Gut durch die Beurteilung hervorgebrachtes Drittes mit einem eigenen – auch nach Lebensumständen und Zeit – änderbaren geistigen Sein. Dieses geistige Sein drückt selbständig das Ob und Maß der Bedeutung des Gutes (Güterwert) – auch in der Rangordnung zu anderen Gütern – für den Menschen aus. Im Unterschied zum Wert ist das Gut selbst nicht änderbar, auch wenn es Gegenstand unterschiedlicher Bewertungen sein kann. Neben den wirtschaftlichen Gütern gibt es Wertträger wie die menschliche personhafte Existenz, die Würde, die Selbstbestimmtheit und Freiheit des Menschen, die Zuneigung und Freundschaft eines anderen, die Liebe, die Familie, die Ehe. Güter sind aber nicht nur erfahrbare reale Güter, sondern auch metaphysische (überweltliche) Güter wie Gottes Wort oder Gott selbst. Zu den Gütern selbst gehören aber auch die Charaktereigenschaften, Handlungsfolgen und Verhaltensweisen, die einer Bewertung zugänglich sind und für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll sein können. Das hat wiederum zur Folge, dass auch Handlungsfolgen, Charaktereigenschaf60 61 62 63

Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 33. Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 86. Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 86. Scheler, Der Formalismus in der Ethik, S. 43.

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ten und Verhaltensweisen einen eigenen Wert haben. So ist z. B für denjenigen, der menschlich sein will, Menschlichkeit ein Wert, der für seine persönliche Lebensführung Bedeutung hat. Umgekehrt ist aber auch für denjenigen Menschlichkeit ein Wert, für den es wünschenswert ist, dass man zu ihm menschlich ist, auch wenn er selbst nicht menschlich sein will. Hier liegt der Anknüpfungspunkt zur Ethik,64 wo sich die Frage nach dem Wert der Güter, die wir erstreben, mit der Frage nach dem, wann Handlungen bzw. Handlungsfolgen gebilligt oder missbilligt werden, wann sie als wertvoll oder nicht wertvoll, als gut oder schlecht, als richtig oder falsch zu beurteilen sind oder wo die Grenzen der menschlichen Willkür liegen, sich treffen und überschneiden.65 Da die Haltung des Menschen zu einem Gut dessen Entscheidungen und damit Handlungen beeinflusst, wird in den Handlungen selbst der Wert des jeweils erstrebten Gutes für den Menschen konkret und sichtbar und verschmilzt mit dem Wert der Handlung selbst. Die konkrete Handlung ist der Ort, wo der Wert des Gutes für den Menschen, der Wert der Handlung für diesen Menschen und die Folgen seiner Handlung, d. h. der Wert oder Unwert der Handlung nicht nur für ihn sondern auch für den Mitmenschen sichtbar werden. Es ist der Ort, wo die Werte „gut“ und „böse“, die immer einen Bezug zur Handlung oder – wie Kant es ausdrückte – zum Willen haben,66 konkret werden. Demgemäß heißt es auch allgemein, dass derjenige ethisch wertvoll („gut“) handelt, der dem Guten vor dem Bösen in der jeweiligen Situation den Vorzug gibt67 oder gemäß dem Leitsatz von Wilhelm Busch „das Böse lässt.“68 Der für einen Menschen bestehende (personale) Wert ist seiner Entstehung nach erst einmal ein subjektiv Hervorgebrachtes. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Wert als solcher irrational oder beliebig oder Ausdruck einer schrankenlosen Subjektivität sein müsste. Die Wertgebung, Wertbemessung und Wertrangfolgebestimmung ist nämlich nicht nur durch subjektive Gefühle oder Bedürfnisse bestimmt, sondern kann auch von objektiv logischen Vernunftgründen und nachvollziehbaren sinnhaften teleologischen Gesichtspunkten geprägt sein. Auch hier zeigt sich einmal mehr die immense Bandbreite und Ambivalenz der möglichen Wertgebung des Einzelnen, die auf subjektiv irrationalen Gefühlen oder auf einen Gegenstand bezogenen (objektiv) vernünftigen Argumenten beruhen kann. Nach der hier vertretenen personalen Werttheorie gelten alle Werte darüber hinaus nur relativ für die bewertende Person, d. h. bedingt. Dieser personale Wertrelativis64 Lange Zeit war der „Wert“ gar kein ethischer Begriff. Er war ausschließlich mit Begehren und Neigung verknüpft, nicht mit Pflicht und Norm. Ethik hatte es mit Tugenden und mit ihrem Gegenstück, den Lastern zu tun. Erst bei Kant wechselte der Wert die Seiten. Von der Neigung zur Pflicht. Es ging um den zu befolgenden Wert, nämlich den moralischen. (So Türcke, in: Andresen/Burgdorff, Weltmacht Religion, S. 252 f.). 65 Spaemann, Was ist philosophische Ethik, S. 18, 21. 66 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 74. 67 Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter „gut und böse“. 68 „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man lässt“.

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mus unterscheidet sich von einem unbedingten, d. h. wertmetaphysischen Standpunkt, demzufolge es Werte geben soll, die absolut gelten und unwandelbare ideale Wesenheiten sein sollen. Danach sollen die Werte nicht allein durch das Denken, die Vorstellungen und Bedürfnisse der individuellen Personen bedingt sein, sondern zusammen ein ideales, hierarchisch gegliedertes unendlich großes Wertreich bilden, das unabhängig von den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen ein allgemeingültiges, absolutes Sein haben. Das Wesen des Wertes soll von den Menschen durch eine intuitive Wesensschau in dessen objektiv-normativer Geltung erblickt werden. Jeder solcher Werte enthalte ein Sollen in sich, aus dem das Subjekt, das den Wert erfasse, die Aufgabe entnähme, den an sich geltenden Wert zu verwirklichen, d. h. ihm entsprechend zu denken, zu urteilen, zu wollen und zu handeln.69 Dementsprechend soll auch die Rangordnung nur dem Wertgefühl als einer Art inneren Schau zugänglich sein. Diese Lehre von den absolut geltenden, unwandelbaren idealen Wesenheiten ist mit empirisch fundierten, durch psychologische und kulturhistorische Untersuchungen der Wertungsweise verschiedener Menschen nicht in Einklang zu bringen. Infolge dessen bestehen auch erhebliche Zweifel daran, dass es einen Wertehimmel als ein festes, in einer Rangfolge gegliedertes Wertesystem gibt, selbst wenn diesen Werten, wie Scheler es ausdrückte, eine bestimmte „Daseinsrelativität“ zukommen sollte.70 Eine ideale ethische Wertvorgabe mit unverrückbarem Wahrheitsgehalt widerspricht dem Wesen der Werte, wenn man deren Ursprung und Bezugspunkt ausschließlich in der realen menschlichen Existenz, dessen Vernunft, dessen Bedürfnissen, dessen individuellem Gewissen, Einstellungen und Interessen sieht. Auf dieser Grundlage beinhalten die Werte als solche keine klare und wahre vorgegebene absolute Aussage über die Frage, ob etwas für einen bestimmten Menschen wertvoll und wünschenswert oder gar ethisch gut oder böse ist. Die reale Bedürfnislage ist dann doch komplexer, zumal die Bedeutung des Wertes davon abhängt, aus welcher Sicht – vom Individuum oder Gesellschaftsganzen aus – man ihn erfasst. All das bedeutet jedoch nicht, dass einem grenzenlosen oder radikalen ethischen Werterelativismus das Wort geredet werden soll, wonach es keinerlei gültige, d. h. für alle Menschen oder innerhalb einer Gesellschaft gültige Moralprinzipien geben soll, d. h. moralisch alles erlaubt sei und – wie der Philosoph Paul Feyerabend meinte – „anything goes“, weil niemand für sich in Anspruch nehmen könne, den richtigen Weg zu kennen.71 Aus ethischer Relativität, wonach alle Wertvorstellungen nur relativ zum Menschen oder zum jeweiligen System wirken, folgt noch lange kein radikal ethischer Relativismus.72 Es gibt durchaus ethische Werte, die schon im Zusammen69

Orthbandt, Geschichte der großen Philosophen, S. 438. Vgl. hierzu Walter Schweidler, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 134. 71 Vgl. hierzu Küng, Projekt Weltethos, S. 43 m.w.N. Vgl. auch Spaemann, Was ist philosophische Ethik, S. 13 f. 72 Küng, Projekt Weltethos, S. 17 (Fn. 30) ist der Auffassung, dass Werte zumindest innerhalb der Systeme, in denen sie stehen, selbst Gültigkeit haben müssen. 70

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hang mit der realen, d. h. bewusstseinsunabhängigen Existenz der Menschenrechte und aus Vernunftgründen für das menschliche Zusammenleben eine herausragende und somit eine quasi absolute Bedeutung für alle Menschen haben. Dies schon deshalb, weil es selbst auf der Basis der allergrößten Freiheit und Toleranz überhaupt, auf der ein radikaler Wertrelativismus aufbaut,73 ansonsten zu einer durch nichts zu rechtfertigenden Verletzung, ja Aufhebung der Menschenrechte einschließlich dem Recht auf Freiheit kommen könnte, was letztlich die Auflösung der ethischen Voraussetzung des radikalen Wertrelativismus selbst zur Folge hätte. Nach der hier vertretenen Auffassung von der Relativität der Werte können die einzelnen Werte aus ihrer konkreten personalen Beziehung heraus – ähnlich einer auf Abstraktion beruhenden systematischen Begriffsbildung74 – abstrahiert werden. In dieser Abstraktion und Verallgemeinerung können identische Interessen und Bedürfnisse vieler an einem Gut wiedergegeben werden.75 Werte erhalten auf diese Weise eine ideenhaften Bedeutung, die als Zwecke etwas Übergeordnetes erhalten, zu dem man sich verehrend und strebend verhalten kann. Dies ist auch die Grundlage für das Entstehen jedes Gesellschaftsganzen, indem die Menschengruppen derart abstrahierte Werte als gemeinsame ethische Zwecksetzungen vereinbaren. Die Werte der Einzelnen werden auf diese Weise, sozusagen auf einer höheren Ebene, nach einer zweckorientierten Umformung zu Werten des Ganzen oder, um im Sprachgebrauch der Dialektik zu bleiben – im Ganzen „aufgehoben“ und bekommen dort einen allgemeingültigeren Inhalt, der in der Umkehrung – aufgrund der neu erfolgten Zweckausrichtung – wiederum Sollensanforderungen für den Einzelnen bereit hält. Damit zeigt sich einmal mehr, dass es einen ethischen Relativismus in seiner radikalsten Form nicht geben kann, weil die gemeinsamen – im freiheitlichen Konsens gefundenen – Wertvorstellungen in jedem Fall innerhalb des jeweiligen Systems selbst einen Gültigkeitsanspruch erheben und nicht beliebig sind.76 Nur so ist es letztlich auch möglich, dass aus der Vielheit der menschlichen Gefühlsweisen, Bedürfnisse und aus der aus objektiven Lebensumständen resultierenden Verschiedenartigkeit 73

Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz, S. 95. Der Wert als solches unterscheidet sich vom Begriff, der sich auf reale Gegenstände bezieht. Der – ebenfalls nur geistig existente – Begriff ist objektiv, d. h. gegenstandsbezogen. Der Wert ist dagegen etwas subjektiv Hervorgebrachtes, dessen Entstehung mit der Bewertung der Beziehung zu einem Gut zusammenfällt. Der Begriff ist widerspruchsfrei und durch die Merkmale des Gegenstands bedingt. Er wird durch Reduktion und Abstraktion bestimmt, dem auch teleologische Elemente innewohnen. Der Wert ist dagegen ambivalent, da er durch die unterschiedlichsten (polardialektischen) Bedürfnisse, die man dem Gut als Wertträger zusprechen kann, bestimmt wird. Der Begriff lässt dagegen aufgrund seiner Gegenstandsbedingtheit und seiner festen Merkmale keine dialektische Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu. Begriff und Wert spiegeln das Verhältnis einer auf Erfahrung gegründeten Logik zur Dialektik wider. 75 Ein Wert ist vollends abstrakt, wenn er weder auf eine bestimmte Person noch auf eine Personengruppe noch auf ein Gesellschaftsganzes bezogen ist, sondern völlig isoliert davon gedacht wird. 76 Küng, Projekt Weltethos, S. 173, (Fn. 30), 178. 74

V. Die gesellschaftliche Einheit als das Wesen der Integration

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subjektiver und relativer Werte eine gesellschaftsethische Werteinheit entstehen kann. Die Art und Weise der Wertgebung des einzelnen Individuums gilt analog für die Wertgebung des Gesellschaftsganzen als selbstständiger Einheit. Die Wertgebung des Gesellschaftsganzen enthält nicht nur die individuellen Bedürfnisse, Interessen und damit die Wertvorstellungen der einzelnen (teilidentischen) Mitglieder; genauso wichtig für die Wertgebung des Gesellschaftsganzen ist, dass sich der Wert ein und desselben Gutes an der ursprünglich erfolgten gemeinsamen Zwecksetzung der Gesellschaftsbürger zu orientieren hat und sich daran messen lassen muss. Es stellt sich somit nicht nur die Frage, was der Wert den Einzelnen nützt, sondern auch die Frage, welche Bedeutung das Gut für die Gesellschaft in ihrer ganzheitlichen Struktur hat. Oder anders ausgedrückt: Was dient und nutzt dem Gemeinwohl, d. h. dem Wohl aller in ihrer ganzheitlichen Verbundenheit? Daraus folgt nichts anderes, als dass ein und dasselbe Gut je nach Blickwinkel eine unterschiedliche Wertausrichtung bekommen kann. So kann für das Gesellschaftsganze z. B. das Gut der Freiheit des Einzelnen eine andere Bedeutung haben als für das Individuum selbst. Während für den Einzelnen die persönlich-individuelle Freiheit auch im Zusammenleben mit den übrigen Gesellschaftsbürgern im Vordergrund stehen kann, sieht das Gesellschaftsganze diesen Wert in einem erweiterten, nämlich überindividuellen ganzheitlichen Lichte. Für die Wertbetrachtung des Gesellschaftsganzen bedeutet dies, dass die Freiheit des Einzelnen in seiner Wechselbezüglichkeit zu anderen Mitbürgern gesehen werden muss, da es für den Einzelnen in einer Gesellschaft nur „geteilte Freiheit“ geben kann. Diese Zusammenhänge weisen letztlich darauf hin, dass ethische Werte, die einerseits die innere Einstellung einer einzelnen Person zum Gesellschaftsganzen und andererseits das Verhältnis des Ganzen zum Einzelnen abbilden, nicht nur relativ und subjektiv sind, sondern strukturell einen polardialektischen Charakter aufweisen. Hierbei handelt es sich um einen bislang wenig beachteten Umstand, der allerdings aus meiner Sicht für die gesamte Wertbetrachtung, die immer nur ganzheitlich erfolgen kann, von elementarer Bedeutung ist. Ein geistig hervorgebrachter Wert bezieht sich nämlich immer auf das Verhältnis, welches zwischen dem Menschen und dem Gut besteht. Dieses Verhältnis, welches der Wert letztlich abbildet, ist ambivalent. Das Gut hat immer positive wie negative Folgen für den Menschen. Ein Wert repräsentiert als das Ergebnis einer Bewertung des Gutes die gesamte bipolare Ambivalenz aller möglichen und damit auch gegensätzlichen Entscheidungsalternativen. Der Wert ist der Sache nach nichts anderes als die synthetische Auflösung eines dialektischen Bewertungsprozesses, in dem alle – auch widersprüchlichen – Bedürfnisse, Interessen, Gedanken, Fragestellungen ganzheitlich zusammenlaufen. Eine polardialektische Ausrichtung, die dem Wert innewohnt, zeigt sich z. B., wenn das Gesellschaftsganze nicht nur das Gemeinwohl, sondern auch die Bedeutung des Gutes für seine teilidentischen Mitglieder und deren Einzelinteressen zu berücksichtigen hat, da ansonsten der gesellschaftliche Konsens in Gefahr geriete. Denn wer sich als Einzelner nicht in den Wertvorstellungen des Gesellschaftsganzen wiederfindet, wird versuchen aus dem Wertgefüge des Gesellschaftsganzen auszubrechen. Deshalb

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

ist es für das Gesellschaftsganze wiederum von größter Bedeutung, auch die Bedürfnisse ihrer einzelnen, im Ganzen aufgehenden teilidentischen Mitglieder bezüglich des jeweils in Frage stehenden Gutes angemessen zu berücksichtigen, zumal die Selbstbestimmtheit und Freiheit der Einzelnen immerhin Grundlage des Gesellschaftsvertrages und somit auch die Basis des Gesellschaftsganzen ist. Diese polardialektische Ambivalenz ist umgekehrt auch bei der Wertabwägung des einzelnen Individuums zu finden. Auch der Einzelne hat aus eigenem ethischem Antrieb oder aus gut verstandenem und vernünftigem Eigeninteresse das Bedürfnis sein Handeln und Tun an den Bedürfnissen der Mitmenschen auszurichten, da er auch immer selbst Teil des Ganzen (Gemeinschaftswesen) ist. Das zeigt, dass Werte wie z. B. die Werte der Menschenwürde und Freiheit auch für den Einzelnen selbst aufgrund ihrer ambivalenten Struktur eine polardialektische Struktur haben. Sowohl die ethischen Werte des Einzelnen als auch die ethischen Werte des Gesellschaftsganzen haben somit einen allumfassenden ganzheitlichen Charakter, der die jeweiligen wechselseitigen Interessenlagen in ihrer Gegensätzlichkeit in sich aufnimmt.77 Im Wert sind die Spannungsverhältnisse dialektisch durch die getroffene Wertentscheidung (Synthese) aufgelöst worden. Indem der Wert als das synthetische Ergebnis der Bewertung bzw. Abwägung auch das gedachte Gegenteil in sich dialektisch „aufgehoben“ hat, zeigt sich letztlich eine weitere „Relativität“ des Wertes. Diese besteht darin, dass der Wert immer zugleich „zwei Seiten“ repräsentiert, und damit dem Gedanken Rechnung trägt, dass jede Entscheidung über Gut und Schlecht immer auch die Gegenrede schon in sich trägt, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Dies bedeutet nicht notwendig die Gleichwertigkeit der Argumente; es zeigt allerdings, dass gerade die polardialektische Struktur des Wertes im Grundsatz Toleranz für die Bewertung des Gegenübers fordert. bb) Das Wesen des gesellschaftsethischen Wertesystems Das gesellschaftsethische Wertesystem ist die unverzichtbare und verbindliche ethische Grundlage für das Zusammenwirken und Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft. Es basiert auf einer übereinstimmenden Zwecksetzung und einem gesellschaftlich-historischen Konsens und bildet zugleich den gedachten Inhalt des Gesellschaftsvertrages. Die Gesellschaftsbürger haben sich mit diesem Wertesystem und den darin eingelagerten Ideen, Werten und Zielvorstellungen, die ihnen Handlungsorientierung geben sollen, – zumindest mehrheitlich – einverstanden erklärt. Daraus folgt, dass sich die Bürger mit diesem Wertesystem identifizieren können und sich – sozusagen als ethische Vertragsverpflichtung – damit auch iden-

77

Die Dualität gründet sich auf der Erkenntnis, dass im Grunde jede Bewertung eine Bandbreite beinhaltet, die von Bejahung bis Verneinung reichen kann. Die Bewertung eines Gutes hat immer zwei Seiten, die von der Komplexität und damit Ambivalenz des Bewertungsvorganges geprägt sind, der einerseits von individueller emotionaler Bejahung und andererseits von vernünftiger Ablehnung für den Menschen begleitet werden kann.

V. Die gesellschaftliche Einheit als das Wesen der Integration

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tifizieren sollen. Nur dann ist Einheit und Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet.78 Das gesellschaftsethische Wertesystem ist die Wertordnung des Gesellschaftsganzen. Es hat einen überindividuellen Geltungsanspruch und wirkt als ein hervorgebrachtes geistiges Gebilde durchgängig und allumfassend in allen teilidentischen zur Gesellschaft gehörenden Einheiten und Gruppen, in staatlichen wie nichtstaatlichen Institutionen, in Vereinen, Stadtgesellschaften sowie allen privaten zwischenmenschlichen Kontakten und letztlich im einzelnen Menschen selbst und erhält dort konkretes Sein. In diesen konkreten Lebensverhältnissen entfaltet das ethische Wertesystem seine Realität. Erst dort erhält das Bewusstsein Wirklichkeit. Auf der Ebene des unmittelbaren und mittelbaren menschlichen Zusammenlebens wird das Wertesystem konkret und wirkt in alle Lebensbereiche. Das Wertesystem ist allen realen gesellschaftlichen Gruppen und sonstigen sozialen Lebensbeziehungen, die als selbständige Einheiten in der Gesellschaft wirken79 und einer eigenen Zwecksetzung unterliegen, als übergeordnetes Bewusstseinssystem vollinhaltlich präsent. Das Wertesystem setzt, wenn es das einheitliche Zusammenwirken der Gesellschaftsbürger sicherstellen will, eine klare Wertausrichtung und innere Ordnung voraus. Das Wesen des Wertesystems besteht darin, dass es als Einheit, als System begriffen werden muss, in dem der einzelne Wert im Verhältnis zu den übrigen Werten die ihm zukommende Stellung einnimmt.80 Es kommt darauf an, welche Werte im Verhältnis zu anderen den Vorrang verdienen. Im Rahmen des Zusammenlebens von Menschen stellt sich nämlich ständig die Frage, was passiert, wenn zwei Werte in Gegensatz treten und es nicht möglich ist, beide zu verwirklichen. Oder wenn der eine nur in dem Maße verwirklicht werden kann, als der andere vernachlässigt wird, oder wenn es unvermeidlich wird, die Verwirklichung des einen der des anderen vorzuziehen oder zu entscheiden, welcher der beiden Werte der wichtigere oder der höhere Wert oder welches der höchste Wert ist.81 Werte stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das gilt vor allem dann, wenn unter Menschen infolge von gegensätzlichen Interessen Konflikte entstehen, zu deren Lösung jeder sich auf einen unterschiedlichen Wert beruft, der – jeder für sich gesehen – durchaus erhebliche Bedeutung haben kann. Diese Problematik setzt sich fort, wenn ein und derselbe Wert im Spannungsverhältnis von Individualund Gesellschaftsinteresse steht.

78 Vgl. auch Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 86: „Die Ausrichtung an Werten, die in klaren Beziehungen zueinander stehen, ist das Kennzeichen einer innerliche geordneten Gesellschaft. Demgegenüber sind Gesellschaften die im Begriff sind auseinanderzubrechen, dadurch gekennzeichnet, dass der Zwiespalt auch in ihre Wertordnung eindringt.“ 79 Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 167. 80 Vgl. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter System. 81 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 15.

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Das bedeutet wiederum, dass die für das Gesellschaftsganze relevanten Werte ihren wirklichen Bedeutungsgehalt, ihre wirkliche Ausrichtung und ethische Geltung erst durch die in einem gesellschaftlichen Diskurs zu treffenden Wertrangfolgenentscheidungen erhalten. Diese Wertrangfolgenentscheidungen enthalten ein Vorziehen und Nachsetzen der Werte, um gesellschaftliche Spannungsverhältnisse aufzulösen. Denn nur dann, wenn man weiß, welcher Wert in dem betreffenden Spannungsverhältnis den Vorrang hat, kann man sich daran orientieren und in der Folgezeit wiederum eine am „wahren Wert“ orientierte weitere Wertentscheidung treffen. Nur aufgrund der getroffenen Wertentscheidungen, die die Gesellschaft über die Wertigkeit des Werts trifft oder getroffen hat, ist es wiederum möglich, die Werte in einem Wertganzen bzw. Wertesystem zusammenzufassen. In diesem Wertganzen sind das Zusammenwirken der Werte, ihre wechselseitigen Beschränkungen sowie die aufgrund von Wertrangfolgenentscheidungen (Vorziehen und Nachsetzen) getroffenen Werthierarchien erhalten. Vor allem die getroffenen Wertrangfolgenentscheidungen geben dem Wertesystem die eigentliche Gestalt und Aussagekraft. Die Stellung der Werte im Wertesystem spiegelt die Vorstellung des Gesellschaftsganzen von dem, was im gesellschaftsethischen Dialog bei vernünftiger und gefühlter Betrachtung für gut und gerecht gehalten wird, wobei nochmals klarzustellen ist, dass es sich hierbei immer nur um eine relative Gerechtigkeit handeln kann, da es keine absoluten Werte gibt und selbst der höchste Wert nur relativ ist. Das Wertesystem als Inhalt des Gesellschaftsvertrages beruht auf einer Übereinkunft der Gesellschaftsbürger, die sich mit den Werten und ihren zu konkretisierenden Wertrangfolgen einverstanden erklärt haben, d. h. sie als eigene internalisiert haben. Diese Übereinkunft ist jeweils in ihren geschichtlichen und kulturellen, insbesondere philosophischen Zusammenhängen zu sehen. Diese Zusammenhänge sind von Braun82 für unsere Wertordnung wie folgt anschaulich gemacht worden: „Aufgrund der getroffenen und in der Wertordnung enthaltenen ethischen Wertentscheidungen gibt das Wertsystem einer Gesellschaft somit auch Auskunft darüber, was in dem betreffenden Kulturkreis traditionell als gut und gerecht angesehen wird, so dass man nicht immer wieder darüber von neuem diskutieren braucht. Dies hängt damit zusammen, dass wesentliche Aspekte darüber, was gerecht ist, bereits in der Vergangenheit erkannt worden sind. Wer nach Gerechtigkeit fragt, kann nicht so tun, als bewege er sich auf unbestelltem Boden. Er muss vielmehr paradoxerweise voraussetzen, dass die Geschichte und damit die gegenwärtige Gesellschaft, die deren Produkt darstellt, ein Reservoir von Erkenntnissen und Erfahrungen enthält, durch das bestimmte Fragen bereits in einem gewissen Umfang beantwortet sind. Wer sich darüber hinwegsetzen wollte, müsste so tun, als ob es eine historische Entwicklung nicht gäbe, obgleich seine eigene Existenz, sein Denken, Wollen und Fühlen, zum guten Teil nur als Produkt der Geschichte erklärbar ist. Insgesamt liest sich unsere Wertordnung nämlich wie ein Querschnitt durch die Geschichte des von Christentum, Renaissance und Rationalismus beeinflussten Abendlandes.“

82

Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 85.

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Allerdings darf man nicht dem Irrtum unterliegen, die Tradition böte damit zugleich den Maßstab einer ethischen Rationalität oder eine allgemeine Richtigkeitsgewähr. Wenn nämlich der Gedanke nahe gelegt würde, die Tradition sei zu jedem denkbaren Zeitpunkt der Maßstab der gesellschaftsethischen Richtigkeit oder Rationalität, würde sich das, was gesellschaftsethisch richtig sein soll, der Sache nach ausschließlich nach der historischen – einschließlich religiösen und philosophischen – Entwicklung richten. Eine derartige ethische Richtigkeit könnte jedoch wiederum nur „relativ“ sein, d. h. sich auf die jeweilige Gesellschaft in ihrem historischen Kontext beziehen. Dem entspricht es, dass unterschiedliche historisch gewachsene Kulturkreise jeweils von der Richtigkeit ihrer Wertsysteme innerlich überzeugt sind. Eine objektive oder rationale Richtigkeit oder Wahrheit wird durch eine derartige Überzeugung jedoch gerade nicht indiziert. Die Tradition und das von der Gesellschaft zum jeweiligen Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung Gewollte kann deshalb nicht der alleinige Maßstab der ethischen Rationalität sein. Schon gar nicht hängt die wahre Ethik83 von der historischen Entwicklung ab. Die Gefahr einer derartigen Auffassung besteht vielmehr in der ethischen Erhöhung des jeweiligen Zeitgeistes, was im Ergebnis dazu führen könnte, menschenverachtenden Vorstellungen von Diktatoren sogar noch den Stempel der Richtigkeit aufzudrücken, nur weil deren Gedankengut im historischen Kontext gerade der relativen Kultur entspräche. Dies wäre, wenn zudem noch die die universelle Geltung der Menschenrechte geleugnet würde, angesichts der weltweit immer wieder vorkommenden menschenverachtenden Gräueltaten ein gerade unvorstellbarer Gedanke. Geschichtliche Entwicklungen können ethisch fehlgeleitet sein. Selbst eine in der Geschichte wirkende Vernunft – wie sie Hegel beschrieb – ist oft nur in ihrer Negation sichtbar. Es ist nochmals klarzustellen: Eine für alle Menschen ein für alle Male gültige wahre objektive Rangfolge der Werte, die unabhängig von allen relativen Wertsystemen existiert, kann es nicht geben. Werte sind ihrem Ursprung nach immer nur sub83

Ein gesellschaftsethisches Wertesystem würde allerdings nicht seinen Namen verdienen, wenn es auf einen ethischen Richtigkeitsanspruch im höheren Sinne, d. h. auf die Richtigkeit der Werte im philosophischen Sinne keinen Wert mehr legte und bei jedem gesellschaftlichen Handeln nicht auch die Frage nach den Wertfolgen von gut und böse und gerecht und ungerecht stellen würde. Schon Platon hat in diesem Zusammenhang die überragende Idee des Guten zur Leitvorstellung allen individuellen und gesellschaftlichen Handelns erhoben, was nichts anderes bedeutet, dass auch das gesellschaftliche Zusammenleben nach einem Wahrheitsanspruch im Sinne eines philosophisch-ethischen Wertbegriffes streben soll. Dies gilt umso mehr, als es gerade die Ethik ist, die die positive Rechtsordnung eines Gemeinwesens prägt und es zur ureigensten Aufgabe der Ethik gehört, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche ethisch lebenswürdigen Zwecke und Werte als Bedingungen menschlichen Zusammenlebens anzustreben sind, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass selbstverständlich das gesellschaftliche Leben auch von einseitig egoistischen wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wirtschaftliche Interessen und Zusammenhänge im Ergebnis den Vorrang vor Werten haben müssten, die dem Zusammenleben aller dienen.

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jektiv und relativ. Herzustellen wäre nur ein für alle Menschen gültiges relatives universelles Wertesystem im Sinne eines Weltethos. Dann müssten sich die Menschen im Rahmen einer Weltgesellschaft mit einer bestimmten Wertgeltung einverstanden erklären. Ein objektiver Wahrheitsanspruch des Wertesystems wäre damit jedoch nicht verbunden. Das ändert allerdings nichts daran, dass im Rahmen eines rationalen ethischen Diskurses und einer ethisch vergleichenden Kontrolle stets die Frage nach der jeweils eigenen wie auch einer übergeordneten philosophisch-ethischen Richtigkeit gestellt werden muss, mit dem das eigene Wertesystem wiederum in Einklang zu bringen ist. Denn das, was die Gesellschaft traditionell und historisch überliefert für gerecht und ethisch für richtig hält, muss auf einer höheren ethischen Ebene noch lange nicht gerecht und ethisch richtig oder gut sein. Allerdings soll schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es aus diesseitiger Sicht real existierende natürliche Menschenrechte gibt, denen für sich gesehen ein objektiver Wahrheitsgehalt innewohnt und die unabhängig von jeder subjektiven und relativen Wertbetrachtung für alle Zeiten existieren. Aus diesen Gründen liegt es auf der Hand, diese Rechte auch zum ständigen Kontrollmaßstab einer höheren philosophischen Wertbetrachtung zu machen. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Von dem Wertesystem der Gesellschaft als Ganzes ist – und damit kommen wir wieder auf den Ausgangspunkt unserer Wertbetrachtung zurück – das Wertesystem des individuellen Menschen, welches ihm geistige Identität gibt, zu unterscheiden. Denn der Mensch, der sowohl auf sich als auch auf andere bezogen ist, hat ein Bild und ein Wertesystem von dem, was er ist und was er sein möchte bzw. nicht sein möchte, entwickelt. Jeder Mensch hat das psychische Bedürfnis sich die Sinnfrage zu stellen und sich dabei einen Orientierungsrahmen zu schaffen. So ist es jedem Menschen als Ausfluss seiner Menschenwürde und menschlichen Freiheit unbenommen, die Fragen, was für ihn Glück, Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit bedeutet, individuell zu beurteilen. Auch in der von ihm zu bestimmenden Rangfolge und Abwägung der für ihn Geltung beanspruchenden Bedürfnisse, Strebensziele und Werte ist er – soweit die Bedingungen seines Existierens es zulassen – frei. Dementsprechend ist es auch jedem Menschen freigestellt, an Gott zu glauben und sich seinen Geboten zu unterwerfen. Für das Zusammenleben der Bürger als teilidentische Mitglieder der Gesellschaft untereinander ist es dabei allerdings unabdingbar, dass sie auch das Wertesystem der Gesellschaft als Einheit, d. h. die Wertvorgaben und Sollenssätze für ein gesellschaftliches Zusammenleben in ihren persönlichen Wertsystemen verankert haben, da ansonsten ein friedvolles und respektvolles Miteinander nicht möglich erscheint. Umgekehrt wird das Wertsystem der Ganzheit selbstverständlich auch die Selbstbestimmtheit und Entscheidungsfreiheit jedes einzelnen Bürgers angemessen beachten, da eine Gesellschaft in ihrem Zusammenwirken nur existieren kann, wenn sich die einzelnen Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen in dem ganzheitlichen Wertsystem als teilidentische Mitglieder wiedererkennen. Die Herstellung der not-

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wendigen Harmonie kann deshalb nur dann gelingen, wenn das gesellschaftliche Wertesystem mit demjenigen der Einzelnen kompatibel ist. Diese Harmonie hat Hegel zu Recht als die Idee des Guten84 bezeichnet. Er hat deutlich gemacht, dass diese Idee in nichts anderem als in der Auflösung des Interessengegensatzes des Wohls des Einzelnen und dem Wohl in seiner allgemeinen Bestimmung, dem Wohl der anderen zu suchen sei.85

d) Die Einheit des gesellschaftlichen Wertesystems – Die Würde des Menschen als oberster Wert Ihre Einheit erhält das Wertesystem durch seinen obersten Wert. Durch diesen wird die notwendige Struktur innerhalb des Systems hergestellt. Ansonsten gäbe es keine nachvollziehbaren und transparenten Wertungsmaßstäbe. Alle Wertungen hätten kein Bindeglied und würden einer ethischen Beliebigkeit unterfallen. Der oberste Wert ist deshalb die Leitidee schlechthin, an dem sich alle anderen relativen Werte zu orientieren haben. Aus der Subjektivität und Relativität der Werte für das einzelne gesellschaftliche System folgt nämlich nicht, dass es nicht doch einen oder einzelne Werte gibt, die schon aus besonderen Gründen für das Zusammenleben aller Gesellschaftsbürger eine herausragende Bedeutung haben. Denn die gewollt getroffenen Entscheidungen über den höchsten Wert und das daraus ableitbare richtige Maß anderer Güter und deren Rangfolge geben Auskunft darüber, was innerhalb eines gesellschaftsethischen Wertesystems von den Gesellschaftsbürgern selbst als ethisch richtig oder – man kann auch sagen – als gerecht verstanden wird. Das bedeutet: Die Idee der gesellschaftsethischen Richtigkeit spiegelt sich in dem Aufeinanderbezogensein der Werte in ein und demselben Wertesystem wider. Das Wertesystem und ein daraus abgeleitetes Werturteil ist nämlich dann richtig, wenn es vom moralischen Standpunkt der Gesellschaft, für die das Wertesystem relative Geltung hat, aus gesehen richtig ist.86 Alles andere könnte auf Dauer auch keine gesellschaftliche Einheit bieten, da Menschen in ihrer gesellschaftlichen Ganzheit aufgrund ihrer Vernunft in Verbindung mit ihrem Gewissen und Gerechtigkeitssinn auf Dauer keine ethischen Unrichtigkeiten sprich Ungerechtigkeiten wollen und ertragen. Ein ethisch nicht von den Bürgern akzeptiertes Wertesystem würde letztlich nicht nur zur Spaltung der Gesellschaft, sondern auch zur Auflösung des Systems selbst führen. Der oberste Wert drückt somit aus, was für das Gesellschaftsganze, d. h. für die Gesellschaftsbürger in ihrer Verbundenheit am wichtigsten und wertvollsten und unverzichtbar ist. Er ist das höchste ethische Prinzip, der gemeinsame und verbindende Zweck, dem sich alles gesellschaftsethische Miteinander unterzuordnen hat. Er ist der höchste Wert, der das System als Ganzes wie eine Klammer zusammenhält und ihm 84 85 86

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 129. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 134. Vgl. Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 86.

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die ethische, teleologische und logische Ausrichtung gibt. Er ist der Wert, der sich deduktiv wie ein roter Faden durch das gesamte Wertesystem zieht und den im Rahmen logischer Schlussfolgerungen und teleologischer Ableitungen zu treffenden gesellschaftsethischen Wertabwägungen ihre gedankliche Tiefe und wirkliche Gestalt gibt. Er ist der Wert, der bei allen relativen gesellschaftsethischen Wertabwägungen und Wertbetrachtungen immer vorrangig zu berücksichtigen ist. Wertentscheidungen, die diesem Prinzip widersprechen, sind notwendigerweise nicht gemäß dem Wertesystem. Damit gibt der oberste Wert dem Wertesystem und damit der Gesellschaft die nötige Stabilität und integrative Kraft, zumal man davon ausgehen kann, dass der oberste Wert der Wert ist, der von der weit überwiegenden Anzahl der Gesellschaftsbürger als das das gesellschaftliche Miteinander tragende Prinzip angesehen wird. Anders wäre es auch kaum möglich, dass das Wertesystem in seiner Ganzheit als Leitlinie für das gesellschaftliche Miteinander überhaupt nutzbar gemacht werden könnte. Auch bei der philosophischen Frage, woran die ethische Richtigkeit eines gesellschaftsethischen Wertesystems festgemacht werden kann, fällt der Blick auf den Wert, den die Gesellschaft, geleitet von ihren Gefühlen und ihrer Vernunft, übereinstimmend als höchsten Wert internalisiert und akzeptiert hat. Denn die ethische Richtigkeit eines Wertesystems richtet sich am obersten Wert und an dessen ethischem Gehalt aus, weil die Richtigkeit jeder aufgrund des Wertesystems getroffenen Wertentscheidung selbst nur in Beziehung zu diesem obersten Wert, der die Rangfolge des Wertsystems und der daraus fließenden Wertentscheidungen inhaltlich prägt, feststellbar ist. Der oberste Wert gibt dem Wertesystem als Ganzem den eigentlichen ethischen Gehalt. Er gibt deshalb für alle zu treffenden Wertentscheidungen vor, was ethisch gut und gerecht ist. Angesichts der logischen und teleologischen Ausrichtung des Wertesystems an einem obersten Prinzip kann gegen die hier vertretene Auffassung auch nicht eingewandt werden, Werte seien nur für das urteilende Subjekt gültig und damit willkürlich. Es ist zwar richtig, dass das Wertesystem ein dynamisches und sich immer wieder entwickelndes System ist, das keine starre und vorgegebene ethische Wertrangordnung vorsieht. Die hier vertretene Auffassung stellt jedoch eine Synthese zwischen einer rein absoluten, einen vorgegebenen Wertehimmel fordernden Werttheorie und einer radikalen wertrelativistischen Theorie dar, die keinerlei feste Wertmaßstäbe kennt, weil die verschiedenen Meinungen über das, was ethisch richtig ist, gleichwertig nebeneinander stehen sollen. Die Synthese besteht darin, dass einerseits ein oberster Wert anerkannt wird, der einen quasi absoluten Charakter hat, und andererseits die Relativität der Werte nicht geleugnet wird. Bei dieser monopluralistischen Betrachtung hängt die übrige Rangfolge der Werte zwar – wegen ihrer Relativität – stets von einer konkreten relativen Wertentscheidung ab. Diese Entscheidungen müssen sich allerdings stets an dem „gesetzten“ obersten Wert orientieren und mit diesem in Einklang stehen. Auf diese Weise wird auch der dialektische Widerspruch zwischen der Einheit des Wertesystems, dessen Inhalt es ist, verlässliche und nachvoll-

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ziehbare Vorgaben zu machen, und der Theorie der Relativität der Einzelwerte aufgehoben. Der oberste Wert ist gemäß dem ethischen Gesellschaftsvertrag der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Würde des Menschen einschließlich seiner ethischen Freiheit, in der sich Selbstachtung und Fremdachtung wiederfinden. Der Wert der Menschenwürde ist die ethische Klammer unseres Wertesystems. Demgemäß heißt es in der Verfassung der Bundesrepublik: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Damit garantiert die staatliche Verfassung als Konkretisierung unseres gesellschaftlichen Wertsystems rechtlich den umfassenden Schutz des individuellen, personhaften Existierens einschließlich der Würde des Menschen, deren Anerkennung die Voraussetzung und Basis unserer freiheitlichen pluralistischen Konsenskultur schlechthin ist. Die Heraushebung des Wertes als unantastbar beinhaltet zugleich das Werturteil, dass dieser Wert sich keinen anderen Werten unterzuordnen hat. Damit stimmt es überein, dass die Menschenwürde als der Leitwert schlechthin auch soziologisch betrachtet eine fast durchgehende Akzeptanz in unserer Gesellschaft hat.87 Gerade auf der Freiheit der menschlichen Existenzen und deren gesellschaftlicher Konsensfähigkeit überhaupt baut unsere Gesellschaft auf. Ohne Anerkennung der Würde und ethischen Freiheit des Menschen gäbe es weder einen ethischen Gesellschaftsvertrag noch unsere Verfassung im Sinne einer staatlichen Satzung. Würde und ethische Freiheit des Menschen sind somit nicht nur die Basis (Basiswerte), sondern sogar die Voraussetzung (Voraussetzungswerte) unseres gesellschaftsethischen Wertesystems und unserer Verfassung selbst. Diese Werte stehen somit zu Recht im Zentrum aller Betrachtung. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellt, indem es ausführte: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert.“88 Damit hat das Bundesverfassungsgericht zugleich für die Rangordnung der Werte die klare Bestimmung zugunsten der Menschenwürde bestätigt. Unser Wertesystem unterscheidet sich inhaltlich von den gesellschaftsethischen Systemen, in denen andere Werte an der obersten Stelle stehen und das Gesamtgefüge prägen. So gab es und gibt es Gesellschaftssysteme, an deren oberster Stelle nicht der Mensch und dessen personenhaft-sittliches Existieren stehen, sondern der höchste Wert das Interesse und die Ehre der Nation ist. Entsprechendes gilt für totalitäre Systeme, in denen der Staat nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst oberster Zweck ist („Du bist nichts, dein Volk ist alles“). Das personhafte Existieren des Menschen hat in diesen Wertsystemen schon dem Ansatz nach nicht die herausragende Bedeutung, wie dies auf einer auf der Anerkennung der Menschenwürde beruhenden freiheitlichen Demokratie der Fall ist. Ferner gibt es Systeme, in denen keine Ablösung und Befreiung und Emanzipation des Menschen von den durch die Religion und 87 88

Vgl. auch Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 119. BVerfGE 1,18.

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Theologie bestimmten Ordnungssystemen stattgefunden hat. In diesen Wertordnungen steht an oberster Stelle der „göttliche Wille“, dem sich das gesamte gesellschaftsethische Leben und die ethische Selbstbestimmtheit des Einzelnen unterzuordnen hat. Die in diesen Gesellschaften getroffenen Wertentscheidungen unterscheiden sich somit ganz erheblich von einem Wertesystem, welches auf der Würde des individuellen Menschen beruht; hier liegt im Übrigen – und hierauf wird im Einzelnen noch zurückzukommen sein –, nicht nur nach meinem Verständnis einer der Hauptkonflikte zwischen unserem Wertesystem und weiten Teilen des islamischen Kulturkreises. Das gesellschaftsethische Wertesystem der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland baut philosophisch auf einem aufgeklärten und säkularisierten Weltbild auf, d. h. auf einem Weltbild, welches nicht auf Gott, sondern – wie Kant es formulierte – auf den eigenverantwortlich handelnden und aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herausgetretenen89 Menschen ausgerichtet ist. Es ist der Aufklärung zu verdanken, dass die Existenz des Menschen mit seiner natürlichen Anlage zur Entschließungsfähigkeit und damit zur Sittlichkeit in den Mittelpunkt der philosophischen Betrachtung gerückt wurde. Damit sollte aber keinesfalls eine Abkehr von der Religion und dem Gottesglauben eingeleitet werden. Nach meinem Verständnis sollte lediglich dem vernünftigen Gedanken Geltung verschafft werden, dass ausschließlich die menschliche Existenz Maßstab eines gesellschaftlichen Wertesystems sein kann. Sinn und Zweck des Wertesystems ist es nämlich, die selbstbestimmten Bedürfnisse und Interessen der Menschen als Wertträger in ihren individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen in einem ganzheitlichen und überpersonale Geltung beanspruchenden Wertgefüge als der Grundlage für das menschliche Miteinander überhaupt abzubilden. Ohne den Menschen selbst als Wertträger ist ein Wertesystem gar nicht denkbar. Insoweit ist es auch nicht überraschend und entspricht durchaus den vernünftigen Bedürfnissen, die Würde in diesem Gefüge unantastbar an die erste Stelle zu rücken, um der Bedeutung des Menschen für das Wertesystem als Folge seiner eigenen Bedürfnisse selbst Rechnung zu tragen.90 Denn: All das, was gegen die menschliche Existenz als solche, gegen dessen Würde und ethische Freiheit gerichtet ist, kann für den Menschen als solchen nicht gut sein. Nun könnte man hiergegen wiederum einwenden, dass es für die Gesellschaftsbürger aufgrund ihrer zugesagten ethischen Selbstbestimmtheit möglich sein müsse, einen anderen Wert zum obersten Wert ihres ethischen Zusammenlebens zu bestimmen. So könnte man – auch durch Mehrheitsentscheidung legitimiert – eigenverantwortlich und unter Berufung auf die eigene Menschenwürde sagen, dass die Gesellschaft, die Nation, der Staat oder Gott der oberste Wert des gesellschaftlichen Systems 89

Steenblock, Philosophiegeschichte, S. 168. Das Bekenntnis zur Menschenwürde war auch eine vernünftige Antwort auf die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus und eine Absage an jede Form totalitärer Vereinahmung des Individuums (vgl. Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 119). 90

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sein soll, hinter denen nach dem ethischen Gründungsakt selbst die ethische Selbstbestimmtheit des Einzelnen zurückzutreten hätte, wenn die Gesellschaftsbürger daran ein derartiges Bedürfnis oder Interesse hätten. Bei näherem Hinsehen erkennt man allerdings, dass es nicht der menschlichen Vernunft entsprechen würde, wenn insoweit der vereinbarte oberste Wert wiederum zur Einschränkung oder Aufhebung der ethischen Selbstbestimmtheit der einzelnen Menschen bzw. der Gesellschaftsbürger insgesamt führen würde. Dies wäre der Fall, wenn sich die Selbstbestimmtheit des Menschen wiederum einem anderen obersten Wert unterordnen müsste und dabei der eigene Wert der ethischen Freiheit (Würde) wieder verloren ginge. Es kann deshalb den Interessen und Bedürfnissen der Menschen vernünftiger Weise nicht entsprechen, wenn eine solche Wertgebung letztlich zur Folge hätte, dass die Würde und Selbstbestimmtheit des Menschen durch die Vereinbarung eines anderen Wertes als der Menschenwürde aufgehoben würde. Der Wertgeber und Wertträger würde sich damit selbst außer Kraft setzen. Bei allem muss allerdings stets berücksichtigt werden, dass es sich bei dem Wert der Menschenwürde als obersten Wert des gesellschaftsethischen Systems nicht um einen absoluten vorgegebenen gesellschaftsethischen Wert handelt, auch wenn immer wieder gesagt wird, dass auch relative Werte durch universelle Anerkennung eine absolute Geltung erlangen könnten.91 Selbst durch eine universelle Anerkennung wird ein relativer Wert noch lange nicht zu einem absoluten Wert. Gegen die Absolutheit des Wertes – auch die des höchsten – spricht zudem dessen bipolare Struktur selbst, wonach jeder Wert in einem inneren dialektischen Spannungsverhältnis steht. Das zeigt sich insbesondere dann deutlich, wenn die personhafte Existenz des einen mit derjenigen des anderen, die sich beide im obersten Prinzip der Würde wieder finden, in Widerspruch steht. Zu denken ist insoweit an die ethischen Debatten über die Abtreibung oder die Folter zur Freipressung von Geiseln. Hier wäre es unzulässig, wenn sich die Befürworter des einen Standpunktes zur Begründung ihrer Position ausschließlich und apodiktisch auf die Absolutheit oder Unantastbarkeit des Wertes der Menschenwürde berufen würden, weil dies die Anderen mit gleicher Berechtigung tun könnten.92 Die „ethische Wahrheit“ kann hier nur in der angemessenen Auflösung des Spannungsverhältnisses liegen, was Aufgabe eines stets abwägenden gesellschaftsethischen Dialogs und politischen Handelns ist. Dabei muss sich jede politische und gesetzgeberische Entscheidung daran messen lassen, ob die individuelle menschliche Würde und Freiheit, gleich in welcher Ausprägung oder welchem Kontext, angemessen und ohne nachhaltige Beeinträchtigung der Idee schlechthin berücksichtigt wurde. 91

Vgl. Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 33. Dies gilt umso mehr, als es im menschlichen Zusammenleben kaum denkbar ist, dass diese Frage nicht zumindest mittelbar tangiert ist, weil der Basiswert der Menschenwürde als oberste Idee in allen anderen Werten als Ausdruck menschlicher Bedürfnisse und Interessen notwendig durchwirkt. Deshalb ist es meines Erachtens auch richtig, wenn gesagt wird, dass alle Grundrechte aus der Menschenwürde entspringen. (A.A. Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 46, S. 159). 92

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

e) Konkretisierung des gesellschaftsethischen Wertesystems in der staatlichen Verfassung und Rechtsordnung Das gesellschaftsethische Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland findet in ihrer Verfassung seinen konkreten Niederschlag. Ganz in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass in der Verfassung die Gesamtheit der Wertvorstellungen fixiert sei, die das Volk an einem bestimmten Zeitpunkt ihrer geistig kulturellen Entwicklung erreicht habe.93 Dementsprechend kann die Verfassungsgeschichte nicht isoliert, sondern immer nur im engen Zusammenhang mit der Ideengeschichte, insbesondere der gesellschaftlichen und politischen Geschichte gesehen werden. Betrachtet man die historisch-vernünftige Entwicklung des Staates aus dem Gesellschaftsganzen und analog hierzu die Entwicklung der staatlichen Verfassung aus einem vorstaatlichem gesellschaftsethischen Wertesystem, erkennt man, dass die Verfassung ein Wertesystem konkreterer Art ist,94 in der die ethischen Werte zu Werten des Rechts, nämlich in Grundrechte umgeformt werden. Mit dieser Umformung gibt der Staat zu erkennen, dass er die im Grundgesetz aufgenommenen Güter wie diejenigen der Würde und Freiheit des Menschen – und zwar über das Interesse des Einzelnen hinaus – als objektiv wertvoll und rechtlich schützenswert ansieht.95 Dementsprechend ist es auch folgerichtig, die Grundrechte des Bürgers nicht nur als Schutz- und Abwehrrechte gegenüber der übertragenen staatlichen Herrschaftsmacht zu bezeichnen, sondern die Grundrechte auch als Ausfluss des ethischen Systems selbst zu begreifen.96 In der Verfassung werden die ungeschriebenen, komplexen und als gemeinsamer Zweck angestrebten Wertvorstellungen der Gesellschaft für alle Gesellschaftsbürger in einer staatlichen Ordnung sichtbar und verbindlich gemacht. Die staatliche Verfassung stellt die Konkretisierung des rein ethischen Wertesystems in einer ethisch-politischen Ordnung mit Rechtsnormcharakter dar, die von ihren Bürgern Geltung und Akzeptanz fordert, um das angestrebte Zusammenleben gemäß dem Gesellschaftsvertrag überhaupt möglich zu machen. Diese Konkretisierung setzt sich fort, indem die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen als maßgebliche Richtlinien für die gesamte Rechtsordnung verbindlich sind und daher bei der Gesetzgebung und bei der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen 93

BVerfGE 7, 198, 206. Dabei wird gesagt, dass die Grundrechte als verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts Geltung beanspruchen. Die Grundrechte als objektive Normen statuierten ein Wertesystem besonderer Art (Ipsen, Staatsrecht II, § 2, Rn. 85, S. 31). 95 Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II., § 4, Rn. 76, S. 20. 96 Der objektive Grundrechtsgehalt ergibt sich nicht aus den subjektiven Freiheits- und Abwehrrechten selbst – sozusagen durch Abstraktion –, wie dies heute in der Grundrechtsliteratur vertreten wird (vgl. hierzu Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 4, Rn. 79 ff., S. 21 ff.), sondern ist im vorstaatlichen gesellschaftsethischen Wertesystem angelegt. 94

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Vorschriften beachtet werden müssen.97 Allein um die Einhaltung, Durchsetzung, Bewahrung und Fortentwicklung dieser Wertvorstellungen zu gewährleisten, sind im ethischen Gesellschaftsvertrag deshalb zugleich Machtorgane, nämlich die Staatsgewalt eingerichtet worden, der sich alle Bürger, die in diesem Herrschaftsgefüge zu Staatsbürgern werden, unterworfen haben. Damit wird eine staatliche, an die ursprünglichen Wertvorstellungen der Bürger gebundene Ordnung hergestellt. Die in der Verfassung konkretisierten Werte, die dort rechtsverbindlichen Normcharakter bekommen, machen die normativ-rechtliche Struktur der Gesellschaft als Ganzes aus.98 Diese Konkretisierung setzt sich in den Gesetzen des Staatsgefüges fort, indem die demokratisch gewählten Volksvertreter Gesetze erlassen, die trotz aller zugrunde liegenden politischen und wirtschaftlichen Zwecksetzungen den aus dem Wertesystem abgeleiteten Verfassungswerten in ihren Bandbreiten entsprechen müssen. Die Grundrechte beanspruchen deshalb für alle Bereiche des Rechts Geltung.99 Den staatlich erlassenen Gesetzen kommt trotz ihrer logisch-formalen Struktur von Tatbestand und Rechtswirkung Wertcharakter zu, da sie im Ergebnis ethischen Wertentscheidungen entsprechen, die rechtspolitisch umgeformt wurden. Deshalb bezeichnet man Gesetze auch als Rechtsnormen oder Sollenssätze, womit man das Durchwirken der Ethik – vermittelt durch die Rechtspolitik – in die staatliche Rechtsordnung zum Ausdruck bringt. Damit hat das gesellschaftsethische Wertesystem Geltung und Verbindlichkeit für das gesamte Recht erhalten, weshalb es meines Erachtens keiner weiteren Abstraktion der den Grundrechten innewohnenden – die subjektiven Rechtspositionen gewissermaßen überschießenden – Werte bedarf,100 um diesen Verbindlichkeit für das gesamte Recht zu verschaffen. Die staatliche Rechtsordnung, die ausschließlich aus sich wechselseitig beschränkenden Rechten und damit auch aus Pflichten besteht, darf dennoch gedanklich nicht mit der gesellschaftsethischen Wertordnung identifiziert werden. Richtig ist lediglich, dass das gesellschaftsethische Wertsystem die Basis für die staatliche Rechtspolitik ist. Diese beschäftigt sich mit der Frage, was den Bürgern nutzt, was gerecht oder für das Zusammenleben gut, was wertvoll, was erlaubt und verboten werden soll. Hier werden beachtenswerte Werte und Bedürfnisse politisch abgewogen, wobei die getroffenen Wertentscheidungen in staatlich verbindlichen Rechtsgesetzen münden. Die Rechtspolitik ist die Nahtstelle zwischen ethischen Überlegungen und staatlichem Recht. Das gesellschaftsethische Wertesystem selbst endet allerdings nicht im Wege seiner Konkretisierung in der Verfassung und Rechtsordnung. Es existiert als selbständige ethische Struktur in den konkreten Lebenszusammenhängen der Bürger fort. Zudem dient es als sich ständig entwickelndes und erneuerndes System nach wie 97

Maurer, Staatsrecht I, § 9, Rn. 20, S. 256. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 191. 99 Ipsen, Staatsrecht II, § 2, Rn. 85, S. 31. 100 Ipsen, Staatsrecht II, § 2, Rn. 85, S. 31. 98

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vor zur immerwährenden Konkretisierung der Verfassung und des daraus folgenden Rechtssystems. Sittliche und moralische Wertentscheidungen einer Gesellschaft ändern sich nämlich ständig, weshalb es zwangsläufig dazu kommt, dass diese Wertvorstellungen mit der jeweils bestehenden staatlichen Rechtsordnung nicht mehr übereinstimmen und diese Diskrepanz auch nicht durch die bereits in der Rechtsordnung verankerten Generalklauseln wie „Treu und Glauben“, die der Sittlichkeit auch ohne konkrete Norm im Recht Geltung verschaffen sollen, aufgefangen werden können. In diesen Fällen ist die Politik, vor allem die Rechtspolitik gefordert, die geltende Rechtsordnung dem gesellschaftlichen Wertesystem, d. h. dem jeweiligen gesellschaftsethischen Konsens anzupassen, um ihm eine höhere Geltung im gesellschaftlichen Miteinander zu verschaffen. Dies ist im Übrigen auch einer der Gründe, weshalb man nicht den Schluss ziehen sollte, dass das Wertesystem des Gesellschaftsganzen im Ergebnis durch die staatliche Rechtsordnung repräsentiert werde und es letztlich die Verfassung sei, die der Gesellschaft Einheit gäbe. Die unabhängige Dynamik des gesellschaftsethischen Wertesystems als reines System gemeinsamer und verbindender ethischer Wertvorstellungen der Gesellschaftsbürger würde damit verkannt. Zudem würde übersehen, dass das Recht nicht alle ethischen Gemeinsamkeiten der Bürger mit all ihren bipolaren Bandbreiten abbilden kann, sondern lediglich das Ergebnis einer rechtspolitischen Wertentscheidung darstellt, die zu bestimmten Fragen den ethischen Konflikt einseitig zugunsten eines Standpunktes gelöst hat. Recht in seiner Einseitigkeit gibt das ethische Spannungsverhältnis, das in der Gesellschaft oftmals weiter wirkt, allerdings nicht in seiner Ambivalenz wieder. Zudem kann die Geltung einer moralischen und sittlichen Pflicht, die für alle Bürger eine gesellschaftliche Bedeutung hat, unabhängig von der rechtlichen Norm bestehen oder über die rechtliche Norm hinaus gehen und muss nicht notwendig mit ihr zusammenfallen.101 Dies zeigt sich z. B. beim Grundsatz der Mitmenschlichkeit und Solidarität, aus dem u. a. die ethische Forderung: „Du sollst in Not geratenen Menschen beistehen“ entspringt. Hierbei handelt es sich um eine sittliche Pflicht und keine generelle Rechtspflicht. Entsprechendes gilt für die aus dem Wert der Menschenwürde fließende moralische Vertrauenskultur.102 Dieses Vertrauensprinzip, ohne das menschliches Zusammenleben nicht denkbar ist, ist in unserer Rechtsordnung nur vereinzelt in Gesetzen verankert.103

101

Vgl. hierzu Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 25. Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, S. 37 f. 103 Kaum vorzustellen, was passieren würde, wenn im gesellschaftlichen Zusammenleben das wechselseitige Vertrauen und die daraus fließenden Forderungen: „Du sollst nicht lügen“ oder „Du sollst nicht täuschen“, „Du sollst keinen falschen Anschein setzen“, die keinen unmittelbaren Rechtsnormcharakter haben (vgl. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 190), keine Bedeutung mehr hätten. Jedes Verhalten müsste hinterfragt und überprüft werden. Man könnte sich nicht mehr darauf verlassen, ob eine (nicht rechtlich fixierte) Zusage eingehalten wird oder nicht. Das würde wiederum dazu führen, dass das gesamte menschliche Zusammenleben rechtlich fixiert werden müsste, um den anderen letztlich unter dem Schutz der Rechtsordnung zu zwingen, seine gegebene Zusage zu halten. 102

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Ethik und Recht sind voneinander zu trennen, auch wenn es Überlagerungen und Bedingtheiten gibt und in unserer Verfassung die ethischen Prinzipien unseres gesellschaftsethischen Wertesystems verankert sind. Dadurch kommt der Verfassung in seiner dialektischen Umkehrung nicht nur eine juristische Funktion zu. Sie hat zudem die Aufgabe Sittlichkeit und Recht in der Gesellschaft zusammenzuführen und zu harmonisieren. Zudem hat die Verfassung selbstverständlich auch eine wertgebende und wertstabilisierende Bedeutung. f) Abgrenzung der gesellschaftsethischen Wertordnung vom religiös-ethischen Wertesystem In unserem Kulturkreis wurde das christliche Wertesystem bis zur Säkularisierung als das entscheidende ethische Konzept für die Gesellschaft wahrgenommen. Die Religion war die ethische Fundierung gesellschaftlicher Systeme. Sie war auch für das Gesellschaftsganze die anerkannte Basis für die Sittlichkeit und das Gute.104 Mit der Aufklärung erledigte sich die Symbiose von Staat und Religion und es setzte sich die Idee von einer vom Glauben unabhängigen, auf dem Konsens der Gesellschaft basierenden Ethik durch.105 Die Trennung von Religion und Gesellschaftsethik entsprach der menschlichen Vernunft und Erfahrung. Es ist nämlich unbestreitbar, dass auch ohne göttliche Anordnung und Religion ein moralisches gesellschaftliches Leben möglich ist. So steht – worauf Hans Küng zutreffend hinweist – empirisch fest, dass nichtreligiöse Menschen faktisch auch ohne Religion über eine ethische Grundorientierung verfügen und ein moralisches Leben führen. Es lässt sich auch anthropologisch nicht leugnen, dass viele nicht-religiöse Menschen auch Werte und Normen sowie Kriterien von „wahr und falsch“ entwickelt haben und besitzen. Auch philosophisch lässt sich nicht hinweg diskutieren, dass dem Menschen als Vernunftwesen eine wirkliche menschliche Autonomie zukommt, die ihn auch ohne Gottesglauben ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit realisieren und seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen lässt. Von vielen Menschen wird säkular eine Moral gelebt, die sich an der Würde eines jeden Menschen ausrichtet.106 Es war deshalb nur konsequent sich auf ein selbständiges, vom christlichen Wertesystem abgegrenztes, ausschließlich auf die Interessen, Bedürfnisse und Vernunft des Gesellschaftsganzen und seiner Bürger selbst bezogenes ethisches Wertesystem zu besinnen. Dies galt umso mehr, als nur ein solch säkularisiertes Wertesystem für alle Gesellschaftsbürger ethische Geltung haben kann. Es gibt nämlich auch Menschen, und das entspricht exakt ihrer ethischen Selbstbestimmtheit, die – wie Habermas es ausdrück104 105 106

Tönnies, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. 7. 2008, S. 13. Follath/Müller/Schwarz/Simons, in: Andresen/Burgdorff, Weltmacht Religion, S. 28. Küng, Projekt Weltethos, S. 60.

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te – religiös unmusikalisch sind107 oder dem in unserem Kulturkreis immer noch vorherrschenden christlichen Glauben völlig fern stehen. Schon allein aus diesem Grunde kann nur ein säkularisiertes Wertesystem bei allen Gesellschaftsbürgern, seien sie gläubig oder nicht gläubig, seien sie Christen oder Mitglieder einer anderen Glaubensgemeinschaft, die notwendige gesellschaftsethische Akzeptanz haben. Selbst für unsere säkularisierte Gesellschaft bildet das christliche Wertesystem allerdings nach wie vor die Basis des gesellschaftsethischen Wertesystems, da sich dieses inhaltlich und historisch aus dem christlichen Wertesystem entwickelt hat. So war es vor allem die Argumentationsfigur des christlichen Naturrechts, welches im Dialog mit der säkularisierten Gesellschaft an die gemeinsame Vernunft appellierte und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer pluralistischen Gesellschaft suchte. Dabei setzte die Idee des Naturrechts einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander griffen, weil die Natur selbst vernünftig war. Als letztes Element des Naturrechts, das im Tiefsten ein Vernunftrecht sein wollte – jedenfalls in der Neuzeit – sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie waren nicht verständlich ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass seine Existenz selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden waren.108 Trotz der Unterscheidung, die zwischen den beiden ethischen Systemen begrifflich und gegenständlich getroffen werden muss, ist deshalb festzuhalten, dass infolge der durch die Philosophie der Aufklärung angestoßene Säkularisierung das christlichreligiöse Wertesystem an sich nicht einfach untergegangen ist, sondern – zumindest für die Gesamtheit der gläubigen Christen – weiter existiert und diesen sinnstiftende Einheit gibt. Die Religion hat lediglich seine alleinige ethische Bedeutung für das Gesellschaftsganze eingebüßt. Das Gesellschaftsganze hat sich ein anderes gesellschaftsethisches Wertesystem gegeben, welches auf die metaphysisch-religiösen Inhalte verzichtete, wobei allerdings ansonsten inhaltliche Übereinstimmung besteht. In unserem gesellschaftsethischen System spielt ebenso wie in den ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens der Mensch, dessen Würde und dessen ethische Freiheit für das Verhältnis unter Menschen die herausragende Rolle. Das christliche Wertesystem stellt aber nicht nur die historisch-kulturelle Grundlage unseres im Gesellschaftsvertrag festgelegten Wertesystems dar. Die christliche und humanistische Prägung hat – über das Bindeglied des gesellschaftsethischen Wertesystems – eine weitere wichtige Konkretisierung in unserer staatlichen Verfassung erhalten.

107 108

Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtstaats, S. 35. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, S. 50 f.

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Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht den Begriff des „Christlichen“ im Beschluss vom 17. 12. 1975109 wie folgt ausgelegt: „Er bezeichnet – ungeachtet seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich – eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die auch erkennbar dem Grundgesetz zu Grunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht.“

Bei der „Wertewelt“, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aus der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangen sei und der Verfassung zugrunde liege, kann es sich aus meiner Sicht nur um unser gesellschaftsethisches Wertesystem handeln. Dieses System ist als eigenständiges gesellschaftsethisches Wertesystem gedanklich scharf von dem religiösen Wertesystem einerseits und von der Verfassung andererseits zu unterscheiden. Es scheint allerdings so, als ob diese gedankliche Trennung im Bewusstsein der Gesellschaftsbürger erst noch reifen müsse. Denn zu groß sind die Überlappungen der Werte der einzelnen Systeme, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sich die Verfassung der Bundesrepublik historisch unmittelbar aus dem christlich-religiösen Wertesystem entwickelte, ohne dass ein abgegrenztes gesellschaftsethisches Wertesystem in besonderer Weise sichtbar wurde. Das ändert aber nichts daran, dass man sich immer wieder die tatsächliche und gedankliche Eigenständigkeit dieses gesellschaftsethischen Systems bewusst machen muss, was insbesondere auch im Rahmen der gesellschaftlichen Integrierung von Zuwanderern von Bedeutung ist, da ausschließlich unser gesellschaftliches Wertesystem hierfür der Bezugsrahmen ist. Es ist deshalb zu kurz gegriffen, wenn man in der politischen Diskussion das gesellschaftsethische System mit der Verfassung selbst, in die die Werte der christlich-abendländischen Kultur eingeflossen sind, identifiziert und daraus wieder den Schluss zieht, die Verfassung selbst sei die politisch-ethische Grundlage der Integration. Abgesehen von der begrifflichen und gegenständlichen Unschärfe würde zudem nicht hinreichend berücksichtigt, dass die staatliche Verfassung als verrechtlichtes System in erster Linie dazu gedacht war, die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Freiheit im Sinne von Abwehrrechten gegenüber der staatlichen Willkür zu sichern. Man hat zwar im Nachgang versucht, aus der Verfassung die ethischen Systeme, durch welche die Verfassung in historischer Sicht „vorrechtlich und überpositiv“110 geprägt wurden, herauszulesen. Die prinzipielle Ineinssetzung des ethischen Systems mit der Verfassung kann jedoch nur zu politischen Irrtümern führen, weil die Verfassung ein Gesetzeswerk darstellt, in welchem ihrem Wortlaut nach in erster Linie subjektive Grundrechte beschrieben und keine ethischen Verpflichtungen eingefordert werden. 109 BVerfGE 41, 29, 52; vgl. auch BVerwGE 121, 141, 151; Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 10. 12. 2007, S. 33. Zu beachten ist allerdings, dass das Wertesystem des Gesellschaftsganzen nicht einer auf göttlicher Anordnung beruhenden göttlichen Wertordnung entsprungen ist und diese dem säkularisierten System erst die ethische Note gibt. 110 BVerfGE 1, 18.

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Hier liegt im Übrigen der wesentliche Unterschied zwischen der Verfassung und den rein ethischen Systemen, seien sie religiöser oder gesellschaftsethischer Art. Anders als das Grundgesetz hat ein rein ethisches System wie das christliche nämlich nicht die Menschenwürde und die ethische Freiheit als reine Rechtsgüter – und schon gar nicht gegenüber staatlicher Willkür – im Blick, sondern ist sowohl durch die ethischen Berechtigungen als auch durch die ethischen Verpflichtungen gegenüber Gott und den Mitmenschen geprägt. Das christliche Wertesystem soll die Grundlage für ein faires Miteinander und sinnerfülltes Leben bilden, wobei Gott von den Gläubigen als der Garant für die Ethik angesehen wird. Entsprechendes gilt für das rein ethische Wertesystem des Gesellschaftsganzen, das für alle Gesellschaftsbürger gilt und seine moralische Kraft – und hier liegt der Unterschied zur Religion – nicht in Gott sondern in einem in den Menschen selbst liegenden moralischen Bedürfnis sieht. Zudem blickt auch das gesellschaftsethische Wertesystem in erster Linie auf ein wechselseitiges moralisches Miteinander von Menschen und nicht auf einseitige Rechtspositionen, die es zu verteidigen gilt. Denn was rechtlich legitim ist, ist nicht zwangsläufig moralisch richtig. Bei aller aus der logischen Vernunft abgeleiteten Trennung der einzelnen Systeme, die nebeneinander wirken, dürfen jedoch die besonderen und zusätzlichen emotionalen Bindungskräfte, die der Glaube und die Befolgung des christlichen Wertesystems für unser gesellschaftsethisches Zusammenleben auslöst, nicht übersehen werden. Die Identifikation mit dem religiösen Wertesystem verstärkt nämlich die Identifikation mit den ethischen Werten der Gesellschaft und der Verfassung, weil die Anerkennung der Würde des Menschen auch von Gott gewollt ist. Die Verletzung der Würde des Mitmenschen stellt sich nicht nur als Verletzung der Moral gegenüber sich selbst, gegenüber dem Mitmenschen, gegenüber der Gesellschaft oder gegenüber dem Staat, dar sondern auch als Gebotsverletzung gegenüber Gott. Für den Gläubigen haben die Werte des Gesellschaftsganzen eine zusätzliche metaphysische Bedeutung, weil der gläubige Gesellschaftsbürger Gott, dem er auch nichts verheimlichen kann, gefallen will. Das religiöse Wertesystem wirkt somit in zwei Richtungen: Es fördert nicht nur religiöse Einheit und Geborgenheit, sondern stärkt in jedem Fall auch emotional die ethische Einheit des Gesellschaftsganzen und gibt dieser Stabilität. Es ist deshalb kein Zufall, dass trotz aller Säkularisierung ein deutlicher Bezug der Verfassung zum christlich-religiösen Wertesystem in der Präambel zum Grundgesetz hergestellt wurde. Dort heißt es ausdrücklich, dass sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen gegeben hat. Dem entspricht es, wenn der Parlamentarische Rat ausdrücklich darauf hinwies, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf dem ethischen Personalismus Kants111, sondern auch auf der christlichen Naturrechtslehre aufbaue.112 111 112

So Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 22. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II., § 7, Rn. 354 (S. 81).

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All dies belegt, dass die Systeme trotz ihrer strengen und begrifflichen Trennung in ihrem täglichen Erleben in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, sich gegenseitig positiv beeinflussen und oftmals nur in ihrer ganzheitlichen Synthese sichtbar sind, da es letztlich nicht nur um ein enttheologisiertes gesellschaftliches Miteinander, sondern schlechthin um das menschliche Leben und Zusammenleben, welches auch auf emotionale Wärme angewiesen ist, geht. All dies sollte man in einer säkularisierten Gesellschaft nicht übersehen. Die säkularisierte Gesellschaft sollte insbesondere bedenken, dass die gedankliche Trennung von gesellschaftsethischem und religiös-ethischem System in der logischen Konsequenz noch lange nicht die Abkehr von den christlichen Werten bedeutet. Mit der gedanklichen Trennung soll insbesondere nicht gesagt werden, dass die Religion als in der Gesellschaft wirkende Kraft „außer Kraft“ gesetzt werden soll.113 Schon gar nicht soll damit Gottlosigkeit oder ein politischer Atheismus begründet werden. Denn eins muss immer klar sein: Verlöre das christliche Wertesystem in unserer Gesellschaft seine ethische Kraft, würde das eindeutig auch unsere Gesellschaft schwächen. Es macht deshalb schon nachdenklich, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass bei immer mehr Bürgern der religiöse Bezug nicht mehr besteht und Gott bzw. Gottes Wort als metaphysischer Bezugsrahmen und sinnstiftende Idee keine – noch nicht mal eine flankierende – Rolle für das menschliche Miteinander mehr spielt. Hat gar der immer wieder beklagte Werteverfall damit zu tun, dass das christliche Wertesystem in unserer Gesellschaft gefühlsmäßig immer weniger und das gesellschaftsethische System erst gar nicht wahrgenommen wird? Es ist die Frage zu stellen, ob ein rein verfassungsrechtliches Wertesystem überhaupt ausreichende emotionale und moralische Antriebskräfte erzeugen kann, wenn das zwischen den unterschiedlichen Systemen bestehende Wechselspiel immer weniger sichtbar ist und stattdessen der Staat gleich einem Gott als Sinnstifter des menschlichen Lebens auftritt.

2. Der ethische Gehalt der Werte der Würde und Freiheit des Menschen a) Der Wert der ethischen Existenz Wie sehr das gesellschaftsethische Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland – wie auch das anderer westlicher Demokratien – auf der christlichen Lehre beruht, zeigt sich nicht nur an den zehn Geboten, sondern vor allem daran, dass das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“114 zur gedanklichen Leitidee des menschlichen Miteinanders und der Sozialsysteme in der Bundesrepublik geworden 113

Habermas (Glauben und Wissen, S. 23) hat in diesem Zusammenhang zu Recht angedeutet, dass der liberale Staat nicht die religiöse Herkunft seiner moralischen Grundlagen vergessen dürfe, weil es sonst Gefahr laufe, das Artikulationsniveau der eigenen Entstehungsgeschichte zu unterschreiten (vgl. hierzu auch Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 331). 114 Die Bibel, Matthäus, 22,39.

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ist. Aus diesem Gebot folgt nämlich der Sache nach die Aufforderung an den Menschen, seinen Mitmenschen so zu achten, so zu respektieren, so zu tolerieren, so zu fördern, so zu behandeln, so zu würdigen wie er – und das ist wesentlich – seiner eigenen Person das Bedürfnis nach Existenz, Würde, Freiheit, Achtung und Respekt zuschreibt. Dieses Gebot beinhaltet somit nicht nur das Gebot der christlichen Selbstund Nächstenliebe, sondern auch die Idee der wechselseitigen Anerkennung der Menschenwürde und das Prinzip der Gleichheit der Würde aller Menschen. Auf diesen ethischen Prinzipien baut auch die „Menschheitszweckformel“115 Kants auf. Dieses lautet: „Handele so, dass Du die Menschheit sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.116

Begründet hat Kant dieses Grundgebot, welches er auch den „praktischen Imperativ“ nannte, wie folgt: „Vernunftlose Wesen“ haben „nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet.“117

Kant sprach dem Menschen, weil er Person im ethischen Sinne – und nicht nur Mittel für die Zwecke anderer – sei, einen Wert an sich selbst und in diesem Sinne Würde zu. Diese Würde habe keinen Preis, sondern sei über allen Preis erhaben.118 Für Kant bestand die säkularisierte Menschenwürde somit folgerichtig in der Einzigartigkeit eines jeden Menschen als Ausdruck seiner moralischen Selbstschätzung.119 Dies wiederum hatte nach Kant zur Folge, dass „ein jeder Mensch“ „rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen“ habe „und wechselseitig“ „er dazu auch gegen jeden anderen verbunden“ sei.120 Damit hat Kant einen Begriff der Menschenwürde entworfen, der Vernunft und Selbstbestimmung in den Fokus rückte. Damit unterschied sich seine Deutung von der christlichen Interpretation der Menschenwürde, die sich vor allem aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und dessen Stellung als Geschöpf Gottes ableitete.121 In der Grundrechtsliteratur wird in Anlehnung an die Philosophie Kants eine Verletzung der Würde des Menschen dann angenommen, wenn der konkrete Mensch 115

Vgl. hierzu Pfister, Philosophie, S. 171. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 65. 117 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 64. 118 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 72. 119 Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 11. 120 Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 38; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 23 nennen das ein „rechtliches Grundverhältnis.“ 121 Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 2, S. 136. Nach der Theologie der frühen Kirche und der Kirchenväter hat der Mensch Würde, weil er von Gott geschaffen und durch Christus von seiner Schuld erlöst ist (Bogner, Ausverkauf der Menschenrechte, S. 19). 116

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zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.122 Andere wiederum fassen die Menschenwürde als einen den Menschen von Gott oder der Natur mitgegebenen Wert oder als Eigenwert bzw. als die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin auf.123 Diese begrifflichen Bestimmungen der Menschenwürde sind meines Erachtens wie folgt zu konkretisieren: Zunächst gibt es das biologisch natürliche personhafte Existieren eines Menschen als Lebewesen.124 Der darauf bezogene Begriff bezeichnet ausschließlich die biologische Existenz des Menschen mit all seinen natürlichen Anlagen.125 Unter der Würde des Menschen ist dagegen eine konkretere Form des Menschseins, nämlich seine ethische Existenz zu verstehen. Der Begriff der Menschenwürde bezieht sich in erster Linie nicht auf die biologische Anlage des Menschen zur Entschließungsfähigkeit, sondern auf die sich daraus ergebende spezielle Fähigkeit sich frei, selbstbestimmt und eigenständig nach einer vernünftigen Abwägung zwischen Gut und Böse für das Gute zu entscheiden.126 Jeder Mensch hat in seinem Innersten, dort, wo sein Ich-Ideal oder seine moralische Instanz sitzt,127 die natürliche Fähigkeit ethisch vernünftig, d. h. nach moralischen Kriterien frei abzuwägen und infolge dessen eine ethische Entscheidung zu treffen, an der er wiederum sein Handeln ausrichten kann. Der Mensch ist aufgrund seiner natürlichen Anlagen und seiner Vernunft fähig ein eigenständiges und selbstbestimmtes und vor allem selbstbeobachtetes moralisches Urteil zu fällen. Dabei ist der Mensch aufgefordert in seinem innersten Ich selbst kritisch zu prüfen, was als moralisch richtig gelten soll.128 Allein in dieser anlagebedingten Fähigkeit und Möglichkeit, sich für das Gute zu entscheiden, liegt bereits die ethische Existenz des Menschen. In diese Richtung geht es, wenn die Philosophin Annemarie Pieper die Würde des Menschen gerade darin sieht, dass er sein Handeln den ethischen Kategorien des Guten und des Bösen unterstellt und damit seine moralische Freiheit bekundet.129 122

Vgl. Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 119 unter Bezugnahme auf die von dem Verfassungsrechtler Günter Dürig entwickelte Objektformel. 123 Vgl. hierzu Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 7, Rn. 354 (S. 81). Zu den einzelnen Theorien der Menschenwürde vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 5 ff., S. 137 f. 124 Arendt, Über das Böse, S. 12: „Denn alle Ethiken, die christlichen wie die nicht christlichen, gehen davon aus, daß das Leben für sterbliche Menschen nicht das höchste Gut ist, daß im Leben immer mehr auf dem Spiel steht als die Aufrechterhaltung und Hervorbringung lebendiger Organismen“. 125 Vgl. zum personhaften Existieren Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 5 ff. 126 Vgl. hierzu auch Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S. 149 ff. unter Berufung auf Kants Begriff der Menschenwürde. 127 Freud, Das Ich und das Es, S. 229 f. 128 Vgl. hierzu auch Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 158 m.w.N. 129 Pieper, Gut und Böse, S. 51.

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Der Begriff der Würde bezieht sich dementsprechend nicht nur auf den Menschen im Sinne eines besonders wertvollen Menschen, d. h. einen idealisierten Menschen, der gut handelt oder eine erhabene Gesinnung hat. Würde ist nicht die Folge guten und ethischen Handelns. Setzte man dies voraus, könnte Würde wohl nur einer begrenzten Anzahl von Menschen zugesprochen werden, weil nicht alle Menschen die durchgängige Kraft haben ethisch gut zu handeln oder immer die ethisch richtige Entscheidung zu treffen. Der Mensch unterliegt nämlich durchaus der Versuchung und Neigung, kompromisslos egoistisch zu handeln oder Böses zu tun.130 Tut er Böses, verliert er im Grundsatz nicht seine Würde, auch wenn er sich entgegen einer vernünftigen und ethisch richtigen Wertentscheidung verhalten haben sollte. Die Menschenwürde repräsentiert vielmehr die vertiefte und innere Fähigkeit der personhaften Existenz, im Spannungsverhältnis zwischen Gut und Böse freiwillig Gutes zu tun, gleichgültig, ob die Person davon Gebrauch macht. Der Mensch als so verstandene ethische Existenz ist von dem tatsächlich ethisch handelnden Menschen zu unterscheiden. Nur deshalb kann auch ausnahmslos allen Menschen Würde zugesprochen werden. Würde ist deshalb auch keine Größe, die der Mensch erst selbst konstituieren muss.131 Würde erhält der Mensch insbesondere nicht durch eigene Handlungen oder Entfaltungen. Schon gar nicht muss der Mensch die Würde im Prozess der Identitätsbildung und Selbstfindung erst gewinnen.132 Würde erhält der Mensch mit seiner Entstehung. Die Würde ist mit der natürlichen Existenz des Menschen und seiner Anlage zur ethischen Entschließungsfähigkeit untrennbar verknüpft. Von dem, was dem Begriff nach Würde ist, ist die moralische und rechtliche Bewertung der Würde des Menschen, d. h. dessen Wert und Bedeutung in den unterschiedlichsten Kontexten zu unterscheiden. Der Wert drückt u. a. das Bedürfnis aus, wie der Mensch aufgrund seiner Würde von anderen Menschen behandelt werden will oder wie er aufgrund seiner ethischen Existenz andere Menschen mit der gleichen ethischen Existenz behandeln soll (Fremdachtung). Weiterhin geht es um die Bedeutung, die die eigene Selbstbestimmtheit für die Person selbst hat (Selbstachtung).133 Insgesamt geht es um die Fragen, wie der Mensch aufgrund seinen ethischen Fähigkeiten im Umgang mit sich selbst und mit anderen sein soll, wie man sich ihn wünscht, welche Erwartungen und moralischen Pflichten man an eine ethische Existenz stellt bzw. welche moralischen Befugnisse und Rechte der Mensch als ethische Existenz haben soll. Bei der Bewertung der Würde geht es weiterhin darum, wie ein würdiges 130 Arendt, Über das Böse, S. 28: „Weder er (sc. Kant) noch irgendein anderer Moralphilosoph glaubte, dass der Mensch das Böse um seiner selbst willen wollen könnte. Alle Übertretungen werden von Kant so erklärt, dass der Mensch versucht ist Ausnahmen hinsichtlich eines Gesetzes zu machen, das er im Übrigen als gültig anerkennt. Niemand will böse sein, und jene, die trotzdem böse handeln, fallen in ein ,absurdum morale, in moralische Absurdität. Der das tut, befindet sich eigentlich in Widerspruch mit sich selbst, mit seinem eigenen Verstand und muss sich selbst, in Kants Worten selbst verachten.“ 131 Vgl. hierzu Bogner, Ausverkauf der Menschenrechte, S. 20. 132 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 6, S. 139. 133 Vgl. zur Selbstachtung Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S. 136.

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Sein auszusehen hat. Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um die Mindestvoraussetzungen herbeizuführen, damit der Mensch überhaupt seiner in ihm angelegten Würde genügen kann. Die Bewertung beschäftigt sich auch mit der Frage, wann die Würde verletzt ist. Letztlich geht es auch um die Frage, warum die Menschenwürde, die von der menschlichen Existenz schlechthin zu unterscheiden ist, überhaupt der höchste Wert unseres menschlichen Zusammenlebens sein soll und nicht stattdessen der Toleranz oder Gott als höchstes Gut der Vorrang zu gewähren ist. Die ethische Betrachtung der Würde löst sich somit vom begrifflich erfassten Sein der Würde, welches die generelle moralische Fähigkeit des personhaft existierenden Menschen zum Gegenstand hat. Der Wert der Würde wird nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt des Seins, welches das Gut der Bewertung ist, sondern nach ethischen Bedürfnissen, Erwartungen, Zwecken und Zielen beurteilt. Den Meinungen und Bewertungen hierzu sind keine Grenzen gesetzt. Sie sind Gegenstand eines ständigen ethisch-vernünftigen Dialogs, in der das Sein der Würde, das mit dem Begriff beschrieben wird, als Ausgangspunkt aller Betrachtung, seine ständige ethische und lebendige wertende Analyse und Beurteilung erhält, wobei das Gut der Betrachtung, d. h. das Sein der Würde, aber immer gleich bleibt. Letztlich unterliegt auch die Würde des einzelnen Menschen der Bewertung. Dabei hängt der Wert der Würde des einzelnen Menschen für sich selbst und andere nicht zuletzt davon ab, wie er sich verhält, wie seine Taten sind, wie er sich im tatsächlichen Leben verhält, ob und in welcher Intensität er die eigene Würde oder die fremde Würde tatsächlich schätzt oder nicht. Die Bewertung des Gutes der Würde kann dabei nicht von den tatsächlichen Umständen und dem tatsächlichen Verhalten desjenigen, der Würde in Anspruch nimmt, getrennt werden. Die Bewertung des Gutes hängt immer vom konkreten Kontext ab, in dem das Gut steht. .

b) Der ethische Wert der Freiheit Der Würde ist die ethisch vernünftige Entschließungsfähigkeit und -freiheit immanent. Der Mensch hat die freie und vernünftige Entschließungsmöglichkeit, sich selbst und anderen gegenüber sittlich zu verhalten. Insofern ist es weder falsch, wenn gesagt wird, dass die Menschenwürde die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Menschen voraussetzt noch ist es falsch, wenn darauf hingewiesen wird, dass Würde ethische Selbstbestimmtheit bedingt.134 Ein Mensch ist – wenn man der abstrakten Logik folgt – in seiner natürlichen wie ethischen Entschließung dann frei, wenn er in seinen Entscheidungen ungebunden ist. Würde, wie ich sie verstehe, setzt deshalb ein nicht determiniertes Menschenbild voraus, wobei ungebunden allerdings nicht heißen kann, dass es eine gänzlich unbeding-

134

Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S. 127.

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te Freiheit gibt. Jede freie Entschließung des Menschen, welcher Art auch immer, ist nämlich immer durch die objektiven Bedingungen seines Seins bedingt.135 Die Ungebundenheit der Entschließung, d. h. ihrer Freiheit bedeutet jedoch noch lange nicht, dass der ethische Gehalt der Entschlussfassung völlig frei wählbar ist. Ethische Freiheit hat nämlich immer auch den Mitmenschen im Blick und gibt sich mit dem ungezügelten und radikal einseitigen Gebrauch eines freiheitlich egoistischen Willens nicht zufrieden. Deutlich wird dieses Spannungsverhältnis von egoistischer Freiheit und ethischer Freiheit, wenn man sich mit dem unterschiedlichen Menschenbild und dem unterschiedlichen ethischen Grundverständnis von Thomas Hobbes und Immanuel Kant auseinandersetzt. Von einem egoistischen Menschenbild ist im Ansatz der englische Philosoph Thomas Hobbes ausgegangen.136 Nach Hobbes ist der Mensch im Naturzustand ein Wesen, das hauptsächlich von eigenen Interessen getrieben wird. Jeder Mensch habe ein Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens und der Förderung des eigenen Glücks. Glück sei, wenn man zukünftige Ereignisse voraussehen und im Lichte des Eigeninteresses zu beurteilen vermöge.137 Für Hobbes war deshalb die natürliche Selbsterhaltung des Menschen, der im Grundsatz egoistisch sein soll, der höchste und fundamentalste Wert. Der Mensch entscheide egoistisch nur für sich selbst, was für ihn gut sei. Der Mensch habe im Naturzustand die Freiheit, seine natürlichen Vermögen zu gebrauchen und alle Mittel anzuwenden, um sich zu erhalten.138 Allerdings hat auch Hobbes feststellen müssen, dass ein radikaler Egoismus im Zusammenleben mit anderen, die ebenfalls radikal egoistisch handeln („homo homini lupus“) nicht der Zustand sein kann, der dem egoistischen Menschen letztlich nutzt. Deshalb hat Hobbes die Schlussfolgerung gezogen, dass sich der Mensch, weil es seinem Eigennutz entspricht, mit anderen Menschen zum Schutz seiner eigenen Güter in einem Gesellschaftsvertrag zusammen schließen solle.139 Diese Gedanken finden sich der Sache nach verfeinert und fortentwickelt in der Lehre vom „wohlverstandenen Eigennutz“ oder „wohlverstandenen Interesse“ wieder, die unter anderem von Alexis de Tocqueville vertreten wurde.140 Diese Lehre, die der Überwindung des im Egoismus mündenden Individualismus dienen soll,141 basiert auf dem Prinzip: „Eigennutz zur Aufgabe des Egoismus.“142 De Tocqueville bezeichnet diese Lehre vom aufgeklärten Egoismus als keine hohe, aber als klare und zuverlässige Lehre, die keine großen Dinge erstrebe, aber mühelos das Erstrebte er135 136 137 138 139 140 141 142

Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 131. Pfister, Philosophie, S. 150 ff. Pfister, Philosophie, S. 150. Vgl. hierzu Kunzmann/Burkard, Philosophie, dtv. Atlas, S. 117. Pfister, Philosophie, S. 150 f. Vgl. hierzu auch Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 323. De Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 245 ff., 239. De Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 244.

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reiche. Diese Lehre schmiege sich an die Schwächen des Menschen an und übe deshalb schnell eine große Macht aus. Es falle nicht schwer, sie zu behalten, weil sie das persönliche Interesse gegen sich selbst richte und sich, um die Leidenschaften zu lenken, desselben Stachels bediene, der diese auch antreibe.143 Dieses Bild von der Freiheit und damit Würde des Menschen entspricht nicht unserem christlichem und durch die Aufklärung geprägten Bild von einer ethischen Existenz. Es war wiederum Kant, der das Wesen der menschlichen Freiheit nicht nur als Unabhängigkeit von fremden bestimmenden Ursachen gesehen hat (sog. negative Freiheit), sondern auch einen „positiven Begriff der Freiheit“ geprägt hat, worunter er die Eigenschaft des Willens sich selbst Gesetz zu sein, verstand. Erst beide Begriffe zusammen bilden nach Kant den Begriff von der Freiheit des Willens insgesamt,144 wobei er unter dem freien Willen des vernünftigen Wesens letztlich den guten Willen verstand.145 Nach Kant besteht die sittliche Freiheit somit nicht schon in der biologisch-natürlichen Entschließungsfreiheit des Menschen, sondern wird durch ein ethisches Handlungsprinzip bestimmt. Dieses ethische Handlungsprinzip, das im idealen oder ethischen Kern einer Person wacht,146 hat Kant im kategorischen Imperativ wie folgt zusammengefasst: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.147

Kant hat dabei den Imperativ „kategorisch“ genannt, weil dieser selbstlos und unabhängig von allen subjektiven Absichten und Interessenlagen, d. h. absolut gelten soll. Kant hat die ethische Freiheit somit als „ethische Verpflichtung“ gesehen.148 Kants Gedanke war: Wenn moralisches Handeln möglich sein soll, geht dies nur unter der Voraussetzung der Freiheit des Willens. Dieser sei allerdings wiederum nur denkbar in der Beschränkung durch den kategorischen Imperativ.149 Darin solle der moralische Wert jeden Handelns liegen.150 Damit schließt sich für Kant der Kreis. Menschenwürde, guter Wille und ethische Freiheit gehören für Kant zusammen. Kant sah den Menschen nicht lediglich in seinem ursprünglich biologischen Naturzustand, der es durchaus zulassen könnte, seine ihm angeborene Entschließungsfähigkeit und Freiheit ausschließlich zur Durchsetzung einseitiger individueller Interessen zu gebrauchen. Kant sah den Menschen vielmehr als ethisch-vernünftige Existenz, womit er aller-

143 144 145 146 147 148 149 150

De Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 256. Vgl. hierzu Thorsten Wroblewski, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 202. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 89. Steenblock, Philosophiegeschichte, S. 279. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 53. Vgl. hierzu Arendt, Über das Böse, S. 35. Thorsten Wroblewski, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 203. Vgl. Türcke, Werte sind Götzen, S. 256.

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dings der Sache nach bereits dem Würdebegriff einen ethisch-vernünftigen, nämlich einen vom kategorischen Imperativ geprägten Inhalt gab. Damit weist Kant den Weg zu einer dialektischen Bewertung der Freiheit, zu einer Freiheit, wie sie sein soll. Die Freiheit wird nicht allein in der anlagebedingten biologischen und natürlichen Fähigkeit gesehen, sich in Moralfragen völlig egoistisch und ethisch ungebunden zu entscheiden. Sie bekommt einen ethischen wertenden Gehalt, indem an die Freiheit ethische Anforderungen gestellt werden, wie sie sein soll, um ethisch zu sein. Die Auffassung Kants weist trotz der Befreiung von allen theologischen Begründungslasten151 eine beachtliche Nähe zur christlichen Lehre auf, die die Würde als unverzichtbare und unverfügbare Gabe Gottes,152 dessen vernünftiges Ebenbild der Mensch ist, betrachtet und ethische Freiheit als „geteilte Freiheit“153 auffasst. Dieses christliche Prinzip findet ihre biblische Bestätigung in dem Gebot der Nächstenliebe und der „goldenen Regel“, der wiederum eine gewisse Ähnlichkeit zum kategorischen Imperativ nicht abzusprechen ist. Die „goldene Regel“ lautet: „Alles, was Ihr also von anderen erwartet, das tut auch Ihnen“154 oder negativ formuliert: „Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“.155 Der christlichen Lehre wie auch der Philosophie Kants ist zuzustimmen. Die ethische Freiheit ist differenzierter als die ethisch ungebundene, d. h. nur durch Leidenschaft und Triebhaftigkeit bestimmte Freiheit zu sehen. Der entschließungsfähige Mensch ist von Natur aus jedenfalls zu beidem fähig. Er ist kraft seiner logischen wie auch seiner wertenden Vernunft zu sittlich bewerteten Entschlüssen fähig. Ethische Freiheit ist eine schon in unserem Innersten ethisch bewertete Freiheit. Sie drückt aus, was ethisch vernünftig ist, wie Freiheit richtigerweise gebraucht werden soll. Das bedingt wiederum, dass bei jeder Ausübung der eigenen ethischen Freiheit auch die Freiheit des „Nächsten“ im Blick bleiben muss und das wechselseitig. Ethische Freiheit ist bei dialektischer Wertung Freiheit in ethischer Gebundenheit, die Beschränkung der eigenen Selbstbestimmtheit und der Würde durch die Selbstbestimmtheit und der Würde des anderen und umgekehrt. Allein diese ethisch vernünftige Freiheit gibt dem hier vertretenen Würdebegriff, der die natürliche Fähigkeit hierfür bereit hält, seinen wahren Wert. Allein die Beachtung des Prinzips der ethischen Freiheit in ethischer Gebundenheit bei der Entschlussfassung gibt dem Menschen gelebte Würde. Anders als bei Kant ist diese Freiheit allerdings nicht durch ein bestimmtes ethisches Handlungsprinzip geprägt. Aus meiner Sicht besticht die ethische Freiheit 151

Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 133. Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 2, S. 136. 153 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, S. 42. 154 Die Bibel, Matthäus, 7, 12. Allerdings geht der kategorische Imperativ – anders als die „goldene Regel“ nicht von der eigenen Person aus, sondern von dem, was wesentlich zu einer jeden vernünftigen Person gehört (Pfister, Philosophie, S. 171). 155 Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 19. 152

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durch ihr moralisches Abwägungspotential, in welchem alle vernünftigen Gedanken und Gefühle sowie Werte, Gebote wie Verbote, Eigeninteresse und Fremdinteresse Gewicht haben und wechselseitig gespiegelt werden. Nicht die Durchsetzung allein der eigennützigen Interessen oder egoistischen Zielen prägt den Wert der ethisch vernünftigen Freiheit, sondern die Fähigkeit zur angemessenen, vernünftigen und fairen Berücksichtigung aller Interessen, d. h. auch der Interessen der anderen bzw. des Gemeinwohls. Nicht die letztlich getroffene Entscheidung steht dabei ethisch im Vordergrund, sondern die ehrliche ethische Abwägung selbst. All dies sollte man im Auge behalten, wenn man in unserer sog. modernen Welt von der Freiheit des Menschen spricht. In der heutigen Debatte um das, was Freiheit ist, wird nämlich immer mehr die zur Durchsetzung eigener und individueller Interessen gebrauchte Freiheit im Sinne der Philosophie Thomas Hobbes verstanden, ohne über unser eigenes ethisch veranlagtes Menschenbild und unsere philosophisch-ethischen Grundlagen zu reflektieren. Mit dieser einseitig egoistischen und individualistischen Deutung einher geht die zunehmende Beharrung auf individuelle Rechtspositionen, was mit einer zunehmenden Verrechtlichung des Zusammenlebens einhergeht, in der der Mensch immer mehr als Träger subjektiver Rechte auftritt und das ethische Verständnis für die Position des anderen zurücktritt. c) Die Idee der Menschenwürde im ethischen Spannungsverhältnis Die Idee der Menschenwürde, die mit dem Wert der ethischen Freiheit eine Einheit bildet, ist das ethische Prinzip, an dem sich unser gesellschaftsethisches Wertesystem ausrichtet. Wie gesehen, beruht dies nicht nur auf einer historischen Überlieferung, sondern auch auf einem Postulat der Vernunft, die es als logisch und sinnvoll angesehen hat, die ethische Existenz des Menschen selbst zum Maßstab der menschlichen Ethik zu machen. Ethisches Verhalten ist danach dann „gut“, wenn es der Idee der Menschenwürde, aus dem es selbst ursprünglich erwachsen ist, nicht widerspricht. Mit dieser Feststellung ist jedoch über die ethische Wertentscheidung selbst noch nichts gesagt. Was ethisch gut ist, wird aus meiner Sicht nämlich nicht durch ein „objektives“ Prinzip geprägt, auf dessen Suche sich die Philosophie seit jeher befindet156 und aus welchem sozusagen alle ethischen Handlungsanforderungen ohne weiteres für den Menschen ableitbar sein sollen, sondern nur durch die ehrliche Auflösung von ethischen Spannungsverhältnissen, welche dem Wert der Würde selbst immanent sind. Der Wert der Würde hat nämlich entsprechend seiner polardialektischen Struktur zwei Seiten. Auf der einen Seite enthält der Wert einen individuellen – moralisch berechtigenden – Anspruch für sich selbst Würde und Selbstbestimmtheit beanspruchen zu können; andererseits beinhaltet der Wert der Würde in seiner ideenhaften Form auch einen ethisch-verpflichtenden Teil, nämlich die Achtung vor der Würde des Mit156

Daiber, Frühe islamische Diskussionen über die Willensfreiheit, S. 337.

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menschen. Hegel nannte dies die Einheit von Recht und Pflicht im Moralischen, wobei er die Einheit als Idee auffasste.157 Diese Wertgebungen finden sich im polardialektischen Wert der ethischen Freiheit wieder. Die ethisch ungebundene Freiheit und die ethisch verpflichtende Freiheit stehen in einem dialektischen Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits drängt der Mensch danach sich selbst Gutes zu tun. Er sucht nach der Verwirklichung des eigenen Selbst, wozu auch die Verwirklichung der eigenen individuellen egoistischen Interessen und Bedürfnisse zählt. Auch die Freiheit der Person, zu entscheiden, was allein für sie selbst gut oder schlecht ist, gehört zur ethischen Selbstbestimmtheit. Andererseits sind die eigenen Interessen und Bedürfnisse oftmals mit den Interessen anderer oder des Gemeinwohls nicht in Einklang zu bringen. Sie können für diese sogar schädlich oder unangenehm sein. Manchmal greifen sie sogar in die Würde und Selbstbestimmtheit der anderen ein. Damit steht die individuelle Selbstverwirklichung mit der ethischen Pflicht, andere zu achten und ihnen schon gar nicht zu schaden, im Widerspruch. Deshalb kommt es im Menschen, der zugleich immer auch Teil eines Gesellschaftsganzen ist, immer wieder zu zwiespältigen Situationen, weil die persönliche Freiheit zwangsläufig in der Freiheit der anderen ihre Grenze finden muss, damit sie im Zusammenleben der Menschen insgesamt – und darin liegt ein weiteres Paradoxon – nicht gänzlich untergeht. Eine an der Menschenwürde orientierte Ethik besteht somit in nichts anderem als sich innerhalb der polardialektischen Ambivalenz von individueller Würde und fremder Würde, von Selbstachtung und Fremdachtung, von Egoismus und Altruismus, von individuellem Wohl und Gemeinwohl zu bewegen158 und diese Spannungsverhältnisse würdig aufzulösen. Ein sittlicher Mensch ist somit ein solcher, der im Rahmen seiner ethischen Freiheit den polardialektischen Wert der Menschenwürde beachtet, d. h. nicht nur die eigene Würde, sondern auch die Würde des Mitmenschen bei seiner Abwägung aller Interessen und Bedürfnisse angemessen mitberücksich157

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 155. Nach Singer, Zwischen Berufsethos und Kommerz, S. 396, geht es in der Ethik im Kern um Sozialnormen, Regeln für das menschliche Zusammenleben, Kriterien für gutes und schlechtes Handeln. Was gut und schlecht sei, könne man am ehesten daran messen, ob das Handeln die Interessen und Güter anderer achte und wahre. Meines Erachtens hängt Ethik letztlich von der Würde ab, die sich die Person selbst gibt oder anders ausgedrückt: Ob jemand ethisch handelt, ist letztlich immer eine Frage der eigenen Würde, d. h. der eigenen Wertschätzung; wie Friedrich v. Schiller schon sagte, gibt jeder den Wert sich selbst. Die eigene Wertschätzung hängt wiederum polardialektisch davon ab, welche Wertschätzung man anderen Menschen zukommen lässt. Nur derjenige, der in der Lage ist, auch fremde Interessen und Bedürfnisse angemessen zu beachten und zu wertschätzen, schätzt sich umgekehrt auch wert. Es stimmt deshalb nicht, dass das Individualwohl in einem unauflöslichen Widerspruch zum Gemeinwohl stehen soll, dass Anhänger einer individuellen Freiheitstheorie kaum akzeptieren könnten, sich an moralischen Maßstäben messen zu lassen (vgl. Singer, Zwischen Berufsethos und Kommerz, S. 399). Richtig ist vielmehr, dass für die Würde beides in dialektischer Weise zusammengehört. 158

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tigt, worin wiederum die Grundlage für eine relative Gerechtigkeit159 zu sehen ist. Sittlichkeit ist somit mit Anderen geteilte Würde, d. h. die Anerkennung des Werts der Menschenwürde an sich, der seine bipolaren Elemente synthetisch in sich aufnimmt. Wer sich unsittlich verhält, verletzt somit der Sache nach nicht nur das Selbst des anderen sondern gleichzeitig auch das eigene Selbst. Die Verletzung der eigenen wie fremden Würde ist somit mit dem Zustand der Selbstverachtung gleichzusetzen, wie dies schon bei Kant anklingt.160 In der Konkretisierung dieser Gedanken bedeutet dies: Sittlichkeit beinhaltet nicht nur die Achtung vor der Würde des anderen; sie zeigt sich auch nicht nur in der Rücksichtnahme oder der Solidarität gegenüber dem Mitmenschen. Sittlichkeit bedeutet in seiner höchsten, ja fast metaphysischen Form nicht nur dem anderen aus Nächstenliebe heraus Gutes zu tun. Sittlichkeit, deren Bezugspunkt die Würde jedes Menschen ist, beinhaltet vielmehr auch die Verpflichtung der eigenen Würde gegenüber, d. h. gemäß der ethischen Selbstbestimmtheit sich ebenfalls als ethische Existenz zu achten, zu respektieren, ethische Selbstverantwortung zu üben und ein ethisches Selbstwertgefühl zu sich selbst zu entwickeln.161 Freiheit hat sich nicht nur an den Interessen der anderen oder an einem übergeordneten Gemeinwohl zu orientieren, um ethisch zu sein. Ethische Freiheit ist insbesondere nicht nur eine gegenüber Dritten ethisch verpflichtende Freiheit. Ethische Freiheit darf nämlich nicht selbst zur Negation ethisch berechtigter Eigeninteressen führen, da dies ein unzulässiger Eingriff in den Wert der ethischen Freiheit selbst wäre. Dementsprechend stimmt es auch nicht, wenn man unter der Würde des Menschen immer nur die Würde des anderen verstehen will und als höchsten Akt der Moral die Selbstlosigkeit preist. Insofern muss es auch zur Förderung der eigenen ethischen Selbstbestimmtheit und Selbstachtung erlaubt sein, gegenüber Forderungen anderer mit Rücksicht auf die eigene freie Selbstbestimmtheit „ethisch“ begründet „nein“ sagen zu dürfen oder etwas anderes zu wollen. Die eigene Interessenwahrnehmung oder Entscheidung, die nur einem selbst nutzt, kann keinesfalls grundsätzlich als unethisch oder unmoralisch bezeichnet werden, selbst wenn sie für andere nachteilig ist. Es gilt innerhalb der Ambivalenz der ethischen Idee weder ausschließlich der Satz: Das Wohl des anderen ist alles, mein Wohl ist nichts. Noch: Das eigene Wohl ist alles, das fremde Wohl ist nichts. Vielmehr ist davon auszugehen, dass beide Seiten im Verhältnis zueinander grundsätzlich ethisch gleichberechtigt nebeneinander stehen. In der Ausgangslage ist weder die individuelle Würde und Freiheit dem Wohl der Ganzheit noch das Wohl 159 Gerechtigkeit bedeutet dabei nicht Gleichbehandlung aller Menschen, sondern nur Gleichheit des Maßstabs der Behandlung (Radbruch, Der Mensch im Recht, S. 90). 160 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 37 ff.; vgl. hierzu Arendt, Über das Böse, S. 34 f., 48. 161 Arendt, Über das Böse, S. 35 unter Bezugnahme auf Kant, der nach Arendt die Pflichten, die der Mensch sich selbst gegenüber hat, vor diejenigen, die er gegenüber anderen hat, stellte. Kant habe nicht die Sorge für den Anderen sondern die Sorge für sich selbst als Ausdruck der Selbstachtung und der menschlichen Würde in den Vordergrund gerückt.

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des Ganzen dem individuellen Wohl vorzuziehen. Dies ergibt sich bereits aus der Idee des Wertes selbst, der die ursprüngliche Gleichwertigkeit zwischen den Polen vorgibt. Eine andere Gewichtung würde auch der Doppelrolle, die der Mensch im Gesellschaftsganzen wahrnimmt, widersprechen. Diese Gleichwertigkeit ist im Übrigen auch sehr treffend im Gebot der Nächstenliebe abgebildet. So heißt es nicht etwa, liebe deinen Nächsten mehr oder weniger als dich selbst, sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Entscheidend ist und bleibt, dass man ehrlich, fair und vernünftig abwägt und sich demgemäß auch verhält. Denkt man die Bipolarität des Wertes der Menschenwürde in seiner Konsequenz zu Ende, erkennt man zudem, dass auch die auf den einzelnen Menschen bezogene Seite des Wertes wiederum zwei Seiten hat. Deutlich wird dies am Wert der Selbstbestimmtheit. So gibt es „negative“ wie „positive“ Selbstbestimmtheit: „Positive“ Selbstbestimmtheit besteht darin, dass man selbst über seine Freiheiten bestimmen kann. „Negativ“ ist die würdevolle Selbstbestimmtheit, soweit sie dem Menschen Selbst- und Eigenverantwortung abverlangt. So enthält dieser Wert nicht nur das ethische Recht auf selbstbestimmte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, sondern auch die ethische Verpflichtung zur Selbstverantwortung, die darin besteht, selbstverantwortliche Entscheidungen für sich zu treffen, sein eigenes Leben und sein eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Frage zu stellen, was ich selbst für mich tun kann, bevor ich die Gemeinschaft in Anspruch nehme. Denn wer ethische Selbstbestimmtheit für sich beansprucht, hat in der logischen Konsequenz auch die ethische Verantwortung für sich zu übernehmen. Aber auch dieser Gedanke steht nicht isoliert, sondern wird bipolar von der gleichwertigen Überlegung überlagert, wie die Gesellschaft helfen kann, wenn der Einzelne sich nicht mehr selbst helfen kann. In der Politik werden diese Zusammenhänge mit den Slogans „Fordern und Fördern“ oder „Fördern und Fordern“ umschrieben, wobei für mich aus der Logik heraus die geforderte Selbstverantwortung am Anfang der Kette zu stehen hat, da der Mensch keinesfalls ein „staatlich betreutes und bevormundetes Sozialobjekt“162 ist. So kommen staatliche Transferleistungen, die schon fast selbst wiederum einen entwürdigenden Charakter haben, erst in Betracht, wenn Selbstbestimmung und Selbstverantwortung nicht mehr uneingeschränkt funktionieren. Nur in der Dialektik und dauernden Wechselbezüglichkeit beider Pole kann die Achtung vor der eigenen Würde und derjenigen des anderen gelingen. Dabei wird sichtbar, wie die eigene Würde, die Achtung vor sich selbst auflebt, wenn man für den anderen Gutes tut. Andererseits profitiert auch die Allgemeinheit davon, wenn man ethische Selbstverantwortung übt und die Allgemeinheit nicht mit eigenen Problemen belastet. Das dialektische „Hin und Her“ ethischer Betrachtungen und Abwägungsprozesse ist nicht zu übersehen. Das ethisch Gute liegt hiernach nicht etwa in einer vorgegebenen absoluten Idee oder in göttlichen Geboten und Verboten, zumal diese letztlich ebenfalls einer individuellen Gewissensentscheidung unterzogen werden müssten. Das ethisch Gute 162

Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 16, S. 143.

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liegt auch nicht allein im Individualwohl oder allein im Gemeinwohl. Das Gute liegt vielmehr im guten ethischen Handlungsentschluss selbst, dem eine vernünftige, ethische, dialektische Abwägung zwischen den Polen von Selbst- und Fremdachtung, von Eigen- und Fremdinteresse vorausgegangen ist. Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass es auf Sollenssätze wie das Gebot der Nächstenliebe, den kategorischen Imperativ oder die goldene Regel nicht mehr ankäme. Im Gegenteil: Diese Handlungsanforderungen bieten jederzeit eine gute Erinnerungshilfe bei der ethischen Entscheidungsfindung. Für die ethische Beurteilung des Handlungsimpulses entscheidend ist letztlich, ob sich das Ergebnis der Interessenabwägung oder eines inneren Zwiegesprächs noch innerhalb einer angemessenen Bandbreite des Vertretbaren bewegt, ob es hierfür gute Gründe gab, ob man für die Entscheidung bei objektiver Betrachtung ein sachlich begründetes Verständnis haben kann oder ob man sich wegen dieser Entscheidung nur selbst verachten kann. Die Moralformel könnte lauten: Achte dein Selbst wie auch das Selbst des anderen so, dass du dich nicht selbst verachten musst. Es gibt in der Regel nicht nur eine richtige ethische Entscheidung. Ethik ist vielmehr relativ, wodurch sie allerdings nicht beliebig wird und alles möglich wäre. Das Gute kann nur durch eine konkrete Abwägung der Interessen im Einzelfall erkannt werden, wobei sich diese Abwägungen des einzelnen Individuums in seinem persönlichen Entschluss wiederfinden, während das Gesellschaftsganze ihr angemessenes und damit richtiges Ergebnis in einem vernünftigen gesellschaftsethischen Dialog herausfinden muss. Dieses Anliegen ist relativ einfach zu lösen, wenn der Wert der eigenen oder fremden Würde im Konflikt zu untergeordneten Werten steht. Die Abwägung gestaltet sich allerdings ungleich schwieriger, wenn sich die konkreten Güter der Menschenwürde gleichwertig gegenüberstehen. In diesen Fällen kann es bei der Abwägung nur darauf ankommen, wie dem Wert der Menschenwürde in seinen Zielsetzungen am besten Rechnung getragen werden kann. Bei dieser Abwägung spielt auch die Verwirklichung des „Wertes an sich“, d. h. des Wertes losgelöst von allen individuellen und kollektiven Interessen eine Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass der Wert der Menschenwürde in seiner höchsten Abstraktion einen absoluten Charakter bekäme. Er bleibt seinem Wesen nach relativ. Am anschaulichsten wird dies bei Notwehr- und Nothilfesituationen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Ethik ist in erster Linie an den Werten der Menschenwürde und menschlichen Freiheit im richtig verstandenen, nämlich polardialektischem Sinne festzumachen. Der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde des Einzelnen und dem sich daraus ergebenden Problem der wechselseitigen Pflicht zur Achtung der Menschenwürde des anderen in einer Gemeinschaft bildet die gesamte Problematik der Ethik ab. Es verwundert deshalb nicht, wenn sich die Ethik und die damit zusammenhängenden Gerechtigkeitsfragen vornehmlich mit der angemessenen Austarierung des Einzelinteresses mit dem Einzelinteresse des anderen bzw. dem Interesse einer Ganzheit von Personen auseinandersetzt, nach Sittengeset-

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zen, Geboten der Fairness oder den normativen Grundlagen einer anständigen Gesellschaft163 sucht und darauf vertraut, dass – wie es Rawls ausdrückte – alle Teilhaber mit dem gleichen moralischen Vermögen, ausgestattet sind.164 Oder – wenn man nicht so viel Vertrauen in die angelegte Moral des Menschen haben sollte – hofft, dass der Mensch schon aus wohlverstandenem Eigennutz heraus die Polardialektik des Wertes der Menschenwürde angemessen auflöst. Nur in der angemessenen Auflösung des Interessengegensatzes zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Gemeinwohl liegt die Idee des ethisch Guten,165 eine Idee, die schon in der Philosophie Platons zur maßgeblichen Leitvorstellung allen individuellen und gesellschaftlichen Handelns erhoben wurde. d) Reale Menschenrechte und deren Wert Von der Würde und Freiheit des Menschen sind die Menschenrechte, zu deren Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit sich das deutsche Volk in Artikel 1 Abs. 2 GG bekannt hat, gedanklich zu unterschieden. Unter Menschenrechten versteht man die angeborenen Rechte des Menschen, die dieser schon deshalb hat, weil er Mensch ist.166 Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass Menschenrechte bereits in einem Naturzustand existieren und der staatlichen Gewährung vorausgehen.167 Dem Charakter der Menschenrechte als natürliche Rechte entspricht es, wenn es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 unter Artikel 1 heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.

Bei den Menschenrechten handelt es sich entgegen einer weit verbreiteten Meinung allerdings nicht um moralische Rechte,168 die sich die Rechtsgenossen gegenseitig schuldeten und unverlierbar verdienten. Moralische Entscheidungen basieren 163

Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S 131. Vgl. Clemens Kauffmann, in: Spaemann/Schwiedler (Hrsg.), Ethik, S. 303. 165 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 129; Hegel nennt das Gute den absoluten Endzweck der Welt. 166 Höffe, Gerechtigkeit, S. 70. 167 Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 111. 168 Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 111; Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 27; es gibt allerdings nicht nur die Auffassung, dass Menschenrechte moralische Ansprüche seien. Daneben gibt es auch politische Konzeptionen. Die Menschenrechte werden aber auch mit der Vernunft begründet, wie dies Kant tat. Dessen Grundthese lautete, dass jeder, der sich in vernünftiger Freiheit selbst führe, gar nicht anders könne, als eben diese vernünftige Freiheit auch in jedem anderen zu respektieren, also jeden anderen als gleichermaßen berechtigt anzuerkennen, der über dieselbe Fähigkeit vernünftiger freier Selbstführung verfüge (Menke/ Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 56). 164

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auf subjektiven und relativen Wertungen und sind wandelbar. Würde man den Ursprung der Menschenrechte in moralischen Überzeugungen, einer geschuldeten Moral, der Gerechtigkeit oder gar Gerechtigkeitsbedürfnissen sehen, wäre es ein Leichtes die Menschenrechte wiederum aus subjektiv behaupteten Gerechtigkeitsgründen abzuschaffen oder einzuschränken. Diese Gefahr kann nicht geleugnet werden. Das beste Beispiel hierfür ist und bleibt die Menschenrechte verachtende Ideologie des Dritten Reiches. So galt es im Dritten Reich bis 1945 als Ausdruck höchster Gerechtigkeit, den Ariern zu nutzen und den Nichtariern zu schaden.169 Zur Begründung der Menschenrechte sollte man sich deshalb von dem Gedanken verabschieden, dass der Mensch diese grundlegenden Rechte erst erwerbe, wenn er in einem ethischen Kontext gegenüber den Mitmenschen stehe.170 Es empfiehlt sich aber auch nicht, die Menschenrechte als Ausfluss einer absoluten (metaphysischen), unfehlbaren und nicht wandelbaren moralischen Kraft anzusehen. Menschenrechte existieren sicherlich auch unabhängig davon, ob jemand an Gott glaubt oder in einer ethischen Verpflichtung zu ihm steht. In einem solchen Fall läge es nämlich wiederum nahe, der absoluten Kraft, womit nur eine göttliche Kraft gemeint sein könnte, den moralischen Vorrang vor den Menschenrechten einzuräumen, wie dies in der islamischen Welt der Fall ist. In der Kairoer Menschenrechtserklärung werden die Menschenrechte, wie wir sie verstehen, deshalb konsequenterweise unter den Vorbehalt der Scharia gestellt.171 Aus meiner Sicht handelt es sich bei dem Menschenrecht um ein natürliches Recht, welches jedem Menschen zusteht. Unter „Natürlich“ ist dabei das gemeint, was aus sich selbst heraus wächst und wirkt.172 Bei wertungsfreiem Hinsehen erkennt man, dass der Ursprung des Menschenrechts in der biologischen und realen Existenz des Menschen als Lebewesen besonderer Art selbst liegt. Es ist nämlich unbestreitbar, dass jeder Mensch eine natürliche und reale Existenz ist und die angeborene Anlage zur Entschließungsfähigkeit hat. Diese natürliche Anlage repräsentiert sein Existieren als Person.173 Mit diesem natürlichen personhaften Existieren besteht untrennbar das Menschenrecht. Es beinhaltet das für jeden individuellen Menschen bestehende „Abwehrschild“ gegenüber dem Belieben oder der Willkür des anderen und beschreibt die natürliche Zuständigkeit des Menschen für die eigenen Entscheidungen bezüglich des eigenen Selbst. Im natürlichen Recht des Menschen auf Personsein vereinigt sich die eigene, von Geburt an bestehende Entscheidungszuständigkeit für sich selbst sowie die gleichzeitige Berechtigung, andere von dieser Zuständigkeit auszuschließen. Unter einem individuellen Menschenrecht verstehe ich deshalb die natürliche Zustän-

169 170 171 172 173

Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 83. Siehe auch Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 96. Siehe Kapitel VI. 1. b) bb). Maier, Rheinischer Merkur vom 10. 12. 2009, S. 24. Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 5.

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digkeit für das eigene personhafte Existieren einschließlich der Zuständigkeit, die Einwirkungen durch andere auf dieses eigene Existieren auszuschließen.174 Da diese individuelle Zuständigkeit allen Menschen zusteht, bedeutet dies zugleich, dass sich derjenige unrechtmäßig verhält, der das natürliche personhafte Existieren des anderen verletzt. Rechtmäßig verhält sich dagegen derjenige, der die Zuständigkeit des anderen beachtet.175 Aufgelöst wird dieses rechtliche Spannungsverhältnis unter Menschen durch den Abschluss von Verträgen, nach deren Inhalt beide Parteien nach einem Aushandelungsprozess freiwillig und wechselseitig auf die ihnen grundsätzlich zustehende Entscheidungszuständigkeiten verzichten und im Gegenzug neue Entscheidungszuständigkeiten hinzugewinnen. Das Menschenrecht existiert nach der hier vertretenen Auffassung real, d. h. es existiert unabhängig vom Bewusstsein. Das bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, ob das Menschenrecht – von wem auch immer – gedacht wird oder Gegenstand einer Menschenrechtsdeklaration oder staatlichen Verfassung ist. Das Menschenrecht ist auch nicht an eine bestimmte Staatsangehörigkeit geknüpft.176 Das Menschenrecht besteht zudem unabhängig davon, ob es Gegenstand eines Aushandlungsprozesses oder gar eines wechselseitigen Verzichts ist.177 Es ist durch menschliches Handeln nicht änderbar. Als reales und natürliches Recht hat das Menschenrecht eine uneingeschränkte, mit der personhaften Existenz des Menschen zusammenhängende universelle Geltung. Sich gegenüber anderen Menschen rechtmäßig zu verhalten, ist die Bedingung für das personhafte Zusammenleben von Menschen.178 Die Menschenrechte sind somit die Grundlage des Rechts überhaupt. Aus dem Menschenrecht jedes Einzelnen entwickelt sich das positive, d. h. das staatlich gesetzte Recht. Dies hat wiederum zur Folge, dass das staatliche Recht, wenn es Recht sein will, nicht im Widerspruch zu dem Menschenrecht des Einzelnen stehen darf. Es empfiehlt sich deshalb, das Recht nicht als die Gesamtheit der staatlich garantierten Normen, die menschliches Verhalten regeln, und als den auf das objektive Recht gestützten Rechtsanspruch des Einzelnen179 aufzufassen, sondern in Anlehnung an Ernst Wolf als personhafte Ordnungsverhältnisse zwischen Menschen zu definieren.180 Damit wird deutlich, dass Recht als Ordnungssystem einerseits bei den natürlichen Rechten des Menschen ansetzt und andererseits nicht nur in 174

Diese Auffassung vom natürlichen Recht hat ihre Grundlage in der realen Rechtslehre von Ernst Wolf, der allerdings das Menschenrecht selbst nicht definiert (vgl. Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 9 ff.). Zur Realen Rechtslehre vgl. auch Hammen, Die reale Rechtslehre Ernst Wolfs, S. 231 ff. 175 Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 8 ff., S. 107 f. 176 Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 111. 177 So aber Höffe, Gerechtigkeit, S. 74, der von einem transzendentalen Tausch spricht. 178 Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 9. 179 Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 11. 180 Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 1 ff.

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der einseitigen Durchsetzung des einzelnen natürlichen Menschenrechts besteht, sondern nur wirksam ist, wenn das Recht allen Menschen die Möglichkeit eröffnet als Person zu existieren. Diese Ausführungen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass real existierende angeborene Menschenrechte nicht nur die prägenden Elemente des Rechts schlechthin sind. Sie sind vielmehr auch Bestandteil gesellschaftsethischer Wertesysteme. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Menschen ein intellektuelles oder ein emotionales Bedürfnis haben, gemäß ihrem Menschenrecht behandelt zu werden. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Menschenrechte ausweislich der beiden Konventionen der Vereinten Nationen als Leitideen der Weltgesellschaft oder in Artikel 1 Absatz 2 des GG als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit bezeichnet werden. Das bedeutet, dass sich das reale Menschenrecht zugleich als Wert des Einzelnen und des Gesellschaftsganzen im Rahmen des gedanklich und emotional geprägten, lediglich im Bewusstsein der Menschen existierenden ethischen Wertesystems als Wert wieder findet. Voraussetzung ist allerdings, dass das reale Menschenrecht als Gut für die Menschen einen Wert hat. Das Menschenrecht hat somit eine doppelte Ausprägung. Zum einen ist ein unveränderbares real existierendes Recht im Sinne einer subjektiven Rechtsposition, die jeder Mensch in seinem Naturzustand hat. Zum anderen ist das Menschenrecht als Wert und Idee auch im ethischen Wertesystem präsent und entspricht insoweit dem Wert des personhaften Existierens des Menschen, der zum Wert der Menschenwürde hinführt. Der Sache nach wird durch den (relativen) Wert des Menschenrechts sowohl das personhafte Existieren als auch die ethische Existenz des Menschen im ethischen Bewusstsein abgebildet. Auf diese Weise wird das, was Recht ist, auch Bestandteil der Ethik und konkretisiert den Wert der Menschenwürde.181 Umgekehrt wird einmal mehr klar, dass jedes gesellschaftsethische Wertesystem, welches mit dem, was Recht ist, übereinstimmen will, den Wert des Menschenrechts und damit den Wert der Würde des Menschen als obersten Wert in ihrem Wertesystem zu installieren hat. e) Das ethische Prinzip der Toleranz – eine konkrete Form der Menschenwürde und kein Prinzip der Wertebeliebigkeit Aus der generellen Geltung und Unantastbarkeit der personhaften Existenz und Würde des Menschen lassen sich im Grundgesetz u. a. das Persönlichkeitsrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Gleichheit aller Menschen sowie die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der sonstigen weltanschaulichen Bekenntnisse als Werte eines menschenwürdigen Daseins besonderer Art ableiten. Alle diese Werte, die ebenfalls eine dialektische Grundstruktur aufweisen, ge181 Siehe auch Schulte, Politikkonzepte, S. 27, der allerdings nur den ethischen Charakter der Menschenrechte beschreibt.

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hören bei einer ganzheitlichen Betrachtung zur Würde eines Menschen. Ebenso folgt aus der Würde und Freiheit des Menschen der Wert der Toleranz. Hierbei handelt es sich um ein moralisches Prinzip, welches zudem mit der pluralistischen Gesellschaftsform der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung gebracht wird. Höffe hat insoweit formuliert: „Wer den Pluralismus frei anerkennt, besitzt Toleranz.“182 Unter Toleranz wird teilweise die Forderung verstanden, die religiöse oder politische, kulturelle und soziale Anschauung anderer wohlwollend zu verstehen und zu dulden,183 auch wenn man sie nicht, ja gerade weil man sie nicht teile; zur Toleranz gehöre es auch, die friedliche Äußerung anderer Meinungen als Grundlage jeglicher geistigen Auseinandersetzung und jedes Dialogs nicht zu verhindern.184 Dazu gehöre, dass man andere Meinungen ohne Groll ertrage, auch wenn diese bei einem selbst Unverständnis hervorrufen sollten.185 Andere wiederum meinen, dass Toleranz die bewusste Anerkennung und Achtung anderer Meinungen und nicht nur deren Duldung voraussetze. Toleranz sei die Anerkennung der Meinungen des anderen als gleichwertig.186 Dieser Auffassung von Toleranz liegt ein Wertrelativismus zugrunde, der die Toleranz als oberstes Prinzip für sich ständig verständigender relativer und gleichwertiger Positionen auserkoren hat.187 Unbedingte moralische Geltungsansprüche sind danach nicht denkbar.188 Ich denke, dass die Diskussion einer differenzierteren Betrachtung bedarf. So liegt es auf der Hand und bedarf auch keiner weiteren Begründung, dass man sicher nicht gehalten ist, alle Meinungen oder Gesinnungen anzuerkennen, zu dulden oder gar zu achten, die eindeutig menschenverachtend sind, d. h. dem Wert der Menschenwürde widersprechen. So muss man z. B. Rassismus oder Kinderpornografie sicherlich nicht ertragen. Insoweit würde sich der Wert der Toleranz gegen sich selbst richten und zur Selbstverachtung führen. Es dürfte aber auch zu viel verlangt sein, Auffassungen oder Verhaltensweisen anzuerkennen, welche man für grob unsinnig oder falsch hält. Insoweit dürfte für ein tolerantes Verhalten ein wohlwollendes Verständnis für die relative Position und eine bewusste Duldung der Meinung des anderen ausreichend sein. Toleranz verbietet nämlich nicht selbst einen eigenen Standpunkt zu haben und diesen als richtig oder vorzugswürdiger zu vertreten. Dies entspricht nämlich nur der eigenen ethischen Selbstbestimmtheit. Müsste man dagegen die Auffassung des anderen – um tolerant zu sein – mindestens als gleichwertig anerkennen, würde dies letztlich zur Aufgabe des eigenen als richtig vertretenen Standpunktes führen, was den polardialektischen 182 183 184 185 186 187 188

Höffe, Gerechtigkeit, S. 94. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 50. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 50. Karl Kardinal Lehmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 05. 2009, S. 10. Vgl. Krämer, Der Islam und der Westen, S. 136. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, S. 95. Spaemann, Was ist philosophische Ethik, S. 15.

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Wert der Toleranz letztlich aushöhlen und zu einer leeren Hülse machen würde.189 Zudem würde damit nicht die Toleranz des anderen gefordert werden, seinem Gegenüber die eigene ablehnende Meinung zu lassen. Wenn alles im Kern gleichwertig und damit beliebig wäre, bräuchte man im Übrigen auch keine Toleranz mehr. Was sollte dann noch toleriert werden? Ethische Toleranz setzt deshalb nicht notwendig die Anerkennung einer anderen Meinung als gleichwertig voraus, auch wenn sich Toleranz selbstverständlich in dieser Form äußern kann. Toleranz in der ihr eigenen ethischen Bandbreite ist vielmehr bereits dann gegeben, wenn man Verhaltensweisen oder Meinungen erträgt und hierfür wohlwollend Verständnis zeigt, obwohl man sie gerade nicht teilt oder als gleichwertig anerkennt, sondern sie für schlechter hält. Wer sich so verhält, kann wohl keinesfalls als intolerant bezeichnet werden, zumal eine duldende Haltung auch die Unterlassung jeglicher Einflussnahme impliziert.190 Von dem Wert der ethischen Toleranz, der sich in erster Linie auf die wohlwollende Duldung von Meinungsäußerungen, Lebensstilen, Brauchtümern, Verhaltensweisen, Weltanschauungen oder Religionszugehörigkeiten bezieht, ist der Achtungsanspruch gegenüber einer Person als solcher, der in erster Linie aus dem Wert deren Menschenwürde folgt und jedem Menschen „ohne wenn und aber“ zukommt, weil er Mensch ist, zu unterscheiden. Jedem Menschen, egal welche Meinung er vertritt, bleibt selbstverständlich neben dem Anspruch auf Toleranz der moralische Achtungsanspruch, den er generell als Mensch verdient, erhalten, selbst wenn seine Gesinnung oder sein Verhalten selbst nicht mehr tolerabel wäre. Die Prinzipien der Toleranz und der Menschenwürde sind grundsätzlich voneinander zu trennen. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass der Wert der Toleranz die Würde und ethischen Freiheit des Menschen voraussetzt. Der Wert der Toleranz ist ein konkretes Prinzip der Menschenwürde. Toleranz ist ein der Menschenwürde dienender Wert besonderer Art. Der Wert der Würde durchfließt somit auch den Wert der Toleranz, weshalb es unter diesem Gesichtspunkt auch nur schlüssig ist, zu sagen, dass es zum Prinzip der Toleranz gehört, die Person und Würde des anderen als solche trotz ihrer Andersartigkeit, ihrer Andersheit und ihrer anderen Anschauung anzuerkennen, zu achten und zu respektieren. In diese Richtung geht es, wenn Höffe von aktiver Toleranz spricht, die über die passive Toleranz, die im Gelten- und Gewähren189

Karl Kardinal Lehmann hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. 5. 2009, S. 10 in diesem Sinne ausgeführt: „Liberal könnte ich mich aber nie heißen, dass ich deswegen keinen eigenen Standort einnehmen darf, dass die Frage nach der Wahrheit ausgeklammert wird und damit eben im Kern alles gleichgültig ist und wird. Diese Liberalität fürchte ich eher, denn sie hat schon viel zugelassen. Eine leere, hohle Toleranz leistet gerade in Konfliktsituationen keinen wirklichen Ausgleich.“ 190 Nach Rolf Stoecker, in: Jordan/Nimtz (Hrsg.), Lexikon Philosophie, unter Toleranz, wird in der heutigen moralphilosophischen Diskussion Toleranz im allgemeinen durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „Wenn eine Person P X toleriert, dann hat (1) P etwas an X auszusetzen (Ablehnungsbedingung) (2) wäre P in der Lage, Einfluss auf X zu nehmen (Machtbedingung), (3) unterlässt P diese Einflussnahme (Akzeptanzbedingung)“.

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lassen fremder Eigenarten bestehe, weit hinausgehen soll. Nach Höffe bejaht die aktive Toleranz aus freien Stücken des anderen Lebensrecht, dessen Freiheit und Entfaltungswillen.191 Aus den Umständen, dass der Wert der Toleranz aus dem Wert der Menschenwürde und nicht umgekehrt der Wert der Menschenwürde aus dem Wert der Toleranz folgt, und der Wert der Toleranz sich immer am Wert der Menschenwürde messen lassen muss, kann es auch keinen ethische Anspruch auf eine absolute unbeschränkte Toleranz geben.192 Genauso wenig ist das Wertesystem der Bundesrepublik ein System der Toleranz im Sinne eines Systems sich verständigender gleichwertiger relativer Positionen, das alles zulässt und jeder neuen Entwicklung offen stehen muss,193 ohne an einen übergeordneten Wert gebunden zu sein. Derartiges verbirgt sich auch nicht hinter unserer Toleranzkultur oder einem Pluralismus, dem sich unsere Gesellschaft verpflichtet fühlt. Richtig ist vielmehr, dass in unserer gesellschaftlichen Einheit trotz ihrer kulturellen Vielfalt und ihres Kulturpluralismus eine klare, auch durch die Verfassung vorgegebene Wertorientierung besteht, die in der kompromisslosen Beachtung der Menschenwürde und ethischen Freiheit besteht. Dies ist auch konsequent. Würde man nicht die ethische Freiheit, die Würde und das Recht auf personhaftes Existieren als Basis unseres Wertesystems voraussetzen, gäbe es nämlich erst gar keine Toleranzkultur. Toleranz gegenüber unfriedlichen und menschenverachtend Handelnden würde vielmehr zur Selbstzerstörung des Wertes der Toleranz führen. Die Basiswerte der Würde und der ethischen Freiheit sind selbst in einer pluralistischen Gesellschaft nicht disponibel. Streng genommen haben wir deshalb kein pluralistisches, sondern ein monopluralistisches Gesellschaftssystem.194 Dem entspricht es, wenn Böckenförde darauf verweist, dass nur auf der Basis der Menschenrechte eine mental verinnerlichte, bewusste Toleranzkultur als gemeinsam akzeptierte Form des Zusammenlebens möglich sei.195 Schließlich ergibt sich aus der Polardialektik des Wertes der Toleranz selbst, dass der Wert der Toleranz nicht nur einen ethisch berechtigenden, sondern auch einen verpflichtenden Teil enthält. Derjenige, der Toleranz bezüglich seiner Anschauungen für sich einfordert, ist auch zur Toleranz dem anderen gegenüber verpflichtet. Oder dialektisch umgekehrt: Derjenige, der Toleranz gibt, kann auch Toleranz erwarten. Denn was wäre der Wert der Toleranz wirklich wert, wenn jemand Toleranz nur für sein Verhalten einfordern dürfte und umgekehrt die Selbstbestimmtheit anderer nicht zu akzeptieren bräuchte, d. h. nicht tolerant sein müsste. Man kann hiernach festhalten, dass Toleranz nicht aus dem Wert einer einseitigen Freiheit folgt, alles ohne ethische Gebundenheit tun zu dürfen, verbunden mit dem 191

Höffe, Gerechtigkeit, S. 94. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 50. 193 Vgl. hierzu Ratzinger, Glaube, Gerechtigkeit, Toleranz, S. 95. 194 Siehe unter Kapitel VI. 1. b) cc) (4). 195 Böckenförde, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 6. 2003, S. 8. Höffe (Gerechtigkeit, S. 96) meint, dass man den radikalen Gegnern der Demokratie Widerstand leisten müsse. 192

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Anspruch an den anderen, die willkürliche Ausübung der eigenen Freiheit zu gestatten bzw. diese zu tolerieren. Das moralische Prinzip der Toleranz beinhaltet mehr. f) Die Basiswerte der Würde und ethischen Freiheit des Menschen als Maßstab gesellschaftsethischer Veränderungsprozesse Das Wertesystem, in der die Werte und die Wertentscheidungen einer Gesellschaft einschließlich der aus den Werten abgeleiteten Normen eingelagert sind, ist nicht starr, sondern ständigen Änderungsprozessen unterzogen. Die Möglichkeit derartiger Änderungsprozesse ist bereits im Gesellschaftsvertrag angelegt und entspricht dem Prinzip, dass eine Gesellschaft selbstverständlich die Freiheit hat, Wertvorstellungen in ethischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht den jeweiligen Entwicklungen und Bedürfnissen anzupassen, wenn es der im gesellschaftlichen Konsens angelegten Werteverwirklichung und somit wiederum dem Gesellschaftszweck dient. Es ist deshalb auch nicht ungewöhnlich, dass sich Werte oder Wertentscheidungen von Gesellschaften wandeln, weil sie andere oder neue für besser halten. Eine solche Einstellung entspricht nicht nur dem Menschen mit seiner Anlage zur ethischen Person, sondern auch dem Wertesystem des Gesellschaftsganzen, welches nach Sittlichkeit und Gerechtigkeit strebt und deshalb immerfort bemüht ist, das Bessere vom Schlechteren und letztlich das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.196 Man muss sich allerdings immer wieder vergegenwärtigen: Würde das aufgrund des Gesellschaftsvertrages zweckhaft angestrebte Wertesystem in seinem Wesen und seiner Struktur verändert, d. h. die wesentlichen Bestandteile des Wertesystems geändert oder aufgeben, würde man die Identität des Gesellschaftsganzen beenden und zugleich eine neue begründen. Änderungen im Wertesystem haben deshalb vor allem dort ihre Grenzen, wo die das Wertesystem prägenden und umklammernden Voraussetzungs- und Basiswerte der Menschenwürde und ethischen Freiheit in Frage gestellt würden. Dies wäre im Wertesystem der Bundesrepublik z. B. dann der Fall, wenn man die Todesstrafe oder die Berechtigung, andere Menschen aus Gründen der Ehrverletzung töten zu dürfen, einführen wollte, selbst wenn dies von den Bürgern der Gesellschaft überwiegend gefordert würde. All dies würde nämlich dem obersten und alles umfassenden Wert des Wertesystems, der menschlichen Würde, widersprechen, dessen Unantastbarkeit in Artikel 79 Abs. 3 unseres Grundgesetzes konsequenterweise eine sog. Ewigkeitsgarantie eingeräumt wurde. Danach wäre eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche der in Artikel 1 GG niedergelegte Grundsatz nachhaltig berührt würde, unzulässig.197 196

Walter Schweidler, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik, S. 132. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, dass der oberste Wert der Menschenwürde selbst ein relativer und polardialektischer Wert ist, der immer selbst unter der Kontrolle der Unantastbarkeit der Menschenwürde des anderen steht. Aus meiner Sicht folgt aus der Beurteilung des Wertes als oberster Wert noch lange nicht, dass er keiner inneren Beschränkung unterliegen könnte. Einer solchen inneren Beschränkung bedarf es, wenn Würde gegen Würde steht und die Berufung auf den Wert der Menschenwürde die Negation die Menschenwürde des 197

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Die Veränderung des Wertesystems kann somit nur eine systemimmanente sein, indem die im Wertesystem bereits angelegten Prinzipien, d. h. vor allem die Basiswerte im Rahmen eines immer währenden gesellschaftlichen Prozesses einer Verwirklichung zugeführt werden. Dies ist auch notwendig, weil die Fragen nach der wahren Menschenwürde, der wahren Gleichberechtigung sowie der wahren Toleranz im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder neu gestellt werden und es oftmals gute und vernünftige Gründe gibt, vorherrschende und traditionelle Zustände nicht weiter zu perpetuieren, weil sie diesen Grundsätzen widersprechen. Ein derartiges Spannungsverhältnis hat die Gesellschaft der Bundesrepublik vor allem bezüglich der Würde und Gleichberechtigung der Frau im Verhältnis zum Mann erlebt, der noch vor dem Gleichberechtigungsgesetz vom 18. 06. 1957 als natürlicher Träger der Familienautorität galt. Dieses Bild des Mannes wurde sogar im Gleichberechtigungsgesetz vom 18. 06. 1957 nicht vollständig aufgehoben. So bedurfte es einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, welches Teile des Gleichberechtigungsgesetzes, wonach noch dem Vater die Vertretung der Kinder sowie eine letzte Entscheidungsbefugnis in Kindes Angelegenheiten zugesprochen worden war, für nichtig erklären musste, um die angestrebte Gleichheit im Ergebnis zu erzielen. Allein dies zeigt, dass in den sechziger Jahren in Deutschland die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau noch am Anfang stand und auch jetzt im Wertesystem der Bundesrepublik Aushandlungsprozesse zur vollständigen Emanzipation und gesellschaftlichen Gleichstellung der Frau immer noch stattfinden. Auch dieser Prozess ist Teil einer auf wechselseitigem Respekt vor der Würde des anderen beruhenden gesellschaftlichen Konsensfindung. In dem Streben nach einem sittlich guten gesellschaftlichen Wertesystem orientiert man sich selbstverständlich an Idealvorstellungen, die die Vernunft oder der Gerechtigkeitssinn bzw. das Gewissen vorzugeben scheinen. Man erkennt jedoch bald, dass selbst diese ethische Idealvorstellung von einer bipolaren Ambivalenz geprägt ist, weshalb eine starre ideale Wertordnung mit festen Werthierarchien, die immer und ausnahmslos zu richtigen und sittlich guten Ergebnissen und Entscheidungen führen würden, einfach nicht herstellbar ist.

anderen zur Folge hätte. Es ist deshalb keineswegs abwegig, wenn es unter deutschen Juristen zunehmend Stimmen gibt, die für eine innere Relativierung dieses „absolut“ gesetzten Wertes eintreten, also die Menschenwürde des Einzelnen in bestimmten Ausnahmefällen für antastbar halten, wenn auf der anderen Seite die Menschenwürde des anderen durch eine rechtswidrige Handlung bedroht ist. So wird z. B. im Fall der Notwehr oder Nothilfe immer die an sich unantastbare Würde des Angreifers antastbar. Dementsprechend bedarf auch die Diskussion um die Androhung von Folter zur Freipressung von unmittelbar bedrohten Geiseln (sog. Rettungsfolter) einer ethischen Relativierung. Warum soll die Menschenwürde der Geiseln weniger Wert haben als die Menschenwürde des potentiellen Mörders? Warum soll hier keine Nothilfe möglich sein? Würde der Staat, der das zuließe, tatsächlich die Basis seiner legitimen Existenz gefährden? (vgl. hierzu Hufen, Staatsrecht II, § 10, Rn. 35, S. 152).

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Lediglich eins ist bei aller Überprüfung auch der Idealvorstellung immer wieder feststellbar: Nur ein an der Menschenwürde und ethischen Freiheit als oberste Werte orientiertes Wertesystem entspricht einem am Menschen orientierten philosophischen Wertesystem. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die genannten Basiswerte einer gerechten gesellschaftlichen Wertordnung bereits die teleologisch-dialektische Auflösung des bipolaren Spannungsverhältnisses von Individualwohl und Gemeinwohl in sich tragen. Überdies davon darf nie vergessen werden: Nur ein Wertesystem, welches sich in seinem historischen Prozess an der ethischen Existenz des Menschen orientiert, entspricht dem real existierenden und nicht änderbaren Menschenrecht, das die personhafte Existenz jedes einzelnen Menschen in den Vordergrund stellt. Das Menschenrecht besteht zwar unabhängig von allen ethischen Wertvorstellungen und ist auch ethisch nicht beeinflussbar. Umgekehrt ist das Menschenrecht als subjektives Recht aber selbstverständlich stets der Maßstab der Moral und der gesellschaftsethischen Wertordnung schlechthin. Aus meiner Sicht hat sich die Ethik jedes Zusammenlebens an dem Menschenrecht jedes Einzelnen zu orientieren, da Moral ansonsten in der Gefahr stünde, gegen das natürliche Recht jedes Menschen zu stehen. Nur wenn dies beachtet wird, ist auch gewährleistet, dass das staatliche (positive) Recht, welches sich aus den ethischen Änderungsbedürfnissen der Gesellschaft entwickelt, wiederum mit den Menschenrechten, d. h. mit dem, was im allgemeinen Sinne Recht ist, übereinstimmt. Nur dann schließt sich der Kreis von Menschenrecht (natürlichem Recht), gesellschaftsethischem Wertesystem und staatlichem (hergestelltem) Recht. g) Identität von Wertesystem und Gesellschaftskultur Das gesellschaftsethische Wertesystem ist nach allgemeiner Meinung ein Kulturgut. Unter der Kultur im allgemeinen Sinne wird nämlich all das verstanden, was von Menschen in Auseinandersetzung mit der Umwelt durch ihr Handeln hervorgebracht wurde. Die Kultur beschreibt den vom Mensch geschaffenen Lebensraum.198 Zur Kultur zählen unter anderem die Sprache, die Religion, Glaubensformen, die Ethik, Institutionen wie Familie und Staat, Technik, Musik, Philosophie, Wissenschaft, Sitten, Traditionen, aber auch die Lebensformen und Wertordnungen. Auch der Prozess des Hervorbringens der verschiedenen Kulturinhalte und Modelle (Normensystem und Zielvorstellungen) und entsprechender individueller und gesellschaftlicher Lebensund Handlungsformen gehören zur Kultur.199 Kultur ist kurz gesagt all das, was nicht natürlichen Ursprungs ist. Von der Kultur im allgemeinen Sinne, die alle denkbaren Kulturinhalte und Kulturgüter umfasst, sind – was nicht immer hinreichend geschieht – begrifflich besondere Arten von Kulturen, z. B. die individuelle Kultur jedes Menschen, die nationale 198

Höffe, Lexikon der Ethik, unter Kultur. Vgl. zu den verschiedenen Kulturbegriffen im Einzelnen Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 352 ff. 199

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Kultur, Gruppenkulturen und die Kultur des Gesellschaftsganzen zu unterscheiden, da jede Einheit ihre eigene Kultur bedingt. Das zeigt sich schon daran, dass die nationale Kultur der Deutschen sich mit der Kultur anderer Nationen, wie die der Italiener, der Türken und Franzosen, nicht deckt. Die zu bestimmten Zeiten in den jeweils abgrenzbaren Regionen vorherrschenden nationalen Kulturen unterscheiden sich nicht nur in der Sprache, sondern auch in den Lebensformen, Traditionen, Gesetzen, teilweise sogar in den Wertordnungen. Die nationale Kultur ist umfassend und komplex. So enthält die deutsche Kultur alle materiellen, intellektuellen und emotionalen Faktoren, die das Wesen unserer Nation ausmachen. Der Sinn und Zweck der Kultur einer Nation kann es nämlich nur sein, die Kulturbestandteile, die die Nation prägen und für diese von Bedeutung sind, zur Kultur der Nation zu zählen. Hierzu zählen die Kulturgüter, die sich Mitglieder eines Volkes in ihrer Gesamtheit historisch erworben haben.200 Als solche ist die deutsche Kultur Teil der europäischen Kultur. In begrifflicher Abgrenzung hierzu kann es sich bei der Kultur der Gesellschaft – wie sie hier verstanden wird – nur um die Kultur handeln, die die Gesellschaft als Ganzes ausmacht und prägt. Die Gesellschaft als Ganzes ist mehr bzw. etwas anderes als die bloße Zusammenfassung von Menschen. Dies folgt daraus, dass das Ganze stets ein besonderes Zusammenwirken beinhaltet, insbesondere durch eine besondere Zweckbestimmung geprägt ist. Auf die Kultur übertragen bedeutet dies: Die Kulturen der einzelnen Mitglieder und Gruppen der Gesellschaft machen in ihrer Gesamtheit und Summe nicht die Kultur der Gesellschaft als Ganzem aus. Diese Kulturgüter, die für die Einzelnen Bedeutung haben, werden nur dann zur Kultur der Gesellschaft erhoben, wenn dies dem Zweck des Gesellschaftsvertrages, d. h. der gemeinsam vereinbarten Zwecksetzung der Gesellschafter dient und entspricht. Alles, was mit der Verwirklichung des die Gesellschaft prägenden Gesellschaftszweckes, insbesondere der Werteverwirklichung im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zusammen hängt, stellt somit die Kultur des Gesellschaftsganzen dar. Die Kultur der Gesellschaft ist das Wertesystem selbst. Hierzu gehören auch zwangsläufig die Bedingungen seiner Werteverwirklichung, die auch als das prozesshafte Hervorbringen des Wertesystems bezeichnet werden kann. Dieses Hervorbringen besteht nicht nur in der historischen und philosophischen Entwicklung des Wertesystems selbst, sondern auch in der Ausbildung und in dem Gebrauch einer einheitlichen Sprache, ohne die ein Verstehen und gemeinsames Leben der Werte nicht denkbar wäre. Eine in der Gesellschaft geltende einheitliche Sprache ist auch darüber hinaus dafür notwendig, die Kultur des Gesellschaftsganzen im Rahmen von Bildungsvorgängen in Schulen und Universitäten zu vermitteln. Dies ist auch einer 200 Diese Kultur wird oftmals auch als die Kultur schlechthin bezeichnet (vgl. hierzu Berndorf, Wörterbuch der Soziologie, unter Kultur): „Kultur ist die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung einschließlich der tragenden Geistesverfassungen, insbesondere der Wert-Einstellungen.“

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der Gründe dafür, weshalb die deutsche Sprache für den institutionellen Bereich, also dort wo das Wertesystem vermittelt oder auf dem Prüfstand steht, wie z. B. in der Schule oder bei Gericht, gesetzlich vorgeschrieben ist. In diesen Bereichen wird die Sprache somit sogar zum Bestandteil des rechtlichen Wertesystems selbst gemacht. So heißt es im Gerichtsverfassungsgesetz unmissverständlich: „Die Gerichtssprache ist deutsch“. Kulturelemente, die das Wertesystem nicht betreffen, können zwar von einem Teil der Gesellschaft oder individuell von den Menschen, die in dem Gesellschaftsganzen leben, gelebt werden, prägen jedoch nicht die Gesellschaft als höhere Einheit, da nicht jeder Kulturansatz eines einzelnen Menschen oder einer gesellschaftlichen Gruppe von allen Menschen der Gesellschaft geteilt, geschweige denn befolgt werden muss. Nicht die Kultur, wie sie von den einzelnen Menschen der Gesellschaft in Ihrer Vielfalt gelebt werden kann, prägt das Wesen der Gesellschaft, sondern nur die Kulturnorm, die für die gesellschaftlichen Verhältnisse von tragender und für das Wesen und die Existenz der Gesellschaft von ausschlaggebender Bedeutung (systemrelevant) sind. Damit wird auch zugleich die Frage nach der kulturellen Identität der Gesellschaft beantwortet. Die kulturelle Identität bedeutet nämlich nichts anderes, als dass die Gesellschaft in ihrer kulturellen Einheit gemäß ihrer im Gesellschaftsvertrag zweckhaft festgelegten und zu verwirklichenden Wertvorstellungen erhalten bleibt. Die Identität der Gesellschaft zeichnet sich danach durch die Verwirklichung ihrer Kulturwerte einschließlich ihrer Normen aus, die für das jeweilige Gesellschaftsganze von substantieller und essentieller Bedeutung sind. Spielen diese Werte in ihrer ganzheitlichen Ordnung gesellschaftlich keine tragende Rolle mehr, hat sich mit dem Wesen der Gesellschaft auch deren kulturelle Identität verändert. Dies entspricht auch der allgemeinen Definition der Identität, wonach die Identität eines Gegenstandes d. h. die Übereinstimmung mit sich selbst201 ausschließlich durch die Beibehaltung seiner wesentlichen Eigenschaften bestimmt wird. Die Unterscheidung zwischen der Gesellschaftskultur mit ihrem engen Inhalt, die in der weiteren Konkretisierung der Verfassungskultur entspricht,202 und der nationalen Kultur, in der alle Kulturen der Mitglieder des Volkes in ihrer Vielfältigkeit, ob Norddeutscher oder Süddeutscher, aufgehen, wird in der bisherigen Diskussion wenig beachtet. Die beiden Kulturarten werden vielmehr – wie in der Integrationsdebatte sichtbar – oftmals identifiziert, was letztlich damit zusammenhängen mag, dass ungeachtet aller begrifflichen Differenzierungen die Gesellschaftskultur immer auch Teil der übergreifenden nationalen Kultur ist. Gerade diese Vermengung der alles umfassenden nationalen Kultur mit der inhaltlich beschränkten Kultur der Gesellschaft führt immer wieder zu immensen Irritationen in der Zuwanderungspolitik, weil die nationale Kultur anders als die Gesell201 202

Schischkoff, Wörterbuch der Philosophie, unter Identität. Vgl. Hakki Keskin, in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 98.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

schaftskultur alle – auch widersprüchlichen – Kulturelemente, die in Deutschland gelebt werden, repräsentiert. So mag es zwar richtig sein, dass – wie es der Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit im Oktober 2010 in Bezug auf das nationalkulturelle Erscheinungsbild sagte –, der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre.203 Bedacht werden muss allerdings auch: Mit unserer Gesellschafts- und Verfassungskultur ist der traditionelle Islam nicht zu vereinbaren. Insoweit gehört der Islam keinesfalls zu Deutschland. Die Ineinssetzung von nationaler Kultur und Gesellschaftskultur sowie von Gesellschaft und Kultur, die für die Gesellschaft „Symbolcharakter“ haben soll,204 führte im Ergebnis dazu, dass die Kultur schlechthin zum Maßstab der Integrationsdebatte erhoben wurde. Es ging im Wesentlichen nur noch um „Kulturbegegnungen von Menschen über Grenzen“ und multikulturelle Herausforderungen,205 für die Integrationsmodelle gesucht wurden. Dabei standen sich zunächst die beiden unvereinbaren – ideologisch überlagerten – Positionen des reinen Multikulturalismus und einer dominanten – zu assimilierenden – Nationalkultur, die die Gefahr einer „kulturellen Überfremdung sah“, gegenüber.206 Später wurde die Diskussion um eine Leitkultur und aufgeklärte Multikulturalität erweitert, wobei sichtbar wurde, dass fundamental entgegengesetzte Positionen einer dialektischen Auflösung bedurften.

VI. Zuwanderung in die gesellschaftliche Einheit 1. Das Wertesystem des Gesellschaftsganzen als Bezugsrahmen des gesellschaftlichen Integrationsprozesses a) Das gesellschaftsethische Wertesystem in seiner Ganzheit als Integrationsangebot Gegenstand der gesellschaftlichen Integration ist nach der hier vertretenen Auffassung das ethische Wertesystem der Gesellschaft als Ganzes. Dieses Wertesystem, welches zugleich die Kultur der Gesellschaft als solcher widerspiegelt, ist zudem Grundlage der staatlichen Rechtsordnung, in dem sich das ethische System der Gesellschaft in seiner rechtlichen Verbindlichkeit für alle Bürger wieder findet. Mit diesem System wird der Migrant unmittelbar konfrontiert, wenn er sich in den gesellschaftlichen Raum der Bundesrepublik begibt und dort aufhält. Ausschließlich an diesem Wertesystem kann und hat sich folglich die Integrierung der Migranten zu 203 Wörtlich heißt es in der Rede des Bundespräsidenten: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ (aus Welt am Sonntag vom 10. 10. 2010, S. 1). 204 Hoffmann-Nowotny, Soziologische Aspekte der Multikulturalität, S. 103 f. 205 Bade, Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, S 10. 206 Bade, Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, S. 17.

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orientieren. Die Einbeziehung in unseren Gesellschaftsvertrag wird den Migranten in ethischer Hinsicht angeboten. Ein anderes Angebot könnten die Migranten auch nicht erwarten: Jede Gesellschaft wird nämlich bei vernünftiger Betrachtung ihre durch die Wertordnung repräsentierte Kultur bei Beginn des Integrationsprozess zum Bezugsrahmen der Integrierung machen. Dies gilt umso mehr, als die darin enthaltenen Basiswerte, die zugleich die Voraussetzungswerte ihres eigenen Gesellschaftsvertrages darstellen, nämlich – wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland – die Wahrung der Würde und der ethischen Freiheit des Menschen, die Wertordnung durchgängig prägen. Mit diesen Leitgedanken steht und fällt das gesellschaftsethische und demokratische Miteinander.207 Alles andere würde auch zur Auflösung der eigenen Identität führen.208 aa) Angebot zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe Dieser Gedanke kann für die Zuwanderer, auch wenn diese einen völlig anderen kulturellen Hintergrund haben sollten, nichts bedrohliches sein, wie dies vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Dieser Gedanke entspringt insbesondere nicht dem Herrschaftsanspruch einer dominierenden Kultur. Es handelt sich vielmehr um einen Ausdruck der Gesellschaftsethik und der Vernunft, da ansonsten die eigene ethische Einheit und Identität eines sich ethisch entwickelten Gesellschaftsganzen einschließlich der historisch hart errungenen Werte der Würde und Freiheit des Menschen in Frage gestellt würden. Im Übrigen lässt das Wertsystem der Bundesrepublik Deutschland eine Vielfalt von Wertvorstellungen zu. Die aus dem Prinzip der Menschenwürde abgeleiteten Prinzipien des personhaften Respekts und der Toleranz haben einen hohen Stellenwert. All dies zeigt einmal mehr, dass es gerade diese gelebten Werte sind, die einen dominanten Herrschaftsanspruch geradezu verbieten. Die Respektierung der Würde aller Menschen einschließlich deren freiheitlichen Existenz ohne Bezug auf deren Ethnizität und Nationalität ist in unserer Wertordnung gewährleistet. Damit einher geht die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen, ohne dass dies einer besonderen grundgesetzlichen Klarstellung bedürfte.209 Unser gesellschaftsethisches Wertsystem bedingt den uneingeschränkten Respekt ge207 Dieser Gedanke ist im Ansatz auch nicht gegen die Ethik des Zuwanderers gerichtet. Die Zuwanderung selbst erfolgt in der Regel freiwillig, also selbstbestimmt. Der Zuwanderer weiß somit, worauf er sich einlässt, insbesondere was von ihm gesellschaftsethisch erwartet wird. Wenn er es aus religiöser oder sonstiger Überzeugung unerträglich finden sollte, die Menschenrechte sowie den Wert der Freiheit und Würde des Menschen im gesellschaftsethischen Miteinander als obersten Wert zu akzeptieren, wenn er insbesondere der Auffassung sein sollte, dass Frauen nicht gleichberechtigt seien, Zwangsheiraten und Ehrenmorde ethisch zulässig sein sollen und er all dies weiter leben will, sollte er sich selbstbestimmt gut überlegen, ob er nicht doch in einem Gesellschaftsraum bleibt, in dem das alles als richtig gilt. 208 Bade (Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, S. 13) spricht davon, dass es in einer Einwanderungsgesellschaft klarer einwanderungspolitischer Verkehrs- und Vorfahrtsregeln gerade zum Schutz deren Wertvorstellungen und Lebensformen bedürfe. 209 Vgl. hierzu Bade, Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung, S. 24.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

genüber allen Menschen, die in der Bundesrepublik leben, in Bezug auf deren Menschsein. Unser Wertesystem bedingt ebenso die grundsätzliche Toleranz gegenüber allen von den Zuwanderern gelebten Kulturen, was deren Freiheit beinhaltet die eigene Kultur individuell so zu leben, so wie sie es wünschen, es sei denn, die Kultur selbst oder Kulturbestandteile hiervon verstießen gegen unser Wertesystem in seiner Ganzheit. Die ethischen Grundlagen des Wertesystems der Bundesrepublik bedingen für die Migranten letztlich auch ein Anrecht auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung, wie es auch die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft für sich in Anspruch nehmen und erfahren. Überhaupt ist der Gedanke der aus dem Wertesystem fließenden tatsächlichen und rechtlichen Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Zuwanderer einer der tragenden Grundsätze innerhalb der Integrierung, ohne dass man darunter bereits eine Art des Multikulturalismus verstehen müsste. Jeder Zuwanderer ist innerhalb der Lebensordnung der Gesellschaft der Bundesrepublik nämlich „ohne Wenn und Aber“ als gleichberechtigtes Mitglied anzusehen. Dem entspricht der allgemeine Grundsatz des Artikel 3 Abs. 1 GG, der selbstverständlich auch für Ausländer Geltung hat.210 Dieser verfassungsrechtliche Grundgedanke ist aus dem gesellschaftsethischen Wertesystem entwickelt worden und stimmt mit diesem überein. Auch für das gesellschaftsethische Miteinander gilt der Gleichheitsgrundsatz, wobei Rasse, Weltanschauung und Religion per se keinen Grund darstellen, Menschen ungleich zu behandeln oder gar auszugrenzen, vor allem weil durch diese Merkmale die Identität der Person als solche betroffen wäre.211 Eine weitere Konkretisierung dieses verfassungsrechtlichen und gesellschaftsethischen Gleichheitssatzes findet sich im Übrigen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welches zwar unter diversen juristischen Gesichtspunkten problematisch erscheinen mag, unter dem Gesichtspunkt der Integration jedoch Sinn macht. Ziel dieses Gesetzes ist es nämlich, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung zu verhindern oder zu beseitigen. Das AGG hat gegenüber den Zuwanderern auch nicht nur symbolischen Wert. Es schafft ihnen vielmehr in bestimmten Bereichen nicht nur eine gesellschaftsethische, sondern auch eine rechtlich durchsetzbare Position. Aus dem Inhalt des Gesellschaftsvertrages, d. h. den Grundgedanken des Wertesystems selbst, insbesondere dem Prinzip der Menschenwürde und Gleichberechtigung sowie der Gleichbehandlung folgt der Sache nach auch das Angebot an die in der Bundesrepublik lebenden Migranten auf Partizipation und Teilhabe, worunter in erster Linie die aus der Verfassung ableitbaren Leistungsansprüche auf Genuss von

210 211

Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 11, Rn. 446, S. 107. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 12, Rn. 515, S. 126.

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staatlichen Sozialleistungen, Bildung und Gesundheitsversorgung, der Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie Grundrechtsschutz gemeint ist.212 Partizipation bedeutet aber nicht nur die gleichberechtigte ethische und rechtliche Teilhabe an staatlichen Leistungen, sondern auch die sich aus dem Wertesystem ergebende ethische Verpflichtung der Gesellschaft und seiner Bürger, den Migranten gegenüber alles zu unternehmen, um ihnen das gleichberechtigte Zusammenleben in den konkreten sozialen, normativen und emotionalen Lebensbereichen zu ermöglichen. Es handelt sich um eine weitere Seite des gebenden Teils des gesellschaftsethischen Systems, wodurch die Migranten in die Lage versetzt werden sollen, mit den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft innerhalb des Systems auf „Augenhöhe“ zusammenzuleben und letztlich auch hierüber gesellschaftliche Einheit in der real-konkreten Ausgestaltung zu erlangen. Partizipation beinhaltet somit auch den ethischen Anspruch auf soziale Integration. Insoweit zeigt sich, dass sich der Begriff der gesellschaftsethischen Partizipation am Gedanken der Einheit orientiert. Das Prinzip lautet: Erlangung von Einheit durch Teilhabe. Dieser Gedanke, der seit jeher im Christentum213 ein tragender ethischer Grundsatz ist, wird in der Integrationsdebatte vor allem auch von der republikanisch-partizipatorischen Richtung des Kommunitarismus vertreten.214 Dementsprechend beinhaltet das gesellschaftsethische Integrationsangebot die Aufforderung an die Zuwanderer, die eigene Kultur einschließlich der darin verankerten Wertvorstellungen, soweit sie nicht den Wertentscheidungen der Gesellschaft gegensätzlich und in unversöhnlicher Weise entgegenstehen, selbstbewusst in die Kultur der Mehrheitsgesellschaft einzubringen, um sich in unserer gesellschaftlichen Einheit wiederzufinden und auch darüber gesellschaftliche Einheit zu erlangen. Nur wenn diese Art der Partizipation gelingt, kann letztlich auch Emanzipation der Migranten im Sinne einer Befreiung aus dem Zustand einer Nichtdazugehörigkeit folgen.

212 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 114 f.; Maurer, Staatsrecht I, § 9, Rn. 28, S. 262. 213 Vgl. Thurner, in: Rheinischer Merkur vom 7. 9. 2006; Thurner weist darauf hin, dass das Volk Gottes seine Einheit in der Teilnahme an der liturgischen Mahlgemeinschaft der Eucharistie erlange. In ihr würden all jene, die den Leib Christi als Brot zu sich nähmen, Glieder des einen Lebens der Kirche. 214 Vgl. zum Ganzen Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 309 m.w.N. Nach Langenfeld umfasst der Kommunitarismus eine Fülle unterschiedlicher politisch philosophischer Positionen. Im Groben ließen sich zwei unterschiedliche Ansätze auseinander halten. Einerseits werde die These vertreten, dass eine politische Gemeinschaft eine im starken Sinne kulturell integrierte, sittliche Gemeinschaft sein müsse; andererseits werde eine republikanische-partizipatorische Position vertreten, die nicht von einer substantiell ethischen Einheit der Bürger ausgehe, sondern von der Einheit durch Partizipation.

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bb) Die ethisch-verpflichtende Seite des gesellschaftlichen Integrationsangebots Das zur Übernahme angebotene Wertesystem als Ganzes beinhaltet für den Zuwanderer aber nicht nur einen ethischen Anspruch auf individuelle kulturelle Freiheit und Teilhabe, sondern – wie es in einem auf Zusammenleben ausgerichteten, den ethischen Gesellschaftszweck ausmachenden Wertesystem angelegt ist – auch eine ethisch-verpflichtende und damit die eigenen individuellen Freiheiten einschränkende Seite. Das eine gibt es in einem ganzheitlichen polardialektischen Wertesystem nicht ohne das andere. In diesem Zusammenhang muss der Zuwanderer wissen, dass das ganzheitlichethische Wertesystem der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht nur durch den ethisch-berechtigenden Teil sondern auch durch den ethisch-verpflichtenden Teil der Basiswerte bestimmt wird. Wie nämlich gezeigt wurde, wird das ethische Wertesystem des Gesellschaftsganzen zwar verrechtlicht in der Verfassung konkretisiert, durch diese jedoch nicht abgelöst. Das gesellschaftsethische System besteht vielmehr neben der Verfassung in einer dialektischen Wechselbeziehung zu dieser fort. Es enthält – anders als die Verfassung – nicht nur Rechte, sondern auch für jeden Gesellschaftsbürger durchgängig ethische Verpflichtungen, da ansonsten ein ethisches menschliches Miteinander nicht denkbar wäre. Das wiederum bedeutet, dass der Zuwanderer aus den Werten der Menschenwürde und der ethischen Freiheit nicht nur die Forderung auf Anerkennung der eigenen Existenz und Selbstbestimmtheit erheben kann, sondern auch die Existenz und Selbstbestimmtheit der anderen Menschen, auch die der Mitglieder der eigenen community zu respektieren hat. Das bedeutet weiterhin, dass die Werte des Respekts, der Toleranz sowie des Pluralismus, die aus dem einheitlichen Wertesystem fließen, nicht isoliert, sondern nur unter wechselseitiger Berücksichtigung ihres polardialektischen und damit eingeschränkten Inhalts in unserer Gesellschaft gelebt werden können und dürfen. Dies folgt wiederum daraus, dass die kulturelle Freiheit der Zuwanderer als teilidentischer Wert im Wertganzen nur relativ, d. h. beschränkt durch das Wertesystem im Übrigen sein kann. Wer dieses polardialektische gesellschaftsethische Prinzip nicht erkennt und nur isoliert auf die verfassungsrechtlich gewährleisteten subjektive Rechte der Zuwanderer abstellt, kommt leicht in die Versuchung, den Gesellschaftsbürgern wie auch den Zuwanderern nur noch Rechtsschutz zu gewähren und diese Rechte in der gesellschaftspolitischen Diskussion einseitig in den Vordergrund zu stellen, ohne die Betreffenden an ihre ethischen Pflichten gegenüber dem Gesellschaftsganzen zu erinnern. Dass dies nicht funktionieren kann, liegt auf der Hand, weil eine ausschließlich verfassungsrechtliche Betrachtung dazu führen würde, dass die Bürger allesamt nur noch durch die Rechte der anderen beschränkbare Rechte hätten. Zudem würde übersehen, dass Integrierung in erster Linie kein rechtlicher, sondern ein gesellschaftsethischer und politischer Vorgang ist, der für jeden Gesellschaftsbürger und Zuwanderer auch einen ethischen Pflichtenkatalog bereithält.

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Dem polardialektischen gesellschaftsethischen Wertesystem entspricht es demgemäß auch, dass der Zuwanderer wie auch der Einheimische nicht nur Ansprüche auf Teilhabe, sondern auch die ethische Verpflichtung zur Teilnahme hat. Damit ist der im gesellschaftsethischen Wertesystem verankerte, aus dem ethischen Gesellschaftsvertrag fließende Gedanke gemeint, dass jeder, der Mitglied der Gesellschaft sein will und in den Genuss der Teilhabe am Gesellschaftsganzen kommen will, umgekehrt auch die gesellschaftsethische Verpflichtung hat, das gesellschaftsethische Wertsystem als Grundlage des Zusammenlebens zu akzeptieren und zu übernehmen und aus seiner gesellschaftsethischen Verbundenheit heraus alles in seiner Macht Liegende zu tun hat, dass das gesellschaftsethische Wertesystem eingehalten und in concreto umgesetzt wird. Das moralische Recht auf Teilhabe und die moralische Pflicht zur Teilnahme bedingen sich gegenseitig. Das eine gibt es im Rahmen des Gesellschaftsvertrages – auch gesellschaftsethisch – nicht ohne das andere, da nur so ein gesellschaftliches Ganzes überhaupt denkbar ist. Das bedeutet auch, dass der Zuwanderer die Angebote, die ihm im Rahmen des Systems zur Erhaltung und Entfaltung als individuelle Person wie auch als Gesellschaftswesen gemacht werden, anzunehmen und entsprechend seinen Kräften umzusetzen hat. Dies ist Ausfluss seiner ihm aufgrund seiner Menschenwürde eingeräumten Selbstbestimmtheit, dessen bipolarer Teil die ethische Selbstverantwortung ist. So kann von jedem Bürger und somit auch dem Zuwanderer verlangt werden, dass er die Bildungsangebote, Arbeitsplatzangebote und sonstigen Angebote zum gesellschaftlichen Miteinander auch annimmt. Es machte nämlich keinen Sinn, Migranten Sprach- und Bildungsangebote zu machen, wenn sie umgekehrt ihrer gesellschaftsethischen Verpflichtung nicht nachkämen, das Angebot anzunehmen und in angemessener Weise mitzumachen. Dies gilt umso mehr, als die höchste gesellschaftsethische Verwirklichung des Prinzips der Menschenwürde darin liegt, jeden einzelnen Menschen in die Lage zu versetzen, ethisch selbstverantwortlich handeln zu können. Auch das Gesellschaftsganze kann im Ergebnis nur funktionieren, wenn sich jeder Einzelne dieser primären Selbstverantwortung bewusst ist. Teilnahme bedeutet darüber hinaus die Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Leben, Meinungsaustausch, Werteaustausch und Dialog. Auch dies entspricht den Anforderungen unseres gesellschaftsethischen Wertsystems und dem Gemeinwohlinteresse. Demokratie heißt „Mitmachen“.215 Wenn Niemand „mitmachen“ würde, würde die gesellschaftliche Einheit – mit nicht absehbaren Folgen – auf Dauer leer laufen. Da das Angebot zur Integrierung in das Gesellschaftsganze nur einheitlich, d. h. nur unter Einbeziehung der ganzheitlich geltenden Wertordnung mit ihren polardialektischen Inhalten erfolgt, enthält es zwangsläufig die Aufforderung, die im Rahmen des Wertsystems zur Auflösung von Wertkonflikten getroffenen Wertentscheidungen, die bezogen auf die durch den Wert der Menschenwürde geprägte Rangordnung der Werte bereits ethischer Bestandteil des ganzen Wertesystems sind, zu überneh215

Der Spiegel vom 10. 5. 2008, S. 61.

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men. Das Integrationsangebot beinhaltet insoweit die Orientierung am ganzheitlichen Wertsystem, wobei klarzustellen ist, dass durch eine derartige Betrachtung den Zuwanderern gerade wegen der im Wertesystem vorausgesetzten Pluralität und Toleranz bei gleichzeitiger Respektierung dieses Wertesystems nicht die Möglichkeit genommen wird, ihre Kultur im Übrigen so leben zu können, wie dies in der Verfassung auch für sie garantiert wird. Ansonsten würde man den Migranten sogar mehr Handlungsspielräume einräumen als unserem demokratisch gewählten Gesetzgeber. Dieser hat sich nämlich ebenso wie auch die Exekutive und Judikative uneingeschränkt an unserem gesellschaftsethischen Wertesystem in seiner Ganzheit zu orientieren. Insoweit muss daran erinnert werden: Gerade das Wertesystem der Bundesrepublik einschließlich der darin verankerten Prinzipien der Menschenwürde und Freiheit und des daraus wiederum abgeleiteten Pluralismus ist es, welches ein offenes Aufnahmeangebot an die Zuwanderer überhaupt erst möglich macht, wonach den Migranten die gleichen ethischen Berechtigungen und subjektiven Rechte – aber auch die gleichen ethischen und rechtlichen Verpflichtungen – angeboten werden, wie man sie als Gesellschaftsbürger selbst in der eigenen Gesellschaft erlebt. Es wäre deshalb ein gegen das gesellschaftsethische System der Bundesrepublik selbst gerichteter zerstörerischer Akt, wenn man das bundesrepublikanische Wertesystem als Ganzes, d. h. die eigene Identität in der Auseinandersetzung der Kulturen in Frage stellen oder der Beliebigkeit preisgeben würde. Dies wäre umso fataler, weil gerade das bundesrepublikanische Wertesystem – ebenso wie das aller anderen westlichen Demokratien – jedenfalls von der Idee her eine klare ethisch-philosophische und politische Ausrichtung auf das Prinzip der Menschenwürde und der ethischen Freiheit als oberste Werte haben, ein gesellschaftsethischer Ansatz, der auch unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Vernunft nur Zustimmung erfahren kann. Zu Menschenwürde und ethischer Freiheit als die alles bestimmenden Werte und die daraus fließenden Werte der Pluralität, der Glaubensfreiheit und einer richtig verstandenen Toleranz gibt es im Zusammenleben unter Menschen keine vernünftige gesellschaftspolitische und philosophisch-ethische Alternative. Bei alledem dürfen nur die daraus resultierenden wechselseitigen gesellschaftsethischen Verpflichtungen nicht vergessen werden. Wenn man dies täte, liefen die Werte der Menschenwürde, der ethischen Freiheit und der Demokratie in ihrer notwendigen ideenhaften Polardialektik ins Leere. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Die Integrierung von Zuwanderern hat einen festen, eindeutig bestimmten gesellschaftsethischen Bezugsrahmen, innerhalb dem sie zu erfolgen hat. An diese Maßstäbe muss sich der Zuwanderer wie der Bürger der Bundesrepublik halten, wobei beiden eine relative kulturelle Toleranz, d. h. die gegebenenfalls durch andere Werte eingeschränkte und beschränkte kulturelle Freiheit zugutekommt. Das bedeutet wiederum: Weder der Wertpluralismus oder die Toleranz als ein absoluter oder höchster Wert, wonach jeder machen könnte, was er wollte, noch eine Kultur, egal welchen Inhalt sie hätte, ist der Maßstab der Integrierung. Den Bezugsrahmen bilden vielmehr ausschließlich und allein die ethisch-be-

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rechtigenden und verpflichtenden Vorgaben unseres Wertesystems als Ganzem mit all seinen Widersprüchen und polardialektischen Werten, die unter dem Dach der natürlichen Menschenrechte und den Werten der Menschenwürde und Freiheit vernünftig aufzulösen sind. b) Gegensätzliche Wertesysteme im Spannungsverhältnis Damit ist das Hauptproblem der Integrierung benannt. Was soll geschehen, wenn das Wertesystem der Aufnahmegesellschaft in seiner Ganzheit mit demjenigen der Zuwanderer nicht in Einklang zu bringen ist, d. h. die Gesellschaftskultur der Migranten nicht dem Wertesystem der Aufnahmegesellschaft entspricht oder zu ihm in seiner Ganzheit sogar in Widerspruch steht? Es handelt sich dabei um das Problemfeld der Integration differenzierter Gesellschaftskulturen, also um die Frage: Wie ist gesellschaftliche Einheit trotz Vielfalt möglich. aa) Die Scharia – die Wertordnung der Muslime Deutlich wird dieses Problem bei den in Deutschland lebenden Muslimen, soweit sie die Scharia als Verankerungspunkt ihrer Wertvorstellungen ansehen. Zusammengefasst versteht man unter der Scharia das islamische Recht, die religiöse Pflichtenlehre des Islam, die sowohl die kulturellen Pflichten als auch die ethischen Normen sowie die Rechtsgrundsätze für alle Lebensbereiche umfasst. Die Scharia beruht in erster Linie auf dem Koran und wird durch die Sunna, das normative (vorbildliche) Handeln des Propheten Mohammed, ergänzt. Die Grundtendenz der Scharia als einheitlicher Wertordnung ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse. Die Vorschriften der Scharia repräsentieren im Ergebnis die gottgewollte Ordnung.216 Bei der Scharia handelt es sich sicherlich um ein komplexes Thema, zu dem es in der Lehre des Islam selbst unterschiedliche Positionen gibt, weshalb man sich vor Verallgemeinerungen hüten sollte. So wird z. B. auch die Meinung vertreten, dass es die Scharia eigentlich nicht gebe, sondern nur unterschiedliche Auslegungen der Scharia.217 Es heißt aber auch, dass die Auslegungen der Scharia nicht beliebig seien.218 Allerdings dürfte unbestritten sein, dass es bei orthodoxer Auslegung und Anwendung der Scharia als einer gottgewollten Ordnung möglich ist, direkt vom Koran verbotene Handlungen mit Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung zu bestrafen. Als Beispiele sind insoweit Unzuchtstatbestände wie Homosexualität und außerehelicher Geschlechtsverkehr zu nennen. Nicht ethisch verwerflich ist es laut Scharia

216

http://de.wikipedia.org./wiki/scharia; Elger, Kleines Islam-Lexikon, unter Scharia. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 95; Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 148 ff. 218 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 95. 217

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auch, wenn Ehemänner ihre Frauen körperlich züchtigen.219 Auch die Zwangsverheiratung von Frauen ist erlaubt. Wer sich als Frau dem widersetzt, muss nach einer jahrhundertealten Tradition damit rechnen, lebend in ein Grab geworfen zu werden und dabei qualvoll zu ersticken, wie dies Zeitungsberichten zu Folge noch im Jahre 2008 fünf Frauen in Islamabad erfahren mussten. In dieses Bild passt, wenn gemäß einer Umfrage bis zu 30 % aller türkischen Studenten noch im Jahr 2006 Ehrenmorde für eine legitime Reaktion auf eine Verletzung der Familienehre hielten.220 Entsprechendes gilt, wenn noch im Jahr 2006 77 % der türkischen Studenten der Auffassung waren, ein Mann hätte das Recht, seine Frau zu schlagen, wenn sie beispielsweise das Essen anbrennen lasse.221 Aufsehen erregt hat weiterhin der Fall des afghanischen Studenten Sayed Pervez Kambaksh. Dieser ist zum Tode verurteilt worden, weil er einen Text veröffentlichte, in welchem er angab, dass Mohammed Frauen unterdrückt habe und der Islam eine Religion gegen Frauen sei. Zur Begründung des Todesurteils wies man darauf hin, dass Kambaksh die Religion von vielen Millionen Menschen ohne Rücksicht auf den nationalen Frieden beleidigt hätte. Die Meinungsfreiheit sei zwar ein sehr hohes Gut. Aber das heiße nicht, dass man religiöse Gefühle verletzen dürfe. Die Beleidigung einer Religion, egal welcher, gehöre nicht zur Meinungsfreiheit, sondern sei eine Straftat, für die die Scharia die Todesstrafe vorsehe.222 Es ist schon anhand der wenigen Beispiele unverkennbar, dass das Wertesystem der Scharia, welches in unterschiedlichem Ausmaß die Wertvorstellungen auch der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Muslime prägt, weder mit unserer Verfassung noch mit unserem gesellschaftsethischen Wertesystem in Einklang zu bringen ist. Dabei fällt auf, dass es nicht etwa so ist, dass den Muslimen unsere Einzelwerte, die Bestandteil unserer ganzheitlichen Wertordnung sind, fremd wären oder diese für sie keine Geltung hätten. Im Gegenteil: Menschlichkeit und Barmherzigkeit sind wie die Meinungsfreiheit Werte, die im Islam ebenfalls eine große Bedeutung haben. Die gesamte Diskussion über die Übernahme der Einzelwerte der Menschenwürde und der ethischen Freiheit wird deshalb schon im Ansatz missverständlich geführt, da auch die Muslime diese Werte kennen und verfolgen. Es ist deshalb auch kaum mehr mit anzuhören, wenn vor allem in politischen Talkshows Wertdebatten entfacht werden, in der sich die gesamte Diskussion im Kreise dreht, weil die Zuwanderer immer wieder nicht entgegnungsfähig darauf hinweisen, dass für sie selbstverständlich die im Grundgesetz verankerten Werte der Menschenwürde und Freiheit ein hohes Gut seien. Die Diskussion ist deshalb relativ schnell beendet, weil man die eigentliche Problematik erst gar nicht benannt hat. Es wird nämlich schlichtweg ver219

Im Koran (Sure 24, Vers 60) heißt es, dass eine Frau ihre körperlichen Reize vor Fremden bedecken soll, wobei allerdings für ältere, nicht mehr heiratsfähige Frauen erleichterte Richtlinien gelten sollen. 220 Die Welt vom 28. 10. 2006, S. 4. 221 Die Welt vom 28. 10. 2006, S. 4. 222 Der Spiegel vom 19. 05. 2008, S. 74.

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kannt, dass es nicht um die Akzeptanz verschiedener Einzelwerte als solcher, sondern maßgeblich um die Akzeptanz der ethischen Rangordnung der Werte, insbesondere der Vorrangigkeit des Wertes der Menschenwürde in unserem ganzheitlichen Wertesystem geht, da hierdurch die zu treffenden ethischen und gesellschaftspolitischen Wertentscheidungen in einer Gesellschaft geprägt und im Wesen vorgegeben werden. bb) Unterschiedliche Ausrichtung der Wertordnungen Wichtig ist zu wissen, dass nach der Kairoer Erklärung der Menschenrechte vom 5. 8. 1990,223 die formal am Typus der Menschenrechtsdeklarationen der westlichen Welt orientiert ist, der menschenrechtliche Gehalt fast in jedem Artikel unter den Vorbehalt der Scharia gestellt wird. So heißt es in Präambel der Kairoer Erklärung: „Die Mitglieder der Organisation der islamischen Konferenz betonen die kulturelle und historische Rolle der islamischen Umma, die von Gott als die beste Nation geschaffen wurde und die der Menschheit eine universale und wohlausgewogene Zivilisation gebracht hat […]; sie möchten ihren Beitrag zu dem Bemühen der Menschheit leisten, die Menschenrechte zu sichern […] seine Freiheit und sein Recht auf ein würdiges Leben in Einklang mit der islamischen Scharia zu bestätigen […]; sie glauben, dass die grundlegenden Rechte und Freiheiten im Islam ein integraler Bestandteil der islamischen Religion sind und dass grundsätzlich niemand das Recht hat, sie ganz oder teilweise aufzuheben, sie zu verletzen oder zu missachten, denn sie sind verbindliche Gebote Gottes, die in Gottes offenbarter Schrift enthalten und durch Seinen letzten Propheten überbracht worden sind […]“.

Weiter heißt es in Artikel 1 wörtlich: „Alle Menschen bilden eine Familie, deren Mitglieder durch die Unterwerfung unter Gott vereint sind und alle von Adam abstammen. Alle Menschen sind gleich an Würde, Pflichten und Verantwortung; und das ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, Religion, politischer Einstellung, sozialem Status oder anderen Gründen. Der wahrhafte Glaube ist die Garantie für das Erlangen solcher Würde auf dem Pfad zur menschlichen Vollkommenheit. Alle Menschen sind Untertanen Gottes, und er liebt die am meisten, die den übrigen Untertanen am meisten nützen, und niemand ist dem anderen überlegen, außer an Frömmigkeit und guten Taten.“

Dass Bedeutung und Wertrangordnung der Menschenrechte relativiert werden, wird auch deutlich, wenn man in Artikel 24 liest, dass alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten der islamischen Scharia unterliegen und in Artikel 25 nochmals abschließend klargestellt wird: „Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“

223

Islam.

Vgl. hierzu http.//de.wikipädia.org/wiki/Kairoer Erklärung der Menschenrechte im

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Diese Formulierung bedeutet logisch wiederum nichts anderes, als dass die individuellen Menschenrechte, die Würde und Freiheit des Menschen nur zur Geltung kommen, wenn dies mit der Scharia im Einklang steht. Dies bedeutet zwangsläufig, dass unser Grundgesetz nur dann wirken kann, wenn es der Scharia nicht widerspricht. Daraus ist wiederum zu folgern, dass es der Sache nach für die islamische Wertordnung auf die Menschenrechte und die Verfassung vorrangig nicht ankommen kann. Maßgeblich ist allein die Scharia und deren Auslegung, wobei sich allerdings die Frage stellt, ob es überhaupt eine menschenrechtsfähige Auslegung der Scharia ohne Aufgabe wesentlicher Glaubensinhalte geben kann.224 All dies hängt damit zusammen, dass die Muslime aufgrund ihres Glaubens von einer gottgewollten Lebensordnung unter Menschen ausgehen, wobei allein Gott über das, was gesellschaftlich und ethisch geboten und richtig ist, entscheidet. Sittlich gut ist ausschließlich das, was Gott gefällt und Gott entsprechend der voluntaristischen Ausrichtung des Islam will. Dies führt im Ergebnis zwangsläufig zu einer Veränderung der Rangordnung der Werte, da der göttliche Wille, der in der Scharia zum Ausdruck kommt, als der oberste Wert, aus dem alles fließt und der alles umfasst, angesehen wird. Selbst die Würde des Menschen definiert sich über den wahren Glauben, der die Garantie für den Genuss einer solchen Würde ist. Dies folgt in der konsequenten Deduktion dazu, dass nicht nur alle Werte, sondern alle Lebensverhältnisse einer religiösen Wertung unterliegen. Dies kann im Extremfall sogar zum Inhalt haben, dass bei einer durchzuführenden Wertabwägung die autonome Würde und Freiheit der menschlichen Existenz sowie der Wert der Menschenrechte, wie wir ihn verstehen, anderen religiös vertieften Werten den Vorrang lassen müssen, während in unserem gesellschaftsethischen Wertesystem, welches ausschließlich die Existenz des Menschen und dessen Würde als oberstes Prinzip kennt, die Güterabwägung genau anders herum vorzunehmen wäre. Deutlich wird dies, wenn man an die Problematik der Ehrenmorde denkt. Der Wiederherstellung der Ehre wird ein höherer Wert als dem Leben des Ehrverletzers eingeräumt. Das Konfliktpotential der deutschen Aufnahmegesellschaft zu den Migranten muslimischen Glaubens liegt somit nicht in der Beurteilung einzelner Wertinhalte als solcher, sondern in den jeweiligen Wertabwägungen innerhalb der Systeme selbst, die aufgrund ihrer obersten Prinzipien und Leitideen zu anderen, ja schon gravierend abweichenden Wertentscheidungen führen; ein Umstand, der, wenn er nicht deutlich benannt wird, in der gesellschaftspolitischen Diskussion nur zur Verwirrung führen kann. cc) Auflösung des dialektischen Widerspruchs Bei der Frage, wie dieser Widerspruch aufzulösen ist, müssen mehrere Problemfelder auseinander gehalten werden. Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, dass eine andere Wertordnung in ihrer Ganzheit Teil des Gesellschaftsganzen der Bundes224 Hierauf weisen auch Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 95 hin; sie bezweifeln die Menschenrechtsfähigkeit der Scharia.

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republik im Sinne einer kompromisslosen Multikulturalität sein kann bzw. ob im Sinne einer zwieträchtigen Harmonie zwei Wertesysteme nebeneinander in einer Gesellschaft gelebt werden können. Oder ob es eine Verpflichtung der Migranten zur Assimilation der gesamten deutschen nationalen Kultur gibt, an der sich die Migranten ohne „Wenn und Aber“ zu orientieren haben oder ob die Problemlösung irgendwo in einer vernünftigen Mitte liegt, die die synthetische Auflösung des Widerspruchs in sich trägt. (1) Die Idee des reinen Multikulturalismus Der Multikulturalismus in seiner konsequentesten Form fordert, dass die einheimische Bevölkerung moralisch verpflichtet sei die kulturelle Eigenart der Einwanderer in ihrer Ganzheit als gleichwertig und gleichberechtigt zu akzeptieren. Es wird eine Form des Nebeneinanders der Kulturen befürwortet, die sich auch bezüglich ihrer jeweiligen Wertordnungen und deren Zielen widersprechen dürften. Ausgangspunkt dieser These ist die der Theorie des radikalen Wertrelativismus entnommene moralische Forderung zur unbeschränkten absoluten Toleranz, d. h. der Forderung, jedem Menschen dessen eigene Religion und Kultur, d. h. dessen Identität zu lassen, wobei noch zusätzlich darauf hingewiesen wird, dass auch die Bürger der aufnehmenden Gesellschaft dies für sich in Anspruch nähmen. Diese Gedanken scheinen, Presseveröffentlichungen im Februar 2008 zufolge, auch das Oberhaupt der anglikanische Kirche, den Erzbischof von Canterbury Roman Williams veranlasst zu haben, eine begrenzte Anwendung des islamischen Rechts in England zu fordern. So soll es nach Williams Vorstellungen erlaubt sein, Ehe- und Geldstreitigkeiten gemäß der Scharia zu klären. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum Roman Williams der Auffassung war, dass damit kein fremdes oder rivalisierendes Recht eingeführt würde. Das englische Recht ist nämlich mit dem Eherecht der Scharia, welches sogar die Vielehe zulässt und auch ansonsten die Gleichheit der Frau ignoriert, nicht vereinbar. Es ist deshalb eher anzunehmen, dass der Erzbischof von einem Gedanken beeinflusst war, der in der Tat für die Zulassung eines reinen Multikulturalismus sprechen könnte, nämlich der unbeschränkten Toleranz. Es ist nämlich auf den ersten Blick schon etwas faszinierendes, den Zuwanderern ihre volle, auch religiöse Identität für das menschliche Zusammenleben in unserem Gesellschaftsraum zu belassen, auch wenn diese mit unseren Wertvorstellungen nicht nur nicht übereinstimmen, sondern mit diesen sogar gänzlich unvereinbar sind. Es hat den Anschein, dass es eine höhere Moral gar nicht geben könne. Bei alledem wird allerdings übersehen, dass der reine Multikulturalismus als einseitige Moralformel, die auf einem falsch verstandenen radikalen Werterelativismus beruht, schon aus philosophischen Gesichtspunkten nicht tauglich ist. Der Wert der Toleranz ist nämlich nicht der höchste Wert des menschlichen Zusammenlebens, sondern entspringt vielmehr dem Wert der Menschenwürde, der in seiner ganzheitlichen Bedeutung nicht nur einen ethischen Anspruch auf Achtung der eigenen Würde, sondern auch die ethische Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde des anderen

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fordert. Toleranz hat demgemäß dort seine wertimmanenten Grenzen, wo tolerantes Verständnis sich gegen den Wert der Menschenwürde schlechthin richten würde. Der Wert der Toleranz dient insbesondere nicht zur Rechtfertigung menschenunwürdigen Verhaltens. Hinzu kommt: Die Gesellschaftskultur der islamischen Zuwanderer orientiert sich an dem Willen Gottes und damit der Scharia. Dieser Kultur liegt somit ein gesellschaftsethisches Wertesystem zugrunde, welches schon dem höchsten Wert unserer Wertordnung nicht entspricht. Aber auch ansonsten ist die Gesellschaftskultur des Islam nicht mit unserem System kompatibel, weil das islamische System der menschlichen Würde und Toleranz bewusst nicht den weiten Raum einräumt, wie es in unserem System der Fall ist. Das zeigt sich besonders bei der sichtbaren Unterdrückung der Menschenrechte der Frauen. Würde man eine derartige Gesellschaftskultur neben unserer Kultur zulassen, würde dies in der Umkehrung wiederum zur Negation unserer Basiswerte führen. Toleranz könnte – wie Günther Lachmann es formulierte – somit auf Dauer zur „tödlichen Toleranz“ für die eigene Gesellschaftskultur werden. Um es nochmals deutlich zu sagen: Es geht nicht darum, den Zuwanderern willkürlich die eigene sittliche und religiöse Identität zu nehmen. Entscheidend ist vielmehr, dass es in einer Gesellschaft, in der für jeden Menschen gleichermaßen diese moralischen Werte und Achtungsansprüche und Achtungsverpflichtungen gelten, darauf bestanden werden muss, dass diese allgemein gültigen Wertvorgaben nicht dadurch ins Gegenteil verkehrt oder aufgehoben werden, dass man die Würde des einen zu Lasten der Würde und Selbstbestimmtheit des anderen uneingeschränkt zur Geltung kommen lässt. Die Selbstbestimmtheit des Einzelnen findet schon aus gesellschaftsethischen Gründen immer ihre Grenzen in der Selbstbestimmtheit des anderen, weil die Nichtachtung der Selbstbestimmtheit des anderen schon die Negation des eigenen sittlichen Anspruchs bedeutete. All dies ergibt sich unmittelbar aus der durchgängigen Polardialektik des Wertesystems selbst. Nun könnte man hiergegen einwenden, man vergleiche insoweit Äpfel mit Birnen, da die Menschenrechte und die Achtung des Wertes der Menschenwürde – wie wir die Werte verstehen – für einen streng gläubigen Muslime eben nur untergeordnete Bedeutung hätte, sobald Gottes Gesetze, nämlich die Scharia in Frage gestellt würden. Insoweit kann jedoch nur gelten: Es geht um das Zusammenleben von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, wo ein gesellschaftsethisches Wertesystem herrscht, welches auf der Anerkennung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit aufbaut. Hierbei handelt es sich um ein rein ethisches und auf der abstrakten Vernunft, d. h. unabhängig von der tatsächlichen jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung, gegründetes Postulat. Es kann sicherlich nicht verlangt werden, diese historischen und der ethischen Vernunft entsprechenden Errungenschaften zugunsten einer Gesellschaftskultur, die diese ethischen Werte nicht durchgängig in den Vordergrund stellt, ausgerechnet auch noch aus angeblich übergeordneten moralischen Gründen – wie dies die Befürworter der Multikulturalität fordern – aufzugeben.

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Unabhängig davon sprechen gegen die reine Form des Multikulturalismus folgende Überlegungen: Die konsequente Form des Multikulturalismus basiert der Sache nach auf der Theorie einer dialektischen Aufbewahrung der Gegensätze, der Annahme einer „zwieträchtigen Harmonie“ in einer Gesellschaft, die nicht nach synthetischer Auflösung dränge, weil gerade die Aufrechterhaltung der Bipolarität in einer Gesellschaft der Garant für ein gewisses Maß an Vitalität sei. Dieser Ansatz ist weder mit dem Wesen der Integration noch mit dem dialektischen Prozess der Integration, der auf gesellschaftliche Einheit gerichtet ist, in Einklang zu bringen, weil diese Einheit ja gerade nicht hergestellt werden soll. Wenn schon die Basiswerte als höchste Werte nicht zusammenpassen, sollte man auch nicht darauf vertrauen, dass eine Harmonie zwischen den unterschiedlichen Kulturen gelebt werden könnte. Die ethische Ausrichtung ist generell verschieden und läuft schon ihrer Struktur nach auseinander statt zusammenzulaufen. Deshalb kann es schon aus Gründen der Logik auf Dauer keine gesellschaftliche Einheit geben, wenn sich nicht die Zuwanderer oder gegebenenfalls sogar die Aufnahmegesellschaft in irgendeiner Weise den Basiswerten des jeweils anderen anpassen würden. Eine Synthese zwieträchtiger Kulturen gibt es ebenso wenig wie eine zwieträchtige Vielfalt in einer Einheit. Es wurde deshalb auch aus soziologischer Sicht zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, es sei gar nicht sinnvoll, einem Multikulturalismus das Wort zu reden. Eine Gesellschaft könne letztlich nämlich nur eine Kultur haben. Eine multikulturelle Gesellschaft im oben genannten Sinn würde dagegen aus mehreren verschiedenen Gesellschaften, die auf einem Territorium nebeneinander lebten, bestehen. Das hätte wiederum zur Folge, dass man von einer Gesellschaft spräche, obwohl im Extremfall zwischen Teilen ihrer Bevölkerung keinerlei Kommunikation und damit auch kein Zusammenleben bestehen würde.225 Die Unvereinbarkeit der Kulturen würde zudem in konsequent logischer Folge dazu führen, dass zwei nebeneinander bestehende Wert- oder Rechtssysteme (Parallelgesellschaften) akzeptiert werden müssten, weil eine multikulturelle Gesellschaft im genannten Sinne ihrem Wesen nach keine für alle Gruppen verbindlichen Werte kennt.226 Das würde nicht nur dem Gedanken der Integration, sondern auch der Einheit der Rechtsordnung widersprechen. Dass dies in keiner Weise akzeptabel wäre, ist evident und bedarf keiner näheren Begründung. Wer will schon in unserem Staat, dass die Scharia für Muslime neben dem deutschen Rechtssystem eingeführt wird; wer will schon, dass wir in unserem Rechtssystem Scharia-Gerichte zulassen, deren Entscheidungen auch unter unserem Grundgesetz bindenden Charakter haben, auch

225 226

Vgl. Hoffmann-Nowotny, Soziologische Aspekte der Multikulturalität S. 106 m.w.N. Tibi, Europa ohne Identität, S. 99.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

wenn sie dem Grundgesetz widersprechen227; wer will schon, dass Frauen und Männer nicht gleichberechtigt sind; wer will schon, dass Ehrenmorde legitimiert werden; wer ist schon für Zwangsheirat. Wer eine strenge und konsequente Multikulturalität in allen Bereichen wünscht oder fordert, müsste sich allerdings zwangsläufig hierzu bekennen. Er müsste zudem nachvollziehbar darlegen, warum die einheimische Bevölkerung auch noch moralisch verpflichtet sein sollte, dies zuzulassen und weshalb sie unmoralisch sei, wenn sie dies nicht täte. Ethisch und politisch kann die Anerkennung eines reinen Multikulturalismus im Ergebnis nur zur tatsächlichen Segregation der Zuwanderer im Verhältnis zu den Einheimischen führen. An dessen Ende kann gedanklich nur die politische Verwaltung von Konflikten stehen, zumal die Theorie des reinen Multikulturalismus auch kein Konzept anbietet, wie die Konfliktauflösungen, die zwangsläufig bei Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wertvorstellungen auftreten, zu erfolgen hätten. Es dürfte zudem so sein, dass derartige Konfliktauflösungen von den Vertretern dieser Theorie auch gar nicht gewollt sei dürften, da die dialektische Aufbewahrung von nicht miteinander zu vereinbarenden Gegensätzen damit ja „aufgehoben“ werden würde, was im Grunde dem philosophischen Konzept der Befürworter des reinen Multikulturalismus widersprechen würde. Wie dem auch sei: Gesellschaftliche Einheit sieht anders aus. Der Prozess zur Integration, der auf der ersten Stufe im Zustand von Multikulti beginnt, kann nicht auf dieser Ebene stehen bleiben. Das Stadium von „Multikulti“ kann im Rahmen der Gesamtintegrierung allenfalls ein vorübergehendes sein. Dies ändert nichts daran, dass der Theorie des Multikulturalismus im Sinne einer Antithese zu verdanken war, die Frage nach Toleranz und einem Kulturpluralismus als erste gestellt zu haben, indem sie darauf hinwies, dass die Bundesrepublik Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft sei. Dabei wurde allerdings gedanklich und politisch eine falsche Fährte gelegt. (2) Die Idee des „aufgeklärten Multikulturalismus“ Da die reine Form des Multikulturalismus sowohl ethisch als auch politisch nur ins Abseits führen konnte, wurde versucht, eine Formel zu finden, in der dem Multikulturalismus nicht vollends abgeschworen werden musste. Andererseits war klar, dass es die evidente Schwäche des reinen Multikulturalismus zu überwinden galt. Man entwickelte deshalb die These, dass zur gesellschaftlichen Perspektive einer pluralistischen, multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auch ethische und politische Zielvorgaben gehörten, die für eine möglichst identitätsschonende Integration, 227 Die Scharia Gerichte bilden in Großbritannien zwischenzeitlich ein paralleles Rechtssystem, bei dem nach muslimischem Recht verhandelt wird. Die Scharia Gerichte haben als Schiedsgerichte begonnen. Das war allerdings freiwillig und hatte im Prinzip vor einem englischen Gericht keinen Wert. Das ist neuerdings anders. Was die Scharia Gerichte auf Basis des Korans beschließen, ist auch unter der Krone rechtsgültig, was zu einer Zunahme der Scharia Gerichte geführt hat (aus Hessische Allgemeine vom 13. 10. 2009, PO2).

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d. h. eine Integration ohne Assimilation stünden (sog. aufgeklärter Multikulturalismus).228 Parteipolitisch wird dieser Ansatz am deutlichsten von der Partei der Grünen/ Bündnis 90 formuliert, die sich einerseits gegen Assimilation und eine Leitkultur ausspricht, andererseits politische Zielvorgaben wie die zentralen Werte der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der europäischen Verfassungstradition und unseres Grundgesetzes einfordert. Zudem wurde der Begriff der „multikulturellen Demokratie“ geprägt, womit man offensichtlich – ähnlich der Wertintegrationstheorie von Emile Durkheim und Talcoff Parsons – einen moralischen Handlungsrahmen im Sinne eines „einigenden Bandes“ meinte.229 Dem politisch-theoretischen Ansatz der Grünen/Bündnis 90 und den Vertretern einer sog. aufgeklärten Multikulturalität ist insoweit zuzustimmen, dass es im Rahmen der Integrierung in jedem Fall nötig ist, einen ethischen Wertkonsens und einen moralischen Wertrahmen anzustreben, der das gesellschaftliche Leben steuert und der Gesellschaft auch in ihrer multikulturellen Zusammensetzung gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Problematisch erscheint allerdings, ob dieser Theorieansatz, insbesondere die Forderung nach einer Integration ohne jedwede Assimilation trotz sich widersprechender Kulturen logisch aufgehen kann. Hinter der Theorie einer aufgeklärten Multikulturalität bzw. demokratischen Integration verbirgt sich der Sache nach nämlich nichts anderes als der Versuch, eine Synthese zwischen der reinen Multikulturalität einerseits und der Einhaltung der zentralen Werte der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der europäischen Verfassungstradition und unseres Grundgesetzes andererseits herzustellen. Eine derartige Synthese, die die Aufrechterhaltung einer reinen Multikulturalität unter Einhaltung der zentralen Werte gleichzeitig beinhaltet, kann jedoch nicht gelingen. Entsprechendes gilt, wenn versucht wird, unter Aufrechterhaltung der Idee des reinen Multikulturalismus ein „einigendes Band“ zu installieren. Es stellt sich nämlich die Frage, wie das „einigende Band“ bzw. der moralische Wertrahmen aussehen soll. Was bietet uns die Formel von der „multikulturellen Demokratie“ im Konfliktfall? Böte diese Formel den Muslimen nur die Berechtigung ihre religiöse Identität als Ausfluss ihrer verfassungsrechtlich gewährten Menschenwürde und ihrer Menschenrechte uneingeschränkt zu leben, dann wäre diese Formel nur ein Deckmantel für die Geltung einer reinen Multikulturalität. Oder verbirgt sich hinter dieser Formel, dass das Demokratieprinzip, die Menschenwürde und die Freiheit als oberste Werte auch für die Migranten uneingeschränkt gelten sollen, und hinter diesen Prinzipien als vorgegebenes einigendes Band oder Wertrahmen die religiöse Identität und die persönliche Kultur der Zuwanderer zurückstehen müssten? Das hätte zur Folge, dass die Zuwanderer die Menschenwürde als obersten Wert ebenso wie die staatliche Rechts228 229

Langenfeld, Identität und kulturelle Identität S. 271 m.w.N. Vgl. hierzu Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie, S. 240 ff.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

ordnung, die aus der demokratischen Legitimität der gesetzgebenden Gewalt folgt, bis hinein in die Anerkennung untergeordneter, mietvertraglich vereinbarter Hausordnungen hinein zu akzeptieren, ja zu assimilieren hätten. Wenn dem so wäre, würde es sich bei dem sog. „einigenden Band“ um nichts anderes handeln, als um die Anerkennung vorgegebener Kulturbestandteile. So hat jedenfalls Lachmann230 das „einigende Band“ verstanden, als er eine Übereinstimmung des Parteiratsbeschlusses der Grünen mit dem Gedanken der Leitkultur, den der CDU-Politiker Friedrich Merz postulierte, feststellte. Gegen eine derartige Ineinssetzung haben sich allerdings wiederum die Grünen/ Bündnis 90 klar ausgesprochen, indem sie sich von einer Leitkultur deutlich abgrenzten und jedwede Assimilation ablehnten. Damit wäre nach wie vor die Frage offen, wie das „einigende Band“ aussehen soll, wenn sich die Wertordnungen der aufnehmenden Gesellschaft und der Zuwanderer nicht in Einklang bringen lassen. Bei gegensätzlichen und in sich widersprüchlichen Wertsystemen, die zwangsläufig auch zu unterschiedlichen Wertentscheidungen führen, kann es auch kein einigendes Band oder einen Wertkonsens geben. Es geht eben nicht, dass man, wie es Heiner Geißler mit ähnlichen Worten gefordert hat, den Migranten, wenn sie es wollen, ihre kulturelle Identität lässt, aber gleichzeitig von ihnen verlangt, dass sie die universellen Menschenrechte und die Grundwerte der Republik achten. Damit würde man von den Migranten etwas verlangen, was sie gleichzeitig gar nicht leisten könnten. Bleibt noch der Hinweis auf das Prinzip der Demokratie, auf welches die Partei der Grünen/Bündnis 90 bei ihrem Gedanken der multikulturellen Demokratie Bezug nimmt.231 Kann – wie auch Habermas meinte232 – der demokratische Prozess das einigende Band darstellen? Das Demokratieprinzip ist im Gesamtkonzept des Grundgesetzes zusammen mit anderen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen in Artikel 20 I GG verankert und bildet u. a. eine Voraussetzung für die Mitwirkung der Bundesrepublik in der europäischen Union (Artikel 23 I GG). Zudem ist es in seinem Kernbereich auch gemäß Artikel 79 III GG gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber geschützt. Im Gesamtkonzept steht das Demokratieprinzip zudem im engen Zusammenhang mit der Garantie der Menschenwürde (Artikel 1 GG) und den sich daraus ergebenden Grundrechten (Artikel 2 ff. GG). Aus der Achtung und Anerkennung der Menschenwürde folgt, dass die Menschen und damit das Volk das beherrschende Element des Staatswesens bilden müssen. Entscheidend ist, dass das Volk die Grundlage der Staatsgewalt darstellt und dass die Ausübung der Staatsgewalt vom Volk ausgeht und wiederum dem Volk gegenüber verantwortet wer-

230

Lachmann, Tödliche Toleranz, S. 54 f. Unter multikultureller Demokratie versteht die Partei der Grünen/Bündnis 90 die demokratische Gestaltung multikultureller Realität http://www.gruene.de/fileadmin/user_up load/Dokumente/Wahlprogramm/BTW_Wahlprogramm 2009 final_screen_060709). 232 Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats, S. 19, 26. 231

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den muss. Nur unter diesen Voraussetzungen kann ein Staat als menschenwürdig bezeichnet werden.233 Ob die Berufung auf das Demokratieprinzip in der Integrationsdebatte hilfreich ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Dies folgt schon daraus, dass damit lediglich auf die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen verwiesen wird, woraus per se nichts für die Integration folgt. Hinzu kommt, dass dieser Gedanke noch falsch verstanden werden könnte, weil demokratische Legitimität nichts anderes bedeutet, als dass die Staatsgewalt gemäß Artikel 20 II GG vom Staatsvolk ausgeht. Darunter sind – jedenfalls nach der im Verfassungsrecht vorherrschenden Meinung – das deutsche Staatsvolk, d. h. der Gesamtheit der Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder gemäß der Sonderregelung des Artikels 116 GG den Staatsangehörigen gleichgestellt sind, gemeint. Ausländern, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen, fehlen dagegen die spezifischen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.234 Mit der Formel der multikulturellen Demokratie könnte deshalb assoziiert werden, dass die deutschen Staatsangehörigen allein durch freie Wahlen mehrheitlich bestimmen könnten, wie Multikulturalität bzw. das einigende Band auszusehen hätte. Dieser Gedanke ist zwar auf den ersten Blick reizvoll. Ein demokratisches Verständnis und Verfahren stellt immer auch ein Ausdruck der ethischen Selbstbestimmtheit der Gesellschaftsbürger dar. Allerdings dürfte dieser Gedanke, der dem philosophischen Relativismus entlehnt ist,235 nicht ungefährlich sein. Allein die mehrheitliche Abstimmung der Gesellschaftsbürger – und das vielleicht noch nach einem emotional aufgeheizten Wahlkampf – dürfte wohl kaum zu einer vernünftigen Begriffsausfüllung geeignet sein. Das beste Beispiel hierfür bietet der im November 2009 durchgeführte Volksentscheid in der Schweiz, in welchem sich die Mehrheit gegen den Bau von Minaretten aussprach. Es mag sein, dass dieses Abstimmungsergebnis seinen tieferen Grund darin hatte, dass die Schweizer eine politische Bremse hinsichtlich der Dynamik einer Integrationspolitik ziehen wollten, die – getrieben von der eigenen Ethik – die durchaus berechtigten Ängste der Bevölkerung vor einer schleichenden Islamisierung nicht ernst genug nimmt und ohne zu fordern nur einseitig „gibt“. Dennoch steht fest, dass die Religionsfreiheit als Menschenrecht selbstverständlich nicht Gegenstand einer Abstimmung sein kann, selbst wenn sie demokratisch legitimiert ist.

233

Maurer, Staatsrecht I, § 7, Rn. 18, S. 180. Maurer, Staatsrecht I, § 7, Rn. 22, S. 182. 235 Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 55: „Was Recht oder Unrecht ist, wird von der Mehrheit bestimmt und somit positiv gesetzt. Entsprechend haben die Sophisten Recht als die in einem demokratischen Prozess gesetzten Regeln definiert. Das von den Sophisten aufgeworfene Problem des Relativismus ist in unserer modernen, globalisierten und multikulturellen Gesellschaft unterdessen eine der größten Herausforderungen für die Rechtsphilosophie geworden.“ 234

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Aus meiner Sicht sollte deshalb unsere gesellschaftliche Integrationsdebatte nicht das Demokratieprinzip, sondern in erster Linie das gesellschaftsethische Wertesystem in den Vordergrund rücken. Nur so ist gewährleistet, dass auch die Werte der Würde und Freiheit des Menschen in ihrer Polardialektik der Maßstab für das gesellschaftliche Leben und der Integrationsdebatte bleiben. Nur so ist auch sichergestellt, dass sich Integration auch an einem philosophisch-ethischem Wahrheitsanspruch messen lassen muss, was dann nicht der Fall wäre, wenn es nur auf politische Mehrheitsverhältnisse ankäme. Diesem philosophisch-ethischen Wahrheitsanspruch trägt unsere Verfassung im Übrigen auch Rechnung, weil letztlich jedes demokratisch zustande gekommene Gesetz diesen Werten in einer verfassungsrechtlich kontrollierenden Güterabwägung Stand halten muss. Das heißt, dass es letztlich doch nicht nur auf demokratisch legitimierte Mehrheiten ankommt. Der in der Verfassung aufgenommene ethische Grundgedanke geht vielmehr dem demokratischen Mehrheitsgedanken vor, was mit den Worten, dass das Mehrheitsprinzip unter dem Vorbehalt rechtsstaatlicher Bindungen steht, umschrieben wird.236 Damit steht das Mehrheitsprinzip auch unter der Kontrolle des obersten Wertes der Menschenwürde, der nicht nur der oberste Wert eines philosophisch-ethischen Wertesystems oder unseres gesellschaftsethischen Wertesystems, sondern auch unseres Grundgesetzes als verrechtlichtes politisches Wertesystem ist. Das Demokratieprinzip hat somit dort seine Grenzen, wo es im Widerspruch zum Prinzip der Menschenwürde steht. So könnte z. B. die Todesstrafe auch aufgrund einer demokratisch legitimierten Willensbildung nicht eingeführt werden. Mit unserem Basiswert wäre es deshalb auch nicht vereinbar, wenn man eine islamische Demokratie237 in der Bundesrepublik Deutschland verankern wollte, die dem religiösen Gesetz der Scharia entsprechen müsste. Sollten sich also die Mehrheitsverhältnisse in unserem Land durch die Zuwanderung nachhaltig verändern, d. h. Zuwanderer islamischen Glaubens die Mehrheit in unserem Land darstellen und entsprechend dieser Mehrheit die Scharia kraft demokratischer Willensbildung mit all ihren Konsequenzen einführen wollen, würde dies mit unserer Verfassung nicht im Einklang stehen. Die Scharia als Gottes Gesetz steht nämlich mit dem Wert der Menschenwürde, der in unserer säkularisierten Verfassung vorrangig ist, durchgängig in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis. Es bliebe dann allerdings nur noch die Frage, wie lange es dauern würde, bis die Verfassung geändert würde.238 236

Maurer, Staatsrecht I, § 7, Rn. 64, S. 198. Dies wünschen sich laut einem Spiegelartikel (Der Spiegel vom 9. 06. 2008, S. 54) eine überwiegende Mehrheit der Muslime. Darunter versteht man ein demokratisches System, welches auf religiösen Grundwerten aufbaut, weil man ethisches Zusammenleben als Verpflichtung gegenüber Gott versteht. 238 Hierzu gibt es zunehmend mahnende Hinweise. Heitmann hat im Rheinischen Merkur vom 17. 12. 2009, S. 26 aus dem Gedicht des türkischen Schriftstellers Ziya Gökalp zitiert. Dort heißt es: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln 237

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Dieses Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Willensbildung und den philosophisch-ethischen Werten der Menschenwürde und menschlichen Freiheit, die in unserem Wertesystem Aufnahme gefunden haben, sowie der Trennung von Staat und Religion ist im Übrigen auch Gegenstand des Kopftuchurteils des türkischen Verfassungsgerichts im Juni 2008 gewesen. Das Verfassungsgericht in Ankara hat mit seinem Urteil das Kopftuchverbot an Hochschulen zementiert, obwohl die vom türkischen Volk demokratisch gewählten Gremien beschlossen hatten, dieses Kopftuchverbot für türkische Studentinnen zu lockern. Es ist hier nicht der Ort, darüber zu entscheiden, ob dieses Urteil, wie dies von vielen Rechtsexperten in der Türkei vertreten wird, die türkische Verfassung selbst wiederum gebrochen hat. Zu wünschen wäre es allerdings gewesen, wenn man nicht die Frage gestellt hätte, welche Rolle der Islam in einer Demokratie spielen soll und darf oder ob die Lockerung des Kopftuchverbotes als der Anfang einer Islamisierung der türkischen Republik gesehen werden kann. Richtig wäre vielmehr gewesen, die Frage nach den Menschenrechten und dem Wert der Menschenwürde generell in den Vordergrund zu rücken. Hätte man dies getan, hätte man unabhängig von der Frage, ob das Demokratieprinzip verletzt wurde, erkannt, dass es sicherlich nicht der Menschenwürde entspricht, Menschen wegen ihrer Kleidung oder Religion von der Bildung auszuschließen. Eines muss allerdings klar sein: Demokratie ist Ausfluss der Würde und ethischen Freiheit des Menschen und kann deshalb im Ergebnis nur funktionieren, wenn diese Basiswerte auch bei den Mehrheitsentscheidungen stets berücksichtigt werden. Ansonsten läuft die Demokratie im Ergebnis ins Leere. Es war deshalb nur folgerichtig, dass Kant in all seinen philosophischen Betrachtungen den Basiswerten diese herausragende, ja absolute Bedeutung für das menschliche Zusammenleben beigemessen hat und dies mit einer apriorischen Vernunft begründete.239 Kommen wir auf die Formel der Grünen/Bündnis 90 von der „multikulturellen Demokratie“ zurück: Sollten die Grünen/Bündnis 90 mit dieser Formel gemeint haben, dass zum Demokratieprinzip auch die rechtsstaatlichen Grenzen gehören, würde dies bedeuten, dass Integration sich an der gesamten Verfassungs- und Rechtsordnung auszurichten hätte. Das würde wiederum ganz stark dafür sprechen, dass man unbemerkt dann doch eine gewisse Nähe zum Postulat einer Leitkultur eingenommen hätte.240 Nichts anderes würde im Ergebnis auch für die Position der SPD unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Eine andere Strophe lautet: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ 239 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 9: „Jedermann muss eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse, … daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, … sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft … gründet.“ Vgl. auch Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 227. 240 Dafür spricht das Wahlprogramm 2009. Dort heißt es, dass es bei der Akzeptanz der Grundrechte, der Demokratie und der Freiheit andere „keinen kulturellen Rabatt“ geben könne. (http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Wahlpogramm/BTW_Wahlpro gramm2009final_screen_060709.pdf).

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und der Partei „Die Linke“ gelten, soweit diese von den Migranten – obwohl sie im Ausgangspunkt für eine Multikulturalität plädieren – die Einhaltung der Menschenrechte und der Verfassung fordern. (3) Leitkultur als Postulat Der Terminus der deutschen Leitkultur wurde vor allem von konservativen Politikern geprägt, als in der Integrationsdebatte plötzlich sichtbar wurde, dass gegenüber den Zuwanderern nicht mehr der politische Anspruch erhoben werden konnte, die in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland insgesamt gelebte Kultur übernehmen zu müssen, d. h. sie in Gänze zu assimilieren.241 Eine solche Forderung stand im elementaren Widerspruch zu den von der Gesellschaft selbst gesetzten und im Grundgesetz verankerten Basiswerten der Würde und Freiheit des Menschen, die ein hohes Maß an Kulturpluralität und Toleranz in der Gesellschaft bedingen. Dies galt vor allem auch für die Glaubensfreiheit der Migranten, die in immer mehr Urteilen der deutschen Gerichtsbarkeit ihre Bestätigung fand. Als dies klar wurde, stellte sich die Frage, welche Teile der deutschen Kultur die Migranten zu übernehmen hätten, um am Ende sagen zu können, dass eine gelungene Integration vorläge. Dabei ging man im Unterschied zu den Vertretern einer aufgeklärten Multikulturalität methodisch nicht von der Geltung einer reinen Multikulturalität aus und versuchte diese sozusagen einzugrenzen. Im Ausgangspunkt hatte man vielmehr die gesamte deutsche Kultur als Ausdruck der nationalen kulturellen Identität im Auge, die allerdings auf bestimmte wesentliche Kulturbestandteile, die in jedem Fall von den Zuwanderern anzuerkennen waren, eingeschränkt werden sollte. In diesem Zusammenhang kreierte der CDU-Politiker Friedrich Merz den Begriff der freiheitlichen deutschen Leitkultur. Diese enthielt die Hauptforderung, dass die Zuwanderer ihrerseits bereit sein müssten, die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland, die die Leitkultur ausmachen sollen, zu respektieren. Ergänzend wies Merz darauf hin, dass das kulturelle Miteinander nämlich an ihre Grenzen stoße, wo der Minimalkonsens zur Freiheit, zur Menschenwürde und zur Gleichberechtigung nicht mehr eingehalten würde. Wenn man die Umschreibung dessen, was Friedrich Merz unter Leitkultur versteht, liest, erkennt man schnell, dass er darunter keinesfalls die Forderung „Deutschland den Deutschen“ oder eine bedingungslose Assimilation der gesamten deutschen nationalen Kultur verstanden hat, auch wenn dies von seinen Kritikern immer wieder suggeriert wird. Im Gegenteil: Beim näheren Hinsehen stellt er genauso wie die Ver241 Dieses Anforderungsprofil scheint nach wie vor Sarrazin (Deutschland schafft sich ab, S. 308 f.) zu vertreten, indem er ausführt: „Für mich ist wichtig, dass Europa seine kulturelle Identität als europäisches Abendland und Deutschland seine als Land mit deutscher Sprache wahrt, als Land in Europa … aber doch mit deutscher Tradition … Soweit Immigration stattfindet, sollten die Migranten zu diesem Profil passen beziehungsweise sich im Zuge der Immigration anpassen. Ich möchte, dass auch meine Urenkel in 100 Jahren noch in Deutschland leben können, wenn sie es wollen.“

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treter einer aufgeklärten Multikulturalität darauf ab, dass von den Migranten bestimmte ethische Handlungsvorgaben eingehalten werden müssten. Der Unterschied zu den Vertretern einer aufgeklärten Multikulturalität besteht jedoch darin, dass er sich – was auch aus dem methodischen Ansatz folgt – klar und unzweideutig dazu bekennt, dass dieser Handlungsrahmen „ohne Wenn und Aber“ von den Migranten im Sinne einer vorgegebenen Leitlinie, deshalb wohl auch Leitkultur, eingehalten werden müsste. Der Ausdruck „Minimalkonsens“ ist deshalb nur verständlich, wenn man ihn als Erwartung an den Integrationsprozess versteht. Damit stimmt er mit dem Gedanken der europäischen Leitkultur von Bassam Tibi überein. Dieser hat für einen demokratisch-laizistischen sowie einen an der zivilisatorischen Identität Europas orientierten Wertkonsens als unerlässliche Klammer zwischen den Gruppen der multikulturellen Gesellschaft geworben, wobei er diese Klammer als europäische Leitkultur verstand, die er als Primat der Vernunft vor die religiöse Offenbarung stellte.242 Das Postulat der Leitkultur beinhaltet somit den Anspruch, Spannungsverhältnisse zwischen den Kulturen zugunsten der vorrangigen Leitkultur, die den Geltungsanspruch in sich trägt, im Rahmen eines Dialoges aufzulösen. Unklar bleibt indessen, was unter der geforderten Leitkultur inhaltlich zu verstehen ist. Nach Friedrich Merz handelt es sich um alle Regeln des Zusammenlebens in Deutschland. Diese Darlegung besagt erst einmal wenig, weil noch nicht einmal gesagt wird, ob es sich bei den Regeln um moralische oder rechtliche Regeln oder gar um Lebensstile handeln soll. Die Darlegungen werden auch dadurch nicht präziser, wenn Merz die Einhaltung der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als Minimalkonsens bezeichnet, weil damit zugleich zum Ausdruck kommt, dass dies nur ein Teil, nämlich nur der Minimalkonsens im Sinne einer Mindestanforderung einer umfassenderen deutschen freiheitlichen Leitkultur sein soll. Für die CDU, die den Terminus Leitkultur in ihrem Parteiprogramm übernommen hat, bilden die kulturellen Werte und historischen Erfahrungen, die die Grundlage für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft seien, unsere Leitkultur. Mit dieser Umschreibung ist auf den ersten Blick ebenfalls nichts gewonnen, da nebulös bleibt, welche kulturellen Werte und historischen Erfahrungen gemeint sind. Zudem kommt die Assoziation auf, dass damit alle Kulturgüter der deutschen Nation gemeint seien, was wiederum für die Integration bedeutete, dass eine vollständige Assimilation der deutschen Kultur insgesamt gefordert würde. Dies wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Begriff der Leitkultur hat nämlich im Parteiprogramm der CDU eine Einschränkung dahingehend erhalten, dass nur die kulturellen Werte und historischen Erfahrungen gemeint seien, die für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft die Grundlage bildeten. Dadurch wird der Sache nach die deutsche Kultur insgesamt teleologisch auf die Kulturgüter reduziert, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig sind. Welche Kultur das allerdings wiederum sein soll, bleibt offen. Es scheint so, als ob dies selbst wiederum einem gesellschaftlichen Selektionsprozess vorbehalten blei-

242

Tibi, Europa ohne Identität, S. XVII.

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ben soll,243 in dem die Leitkultur aus der Vielfältigkeit der in der Gesellschaft gelebten Kulturen erst herausgefiltert werden sollte. Der hierfür anzusetzende Maßstab dürfte wiederum die besondere Bedeutung für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sein. Andere Kriterien werden jedenfalls nicht angegeben. Spätestens hier wird deutlich, dass man sich methodisch im Kreis dreht, was besonders deutlich wird, wenn anklingt, dass die Leitkultur im Rahmen eines Konsenses über die Geltung gemeinsamer Orientierungen und Regeln zu finden sei.244 Sicher scheint insoweit nur zu sein, dass man unter der Leitkultur als Mindestmaß die Grund- und Menschenrechte sowie die freiheitlich-demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung versteht.245 Damit schließt sich im Übrigen wieder der Kreis zu einem Verständnis einer europäischen Leitkultur, wie es Bassam Tibi hatte. Dieser versteht unter dem Begriff der Leitkultur die individuellen Menschenrechte, eine säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie, Pluralismus sowie gegenseitige Toleranz. Aber auch diese Umschreibung ist ohne besondere positive begriffliche Schärfe, da man – unter Berufung auf das Primat der Vernunft vor göttlicher Offenbarung – den Begriff der Leitkultur in erster Linie nur als Abgrenzung zum Islam entwickelt.246 Angesicht der dargelegten Unschärfe verwundert es nicht, dass der Begriff der Leitkultur immer mehr zu einem politischen Schlagwort wurde, welches sogar diejenigen für sich nutzten, die unter Integration die Zwangsassimilation der deutschen Kultur insgesamt verstehen. Für die politische Linke war das Grund genug, nicht nur den Ausdruck, sondern auch das damit Gemeinte völlig abzulehnen. Dies obwohl Bassam Tibi, Friedrich Merz und die CDU mit Leitkultur gerade nicht die Assimilation der gesamten deutschen Kultur meinen. Nicht die Kultur der Deutschen insgesamt soll der Maßstab für die Integration sein, sondern nur ein bestimmter Teil davon, nämlich die Leitkultur, die als Kultur der Aufnahmegesellschaft eine Leitfunktion habe. Dennoch zeigt die ganze Diskussion: Auf den Ausdruck der Leitkultur, der auch der Wortassoziation nach keinerlei integrative Leistungsfähigkeit besitzt, sollte besser verzichtet werden. Dies gilt umso mehr als die Ausdrücke „deutsche Leitkultur“ oder „Leitkultur“ das Bild eines historisch negativ beladenen deutsch-nationalen Führungsanspruches hervorrufen könnten, der ohnehin innerhalb der Integrationsdebatte nichts zu suchen hat. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Gedanken, die im Rahmen der politischen Diskussion zur Leitkultur in Abgrenzung zur Multikulturalität vorgetragen werden, 243 Genauso unbestimmt ist es, wenn der CDU-Politiker Christoph Böhr, in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 44 ausführt: „Leitkultur meint, dass wir die Leitideen unserer Gesellschaft zu erkennen – und eben das macht aus unverbindlichen Meinungen eine unverwechselbare Kultur“. 244 Vgl. Norbert Lammert, in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 142. 245 Volker Kauder, in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 83. 246 Bogner, Ausverkauf der Menschenrechte, S. 59.

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durchweg falsch wären. Es ist sicherlich richtig, dass es Kulturbestandteile der Aufnahmegesellschaft gibt, die aus Gründen der philosophischen Ethik und der Vernunft heraus Geltung haben müssen, damit gesellschaftliche Systeme nicht in der Wertebeliebigkeit enden und zur Auflösung kommen. Insoweit ist Friedrich Merz und Bassam Tibi zuzustimmen, dass es keine beliebige Multikulturalität geben kann und schon von der Aufnahmegesellschaft selbst die Einhaltung bestimmter Werte verlangt werden muss. Dies gilt umso mehr, als die Verfassung als Ausfluss des gesellschaftsethischen Wertesystems selbst klare Wertvorgaben macht. Andererseits steht aber auch fest, dass das Postulat der Leitkultur mangels inhaltlicher Bestimmtheit keinen ausreichenden theoretischen Bezugsrahmen für eine gelungene Integration der Gesellschaftsbürger im Allgemeinen und der Migranten im Besonderen bieten kann. (4) Die monoplurale Integration – ein systemdialektischer Ansatz Die hier vertretene Integrationsidee orientiert sich an einem Integrationsbegriff, nach dessen Inhalt eine gesellschaftliche Integrierung in das Gesellschaftsganze stattfindet, welches durch das ganzheitliche Wertesystem der Aufnahmegesellschaft repräsentiert wird. Das bedingt die vorgegebene Geltung eines gesellschaftsethischen Wertesystems und der daraus entwickelten Verfassung sowie den hieraus wiederum abgeleiteten staatlichen Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland. Das Wertesystem ist nicht nur Bezugsrahmen der Integrierung bei Beginn des Integrationsprozesses. Die ethische Wertordnung des Gesellschaftsganzen ist und bleibt vielmehr auch im Rahmen der weiteren Integrierung die ausschließliche Bezugsgröße. Die Aufnahmegesellschaft ist nämlich in der gesellschaftspolitischen und ethischen Auseinandersetzung mit den Zuwanderern nicht gefordert, die von ihr ursprünglich in ihrem eigenen Gesellschaftsvertrag als ethisch richtig vereinbarte ganzheitliche Lebensordnung in Gänze „über Bord zu werfen“. Sie ist moralisch nur verpflichtet, ihre Lebensordnung den berechtigten Bedürfnissen der Zuwanderer bei Beibehaltung ihrer Gesellschafts- und daraus abgeleiteten Verfassungskultur anzupassen.247 Dies gilt umso mehr, als dieses Wertesystem als Ganzes sich über die alles beherrschenden Werte der Menschenwürde und der ethischen Freiheit definiert, in denen sich auch der Respekt und die Achtung vor der Selbstbestimmtheit des anderen widerspiegeln. Das Wertesystem hat somit auch eine philosophisch vernünftige Ausrichtung, die zudem noch aufgrund der ihr immanenten Toleranz und Pluralität kulturelle Ergebnisoffenheit fordert und zulässt, soweit nicht dadurch die durch den obersten Wert geprägten systemrelevanten Strukturen zerstört werden. . . 247

Hakki Keskin hat hierzu in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 97 ausgeführt: „An die hier lebenden kulturellen Minderheiten ist dagegen der begründetet Anspruch zu stellen, die universellen Menschenrechte … einzuhalten. Mit den Grundwerten der Bundesrepublik Deutschland, die im Grundsatz klar beschrieben sind, müssen sich die kulturellen Minderheiten unbedingt identifizieren.“

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Die auf dem Wert der Menschenwürde aufbauende humanistische Grundidee prägt unser Wertesystem als Monokultur, aus der wiederum Multikulturalität und Pluralismus folgt. Allein an dieser humanistischen Grundidee hat sich die gesellschaftsethische Integration zu orientieren. Nur diese Idee erscheint geeignet – wie dies auch von Julian Nida-Rümelin vertreten wird –, die grundlegenden Orientierungsprobleme multikultureller Gesellschaften zu lösen.248 Es ist deshalb für die Integrationsidee auch nicht zielführend, wenn im politischen Diskurs der Schwerpunkt auf die Suche nach Einzelwerten, die beziehungslos nebeneinander stehen, gelegt wird, anstatt die systematisch-ganzheitlichen Zusammenhänge einer Wertordnung in den Vordergrund zu rücken. So hat eine Expertengruppe aus Ethikern, Moralforschern und Soziologen auf dem Integrationsgipfel im Jahre 2007 doch tatsächlich versucht, die fünf wichtigsten Werte unserer Gesellschaft zu benennen, die man Migranten vermitteln könne oder sogar müsse. Dieser Versuch ist kläglich gescheitert. Die Expertengruppe konnte sich von 30 zur Auswahl stehenden Werten nämlich gerade mal auf die Werte der Freiheit und Gleichheit einigen, während über die anderen Werte kein Konsens herbeigeführt werden konnte.249 Damit ist allerdings nur die Sinnlosigkeit der Prozedur offenkundig geworden. Es stellt sich nämlich die Frage, was es gebracht hätte, wenn man sich tatsächlich auf fünf Werte hätte einigen können. Aus meiner Sicht hätte es völlig ausgereicht, die durchgängige Vorrangigkeit der Menschenwürde im gesellschaftlichen Miteinander hervorzuheben. Aus der Anwendung der Logik und Teleologie ergibt sich die übrige Struktur einer ganzheitlichen Wertordnung, deren Zweck es ja gerade ist, ethische Spannungsverhältnisse plausibel und transparent aufzulösen, von selbst. Mit einem orientierungslosen Wertesammelsurium ist das nicht zu erreichen. Der hier vertretene Ansatz ist monoplural. Das bedeutet in Anlehnung an Kants „Einheit in der Mannigfaltigkeit“, dass die gesellschaftliche Integration nicht nur als Einheit oder Vielheit begriffen werden darf, sondern sich Integration als Einheit und Vielheit darstellt. Monopluralismus bedeutet dabei, dass durch die Identifikation der Zuwanderer mit unserem Wertesystem, d. h. durch die gemeinsame gesellschaftsethische Zwecksetzung Einheit besteht und aufgrund der kulturellen Freiheiten des Einzelnen im Übrigen Vielheit in dieser Einheit vorherrscht. Die Theorie der monopluralen Integration grenzt sich somit sowohl vom Postulat einer Leitkultur als auch vom Multikulturalismus ab, auch wenn es selbstverständlich inhaltliche Schnittmengen gibt.

248 Vgl. Jörn Rüsen, in: Jordan/Nimtz, Lexikon der Philosophie unter Humanismus. NidaRümelin, Über menschliche Freiheit, S. 127 ff., 154 ff. vertritt einen ethischen Humanismus, dessen Regeln universalisierbar seien. An anderer Stelle (in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 204) spricht Nida-Rümelin von einem globalen normativen Grundkonsens, der für die Angehörigen aller gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen bindend ist. 249 Focus vom 19. 12. 2009, S. 57.

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Zum einen ist Bezugsrahmen einer gesellschaftlichen Integration weder die deutsche nationale Kultur, in der sämtliche Kulturelemente des ganzen Volkes einschließlich seiner geschichtlichen Entwicklung gebündelt sind, noch eine aus dieser Kultur herausgefilterte Leitkultur, für die es keine nachvollziehbaren Maßstäbe gibt. Das Wertesystem ist vielmehr in seiner Wertstruktur durch seine Basiswerte fest bestimmt und zudem als Teil der nationalen Kultur zu dieser positiv abgegrenzt. Die Einhaltung der Prinzipien der Menschenwürde, Freiheit und Demokratie müssen umgekehrt nicht zur Eingrenzung einer vorab gedachten uneingeschränkten Multikulturalität herhalten, wie dies die Vertreter einer aufgeklärten Multikulturalität im Ausgangspunkt fordern. Es macht nämlich keinen Sinn, zunächst von einer uneingeschränkten Pluralität von Moralvorstellungen und divergierender moralischer Neigungen aufgrund verschiedener kultureller Entwicklungen und ethnischer Unterschiede der Völker auszugehen und diese angebliche Pluralität anschließend wieder durch Prinzipien unserer Verfassung nachträglich einzuschränken, so dass von der ursprünglich versprochenen uneingeschränkten Pluralität, Multikulturalität und Toleranz im Ergebnis dann doch nicht mehr so viel übrig bleibt. Insoweit sollte man sich vielmehr – auch im Einklang mit dem der abstrakten Vernunft entsprechenden Integrationsbegriff – dazu bekennen, dass der Ausgangspunkt der Integrierung keine vorgegebene Multikulturalität, Toleranz oder Werterelativität bzw. -beliebigkeit, sondern nur das Wertesystem selbst ist, welches bereits in unserem gesellschaftlichen Raum gelebt wird. Der Umstand, dass in unserer Wertordnung keine fremden und unserem Wertesystem widersprechenden Wertordnungen in ihrer Ganzheit Geltung haben können, besagt jedoch nicht, dass die Migranten, die ihren eigenen speziellen kulturellen Hintergrund haben, ihre Kultur- und Wertvorstellungen in Gänze aufzugeben hätten. Diese Folgerung wäre fatal, da übersehen würde, dass es selbstverständlich aufgrund des in unserem gesellschaftsethischen Wertesystem und Grundgesetz angelegten Kulturpluralismus einen systemimmanenten, d. h. im Wertesystem selbst verankerten Multikulturalismus gibt, der zwar die Anerkennung des Wertesystems als solchem einschließlich der geltenden Basiswerte voraussetzt, andererseits aber auch anerkennt, dass der menschlichen Würde und Freiheit der Migranten die gleiche ethische Wertgeltung zukommt wie derjenigen der Mehrheitsgesellschafter selbst. Daraus folgt wiederum, dass die Migranten als Ausfluss ihrer personhaften Existenz ihre Kultur uneingeschränkt leben dürfen, solange diese mit dem Wertesystem der Aufnahmegesellschaft als Ganzem, insbesondere der darin enthaltenen Vorrangigkeit der Menschenwürde, übereinstimmt. Diese Wertebasis ist die Grundlage für die Begegnung und den Austausch unterschiedlicher Kulturen; an dieser Basis hat sich auch die Ausbildung einer transkulturellen Identität, wie sie von Seyran Ates beschrieben wird, zu orientieren. Multikulturalität ist somit zugesagt, allerdings nicht unbeschränkt, sondern nur wertsystemimmanent. Man sollte deshalb allenfalls von einer „systemimmanenten Multikulturalität“ sprechen, da hierdurch klargestellt wird, dass eine Multikulturali-

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

tät, die außerhalb des Wertsystems steht, mit Integration jedenfalls nichts zu tun hat. Multikulturalität kann es nur unter dem „einheitlichen Dach“ unseres ethisch-humanistischen Wertesystems geben.250 Dem kommt es nahe, wenn der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Amartya Sen sich gegen die Tolerierung von Unfreiheit im Namen kultureller Vielfalt wehrt und für einen echten Multikulturalismus auf der Basis der Freiheit plädiert, weil kulturelle Vielfalt nicht bedingungslos sein könne.251 Die monoplurale Integration ist somit eine systemdialektische Integration. Damit wird einerseits ausgedrückt, dass das System als solches der originäre und ausschließlich relevante Bezugsrahmen der Integrationsidee ist, innerhalb derer man auch von einer systemrelevanten Integration sprechen könnte. Andererseits folgt aus der Systemdialektik, dass sich Integration in ihrer Ausgestaltung am Wertesystem und dessen würdevollen, freiheitlichen und toleranten Ausrichtung zu orientieren hat. Insoweit erfordert Integration auch ein an Interkulturalität orientiertes Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen.252 Integration beinhaltet in der Synthese somit analog der Polardialektik des Wertesystems253 beides: Gebundenheit und Freiheit. Nur durch die Teilhabe an beiden Seiten, nur durch Freiheit in ethischer Gebundenheit finden alle gesellschaftlichen Akteure selbst Integration in das Gesellschaftsganze. Nur so ist gesellschaftlicher Zusammenhalt, Einheit und damit friedvolles Zusammenleben aller Gesellschaftsbürger im realen Zusammenleben möglich.

250 Philosophisch gesehen stellt die systemimmanente Multikulturalität, in die alle zusätzlichen und bereichernden Kulturelemente einer bis dahin fremden Kultur einfließen, somit eine Synthese zwischen einem reinen Multikulturalismus einerseits, die auch das Nebeneinander verschiedener Wertordnungen in einem gesellschaftlichen Raum zulassen würde, und einer vollständigen Assimilation aller nationalen Kulturbestandteile andererseits dar. Diese Synthese besteht darin, dass die Zuwanderer einerseits die gesellschaftsethische Kultur der Aufnahmegesellschaft, d. h. das Wertesystem in seiner Ganzheit zu assimilieren haben; ihnen andererseits aber die aus dem Wertesystem selbst fließende Multikulturalität und Pluralismus zu Gute kommen, d. h. sie im Übrigen ihre Kultur frei leben können. 251 Sen, Welt am Sonntag vom 20. 08. 2006, Forum 11. 252 Hakki Keskin, in: Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur, S. 100. 253 Diesem monopluralistischen Integrationsansatz entspricht die philosophisch-ethische polardialektische Ausrichtung des Wertesystems (Freiheit in Gebundenheit). Einerseits gibt es den verbindlichen Teil des ethischen Wertesystems, der sich für den Bürger letztlich vor allem in der konkreten Geltung der in der Rechtsordnung verkörperten Werten, Wertentscheidungen und Normen zeigt. Durch diesen verbindlichen Teil ist gewährleistet, dass alle Gesellschaftsbürger und gesellschaftlichen Gruppen mit dem Gesellschaftsganzen und den anderen selbständigen Einheiten der Gesellschaft und Individuen in ihren Wertvorstellungen übereinstimmen und insoweit gesellschaftliche Einheit besteht. Andererseits enthält das Wertesystem auch einen ungebundenen Teil, der ethische Berechtigungen, Teilhabe, Pluralität und kulturelle Freiheiten gewährt, wonach jeder Zuwanderer in die Lage versetzt wird, eigene kulturelle Standards, Lebensstile und Bräuche zu leben.

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2. Die Integrierung – ein Identifikationsprozess mit dem gesellschaftsethischen Wertesystem a) Gesellschaftsethische Integration – die Synthese eines vernünftigen dialektischen Bewusstseinsprozesses Bei der gesellschaftlichen Integrierung handelt es sich ihrem Begriff nach um den Prozess selbst, der auf die Identifikation mit dem gesellschaftsethischen Wertesystems als Ganzheit gerichtet ist. Das Hervorbringen von Werten und deren Erfassung ist geistiger Natur. Das gilt ebenso für gesellschaftsethische Werte, die Werte der Gesinnung sind.254 Dementsprechend handelt es sich bei dem Identifikationsprozess mit einem Wertganzen in erster Linie um einen Bewusstseinsvorgang, wobei nicht übersehen wird, dass das Wertesystem sowie der Bewusstseinsprozess selbstverständlich im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Handlungsprozesse nicht nur in das reale Leben ausstrahlen, sondern auch durch die realen Lebensprozesse bedingt werden. Dass es sich bei der Integrierung in das Gesellschaftsganze vor allem um einen Bewusstseinsprozess handelt, wird deutlich, wenn man sich die Integrierung von Migranten ansieht, deren Wertvorstellungen – wie z. B. bei den Italienern, Spaniern und Portugiesen – mit den Wertvorstellungen der Gesellschaft der Bundesrepublik übereinstimmen. Diese Zuwanderer haben wegen ihrer gleichartigen, am obersten Wert der Menschenwürde orientierten Gesinnung keine Probleme sich in das Wertesystem der Bundesrepublik einzufinden. Insoweit kann es schon logisch keine Integrationsprobleme in das Gesellschaftsganze geben. Wenn bezüglich dieser Zuwanderungsgruppen dennoch von mangelnder Integration die Rede ist, handelt es sich um Problemfelder, die nicht die Integrierung in die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Es handelt sich vielmehr um Fragestellungen, die bei jeder sozialen Integration in einzelne soziale Systeme, wie Schulsysteme, Erwerbssysteme und Stadtgesellschaften auftreten können. Diese Probleme sind jedoch – bis auf eventuelle Sprachprobleme – strukturell nicht wesentlich verschieden zu denen, die auch Einheimische haben oder haben könnten, vorausgesetzt die Mehrheitsgesellschaft hält sich ihrerseits an ihr menschliches und freiheitliches Wertesystem und ist nicht zuwanderungs- und ausländerfeindlich. Der Migrationshintergrund selbst spielt somit bei Zuwanderern mit gleichem gesellschaftsethischem Wertverständnis bei der Integrierung in das Gesellschaftsganze in der Regel keine Rolle. Die Integrierung in das Gesellschaftsganze ist dagegen vielschichtiger, komplexer und viel komplizierter, wenn sowohl die Zuwanderer als auch die Aufnahmegesellschaft von gegensätzlichen Wertvorstellungen geprägt sind, wie dies bei muslimischen Migranten der Fall sein kann, da nicht miteinander zu vereinbarende Wertsysteme aufeinanderprallen. Es bedarf deshalb gesellschaftlicher Bewusstseinsprozesse, um diese Spannungsverhältnisse aufzulösen. 254

Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, unter Ethik.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Dieser gesellschaftsethische Bewusstseinsvorgang bildet sich in der Dialektik Hegels ab, die nicht nur ein Prinzip des Denkens sondern auch das Prinzip der Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellt. In der Überwindung der dabei auftretenden Gegensätze liegt nach Hegel das einzige Interesse der Vernunft.255 Im Rahmen der Integrierung, die der Sache nach nichts anderes als die Aufhebung des Gegensätzlichen darstellt, ist dabei die „These“ das gesellschaftsethische Wertesystem als das Leitbild der gesellschaftlichen Ganzheit. Dies steht im Spannungsverhältnis zur „Antithese“, nämlich den Wertvorstellungen der Zuwanderer in ihrem Anderssein. Der durch die Dialektik angetriebene gesellschaftliche Prozess durchdringt die in der Realität auftretenden Gegensätze und führt zur Synthese hin, wobei das Ziel, auf das dieser Prozess mit einer ständigen Überwindung der Gegensätze hinsteuert, sich in der Integrationsidee äußert, die dem Begriff der Integration entspricht. Jede Stufe der Entwicklung in ihrem jeweiligen Stadium zielt dabei auf die endgültige Verwirklichung der Integrationsidee ab, die ihrerseits mit dem Zweck des Wertsystems identisch ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Gruppen der Einheimischen wie Zuwanderer im Rahmen des Gesamtprozesses parallel eine eigene bewusstseinsmäßige Entwicklung erleben, die mehrere Ebenen durchläuft und bei denen die beiden Einzelprozesse zudem in einer wechselseitigen Bedingtheit stehen.256 Der dialektische Bewusstseinsprozess insgesamt spiegelt damit das geistige Zusammenwirken und die Kommunikation aller Akteure untereinander und miteinander wider. Für das Gelingen der Integrierung selbst ist jedoch allein entscheidend, dass diese beiden wechselbezüglichen Bewegungen auf das gleiche Ziel, nämlich auf die Idee der gesellschaftlichen Einheit und damit auf die Idee der Integration gerichtet sind. Dabei ist nochmals klarzustellen, dass gesellschaftliche Einheit ausschließlich durch eine gemeinsame, freiwillige und selbstbestimmte ethische Zwecksetzung hergestellt wird. Der Prozess wird maßgeblich durch die Integrationsidee, nämlich das, was unter Integration vernünftigerweise verstanden werden muss, geprägt. Damit kommt der Vernunft einschließlich dem begrifflichem Denken sowie dem Diskurs hierüber eine bedeutende Rolle zu. Ein solcher vernünftiger Diskurs ist allerdings nicht zu verwechseln mit einem Aushandeln von gegenseitigen Interessen. Es ist auch nicht so, dass im Rahmen eines gesellschaftlichen politischen Dialogs erst geklärt werden müsste, was man unter Integration politisch wünschenswert verstehen will. Schon gar nicht darf man das politisch Machbare zur Idee erklären. Über die Idee selbst kann es keinen politischen Kompromiss geben,257 wie auch für Hegel die Synthese kein Kompromiss darstellte. 255

Edmundts/Horstmann, G.F.W. Hegel, S. 25. Das ist gemeint, wenn Schulte, Politikkonzepte, S. 19 ausführt: „In jedem Fall haben Vorgänge der Integration einen komplexen, umfassenden und multidimensionalen Charakter.“ 257 All dies gilt umso mehr, als unser Wertesystem, welches Orientierungspunkt und Maßstab des Dialogs zwischen den Kulturen ist, selbst den Anforderungen der philosophischethischen menschlichen Vernunft entspricht und nicht menschenverachtend ist. Dieses System 256

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Eine gelungene Integrierung in das Gesellschaftsganze bildet vielmehr einen dialektischen Bewusstseinsprozess ab, der durch vernünftige, ethische und politische Diskurse und Dialoge geprägt ist, in welchem die Akzeptanz des Wertesystems durch die Migranten im Spannungsverhältnis zu den eigenen Wertvorstellungen fortschreitet und in der Identifikation mit unserem Wertesystem endet. Erst wenn die Zuwanderer sich die Idee des Wertesystems in ihrem Handeln zu eigen machen, werden sie gesellschaftliche Akteure Teil des Gesellschaftsganzen.258 Der Zustand der Integration ist insbesondere dann erreicht, wenn die Zuwanderer das Wertesystem, vor allem deren Basiswert, aus dem wiederum alle konkreten Wertentscheidungen abgeleitet werden können,259 im Rahmen eines gesellschaftlichen Wertkonsenses freiwillig und aus eigener Überzeugung mitbeschließen würden. Erst wenn diese bewusstseinsmäßige einheitliche Zweckverfolgung besteht, entsteht gesellschaftliche Einheit zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Zuwanderern. Erst dann ist die letzte Stufe der Integrierung, d. h. der Übergang zum Zustand der Integration sozusagen als die „Aufhebung“ des Gegensätzlichen in der These erreicht. Erst dann ist ein Zustand erreicht, der dem Begriff der Integration entspricht. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser ganzheitliche, sich wechselseitig beeinflussende Bewusstseinsprozess nicht einfach vollzieht. Es stehen nicht nur die unterschiedlichen Kulturen im Konflikt. Auch die Aufnahmegesellschaft sowie die Gruppe der Migranten selbst stellen kein homogenes Gebilde dar. In den jeweiligen Gruppen selbst wirken vielmehr Ängste, Vorurteile und sonstige emotionale Kräfte einer Integrierung entgegen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn es bei so viel Widersprüchlichem und Gegensätzlichem, welches seiner Idee nach in einer Einheit enden soll, auch zur Stagnation oder gar zu Rückschritten, d. h. zur zwischenzeitlichen Desintegration kommt. Umso wichtiger ist es deshalb, wenn im Rahmen des dialektischen Prozesses selbst das Ziel der Integrierung nicht aus den Augen verloren wird.

ist deshalb grundsätzlich geeignet, Gegenstand einer freiwilligen rationalen Zustimmung zu sein. Angesichts der freiheitlich demokratischen Ausrichtung unseres gesellschaftsethischen Wertesystems dürfte deshalb auch kein Zuwanderer rational begründbare Zweifel an der Übernahme dieses gesellschaftsethischen Wertesystems in seiner Ganzheit haben. Das zeigt: Eine zustimmende Haltung zur Integration ist umso größer – wie bei einem anderen Vertragsabschluss auch – wenn der ethische Vertragsinhalt – sprich das Wertesystem – selbst philosophisch vernünftig ist. 258 Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 85. 259 Das darf nicht zu dem Irrtum verleiten, dass es eigentlich nur darauf ankäme, dass die Zuwanderer die Werte der Menschenrechte annähmen. Selbst wenn man unser Verständnis von den Menschenrechten voraussetzte, muss man auch die Rangfolge dieses Wertes sowie seine Wirkung innerhalb des Wertganzen im Auge behalten. Das hat wiederum zur Folge, dass es nicht auf einen isolierten Wert sondern auf das Ganze ankommt, im Rahmen dessen sich die Wertfolgen einer stetigen vernünftigen gesellschaftsethischen und politischen Abwägung zu unterziehen haben, wobei sich jede Wertentscheidung jedoch stets an der Würde und Freiheit des Menschen einschließlich der Menschenrechte messen lassen müssen.

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b) Gesellschaftsethische Identifikation – ein innerer Überzeugungsakt Gesellschaftliche Integration besteht in dem Zustand der Identifikation mit dem gesellschaftsethischen Wertesystems, welches Gegenstand des Gesellschaftsvertrages ist. Die Identifikation mit dem Wertesystem ist dabei als die Übernahme des gesellschaftsethischen Wertesystems in das eigene Ich zu verstehen. Es geht dabei um die innere Übereinstimmung mit demselben. Zur Integration und damit zur Identifikation gehört somit die Internalisierung der Wertordnung einschließlich deren Wertrangfolgen,260 d. h. die innere Überzeugung, dass das Wertesystem als Ganzes das richtige ist. Nur eine derartige Identifikation gewährleistet eo ipso die Übereinstimmung von äußerem Verhalten und innerer Überzeugung. Von einer Identifikation kann dagegen nicht gesprochen werden, wenn der Zuwanderer lediglich die subjektive Bereitschaft erklärt, sich in seinem äußeren Verhalten an den Anforderungen des Wertesystems der Mehrheitsgesellschafter auszurichten, sich innerlich allerdings nach wie vor von gegensätzlichen Wertvorstellungen, die er nach wie vor für richtig hält, leiten lassen will. Dies wäre z. B. der Fall, wenn ein Muslim nur deshalb keinen Ehrenmord beginge, weil er ansonsten wegen Mordes bestraft würde, er und seine community jedoch nach wie vor der Überzeugung wären, dass der Ehrenmord – sozusagen zur Verteidigung des Ehrenkodexes – moralisch gerechtfertigt und an sich notwendig gewesen wäre. Oder wenn ein muslimischer Ehemann nur aus der Angst vor Strafe von der Ausübung von Gewalt gegenüber seiner Ehefrau absähe, obwohl er selbst von der Richtigkeit der Gewaltanwendung überzeugt wäre. Diese Einstellung wird in der Soziologie als Stadium der Akkomodation beschrieben. Danach ist der Zuwanderer nur bereit sich einem äußeren Anpassungsprozess zu unterziehen, um in der Gesellschaft überhaupt interaktions- und arbeitsfähig zu sein, ohne jedoch seine inneren Überzeugungen grundlegend zu ändern.261 Es geht dabei um ein äußeres Arrangement, um die Ermöglichung des ungestörten äußeren Nebeneinanders, während die ethischen Einstellungen noch im Gegensätzlichen liegen.

260

Eine Integration der Individuen durch Internalisierung (Verinnerlichung) von Werten und Normen haben die Soziologen Emile Durkheim und Talcoff Parsons vertreten (vgl. http:// de.wikipedia.org/wiki/Internalisierung_ (Sozialwissenschaften)), wobei allerdings unter Normen und Werten nicht das ethische Wertesystem in dem hier vertretenem Sinne verstanden wurde. 261 Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, S. 168. Dieser Zustand entspricht der Situation wie sie oft bei Gastarbeitern oder vorübergehend in der Bundesrepublik lebenden Ausländern aus einem anderen Kulturkreis in der Regel vorherrscht. Die Personen lebten in der Bundesrepublik nach dem Gesetz, ohne die dahinter stehenden Wertvorstellungen als richtig zu akzeptieren und mit dem Bewusstsein, über kurz oder lang ohnehin wieder in ihr Heimatland zurückzukehren.

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Ein derartiges Arrangement ist nicht geeignet, die gesellschaftsethischen Spannungsverhältnisse, die zwischen den Zuwanderern und Mehrheitsgesellschaftern bestehen, aufzulösen, da die inneren Gegensätzlichkeiten nicht beseitigt würden. Grundsätzlich gegenläufige Wertvorstellungen sind nicht geeignet gesellschaftliche Einheit zu begründen, da letztlich ein ehrliches „Ja“ der Zuwanderer zu unserer Wertordnung fehlen würde. Dementsprechend kann nicht angenommen werden, dass die betreffenden Zuwanderer – könnten sie sich frei und entsprechend ihrer Überzeugung entscheiden – unserem Gesellschaftsvertrag freiwillig beitreten würden. Nicht identifiziert haben sich meines Erachtens die Zuwanderer auch dann, wenn sie zwar kein anderes Wertesystem als richtig anerkennen, von unserem Wertesystem allerdings – sei es z. B. aus Gleichgültigkeit oder Desinteresse – ebenfalls nicht zu überzeugen wären. Auch in derartigen Fällen bestünde zwischen dem äußeren vertragsgerechten Verhalten und der inneren Haltung letztlich kein Gleichklang. Es ist somit festzuhalten: Nach dem Begriff der Integration ist nur derjenige vollends integriert, der zu unserer monopluralistischen Wertordnung freiwillig und aus ethischer Überzeugung „Ja“ sagt. Das ist derjenige, der davon innerlich überzeugt ist, dass der Wert der Menschenwürde und der korrespondierende Wert der Menschenrechte als oberste Werte eines Wertesystems das menschliche Zusammenleben in jeder Hinsicht ethisch prägen soll. Der wahre gesellschaftliche Zusammenhalt kann sich erst ergeben, wenn der Zuwanderer die innere Überzeugung hat, dass das gesellschaftliche Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft für ihn das Richtige ist. Erst durch die identische Gesinnung kann die zur gesellschaftlichen Einheit notwendige Identität herbeigeführt werden und nur so können – wie schon Johann Wolfgang von Goethe sagte – Menschen vereinigt werden.262 Um allerdings an dieser Stelle nicht falsch verstanden zu werden: Es geht bei der Frage, ob man das gesellschaftsethische Wertesystem aus innerer Überzeugung heraus richtig findet, nicht vorrangig um konkrete rechtliche oder gesellschaftsethische Wertentscheidungen im Einzelfall, die man meint aus dem Wertesystem und dessen monopluralistischer Struktur ableiten zu können. Diese können – nicht zuletzt wegen der Polardialektik des Wertes der Menschenwürde selbst – im jeweiligen Einzelfall außerordentlich umstritten sein, weil es durchaus mehrere ethisch vertretbare Wertentscheidungen geben kann. Insoweit ist jederzeit eine spannungsgeladene und kontroverse Diskussion, in der man sich über richtige Entscheidungen streitet, zulässig und erforderlich. Nein: Es geht um die grundsätzliche innere Anerkennung einer gesellschaftsethischen Wertordnung, in der nicht die Nation, der Staat, der Wille Gottes oder der radikale Egoismus263 des Menschen das oberste gesellschaftsethische Prin262

Schischkoff, Philosophisches Lexikon, unter Gesinnung. Der Egoismus ist Eigenliebe und ein Verhalten, welches vom Gedanken an das eigene Ich beherrscht und geleitet wird. Der Egoismus ist zunächst ein Ausfluss des natürlichen Selbsterhaltungstriebes, der auch ethisch vom Wert des Lebens gefordert wird. Er ist notwendig zur Erkenntnis und Verwirklichung der Persönlichkeitswerte und zur Erfüllung der sittlichen Pflicht, die eigenen Anlagen und Fähigkeiten zur größtmöglichen Vollendung zu bringen. Er wird allerdings ethisch verwerflich, wenn dem fremden Leben oder der fremden Persönlichkeit 263

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zip ist, sondern die Existenz und Würde des Menschen mit seiner Anlage zur freien Entschließung selbst. Es geht um die Überzeugung, dass all das, was mit dem Basiswert der Würde des Menschen nicht in Einklang zu bringen ist, ethisch nicht richtig sein kann.264 Dies gilt für Zuwanderer wie für Mehrheitsgesellschafter gleichermaßen. Für die Integration von Zuwanderern wie auch von Einheimischen kann nämlich nichts anderes gelten, da ansonsten der Begriff der gesellschaftlichen Integration in seiner Allgemeinheit falsch wäre. c) Gesellschaftsethische Identifikation – keine menschenunwürdige Assimilation In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob die Verinnerlichung des Wertesystems als das richtige nicht auf eine Assimilation desselben hinaus läuft. Über die Assimilation von Zuwanderern ist schon viel diskutiert worden. In der Regel verbirgt sich hinter dem Gebrauch dieses Begriffes die Anpassung der Minderheit an die Mehrheit, wobei Assimilation nicht nur die kulturelle Übernahme von Sprache, Bräuchen und Sitten, sondern auch die emotionale Ebene wie die Identifikation mit der anderen Gruppe beinhalten soll.265 In diesem Sinne versteht HoffmannNowotny unter Assimilation die Internalisierung aller Werte, Normen und Gebräuche der Aufnahmegesellschaft. Heckmann betont, dass der Assimilation nicht nur die vollständige Übernahme der Kultur der Mehrheitsgesellschafter durch die bisherige ethnische Minderheit, sondern auch das Verschwinden zuvor existierender ethnischer Grenzziehung bzw. die Auflösung der eigenen Identität der Zuwanderer immanent sei. Teilweise wird unter Assimilation auch ein gezieltes „Aufzwingen“ der Eigenschaften und Einstellungen der dominanten Gesellschaft (Dominanzkultur) verstanden,266 womit die Entfremdung von der gesamten eigenen Kultur herbeigeführt werden soll. Nach der hier vertretenen Integrationsidee hat eine derartige Deutung von Assimilation mit gesellschaftlicher Integration nichts zu tun. Integration bedeutet nämlich nicht Internalisierung aller Werte, Normen und Bräuche, die in der Aufnahmegesellschaft gelebt werden. Durch die Bezugnahme auf das Wertganze als Gegenstand der Integration wird vielmehr deutlich, dass der Zuwanderer zunächst erst einmal in all seinen systemimmanenten kulturellen Entscheidungen frei ist. Gerade das Wertesysweniger Wert als der eigenen beigemessen wird (Schischkoff, Philosophisches Lexikon, unter Egoismus). 264 In diese Richtung geht es im Übrigen, wenn die Vertreter des Kommunitarismus die Auffassung vertreten, dass die Integration des Gemeinwesens nicht über abstrakte politische Prinzipien erfolgen könne, sondern nur über die gemeinsame Auffassung des Guten, d. h. über gemeinsame ethische Prinzipien (vgl. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 314). 265 http://de.wikipedia.org/wiki/Assimilation (Soziologie). 266 http://de.wikipedia.org/wiki/Assimilation (Soziologie).

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tem garantiert in seiner dialektischen Umkehrung dem Zuwanderer nämlich, dass er keine speziellen deutschen Gruppenkulturen, Bräuche, Sitten und Lebensstile mit ihren spezifischen Zwecksetzungen übernehmen muss, wie dies der Begriff der Assimilation, der sich in seiner allgemeinsten Form auf die Übernahme der ganzen nationalen Kultur bezieht, nahe legt. Andererseits darf nicht geleugnet werden, dass gesellschaftsethische Integration selbstverständlich im Rahmen eines systemdialektischen Identifikationsprozesses immer auch die Internalisierung des Wertesystems bedeutet. Ohne eine derartige Identifikation, die eine Assimilation des Wertganzen voraussetzt, wäre gesellschaftliche Integration als gesellschaftliche Einheit nicht möglich. Nur wenn Einheimische und Zuwanderer in ihrer gesellschaftsethischen Gesinnung teilidentische Mitglieder des Gesellschaftsganzen werden, ist Integration erreicht. Um jeglichem Missverständnis vorzubeugen: Zur gesellschaftsethischen Integration gehört begrifflich gesellschaftsethische Identifikation und damit auch eine gesellschaftsethische Anpassung als eine Assimilation besonderer Art. Diese hat nichts mit der Forderung nach einer vollständigen Assimilation der nationalen Kultur zur Wahrung der kulturellen Identität Deutschlands zu tun, wie dies bei Thilo Sarrazin anklingt.267 Bei Reduktion aller Gedanken auf das Wesentliche geht es letztlich nur um die uneingeschränkte Identifikation mit dem Wert der Menschenwürde und zwar – und das ist das eigentlich Entscheidende – als dem gesellschaftsethisch höchsten und für alle gesellschaftlichen Wertabwägungen maßgeblichen Wert. Aus einer derartigen gesellschaftsethischen Identifikation, die lediglich eine Teilassimilierung der nationalen Kultur der Aufnahmegesellschaft darstellt, folgt vom Begriff her wiederum die kulturelle Freiheit des Zuwanderers, die aus dem Wert der Würde des Menschen fließt. Dem Begriff der Integration, wie er hier vertreten wird, ist auch nicht immanent, dem Zuwanderer irgendeine Dominanzkultur aufzuzwingen. Im Gegenteil. Aus der Assimilation unseres Wertesystems folgt denknotwendig, dass es eine gesellschaftsethische Zwangsassimilierung nicht geben kann. Hierauf wird im Rahmen der politischen Integrierung noch zurückzukommen sein. Die hier vertretene Auffassung widerspricht auch nicht den Anforderungen an den säkularisierten Staat, der das Gewissen nicht nur freigegeben hat, sondern die Gesinnungsfreiheit sogar garantiert.268 Die Garantie der Gesinnungsfreiheit wird durch die Anforderungen der Integrationsidee an die Gesinnung nämlich nicht aufgehoben. Denn der Umstand, dass eine vom Staat garantierte Gesinnungsfreiheit besteht, hat mit der Frage, ob ein Bürger gesellschaftsethisch integriert ist, im Grundsatz erst einmal nichts zu tun. Der Staat lässt es nämlich im Grundsatz zu, dass sich die Bürger gemäß ihrer zugesagten Gesinnungsfreiheit nicht gesellschaftsethisch integrieren; er verlangt lediglich die (äußere) Einhaltung der staatlichen Rechtsordnung. Deshalb 267 268

Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 308 ff. Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 78.

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kann es auch keine staatlich verordnete gesellschaftsethische Zwangsintegrierung (Zwangsassimilierung) geben. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass unser Staat wiederum darauf angewiesen ist, dass seine Bürger ihre Gesinnungsfreiheit an dem der Staatsverfassung zugrunde liegenden Wertesystem ausrichten. Ansonsten wäre der Bestand des Staates auf Dauer in Gefahr, weil letztlich auch eine staatliche Verfassung und Rechtsordnung von der ethischen Überzeugung ihrer Bürger getragen sein muss. Wenn an die Migranten die ethische Anforderung gestellt wird, sich gesellschaftsethisch zu assimilieren, ist dies auch keinesfalls als ein Verbrechen gegen die Menschheit zu verstehen. Einen solchen Vorwurf hat der türkische Ministerpräsident Recep Teyyip Erdogan anlässlich seiner Kölner Rede am 10. 2. 2008 formuliert. Erdogan hat in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung269 seinen Standpunkt konkretisiert. Er hat dargelegt, er verstehe unter Assimilation, wenn den Menschen die Möglichkeit vorenthalten wird, ihre eigenen kulturellen Werte und ihre eigene Religion zu leben. Genau das habe er als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet. Den Menschen müsse Gelegenheit gegeben werden ihre Religion zu leben, ihre Sprache zu erlernen, ihre Bräuche zu praktizieren. Sein Verständnis sei das von der Einheit in der Vielfalt. Gesellschaften, die sich vor anderen fürchteten, seien Gesellschaften, die mit ihren eigenen Werten nicht im Reinen seien. Erdogan ist zwar darin Recht zu geben, dass eine politische Aufforderung an die Zuwanderer, die nationale Kultur in Gänze zu assimilieren, einen Angriff auf die Würde des Menschen darstellen würde. Seine Aussage ist jedoch viel zu pauschal und wenig differenziert, wie dies leider in den politischen Diskussionen, in denen es um Assimilation geht, immer wieder anzutreffen ist. Erdogan verkennt nämlich, dass eine gesellschaftsethische Assimilierung, wie sie hier vertreten wird, schon deshalb kein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen kann, weil die bloße Assimilierung des ethischen Wertesystems der Bundesrepublik, bei der es sich nur um eine Teilassimilierung der nationalen Kultur handelt, sich gerade an den Basiswerten der Menschenrechte, der Würde und Freiheit orientiert. Nur die Bejahung dieses Wertesystems wird gefordert. Dementsprechend kann es auch nicht menschenverachtend sein, wenn z. B. die Gleichheit und Selbstbestimmtheit der Frauen gefordert wird. Indem wir die allumfassende Bejahung der Menschenwürde, wie wir sie verstehen, fordern, ist dies im Übrigen auch kein Zeichen dafür, dass wir mit unseren Werten nicht im Reinen seien. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht zu leugnen ist allerdings, dass die religiösen Überzeugungen, die mit unserem Wertesystem und dem vorrangigem Wert der Menschenwürde nicht übereinstimmen, aufgegeben werden müssten, um als gesellschaftsethisch integriert zu gelten. Hierbei geht es z. B. um die orthodoxe religiöse Überzeugung der Muslime, dass Frauen nicht gleichberechtigt seien oder keine durchgängige eigene ethische Entschließungsfreiheit hätten. Die Unterdrückung der Frau wird nach unserem Wertesys-

269

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.03.2008, S. 6.

VI. Zuwanderung in die gesellschaftliche Einheit

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tem nicht zugelassen. So weit geht die ethische Freiheit, die jedem grundsätzlich zugesagt ist, nicht. Zur Auflösung dieses inneren Spannungsverhältnisses, in dem sich die gläubigen Muslime befinden, kann man sich aus unserer Sicht nur wünschen, dass sich zumindest bei den in der westlichen Welt lebenden Muslime die innere Überzeugung durchsetzt, dass die Internalisierung der Menschenwürde und der ethischen Freiheit als obersten gesellschaftsethischen Wert nicht zu einer eigenen Entwürdigung, d. h. zur Negation der eigenen Würde führen muss. Dies gilt umso mehr, als die ethische Freiheit, wie sie aus meiner Sicht unserem Wertesystem zugrunde liegt, nichts mit der in der westlichen Welt oftmals propagierten und aus Sicht der Muslime zurecht als dekadent bezeichneten radikal egoistischen Freiheit zu tun hat. Es dürfte meines Erachtens allerdings auch viel davon abhängen, wie der interreligiöse Dialog innerhalb des Islams bezüglich einer (vernünftigen) Auslegung ihrer heiligen Schriften fortschreitet.270 Für die jetzige Mehrheitsgesellschaft wird – nicht zuletzt auch wegen des demografischen Wandels und der höheren Geburtenrate der türkischen Zuwanderer – auf Dauer viel davon abhängen, dass dieser innere Überzeugungsakt gelingen wird.271 Ansonsten besteht durchaus die Gefahr, dass die jetzige Mehrheitsgesellschaft zu einer Minderheitsgesellschaft wird und unsere Wertordnung nicht mehr den Stellenwert haben könnte, wie er ihr heute noch zukommt. Wir brauchen in der Bundesrepublik eine große Mehrheit von Bürgern, die von der Richtigkeit der Erstrangigkeit der Menschenwürde überzeugt sind. Es reicht deshalb auf Dauer eben nicht aus, sich nur im äußeren Verhalten entsprechend den Anforderungen des Wertesystems zu verhalten. Die zugewanderten Menschen müssen deshalb von der Richtigkeit dieses Wertganzen überzeugt werden. d) Die „äußere Integration“ – Mindestanforderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens Andererseits liegt es auf der Hand, dass die Integrationsidee bei den Zuwanderern, vor allem bei denen, die einen muslimischen Hintergrund haben, nicht von heute auf morgen durchgängig verwirklicht werden kann. Religiöse Überzeugungen und daraus abgeleitete Traditionen und Bräuche lassen sich nicht kurzfristig in Einklang mit den Basiswerten unseres Wertesystems bringen. Es geht immerhin für die gläubigen Muslime um ihr Verhältnis zu ihrem Gott, seiner Liebe und seinem metaphysischen Schutz und damit auch um ihr Leben nach dem Tod. Das freiwillige „Ja“ zu unserem Wertesystem, selbst eines aus Loyalität statt aus freiwilliger Überzeugung, wird nicht ohne weiteres zu erzielen sein, weil kaum denkbar ist, dass Muslime, solange sie nicht 270

Vgl. hierzu unten Kapitel B. X. Thilo Sarrazin hat – bewusst provokant – in einem Interview diese Gefahr wie folgt beschrieben: „Die Türken erobern Deutschland genauso wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“ (Aus Hessische Allgemeine vom 08.10.2008 PO2). 271

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

einer vernünftigen Auslegung ihrer Heiligen Schriften folgen, sondern deren strengen Wortlaut zum Maßstab machen, ihre religiösen und gegenläufigen Überzeugungen aufgeben. Bei realistischer Betrachtung ist vielmehr davon auszugehen, dass ein idealer Zustand, d. h. ein Zustand, der dem Begriff entspricht, bei vielen Migranten – und dabei denke ich nicht nur an Muslime – ebenso wenig erreicht werden kann, wie dies bei manchen Bundesbürgern der Fall ist, die wegen ihrer inneren Ablehnung des Wertesystems nach wie vor nicht integriert sind, bzw. bei denen zwischenzeitliche Desintegration stattgefunden hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an Rechtsund Linksextremisten, die von ihrer Gesinnung her ebenfalls nicht auf dem Boden unseres Wertesystems stehen, und insoweit – wenn auch aus anderen Gründen – nicht Bestandteil des gesellschaftsethischen Ganzen sind. Dadurch wird der Begriff der Integration allerdings noch lange nicht zum Mythos, da es eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger und auch eine nicht unerhebliche Zahl von Migranten gibt, die das unserer Verfassungskultur zugrunde liegende ethische Konzept wollen. Diese Zusammenhänge weisen den Blick wieder auf die tatsächliche Einhaltung der Anforderungen des Wertesystems, wobei das sichtbare Handeln nicht mit den inneren Wertvorstellungen übereinstimmen muss. Hierbei handelt es sich um eine vorläufige Form der Integration (sog. äußere Integration) als Mindestanforderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Maßstab für das äußere Verhalten und die Ermöglichung des ungestörten Nebeneinanders ist dabei das Recht einschließlich der Verfassung. Nicht die ethische Gesinnung oder Moralität als Bindeglied menschlicher Überzeugungen tritt in den Vordergrund der Betrachtung, sondern die Rechtmäßigkeit des Verhaltens.272 Das staatliche Recht ist es nämlich, welches angesichts des bestehenden Pluralismus, aufgrund dessen der Staat der Gesinnung seiner Bürger nicht mehr unbedingt sicher sein kann, wie es noch zu Zeiten der Fall war, als es ein Bündnis zwischen Staat und Kirche gab, der einzige Garant für die äußere Ordnung darstellt.273 Die objektive Einhaltung der Rechtsordnung insbesondere des Grundgesetzes macht erst einmal das reale Zusammenleben in geordneten Verhältnissen möglich,274 gleichgültig, ob der Betreffende die einzuhaltenden gesetzlichen Gebots- und Verbotsnormen oder sogar das zugrunde liegende Wertesystem selbst ethisch für gut oder nicht für gut hält. Auf eine bestimmte Rechtsüberzeugung oder ethische Gesinnung kommt es hierbei nicht an. Das Recht gleicht insoweit einem technischen Instrument des um die Einhaltung der Rechtsordnung besorgten Staates.275 . . 272 Schon Kant hat darauf hingewiesen, dass es im Recht um die Legalität und nicht die Moralität des Verhaltens gehe (vgl. hierzu Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 230). 273 Vgl. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 232. 274 Vgl. Hilgenberg, Recht, dtv. Atlas, S. 77. 275 Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 232.

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Raiser276 hat diese integrative Funktion des Rechts wie folgt beschrieben: „Indem die Gesellschaftslehre die Normbereiche unterscheidet, rechnet sie demnach auch damit, dass sie in der sozialen Realität in Gegensatz zueinander treten. Sie setzt eine pluralistische Gesellschaft voraus, in der Menschen und Gruppen mit verschiedenen Wertvorstellungen und Verhaltensmustern miteinander auskommen müssen. Aus diesem Grund muss sie Mechanismen ausbilden, die ihr helfen, mit daraus hervorgehenden Spannungen umzugehen, Toleranz zu gewährleisten, Konflikte zu befrieden und ein ausreichendes Maß an Integration zu sichern. Dies ist die Aufgabe des Rechts. Während alle anderen Normbereiche Geltung nur für bestimmte Personen und Gruppen beanspruchen, bildet das Recht die übergreifende Ordnung, welche die Gesellschaft als Ganze zusammenhält. Darin liegt sein besonderer Rang, der auch sein Verhältnis zu den anderen Normbereichen bestimmen muss.“

Der Umstand, dass der Zwangscharakter des Rechts äußeren Zusammenhalt bietet, darf allerdings nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass es bei der Integration nur noch um die Einhaltung der Rechtsordnung ginge, wie dies in der politischen Debatte immer wieder zum Ausdruck kommt. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn die Partei der Grünen/Bündnis 90 in ihrem Parteiprogramm die gesellschaftliche und politische Gestaltung von Einwanderung in der Verbindung von Demokratie und multikultureller Gesellschaft sehen und in diesem Zusammenhang von „multikultureller Demokratie“ sprechen. Damit wird der Sache nach die demokratische Gesetzgebung zum Gegenstand der gesellschaftlichen Orientierung. Nicht die Ethik der Gesellschaft, sondern das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers wird damit zum Maßstab der Integration gemacht. Die tatsächliche Einhaltung des rechtlichen, demokratisch legitimierten Ordnungssystems, die mit der objektiven Einhaltung der wesentlichen ethischen Grundbilder unseres Zusammenlebens einhergeht, kann allein noch keine Integration ins Gesellschaftsganze bieten. Das Recht, insbesondere die Verfassung spiegelt zwar die ethische Wertordnung der Gesellschaft wider. Die tatsächliche Befolgung des Rechts kann jedoch allenfalls einen äußeren Zusammenhalt (äußere Integration) bieten, dessen Grundgedanke die staatliche Zwangsordnung ist und mit einer frei gewählten Einheit nichts zu tun hat. Mit der bloßen Einhaltung des Rechts ist nämlich noch nichts über die jeweilige Gesinnung aussagt, die jedoch der entscheidende Faktor eines bewussten und gewollten geeinten Zusammenlebens ist. Zu einer gesellschaftlichen Integration gehört mehr als ein derart äußerer Zustand, der auf die zugrunde liegende Motivation keine Rücksicht nimmt. Eine äußere Integration gibt äußere Ordnung aber keinen inneren Zusammenhalt. Zu einem solchen gehört, dass sich der Migrant die ethischen Werte des Gesellschaftsganzen und dessen Rangfolge auch innerlich zu eigen macht. Erst dann könnte im Übrigen auch von einer vollständigen Integration in das Recht gesprochen werden; denn eine gelungene und vollständige Integration ins Recht setzt neben der tatsächlichen Einhaltung der Rechtsvorschriften auch die innere Überzeugung voraus, dass das rechtliche Wertesystem als solches mit ihrem höchsten Wert der Menschenwürde das richtige ist. 276

Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 191.

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Der Denkansatz, allein die demokratische Gesetzgebung und damit das Recht zum Gegenstand gesellschaftlicher Orientierung zu machen, macht deutlich, wohin unsere Gesellschaft ethisch steuert. Nicht mehr die Ethik, innere Haltungen und Einstellungen, Werte und Wertabwägungen, Anstand, der würdevolle Umgang miteinander ist für unser Zusammenleben entscheidend, sondern nur noch das Recht, was mit einer völligen Verrechtlichung unserer Lebensverhältnisse einher geht. Unter diesen Umständen ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn die Bürger zunehmend nur noch nach ihren staatlich normierten Rechten und Pflichten und nicht mehr danach fragen, was ethisch richtig und anständig wäre. Das führt in der Konsequenz dazu, dass nur noch das getan wird, wozu man durch das Recht als ethisches Minimum verpflichtet wird, mehr jedoch nicht, auch wenn ein anderes Verhalten ethisch geboten wäre.277 Die Gesetzesflut, die uns zwischenzeitlich überrollt hat, ist ein beredtes Beispiel dafür, dass der Staat umgekehrt auch kein rechtes Vertrauen mehr in die ethischen Einstellungen seiner Bürger hat. Er muss sich dann aber auch nicht mehr wundern, wenn auch die innere Loyalität zum Staat abnimmt. Die Gefahr dieser Entwicklung besteht darin, dass nur noch das Zwangsrecht des Staates besteht, um einen Mindestzusammenhalt zu gewährleisten, während die Gesellschaftsethik keine wesentliche Bedeutung mehr hat. Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass auch die Solidarität nur noch dann funktioniert, wenn sie staatlich verordnet ist. Das Zwangsrecht des demokratisch legitimierten Staates würde zum alles beherrschenden Prinzip. Diese kritischen Darlegungen sollen aber keinesfalls bedeuten, dass die vorläufige Integration durch Einhaltung der Rechtsvorschriften als vorläufiges Stadium gering geschätzt würde. Im Gegenteil: Sie ist ein wichtiger Baustein für die Integration schlechthin. Auch derjenige, der sich zwar zur Wertordnung bekennen würde, sich innerhalb der Rechtsordnung tatsächlich aber anders verhalten würde, wäre nicht gesellschaftsethisch integriert, wobei dann allerdings wieder Zweifel darüber aufkommen dürften, ob er tatsächlich die Wertordnung verinnerlicht hat und einhalten will. Ohne die Vorstufe der äußeren Integration ist zudem eine vollendete Integration kaum denkbar, zumal erst durch die tatsächliche Einhaltung der Gesetze das Bewusstsein für die ethischen Standards der Aufnahmegesellschaft geschärft und ein Gefühl für das Recht entwickelt werden kann. Man sollte sich auch nicht darüber hinweg täuschen lassen, dass Gesinnungen und Motivationen kaum überprüfbar sind und man ohnehin nur aus der tatsächlichen Einhaltung der Gesetze auf die innere Gesinnung schließen kann. Die tatsächliche Befolgung der Rechtsordnung ist ein Indiz dafür, dass sich der Integrationsprozess auf gutem Weg befindet. Das Anfangsstadium eines reinen multikulturellen Miteinanders im selben gesellschaftlichen Raum, in dem tatsächliche 277 Eine dialektische Gegenbewegung sehe ich in der Mediation. Die Mediation sieht vor, dass sich die Menschen außerhalb des Zwangsrechts des Staates ihr „Recht“ selber geben sollen. Im Rahmen der Mediation wird nicht nur nach rechtlichen Positionen sondern vorrangig bei den inneren Bedürfnissen und Überzeugungen, d. h. auch der Ethik bei der Auflösung der Konflikte angesetzt. Nicht die formal-rechtliche sondern die freiwillige ethische Komponente rückt damit in den Vordergrund.

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und bewusstseinsmäßige Segregation herrscht, wäre zumindest überwunden. Es wäre von den Zuwanderern – aufgrund welcher Motivation auch immer – erkannt und akzeptiert worden, dass es in demselben gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Raum nicht möglich ist, zwei Rechtssysteme in tatsächlicher Hinsicht nebeneinander zu leben. Zugleich wird für die Mehrheitsgesellschaft erkennbar, dass die Zuwanderer eine bewusstseinsmäßige Bewegung durchgemacht haben und zumindest den Willen haben, die objektiven Regeln des Zusammenlebens einzuhalten. Dies schafft bei der Mehrheitsgesellschaft nicht nur Vertrauen in das Gelingen des Integrationsprozesses, weil man den Eindruck gewinnt, dass die Richtung hin zur Integration stimmt. Es minimiert zudem die Ängste vor der Zuwanderung, was wiederum für die Dynamik des eigenen – innerhalb der Mehrheitsgesellschaft stattfindenden – Bewusstseinsvorgangs von nicht unerheblicher Bedeutung sein dürfte.

3. Die emotionalen Faktoren der Integrierung Die Integrierung ist ein auf rationaler Einsicht gegründeter Bewusstseinsprozess. Die vernünftige Einsicht, ein einheitliches und gemeinsames Wertesystem vereinbaren zu sollen, weil ohne dieses eine gesellschaftsethisches Wertesystem gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht möglich erscheint, dürfte jedoch für den Integrationsprozess ebenso wenig ausreichen, wie die intellektuelle Erkenntnis, dass ohne die vorrangige Anerkennung der Werte der Menschenwürde und ethischen Freiheit das personhafte Existieren des Menschen selbst nicht gewährleistet wäre. Angesichts dessen, dass unserem Wertesystem diese Vernunftgrundsätze zugrunde liegen und die Migranten es nicht mit machtpolitisch geprägten Basiswerten zu tun haben, läge es zwar auf der Hand, dass die Zuwanderer schon aus rationalen Gründen in der Lage sein sollten, zu unserem Wertesystem freiwillig und ethisch selbstbestimmt „Ja“ zu sagen. Oft werden vernünftige Ansichten jedoch gerade durch fest verankerte emotionale Bindungen, gerade wenn sie religiös-metaphysischer Art sind, verhindert. Gerade das Hineinwirken von Glaubensfragen, religiöser Emotionen wie auch irrationaler Vorurteile in den Integrationsprozess dürfte einer der maßgeblichen Gründe dafür sein, dass die Integrierung von Migranten mit unterschiedlichen Gesellschaftskulturen und Wertvorstellungen besonders schwierig ist. Dies gilt umso mehr, als jedes Wertsystem selbst ein Ausdruck von Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen ist. Damit soll nicht gesagt werden, dass es für eine gelungene Integration nicht ausreichte, wenn die Zuwanderer sich mit dem Wertesystem intellektuell identifizierten. Oftmals funktioniert dies allerdings nur dann, wenn zugleich auch die emotionale Bereitschaft der Zuwanderer gegeben ist, das Wertesystem als Ganzes gemeinsam mit der Aufnahmegesellschaft leben zu wollen. So möchte ich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass sich verschiedene Lehrmeinungen in der Psychoanalyse gegen die Zergliederung menschlichen Erle-

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bens in einzelne Vermögen, wie Wahrnehmung, Denken, Wille, Emotion und Motivation wenden und stattdessen eine ganzheitliche Auffassung vom Psychischen vertreten. Menschliches Handeln folge nicht nur rationalen Vorsätzen, sondern sei auch durch sinnliches Begehren und durch Emotionen motiviert. Denken ohne Affekt sei in der Regel nicht möglich, ebenso seien Gefühle und Leidenschaften ohne die Annahme einer zugrunde liegenden kognitiven Struktur nicht vorstellbar.278 Man mag über diese Theorie streiten. Eins dürfte jedoch in jedem Fall richtig sein. Denken und Gefühl stehen in jedem Fall in einer wechselseitigen Bedingtheit. Oftmals wird ein intellektueller Vorgang erst in Gang gesetzt, wenn hierzu zuvor ein emotionaler Impuls erfolgte. Andererseits kontrolliert das Denken das Gefühl und abstrahiert es zu einem vernünftigen Gefühl, in dem sich komplexes Erfahrungswissen wiederfindet. Gefühle setzen sich ihrerseits wiederum aus Bewertungsprozessen zusammen. Das bedeutet für den Integrationsprozess, dass dieser die größte Erfolgschance hat, wenn Vernunft und Gefühl im Einklang stehen. Der gesamte Integrationsprozess lebt somit auch davon, dass den Zuwanderern unser Wertesystem als Ganzes emotional näher gebracht wird, das heißt ihre Herzen gewinnt.279 Dies geschieht am besten dadurch, dass dem Wertesystem als Ganzem gesellschaftliche Geltung verschafft wird. Die Zuwanderer werden dabei spüren, dass unser Wertesystem ein sensibles und anpassungsfähiges Gefüge ist und auch den von ihnen gewünschten Anspruch auf Selbstbestimmtheit, kulturelle Freiheit, Solidarität, Toleranz und Teilhabe am Ganzen sowie Gleichberechtigung gewährt. Sie werden dabei auch emotional wahrnehmen, dass dies nur möglich ist, weil in unserem Wertesystem die Menschenwürde und Freiheit aller Menschen als oberster Wert festgeschrieben ist. Die Zuwanderer werden unter diesem Eindruck auf Dauer fühlen, dass das menschliche Zusammenleben gerechter und fairer ist, wenn man akzeptiert, dass die Würde der Frauen ebenso viel wert ist wie die des Mannes, dass alle Menschen die gleiche Würde haben. Die Integrierung stellt sich hiernach sowohl als intellektueller als auch als emotionaler Prozess dar. Angetrieben wird dieser Prozess nicht nur durch die wachsende gefühlsmäßige Bindung zu dem Wertesystem seitens der Zuwanderer, sondern auch durch die emotionale Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, ihr Wertesystem unter vorrangiger Beachtung der Basiswerte anpassungsfähig zu halten, damit sich auch die durch die Zuwanderung ergebende Vielheit darin angemessen wiederfindet. Nur wenn dies gelingt, entsteht am Ende des Integrationsprozesses ein Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. Wir-Gefühl, welches das Gefühl beinhaltet, zu einem Gesellschaftsganzen zu gehören, mit diesem eins zu sein. Damit drückt das Wir-Gefühl, welches oftmals mit dem Wir-Bewusstsein synonym gebraucht wird, eine emotionale Gemeinsamkeit aus, die selbst wiederum emotionale Bindungskräfte mobilisiert und die Menschen zu einer Gemeinschaft integriert. 278

Mertens, Psychoanalyse, S. 88 f. Malzahn, Welt am Sonntag vom 4. April 2010, S. 13 führt dazu aus: „die entscheidende Frage sei, zu wem gehören die Einwanderer in Deutschland? Wo liegt ihre politische Loyalität? Wie provoziert man ihren Einstiegs- und Ausstiegswillen? Und nicht zuletzt. Wer gewinnt den Kampf um ihre Herzen?“. 279

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Von der emotionalen Seite der Integrierung ist ein weiterer emotionaler Integrationsfaktor zu unterscheiden, der sich zwar nicht unmittelbar auf die Anerkennung und Internalisierung des Wertesystems bezieht, aber ebenso für den Integrationsprozess von wesentlicher Bedeutung ist. Es handelt sich hierbei um die Emotion des „Zuhause-Fühlens“. Darunter ist das Gefühl gemeint, das sich auf den gesellschaftlichen Raum, auf das Land oder den Ort bezieht, in welchem man seinen Lebensmittelpunkt hat und in dem das psychisch-räumliche Bedürfnis nach Bezogenheit und Verwurzelung als erfüllt angesehen wird. Das Gefühl des Zuhause-Seins ist Folge der emotionalen Annahme des Raumes, in dem ein Mensch ansässig ist, in dem er seine Heimat hat. Wenn die Zuwanderer davon sprechen, „Deutschland sei ihre Heimat“,280 beschreiben sie in der Regel den Ort, wo sie örtlich gerne ansässig sind. Allerdings: Die emotionale Empfindung zuhause zu sein, Deutschland als Heimat zu begreifen, hat unmittelbar nichts mit der Identifikation mit dem Wertesystem als solchem zu tun, sondern stellt in erster Linie eine „räumliche Integration“ dar. Dennoch bestehen auch hier wechselseitige Bedingtheiten der verschiedenen einzelnen Prozesse, was schon damit zusammenhängt, dass die Frage des Zuhausefühlens durch die Art des Wertesystems und der Frage, welche Freiheiten herrschen und welche Solidarkräfte wirken, mitbestimmt wird. Es liegt auf der Hand, dass es für denjenigen einfacher ist, sich in unserem Raum wohl zu fühlen, der in das Wertesystem integriert ist, d. h. ein gemeinsames Leben unter Beachtung dieser Werte und Ideen für gut heißt. Insoweit hätte das „Zuhause-Fühlen“ dann einen doppelten Inhalt.281 Heimat hätte dann einen übergreifenden Inhalt im Sinne der immer wieder zitierten Definition des römischen Philosophen, Staatsmanns und Schriftstellers Marcus Tullius Cicero: Heimat ist dort, wo es mir gut geht („patria est, ubicumque est bene“). In jedem Fall steht fest: Die Bereitschaft des Zuwanderers, das Wertesystem in seiner Ganzheit anzunehmen steigt, wenn man sich in dem örtlichem Raum, in welchem man lebt, emotional wohl fühlt. Dies entspricht der Erkenntnis, dass sich Integration ohnehin als ein sich dialektisch prozesshaft entwickelndes Ganzes darstellt, in dem alles ineinander greift.

280 Nach einer repräsentativen Studie des Allensbachinstituts aus dem Jahr 2009 fühlt sich eine große Mehrheit der Zuwanderer hierzulande wohl. 69 Prozent der Zuwanderer leben gerne hier. Fast 80 Prozent sind mit ihrer Arbeit und Wohnsituation zufrieden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich vor allem türkische Zuwanderer schwer tun, Deutschland als ihre Heimat zu begreifen. Nur 29 Prozent nennen nach der Studie Deutschland ihr Heimatland. Von denen, die hier geboren wurden, haben immerhin 50 Prozent stark ausgeprägte heimatliche Gefühle (Welt am Sonntag vom 14. 7. 2009, S. 1). 281 Es ist deshalb völlig richtig, wenn die Politik auf die sog sozialräumliche Integration höchsten Wert legt. Es ist nämlich klar, dass nur durch Integration in den Raum der Mehrheitsgesellschaft Segregation verhindert werden kann. Für den Fall, dass bereits sozialräumliche Segregation eingetreten sein sollte, wäre es notwendig, diese Segregation wieder aufzulösen.

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Lebensraum und Wertesystem hängen somit eng miteinander zusammen und bilden – soweit sowohl die gesellschaftsethische als auch die räumliche Integrierung erfolgreich war – selbst wiederum eine Einheit – die – um die emotionale Seite erneut anzusprechen – auch wiederum das Wir-Gefühl steigert. So kann es durchaus sein, dass ein Zuwanderer sich aufgrund seiner lebensräumlichen Situation im gesellschaftlichen Raum, d. h. konkret im Staatsgebiet der Bundesrepublik wohl fühlt, das gesellschaftsethische Wertesystem im Ganzen aber nicht annimmt oder einhalten will. Der Zuwanderer hätte insoweit auch keine Probleme, Deutschland als seine Heimat zu bezeichnen. Andererseits ist es auch denkbar, dass ein Zuwanderer das gesellschaftliche Wertesystem voll und ganz internalisiert und lebt, andererseits keine emotionale Beziehung zum Raum, in dem er lebt, aufbauen kann. Es ist deshalb fragwürdig, wenn in der politischen Diskussion ab und an darauf hingewiesen wird, eine gelungene Integration setze voraus, dass der Migrant Deutschland als sein Zuhause ansähe. Dies erscheint mir zu weit gegriffen. Diese Emotion kann sicher nicht als Bedingung einer gesellschaftsethischen Einheit angesehen werden. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass das Gefühl des Zuhause-Seins nicht von erheblicher Bedeutung für den Integrationsprozess sein kann. Insoweit ist an die Ereignisse anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland zu erinnern, als auch die türkischen Mitbürger der deutschen Nationalmannschaft zujubelten. Hier wurden emotionale Bindungskräfte aktiviert, die sicherlich nichts mit der Integration ins Wertesystem oder einem Nationalismusgedanken zu tun hatten, sondern am ehesten auf das Gefühl zurückzuführen waren, dass die Zuwanderer – zumindest in diesem Augenblick – Deutschland als ihr Zuhause annahmen. Die emotionalen Faktoren dürften im Ergebnis auch dafür verantwortlich sein, dass der Zustand der Integration in einer größeren Intensität wahrgenommen werden kann. Das erkennt man schon daran, dass auch bei Inländern ein großer Unterschied in ihrer Haltung und Gesinnung zum Gesellschaftsganzen feststellbar ist. Je größer die Bedeutung (Wert), welche das Wertesystem für den Gesellschaftsbürger hat, desto größer kann auch seine Identifikation mit demselben sein. So ist der Zustand der Integration auf einer niedrigeren Ebene wie auch auf einer intensiveren Ebene denkbar, je nachdem wie intensiv die Identifikation, d. h. das „hinter dem Wertesystem und Gesellschaftsganzen Stehen“ ausgeprägt ist und zusätzliche emotionale Empfindungen wie das Wir-Gefühl und das Zuhause-Sein zum Vorschein kommen. Eine besondere Ebene ist allerdings dann erreicht, wenn sich rational und emotional so eine Gesinnung einstellt, die es ermöglicht, sich nicht nur gemäß den Regeln des verinnerlichtem Wertesystem zu verhalten, sondern dies – aus welchen Gründen auch immer – zudem gerne oder aus Liebe zu tun. Dies ist die Ebene, die es ermöglicht, für das Gesellschaftsganze einzustehen, sich für dessen Wohl einzusetzen und sogar ganz besondere Leistungen unter Hintansetzung der eigenen persönlichen Interessen zu erbringen. Hier ist der innere Zustand des Patriotismus erreicht.

VII. Integration als Basis eines ethisch-politischen Patriotismus

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VII. Integration als Basis eines ethisch-politischen Patriotismus 1. Die Verfassung als Bezugsgröße des Patriotismus Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger prägte vor dem Hintergrund der deutschen Teilung den Terminus des Verfassungspatriotismus. Er meinte, dass sich das Selbstbewusstsein der alten Bundesrepublik nicht auf eine Nation berufen könne, weil diese geteilt sei.282 Sternberger befürwortete einen verfassungspolitischen Vaterlandsbegriff, in dem einzig von den Gesetzen des Staates und der Freiheit der Person, nicht aber von Volk und Land die Rede sei.283 Das Vaterland meine die Republik, die wir uns schafften. Das Vaterland sei die Verfassung, die wir lebendig machten. Das Vaterland sei die Freiheit, derer wir uns wahrhaft erfreuen könnten, wenn wir sie selber förderten, nutzten und bewachten. Wir lebten in einem Verfassungsstaat, der selbst eine Art von Vaterland sei.284 Was Sternberger damit meinte, wird deutlich, wenn er auf den Philosophen Thomas Abbt verweist und diesen mit den Worten zitiert: „Wenn mich die Geburt oder meine freie Entschließung mit einem Staate vereinigen, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe, Gesetzen, die mir nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staates nötig ist, als dann nenne ich diesen Staat mein Vaterland.“285 Die Verfassung, also die freiheitliche demokratische Grundordnung, soll nach Sternberger nicht nur Loyalität oder Anhänglichkeit, sondern auch Zuneigung erwarten dürfen, zumal sich das Wesen und Bestreben des Verfassungsstaates durch die Sicherung der Freiheit auszeichne.286 Zu einem bedeutenden Verfechter des Verfassungspatriotismus gehört auch Jürgen Habermas. Habermas erblickte in der vorbehaltlosen Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens die große intellektuelle Leistung der Nachkriegszeit und in einem damit korrespondierenden – an universalistische Verfassungsprinzipien gebundenen – Verfassungspatriotismus den einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremde. Eine Republik soll nach Habermas letzt282

Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 13; vgl. hierzu auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 339 Rn. 259. 283 Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 22; siehe auch Leutheusser-Schnarrenberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. 4. 2006, S. 8. 284 Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 12 f.; vgl. auch Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 189. 285 Zitiert nach Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 22. 286 Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 30; Petersen hat in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 5. 2009 ausgeführt, dass die Idee des Verfassungspatriotismus für die Verbundenheit mit der demokratischen Rechtsordnung, eine Art aufgeklärte Identifikation mit dem freiheitlichen Staat in deutlicher Abgrenzung zu einer gefühlvollen, vom politischen System unabhängigen Vaterlandsliebe stehe.

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lich so stabil sein, wie die Prinzipien der Verfassung sich in den Überzeugungen und Praktiken ihrer Bürger verankerten. Habermas stellt dabei auf die Möglichkeit ab, dass die Formen und Verfahren des Verfassungsstaates mit dem demokratischen Legitimationsmodus zugleich eine neue Ebene des sozialen Zusammenhanges erzeugen könnten. Die demokratische Staatsbürgerschaft – im Sinne von citizenship – stifte eine vergleichsweise abstrakte, jedenfalls rechtlich vermittelte Solidarität unter Fremden. Liberalpolitische Kultur, so verknüpft Habermas Verfassungspatriotismus mit Multikulturalismus, solle insofern als gemeinsamer Nenner eines Verfassungspatriotismus fungieren, als dieser seinerseits zugleich den Sinn für die Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfe.287 Der ethische Gehalt des Verfassungspatriotismus müsse auf die gemeinsame politische Kultur beschränkt werden. Der ethische Gehalt des Verfassungspatriotismus dürfe nicht die Neutralität des Staates oder der Rechtsordnung gegenüber den auf subpolitischer Ebene ethisch integrierten Gemeinschaften beeinträchtigen; er müsse vielmehr den Sinn für die differenzielle Vielfalt und Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfen. Dabei ist die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen beiden Ebenen der Integration für Habermas entscheidend. Sobald diese Differenz nicht gewahrt bleibe, usurpiere die Mehrheitskultur staatliche Privilegien auf Kosten der Gleichberechtigung anderer kultureller Lebensformen und beleidige deren Anspruch auf reziproke Anerkennung. Die Neutralität des Staates gegenüber ethischen Differenzierungen im Inneren erklärt sich für Habermas schon daraus, und damit schließt sich seine Argumentationskette, dass in komplexen multikulturellen Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substantiellen Wertkonsens zusammengehalten werden könne, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtssetzung und Machtausübung.288 An anderer Stelle verspürte Habermas das Bedürfnis, seine Auffassung zum Verfassungspatriotismus klarzustellen: Er führte aus, dass entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis „Verfassungspatriotismus“ heiße, dass sich Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu eigen machten. Wenn die moralischen Gehalte von Grundrechten in Gesinnungen Fuß fassen sollten, genüge der kognitive Vorgang nicht. Unter Staatsbürgern entstehe eine wie immer auch abstrakte und rechtlich vermittelte Solidarität erst dann, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien in das dichtere Geflecht kultureller Wertorientierungen Eingang fänden.289

287 Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 207 m.w.N., der einen vorzüglichen Überblick über den „Verfassungspatriotismus“ von Habermas gibt (S. 202 ff.). 288 Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, S. 147 ff.; vgl. hierzu auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 367. 289 Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtstaats, S. 25; vgl. aber auch Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, S. 173.

VII. Integration als Basis eines ethisch-politischen Patriotismus

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Eine besondere Nähe hat die Lehre vom Verfassungspatriotismus zur Philosophie Kants und Hegels, die unter Patriotismus ebenfalls eine vernünftige politische Anschauung verstanden. Besonders deutlich wurde dies von Hegel in seiner Einführung zur Rechtsphilosophie formuliert.290 Nach Hegel ist der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Dementsprechend sei der Staat das sittliche Ganze und die Wirklichkeit der Freiheit, weshalb Hegel den Staat auch als die Wirklichkeit der konkreten Freiheit bezeichnet. Der Organismus des Staates, der die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiven Wirklichkeit sei, stelle die politische Verfassung dar, die ihrerseits wiederum den politischen Staat ausmache. Zur „Entwicklung der Idee innerhalb ihrer selbst“ gehört nach Hegel „in Unterscheidung zur objektiven Seite des Staatsorganismus als subjektive Substantialität die politische Gesinnung als der Patriotismus überhaupt […] Diese Gesinnung ist überhaupt das Zutrauen […] – das Bewusstsein, dass mein substantielles und besonderes Interesse, im Interesse und Zwecke eines anderen (hier des Staates) als im Verhältnis zu mir als einzelnen bewahrt und enthalten ist.“291 Bei Hegel heißt es weiter: „Unter Patriotismus wird häufig nur die Aufgelegtheit zur außerordentlichen Aufopferungen und Handlungen verstanden. Wesentlich aber ist die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustand und Lebensverhältnisse des Gemeinwesens für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist. Dieses bei dem gewöhnlichen Lebensgange sich in allen Lebensverhältnissen bewährende Bewusstsein ist es dann, aus dem sich auch die Aufgelegtheit zu außergewöhnlicher Anstrengung begründet. Wie aber die Menschen häufiger lieber großmütig als rechtlich sind, so überreden sie sich leicht, jenen außergewöhnlichen Patriotismus zu besitzen, um sich diese wahrhafte Gesinnung zu ersparen und ihren Mangel zu entschuldigen. Wenn ferner die Gesinnung als das angesehen wird, das für sich den Anfang machen aus subjektiven Vorstellungen und Gedanken hervorgehen könne, so wird sie mit der Meinung verwechselt, da sie bei dieser Ansicht ihres wahrhaften Grundes, der objektiven Realität, entbehrt.“292

Ein auf die Verfassung bezogener Patriotismus ist somit in erster Linie politischer Patriotismus, der die Bereitschaft enthält, sich mit der politischen Ordnung und den Prinzipien des Grundgesetzes zu identifizieren. Es handelt sich um einen auf die politische Ordnung und Einheit bezogenen und aus ihr begründeten Patriotismus.293 Patriot ist danach derjenige, der sein Denken, Fühlen und Wollen sowie sein privates und öffentliches Wirken ausschließlich an der Verfassung und dem daraus herauszulesenden ethischen Gehalt ausrichtet oder, wie es Habermas ausdrückte, seine Überzeugungen und Praktiken an den Prinzipien der Verfassung fest macht. .

290 291 292 293

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 257 ff. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 267. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 278. Oberndörfer, Integration oder Abschottung, S. 7.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Der politische Patriotismusgedanke unterscheidet sich damit elementar von einem national-völkischen Patriotismus, dessen Bezugsrahmen nicht nur die Verfassung, sondern die Nation, die ethnische Herkunft und das Vaterland ist. Der national-völkische Patriotismus definiert sich über die gefühlsmäßige Bindung an Traditionen und kulturhistorische Leistungen der eigenen Nation, worunter wiederum ein durch gleiche Abstammung und Sprache ausgezeichneter Teil der Menschheit verstanden wird.294 Für die Verfechter eines national-völkischen Patriotismus ist das Vaterland (patria) ein Ort, in dem der Vater und die Vorfahren lebten und in den man selbst hineingeboren wurde. Patriotismus bedeutet danach nichts anderes als die Liebe zu diesem Vaterland („patria“), wobei diese Liebe die gefühlsmäßigen Bindungen an die dort lebende Nation und deren Kulturgüter und Traditionen einschließt. Ein Patriot ist danach derjenige, der sich aus Liebe zum Vaterland der Nation gegenüber verpflichtet fühlt und sich dem Gedeihen des Vaterlandes widmet. 2. Die Liebe zur ethisch politischen Heimat Die Idee des Verfassungspatriotismus hat nicht nur Zustimmung erfahren. Viele sahen darin einen Notbehelf oder eine reine Kopfgeburt, die nicht in der Lage sei, die Herzen zu erwärmen.295 Andere verwiesen auf die Sterilität eines solchen Konzeptes. Andere wiederum beklagten die mangelnde identitätsvermittelnde Kraft, die den Einzelnen in eine Gemeinschaft einbinde und sich verantwortlich fühlen lasse für das Ganze. Nur wenn letzteres der Fall sei, könne nämlich die tendenziell atomisierte Gesellschaft wieder zusammengehalten und ungeachtet ihrer differenzierten Vielfalt zur handlungsfähigen Einheit verbunden werden.296 Vor allem nach der Wiedervereinigung sei die deutsche Nation wieder auf die politische Bühne zurückgekehrt, so dass ein Rückgriff auf das emotional bindungsfähige „Wir-Bewusstsein“ der Nation nicht mehr umgangen werden könne.297 In der Tat: Die Lehre vom Verfassungspatriotismus hat einige gedankliche Ansätze, die daran zweifeln lassen, ob dieses Konzept tatsächlich in der Lage ist, die Herzen zu erwärmen. Diesen Eindruck gewinnt man vor allem dann, wenn Oberndörfer davon spricht, Verfassungspatriotismus sei ein rein auf die republikanische Ordnung bezogener und aus ihr begründeter Patriotismus298, oder Habermas darauf abhebt, dass in komplexen multikulturellen Gesellschaften die Bürger nicht mehr durch einen substantiellen Wertkonsens, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtssetzung und Machtausübung zusammengehalten werden könnten. 294

Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 339. Vgl. hierzu Leutheusser-Schnarrenberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 4. 2006, S. 2008; s.a. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 340 f. 296 Böckenförde, Beilage zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. 9. 1995, B1. 297 Böckenförde, Beilage zur Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 9. 1995, B1. 298 Vgl. hierzu im Einzelnen Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 267, 340. 295

VII. Integration als Basis eines ethisch-politischen Patriotismus

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Diese Problematik haben allerdings auch die Vertreter der Lehre vom Verfassungspatriotismus gesehen. Anders ist es nicht zu verstehen, wenn Sternberger versucht hat den Verfassungsstaat selbst als eine Art von Vaterland zu beschreiben, um auf die Weise eine Assoziation zur Vaterlandsliebe herzustellen. Nur so ist auch der klarstellende Hinweis von Habermas zu verstehen, der von ihm vertretene Verfassungspatriotismus baue auf dem moralischen Gehalt der Grundrechte auf. Diese Ansätze weisen in die richtige Richtung, reichen jedoch aus meiner Sicht bei weitem nicht aus, die Kritik an einem Verfassungspatriotismus als einer politischen Anschauung zu entkräften. Denn eins steht fest: Die Verfassung als im Grundsatz politisches und rechtliches Gebilde ist schon dem Ansatz nach nicht geeignet besondere Gefühle zu erzeugen. Würde sich die Idee des Verfassungspatriotismus nur auf eine jeweils gültige politische Verfassung in ihrem abstrakten Gehalt oder gar lediglich auf die Verfahren legitimer Rechtsetzung beziehen, würden sicherlich weder Solidarität stiftende Bindungskräfte noch wertorientierte Identifikationspotenziale noch Zuneigung in ausreichendem Maße freigesetzt werden können; schon gar nicht wäre an ein ausreichendes Wir-Bewusstsein oder Wir-Gefühl zu denken. Da hilft es meines Erachtens auch nicht, wenn zusätzlich auf das in der Verfassung verankerte Recht auf Freiheit oder den ethischen Gehalt, der aus den Grundrechten herauszulesen sei, verwiesen wird. Der rationale und emotionale Begründungszusammenhang muss jedenfalls ein anderer sein. Nicht das Wesen der politischen Verfassung darf im Vordergrund einer ethisch-politischen Patriotismusidee stehen. Die wahre und erste Bezugsgröße eines ethisch-politischen Patriotismusgedankens kann vielmehr nur der ethische Gehalt des gesellschaftlichen Wertesystems selbst sein. Dieses ist die Basis der gesellschaftlichen Einheit, der Gesellschaftskultur und der ethischen Identität einer Gesellschaft. Es ist das auf einem vernünftigen und ethischen Konsens beruhende gesellschaftliche Wertesystem, durch das die Gesellschaft im Innersten, nämlich in der ethischen Gesinnung und Haltung, zusammengehalten wird. Dieser Wertkonsens ist es, der im Ergebnis die Verfassung ermöglicht, diese durchdringt und im Verfassungsstaat fortwirkt. Indem sich das Wertesystem in der staatlichen Verfassung konkretisiert, wird der ethische Bezugsrahmen durch einen politischen ergänzt. Diese Ergänzung ist auch notwendig, da nur durch den politisch-rechtlichen Rahmen, d. h. den Verfassungsstaat die Gesellschaftsethik einen verbindlichen und rechtlich wirksamen Schutz erhält. Der Verfassungsstaat sorgt so auch für den äußeren Zusammenhalt, der – wie der über die Ethik vermittelte innere Zusammenhalt – Bezugspunkt einer patriotischen Haltung ist. Ein ethisch-politischer Patriotismus ist damit Gesellschafts- und Staatspatriotismus zugleich, vorausgesetzt die in der Gesellschaft und der Staatsverfassung verfolgten Werte sind identisch. Unter diesem Gesichtspunkt spricht auch nichts dagegen den ethisch-politischen Patriotismus schlagwortartig als Verfassungspatriotismus zu bezeichnen. Die Verfassung ist nämlich das Symbol für das sich historisch entwickelnde, auf ethischem Gesellschaftsvertrag beruhende Gesellschaftsganze und damit wiederum für die gesell-

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

schaftliche Einheit, die Kultur und die ethische Identität der Gesellschaft, die in die politische Identität des Staates mündet. In der Verfassung spiegelt sich der Gesellschaftsvertrag in seiner ethischen und rechtlich politischen Ausgestaltung wider. Diese Zusammenhänge dürfte Sternberger gemeint haben, als er die Werte Verfassung, Verfassungsstaat, Vaterland und Freiheit nicht nur nebeneinander stellte, sondern sogar identifizierte. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass der ethischpolitische Patriotismus im Kern kein Staatspatriotismus ist, sondern sich vorrangig an der Gesellschaftsethik orientiert, die in unserem Gesellschaftssystem durch die obersten Werte der Menschenwürde und der ethischen Freiheit in ihrer bipolaren Struktur geprägt wird. Besser wäre es deshalb, von vorneherein von einem ethisch-politischen Patriotismus zu sprechen. Die vorrangige Betonung des gesellschaftsethischen Bezugsrahmens zeigt einen weiteren Unterschied der hier vertretenen Deutung zur herkömmlichen Theorie des Verfassungspatriotismus auf. Ein ethisch-politischer Patriotismus erschöpft sich nach der hier vertretenen Auffassung nämlich nicht in der Überzeugung, dass die Prinzipien der Verfassung richtig sind. Es dürfte für eine patriotische Haltung auch nicht ausreichen, wenn lediglich die Haltung eingenommen würde sich aus Überzeugung im Rahmen der normalen Lebensverhältnisse gemäß dem sittlich politischen Gehalt der Verfassung zu verhalten. Ein ethisch-politischer Patriotismus als Gesinnung besonderer Art fordert mehr. Eine solche Gesinnung setzt nicht nur die Integration des Akteurs in das Gesellschaftsganze voraus; Patriotismus geht über den Zustand der Integration, mit dem er nicht identisch ist, hinaus. Die patriotische Haltung ist eine Gesinnung, bei der der Gesellschaftsbürger sich nicht nur mit dem Wertesystem aus Überzeugung identifiziert, sondern dem Gesellschaftsganzen, dessen Gesellschaftsvertrag, dessen Wertesystem, dessen oberstem Prinzip der Würde und dem hierdurch erzeugten Zusammenhalt zusätzlich eine besondere Zuneigung, man kann es auch Liebe nennen, entgegenbringt, die es ermöglicht, sich für das ethisch verbundene Gesellschaftsganze einzusetzen, sich gegenüber der Wertegemeinschaft verantwortlich und ethisch verpflichtet zu fühlen und für diese einzustehen. Dieser Patriotismus beinhaltet somit nicht nur die Liebe zu unseren Grundrechten als subjektive Rechte, sondern umfasst auch die Liebe zu unseren – aus dem bipolaren Wert der Menschenwürde folgenden – ethischen Verpflichtungen den Mitbürgern gegenüber. Patriotismus lebt davon, dass man das Gesellschaftsganze im Auge hat. Nur so ist Patriotismus überhaupt erstrebenswert. Die Integration, wie ich sie verstehe, bleibt immer ein wesentlicher Bestandteil eines ethisch-politischen Patriotismus. Nur durch die Integration ist nämlich gewährleistet, dass jeder Akteur teilidentisches Mitglied eines Bewusstseinsganzen ist. Dieses ethische Ganze wird wiederum von der Idee geprägt, mit anderen zusammen ein gesellschaftsethisches Wertesystem leben zu wollen und zu sollen. Nur integrierte Bürger sind dementsprechend auch in der Lage, ein diesbezügliches Wir-Bewusstsein in Bezug auf das Gesellschaftsganze zu entwickeln, zu dem sich ein Wir-Gefühl ge-

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sellt, wenn sich bei den Bürgern auch die Emotion, integrierter Teil eines größeren idealen Ganzen zu sein, einstellt. Leutheusser-Schnarrenberger hat deshalb völlig zu Recht die Frage, was Patriotismus ist, im Zusammenhang mit der Frage gestellt, was die Gesellschaft zusammenhält, also nach der Art und Möglichkeit eines Identität und Zusammenhalt stiftenden Gerüsts, an dem alle Bürgerinnen und Bürger unbeschadet ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft, ihres sozialen Status und politischen Standorts Orientierung finden können.299 Das Gesellschaftsganze kann nicht ohne den Lebensraum gedacht werden, in dem es steht. Es ist der Raum, der das Gesellschaftsganze von anderen Gesellschaftsganzen abgegrenzt. Es ist der Raum, in dem die Gesellschaft wirkt und kulturelle Wirklichkeit erfährt. Es ist der Raum, in dem das ethische Wertesystem bzw. die Verfassung Geltung hat. Es ist der Raum, der für die Gesellschaft Identität stiftend ist. Es ist der Raum, der auch dem Raum der Integration entspricht. Es ist der Raum, der die gesellschaftsethische Einheit der Gesellschaft mitformt. Es ist der Raum, in dem die Gesellschaftsbürger zusammen mit anderen mit gleicher ethischer Gesinnung zusammenleben. Es ist der Raum des ethisch-politischen Zusammenhalts. Es ist der Raum, der durch die Zuneigung zum ethischen und politischen Wertesystem zur ethisch-politischen Heimat wird. Die Zuneigung zum Wertesystem erstreckt sich somit auch auf den Raum, in dem das Wertesystem gelebt wird. Ein ethisch-politischer Patriotismus wird somit durch die Zuneigung zum Wertesystem bestimmt, die wiederum die Liebe zum Lebensraum bedingt, in dem sich der Bürger wegen des dort gelebten und von ihm als richtig empfundenen Wertesystems heimisch und wohl fühlt. Ein ethisch-politischer Patriotismus kann deshalb als Liebe zur ethisch-politischen Heimat beschrieben werden. Die Liebe zur ethisch-politischen Heimat geht dabei tiefer als die von Sternberger als Verfassungspatriotismus bezeichnete Zuneigung zum politisch-rechtlichen Verfassungsstaat. Der Raum, in dem das ethische Wertesystem gelebt wird, ist zugleich der Raum, in dem der Gesellschaftsbürger zu Hause ist. Das ist der Raum, in dem die Bürger eines Gesellschaftsganzen ihren Lebensmittelpunkt haben, wo sie wohnen, in dem sie verwurzelt sind, in dem sie sich – nicht zuletzt wegen des dort gelebten Wertesystems – heimisch fühlen. Damit wird deutlich, dass der Raum – wie schon bei der Integration gesehen – durch die weitere Emotion des reinen Zuhauseseins einen doppelten emotionalen Inhalt bekommt, der über die Liebe zum gelebten Wertesystem zusätzliche emotionale Bindungskräfte freisetzen kann, durch die in der Umkehrung auch die Liebe zum ethisch-politischen Wertesystem wiederum gestärkt, zumindest aber positiv überlagert werden kann. Das kann wiederum dazu führen, dass emotionale Bedingungen geschaffen werden, die es dem Gesellschaftsbürger ermöglichen, sich noch stärker für das Ganze und dessen Wohl einzusetzen. Dieser Umstand belegt, wie wichtig die Integration der Gesellschaftsbürger in den Raum ist.

299

Leutheusser-Schnarrenberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 4. 2006, S. 8.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Ein so verstandener ethisch-politischer Patriotismus ist keine „Kopfgeburt“, die es den Gesellschaftsbürgern nicht ermöglicht, sich für das Gesellschaftsganze einzusetzen. Richtig ist vielmehr, dass der ethisch-politische Patriotismus in emotionaler Tiefe begründet ist, gerade weil er die Identifikation der Bürger mit dem gesellschaftsethischen Wertesystem, in dem sie leben, voraussetzt. Er hebt sich damit von einem Nationalgefühl traditioneller Prägung ab, welches auf der emotionalen Kraft der abstammungsmäßigen Zugehörigkeit zu einem Volk beruht. Stattdessen wird die Kraft der Ideen und Werte, die den Menschen einen gemeinsamen ethisch-politischen Boden, eine gemeinsame Lebensgrundlage schaffen, in den Vordergrund gerückt. Das zeigt, dass es sich keinesfalls um einen minderwertigen Patriotismus handelt, zumal auch der Lebensraum in seiner ethischen Ausgestaltung als patria einbezogen wird. 3. Patriotische Gefühlsvielfalt Es wäre allerdings verfehlt, den ethisch-politischen Patriotismus als die einzig mögliche Form eines Patriotismus zu verstehen und den anderen Formen des Patriotismus keinen Raum mehr einzuräumen. Ein ethisch-politischer Patriotismus steht nämlich keinesfalls im Widerspruch zu anderen patriotischen Gesinnungen. Allen Arten des Patriotismus ist vielmehr gemein, dass sie zu einem „patria“ im Sinne eines Lebensraumes aus unterschiedlichen Gründen, seien es nationale, politische, ethnische, ethische oder gar sportliche („Fußballpatriotismus“) eine besondere emotionale Beziehung haben, die wiederum auf ein jeweils anders gelagertes „Wir-Gefühl“ hinweist. So beruht das Nationalgefühl mit ethnisch-völkischem Bezug auf dem Wir-Gefühl, ein Volk zu sein, eine Haltung, die leider immer wieder Raum für eine übertriebene Vaterlandsliebe verbunden mit der Verachtung anderer Völker (Chauvinismus) gab. Daneben gibt es einen nationalen Patriotismus ohne ethnisch-völkischen Bezug, der sich an den gemeinsamen Traditionen, an einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen kulturhistorischen Leistung, an einer gemeinsamen nationalen Geschichte orientiert. In diesem Zusammenhang hat die CDU in ihrem Grundsatzprogramm 2007 ausgeführt, auch das Leben und Handeln in einem wiedervereinten Nationalstaat begründe ein patriotisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Insoweit sei die Nation eine Verantwortungsgemeinschaft für die Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Gestaltung der Zukunft. Alle diese Ideen spiegeln sich in Gesinnungen und Gefühlen, die unabhängig voneinander existieren und als Antriebskräfte dafür taugen, sich für die jeweils definierte Einheit einzusetzen. Im Regelfall wird sogar davon auszugehen sein, dass der Akteur sich seiner unterschiedlichen Bewusstseins- und Gefühlsinhalte gar nicht bewusst ist und sein patriotisches Handeln aus einer Überlagerung bzw. einem Zusammenwirken verschiedener „Wir-Gefühle“ folgt. Allerdings ist hervorzuheben, dass der ethisch-politische Patriotismus wie auch der Verfassungspatriotismus herkömmlicher Prägung die einzigen Formen patrioti-

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scher Gesinnung sind, die mit dem Wesen unserer monopluralen Gesellschaft kompatibel erscheinen. Alle anderen Formen des Patriotismus sind auf die ganze nationale deutsche Kultur oder die ethnische Herkunft bezogen, so dass sich diese Formen des Patriotismus in erster Linie nur an Deutsche richten. Der ethisch-politische Patriotismus ist dagegen für alle integrierten Gesellschaftsbürger da, gleichgültig welcher Abstammung oder welcher Herkunft sie sind oder welche Staatsbürgerschaft sie haben. Aus Gründen der Erhaltung der eigenen Identität sollte deshalb bei der Mehrheitsgesellschaft ein starkes Bedürfnis bestehen, den Zuwanderern eine Patriotismusform zur Verfügung zu stellen, an der sie sich nicht nur orientieren, sondern mit der sie sich auch identifizieren können. Es ist zwar nicht so, dass ohne die Liebe zur ethisch-politischen Heimat auf Dauer die Einheit des ethischen Gesellschaftsganzen und ethisch-politischen Staatsganzen gefährdet wäre. Patriotismus ist anders als die Integration keine unverzichtbare Voraussetzung unserer freiheitlichen Demokratie. Es steht aber auch fest, dass ohne einen ethisch-politischen Patriotismus auf Dauer ein ethisches Gesellschaftssystem nicht überleben kann, weil es eben nicht nur ausreicht, das zugrunde liegende Wertesystem als richtig anzuerkennen und sich nach dessen Regeln zu verhalten. Für den Erhalt und die ethische Weiterentwicklung des Gesellschaftsganzen ist es vielmehr wichtig, dass die Bürger sich je nach der Intensität ihrer Zuneigung für das Wertesystem für dessen obersten Wert der Menschenwürde einschließlich der ethischen Freiheit, für das Gesellschaftsganze und das Gemeinwohl einsetzen, hierfür einstehen oder für dieses – je nach Wertschätzung – sogar außergewöhnliche Leistungen erbringen. Letztlich muss man sich immer wieder klar machen: Patriotismus als Gesinnung und innere Haltung ist nicht statisch, sondern beinhaltet immer eine gewisse Bandbreite und sich teilweise sogar überlagernde Gefühle, die von dem bloßen Bekenntnis zur Wertordnung und zum Gesellschaftsganzen bis zur außerordentlichen Leistung der Aufopferung für das Ganze reichen können. Dies hängt mit der Vielfältigkeit der Bewusstseinsinhalte und Gefühlslagen zusammen, die sich zudem ständig ändern können, wie sich auch der Wert des Wertesystems für den Gesellschaftsbürger und damit die Intensität seiner Zuneigung verändern kann.

VIII. Die politische Verwirklichung einer Idee 1. Der Begriff der Integrationspolitik a) Vernunft statt machtbewusster Durchsetzung politischer Interessen Von dem Begriff der gesellschaftlichen Integration ist der Begriff der Integrationspolitik zu unterscheiden. Das ergibt sich schon begriffslogisch daraus, dass der Begriff der Integrationspolitik kein Artbegriff des Begriffs der Integration ist. Integrationspolitik ist vielmehr eine besondere Art der Politik. Dies ist ein gedanklicher

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Unterschied, der in der politischen Diskussion völlig außer Acht gelassen wird. Während der Begriff der gesellschaftlichen Integration das Sein der gesellschaftsethischen Einheit in ihrem Endzustand und der Begriff der gesellschaftsethischen Integrierung den Weg hierzu abstrakt definiert, bezeichnet der Begriff der Integrationspolitik den lebendigen Prozess staatlichen Handelns zur Integration im Sinne einer zielorientierten Gestaltung, Steuerung und Problembewältigung. Die politische Prägung des Integrationsprozesses setzt das Wissen um das, was Integration ist, voraus. Nach meinem Verständnis steht deshalb am Beginn eines jeden politischen Integrationsprozesses erst einmal die Definition des Begriffs der Integration und die Bestimmung seiner Begriffsmerkmale, um überhaupt das Wesen eines solchen Zustandes frei von jeder politischen Einschätzung zu erfassen. Das bedeutet, dass sich der politische Prozess zunächst an der abstrakt logischen Vernunft auszurichten hat. Nur wenn über den Begriff Klarheit besteht, kann politisch bewertet werden, ob dieser Begriff überhaupt als Vorlage für eine politische Idee dienen soll. Dabei geht es um die Frage, ob der definierte Integrationszustand politisch überhaupt herbeigeführt werden soll oder ob man statt gesellschaftlicher Einheit nicht doch lieber eine radikale Multikulturalität bzw. Parallelgesellschaft oder – in die andere Richtung gedacht – die totale Assimilation der nationalen Kultur will. Dabei darf allerdings im Rahmen der Integrationspolitik nicht übersehen werden, dass es zwar das Vorrecht einer demokratisch legitimierten Politik ist, das „Wie“ unseres Zusammenlebens sinnhaft, nachhaltig und wirkungsvoll zu gestalten. Es ist allerdings nicht das Vorrecht einer demokratisch legitimierten Politik, unsere verfassungsrechtlich abgesicherte gesellschaftsethische Einheit und damit unsere eigene Integration in Frage zu stellen. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, wie wichtig es ist, dass die politischen Akteure von Anfang an sagen, was sie unter dem jeweils angestrebten Zustand begrifflich verstehen und was sie tun wollen. Nur bei einer solchen begrifflichen Transparenz können sie kontrolliert und politisch in Haftung genommen werden. Erst wenn geklärt ist, worin das wahre Wesen der Integration besteht, können die dialektischen Spannungsverhältnisse, in denen diese Idee zu anderen Ideen und zu den realen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Menschen steht, erkannt werden. Diese Spannungsverhältnisse sind durch die Politik unter Beachtung der Integrationsidee aufzulösen. Hier liegt die eigentliche Aufgabe der Politik. Nur wenn begrifflich-systematische Ordnung besteht, kann im Übrigen die politische Diskussion sinnvoll geordnet werden. Gerade der Umstand, dass die konkreten Lebensverhältnisse immer komplexer und immer mehr von emotionalen Bedürfnissen bestimmt werden, muss für die Politik Anlass sein, zunächst eine begrifflich-systematische Reduktion anzustreben. Die gegenwärtige politische Wirklichkeit sieht anders aus. Nicht die Vernunft, nicht das, was Integration ist, steht im Vordergrund der Politik. Es sind vielmehr aus-

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schließlich politische Wünsche und Bedürfnisse, die die Diskussion beherrschen und mit denen – irrational – versucht wird, den „Begriff“ der Integration zu „füllen“. Es geht nicht darum, was vernünftig, logisch oder philosophisch richtig ist. Es geht in der Politik vielmehr in erster Linie um die machtbewusste Durchsetzung von politischen Interessen und psychologischen Bedürfnissen, egal ob sie auf lange Sicht Sinn machen oder nicht. Dementsprechend ringen die Politiker auch nicht um Wahrheit, sondern um Klientel und Wähler. Ein derartiger Politikansatz ohne abstrakte Vernunft kann – übrigens nicht nur in der Integrationsdebatte – nur zur Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit führen. Es fehlt einfach die stabilisierende und auf das begrifflich erfasste Sein gerichtete übergreifende Idee, die fälschlicherweise oftmals auch „Vision“ genannt wird. Politik wird zum reinen Experimentierfeld (sog. „try and error“-Politik). Mal Multikulti, mal deutsche Leitkultur, mal Zwang zur Integration. Für die die Bürger ist eine in sich stimmige Konzeption nicht zu erkennen. Sichtbar sind nur noch Interessengegensätze, die immer vielfältiger werden. b) Der ganzheitliche teleologische Ansatz der Politik Integrationspolitik ist ganzheitlich und teleologisch. Integration umfasst alle staatlichen Handlungen, die dem Prozess hin zur gesellschaftlichen (gesellschaftsethischen) Einheit dienen. Hierzu gehört zunächst die politische Integration der Zuwanderer in einzelne, zum Gesellschaftsganzen gehörende gesellschaftliche Gruppen und Einheiten, wie Stadtgesellschaften, Erwerbssysteme und Bildungseinrichtungen. Es handelt sich hierbei um spezielle Integrationsvorgänge, die mit der Integrierung ins Gesellschaftsganze auf den ersten Blick nicht zu tun zu haben scheinen, weil diese Integrationsprozesse in einzelne gesellschaftliche Gruppen speziellen Zwecksetzungen unterliegen, wie dies bei der Integrierung in einen Sportverein oder eine Hausgemeinschaft deutlich wird. Beim näheren Hinsehen wird allerdings sichtbar, dass die Integration ins Wertganze (Gesellschaftsganze) in der Regel nur über die Integration in die einzelnen zum ganzheitlichen System gehörenden Einzelsysteme möglich ist, da allein in diesen Einzelsystemen und Gruppen das Wertesystem des ideenhaften Gesellschaftsganzen gelebt wird. Politik hat somit die Integration der Migranten in alle zum Gesellschaftsganzen gehörenden konkreten Systeme, wie Erwerbssysteme und Sozialsysteme, voranzutreiben, um über diese einzelnen Integrationen Zuwanderern letztlich den inneren Zugang zum Wertesystem zu ermöglichen. Die politische Integrierung (Integrationspolitik) zur Verwirklichung der Integrationsidee kann sich nicht auf isolierte politische Maßnahmen und schon gar nicht nur auf innere Überzeugungsarbeit hinsichtlich unserer Basiswerte beschränken. Die Integration von Muslimen definiert sich insbesondere nicht nur über die Religion. Es ist zwar richtig, dass die Integration ins Gesellschaftsganze sich begrifflich an der Internalisierung des Wertesystems orientiert. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Integrationspolitik hierauf fixiert wäre. Politische Integrierung geht vielmehr über den Bewusstseinsprozess ins bloße Gesellschaftsganze hinaus. Das zeigt sich schon bei der erforderlichen Integration in die einzelnen gesellschaftlichen Systeme, die der Integration ins Ganze dient, von dieser jedoch begrifflich zu unterscheiden sind. Hier sind zunächst erst einmal eine Fülle von unterschiedlichen Zwecksetzungen zu beachten und praktische politische Maßnahmen und Hilfestellungen vorzunehmen, die sich ausschließlich auf das konkrete Zusammenleben beziehen, bevor überhaupt eine ethische Nähe zur Mehrheitsgesellschaft hergestellt werden kann. Integrationspolitik ins Wertesystem bedeutet auch die Verwirklichung des Wertes der Menschenwürde. Die Politik hat insoweit dafür zu sorgen, dass der Zuwanderer seiner Selbstverantwortung als Ausdruck einer würdevollen Selbstachtung gerecht werden kann. Es geht um die Selbstverantwortung als ethische Obliegenheit und die entsprechende ethische Forderung des Gesellschaftsganzen an die individuelle Verantwortlichkeit – nicht zuletzt auch zur Entlastung des Gesellschaftsganzen – sich der eigenen Würde zu stellen. Umgekehrt hat die Politik aber auch dafür zu sorgen, dass für jeden Zuwanderer wie für jeden Inländer die intellektuellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zur Selbstverantwortung geschaffen werden. Dies entspricht der Fremdachtung und Fremdverantwortung, die ebenfalls aus dem Wert der Menschenwürde folgen. Integrationspolitik ist somit auch konkrete Sozialpolitik zur Verwirklichung der Integration in unser Wertesystem. In diesen Zusammenhang wird deutlich, dass auch die Sozialpolitik als ein Bestandteil der Integrationspolitik anzusehen ist. Politik ins Wertesystem wird durch die Politik aus dem Wertesystem, nämlich der Teilhabepolitik ergänzt. Der Begriff der politischen Integrierung darf allerdings nicht zu einer Sammelbezeichnung von ungeordneten politischen Maßnahmen zur Integrierung in einzelne Systeme verkommen. Die Integrationspolitik darf sich insbesondere nicht vorrangig von den Fragen leiten lassen, was für Zuwanderer in unserem Land zu tun ist, wie wir mit Zuwanderern umgehen, welche soziale Hilfe Migranten brauchen, wie Migranten am besten Teilhabe erhalten können. Konzentrierte man sich ausschließlich darauf, drohte das vorrangige Ziel der Integrationspolitik, nämlich die Integration der Zuwanderer ins Wertganze aus den Augen verloren zu werden. Integrationspolitik würde reine Sozialpolitik aus dem Wertesystem, ohne zu berücksichtigen, dass aus dem Wertesystem neben der ethischen Berechtigung auf Teilhabe auch die ethische Verpflichtung zur Teilnahme und vor allem Selbstverantwortung folgt. Eine herausragende Bedeutung kommt der Integrationspolitik darin zu, den Begriff der Integration und die daraus abgeleitete politische Idee in der gesellschaftlichen Wirklichkeit umzusetzen. Wenn die Idee auf die Realität trifft, wenn die Ideen eine reale Konkretisierung erfahren sollen, zeigen sich nämlich erst die monopluralistischen Widersprüche unseres Wertesystems und die dialektischen Spannungsverhältnisse zwischen Freiheit und Gebundenheit, in der die Politik als gestaltender Akteur steht. Dies gilt umso mehr, als die Zuwanderer am Anfang des Prozesses gerade noch nicht integriert sind, d. h. noch außerhalb des Wertesystems stehen.

VIII. Die politische Verwirklichung einer Idee

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Die Komplexität dieser Zusammenhänge ist unübersehbar. Aufgabe der Politik ist es, diese Spannungsverhältnisse aufzuheben bzw. aufzulösen. Politisches Handeln erfordert somit eine ständige Balance zwischen den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschafter und denjenigen der Zuwanderer, wobei bei allen politischen Abwägungsprozessen die politische Integrationsidee als oberster Zweck der Integrationspolitik im Vordergrund zu stehen hat. Dies gilt umso mehr, als aus meiner Sicht der der abstrakten Vernunft abgeleitete Integrationsbegriff, der die Integration als den Endzustand, als das vernünftige Ziel abstrakt definiert, seinerseits ein vernünftiges politisches Konzept für den Weg dorthin vorgibt. So ist es Ausfluss der Vernunft, dass die Integrierung in das Wertesystem nur aus und gemäß dem Wertesystem folgen darf und dies bei allen Abwägungsprozessen zu berücksichtigen ist. Dann entspricht die Politik auch der eigenen Ethik unseres Gesellschaftsganzen. Nur dann handelt es sich im Übrigen um gute Politik, die an sittlichen Zwecken orientiert ist. Eine an sittlichen Zwecken orientierte Politik schließt allerdings in ihrer dialektischen Struktur nicht aus, dass zur Erreichung des Ziels politische Maßnahmen ergriffen werden können oder gar müssen, die „auf den ersten Blick“ im Widerspruch zu den aus der politisch-ethischen Idee abgeleiteten Werten stehen. Es ist zu vermuten, dass der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt darunter „pragmatisches Handeln“ verstanden hat, wenn er gute Politik als pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken bezeichnet hat. Hier wird die nicht auszuschließende Gegenläufigkeit von politisch-ethischer Idee und politischem Handeln angedeutet. Ethische Politik befasst sich nämlich stets mit der Frage, wie man ein ohnehin schon ambivalentes und in einem ethischen Spannungsverhältnis stehendes politisches Ziel erreicht, d. h. welche Mittel einzusetzen sind. Es ist nämlich offenkundig, dass der Mensch nicht von sich aus jederzeit bereit ist, das ethische Ziel aus eigenem moralischem Antrieb zu unterstützen. Hier muss die Politik nachhelfen. Dabei muss die Politik allerdings darauf achten, dass ethische Ziele nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, was vor allem dann der Fall wäre, wenn zu viele Einseitigkeiten sichtbar wären. Die Politik kann deshalb durchaus gefordert sein, etwas zu tun, was auf den ersten Blick ethisch nicht aufgeht, vom Zweck her jedoch auf ein ethisches Ziel gerichtet ist, weil ansonsten dieses ethische Ziel nicht zu verwirklichen wäre. Es liegt deshalb keinesfalls ein nicht zu akzeptierender Widerspruch zwischen unserem Wertesystem und der Politik vor, wenn die Politik an sich bestehende Freiheitsrechte der Zuwanderer beschränkt, um damit die Geltung der Idee der Menschenrechte zu fördern oder wenn gegenüber den Zuwanderern grundsätzlich zugesagte kulturelle Freiheiten vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, um zu erreichen, dass diese sich am Integrationsprozess angemessen beteiligen. Im Gegenteil: Dies gehört zur politischen Steuerungsaufgabe.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

2. Politische Prinzipien der Integration a) Die Integrationsidee als oberstes Ziel der Integrationspolitik Die Politik hat über viele Jahre die Bedeutung der Integrierung von Zuwanderern nicht hinreichend wahrgenommen. In den letzten Jahren hat allerdings ein Umdenken stattgefunden, nachdem man die Zukunftsbedeutung dieses Themas – nicht zuletzt wegen des demografischen Wandels und der damit einhergehenden Veränderung der Bevölkerungsstruktur – erfasst hatte. Man verabredete sich zu Islamkonferenzen und erarbeitete eine Vielzahl von Integrationsprogrammen. Am 12. 7. 2007 wurde als vorläufiger politischer Höhepunkt ein Nationaler Integrationsplan300 vorgestellt, der die Integrationsinitiativen des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Bürgerschaft auf eine gemeinsame Grundlage stellt, was nichts anderes bedeutet, als dass die politische Integrierung planvoll, d. h. zielgerichtet geordnet werden sollte. Im Nationalen Integrationsplan werden die politischen Ziele und Aufgaben der Integrationspolitik im Allgemeinen und der kulturellen Integration im Besonderen wie folgt zusammengefasst: „Integration ist daher eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Grundlage ist neben unseren Wertvorstellungen und unserem kulturellen Selbstverständnis unsere freiheitliche und demokratische Ordnung, wie sie sich aus der deutschen und europäischen Geschichte entwickelt hat und im Grundgesetz ihre verfassungsrechtliche Ausprägung findet. Maßgebend ist zum einen die Bereitschaft der Zuwandernden, sich auf ein Leben in unserer Gesellschaft einzulassen, unser Grundgesetz und unsere Rechtsordnung vorbehaltlos zu akzeptieren und insbesondere durch das Erlernen der deutschen Sprache ein sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu Deutschland zu setzten. Dies erfordert Eigeninitiative, Fleiß und Eigenverantwortung. Auf Seiten der Aufnahmegesellschaft benötigen wir dafür Akzeptanz, Toleranz, zivilgesellschaftliches Engagement und die Bereitschaft, Menschen, die rechtmäßig bei uns leben, ehrlich willkommen zu heißen. Von allen Beteiligten werden Veränderungs- und Verantwortungsbereitschaft gefordert …“

Im weiteren Fortgang (Themenfeld 6) heißt es: „Die deutsche Gesellschaft steht vor einer Integrationsaufgabe, die die Kultur umfasst. Die Realität der Zuwanderungsgesellschaft ist auch eine kulturelle Herausforderung – Dialog ermöglicht Verständigung. Deshalb ist der angemessene Umgang mit kultureller Vielfalt eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft. Integration beinhaltet die Bejahung kultureller Vielfalt. Erfolgreiche Integration setzt eine Kultur der Toleranz und des Miteinanders voraus, auf deren Grundlage Deutsche und Zuwanderer auf dem Boden unserer Verfassungswerte aufeinander zu gehen: Integration bedeutet die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes, ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. Bei der kulturellen Integration von Zuwanderern handelt es sich um einen wechselseitigen Prozess, alle Teile der Gesellschaft sind gefordert größere Bereitschaft zu kultureller Offenheit zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist ein klares gesellschaftliches Leitbild, das die Be300 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Beauftragte fuer Integration 20. 10. 2008.

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reitschaft zur Integration, Selbstvergewisserung über die eigene kulturelle Identität, aber auch Respekt vor kultureller Vielfalt verankert. Integration im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat setzt die Identifikation mit der Wertordnung voraus.“

Damit hat die Politik Aufgaben und Ziele formuliert, die sich auf den ersten Blick durchaus sehen lassen können. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass das eigentliche Ziel einer gesellschaftlichen Integration von Migranten, die gesellschaftsethische Integrationsidee, die in der Herstellung gesellschaftliche Einheit durch Integrierung in das Gesellschaftsganze als Wertganzes besteht, nicht ausreichend benannt wird. Es wird vielmehr deutlich, dass sich die Politik bei der Bestimmung einer gesellschaftlichen Integrationsidee – aus welchen Gründen auch immer – schwer tut. Dies zeigt sich, wenn im Nationalen Integrationsplan davon die Rede ist, dass Integration „Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität“ bedeute. Wie man sich zu einer solch widersprüchlichen – nur Irrtümer auslösenden – Aussage in einem Nationalen Integrationsplan hinreißen lassen kann, ist allerdings unverständlich. Schon die geforderte „Einbindung“ enthält nämlich die ebenfalls im Integrationsplan vorausgesetzte Identifikation mit der Wertordnung. Eine solche Identifikation stellt jedoch eine maßgebliche ethische Assimilierung dar, die logisch zu Ende gedacht für den Zuwanderer zur Aufgabe jeder widersprechenden eigenen ethischen Identität führen muss. Dieser Widerspruch ist es ja gerade, was den eigentlichen gesellschaftsethischen Integrationsprozess so schwierig macht, weil die vorausgesetzte Identifikation zur Folge hätte, dass gerade die Muslime ihren individuellen Glauben und ihr individuelles Religionsverständnis den Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft anzupassen hätten. Das muss bei vielen gläubigen Muslimen zwangsläufig zu einer inneren Zerreißprobe führen, weil damit auch die eigene ethische Identität auf dem Prüfstand steht. Es geht bei der gesellschaftlichen Integration nämlich nicht nur um individuelle Lebensstile, Bräuche oder gar Essgewohnheiten, sondern um zwischenmenschliche, ethische Verhaltensweisen und Gesinnungen, die das Gesellschaftsganze betreffen. Es geht um die Fragen: Wie wollen wir im Gesellschaftsganzen miteinander und untereinander umgehen? Wie sieht der Respekt vor der Würde und Freiheit des anderen aus? Wie soll die Rolle des Mannes und der Frau aussehen? Wie wollen wir den Wert der Menschenwürde, der ethisch-religiösen Selbstbestimmtheit und der Freiheit ausfüllen und verstehen? Gerade hierzu bedarf es einer eindeutigen Stellungnahme der Politik, die nicht missverstanden werden kann, und einer eindeutigen und ehrlichen Antwort der Zuwanderer. Nur wenn die Politik diese Bereitschaft zur Ehrlichkeit herstellt, kann Vertrauen entstehen; nur so kann der so wichtige ethische Dialog überhaupt geführt werden. Ohne Ehrlichkeit kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Ehrlichkeit. Insoweit reicht es für die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Integrationsprozesses eben nicht aus, darauf zu verweisen, Integration setze die Identifikation mit der Wertordnung des Grundgesetzes voraus, zur Integration gehöre selbstverständlich die Anerkennung der Rechtsordnung Deutschlands und der grundgesetzlich ge-

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

schützten Werte. Die innere Identifikation mit der Wertordnung ist nämlich nicht die Voraussetzung der gesellschaftlichen Integration sondern die gesellschaftliche Integration selbst, an der es bei vielen Migranten gerade fehlt und die es im Rahmen eines politisch-ethischen Prozesses erst herzustellen gilt. Zur Identifikation mit der gesellschaftsethischen Wertordnung gehört nämlich mehr, als sich mit den Werten der Menschenwürde, Freiheit und Menschenrechten grundsätzlich einverstanden zu erklären und diese anzuerkennen. Das tun die gläubigen Muslime auch, ohne dass ihnen viel abverlangt werden müsste. Nein, es geht – wenn man von einer vollendetet Integration sprechen will – einzig und allein um die Verinnerlichung (Assimilation) unserer ethischen Wertrangfolgen, was der Sache nach mit der vorrangigen, ja höchstrangigen Geltung unserer humanistischen Grundidee in eins zu setzen ist, an der sich wiederum alle anderen Wertungen auszurichten haben. Gerade darin liegt allerdings das Problem für die gläubigen Muslime, für die der Islam auch gesellschaftsethisch das „einigende Band“ ist. Alle unsere Basiswerte stehen damit unter dem Vorbehalt der Scharia und müssen bei allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Abwägungen hinter Gottes Willen als der Quelle der islamischen Moral zwangsläufig zurückstehen. Unsere Gesellschaft hat jedoch ein unabdingbares ethisches wie politisches Interesse an der vorrangigen Geltung unserer Basiswerte, an denen sich wiederum alle anderen Wertungen auszurichten haben. Alles andere könnte, ein demokratisches Grundmuster vorausgesetzt, dazu führen, dass die Muslime – irgendwann demokratisch, nämlich durch die entsprechenden Mehrheiten legitimiert – unsere Basiswerte an die zweite Stelle und die Scharia als gesellschaftsethische Wertordnung an die erste Stelle rücken könnten. Dies würde letztlich zur Auflösung unserer gesellschaftsethischen Identität und in Folge dessen unserer Verfassung führen. Damit die Migranten, die zu Beginn der Integrierung außerhalb des Gesellschaftsganzen stehen, im Laufe des Prozesses Mitglieder des Wertganzen werden, ist es die vorrangige Aufgabe der Politik, erst einmal hier anzusetzen. Es ist ein vernünftiger Bewusstseinsprozess und ethischer Dialog in Gang zu setzen, in dem deutlich zu machen ist, dass wir auf Dauer exakt auf die innere Identifikation (Assimilation) mit unseren ethischen Wertrangfolgen, nämlich der Erstrangigkeit der Werte der Würde und Freiheit des Menschen einschließlich der Einhaltung der Menschenrechte bestehen müssen und erst dann von einer vollendeten Integration ausgehen ist, während alles andere nur historische Übergänge sein können. Dabei sollte man nicht darauf vertrauen, dass sich durch die Integration in einzelne, im Gesellschaftsganzen aufgehende teilidentische soziale Systeme die Integration ins nur geistig erfassbare, man könnte auch sagen virtuelle Gesellschaftsganze auf Dauer schon irgendwie „schütteln“ werde. Integration in einzelne gesellschaftlichen Systeme oder Sozialsysteme ist nicht mit der Integration ins Gesellschaftsganze gleichzusetzen. Dementsprechend reicht es für die gesellschaftliche Integration auch nicht aus, Teilhabepolitik bzw. Sozialpolitik vor Ort zu betreiben oder konkrete soziale und kulturelle Hilfestellungen zu geben. Hierdurch wird noch lange nicht die Internalisierung des Wertganzen hergestellt. Gesellschaftliche Integration betrifft das Bewusstsein und erfolgt deshalb

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über das Bewusstsein, weshalb auch die Politik sich hierauf zu konzentrieren hat. Wer dies nicht sieht, läuft Gefahr den gesamten Sinn der Integrationspolitik zu verkennen und in Folge dessen die falschen politischen Schwerpunkte zu setzen. Politisch muss den Migranten deshalb weiter dargelegt werden, worin unsere ethische Wertordnung, von der wir uns gesellschaftliche Einheit versprechen, besteht und dass diese wegen unserer obersten humanistischen Grundidee nicht beliebig ist. Es muss dabei sichtbar gemacht werden, dass unser oberster gesellschaftsethischer Wert nicht eine unbeschränkte falsche Toleranz ist, die einem radikalen Werterelativismus entspringt. Wir müssen politisch eine Diskussion führen, in der wir deutlich machen, was wir unter ethischer Freiheit und Würde des Menschen verstehen und warum diese Werte in unserem Gesellschaftssystem diesen herausragenden Stellenwert haben und warum dies auch vernünftig ist. Die Politik muss schlichtweg philosophische, ethische, religiöse und politische Aufklärung und Überzeugungsarbeit betreiben und dabei die Fragen stellen, warum es vernünftig sein soll, dass nicht jeder Mensch ethisch selbst bestimmt sein soll, oder warum Frauen den Männern in ihrem Wesen und damit in ihrer Entschließungsfreiheit den Männern nicht gleichgestellt sein sollen. Gerade die gedachte Negation dieser Werte müsste jedermann bewusst machen, wie elementar diese Werte für das ethische Zusammenleben sind. Die Politik muss folgerichtig versuchen das selbstständige gesellschaftsethische Wertesystem im Verhältnis zu den Muslimen unabhängig von religiösen Wertesystemen im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Es muss klar sein, dass gesellschaftliche Integration in erster Linie die Integrierung in das Gesellschaftsganze bedeutet. Dieser bewusstseinsmäßige Prozess ist von den Integrierungen in die einzelnen gesellschaftlichen Teil- oder Subsysteme logisch zu unterscheiden, auch wenn die reale und praktische politische Umsetzung nur Hand in Hand verlaufen kann. Nichts desto trotz dürfen die logischen Zusammenhänge nicht vergessen werden. b) Ohne integrierte Aufnahmegesellschaft keine Integration von Zuwanderern Um die hier vertretene Integrationsidee möglich zu machen und ihr dauerhaft zu genügen, ist es notwendig, dass sich die Mehrheitsgesellschafter mit ihrem eigenen gesellschaftsethischen Wertesystems identifiziert haben. Nur wenn die Mehrheitsgesellschafter selbst ethisch integriert sind und eine starke sittliche Gemeinschaft301 bilden, kann die Integration von Zuwanderern gelingen. Nur wer die eigene Identität kennt, kann den Ankömmlingen überhaupt sagen, welche gesellschaftsethischen Bande bestehen und wie man vernünftigerweise ethisch zusammenleben möchte. Nur wenn die Migranten wissen, welche ethischen Standards unsere Gesellschaft selbst lebt und erwartet, können sie sich daran orientieren. Nur wenn wir von unserem eigenen Wertesystem überzeugt sind, können wir andere überzeugen.

301

Vgl. hierzu Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 309.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

Weiß allerdings selbst die Aufnahmegesellschaft nicht, was sie als die Gesellschaft zusammenhält, worin die gesellschaftsethische Einheit liegt, oder orientiert man sich an einem falsch verstandenen philosophischen Relativismus und bietet lediglich Wertbeliebigkeit an, muss man sich nicht wundern, wenn sich die Zuwanderer erschreckt abwenden und ihre Kultur beharrlich weiterleben, weil diese ihnen wenigstens noch Wertorientierung gibt. Aber damit nicht genug. Ein Beliebigkeit ausstrahlender Werterelativismus bereitet sogar noch den Boden für eine falsch verstandene Multikulturalität, die den Zuwanderern letztendlich noch die Begründung dafür bietet, sich nicht integrieren zu müssen. Die Politik ist deshalb im Rahmen der ethisch-kulturellen Auseinandersetzung mit den Zuwanderern aufgefordert zunächst das eigene gesellschaftsethische Wertesystem, d. h. über die eigene Identität zu reflektieren. Eine politische Debatte über unser eigenes Wertsystem und dessen maßgebliche Prinzipien ist im Rahmen der Integrationsdebatte unausweichlich, um den Maßstab der eigenen Integration und den Bezugsrahmen für die Integrierung der Zuwanderer zu bestimmen. Darüber hinaus ist diese Reflexion auch nötig, um überhaupt das Trennende und Verbindende zu erkennen. Bei der bisherigen politischen Diskussion musste allerdings immer wieder festgestellt werden, dass es unserer Gesellschaft selbst schwer fällt, den Maßstab ihrer eigenen ethischen Integration positiv zu bestimmen. Überwiegend scheint man lediglich der Auffassung zu sein, dass das christlich-religiöse Wertesystem gesellschaftsethisch keine vorrangige Rolle mehr spiele und als Identität stiftendes gesellschaftliches Wertesystem für Muslime wie auch für Nichtgläubige kaum tauglich sein dürfte. Nicht weiter geführt hat auch die geführte Diskussion um eine Leitkultur oder nationale Kultur. Nach einem „Multikulti-Irrweg“ und einem immer extremer werdenden innergesellschaftlichen Subjektivismus – beides Ausfluss eines radikalen Wertrelativismus – scheint man im gesellschaftlichen Diskurs immer mehr dahinter zu kommen, was man nicht will. Nämlich eine Gesellschaft, in der die Werte in unserer Gesellschaft als beliebig dargestellt werden und einer falsch verstandenen Toleranz und Freiheit das Wort geredet wird, die jeden befähigt das zu tun, was er will, ohne auf den anderen Rücksicht nehmen zu müssen.302 Der innergesellschaftliche politische Diskurs hat sich deshalb zwischenzeitlich den Verfassungswerten zugewandt. Dabei wird allerdings nicht wahrgenommen, dass es sich bei der Verfassung in erster Linie um eine einseitige, rechtliche und nicht um eine polardialektische, ethische Wertordnung handelt, auch wenn immer wieder versucht wird ethische Verpflichtungen aus der Verfassung abzuleiten, d. h. aus der Verfassung eine höhere Wertordnung herauszulesen. Aus meiner Sicht erfolgt bislang allerdings nur ein ungeordnetes und lediglich relatives Bekenntnis zur Demokratie, zur Freiheit, zur Menschenwürde, zu den Menschenrechten, zum Sozialstaats302

Küng, Weltethos, S. 43.

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prinzip, zur Toleranz und zum Pluralismus, ohne zu merken, dass wir eigentlich nicht in einer pluralistischen, sondern in einer monopluralistischen Gesellschaft leben. Nicht realisiert wird in der gesamten politischen Diskussion, dass es ein selbstständiges gesellschaftsethisches Wertesystem gibt, welches weder mit dem religiös-ethischen System noch mit der Verfassung noch mit einer nationalen Leitkultur identisch ist, auch wenn es gedankliche und historische Überschneidungen gibt. Allein dieses ganzheitliche, von den Menschenrechten und den Werten der Menschenwürde und Freiheit geprägte polardialektische Wertesystem mit all seinen ethischen Berechtigungen und Verpflichtungen entspricht dem säkularen Gedanken und der menschlichen Vernunft. Dieses Wertesystem mit seiner humanistischen Grundidee hat die Politik nach meinem Dafürhalten in das Bewusstsein der Bürger zu rücken, wobei vor allem die dem System immanente Rangordnung der Werte in Abgrenzung zur Beliebigkeit und grenzenlosen Freiheit in den Vordergrund zu stellen ist. Dabei ist deutlich zu machen, dass unter Rangordnung nur die Erstrangigkeit der Menschenwürde und des personhaften Existierens des Menschen gemeint ist. Nur wenn dies geschieht, können die gesellschaftlichen Spannungsverhältnisse durch politische Abwägungsprozesse, die aus der Polardialektik der Werte heraus immer nur relativ sind, systemgerecht aufgelöst werden. Sollte es der Politik nicht gelingen, diesen systematischen und ganzheitlichen Wertkonsens überzeugend anzubieten und in den Köpfen der Bürger zu verankern, droht sogar schon die mangelnde Integration oder Desintegration der Mehrheitsgesellschafter. Über die mangelnde Integration der Zuwanderer braucht man sich dann nicht mehr zu beklagen. Dass für eine derartige Bewusstseinsbildung nicht nur bei den Migranten, sondern auch bei den Deutschen selbst außerordentlicher Bedarf besteht, zeigen verschiedene Studien. So hat z. B. eine Studie der Freien Universität Berlin, nach deren Inhalt in der Zeit von 2005 bis 2007 über 5000 Schüler in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Berlin und Brandenburg vergleichend zu den Sachthemen der deutschen Geschichte und ihrer politischen Einstellung befragt wurden, ergeben, dass die Werte einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft erschreckend vielen Schülern weder bekannt noch bewusst waren. So musste festgehalten werden, dass viele deutsche Jugendliche noch nicht einmal mit der Achtung der Menschenrechte etwas anfangen konnten.303 Es ist zu vermuten, dass diese erheblichen Defizite nicht nur bei Schülern vorhanden sind. Nur eine ethisch selbstbewusste Gesellschaft, ist auch in der Lage, sich der Kultur der Zuwanderer zu öffnen und Neues zuzulassen, soweit es nicht den eigenen Basiswerten widerspricht. Nur wenn sich die Gesellschaft ihrer eigenen ethischen Fundamente bewusst ist, empfindet sie nicht jede in unserem Land gelebte fremde Kultur per se als Angriff auf ihre Kultur. Nur eine Gesellschaft, die wertebeliebig und nicht stabil ist, hat Angst vor ihrer eigenen Instabilität und damit vor der endgültigen Zersetzung durch andere Kultureinflüsse. Instabilität begünstigt Intoleranz gegenüber Migranten.

303

Die Welt vom 10. 11. 2007 S. 1, 4.

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Auch dies zeigt einmal mehr die politische Dringlichkeit, eine aus sich heraus starke ethische Gemeinschaft zu fördern. Dabei reicht es allerdings nicht aus, verbal auf eine Leitkultur zu verweisen, um Führungsstärke zu demonstrieren. Nur eine wirklich gefestigte Gemeinschaft ist in der Lage die Integrationsidee zu verwirklichen. Nur eine integrierte Gesellschaft wird sich nicht schwer tun, unter Wahrung ihres Werterahmens den mentalen Willen und die emotionale Bereitschaft aufzubringen, die Zuwanderer bei dem nicht einfachen gesellschaftsethischen Prozess zur Integration wohlwollend aufzunehmen und dauerhaft zu begleiten. Nur eine ethisch starke Gesellschaft wird sich – nicht zuletzt auch im Interesse ihres eigenen Fortschritts – mit anderen, ihr fremden Kulturen auseinandersetzen und prüfen, was man von der neuen Kultur lernen oder gar übernehmen kann. Zu einer integrierten, von ihren eigenen Wertsetzungen überzeugten Gesellschaft gehört es auch, zu begreifen, dass das Wertesystem auch die verlässliche Grundlage für das eigene Handeln nach innen sowie gegenüber den Zuwanderern ist. So kann es unter dem Gesichtspunkt der humanistischen Idee und der Menschenrechte keinen innergesellschaftlichen Kompromiss darüber geben, Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit zu dulden oder Raum zu geben. Alle dorthin gerichteten Tendenzen sind politisch und rechtlich schon im Ansatz zu unterbinden, auch zur immerwährenden Schärfung des Wertbewusstseins. Ferner müssen auch diejenigen Mehrheitsgesellschafter, die zwar kein grundsätzliche Ausländerfeindlichkeit in sich tragen, aber dennoch der Auffassung sind, Zuwanderern könnte nicht die gleiche Teilhabe und die gleichen Rechte eingeräumt werden, davon überzeugt werden, dass unser Wertesystem von der Gleichberechtigung aller ausgeht. Aber auch Forderungen, von den Zuwanderern ohne wenn und aber eine Assimilation der in Deutschland gelebten Kultur in Gänze zu fordern, ist – bei einer systemimmanenten Betrachtung – eine Absage zu erteilen. Hierüber kann es auf der Basis des geltenden ethischen Wertesystems keinen innergesellschaftlichen Konsens geben. Andererseits gehört es aber auch zu einer integrierten Gesellschaft, dass sie im Verhältnis zu den Zuwanderern neben dem eigenen System ein weiteres „multikulturell“ nicht zulassen kann, wenn es zum eigenen im Widerspruch steht. Dieses dialektische Spannungsverhältnis, in dem die Gesellschaft aufgrund dieser konträr vertretenen Auffassungen in den letzten Jahrzehnten stand, bedarf der innergesellschaftlichen Auflösung. Nur die Forderung nach der konsequenten Umsetzung unseres polardialektischen gesellschaftsethischen Wertesystems kann die richtige Haltung einer sittlich integrierten Gesellschaft sein. c) Keine politische Zwangsassimilierung Im Nationalen Integrationsplan ist zutreffend davon die Rede, dass Integration nur im Dialog aller vorangebracht werden könne, gelebt werden müsse und sich nicht verordnen lasse. Richtig ist auch, dass von jeder und jedem auch eigene Anstrengungen und Selbstverpflichtung in seinem und ihrem Verantwortungsbereich eingefordert werden müsse.

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Problematisch erscheint es hingegen, wenn in diesem Zusammenhang pauschal davon die Rede ist, dass sich diejenigen Migranten, die sich der Integration dauerhaft verweigern, auch mit Sanktionen rechnen müssten. Abgesehen davon, dass bei der Inaussichtstellung von Sanktionen vorher erst einmal gesagt hätte werden müssen, was man unter Integration versteht, liefe dieser Hinweis auch leer, wenn man darunter nur die objektive Einhaltung der Rechtsordnung verstünde. Die rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Rechtsordnung ist ohnehin von jedermann ohne Ausnahme einzuhalten. Die Rechtsordnung hält selbst zur Verwirklichung ihres eigenen Schutzzweckes heraus Instrumentarien wie Strafandrohungen bereit. Versteht man wie ich unter einer vollendeten Integration dagegen die Verinnerlichung unseres ethischen Wertesystems, drängt sich die Frage auf, ob die zwangsweise politische Durchsetzung dieser Gesinnung gegenüber Muslime, die den Wert der Menschenwürde unter den Vorbehalt der Scharia stellen, geboten ist. Damit sind wir bei einem weiteren entscheidenden Grundsatz der politischen Integrierung. Dieser lautet: Politische Integrierung ins Wertesystem kann nur gemäß dem Wertesystem erfolgen, d. h. sie darf den Prinzipien des Wertesystems selbst nicht widersprechen. Das hängt damit zusammen, dass das Wertesystem der Inhalt des Gesellschaftsvertrages ist. Die Idee des gesellschaftsethischen Wertesystems ist es, die gesellschaftliche Einheit der Gesellschaftsbürger herzustellen. Der Zweck des Wertesystems ist somit mit dem Integrationszweck identisch. Unabhängig von allen Besonderheiten der Zuwanderung bedeutet dies, dass nur die politische Verwirklichung des Wertesystems selbst gesellschaftliche Einheit bringen kann. Da die Idee des Wertesystems mit der Integrationsidee identisch ist, wird das Wertesystem somit zum Maßstab der gesamten Integrationspolitik sowohl nach innen wie auch nach außen, da es das Wertesystem ist, welches das ethische Zusammenleben der Menschen bestimmt. Nur wenn sich die Politik am gesellschaftsethischen Wertesystem orientiert, entspricht sie dem Gesellschaftsvertrag und damit dem vorausgesetzten und geschaffenen demokratischen und humanen Leitbild. Nur dann handelt es sich im Übrigen auch um ethische Politik, da allein das Wertesystem die ethische Grundlage des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens darstellt. Dabei ist klarstellend hinzuzufügen, dass eine durch das Wertesystem bedingte Politik nur dann wiederum ethisch sein kann, wenn das Wertesystem selbst an den Werten der Würde des Menschen und dessen Freiheit und Gleichheit orientiert ist. Spielt in einem Wertesystem die ethische Selbstbestimmtheit des Menschen dagegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle, stellt sich selbstverständlich die Frage nach der philosophischen Ethik des gesellschaftlichen Wertesystems selbst und damit auch der Politik. Aus dem politischen Grundsatz, dass politische Integrierung nur gemäß dem Wertesystem erfolgen kann, folgt somit der politische Grundsatz, dass es eine ethische Zwangsassimilierung nicht geben kann. Eine Zwangsintegrierung des Einzelnen wäre, auch wenn sie von manchen als wünschenswert angesehen wird, den Wert der Würde, wie wir ihn verstehen, nicht zu vereinbaren. Dem Zuwanderer kann folg-

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lich auch keine rechtliche Verpflichtung auferlegt werden sich tatsächlich subjektiv zu integrieren bzw. das Wertesystem zu verinnerlichen. Dementsprechend kann es auch keine Sanktionen für die Nichtinternalisierung des Wertesystems geben. Wie sollte dies auch aussehen, da Integration das Ergebnis eines gesellschaftsethischen Gerinnungsprozesses ist, der ohnehin nicht sichtbar und durchschaubar ist. Diese Grundsätze ändern allerdings nichts daran, dass es nach der hier vertretenen Auffassung eine ethisch-politische Pflicht jedes Gesellschaftsbürgers und damit auch jedes Zuwanderers bleibt, sein Verhalten und seine innere Haltung an dem Wertesystem des Gesellschaftsganzen dauerhaft zu orientieren, wenn er in diesem Gesellschaftsraum mit anderen zusammen lebt. Dies gilt vor allem dann, wenn er auch einen Anspruch auf ethische Teilhabe an diesem Wertesystem, das den Gesellschaftsvertrag der Menschen ausmacht, erhebt und diese Teilhabe auch erhält. Denn es kann ethisch nicht sein, dass man zwar an den Wohltaten und Vorteilen des Wertesystems als Mitglied des Ganzen partizipiert, sich aber ansonsten außerhalb dieses gesellschaftlich verankerten und gelebten Wertesystems stellen will. Dennoch: Was die innere Gesinnung angeht, ist politische Überzeugungsarbeit und das Wecken einer ethisch-politischen Bereitschaft zur Internalisierung der Wertordnung erforderlich. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es vor allem für die gläubigen Muslime nicht einfach ist, ihre religiöse Ethik, die gemäß dem Islam auch gesellschaftspolitische Ethik ist, mit der in der Bundesrepublik gelebten Gesellschaftsethik kompatibel zu machen. Diesen ethischen Konflikt muss man politisch immer im Auge behalten bei der Frage der politischen Gestaltung des Integrationsprozesses. Man darf nämlich nie vergessen, dass das Problem der Integrierung darin besteht, dass die Migranten einem Wertesystem bzw. einer gesellschaftlichen Ethik unterliegen, die nicht mit der unsrigen übereinstimmt, die mit ihren Ideen und Werten in einem System leben, das mit unserem nicht deckungsgleich ist, sondern sozusagen strukturell daneben steht. Unter dieser Voraussetzung muss man Verständnis dafür haben, dass es – was den inneren Integrationsprozess angeht – nur bei einem dringenden ethischen Appell bleiben kann, innere Kompatibilität mit den Wertvorstellungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu suchen und herzustellen, um vollständige Integration überhaupt erst möglich zu machen. Diese Darlegungen stellen auch keinesfalls einen nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Integrationsbegriff und Integrationspolitik dar. Der Begriff der Integration beschreibt abstrakt, d. h. unabhängig von allen gesellschaftlichen und psychologischen Realitäten und Wertungen einen Zustand, dem auch ein Ziel immanent ist. Die Politik ist dagegen dazu da, den Prozess zu diesem Ziel unter Berücksichtigung anderer Ideen und unter Berücksichtigung der Realitäten zu gestalten und zu fördern. Kein Verstoß gegen das ethische Verbot der Zwangsassimilierung liegt vor, wenn der Staat gegenüber den Zuwanderern auf die äußere Einhaltung der Rechtsordnung pocht und diese zwangsweise durchsetzt. Dies ist erforderlich, damit der Rechtsfrieden und das äußere Zusammenwirken aller Gesellschaftsbürger nicht in Frage gestellt werden. Über die Einhaltung der Rechtsordnung ist zudem gewährleistet, dass we-

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nigstens das äußere Handeln und Verhalten aller Akteure am Wertesystem orientiert ist. Ebenfalls nichts mit Zwangsassimilation hat es zu tun, wenn die Politik Sanktionen für den Fall androhen sollte, dass der Migrant keine Neigung zeigen sollte, sich am Integrationsprozess selbst zweckgerichtet zu beteiligen. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn dieser Bildungsangebote nicht wahrnähme oder auch ansonsten die gemachten Integrationsangebote und Anreize ablehnte. In diesem Fall erscheint es erforderlich, rechtlich verbindlichen Druck zur Beteiligung am Integrationsprozess selbst auszuüben. Denn eins ist auch klar: Es gibt zwar keinen politisch-juristisch durchsetzbaren Anspruch des Gesellschaftsganzen auf innere gesellschaftsethische Integration. Es gibt allerdings einen ethischen Anspruch des Gesellschaftsganzen auf Mitwirkung und eine entsprechende ethische Verpflichtung jedes einzelnen Migranten. Diese ethische Verpflichtung ist zunächst freiwillig. Sollte die ethische Bereitschaft jedoch gänzlich fehlen, den Prozess zweckgerichtet zu begleiten, muss die Politik darüber nachdenken, ob sie den ethischen Forderungen nicht durch rechtliche Vorgaben zur Teilnahme am Prozess Nachdruck verleiht, wie dies z. B. bei der Verpflichtung zur Teilnahme an Sprachkursen bereits der Fall ist. Es spricht auch nichts dagegen, derartige Mitwirkungspflichten im Rahmen eines rechtlich verfassten Integrationsvertrages mit den Zuwanderern zu regeln, wie dies im europäischen Ausland schon teilweise der Fall ist. Fraglich ist schließlich, was politisch geschehen soll, wenn der Zuwanderer sich sichtbar beharrlich und endgültig weigern sollte, sich bewusstseinsmäßig ins Gesellschaftsganze zu integrieren. Hier wird immer wieder diskutiert, ob und inwieweit es der Mehrheitsgesellschaft möglich sein soll, ihr ethisches Angebot auf Teilhabe und Teilnahme, d. h. auf Integration ins Gesellschaftsganze zurückzuziehen. Die Möglichkeit der Zurücknahme des Integrationsangebotes ist jedoch abzulehnen, weil dies wiederum dem Verbot der Zwangsassimilierung widersprechen würde. Der Lösungsansatz kann meines Erachtens deshalb nur im Recht liegen, dessen Akzeptanz zumindest eine äußere Integration als Vorstufe einer endgültigen Integration darstellt. Demgemäß sollte derjenige, der äußerlich integriert ist, keine Sanktionen zu befürchten haben. Derjenige, der sich dagegen auch in seinem äußeren Verhalten nicht an die Werte und Normen einer demokratisch legitimierten Rechtsordnung hält, der sich also weder innerlich noch äußerlich an unsere Wertordnung hält, sollte dagegen mit politischen und rechtlichen Zwangsmaßnahmen rechnen müssen. Das Verbot der Zwangsassimilierung bedeutet nämlich nicht, dass man nicht dem freien Willen desjenigen, der weder innerlich noch äußerlich integriert sein will, nachkommen und ihn als nicht integrierbar behandeln sollte. Alles andere wäre falsche Rücksichtnahme. d) Keine Ergebnisoffenheit des politisch ethischen Dialogs Nach dem Modell einer pluralistischen Demokratie, wie dies auch in der deutschen Verfassungsordnung vorgesehen ist, sind politische Fragen in demokratischen Prozessen zu lösen. Das Gemeinwohl ist im pluralistischen Staatsmodell das Resultat

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eines ergebnisoffenen Interessensausgleichs, wobei Pluralismus die Vorstellung beinhaltet, dass eine Vielzahl politischer, wirtschaftlicher, sozialer und religiöser Gruppen mit friedlichen Mitteln im Rahmen eines Dialogs um die Lösung eines politischen Problems ringt. Keine Lösung soll als endgültig gelten, sondern soll sich permanent in der politischen Praxis und in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lösungskonzepten bewähren.304 Die Integrationspolitik ist von vielen dialektischen Spannungsverhältnissen durchsetzt, die eines ethisch-politischen Dialogs bedürfen. So ist z. B. für viele Mehrheitsgesellschafter nicht verständlich, dass man Migranten, obwohl diese teilweise noch in offener Ablehnung zu unserem Wertesystem stehen und offensichtlich noch nicht integriert sind, erlaubt Moscheen zu bauen, islamische Kopftücher zu tragen und ihnen auch ansonsten umfängliche Toleranz und Teilhabe zukommen lässt. Unverständlich ist für viele auch, dass man von den Migranten nicht die Übernahme der gesamten deutschen Kultur abverlangen können soll, während andere wiederum befürworten, dass man die Migranten doch „multikulti“ machen lassen soll, was sie wollen. Andererseits dürfte eine Vielzahl der Migranten beklagen, dass sie das Wertesystem im Ergebnis subjektiv wie objektiv als gesellschaftliches Wertesystem anerkennen sollen, obwohl sie aufgrund ihrer Religion oder ihrer Familientradition von einer anderen Überzeugung geleitet sind. Angesichts dieser Gefühls- und Meinungsvielfalt ist es kein Wunder, dass über die Grundsätze der Integrierung in der Gesellschaft heftig diskutiert und gestritten wird. Im Rahmen dieser Diskussion ist allerdings unschwer zu erkennen, dass diese Diskussion vorwiegend von Emotionen geprägt ist und eine Tendenz um sich greift, die Vorgänge, ohne sie vorher sachlich analysiert zu haben, vorab schon emotional in die eine oder andere Richtung wenig differenziert und einseitig zu beurteilen. Dies liegt allerdings in der Natur der Sache, weil es selbstverständlich Migranten gibt, die sich ohne Probleme integrieren lassen und es andererseits Migranten gibt, die alles tun, um sich nicht integrieren zu müssen. Dies führt wiederum dazu, dass derjenige, der Migranten kennt, die integriert sind, gar nicht verstehen kann, warum es so schwer sein soll Toleranz und Vertrauen aufzubringen, während derjenige, der auf nicht integrierbare Überzeugungstäter schaut, sich nur über die Blauäugigkeit der allzu Toleranten und Vertrauensseeligen wundert. Umgekehrt führt dies wiederum dazu, dass sich die Migranten, die sich bereits integriert haben bzw. auf dem besten Weg dorthin sind, selbstverständlich nicht gut behandelt fühlen, wenn ihnen von der anderen Seite Misstrauen entgegen gebracht wird. Die Diskussion wird umso komplizierter, als es sich bei der Integrierung nicht um eine statisch feststehende Gegebenheit, sondern um einen Prozess handelt, wodurch sich selbstverständlich auch der Diskussionsstoff ständig, angepasst an den jeweiligen Stand des Prozesses, ändert. 304

Hilgendorf, Recht, dtv. Atlas, S. 91.

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Aufgabe der Politik ist es insoweit, diesen politischen Diskurs und Dialog zu moderieren und zu gestalten. Die unterschiedlichen Auffassungen von Integration und die unterschiedlichen Interessen müssen dabei gegenübergestellt und miteinander verglichen werden, um zu klären, wo Gegensätze und Übereinstimmungen liegen. Es ist weiterhin Aufgabe der Politik, die Diskussion gedanklich zu ordnen, um Missverständnisse zu vermeiden. Es macht deshalb keinen Sinn, wenn gerade Politiker ständig wechselseitige Vorurteile bewegen, weil dies das Lagerdenken nur noch verfestigt, obwohl eigentlich jeder zumindest ahnt, dass die Wahrheit irgendwo in einer vernünftigen „Mitte“ liegt. Im Rahmen des ethisch-politischen Dialogs muss allerdings klar sein, dass sich der gesellschaftliche Dialog zwischen der Mehrheitsgesellschaft und dem Migranten nur auf das „Wie“, auf die Art und Weise, auf die Dauer der Integrierung, nicht jedoch auf das „Ob“ beziehen kann. Es muss von Anfang an feststehen, dass unser Wertesystem als solches und Ganzes einschließlich seiner Basiswerte nicht zur Disposition im Rahmen eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses stehen kann. Insoweit kann und darf es trotz aller Toleranz im gesellschaftsethischen Diskurs keine Ergebnisoffenheit geben. Zumindest missverständlich sind deshalb die Ausführungen des Oberbürgermeisters der Stadt Nürnberg Ulrich Maly,305 der ausführte, Ziel des politischen Diskurses in den Städten und letztendlich auch in der Bundesrepublik müsse es sein, Einigkeit darüber herzustellen, wie verschieden wir sein wollen. Maly verkennt dabei, dass es über das „Ob“ der Anerkennung des Wertesystems als Ganzes bzw. unserer Verfassung, welches Grundlage unseres Gesellschaftsvertrages ist, keinen ergebnisoffenen Diskurs geben kann. Umgekehrt kann es aber auch keinen Diskurs darüber geben, wie verschieden wir sein dürfen. Das Wertesystem, um dessen Anerkennung wir uns bemühen, ist darin nämlich ebenfalls eindeutig. Migranten dürfen danach ihre Gruppenkulturen uneingeschränkt so leben, wie sie wollen, soweit sie mit der alles durchfließenden Kultur des Gesellschaftsganzen, d. h. dem Wertesystem nicht im Widerspruch stehen und deren Relevanz nicht in Frage stellen. Dem entspricht nicht nur die hier vertretene monopluralistische Integrationsidee, sondern auch unsere Verfassungskultur, nach der der Rahmen jedes politischen Dialogs nicht nur durch rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze, sondern auch durch den Wert der Menschenwürde bestimmt wird. Das zeigt: Die Integrationsidee hat ihre festen Bestandteile. Diese können nicht Gegenstand eines ergebnisoffenen Diskurses sein. Integration sieht keinen Konsens im Sinne eines Zusammenschlusses vor, nach dessen Inhalt jeder seine Wertvorstellungen und Systeme einbringen kann, zumal diese selbst noch nicht einmal unter den Migranten einheitlich sind. Integration ist auch kein Konsens über den kleinsten gemeinsamen Nenner des Zusammenlebens, auf den man sich sozusagen im Sinne eines Wertkonsenses und Aushandelns verständigen müsste. Der Integrationsendzustand ist kein Zustand eines politischen Konsenses, sondern wird ausschließlich durch 305

Maly, Deutsche Integrationspolitik aus Sicht einer Kommune, S. 148.

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das durch die Integrationsidee vorgegebene Wertesystem repräsentiert. Insbesondere darüber, dass die Vollendung der Integration erst in der Internalisierung des Wertesystems als Ganzem liegt, kann es keinen gesellschaftlichen Kompromiss geben. Die Werte der Menschenwürde und ethischen Freiheit als Voraussetzungs- bzw. Basiswerte, die der gesamten Wertordnung als obersten Werte ihre Prägung geben, sind nicht verhandelbar. Diese Werte, die mit den realen Menschenrechten korrespondieren, sind auch unabhängig von jeglichem Zeitgeist gesetzt. Insoweit ist an den Satz von Dietrich Bonhoeffer, der 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, zu erinnern: „Es gibt Dinge im Leben, für die es sich lohnt eine kompromisslose Haltung einzunehmen.“ Der Dialog ist dagegen von allergrößter Bedeutung, wenn es darum geht, die Migranten von unserem gesellschaftsethischen Wertesystem inhaltlich zu überzeugen, da eine diesbezügliche politische Zwangsassimilierung schon aus der eigenen Ethik heraus nicht in Frage kommt. Nur im Gespräch und in der Diskussion und auch im humanen Umgang mit den Zuwanderern können wir den Beweis antreten, dass unser gesellschaftsethisches System trotz aller dialektischen Spannungsverhältnisse und Zwiespältigkeiten vernünftig ist, eine gute Orientierung für das menschliche Zusammenleben gibt und zudem Religionsfreiheit gewährt. Der Dialog ist ferner deshalb so wichtig, wenn es um den gesellschaftspolitischen Weg geht, um das Integrationsziel zu erreichen. Dabei wird es wegen der Dialektik von Integrationsidee und Realität immer wieder darum gehen, welche politische Maßnahmen erforderlich sind, um auf die Bürger der Mehrheitsgesellschaft oder die Migranten, notfalls – wenn keine ethische Freiwilligkeit zu erkennen ist – auch mit gesetzgeberischen Maßnahmen einzuwirken, um den erstrebten Integrationszustand zu erreichen. So kann es im historisch-politischen Verlauf durchaus fraglich sein, dem Migranten, der noch außerhalb der Wertordnung steht, die ihm eigentlich nach dem Wertesystem eingeräumte kulturelle Freiheit zu gewähren, weil die Zeit noch nicht reif ist oder weil das nötige Vertrauen in die Integrationsbereitschaft der Migranten noch nicht da ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Prozess hakt. Der politische Dialog ist dabei nicht nur notwendig, um wechselseitiges Verständnis für das Stocken des Prozesses zu wecken. Das Gespräch dient dazu, zu sehen, wo der Integrationsprozess steht und warum er ins Stocken gekommen ist. Dabei wird den Beteiligten bewusst werden, dass die politische Integrierung ein ständiges Geben und Nehmen und Fordern und Fördern ist – mit dem Ziel, dass der Migrant einerseits das Wertesystem assimiliert und der Einheimische andererseits dem Migranten die aus dem Wertesystem fließenden ethischen Berechtigungen und die Teilhabe zukommen lässt und ihn als teilidentisches Mitglied des Gesellschaftsganzen akzeptiert. Auch bei der Beschreitung des Weges werden natürlich die Meinungen aufeinander prallen, je nachdem ob man mehr die Interessen der Migranten oder die Interessen der Mehrheitsgesellschafter im Auge hat. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen kommt es natürlich zu extrem unterschiedlichen Positionen, die nach meinem Dafürhalten auch uneingeschränkt geäußert werden sollten, ohne dass die eine Seite sich des Vorwurfs des Vaterlandverräters oder die andere Seite

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sich des Rassismus oder der Ausländerfeindlichkeit beschuldigen lassen muss. Man kann deshalb auch nicht sagen, dass sich die Problematik der Integration nicht für Wahlkämpfe eigne. In einer an der menschlichen Freiheit und ethischen Selbstbestimmtheit orientierten Demokratie gehören alle gesellschaftspolitischen Themen auf den Tisch, damit alle Argumente im Glauben an die Macht des besseren und vernünftigeren Arguments ausgetauscht werden können. Wer nämlich auf der einen oder anderen Seite überzieht oder untertreibt und nicht die Vernunft des Prozesses im Auge hat, wird schon auf kurze Sicht keine Zustimmung erfahren. e) Vertrauen gegen Vertrauen Zum Gelingen des Dialogs gehört aber nicht nur Verstehen und Verständnis, sondern auch Vertrauen. Das gesamte gesellschaftliche System kann nur funktionieren, wenn wechselseitig Vertrauen in die geäußerten Absichten und Handlungsweisen besteht. Unsere Gesellschaft ist eine Vertrauensgesellschaft. Auch dies folgt aus dem Wert der Menschenwürde, dem es immanent ist, den anderen nicht hinters Licht zu führen bzw. das zu halten, was man versprochen hat. Man mag nur einmal bedenken, was passierte, wenn wir – unabhängig von juristischen Folgen – nicht mehr darauf vertrauen könnten, dass jeder Mensch in seinem funktionalen Zusammenhang, wie z. B. der Automechaniker beim Wechseln der Reifen, das tut, was er versprochen hat, nämlich wie in unserem Beispiel die Schraubenmuttern ordnungsgemäß festzuziehen. Aufgabe der Politik ist es, im Rahmen des Prozesses wechselseitiges Vertrauen herzustellen. Ohne Vertrauen werden nicht nur die Integrationsvorgänge selbst in ihren Abläufen behindert; es ist auch kaum vorstellbar, wie Aufnahmegesellschafter und Migranten im Ergebnis gemeinsam eine Einheit im Rahmen einer Wertgemeinschaft sein sollen, wenn sie sich wechselseitig misstrauten. Die Mehrheitsgesellschaft benötigt dabei das Gefühl, dass die Zuwanderer ernsthafte Bemühungen zeigen, sich mit der Wertstruktur des Gesellschaftsganzen zu identifizieren, d. h. gesellschaftliche Einheit zu wollen. Andererseits bedeutet Vertrauenskultur aber auch, dass sich die Migranten darauf verlassen können, dass sie gleichberechtigte Teilhabe erhalten, dass sie in ihrer kulturellen Struktur ernst genommen werden und man sie mit größtmöglichem Verständnis auf dem nicht einfachen Weg, der für sie mit inneren Konflikten verbunden ist, begleitet. Um dieses wechselseitige Vertrauen aufzubauen, ist es nötig, einen verständnisvollen Meinungsaustausch und Diskurs über die wechselseitigen Bedürfnisse und Interessen zu führen. Aus diesem Grunde sind die Islamkonferenzen, die regelmäßig stattfinden, von unschätzbarem Wert, selbst wenn keine greifbaren Ergebnisse erzielt würden. Der Vertrauensprozess beinhaltet nämlich auch, gemeinsam darauf zu vertrauen, dass es bei beidseits ernsthaftem Willen und Bemühen zu weiteren Aushandlungsprozessen kommt, die in die richtige Richtung zeigen. In diesem Spannungsfeld von Vertrauen und Nichtvertrauen hat die Politik Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind den Vertrauensprozess

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

zu fördern und dafür zu sorgen, dass aus Misstrauen Vertrauen entsteht und Vertrauen nicht in Misstrauen umschlägt. Diese politische Aufgabe ist schon deshalb nicht einfach, weil nach wie vor Zweifel seitens der Mehrheitsgesellschaft daran bestehen, ob die Migranten wirklich die Absicht haben, sich friedlich in das vorhandene Gesellschaftsganze bzw. die bestehende Wertegemeinschaft zu integrieren. Damit einher geht die Angst vor terroristischen Aktivitäten, die Angst vor Übernahme von anderen Kulturen unter Preisgabe eigener Kulturbestandteile, die Angst vor einer „stillen Islamisierung“ oder die Befürchtung, aufgrund des eigenen demografischen Wandels und des Zuwachses der Zuwanderer in Zukunft in einem anderen Wertesystem leben zu müssen, wozu das eigene tolerante Wertesystem noch verständnisvoll die Steigbügel gehalten hat. Es ist anzuraten, dass die Politik die Zweifel und Ängste der Bürger der Aufnahmegesellschaft angesichts von über 15 Millionen Migranten und einem Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung von knapp 20 % – Tendenz steigend – und dem Umstand, dass inzwischen etwa die Hälfte der Erstklässler einen Migrationshintergrund haben306, weder bagatellisiert noch als rassistische oder fremdenfeindliche Haltung abstempelt oder bekämpft, sondern ernst nimmt, offen benennt und sich damit in einem gesellschaftspolitischen Diskurs auseinandersetzt. Es ist ethisch nicht verwerflich oder gar politisch unkorrekt, Probleme offen und sachbezogen zu benennen. Nicht alle Ängste der Mehrheitsbürger beruhen nämlich auf unberechtigten Vorurteilen, sondern sie haben durchaus reale Hintergründe, da es nicht nur vereinzelt Fälle gibt, die Anlass zur Skepsis an einer zielgerichteten Integrierung der Zuwanderer geben. Solange diese Skepsis vorherrscht, wird es immer Bewegungen in der Mehrheitsgesellschaft geben, die sich dagegen aussprechen, den Migranten, insbesondere den muslimischen Zuwanderern zu viel Toleranz entgegenzubringen, solange keine gelungene Integration vorliegt, d. h. die Zuwanderer sozusagen noch neben unserem Wertesystem stehen. Deutlich wird dies, wenn man z. B. den bundesweit ausstrahlenden „Kulturkampf“ um den Bau der Moschee in Köln Revue passieren lässt. So hat sich der jüdische Publizist Ralph Giordano gegen den Bau der Moschee ausgesprochen, solange sich die muslimischen Zuwanderer hierzulande eine eigene Welt aufbauten, die Kinder in muslimischen Verbänden und Heimen von der Gesellschaft abgeschottet würden, ein an der Scharia orientierter Islam gelehrt und strenge Geschlechtertrennung verlangt würde.307 Die Vorbehalte der Kritiker gegen den Bau der Moschee, denen die generelle Befürchtung zugrunde liegt, die Muslime entfernten sich durch den Bau der Moschee noch weiter von der Integrationsidee, sind durchaus beachtenswert, da eine Abschottung nicht noch gerade politisch begünstigt werden muss. Entsprechendes gilt auch 306 307

Hessische Allgemeine vom 17. 10. 07, S. 1. Welt am Sonntag vom 27. 5. 06, S. 9.

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für die Forderung: Nur wenn gerechtfertigtes Vertrauen vorhanden ist, ist auch Toleranz möglich. Andererseits steht auch fest, dass die Politik diese Aufforderung, legt sie ihrem Handeln das eigene Wertesystem und die eigene Rechtsordnung zugrunde, nicht ohne weiteres nachkommen kann. Es ist prinzipiell nicht erkennbar, welches Rechtsgut gegenüber der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit vorrangig sein soll, weshalb man den Bau von Moscheen schon aus rechtlichen Gründen nicht verhindern kann. Man sollte dies aber auch aus ethischen Gründen nicht verhindern.308 Maßstab der Politik kann nämlich grundsätzlich nur die Konkretisierung der gesellschaftsethischen Wertordnung nach innen wie nach außen sein. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob bereits eine „gelungene Integration“ zu erkennen ist, wie dies Ralph Giordano gefordert hatte. Integrierung stellt einen Prozess der ständigen wechselseitigen Annäherung dar. Die Zuwanderer dürfen deshalb nicht dann erst in den Genuss des Bauens von Moscheen und anderen Begünstigungen kommen, wenn sie schon vollständig integriert sind. Eine derartige politische Forderung würde nicht nur Basiswerte einschließlich des Toleranzprinzips, sondern auch das Vertrauensprinzip generell in Frage stellen. So folgt gerade aus dem Vertrauensprinzip, dass es im Rahmen eines Prozesses durchaus angezeigt sein kann, Entgegenkommen zu zeigen, ohne zuvor die vollständige ethische „Gegenleistung“ erhalten zu haben, es sei denn, es lägen Anhaltspunkte für einen Missbrauch des Vertrauens vor. Allein in der Trägheit des Prozesses selbst kann ein Missbrauch jedoch noch nicht gesehen werden. Das Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft darf allerdings umgekehrt nicht dazu führen, dass die Migranten den verpflichtenden Charakter des Wertesystems und der Integrationsidee nicht mehr ernst nehmen, wovon laut Umfragen ein Großteil der deutschen Bevölkerung immer noch ausgeht. Deshalb liegt es an der Politik, die Identifikation mit dem Wertesystem als Gegenstück des entgegengebrachten Vertrauens immer wieder klar und deutlich einzufordern. Es ist zu erwarten, dass die Vorbehalte gegenüber den Zuwanderern dann abnehmen werden, wenn die Skeptiker wahrnehmen, dass die Politik auch die Ängste der Mehrheitsgesellschafter ernst nimmt. Ein solches Vertrauen in die politische Führung bedingt letztlich auch Vertrauen in den Integrationsprozess. Die Politik wäre deshalb gut beraten nicht einseitig zu agieren, was nur zur Polarisierung führen kann. Umgekehrt sind die Migranten, wenn man ihnen im Namen des eigenen Wertesystems derartige Vertrauensvorschüsse gibt und ihnen zeigt, dass man ihre Integrierung wohlwollend und tolerant begleiten will und sie in die Aufnahmebereitschaft und Toleranz der Mehrheitsgesellschafter Vertrauen haben dürfen, politisch aufgefordert glaubwürdige Zeichen zu setzen, dass man Mitglied der Wertegesellschaft werden will. Auch hier gilt: Nur durch sichtbare, äußere Umstände ist es möglich, auf innere Einstellungen zu schließen. Es liegt deshalb an den Migranten, glaubwürdige Zeichen 308

So auch Lagodinski, Welt am Sonntag vom 27. 5. 2007, S. 12.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

zu setzen, ob und inwieweit sie bereit sind freiwillig davon Abstand zu nehmen, sich von der Mehrheitsgesellschaft abzuschotten und stattdessen das geltende Wertesystem zu verinnerlichen. Auf derartige Zeichen und sichtbare Tatsachen ist der Prozess der Integrierung angewiesen, da sich nur hierdurch ein Fortschritt einstellen kann. Als vertrauensbildende Maßnahme reicht es dabei sicherlich nicht aus, wenn die Zuwanderer lediglich erklären, die Integration sei erreicht und man vertrete einen Islam, der mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Diese Darlegungen sind viel zu pauschal und zudem nicht glaubhaft, wenn man nicht zugleich erklärt, wie man zur Scharia steht, die weder mit unserem ethischen Wertesystem noch mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, zu diesen zumindest in einem noch nicht aufgelösten Spannungsverhältnis steht, wie die fehlende Emanzipation der Frau immer wieder zeigt. Im Ergebnis ist somit festzustellen, dass der Vertrauensgrundsatz und das gesellschaftsethische Wertesystem eng miteinander zusammenhängen. Der Vertrauensgrundsatz entspringt nicht nur dem Wertsystem; die Umsetzung des Wertesystems bedingt vielmehr auch Vertrauen309. Das Wertesystem wird somit zum Orientierungspunkt für wechselseitiges Vertrauen. f) Integration trotz Segregation? Das Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft existiert als Idee nur in den Köpfen ihrer Bürger. Erst im konkret-realen Zusammenleben, sei es in gesellschaftlichen Gruppen oder zwischenmenschlichen Beziehungen, erhält es durch das äußere Handeln eine sichtbare Gestalt. Für die Politik folgt daraus, dass es kaum möglich ist, die Zuwanderer ins Gesellschaftsganze bewusstseinsmäßig zu integrieren, wenn zuvor kein konkret-realer Kontakt zwischen den Zuwanderern und den Mehrheitsgesellschaftern hergestellt wurde. Integrierung ins ethische Gesellschaftsganze kann ohne Integrierung in die einzelnen realen Lebensverhältnisse nicht funktionieren. Nur wenn die politische Integrierung in die konkreten Lebensverhältnisse Erfolg hat, kann auch die ideell-ethische Integrierung gelingen. Integrierung ins Bewusstseinsganze und in die realen Verhältnisse gehören politisch gesehen zusammen. . 309 Wie wichtig Vernunft und Vertrauen generell für das ethische, wirtschaftliche und politische Miteinander ist, hat die weltweite Finanzmarktkrise infolge der amerikanischen Subprime Krise im Rahmen der wirtschaftlichen Wertesysteme gezeigt. Es wurde einerseits deutlich, dass wirtschaftliche Wertsysteme, die sich von den realen wirtschaftlichen Verhältnissen entfernt haben und nur noch irrational und spekulativ funktionieren, im Ergebnis – weil nicht logisch und an der Wirklichkeit orientiert – wie Luftblasen platzen. Zum anderen wird deutlich, dass dann, wenn die Vernunft eines Prozesses nicht mehr sichtbar ist, wenn er nicht mehr erklärbar ist, das Vertrauen der Menschen in das Gelingen der Prozesse nicht mehr gegeben ist. Es bricht alles zusammen, weil jeder nur noch das macht, wofür er kein Vertrauen mehr in Anspruch nehmen muss. Vernunft einschließlich der Logik und Vertrauen gehen also ineinander über und gehören zusammen.

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Die Politik hat deshalb dafür zu sorgen, dass die Migranten mit den Inländern tatsächlich in Kontakt kommen, damit die notwendigen kulturellen und ethischen Durchmischungen der Menschen untereinander stattfinden. Nur durch das persönliche Miteinander und Erleben unseres Wertesystems ist es den Migranten, die von anderen Wertvorstellungen geprägt sind, überhaupt möglich, unser Wertesystem kennenzulernen. Aus dieser Zwecksetzung heraus gilt der politische Grundsatz, dass an und für sich die reale Segregation der Migranten politisch zu verhindern ist. Denn wie soll jemand ethisch integriert werden, der selbst in unserem gesellschaftsethischen Leben gar nicht teilzunehmen bräuchte? Dabei wird für die Politik allerdings ein weiteres dialektisches Spannungsfeld zwischen Integrationsidee, Wertesystem und Wirklichkeit sichtbar. Den Migranten ist nämlich jegliche systemimmanente kulturelle Freiheit zugesagt. Die freiheitlich pluralistische Seite des Wertesystems überlässt es grundsätzlich den Migranten, sich konkreten gesellschaftlichen Gruppensystemen der Mehrheitsgesellschaft anzuschließen. Der Migrant ist völlig frei in seiner Entscheidung, ob er am tatsächlich konkreten gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik teilnehmen will oder nicht. Gar nicht ist er ethisch verpflichtet am täglich realen kulturellen Leben der Gesellschaft, welches u. a. in gesellschaftlichen Gruppen, zwischenmenschlichen Beziehungen, Städten, Gemeinden und Institutionen gelebt wird, teilzunehmen oder diese jeweiligen spezifischen Kulturen für gut zu heißen. Auch steht es ihm völlig frei, sich einem Kleingärtnerverein, einem Fußballklub, einem Trachtenverein anzuschließen. Tatsächlich wäre der Migrant sogar völlig frei, jeglichen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft zu meiden, soweit es ihm faktisch und wirtschaftlich möglich wäre. Wenn man diesen Gedanken der systemimmanenten Multikulturalität zu Ende denkt, wäre noch nicht einmal etwas dagegen einzuwenden, den Migranten in allen gesellschaftlichen Räumen der Bundesrepublik, d. h. in den Städten und im ländlichen Raum die Möglichkeit zu geben, ihre speziellen Lebensstile und Kulturen so zu leben, wie sie es wollten. Dies könnte sogar in vollständiger und tatsächlicher Segregation zur Mehrheitsbevölkerung geschehen. Auch dies gäbe die systemimmanente Multikulturalität an und für sich her. Die Integrationsidee fordert es nämlich nur, dass das Wertesystem als Ganzes, insbesondere die vorrangigen Werte der ethischen Freiheit im menschlichen und gesellschaftlichen Miteinander eingehalten und verinnerlicht werden. Es darf deshalb nur nicht zur bewusstseinsmäßigen Segregation kommen, was das ethische Wertesystem selbst angeht. Wäre diese Gefahr nicht gegeben, d. h. würde das Wertesystem als Ganzes von den Zuwanderern akzeptiert werden, würde es unserem monopluralen System entsprechen, dass die Zuwanderer ihre sonstige Kultur in ihren communities innerhalb unseres Gesellschaftsganzen „multikulturell“ leben könnten. Dabei könnte auch nicht von Parallelgesellschaften gesprochen werden, da die communities in unserem Beispielfall das gesellschaftsethische Wertesystem der Gesellschaft im Ganzen als eigenes übernommen hätten. Es drängt sich deshalb in der politischen Praxis die Frage auf, wie das abstrakte und ideenhafte Wertesystem eines nicht sichtbaren und nur gedachten Gesellschaftsgan-

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zen von Migranten in der konkreten Realität überhaupt erfahren und verinnerlicht werden soll und kann, wenn diesen bereits systemimmanent die Möglichkeit eingeräumt wird, jeglichen realen sozialen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft zu meiden und entsprechend dem ihnen angebotenen Monopluralismus ihre eigenen Gruppenkulturen zu leben. Logisch zu Ende gedacht wäre es insoweit gar nicht möglich, ihnen die Gedanken unseres Wertesystems nahe zu bringen, da man wohl kaum in der Lage ist, Menschen für eine Gesellschaftsidee zu gewinnen, wenn diese an den realen Lebenszusammenhängen der Mehrheitsgesellschaft gar nicht teilnehmen, sondern sich in tatsächlicher Hinsicht segregieren würden. Schon gar nicht wäre es möglich, das zur gesellschaftlichen Einheit gehörende Bewusstsein und Gefühl der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit zu entwickeln. Dieser Widerspruch zwischen Idee des Wertesystems, der Integrationsidee und der tatsächlichen Wirklichkeit drängt nach Auflösung. Diese Auflösung kann nur von der Politik geleistet werden. Die Integrationspolitik kann nicht bei politischen Integrationsmaßnahmen ins Wertganze stehen bleiben, sondern ist komplexer. Integrationspolitik bedeutet auch Integration in reale gesellschaftliche Einheiten. Nur wenn dort die Integration gelingt, kann nämlich letztlich Integrierung in das gesellschaftliche Ganze gelingen, auch wenn die Integration in einzelne reale gesellschaftliche Gebilde keine logische Voraussetzung für die Integrierung in das Gesellschaftsganze ist. Integration in einzelne reale gesellschaftliche Gruppierungen dient jedoch der Integrierung in das Gesellschaftsganze und macht eine Integrierung in das Wertganze oftmals erst möglich, was wiederum darauf beruht, dass das gesamte gesellschaftliche Leben und Handeln und auch die Begegnungen zwischen Mehrheitsgesellschaftern und Zuwanderern nicht virtuell, sondern real ist. Integration in das Gesellschaftsganze und Integration in einzelne gesellschaftliche Gruppen, Institutionen und Systeme sind gedanklich zwar etwas anderes, politisch können sie jedoch im Rahmen des Prozesses nicht voneinander getrennt bzw. isoliert betrachtet werden. Es zeigt sich einmal mehr: Politik fordert eine ganzheitliche Betrachtung, die alle vor- und nachteiligen Vernetzungen berücksichtigt. So darf Integrationspolitik nicht in der Zulassung von Segregation bestehen, soweit die Zuwanderer noch nicht in das Wertesystem selbst integriert sind. Am deutlichsten werden die vorgenannten Zusammenhänge, wenn man sich die Integration in Stadtgesellschaften zum Zwecke der Integration ins Gesellschaftsganze ansieht. So leben die Zuwanderer überwiegend in den Großstädten Westdeutschlands. In manchen Städten beträgt der Anteil an der Gesamtbevölkerung mehr als ein Drittel – Tendenz steigend –, was auch der Grund dafür sein mag, dass sich die Problemfelder der gesamten Integrationspolitik in erster Linie in dem Problem der Stadtgesellschaft widerspiegeln. Die Stadt ist somit der Ort, wo die gesellschaftsethischen und sozialen Integrationsprobleme in ihrer Fülle am konkretesten und sichtbarsten sind, weshalb dort auch der Entwicklungsbedarf am größten ist.

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Die Stadtgesellschaft wird als eine in einem konkret definierten Raum lebende konkrete Einheit der Menschen beschrieben310, auch wenn die Städte seit je her von einer sozial-räumlichen kulturellen Differenzierung geprägt sind. Zugleich spiegeln sich in der Stadtgesellschaft die Grundwerte bzw. das Wertesystem der Gesellschaft als übergeordnetem Ganzen wider. Dies folgt schon daraus, dass sämtliche städtische Bewohner selbstverständlich auch das Wertesystem und die Rechtsordnungen der Gesamtgesellschaft einzuhalten haben. Den Einheimischen wie den Zuwanderern ist es grundsätzlich überlassen, sich in die Einheit der Stadt zu integrieren oder räumlich zu segregieren. Die urbane Segregation hat grundsätzlich nichts mit der Integration in das Gesellschaftsganze zu tun. So wäre grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn die Migranten in eigenen Stadtteilen und Quartieren ihre eigenen Lebensstile lebten, vorausgesetzt sie gründeten keine Parallelgesellschaft und orientierten sich innerlich wie äußerlich am geltenden Wertesystem. So könnte aufgrund einer systemimmanenten Multikulturalität wohl kaum keiner etwas dagegen haben, wenn es italienische oder portugiesische Viertel gäbe, in denen unsere westlichen Werte gelebt würden. Allerdings ist dieser Ansatz dann gesellschaftspolitisch problematisch, wenn die Migranten, geprägt von einem signifikant anderem Wertesystem wie der Scharia oder von einer traditionellen Familienkultur, die mit dem Wertesystem der Bundesrepublik nicht übereinstimmt, sich in der Stadt freiwillig segregieren würden. Dann fehlte der nötige Austausch bzw. die nötige Durchmischung der Mehrheitsgesellschaft, um letztlich auf Sicht eine Integrierung in das Wertganze herzustellen. Die oftmals gestellte Frage, ob räumliche Segregation in diesen Fällen ein Hindernis für die Integration sei, kann deshalb nur mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet werden, da die Segregation sicherlich negative Sozialisationseffekte nach sich zieht. Nur durch die Teilnahme des nicht integrierten Migranten an den verschiedensten gesellschaftlichen Vorgängen kann nämlich für den Integrationsprozess in das Gesellschaftsganze die so wichtige menschliche und ethische Nähe zur Mehrheitsgesellschaft hergestellt werden. Nur durch diese Teilnahme kann der Migrant das Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft konkret erfassen und akzeptieren lernen. Die Politik ist somit verpflichtet die Zuwanderer durch Programme und gegebenenfalls durch gesetzliche Maßnahmen dazu anzuhalten, am gesamtgesellschaftlichen Leben teilzunehmen, um auf diese Weise dem Wertesystem, welches nach eigener Verwirklichung drängt, Geltung zu verschaffen. Allerdings muss diese Politik besonders sensibel sein. Sie hat umgekehrt zu berücksichtigen, dass das Wertesystem andererseits auch jegliche systemimmanente kulturelle Freiheit und in diesem Rahmen das Recht zur kulturellen Segregation vorsieht. Die politische Verpflichtung zur Teilnahme muss dort enden, wo der Eingriff in die kulturelle Freiheit der Migranten zu weit geht und nicht mehr nur vom Zweck getragen ist, die Integration des Migranten in das Wertesystem selbst zu befördern. Um 310

Kersten, Segregation in der Schule, S. 50.

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es an dieser Stelle nochmals zu betonen: Politik kann dabei nicht durchgängig logisch und widerspruchsfrei sein, da die abstrakte Logik immer einseitig ist und bezogen auf das menschliche Leben und Zusammenleben bei konsequenter Anwendung nur ins Abseits führen kann, da das Leben immer zwiespältig ist. Sie hat vielmehr abwägend und fein-teleologisch ausgerichtet – d.h. den Zweck im Auge behaltend – den politischen Erwartungsdruck gegenüber den Zuwanderern so auszugestalten, dass die politische Richtung stimmt. Der Druck auf die persönliche Lebensführung der Migranten wird dabei umso höher sein, je weiter diese von der gesellschaftsethischen Integration entfernt sind. Das Spannungsverhältnis ist aufgelöst, wenn gesellschaftsethische Integration erreicht ist. Dann wäre eine systemimmanente Segregation zuzulassen. g) Integration ins Wertesystem aus dem Wertesystem Bei näherem Hinsehen stellt man weiterhin fest, dass sich die politische Integrierung nicht ausschließlich auf die Integrierung in das Gesellschaftsganze und auf die Integrierung in die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen zum Zwecke der Integrierung in das gesellschaftsethische Wertesystem beschränken kann. Politische Integrierung, die gesellschaftliche Einheit herzustellen hat, wird vielmehr auch – und zwar in der Vertiefung des Wertesystems – die Integrierung in alle aus dem Wertesystem selbst wiederum fließenden sozialen Systeme, soweit diese für das Leben der Migranten in unserer Gesellschaft Bedeutung haben, vorzunehmen haben. Die Politik hat nämlich gegenüber jedem Zuwanderer nicht nur die Aufgabe, ihn in das Gesellschaftsganze ethisch zu integrieren und ihn in diesem Zusammenhang ethisch zur Teilnahme und zur Selbstverantwortung anzuhalten. Parallel hierzu besteht auch die Aufgabe, den Migranten – ebenso wie den Bürgern der Mehrheitsgesellschaft – soziale Teilhabe zu gewähren. Politische Integrierung ist auch Integrierung ins Gesellschaftsganze aus dem gesellschaftsethischen Wertesystem. Unser Wertesystem beinhaltet nämlich auch die ethische Bereitschaft der Gesellschaft zur Solidarität, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip mündet. Zur gesellschaftlichen Einheit gehört somit nicht nur die gesellschaftsethische Aufnahme ins Wertesystem einschließlich der Gewährung systemimmanenter Freiheiten, sondern auch die Teilhabe am Wertesystem selbst, d. h. Anspruch auf Aufnahme in alle sozialen Systeme, die das Wertesystem konkretisieren, eine soziale Grundsicherung als Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein und Chancengleichheit zur Eröffnung von Lebenschancen. Gesellschaftsethische Integration beinhaltet soziale Integration. Soziale Integration ist staatliche Integration.311 Gesellschaftliche Einheit ist hiernach nicht schon dann erreicht, wenn alle das Wertesystem verinnerlicht haben, sondern erst dann, wenn das Wertesystem mit all seinen Institutionen, sozialen Systemen und Förderungen auf alle Anwendung findet. Denn was nützt die Verinnerlichung des Wertesystems, wenn von den Prinzipien des Wertesystems, insbesondere demjenigen der Mitmenschlichkeit in der sozialen Wirk311

Steiner, Grundgesetz und deutscher Sozialstaat, S. 370.

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lichkeit, tatsächlich nichts gelebt wird. Erst wenn dies der Fall ist, kann das Wertesystem mit all seinen konkreten Ausprägungen wiederum an ethischer Akzeptanz gewinnen und die gesellschaftliche Wärme vermitteln, die im Ergebnis wiederum notwendig ist, damit überhaupt Integration gelingen und ein gesellschaftsethischer Patriotismus entstehen kann. Zudem dient Sozialpolitik auch der Erhaltung des sozialen Friedens, der für den Erhalt der gesellschaftlichen Einheit und der Demokratie von so elementarer Bedeutung ist. Misslich wäre es allerdings, wenn der Staat nur deshalb sozialstaatliche Anstrengungen unternehmen würde, um sich jene Zuneigung seiner Bürger zu sichern, die er braucht, weil ihm andere integrationsfördernde Mittel, nämlich die gesellschaftsethische Zusammengehörigkeit, emotional abhanden gekommen sind.312 Dabei würde nämlich verkannt, dass der Sozialstaat letztlich aus der zugrunde liegenden Gesellschaftsethik, insbesondere dem polardialektischen Wert der Menschenwürde entspringt. Dies kommt zum Ausdruck, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, dass dem Staat die Wahrung der Menschenwürde in Situationen der Hilfsbedürftigkeit besonders anvertraut sei.313 Die Politik hat deshalb im Rahmen der aus dem Sozialstaatsprinzip folgenden sozialen Integration vor allem dafür zu sorgen, dass keine soziale Segregation auftritt. Aus dem Wertesystem, dessen Verwirklichung Maßstab und Orientierungspunkt nicht nur für die Integrationspolitik, sondern für die Politik schlechthin ist, folgt nämlich die allgemeine politische Handlungsanforderung, dafür zu sorgen, dass der aus dem Wertesystem selbst fließende Gedanke der gleichberechtigten Teilhabe politisch umgesetzt wird. Es entspricht dem gesellschaftsvertraglich vereinbarten Wertesystem und den darin enthaltenen Werten der Menschenwürde und der Wesensgleichheit, dass dem Einwanderer wie auch dem Einheimischen alle sozialen Hilfen zur Verfügung gestellt werden, um letztlich auch in sozialer Hinsicht gesellschaftliche Einheit durch gleichberechtigte Teilhabe zu erlangen. Politische Integrierung in die gesellschaftliche Einheit besteht in der aus dem Wertesystem folgenden Sozialpolitik. Wenn die Sozialpolitik funktioniert, kann soziale und sozialräumliche Segregation vermieden werden. Wird soziale Segregation nicht vermieden, führt dies wiederum zur Abkehr oder zur Nichtannahme des Wertesystems, weil dies letztlich keine innere Akzeptanz bei den Betroffenen finden kann. Das Wechselspiel von sozialer Segregation und der Verhinderung von gesellschaftsethischer Integration lässt sich wiederum am besten am Beispiel der Segregation in Stadtgesellschaften, die als Konzentration sozialer und ethnischer Gruppen in Stadtvierteln wahrgenommen werden kann, verdeutlichen. Es wird deutlich, dass die sozial-räumliche Segregation im wesentlichen Folge sozialer Exklusion ist. Urbane Segregation ist von ihren Ursachen her oftmals kein Migrationsproblem, sondern trifft Deutsche wie Zuwanderer, wobei man allerdings feststellen muss, dass überproportional viele Migranten von dieser Quantität und Qualität der sozialen Exklusion

312 313

Steiner, Grundgesetz und deutscher Sozialstaat, S. 371. BVerfGE 103, 197 (221).

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betroffen sind.314 Es ist nämlich unverkennbar, dass für Zuwanderer der Zugang zu den Systemen aufgrund ihrer besonderen Kultur oder Sozialisation schwieriger ist und die Auswirkungen von Armut, Arbeitslosigkeit und Nichtteilhabe eine besondere und verstärkte Wirkung zeigen. Die Segregation, die wir vor allem in den Städten feststellen können, ist bei näherem Hinsehen gar kein unmittelbares Problem fehlgeschlagener Integration ins Wertganze oder einer fehlgeschlagenen Integration in die Stadtgesellschaft, sondern beruht in erster Linie darauf, dass die Politik der sozialen Teilhabe zur Verhinderung von sozialer Segregation nur unzureichend funktioniert. Die Migranten, die sozial abgehängt sind, müssen nicht notwendig ein anderes Wertesystem haben, ebenso wenig wie Migranten, die sozial bestens dastehen, unser Wertesystem internalisiert haben müssen. Es führt allerdings zu einer Verschärfung und Verdopplung des Integrationsproblems ins Gesellschaftsganze, wenn beide Arten der Segregation zusammenkommen. So liegt es auf der Hand, dass sich die Integration in das ethische Gesellschaftsganze schwieriger gestaltet, wenn soziale Segregation besteht und nicht überwunden wird. Umgekehrt gilt aber auch, dass sich die soziale, räumliche und wirtschaftliche Eingliederung umso schwieriger gestaltet, wenn gesellschaftsethische Segregation herrscht. So ist unstreitig, dass sich die soziale Problematik für die Zuwanderer oftmals nur deshalb verstärkt, weil sie andere Wertauffassungen haben. Die Probleme verschärfen sich noch, wenn Mehrheitsgesellschafter, die aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht besser stehen wie die Migranten und selbst soziale Hilfe benötigen, mit diesen in Stadtgesellschaften zusammenleben. Dadurch findet eine Durchmischung von Deutschen und Zuwanderern statt, die allerdings nur als eine Spirale nach unten bezeichnet werden kann, und das bei unterschiedlichen Problemlagen. Was nützt in den Stadtteilen eine Durchmischung der Bevölkerungsgruppen, wenn dadurch die Integrationsprobleme wie auch die sozialen Probleme nur noch potenziert werden. Integration in das Wertganze kann deshalb nur funktionieren, wenn auch die Sozialpolitik einschließlich der Wohnungswirtschaftspolitik als Teilhabepolitik funktioniert. Integration ins Gesellschaftsganze kann nur gelingen, wenn soziale und räumliche Segregation vermieden wird und auch im Übrigen den Migranten gleichberechtigtes Zusammenleben in den sozialen, normativen, emotionalen und konkreten Lebensbereichen ermöglicht wird. Deshalb macht es schon nachdenklich, wenn man in der „ZEIT“ liest, dass eine Studie besagt, etwa 50 % aller Migranten mit türkischem Hintergrund lebten von Arbeitslosengeld, Hartz IVoder Sozialhilfe.315 In reinen Transferleistungen darf sich soziale Hilfe nicht erschöpfen. Ethik verlangt mehr. Sie verlangt in erster Linie Hilfe zur Selbstverantwortung, Selbstbestimmung sowie Selbstachtung, was umgekehrt voraussetzt, dass diese Hilfe auch angenommen und 314 315

Kersten, Segregation in der Schule, S. 50. DIE ZEIT vom 4. 9. 2008, S. 10.

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umgesetzt wird. Es gehört auch zum Wert der Menschenwürde – wie er sowohl individuell als auch vom Gesellschaftsganzen her gesehen wird –, dass jeder auch für seine Existenz persönlich und wirtschaftlich selbst Verantwortung übernimmt. Es ist deshalb völlig richtig, wenn im Nationalen Integrationsplan auch die soziale Teilhabe und soziale Integration einen besonderen Stellenwert einnimmt. Es muss allerdings stets beachtet werden, dass die aus dem Wertesystem selbst fließende Sozialpolitik einerseits und die Integrationspolitik ins Wertganze als solche andererseits grundsätzlich voneinander zu unterscheiden sind. Integrationspolitik ist insbesondere kein Unterfall der Sozialpolitik, was schon dadurch belegt wird, dass es auch gesellschaftsethisch nicht integrierte Zuwanderer gibt, die dennoch voll und ganz „sozial“ integriert sind.316 h) Bildung, Bildung und nochmals Bildung Eine ganzheitlich teleologisch ausgerichtete Politik hat in erster Linie danach zu fragen, welche Maßnahmen konkret geeignet sind, die Integrationsidee zu verwirklichen. Dabei springt ins Auge, dass es vor allem die Bildung mit all ihren Facetten und Ausprägungen ist, die die nicht hinweg zu denkende Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Integration darstellt. Die Bildung entspricht allen Erfordernissen einer ganzheitlich teleologischen Integrationspolitik. Dies folgt schon daraus, dass ohne Bildung eine bewusstseinsmäßige Integration ins Wertganze kaum möglich erscheint. Durch eine historische, politische und ethische Bildung kann dem Zuwanderer – wie im Übrigen auch dem Einheimischen – unser gesellschaftsethisches Wertganzes dargebracht werden. Wie soll sich jemand ein Wertesystem zu eigen machen, leben und erleben, welches er gedanklich noch nicht einmal in groben Zügen erfasst hat. Das bedeutet nicht, dass nur derjenige integrierbar ist, der über umfassende politische, gesellschaftsethische und gesellschaftspolitische Kenntnisse verfügt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Zuwanderer in die Lage versetzt werden, unser Wertesystem und den alles beherrschenden ethischen Wert der Menschenwürde, den politisch-ethischen Diskurs und dessen Zusammenhänge gedanklich zu erfassen, nicht zuletzt auch deshalb, um die jeweiligen Emotionen, die wirken, gedanklich überprüfen zu können. Nur durch Wissen und Kenntnisse können einerseits Fehlentwicklungen vermieden werden und andererseits Verständnis geschaffen werden. Es geht um das Verstehen schlechthin. Und um das Wecken von Interesse. Es ist deshalb nicht hinnehmbar, dass viele Jugendliche mit Migrationshintergrund trotz einer staatlichen Schulpflicht und eines staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages keine Ahnung davon haben, was die Werte der Menschenrechte oder Menschenwürde sind und welchen Sinn sie für unser ethisches Zusammenleben haben. Insoweit kann man nur von einem politischen Debakel sprechen, welches die gesamte Gesellschaft zu verantworten hat. 316 Dagegen gehört die Sozialpolitik durchaus zur Integrationspolitik, weil Sozialpolitik als soziale Teilhabepolitik letztlich immer der Integration der Bürger, und zwar nicht nur derjenigen der Zuwanderer, in das Gesellschaftsganze dient.

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Die Bildungspolitik steht aber nicht nur für die Vermittlung des Wertes der Menschenwürde als ethisch tragendes Prinzip unseres Wertesystems und damit unseres Gesellschaftsganzen, sondern auch für die Ausbildung und Stärkung der eigenen Würde jedes einzelnen. Würde beinhaltet nicht nur Selbstbestimmtheit und Selbstachtung, sondern auch ethische Selbstverantwortung, ethische Selbstdisziplin und Selbstdenken. Bildung dient der Entfaltung der eigenen Selbstbewusstheit und der eigenen ethischen Persönlichkeit. Die Ausbildung der individuellen Würde schafft aber nicht nur die Voraussetzung für Selbstachtung, sondern auch für die Fremdachtung. Beides ist dem Wert der Würde immanent und bildet die Grundlage für das ethische und soziale Miteinander überhaupt. Denn die Gesellschaft lebt von der Selbstverantwortung und Fremdverantwortung jedes einzelnen. Hier schließt sich der Kreis von individueller Würde und Fremdwürde. Bildung insgesamt stärkt aber nicht nur die ethische Existenz des Menschen und dessen ethischen Charakter, sondern auch dessen wirtschaftliche Existenz. Bei der Erlernung eines Berufes geht es um die Entfaltung der eigenen wirtschaftlichen Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung, die wiederum ethische und wirtschaftliche Fremdverantwortung bedingt. Es kann insoweit kein Zweifel bestehen: Bildungspolitik ist die die beste Sozialpolitik überhaupt. Durch ethische wie berufliche Bildung und Ausbildung wird nicht nur die Persönlichkeit jedes einzelnen gestärkt, sondern auch soziale Chancengleichheit geschaffen. Dies wiederum bietet die Möglichkeit, vor allem Zuwanderern mit sozial schwacher Herkunft berufliche Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen. Abgesehen davon ist umgekehrt auch die Gesellschaft selbst darauf angewiesen, dass jeder Gesellschaftsbürger – und somit auch der Migrant – seine Begabungen und Fähigkeiten in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenwirken voll einbringen kann und dies auch tut. Selbstverantwortung wird auch insoweit zum Bestandteil der Fremdverantwortung. Bildung, Schule und Ausbildung sind somit das Integrationskonzept schlechthin. Bildung fördert die Integration in das Wertesystem und aus dem Wertesystem am besten. Vor allem Migrantinnen mit muslimischen Hintergrund bietet die Entwicklung des eigenen würdevollen Selbst die Chance zur Emanzipation und zur gleichberechtigten Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen, was wiederum die Chance zur Integration in unsere monoplurale Gesellschaft eröffnet. Das wird mittlerweile auch von der Politik erkannt. Bildung ist, wie die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration Maria Böhmer zu Recht sagte, der Schlüssel zur Integration. Im Nationalen Integrationsplan ist die Bildung folgerichtig als die wichtigste Ressource für eine gelingende Integration bezeichnet worden. Zudem wurde zutreffend ausgeführt, dass es zum Kernbereich des staatlichen Erziehungsauftrages gehöre, allen Heranwachsenden das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung zu sichern, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern und die Kinder und Jugendliche individuell auf das gesellschaftliche und berufliche Leben vorzubereiten.

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Bei näherem Hinsehen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass es der Integrationspolitik in erster Linie um berufliche Bildung und um die Sicherung und Weiterentwicklung des Ideenstandortes Deutschland geht, damit angesichts des demografischen Wandels die Potenziale der hier aufgewachsenen Menschen mit Migrationshintergrund und der zugewanderten Hochqualifizierten noch besser erschlossen und gefördert werden können. In dieses Bild passt es, wenn die Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des internationalen Symposiums zur „Integration durch Bildung im 21. Jahrhundert“ im Oktober 2007 ausführte: „Wir können auf kein einziges Talent, auf keinen Menschen in unserer Gesellschaft verzichten“. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass im Nationalen Integrationsplan so gut wie überhaupt nicht davon die Rede ist, dass es auch um ethische und politische Bildung gehen muss. Nur am Rande heißt es im Nationalen Integrationsplan hierzu, kulturelle Bildung unterstütze den Integrationsprozess; die Offenheit für die jeweiligen Kulturen diene dem wechselseitigen Verständnis und Respekt. Das ist gelinde gesagt zu wenig. Zu wünschen wäre der Integrationspolitik, dass sie auch der wertbezogenen Bildung und Erziehung den hohen Stellenwert zuschreibt, der diesem Gut als Eigenwert gerade für die gesellschaftliche Integration zukommt. Die Politik sollte deshalb anfangen zu begreifen, dass es keinen Sinn macht wertbezogene Fächer wie Geschichte, Philosophie, Politik, Religion, Soziologie und Ethik in der Schule zu kurz kommen zu lassen. Gerade diese Fächer sind es, die der Erweckung des Wertbewusstseins dienen, die das Bewusstsein und Verständnis für das eigene Selbst und das gesellschaftliche Zusammenleben prägen, die zur Selbstreflexion auffordern und dem gesellschaftlichen Leben und dem gesellschaftlichen Dialog die nötige gedankliche und ethische Tiefe geben. Ohne Internalisierung des Wertes der Menschenwürde ist Respekt vor der ethischen Existenz des Anderen und Toleranz in all seinen Schattierungen nicht möglich.317 Die wertbezogene Bildung ist zudem immens wichtig, um den Wert der Menschenwürde für unser Sozialsystem zu erfassen und einzuüben. Ohne das Bekenntnis der Bürger zur Menschenwürde, d. h. zur ethischen Verantwortung gegenüber dem eigenen Selbst und zur ethischen Fremdverantwortung in all seinen dialektischen Wechselbezüglichkeiten kann nämlich auch das Sozialsystem als besondere Ausprägung des Wertesystems auf Dauer nicht funktionieren. Es ist zu begreifen, dass ein Gesellschaftswesen im Ansatz von der Selbstachtung und Selbstverantwortung jedes Einzelnen lebt und die soziale Fremdverantwortung eine Folge der – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglichen Selbsthilfe oder Selbstverantwortung

317 Zum staatlichen Erziehungsauftrag wie auch zum verfassungsrechtlichen Integrationsauftrag gehört das Einüben von Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und Offenheit. Insoweit deckt sich der staatliche Erziehungsauftrag mit dem verfassungsrechtlichen Integrationsauftrag (vgl. hierzu auch Hufen, Staatsrecht II, § 22, Rn. 77, S. 376 m.w.N.).

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ist.318 Der Sozialstaat repräsentiert ein Gesellschaftsganzes, in dem es polardialektisch heißt, für sich und füreinander einzustehen. Dass es ohne ein ausreichendes ethisches Fundament auch in der Wirtschaft nicht geht, zeigen im Ergebnis die Finanzexzesse. Das Debakel der Finanzbranche gilt als Symptom eines ethischen Sittenverfalls.319 Es bleibt deshalb nur zu hoffen, dass die Politik – anders als in der zurückliegenden Zeit – sowohl der wertbezogenen Bildung wie auch der sonstigen Bildung politisch den Stellenwert einräumt, der ihr zukommt, und nicht nur dann reagiert, wenn Bildung von der Wirtschaft nachgefragt wird. Dies gilt umso mehr, als eine mangelhafte Ausbildung, Bildung und Erziehung im Laufe der Zeit eine Eigendynamik entwickelt, vor allem dann, wenn man an die Nachkommen der schlecht Ausgebildeten und Sozialisierten denkt. Das hat im Ergebnis dann auch wieder wirtschaftliche Konsequenzen. Wenn man jetzt die Ausgaben für das Engagement für Bildung, Ausbildung und Erziehung scheut, darf man sich später nicht wundern, wenn man ein Vielfaches für eine unvollständige Reparatur auf den Tisch legen muss. Die Politik sollte sich immer vor Augen halten, dass mit der Abnahme des Bildungsniveaus ein Anstieg der Transferleistungen verbunden ist. Sollten die erforderlichen Transferleistungen dann nicht mehr bezahlbar sein, läuft man Gefahr, dass die Gesellschaft auch ethisch auseinander bricht, was vor allem dann gilt, wenn auch bei der ethischen Erziehung geschlampt wurde. Insoweit wären dann nicht nur die Demokratie, sondern auch die Werte der Würde und ethischen Freiheit der Menschen in Gefahr. Ebenfalls zu einer ganzheitlich teleologischen Integrations- wie auch Bildungspolitik gehört es, die Zuwanderer aufzufordern die deutsche Sprache zu lernen und zu sprechen. So ist ohne die deutsche Sprache eine Verständigung weder in der Schule noch unter den Gesellschaftsbürgern möglich. Die deutsche Sprache ist Grundlage des Verstehens des deutschen Wertesystems einschließlich des sich darin Zurechtfindens. Ohne gemeinsame Sprache entsteht Sprachlosigkeit. Erst durch eine einheitliche Sprache kann der notwendige Dialog und Diskurs, das Miteinandersprechen zur Herbeiführung der Integration und damit der gesellschaftlichen Einheit hergestellt werden. Nichtverstehen schafft eine unnötige und politisch nicht akzeptable Segregation auf dem Weg zur Integration.

318 Die Funktionsfähigkeit des Sozialsystems hängt zunächst davon ab, wie es die Bürger mit ihrer ethischen Verpflichtung halten, sich selbst zu achten, d. h. selbstverantwortlich und freiwillig für sich selbst zu sorgen. Gelingt dies, wird das Sozialsystem gestärkt. Die Belastungen für das Ganze werden gering gehalten. Selbstachtung wird somit auch Teil der Fremdachtung. Zur Menschenwürde gehört daneben die Fremdachtung: Diese zeichnet sich durch die ethische Verpflichtung aus, den Mitmenschen zu unterstützen und ihm zu helfen, vor allem dann, wenn er nicht aus eigener Selbstverantwortung und Kraft hierzu in der Lage ist. Fremdachtung bedeutet dabei nicht nur die Förderung des Ganzen, sondern auch der Förderung der Selbstachtung. 319 Vgl. hierzu Eigendorf, Welt am Sonntag v. 27. 12. 2009, S. 29.

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Erst die umfassende Kenntnis der deutschen Sprache versetzt die Zuwanderer zudem in die Lage, nicht nur am deutschen Bildungssystem, sondern auch am Erwerbsleben in der Bundesrepublik teilzunehmen. Spracherlernung und Sprachförderung stellen die Grundvoraussetzungen für die Chancengleichheit der Migranten dar. Dies hat die Politik zwischenzeitlich erkannt, indem sie Sprachkurse nicht nur anbietet, sondern auch darauf drängt, dass diese von den Migranten entsprechend ihrer ethischen Verpflichtung zur Teilnahme auch wahrgenommen werden. Zu tief saß offensichtlich der Schock, als man im März 2006 erkennen musste, dass an der mehrheitlich von Zuwandererkindern besuchten Rütli-Hauptschule im Berliner Stadtbezirk Neukölln die Lehrer offensichtlich in dem Wissen Unterricht abhielten, dass sie gar nicht verstanden werden konnten. Dass dies den ethischen Grundsätzen der Partizipation und Integration in gerade grotesker Art widersprach, ist evident und bedarf keiner gesonderten Darlegung. Es zeigt aber auch, wie fehlgeleitet die politische Einstellung – getragen von einem konsequent multikulturellen Ansatz – gewesen ist. Man übersah völlig, dass die aus dem Wertesystem entwickelte und gesetzlich normierte Schulpflicht die Erlernung der deutschen Sprache impliziert. Auch deshalb erscheint es geradezu als abwegig, darüber zu diskutieren, ob man die Zuwanderer dazu anhalten dürfe, die deutsche Sprache zu erlernen. Politisch zweifelhaft sind ebenso die nunmehr aufgestellten Forderungen – offensichtlich als Gegenreaktion zur Verpflichtung zur Erlernung der deutschen Sprache –, Universitäten und Schulen zuzulassen, in denen ausschließlich in türkischer Sprache unterrichtet wird, wie dies der türkische Ministerpräsident Recep Teyyip Erdogan im Februar 2008 anlässlich seines Deutschlandbesuches gefordert hat. Hierzu dürfte der Integrationsprozess bei weitem noch nicht das nötige Reifestadium erreicht haben. Sichergestellt sein muss letztlich, dass die staatlichen Bildungsangebote die Migranten, vor allem in stark segregierten Stadtvierteln, auch erreichen. Hierzu bedarf es ebenfalls einer ganzheitlich teleologischen Integrationspolitik, die durchaus in einer Weiterentwicklung des im Jahre 1999 aufgelegten Programms der sozialen Stadt liegen könnte. Dieses Programm ist zwar ursprünglich nicht als Integrationsprogramm aufgelegt worden, hat jedoch auch Stadtteile mit hohen Zuwanderungsanteilen in der Bevölkerung im Fokus. Dieses Programm soll nämlich nicht nur die soziale, sondern auch die ethnische Segregation verschiedener Bevölkerungsgruppen innerhalb der Gesamtstadt abbauen. Das Programm „Soziale Stadt“ beinhaltet neben den Politikfeldern der Schule und Bildung noch weitere vier Bausteine, nämlich die Beteiligung der Bürgerschaft, Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse, die Förderung der lokalen Ökonomie, wozu auch die Förderung der Migrantenökonomie gehört, sowie den Städtebau. Insgesamt verfolgt das Programm die Vernetzung verschiedener Politikfelder durch ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies ist aus meiner Sicht ein richtiger teleologischer Ansatz, bei dem der Schwerpunkt jedoch bei der Bildung und deren zuverlässiger und nachhaltiger Umsetzung liegen sollte. Bildung verträgt insbesondere nicht die Kurzfristigkeit von Bildungsprogrammen.

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

IX. Recht und Rechtsprechung – Teil der gesellschaftsethischen Integrierung 1. Die Aufgabe des Rechts Die Rechtsordnung der Bundesrepublik, zu der auch das Grundgesetz gehört, besteht einerseits aus den natürlichen Menschenrechten und andererseits aus dem gesetzten Recht (positivem Recht), nämlich den staatlichen Gesetzen, die ihrerseits wiederum aus den realen Menschenrechten als Basis des gesellschaftsethischen Wertesystems hervorgegangen sind. Das gesellschaftsethische Wertesystem bedingt die staatlich-politische Gesetzgebung, die das Miteinander unter Beachtung der Menschenrechte durchsetzbar regelt. Andererseits bleibt das gesellschaftsethische Wertesystem daneben noch bestehen und ist nach wie vor die Grundlage des ethischen Zusammenlebens, zumal das menschliche Miteinander nicht in alle Nuancen hinein juristisch geregelt werden kann. Rechtlicher Vorgaben bedarf es, weil der Staat sich der freiwilligen Einhaltung ethischer Grundsätze nicht sicher sein kann. Hinzu kommt, dass es selbstverständlich ethische Konflikte gibt, die einer eindeutigen gesetzlichen Wertentscheidung bedürfen, damit zum Zwecke des geordneten Zusammenlebens klar ist, wie sich die Staatsbürger verhalten sollen. Das Recht kann nicht ausschließlich in der Zwangsorganisation des Staates lokalisiert werden, wie dies z. B. Kant vertrat.320 Die real existierenden Menschenrechte bestehen unabhängig davon, ob sie Gegenstand staatlicher Gesetzgebung geworden sind, gedacht, beachtet oder bewertet werden. Richtig ist lediglich, dass es das Zwangs- und Gewaltmonopol des Staates ist, welches letztlich dafür sorgt, dass die Menschen die staatlichen Gesetze auch einhalten. Daraus kann man im Umkehrschluss aber nicht folgern, dass Recht nur positives Recht ist. Zwischen Recht und Wertesystem bestehen wechselseitige Bedingtheiten und ein ständiger emotionaler und intellektueller Austausch. Nach der hier vertretenen Auffassung gehen Recht und Ethik keine getrennten Wege. Beides läuft vielmehr zusammen, zumal die Menschenrechte die reale und natürliche Grundlage der Ethik bilden. Hiergegen spricht nicht, dass es durchaus rechtliche Entscheidungen gibt, die der Ethik zu widersprechen scheinen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es in vielen Fällen durchaus verschiedene vertretbare Auffassungen darüber geben kann, was ethisch richtig ist. Das Manko der Gesetzgebung ist es insoweit, dass es eine ethische Fragestellung, die durchaus zwei Seiten hat, einseitig zu Gunsten einer Seite entscheiden muss. Diese eine ethische Position wird zur Rechtsposition, während die andere Seite, die ebenfalls ethische Substanz hat, damit automatisch Unrecht wird. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Recht setzt sich in den Entscheidungen der Rechtsprechung fort.321 320

Vgl. hierzu Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 232. Ein gutes Beispiel findet sich bei Brugger, der in seinem Beitrag „Abtreibung – ein Grundrecht oder ein Verbrechen?“ (S. 869) auf die extrem konträren verfassungsrechtlichen Abwägungen in der amerikanischen Gerichtsbarkeit und der deutschen Gerichtsbarkeit hin321

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Bereits an anderer Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass die Rechtsordnung eine besondere Rolle für die äußere Integration spielt. Mit der Bereitschaft zur Einhaltung der Rechtsordnung ist nämlich der Zustand der vorläufigen (äußeren) Integration in die Gesellschaft erreicht. Bereits durch die objektive Einhaltung staatlich gesetzten Rechts wird das Mindestmaß für ein friedliches und geordnetes Zusammenleben ermöglicht, gleichgültig welche Einstellungen die einzelnen Bürger zum Wertsystem – ablehnend oder zustimmend – haben. Über diese grundsätzliche integrative Aufgabe des Rechts hinaus hat das Recht selbstverständlich auch die Funktion, nicht nur den Integrationsprozess ins Gesellschaftsganze,322 sondern auch die speziellen Integrierungen in die einzelnen zum Gesellschaftsganzen gehörenden, selbstständigen Teilsysteme, wie Stadtgesellschaften, Erwerbssysteme usw., zu regeln und zu gestalten. Das Recht gilt für das Ganze wie für dessen Teile. In diese Richtung zielt es, wenn sich die gesetzgebende Gewalt genötigt sieht, mit den Mitteln des Rechts zu reagieren, wenn während des Integrationsprozesses das Vertrauen auf die freiwillige und selbstbestimmte Einhaltung gesellschaftsethischer Standards verloren gegangen ist, insbesondere festzustellen ist, dass die Bürger der Aufnahmegesellschaft ihrer ethischen Verpflichtung den Integrationsprozess zu fördern, nicht hinreichend nachkommen. Zu nennen ist insoweit das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, welches die Mehrheitsgesellschafter daran erinnern soll, dass die Zuwanderer nicht wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens benachteiligt werden dürfen. Umgekehrt müssen sich die Zuwanderer gesetzliche Maßnahmen gefallen lassen, aufgrund derer sie unter Androhung staatlicher Zwangsmaßnahmen z. B. angehalten werden, die deutsche Sprache zu erlernen, um überhaupt die Grundvoraussetzung für das wechselseitige Verstehen, wechselseitiges Vertrauen und Miteinanderumgehen herstellen zu können, ganz abgesehen davon, dass Sprachkenntnisse die Zuwanderer in der Regel erst in die Lage versetzen, am Erwerbsleben teilzunehmen. Allerdings darf die Rechtssetzung nicht über das Ziel hinaus schießen. Vor allem darf sich der Rechtstaat im Rahmen des Integrationsprozesses nicht selbst ad absurdum führen. Das wäre dann der Fall, wenn unter dem Vorwand der Förderung der Integrationsidee und der Geltung der Idee der Menschenwürde Gesetze erlassen würden, mit denen selbst unangemessen in Menschenrechte eingegriffen werden würde. Ich denke dabei an ein Gesetz, mit dem muslimischen Frauen das Tragen von Gesichtsverschleierungen (Burka) in der Öffentlichkeit generell verboten würde, wie dies in Frankreich geplant ist. Selbstverständlich ist es richtig, dass das Tragen der weist. Während der amerikanische Supreme Court in der Abtreibungsfrage eine weitgehende Freiheit der Frau bei der Wahl für oder gegen die Abtreibung als in der Verfassung verankert ansieht, vertritt das Bundesverfassungsgericht den gegenteiligen Standpunkt. 322 Man muss sich das so vorstellen, als ob die Integration ins ethische Gesellschaftsganze diejenige ist, die sozusagen vor die Klammer gezogen ist. Das bedeutet, dass die gesellschaftsethische Integration auch für alle speziellen Bereiche Geltung hat.

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Burka, wenn es in bewusster und offener Ablehnung zu unserem Wertesystem geschieht, eine gezielte Provokation gegenüber den Mehrheitsgesellschaftern darstellt, die nicht nur den Integrationsprozess behindert, sondern auch als unanständig gegenüber den aufnahmebereiten Bürgern des Aufnahmelandes bezeichnet werden kann. Richtig ist auch, dass es eine Menschenrechtsverletzung darstellte, wenn eine Muslima von ihrem Ehemann gezwungen würde, die Burka zu tragen. Andererseits steht aber auch fest, dass es Frauen muslimischen Glaubens gibt, die die Burka freiwillig und eigenverantwortlich tragen und überhaupt keine Absicht haben die Gefühle der Aufnahmegesellschafter zu verletzen. Würde man die Burka generell kraft Gesetzes verbieten, würden diese Frauen ihrerseits in ihren Menschenrechten verletzt sein. Man sollte deshalb gesetzlich nicht verbieten, was – bei unterstellter verfassungskonformer Gesinnung und nichtvorhandener Symbolik – rechtlich erlaubt wäre, es sei denn, polizeirechtlichen oder sonstigen ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten wäre ausnahmsweise der Vorrang zu geben. Umso mehr sollte der Gedanke des Schutzes der Migranten durch die Geltung der Rechtsordnung in den Vordergrund gerückt werden. Vor allem Migrantinnen sind oftmals innerhalb ihrer community traditionell patriarchalischen Familienstrukturen, die durch den Islam untermauert werden, hilflos ausgesetzt. Diesen hat das geltende Recht den Schutz der Persönlichkeitsrechte, vor Gewalt im persönlichen Umfeld und vor Zwangsverheiratungen zu gewähren. Der Nationale Integrationsplan hat dieses Thema unter dem Schlagwort „Integration durch Recht“ besonders in den Fokus gerückt. Es wird dafür geworben, die integrativen Möglichkeiten der deutschen Rechtsordnung zu nutzen, um Integrationshindernisse zu überwinden. Damit wird zu Recht der Blick auf eine Auseinandersetzung gerichtet, die innermuslimisch über die Emanzipation der Frau bereits geführt wird und auch künftig geführt werden muss. Die Austragung dieses Konflikts hat für den Integrationsprozess eine nicht unerhebliche Bedeutung, da es gerade das Frauenbild des Islam ist, welches aus der Sicht unseres Wertesystems kritisch zu betrachten ist und an dem sich ein Wertewandel festmacht. Die Mehrheitsgesellschaft hat in diesem Konflikt den Musliminnen in jeder Hinsicht den Rücken zu stärken, wozu vor allem die Gewährung ausreichenden Rechtsschutzes gehört. 2. Die Rechtsprechung: Rationaler Akteur des Integrationsprozesses Angesichts der Zusammenhänge zwischen dem ethischen Wertesystem und der Rechtsordnung kann es nicht verwunderlich sein, wenn der Rechtsprechung im Rahmen der gesellschaftsethischen Integrierung eine besondere Stellung zukommt. Wenn sich die Gerichte mit der systemimmanenten Auslegung und Anwendung des Rechts beschäftigen, geben sie in der Regel auch inzident Auskunft darüber, welche ethischen Mindestmaßstäbe an das Zusammenleben in unserer Gesellschaft gestellt werden. Die Entscheidungen der Justiz stellen der Sache nach die höchste Kon-

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kretisierung des jeweils geltenden gesellschaftsethischen Wertesystems dar. Die Justiz gibt allerdings nicht nur ethische Standards wieder; umgekehrt prägt und formt sie auch die gesellschaftliche Ethik, was vor allem für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gilt, in denen es nicht nur um rechtliche, sondern auch um ethische Wertentscheidungen geht. Es ist deshalb kein Zufall, dass es im Rahmen des Integrationsprozesses zu einer zunehmenden Inanspruchnahme der Justiz kommt, weil selbstverständlich auch die Migranten im Rahmen des ihnen zugesagten gleichberechtigten Rechtsschutzes nicht nur um ihre konkreten Rechtspositionen, sondern vor allem auch um die diesen zugrunde liegenden ethischen Positionen ringen. Den juristischen Auseinandersetzungen vor den Gerichten kommt dabei deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil die in einem kontradiktorischem Verfahren vorzunehmenden Wertentscheidungen, d. h. den Entscheidungen darüber, welchem Wert der Vorrang vor dem anderen zu geben ist, nicht nach parteipolitischen Zielen, einseitigen Interessen, Machtansprüchen oder Zweckmäßigkeitsgründen, Meinungsumfragen oder gar dem Zeitgeist, sondern nach begrifflich logischen Gesichtspunkten und einer ganzheitlich teleologischen Betrachtung (Gesamtschau), die ihrerseits rational nachvollziehbar und plausibel sein muss, zu treffen sind.323 Die Abwägungsvorgänge, durch die der geltend gemachte Wert erst seine wahre Wertigkeit bekommt, tragen durch die Anwendung strenger Methoden des Denkens somit eine erhöhte Vermutung der Richtigkeit in sich, weil irrationale Elemente und politisches Kalkül im Idealfall so weit wie möglich ausgeschaltet werden. Damit zeigt sich, dass der Justiz im gesellschaftspolitischen und ethischen Diskurs der Integrierung von Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur die Rolle eines reinen Rechtsanwenders, sondern auch die Aufgabe zukommt, vor allem den ethischen Diskurs des Integrationsprozesses vernünftig mitzugestalten. Sie wacht nicht nur darüber, dass dieser Diskurs mit der auf der Menschenwürde basierenden Ethik unseres Grundgesetzes übereinstimmt. Sie ist vielmehr auch aktiver Akteur des vernünftigen Prozesses selbst, da sie Wertkonflikte zukunftsweisend rational auflöst, indem die Konflikte – unter Berücksichtigung der Verfahrensgerechtigkeit – durch Wert- und Güterabwägungen gelöst werden, wobei sich deren Begründungszusammenhänge letztlich logisch und teleologisch aus dem Wertesystem und den Menschenrechten selbst ergeben müssen. Bei dieser Aufgabe, die der Justiz zukommt, macht es natürlich nachdenklich, wenn im Magazin „Der Spiegel“ nach einer Besprechung von gerichtlichen Urteilen die Frage aufgeworfen wird,324 ob deutsche Richter mit ihren Wertabwägungen zu323

Die Relativität der Werte, die sich aus der Einheit des Wertesystems ergibt, bedingt zwangsläufig eine ganzheitliche teleologische Betrachtung („Gesamtschau“) bei der die Abwägungsvorgänge von zweckrationalen, aber auch emotionalen Faktoren, die sich an Bedürfnissen, Plausibilitätsmerkmalen oder Zweckmäßigkeitsgründen orientieren, bestimmt sind (vgl. zur teleologischen Auslegungsmethode Palandt/Heinrichs, Einleitung, Rn. 46 m.w.N.). 324 Ausgabe vom 26. 3. 2007, Haben wir schon die Scharia?, S. 22 ff.

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gunsten der Glaubensfreiheit der Muslime islamistischen Fundamentalisten nicht den Weg in die Parallelgesellschaft planieren würden. Die im „Spiegel“ anklingende Kritik an der deutschen Justiz dürfte allerdings zu weit gehen. Denn eins steht fest: Wir sind zwar keine multikulturelle Gesellschaft in dem Sinne, dass jedes Wertesystem, auch wenn es dem unseren widerspräche, darin parallel seinen Platz hätte. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, welche der kulturellen Freiheit und insbesondere dem Wert auf Glaubens- und Religionsfreiheit als Konkretisierung der Menschenwürde in ihrem Wertgefüge eine nicht unerhebliche Bedeutung beimisst. Das bedeutet wiederum, dass den Migranten selbstverständlich aus ethischen wie auch rechtlichen Gründen kulturelle Freiheiten zustehen, die ihnen nicht genommen werden sollen und dürfen. Hinzu kommt, dass sich die Zuwanderer in unserem Rechts- und Wertesystem den gleichen Wertabwägungen zu stellen haben, wie sie auch für die Mehrheitsgesellschafter gelten, da wir immer noch eine einheitliche Rechtsordnung – auf die wir im umgekehrten Fall ja auch zu Recht pochen – haben, in der allen Bürgern die gleiche Verfahrensgerechtigkeit und Gleichheit zukommt. Der Vorwurf des „Spiegels“ zeigt allerdings, dass es trotz der genannten Nähe zwischen Ethik und Recht, zwischen der ethischen Betrachtung und der Rechtsanwendung dialektische Spannungsverhältnisse zu geben scheint, welche der Auflösung bedürfen. Als Paradebeispiel für ein solches Spannungsverhältnis kann die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts zum Schächten, d. h. dem Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung genannt werden.325 Der überwiegende Anteil der deutschen Bevölkerung hat sich für ein generelles Verbot des betäubungslosen Schlachtens (Schächten) ausgesprochen, wofür man ethisch betrachtet auch große Sympathie haben kann, weil einem alles andere schon auf den ersten Blick als Tierquälerei vorkommen muss. Unserem heutigen Wertverständnis ist jedenfalls ein derartiges Verhalten fremd. Das Bundesverwaltungsgericht326 hat jedoch darauf hingewiesen, dass es selbst die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in Artikel 20 a GG nicht ausschließe, einem muslimischen Metzger eine Ausnahmegenehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 1 Alternative 2 TierSchG zum betäubungslosen Schlachten (Schächten) von Rindern und Schafen zu erteilen, um seine Kunden entsprechend ihrer Glaubensüberzeugung mit Fleisch zu versorgen. Dabei sei entscheidend, ob sich für die Muslime aus ihrer Religion die zwingende Verpflichtung des Schächtens von Schlachttieren ergäbe. Bei allem Verständnis für den hohen Wert des Tierschutzes müssten nämlich die Glaubensüberzeugungen der Muslime ebenfalls zur Wirkung kommen. Bei näherem Hinsehen wird also deutlich, dass die Gerichte im Rahmen ihrer Wertabwägung zur differenzierten Auffassung gelangten, dass zwar der Tierschutz ein hohes Gut sei, dem 325 326

Vgl. hierzu BVerfGE 104, 337, 345. BVerwG, Urteil vom 23.11.2006, (Aktz. 3 C 30/05).

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man grundsätzlich Rechnung tragen müsse, der Glaubensüberzeugung der Muslime als Ausfluss ihrer Würde jedoch der Vorrang einzuräumen sei.327 Das dürfte von der Beurteilung unserer systemimmanenten Wertrangfolge her weder ethisch noch juristisch zu beanstanden sein, auch wenn dies von vielen als Angriff auf unsere Kultur angesehen wird. Dabei wird allerdings nur der erste Denkschritt vollzogen und die berechtigten Belange der muslimischen Migranten werden außer Acht gelassen. Vor allem darf nicht übersehen werden, dass die Glaubenssätze selbst inhaltlich nicht zur rechtlichen Überprüfung stehen.328 Sie werden insbesondere keiner isolierten verfassungsrechtlichen Inhaltskontrolle dahin unterzogen, ob sie selbst mit unserem Grundgesetz – hier mit Art. 20 a GG – übereinstimmen, wie dies ansonsten bei jeder staatlichen Norm der Fall ist. Glaubenssätze sind nämlich religiös-metaphysischer Natur, die in Jahrhunderte oder Jahrtausende alte Traditionen eingebettet sind und dem Gläubigen ethische Leitlinien für ein erfülltes und von Gott gebilligtes Leben geben. Es entspricht deshalb der ethischen und religiösen Selbstbestimmtheit des Gläubigen, die auch verfassungsrechtlich garantiert wird, sich an Gottes Wille und Wort zu orientieren. Wenn der Gläubige dies tut, gebietet es unsere Ethik und unser Recht, dem schon allein deshalb Rechnung zu tragen, weil die ethische Person ansonsten nicht ausreichend gewürdigt würde und keinen Rechtsschutz bekäme. Ähnliche Spannungsverhältnisse zeigen sich auch in der Rechtsprechung zur Befreiung vom Sport- bzw. Schwimmunterricht für muslimische Mädchen. Ausgangspunkt dieses Konflikts ist Sure 24, Vers 31 des Korans. Dort heißt es: „Und spricht zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren, ihren Schmuck (d. h. die Körperteile, an denen sie Schmuck tragen) nicht offen zeigen, mit Ausnahme dessen, was sonst sichtbar ist. Sie sollen ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, es sei denn ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihren Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, denen, die ihre rechte Hand besitzt, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen Trieb mehr haben, den Kindern, die die Blöße der Frauen nicht beachten. Sie sollen ihre Füße nicht auseinanderschlagen, damit nicht gewahr wird, was für einen Schmuck sie verborgen tragen.“

Das Bundesverwaltungsgericht329 hat sich bereits im Jahre 1993 mit dieser Stelle im Koran konfrontiert gesehen, als es über die Befreiung zweier 12- bzw. 13-jähriger türkischer Schülerinnen islamischen Glaubens vom koedukativen Sportunterricht zu 327

Kritisch hierzu Hufen, Staatsrecht II, § 22, Rn. 43, S. 370. Es ist zwar richtig, dass die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nicht den Schutz jedes beliebigen Meinungsinhalts gewährleistet. Geschützt ist allerdings der Glauben, der auf eine Gottesvorstellung oder auf ethische und metaphysische Vorstellungen von gewisser Geschlossenheit ausgerichtet ist (zgl. hierzu Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 255). 329 BVerwGE 94, 82; vgl. auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 414 m.w.N. 328

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befinden hatte. Die Schülerinnen hatten sich auf die Bekleidungsvorschriften des Korans berufen, die sie für sich als zwingend erachteten. Das Bundesverwaltungsgericht gab den Klagen der islamischen Schülerinnen statt mit der Argumentation, dass die betroffenen Schülerinnen ihre Glaubensüberzeugung und den drohenden Gewissenskonflikt, der mit der Erfüllung der ihnen gesetzlich auferlegten Teilnahme am Sportunterricht verbunden sei, hinreichend substantiiert und in objektiv nachvollziehbarer Weise dargelegt hätten. Bei Abwägung der beteiligten Belange sei ein Vorrang der religiösen Interessen der betroffenen Schülerinnen festzustellen. Der staatliche Erziehungsauftrag verliere an Gewicht. Diese Wertabwägung des Bundesverwaltungsgerichts dürfte im Ergebnis nicht zu beanstanden sein, auch wenn von vielen immer wieder die Frage aufgeworfen wird, ob denn die Koranstelle nicht per se schon nach unseren Wertvorstellungen ein Verstoß gegen die ethische Selbstbestimmtheit der Frau darstellt. Diese Argumentation ist allerdings logisch nicht zulässig, da es nicht auf die Verfassungsmäßigkeit religiöser Glaubensinhalte, sondern nach unseren Wertsystem auf den Glaubens- und Gewissenskonflikt des jeweils Rechtssuchenden ankommt, der eindeutig in einem Gewissenskonflikt steht. Denn dort, wo die Teilnahme am Sportunterricht für die Schülerinnen zu tief greifenden Gewissenskonflikten führen würde, gebietet Artikel 4 GG letztlich die Unterrichtsbefreiung.330 An diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung auch festgehalten und immer wieder klargestellt, dass der in Art. 7 Abs. 1 GG normierte staatliche Erziehungsauftrag zurücktreten müsse, wenn eine Teilnahmepflicht an einem bestimmten Fach oder einer bestimmten schulischen Veranstaltung eine grundrechtlich geschützte Position des Kindes und/oder seiner Eltern unzumutbar verletzen würde.331 Diese Rechtsprechung ist immer wieder als in höchstem Maße integrationshemmend kritisiert worden. So wurde immer wieder argumentiert, dass religiöse Sonderregelungen nicht nur den Sportunterricht, sondern auch Klassenfahrten, Aufklärungsunterricht, Theaterbesuche und Projektwochen erschwerten und es eigentlich nur noch durch das energische Bestehen auf Erfüllung der Schulpflicht möglich sei, den Unterricht an Schulen mit hohem Ausländeranteil nicht völlig auseinanderbrechen zu lassen.332 Der verfassungsrechtliche Auftrag, unterschiedliche Kulturen zu integrieren, sowie das Einüben von Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und Offenheit forderten geradezu die ausnahmslose Durchsetzung von integrations-

330

Vgl. auch Langenfeld, Integration und kulturelle Identität, S. 416. Nach der Rechtsprechung ist allerdings eine restriktive Auslegung geboten. Das ergibt sich aus der besonderen Bedeutung des staatlichen Bildungsauftrages für die Gesellschaft, aus dem Ziel des Schulwesens sowie aus der angestrebten Verwirklichung des vom Grundgesetz allen Bürgern gleichermaßen eingeräumten Grundrechtsschutzes. Danach sind allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen (vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf Urteil vom 7. 5. 08, Aktz. 18 K 301/08). 332 Brandt/Meyer, Nächtliche Gebete, S. 156. 331

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fördernden Veranstaltungen wie Schulsport und Klassenfahrten.333 Diese Argumentation ist durchaus nachzuvollziehen. Es ist sicherlich richtig, dass die vorgenannte Rechtsprechung die schulische Integration selbst erschwert. Deshalb ist man emotional durchaus geneigt, spontan zu sagen, dass derartige Urteile auch gegen die Integration ins Gesellschaftsganze gerichtet seien. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass es umgekehrt auch der gesellschaftsethischen Integration dient, die Belange der Zuwanderer, vor allem ihre ernsthaft vorgetragenen religiösen Empfindungen, als Ausdruck ihrer Würde ernst zu nehmen und sie vor dem Grundgesetz gleich zu behandeln. Nichts wäre nämlich schlimmer, als unser eigenes Grundgesetz, d. h. unsere eigenen ethischen und rechtlichen Grundsätze nicht mehr ernst zu nehmen. Die negativen Folgen für die Integration, insbesondere der Vertrauensverlust, wären viel größer. Anlass für kontroverse und emotionale Debatten ist weiterhin das Tragen von Kopftüchern als eindeutig sichtbares religiöses Zeichen muslimischer Frauen. Die wesentlichen wechselseitigen Argumente sind schnell aufgezählt. Die einen sind der Auffassung, dass sich im Tragen des islamischen Kopftuchs in der Regel eine Haltung zur gesellschaftlichen Stellung der Frau manifestiere, die mit unserer grundgesetzlichen Vorstellung von der Stellung der Frau nicht in Einklang zu bringen sei; das Tragen des Kopftuchs sei vielmehr ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus und der Frauenunterdrückung. Andere wiederum verweisen darauf, dass das Tragen des islamischen Kopftuches als Befolgung eines religiösen Gebotes zu verstehen sei, zu dem sich die betreffenden Frauen und Mädchen verpflichtet fühlten. Eine darüber hinaus gehende Absicht und Gesinnung könne nicht ohne weiteres unterstellt werden. Ferner zeige das Tragen des Kopftuchs auch die Verbundenheit mit den Traditionen der Herkunftsgesellschaft und sei ein Mittel zur Bewahrung der eigenen Identität in der Diasporasituation. Hinzu komme, dass eine positive, die Selbstbestimmung der Mädchen und Frauen unterstützende Haltung zum Kopftuchtragen in jedem Fall deren Chancen auf Teilhabe und Möglichkeit zur Emanzipation im Auge behalte und nicht den Bruch mit ihrer Familie und ihrer Herkunft abverlange. Mit diesen Argumenten hatte sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 24. 9. 2003334 auseinanderzusetzen; es kam zu dem Ergebnis, dass das religiös motivierte Tragen eines Kopftuches einer Lehrerin den Schutz der Religionsfreiheit genieße, die in enger Beziehung zum obersten Verfassungswert der Menschenwürde stehe. In dem Kopftuch werde zwar auch ein Symbol des Islamismus gesehen, der sich in der Abgrenzung zu westlichen Werten, wie der individuellen Selbstbestimmung und insbesondere der Emanzipation der Frau ausdrücke. Allein die abstrakte Befürchtung, dass Konflikte mit Eltern auftreten könnten, die die Unterrichtung ihrer Kinder durch eine Lehrerin, die ein Kopftuch trage, ablehnten, begründe jedoch keine mangelnde Eignung für das Lehramt. Das Bundesverfassungs333 334

Hufen, Staatsrecht II, § 22, Rn. 47, S. 376. Urteil vom 24. 09. 2003 (BVR 1436/02).

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gericht stellte weiterhin klar, dass nach den bislang in gefestigter Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Einbringung religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in der Schule und nach dem Gebot staatlicher Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten eine Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten bzw. ein die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der persönlichen Eignung erst dann vorliege, wenn es zu einem konkreten Verhalten komme, welches sich als Versuch der Beeinflussung oder gar Missionierung der der Lehrkraft anvertrauten Schulkinder darstelle. Die abstrakte Möglichkeit einer Beeinflussung oder einer Störung des Schulfriedens genüge nach den bisher geltenden Maßstäben und der geltenden Gesetzeslage dagegen nicht.335 Allen dargestellten Urteilen ist gemeinsam, dass die Rechtsprechung bei ihren Wertabwägungen zunächst vernünftigerweise davon ausgeht, dass der individuellen Religions- und Glaubensfreiheit als Ausfluss der Menschenwürde ethische und rechtliche Geltung zu verschaffen ist, solange dem keine vernünftigen und sachlichen Gründe oder gar verfassungskonforme gesetzliche Regelungen, die höher zu bewerten wären, entgegenstehen. So käme z. B. keiner auf die Idee, jemandem untersagen zu wollen, sich entsprechend seiner ethischen Selbstbestimmtheit zu verwirklichen. Keiner käme auch auf die Idee, jemandem untersagen zu wollen, sich freiwillig einer religiösen Kleiderordnung zu unterwerfen. Sollten Musliminnen allerdings gezwungen werden eine religiöse Kleiderordnung einzuhalten, würde dies umgekehrt einen Verstoß gegen deren Würde darstellen. Das bedeutet jedoch nicht, dass von einem Generalverdacht der Unterdrückung ausgehen kann und man wegen dieses Generalverdachts juristische Ableitungen treffen müsste. Dieser vernünftige Ansatz sollte auch für die Politik gelten, wobei jedoch zuzugeben ist, dass in der Politik durchaus das gegenläufige Prinzip „Wehret den Anfängen“ Bedeutung haben kann, wenn aufgrund konkreter Umstände bestimmte Gefahrenlagen absehbar sind. Nach alledem ist erkennbar, dass die Rechtsprechung in ihrer Bedeutung für den gesellschaftsethischen Integrationsprozess nicht zu unterschätzen ist. Sie hat zwar zunächst die Aufgabe festzustellen, was im konkreten Fall Recht ist, wodurch nicht nur unserer Rechtsordnung, sondern auch unserer Wertordnung Geltung verschafft wird. Zum anderen haben diese Urteile jedoch auch erhebliche gesellschaftspolitische Bedeutung. Sowohl den Mehrheitsgesellschaftern wie auch den Zuwanderern wird nicht nur noch einmal das eigene Wertesystem bewusst gemacht. Es werden auch Differenzierungen im Denken und der Bewertung der Argumente aufgezeigt, die in der politischen Diskussion oft zu kurz kommen. Dabei kommt es noch nicht einmal auf die konkret getroffene rechtliche Entscheidung im Einzelfall an, die, wie jeder weiß, im Ergebnis einseitig ausfällt, auch wenn über das ethische Ergebnis durchaus unterschiedliche Auffassungen vertretbar gewesen wären. Viel wichtiger erscheinen mir für den rationalen Prozess der Austausch der Argumente und die sich anschließenden Abwägungsprozesse, die die dialektische Komplexität der Fragestellung widerspiegeln und deutlich machen, dass ethischen Argumenten in der Regel schon das ethi335

Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 22, Rn. 44, S. 371 f.

IX. Recht und Rechtsprechung

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sche Gegenargument innewohnt. Allein dies zeigt, wie wichtig es ist, dass die Rechtsprechung, insbesondere das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur politischer Entscheidungen, den Prozess als rationaler Akteur begleitet und dafür sorgt, dass die Politik, die von unterschiedlichsten Interessen und Bedürfnissen geleitet sein kann, die ethischen Prinzipien der Menschenwürde, d. h. die Ideen unseres Wertesystems immer im Auge behält. Ganz nebenbei sorgt die Rechtsprechung dafür, dass im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens der zugrunde liegende gesellschaftspolitische Konflikt versachlicht wird, was einem vernünftigen Diskurs nur dienlich sein kann. Die Bedenken, die „Der Spiegel“ geäußert hat, dürften deshalb eher darauf beruhen, dass wir den Migranten systemimmanente Rechte gewähren, ohne dass der Integrationsvorgang bereits beendet ist. Man kann die Befürchtung herauslesen, dass die Migranten lediglich ihre Rechte in Anspruch nehmen, ohne ihrerseits ihren Verpflichtungen zur Integration nachzukommen, stattdessen dazu animiert würden, ihre gegenläufigen Wertvorstellungen und gegebenenfalls die Segregation noch zu intensivieren. Nur so ist es zu verstehen, wenn die Forderung gestellt wird, zu klären, wie hart die eigenen Normen durchzusetzen seien. Dieser Denkansatz kann jedoch für die Justiz nicht von Bedeutung sein. Der Rechtsprechung geht es nicht darum, sich politisch mit fremden Rechtssystemen und Kulturen auseinanderzusetzen. Es geht ihr vielmehr um die Klärung, ob das Verhalten der Zuwanderer mit unserer Rechtsordnung und damit unserem Wertesystem vereinbar ist. Es geht ausschließlich um systemimmanente Wertabwägungen, bei denen die Werte der Menschenrechte, Menschenwürde und Freiheit an oberster Stelle stehen. Die Justiz hat dabei dem Wert der Glaubensfreiheit als Ausfluss der Menschenwürde Geltung zu verschaffen. Alles andere wäre eine unzulässige Verknüpfung von Politik und Recht, was nicht nur der Gewaltenteilung widerspräche. 3. Die Glaubensfreiheit – kein Wert „de luxe“ Bei allem sensiblen Umgang mit den religiös-metaphysischen Bedürfnissen der Zuwanderer darf jedoch kein Zweifel daran aufkommen, dass die Würde des Menschen einschließlich seiner ethischen Freiheit und Selbstbestimmtheit und Unverletzlichkeit bei einem konkret auftretenden Wertkonflikt nicht zur Disposition stehen kann. Insoweit kann es schon dem Ansatz nach keine Toleranz bei Ehrenmorden, bei Gewalt und Unterdrückung gegenüber Frauen, bei Zwangsverheiratungen und Ungleichbehandlungen geben. Es ist deshalb evident, dass sich der Muslim bei einem Ehrenmord und bei Anwendung von Gewalt und Zwang auch nicht auf seine Glaubensfreiheit berufen kann, weil er damit unmittelbar in das personhafte Existieren und die Würde des Betroffenen eingreift. Der Muslim kann insbesondere nicht einwenden seine Glaubensfreiheit werde in unzulässiger Weise beeinträchtigt, weil er sich nicht entsprechend seiner re-

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B. Integrationsbegriff als vernünftige Grundlage einer politischen Idee

ligiösen Empfindungen im Rahmen einer gottgewollten Ordnung verhalten könnte, wie es seinem Glaube entspräche. Alles andere würde darauf hinauslaufen, den anderen Menschen nicht als ethischen Zweck zu behandeln, sondern lediglich als Mittel bei der Durchsetzung der eigenen Glaubensfreiheit zu gebrauchen. Dies wäre Ausübung von individueller Macht über andere Menschen, was jedenfalls unserem Wertesystem, unserer Verfassung und unseren Strafgesetzen widerspräche, welche derartige Machtverhältnisse auch aus religiös-metaphysischen Gründen nicht zulassen. Damit wird deutlich, dass im Rahmen der Integrierung die in unserem Rechts- und Wertesystem gewährleistete Glaubens- und Religionsfreiheit zwar eine bedeutende, aber nicht die entscheidende Rolle schlechthin spielen kann. Sie stellt nur einen Wert unter anderen dar, mit denen sie in Konkurrenz steht. Sie ist insbesondere kein – wie dies der Verfassungsrichter Udo di Fabio ausdrückte336 – „Grundrecht de luxe“, über den letztlich nicht säkularisierte Wertesysteme, d. h. auf dem göttlichen Willen beruhende Wertordnungen einen gleichberechtigten Platz in unserem Wertesystem haben könnten oder über den sich das Gedankengut der Scharia in unserem Wertesystem etablieren könnte. Nicht unproblematisch sind hingegen die Fälle, in denen auch die Frauen aus innerer religiösen Überzeugung heraus billigen oder sogar wünschen, gemäß dem Koran und der Scharia nicht gleichberechtigt behandelt zu werden und jede Unterdrückung im Rahmen ihrer kulturellen Prägung hinnehmen wollen. Insoweit könnte man auf den Gedanken kommen, es läge gar kein Verstoß gegen die Menschenwürde vor, da es doch eher der individuellen Menschenwürde entspräche, wenn die Frauen selbstbestimmt wünschten, aufgrund ihrer religiös geprägten Wertüberzeugungen so behandelt zu werden, wie es der Koran oder die Scharia als ihre Wertordnung verlange, zumal der Muslim erst durch die Einhaltung der göttlichen Gesetze Würde erlange. Diese Argumentation wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Wert der Menschenwürde bestimmt sich innerhalb unseres Wertesystems nicht nur nach bestimmten individuellen Wünschen und Bedürfnissen des Einzelnen; er hat vielmehr als Wert des Gesellschaftsganzen vor allem auch einen überpersonalen Wertinhalt, der allgemeingültig ist und damit für alle Menschen, die in unserer Gesellschaft leben, gleichermaßen gilt, unabhängig davon, wie sie sich individuell hierzu verhalten. Dieser Wert als Zweck an sich gilt in unserem Wertesystem und Rechtssystem für jeden Menschen, weil er Mensch ist, und unabhängig davon, ob er sich darauf beruft oder nicht. Deshalb ist es per se eine Verletzung der Menschenwürde, wenn Frauen von ihren Männern gezüchtigt und unterdrückt werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass eine Muslima aus dem Wertesystem der Scharia heraus diese objektiv vorliegende, gegen sie gerichtete Gewalt als gottgewollt akzeptieren oder sogar gutheißen sollte. Selbst dadurch kann die an sich bestehende Verletzung der gleichberechtigten Aner336

Udo di Fabio, in: Der Spiegel vom 26. 3. 2007, S. 26.

IX. Recht und Rechtsprechung

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kennung der Frau und die damit einhergehende Verletzung ihrer Menschenwürde und Unversehrtheit nicht gerechtfertigt werden. Wozu es allerdings führt, wenn die vorgenannten vernünftigen und rechtlichen Zusammenhänge außer Acht gelassen werden, zeigt exemplarisch die zu Recht kritisierte Entscheidung des Familiengerichts Frankfurt a. M. im März 2007. Wie „Der Spiegel“337 berichtete, habe eine 26-jährige Deutsche marokkanischer Herkunft die Ehescheidung von ihrem gewalttätigen marokkanischen Ehemann vor Ablauf des gesetzlich vorgeschriebenen Trennungsjahres wegen besonderer Härte beantragt, wobei der Ehemann seine Ehefrau zudem – trotz behördlicher Kontaktsperre – fortwährend bedroht hätte. Er hätte sie zudem geschlagen und soll gesagt haben, er wolle sie notfalls töten. Die Familienrichterin habe trotz des festgestellten Sachverhalts entschieden, dass eine unzumutbare Härte, die eine sofortige Auflösung der Ehe nötig mache, nicht vorliege. Die Frau habe vielmehr damit rechnen müssen, dass ihr in einem islamisch geprägten Land aufgewachsener Mann sein religiös verbrieftes Züchtigungsrecht auch ausübe. Wie „Der Spiegel“ weiter berichtete, soll die Richterin sogar noch in einer dienstlichen Erklärung ergänzt haben, dass der Koran in Sure 4 Vers 34 neben dem Züchtigungsrecht des Mannes gegenüber der ungehorsamen Frau auch die Feststellung der Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau enthalte. Dieser Fall macht deutlich, welche Auswirkungen es haben kann, wenn sowohl das Wertesystem als auch die Rechtsordnung der Bundesrepublik nicht als Ganzes zum Maßstab der rechtlichen und ethischen Betrachtung gemacht werden. Hätte die Richterin das Wertesystem der Bundesrepublik als Ganzes in ihre Wertentscheidung einbezogen, hätte sie vielmehr zwingend zu dem Ergebnis kommen müssen, dass auch ein religiös verbrieftes Züchtigungsrecht bei einer nach unserer Rechtsordnung vorzunehmenden Werterwägung nicht den Vorrang vor dem Menschenrecht der Ehefrau auf unversehrtes Existieren haben konnte. Hierzu brauchte noch nicht einmal eine umfassende Wertabwägung gegeneinander wirkender Werte vorgenommen werden. Es ist nämlich evident, dass man zur Verfolgung eigener religiöser Wertvorstellungen den Wert der Menschenwürde des anderen und damit auch die Idee als solche nicht „mit Fäusten schlagen“ darf. Es geht auch nicht an – wie die Familienrichterin dies zur Rechtfertigung der Entscheidung getan hat – darauf zu verweisen, die Ehefrau habe ja gewusst, worauf sie sich bei ihrer Heirat einließ, als sie einen Mann aus einem islamischen Kulturkreis heiratete, weshalb sie nunmehr keinen besonderen Schutz beanspruchen könne. Auch dieser in der Entscheidung zum Ausdruck kommende Denkansatz, wonach unsere Rechtsordnung berücksichtigen müsse, aus welchem Kulturkreis die Rechtssuchenden kommen, geht an der Sache vorbei. Es ist zwar richtig, dass innerhalb einer Wertabwägung alle Umstände des konkreten Konfliktes analysiert und abgewogen werden müssen. Maßstab der Wertabwägung darf jedoch ausschließlich unser Wertsystem sein.

337

Der Spiegel vom 26.3.2007, S. 22 ff.

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Zudem wird in der Frankfurter Entscheidung verkannt, dass wir in der Bundesrepublik ein einheitliches Rechtssystem haben, welches nicht teilbar ist, je nachdem, ob es auf einen Deutschen oder einen Zuwanderer anderer ethnischer Herkunft anzuwenden ist. Unser Wertesystem und die daraus fließende und enthaltene Rechtsordnung ist eine Einheit, ein Ganzes, welches für alle in unserem Lebensraum ansässigen Menschen gleichermaßen Geltung beansprucht. Ließe man das Gegenteil zu, würde man Parallelgesellschaften mit jeweils anderen Wertesystemen fördern, was auch der Integrationsidee widerspräche.

X. Die Rolle der Religionen 1. Die voluntaristische Prägung des Islam Die Religion als Maßstab des Verhaltens des Menschen zum transzendentalen Grund seiner Existenz ist eine elementare Dimension jeder Kultur. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die Religionen, die es an sich mit den Pflichten gegenüber Gott zu tun haben,338 auch die gesellschaftlichen Wertesysteme maßgeblich geprägt haben und nach wie vor noch prägen. Während allerdings das Christentum die Trennung von Staat und Kirche, die Trennung von gesellschaftsethischem und religiös-ethischem Wertesystem, welches vom Glauben an Gott als die alles beherrschende metaphysische Kraft bestimmt ist, und die Trennung von realem Gesellschaftsleben und Metaphysik zulässt, ist der Geltungsanspruch des Islam ein anderer. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, dass das göttliche Gesetz, der göttliche Wille in Gestalt der Scharia die islamischen Gesellschaftsordnungen ausschließlich prägt und im Leben eines Muslims ständig präsent ist.339 Der Islam bestimmt sämtliche Lebensbereiche. Gott ist der Garant jeglicher Ordnung des menschlichen Zusammenlebens.340 Wer gottgefällig lebt, lebt nicht nur in dem Sinne moralisch, dass er seinen Verpflichtungen gegenüber Gott und dessen Geboten nachkommt. Sein Leben ist vielmehr auch gesellschaftsethisch richtig, weil Gottes Wille das oberste Prinzip auch jeglicher gesellschaftlichen Ordnung ist. Dem gläubigen Muslim ist deshalb der Islam Religion und Lebensform zugleich. Die Debatte über die Integration ist deshalb nicht zu führen, ohne über die zentrale Rolle der Religionen für den Integrationsprozess selbst nach zu denken.341 Das setzt wiederum voraus, sich über den theologisch prägenden Unterschied zwischen Islam und Christentum im Klaren zu sein. Die Theologie des Islam ist voluntaristischen Ursprungs.342 Die Theologie im Islam fragt in Bezug auf Gott, der der absolute Herr des Heils und des Guten ist, 338

Kant, Die Metaphysik der Sitten, II, § 53. Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 192. 340 Daiber, Frühe islamische Diskussionen über die Willensfreiheit des Menschen, S. 338. 341 Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 191. 342 Vgl. hierzu und zum folgenden Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 82 ff. 339

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in erster Linie nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Willen Gottes. Eine Offenbarung will in erster Linie nicht eine rationale Erklärung des Seins, der Welt und ihrer Zusammenhänge anbieten, sondern die Heilswahrheit deutlich machen, d. h. die Wahrheit, die zum Heil führt, die vor allem den Maßstab für das richtige Urteil und die Norm für das richtige Handeln liefert. So bemüht sich die Theologie im Anschluss an den Koran weniger darum, das Wesen Gottes zu erforschen, als die Verfügungen seines Willens festzustellen. Denn Gott ist in seinem Wesen der absolute Transzendente, zu dem kein Zugang besteht. So steht im Mittelpunkt der islamischen Theologie das Wirken Gottes, das Tun seines uneingeschränkten Willens und als Antwort darauf das Leben des Menschen im Angesicht Gottes, in der Hingabe an seinen souveränen Willen, in der Unterwerfung unter seine Verordnungen. In seiner Mitte ist der Islam die Religion des göttlichen Voluntarismus und die Unterwerfung des Menschen unter den unbedingten Willen Gottes, woraus die Relevanz der Offenbarung für die Lebenspraxis der Menschen resultiert.343 Dabei ist allerdings von großer Bedeutung, dass im Islam Gott nicht willkürlich und vor allem kein willkürlicher Despot ist. Der Wille Gottes ist zwar absolut frei, aber – so bezeugt seine eigene Offenbarung – die Entscheidungen seines Willens sind für die Menschen Gnade und Barmherzigkeit.344 Seit den Anfängen des Islams besteht für die Theologie ein Primat des Moralischen vor dem Intellektuellen, der Praxis vor der Theorie. Für die muslimischen Philosophen hat die menschliche Vernunft von ihrem eigenen Wesen her die interne Pflicht und auch die Möglichkeit und die Kraft zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Die muslimischen Theologen behaupten in ihrer Mehrheit, dass diese Pflicht der Suche nach der Wahrheit und der Gotteserkenntnis für die menschliche Vernunft die Folge einer Offenbarungsverfügung sei. Auch die Kraft zur Erkenntnis zu gelangen sei die Folge einer göttlichen Verordnung. Die Möglichkeit, diese Kraft zu ihrem Erkenntnisziel zu führen, beruhe auf dem Inhalt der Offenbarung; ihre Grenzen im religiösen Bereich fielen somit mit denen des Offenbarungsinhaltes zusammen.345 Damit wird die Selbständigkeit der menschlichen Vernunft verneint. Denn die islamische Theologie erkennt nur solche Gotteserkenntnis und solche Aussagen über Gott an, die – wie der große Theologe al-Ash-ari verlangte – auf einer Koranstelle gründeten. Die Rolle der Vernunft besteht allein darin, die Mitteilungen Gottes über sein Tun und seine Verordnungen und Dekrete aus den Quellen seiner Offenbarung herauszulesen. Im Rahmen der islamischen Vorstellung von der absoluten, freien Positivität der Dekrete Gottes bleibt der Vernunft somit nur noch die Rolle der beschreibenden Feststellung, von der Offenbarung ausgehend, übrig.346 Die Konsequenzen dieser Gottesvorstellung sind weitreichend und haben in der islamischen Theologie – wie Khoury es formuliert – zu folgenden Konzeptionen geführt: 343 344 345 346

Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 84. Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 88. Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 88 f. Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 89.

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„Gott als unbedingter Wille ist der freie Herr über das Leben in seiner Gesamtheit. […] Was die Dinge sind, wie sie wahrgenommen werden und wie sie aufeinander wirken, auch die so genannten Naturgesetze, dies alles sind letztlich nur Gewohnheiten des göttlichen Wirkens, die Gott jeden Augenblick neu festsetzt. Somit verlieren die metaphysischen und logischen Grundsätze der menschlichen Vernunft ihre universale Gültigkeit. Sie gelten nur, insofern feststellbar sei, dass Gott wieder einmal in diesem Augenblick in seinem freien Willen so wirkt, wie er es vorher getan hat.“347

Der Islam unterscheidet sich somit elementar von der christlichen Lehre, die unser gesellschaftsethisches Wertesystem elementar beeinflusst hat. Der christliche Glauben ist die Vernünftigkeit der Antworten, die die Religion geben kann, und darin gegründet und verbürgt, dass der Logos – das schöpferische Wort, die Vernunft Gottes – die Schöpfung trägt und durchwaltet. Dies hat Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede aus dem Prolog des Johannesevangelium abgeleitet, welches mit dem Satz beginnt: Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott. Der Logos ist nach Papst Benedikt XVI. allerdings auch Vernunft und Wort zugleich, eine Vernunft, die schöpferisch sei und sich mitteilen könne, eher aber eben als Vernunft. Nicht mit dem Logos handelnd sei dem Wesen Gottes zuwider.348 Dementsprechend hat der christliche Glaube immer daran festgehalten, dass es zwischen Gott und Mensch, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und der geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt.349 An anderer Stelle hat Papst Benedikt XVI. klargestellt, dass das Christentum eine Synthese von Glaube und Vernunft und von Vernunft und metaphysischem Geheimnis sei.350 Am Anfang aller Dinge stehe die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube sei heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibe das Christentum auch heute Aufklärung, wobei allerdings zu sagen sei, dass der Logos nicht nur als mathematische Vernunft erscheine, sondern auch als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, dass er Mitleiden mit dem Geschöpf werde. Die wahre Vernunft sei die Liebe und die Liebe sei die wahre Vernunft. In ihrer Einheit seien sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.351 Da der Islam in erster Linie von der Offenbarung Gottes geprägt ist, hat dies zur Folge, dass auch die menschliche Vernunft im Islam einen anderen Stellenwert als im Christentum hat. Dies ist letztlich auch der Grund dafür, dass den Werten der ethischen Freiheit und damit der Würde des Menschen im Islam bislang nicht die tragende Bedeutung eingeräumt wird, die diese Werte im Christentum, welches seine philosophische Nähe zur Aufklärung stets betont, erfahren.352 Die Würde des Menschen de347 348 349 350 351 352

Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 85 f. Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität, S. 18. Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität, S. 21. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, S. 140 f. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, S. 146, 147. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, S. 136, 146.

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finiert sich in einem voluntaristisch ausgerichteten Islam über den Willen Gottes, der mit seinen Verfügungen allein den Maßstab für das richtige Handeln liefert.353 Nicht die freie, ethische Selbstbestimmtheit des Menschen ist der Maßstab der Ethik. Die Kriterien der Ethik werden vielmehr durch die religiöse Autorität von Koran und Sunna bestimmt. Die Religion ist deshalb nicht nur die Richtschnur für das richtige Handeln. Dem freien menschlichen Willen werden durch die Religion auch Grenzen gesetzt, selbst wenn die Aussagen des Korans hierzu widersprüchlich sind. Denkt man die Theologie eines solchen Voluntarismus konsequent zu Ende, kann dies auch nur zur Einschränkung der Glaubensfreiheit, die an sich Ausfluss der ethischen Selbstbestimmtheit des Einzelnen ist, führen.354 In Sure 2, 256 des Korans heißt es zwar: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“. Dass man allerdings nicht die Freiheit hat Gottes Wille auszuweichen, ergibt sich aus anderen Versen, die die Abwendung vom Islam, den Abfall vom Glauben (Apostasie), verdammen. Der Koran spricht in Sure 2, 217 von der Hölle als Strafe für diejenigen, die vom Glauben abkämen und als Ungläubige sterben würden. „Deren Werke sind im Diesseits und Jenseits wertlos. Das sind die Gefährten des Feuers, sie werden darin ewig weilen.“ Auch Sure 16, 106 – 107 nimmt sich dieses Themas an: „Wer Gott verleugnet, nachdem er gläubig war – außer dem, der gezwungen wird, während sein Herz im Glauben Ruhe gefunden hat –, nein diejenigen, die ihre Brust dem Unglauben öffnen, über die kommt ein Zorn von Gott, und bestimmt ist für sie eine gewaltige Pein.“355 2. Religiöser Dialog – die Chance zur vollendeten Integration Der theologisch voluntaristische Ansatz hat sich in der Ethik der islamischen Welt verfestigt. Gottes Wille ist das oberste Prinzip. Die ethische Einstellung des gläubigen Muslims ist logisch aus diesem Willen zu deduzieren. Ein islamisch geprägtes Wertesystem setzt somit die religiöse Zwangsgemeinschaft nach Gottes Entwurf, nämlich nach der Religion des Islam356 voraus, wenn es sich nicht der Selbstauflösung preis-

353

Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 81. Anders im Christentum: Würde man nämlich die ethische Selbstbestimmtheit des Menschen uneingeschränkt anerkennen, wie dies im Christentum im Einklang mit der Aufklärung geschieht, führte das in der logischen Konsequenz dazu, die sittliche Entscheidung des Menschen, an Gott zu glauben oder nicht, zu akzeptieren. Dies entspräche nach christlichem Verständnis wiederum der Vernunft Gottes. Es kann nämlich nicht dessen Vernunft entsprechen, dass die religiös-sittlichen Entscheidungen des Menschen in der Weise unfrei sind, dass es einen Zwang im Glauben und es folglich keine eigenständige sittlich-religiöse Entscheidung mehr gäbe, über den eigenen Glauben zu entscheiden. Denn, was hätte Gott davon, wenn man nur an ihn glaubte, weil man hierzu gezwungen wäre. Die Glaubensfreiheit würde ad absurdum geführt. Dies gilt im Übrigen auch für die jeweiligen Glaubensinhalte selbst. 355 Vgl. auch Ates, Der Multikulti-Irrtum, S. 191 f. 356 Koran, Sure 3, 18 und 19: Gott bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer ihm, ebenso die Engel und diejenigen, die das Wissen besitzen. Er steht für die Gerechtigkeit ein. Es gibt keinen 354

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geben wollte. Allein dies ist auch der Grund, weshalb in der Kairoer Menschenrechtserklärung die Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia gestellt werden. Damit ist es letztlich die Religion des Islam selbst, die für viele gläubige Muslime eine innere Integration in das gesellschaftsethische Wertesystem der Bundesrepublik verhindert, weil sie sich aufgrund ihres Glaubens berechtigt oder sogar verpflichtet fühlen, Gebote und Traditionen einzuhalten, die sogar gegen Menschenrechte, insbesondere die der Frau, gerichtet sind. Die ethischen Integrationsprobleme zugewanderter Muslime in unser Wertesystem haben somit ihren wesentlichen Grund in theologisch-philosophischen Grundpositionen.357 Es treffen im wahrsten Sinne zwei Welten aufeinander mit einem jeweils unterschiedlichem Menschen- und Gottesbild. Hier liegt die Wurzel einer unterschiedlichen Ethik und der darauf aufbauenden unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Dies bedeutet allerdings zugleich, dass den Religionen, die nach wie vor die Leitlinien der Ethik mitbestimmen, bei der ethischen Zusammenführung von Menschen, gleichgültig ob es sich um gesellschaftsethische oder gar globalen Integrierungsbemühungen handelt, eine bedeutende ethisch-philosophische Funktion zukommt. Damit rückt der interreligiöse Dialog in den Fokus, da dieser die Chance bietet ethische Unterschiede an ihren religiösen Wurzeln zu packen. Es ist deshalb kein Zufall, wenn Papst Benedikt XVI. sich in seiner Regensburger Rede mit der Frage von Glaube und Vernunft auseinandersetzt und die Frage stellt, ob Vernunft und Glauben einander finden können, wobei er ausdrücklich darauf hinweist, dass diese Frage Gegenstand des wirklichen Dialogs der Kulturen werden müsse. Auch Karl Kardinal Lehmann358 hat darauf hingewiesen, dass es auf Seiten aller Religionen der Reflektionen auf die universale Verbindlichkeit der Vernunft bedürfe, die auch die Religionen verbinde, wobei die Antworten auf die Frage nach der Vernunft und nach der Vernunft der Religionen gewiss nicht einfach gleich lautend ausfallen könnten. Auch die Vernunft sei kein Abstraktum, sondern weise ihre spezifischen geschichtlichen Prägungen auf. Dass dieser respektvolle Dialog bereits im Gange ist, zeigt die gemeinsame Erklärung einer Arbeitsgruppe aus katholischen und schiitischen Theologen, die zum Verhältnis von Glauben und Vernunft erarbeitet wurde. Diese Erklärung wurde allgemein als bedeutender Schritt eines interreligiösen Dialogs gewertet. Es umfasst sieben

Gott außer ihm, dem Mächtigen, den Weisen. Die Religion bei Gott ist der Islam … Wenn aber jemand die Zeichen Gottes verleugnet – siehe, Gott ist schnell im Abrechnen.“ 357 Dieser Standpunkt wird allerdings nicht uneingeschränkt geteilt. Während nach einer Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien aus dem Jahr 2006 sich 83 % der türkischstämmigen Muslime als religiös oder streng religiös bezeichnen, heißt es in einer anderen, vom Familienministerium im Oktober 2007 vorgestellten Milieustudie, dass die in Deutschland lebenden Einwanderer von ihrer Umwelt weitaus stärker geprägt seien als von ihrer Herkunft, der Einfluss der Religionen sei weitaus geringer als bisher angenommen. 358 Kardinal Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den „abrahamitischen Religionen“, S. 105 f.

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Punkte, die zu konkreten Spielregeln des Dialogs entwickelt werden sollen.359 In der Erklärung heißt es wörtlich: „1. Glaube und Vernunft sind beides Geschenke Gottes an die Menschheit. 2. Glaube und Vernunft widersprechen einander nicht, allerdings kann es manchmal vorkommen, dass der Glaube über der Vernunft steht, auch wenn er ihr nie entgegensteht. 3. Glaube und Vernunft sind von sich aus gewaltlos. Weder die Vernunft noch der Glauben sollten für Gewalttätigkeit benutzt werden. Bedauerlicherweise ist es immer wieder vorgekommen, dass beide missbraucht wurden, um Gewalt zu üben. Auf alle Fälle können diese Ereignisse weder die Vernunft noch den Glauben in Zweifel ziehen. 4. Beide Seiten einigten sich, weiterhin zusammen zu arbeiten, um echte Religiosität und echte Spiritualität zu fördern, um zur Achtung der Symbole zu ermutigen, die als heilig angesehen werden, und um moralische Werte zu fördern. 5. Christen und Muslime sollten über Toleranz hinausgehen und Unterschiede akzeptieren, während sie sich ihrer Gemeinsamkeiten bewusst bleiben und Gott dafür danken. Sie sind zu gegenseitigem Respekt aufgerufen und somit dazu, die Verhöhnung von religiösen Überzeugungen zu verurteilen. 6. Verallgemeinerungen sollten gemieden werden, wenn von Religionen die Rede ist. Konfessionelle Unterschiede in Christentum und Islam, Vielfalt der historischen Umstände stellen wichtige Faktoren dar, die in Betracht gezogen werden müssen. 7. Religiöse Traditionen können nicht anhand einzelner Verse oder Textstellen beurteilt werden, die in den jeweiligen heiligen Büchern enthalten sind. Sowohl eine ganzheitliche Sicht als auch eine angemessene hermeneutische Methode sind für ein faires Verständnis erforderlich“.

Aus dieser gemeinsamen Erklärung geht hervor, dass der Glaube an die Verfügungen Gottes, die Vernunft und Offenbarung als Geschenke Gottes miteinander harmonisiert werden sollten, Vernunft und Glaube zueinander finden müssten, da nur die Ausweitung des Vernunftbegriffes – wie Papst Benedikt XVI. es in seiner Regensburger Rede formulierte – einen wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen möglich mache.360 Wenn weiter gesagt wird, dass Glaube und Vernunft gewaltlos seien, bedeutet dies nichts anderes, als dass die autonome Würde des Menschen und die Menschenrechte respektiert werden müssten. Dies kann auch aus dem Hinweis auf den gegenseitigen Respekt von Muslime und Christen, die gegenseitige Toleranz und die Religionsfreiheit herausgelesen werden. Der interreligiöse Dialog hat eine Fortsetzung im Rahmen eines katholisch-muslimischen Forums gefunden. Am 6. 11. 2008 wurde eine gemeinsame Schlusserklärung veröffentlicht,361 die die Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen untereinander in den Vordergrund stellte. Deren wesentlicher Wortlaut ist:

359 http://deislam.wordpress.com/2008/05/07/vatikan-ergebnisse-des-christlichen-semi nars-ueber-glaube-und-vernunft/. 360 Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität, S. 30. 361 http:www.Christenundmuslime.at/content/site/aktuell/ARTICLE/226.html.

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„1. Für Christen ist die Quelle und das Vorbild für die Liebe zu Gott und zum Nächsten die Liebe Christi zu seinem Vater, zur Menschheit und zu jedem Menschen. ,Gott ist die Liebe (1 Joh 4,16), und ,Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat (Joh 3,16). Gottes Liebe ist durch den heiligen Geist in das menschliche Herz hineingelegt worden. Es ist Gott, der uns zuerst liebt und uns dadurch in die Lage versetzt, ihn zurückzulieben. Liebe schadet dem Nächsten nicht, sondern zielt vielmehr darauf ab, den anderen so zu behandeln, wie man es für sich selbst erhoffen würde (vgl. 1 Kor 13, 4 – 7). Liebe ist die Grundlage und die Zusammenfassung aller Gebote (vgl. Gal 5, 14). Die Nächstenliebe kann von der Gottesliebe nicht getrennt werden, ist sie doch Manifestation unserer Gottesliebe. Das ist das neue Gebot: ,Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12). Christliche Liebe, die auf der aufopfernden Liebe Christi fußt, bedeutet Vergebung und schließt niemanden aus; deshalb schließt sie sogar die eigenen Feinde ein. Sie darf nicht nur in Worten bestehen, sondern muss sich auch in Taten äußern (vgl. 1 Joh 4, 18). Das ist der Beweis für ihre Echtheit. Für Muslime ist die Liebe, wie es in ,Eine gemeinsame Welt – A Common World festgehalten wurde, eine zeitlose transzendente Kraft, die die Rücksicht der Menschen im Umgang miteinander anleitet und verwandelt. Diese Liebe kommt, wie der heilige und geliebte Prophet Mohammed aufzeigte, vor der menschlichen Liebe, die dem einen wahren Gott entgegengebracht wird. In einem Hadith heißt es, dass das liebende Mitgefühl Gottes für die Menschheit sogar noch größer sei als jenes einer Mutter für ihr Kind (Muslim, Bab al Tawba: 21); deshalb existiert sie vor und unabhängig von der menschlichen Antwort auf den Einen, der ,der Liebevolle ist. So unermesslich groß sind diese Liebe und dieses Mitgefühl, das Gott oftmals und an vielen Orten auf vollkommene Art und Weise eingegriffen hat, um die Menschheit zu führen und zu retten, indem er ihr Propheten und Schriften schickte. Das letzte dieser Bücher, der Koran, portraitiert eine Welt voller Zeichen, einen wunderbaren Kosmos göttlicher Kunstfertigkeit, die unsere äußerste Liebe und Ergebenheit weckt, so dass ,die, die glauben, Gott noch mehr lieben (2: 165), und der Allerbarmer denen, ,die da glauben und gute Werke tun Liebe zukommen lassen wird (19:96). In einem Hadith lesen wir, dass ,nicht einer von euch gläubig ist solange er nicht für seinen Nächsten wünscht, was er für sich selbst wünscht (al-Buchari al-Iman. 13) 2. Das menschliche Leben ist ein höchst wertvolles Geschenk, das Gott jeder Person macht. Deshalb sollte es in all seinen Phasen bewahrt und geehrt werden. 3. Die menschliche Würde leitet sich von der Tatsache ab, dass jeder Mensch von einem liebenden Gott aus Liebe erschaffen und mit den Gaben der Vernunft und des freien Willen ausgestattet ist. Deshalb ist er in der Lage, Gott und die anderen zu lieben […].“

Diese gemeinsame Erklärung ist davon geprägt, dass die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen untereinander zum verbindenden Glied, zum einigenden Band des Dialogs gemacht werden. Die Liebe soll die Menschen nicht nur mit Gott, sondern auch untereinander verbinden, was der Vernunft, die nach christlicher Lehre mit der Liebe identisch ist, entspricht. Wenn man die gemeinsamen Erklärungen liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass der interreligiöse Dialog doch gar nicht so schwer sein dürfte. Vor allem unter den Prinzipien der Vernunft, der Liebe Gottes und der Menschenwürde müsste es doch möglich sein, zu einer gemeinsamen ethisch-theologischen Deutung der Prinzipien der Menschenwürde und der ethischen Freiheit zu gelangen.

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Hiergegen steht allerdings im Grundsatz der voluntaristische Ansatz des Islam. Dessen absolutes Prinzip ist nicht – wie im Christentum – die göttliche Vernunft und die Liebe Gottes, sondern der Wille Gottes, der sich in den heiligen Schriften des Islam wiederfindet. Man muss sich deshalb immer wieder vergegenwärtigen, dass selbst die Lehrmeinungen innerhalb des Islams, die wie der Mutazilit Abdaldjabbär einen ethischen Rationalismus vertraten, stets daran festhielten, dass Gott nicht nur der Garant jeglicher Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, sondern auch der Garant der ethischen Prinzipien selbst sei. Er sei es, der das menschliche Wollen in seine Grenzen weise. Hierbei sei das von Gott Verordnete gut, und zwar nicht nur als Offenbarung oder als Gesetzgebung, sondern weil es der Vernunft zufolge zweckmäßig und darum notwendig sei. Hieran müsse sich der menschliche Wille orientieren.362 Damit wird klar, dass der Vernunft im Islam, von welcher Seite man sich ihr auch nähert, allenfalls die Rolle zukommt, die Mitteilungen Gottes über sein Tun und seine Verordnungen und Dekrete aus den Quellen seiner Offenbarung herauszulesen.363 Das bedeutet, dass der interreligiöse Dialog wiederum nur im Zusammenhang mit dem innerreligiösen Dialog gesehen werden kann. Dabei geht es um die innerhalb des Islams selbst zu klärende Frage, wie viel Vernunft der Islam unter Beibehaltung seines voluntaristischen Ansatzes bei der Auslegung des Korans zulässt. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Richtungen: Die Lehre des orthodoxen Islam orientiert sich am strengen Wortlaut der Verfügungen oder an einzelnen Versen, die den geäußerten Willen Gottes wiedergeben. Dagegen steht die Meinung innerhalb des Islams, die die heiligen Bücher des Islams unter Einbeziehung der Vernunft hermeneutisch lesen und interpretieren will.364 Von diesem Dialog wird die Frage abhängen, wie viel philosophische und theologische, ethische Selbstbestimmtheit des Menschen, die die westliche Welt aus der Vernunft abgeleitet hat, der Islam zulässt und ob Menschenrechte und Demokratie, wie wir sie verstehen, in Einklang mit dem Islam zu bringen sind – ein Anliegen, welches die muslimische Feministin Mahbubeh Abbasgholizadeh wie folgt formuliert hat: „Der Unterschied liegt in erster Linie nicht in den konkreten Forderungen, sondern in der Weltanschauung. Ich bin eine Iranerin und gehöre einer bestimmten Religion an. Ich glaube an Gott, verrichte täglich das Gebet und möchte zugleich alle Rechte genießen, die einem freien Individuum zukommen. Ich trete für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ein, möchte dabei aber meinen Glauben, der einen wichtigen Teil meiner Identität und Persönlichkeit ausmacht, nicht verlieren. Ich fordere die Einhaltung der Menschenrechte, will aber auf meine religiösen Überzeugungen nicht verzichten. Zwar sei es richtig, dass viele Ungleichheiten ihre Ursache im Islam hätten. Aber wenn ich sie ablehne, muss ich doch deswegen meinen Gott und meinen Glauben nicht aufgeben. Wir müssen den Koran neu 362 363 364

Daiber, Frühe islamische Diskussionen über die Willensfreiheit des Menschen, S. 338. Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 89. Vgl. hierzu Khoury, Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille?, S. 81 ff.

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lesen und interpretieren. Das ist auch der Standpunkt der modernen islamischen Aufklärer.“365

Diese Worte Abbasgholizadehs beschreiben nicht nur das eigene innere Spannungsverhältnis, in dem sich vielzählige Muslime befinden. Sie erfassen auch die Spannungen, die der gesamten gesellschaftsethischen Integrationsdebatte und dem interreligiösen Dialog zugrunde liegen. Letztlich beschreiben sie sogar das Spannungsverhältnis, in welchem sich der Islam selbst befindet. Es zeigt sich: Der interreligiöse Dialog zwischen den Religionen wird maßgeblich davon abhängen, wie sich der religiöse Dialog innerhalb des Islam selbst entwickeln wird. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, ob sich der Islam an dem strengen Wortlaut einzelner Verfügungen Gottes orientiert, oder sich einer hermeneutischen und ganzheitlichen Auslegung öffnet, die der Barmherzigkeit und der Liebe Gottes bei der Auslegung seines Willens genügend Raum gibt. Denn eins steht fest: Auch der Gott des Islams ist barmherzig und keinesfalls willkürlich. Wie komplex dieses Thema allerdings ist, zeigt sich, wenn es im Koran, Sure 3, 31 und 32 wörtlich heißt: „Sprich, Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, so wird Gott euch lieben und euch eure Sünden vergeben. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig. Sprich: Gehorchet Gott und dem Gesandten. Wenn sie sich abkehren – siehe, Gott liebt die Ungläubigen nicht.“

Nach wortgetreuer Auslegung dieser Sure wäre die Welt und die Gesellschaft in zwei Lager geteilt, nämlich die Gläubigen und Ungläubigen. Beide stünden sich in einem ethisch unversöhnlichen Spannungsverhältnis gegenüber. Dies hätte in der Konsequenz zur Folge, dass die Integrierung von Muslimen in ein säkularisiertes Wertesystem schon dem Ansatz nach nicht denkbar wäre. Die westliche Welt sollte sich allerdings davor hüten, dem Islam gute Ratschläge geben zu wollen oder gar einen Euro-Islam zu fordern, der sich an den westlichen Werten sowie der Aufklärung und Säkularisierung zu orientieren habe. Die richtige Lesart des Islam ist nach wie vor Sache des Islams selbst. Bei dem innerreligiösen Dialog geht es nämlich nicht nur um eine weltanschauliche und philosophische Betrachtung. Die religiöse Auseinandersetzung im Islam ist tiefer. Es geht für alle gläubigen Muslime um ihr Verhältnis zu Gott, ihr ethisches Leben in der Welt und ihr Leben nach dem Tod, eine Einstellung, die für viele säkularisierte Menschen im Westen kaum mehr nachzuvollziehen ist, weil dort immer mehr Menschen mit religiösen Empfindungen und Traditionen nichts mehr anfangen können, Vernunft nur noch im positivistischen Sinne begreifen und – einem radikal relativistischen Ansatz folgend – nichts mehr definitiv anerkennen, sondern nur noch ihrem Ich und dessen Bedürfnissen folgen.366

365 366

Zitiert nach Nirumand, Iran, S. 176. Vgl. hierzu Traub, Die Rückkehr des Glaubens, S. 17, 21.

X. Die Rolle der Religionen

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Allein dem Islam obliegt es, in einem inneren Dialog, insbesondere über die Auslegung der nicht einfach zu lesenden und zu verstehenden heiligen Schriften, zueinander zu finden. Der Islam selbst muss klären, was ihr Gott wirklich gewollt hat und wie weit vor allem dessen Liebe geht. Es muss geklärt werden, ob der voluntaristische Gott des Islams die absolute, durch nichts bedingte und von der Einhaltung seines Willens unabhängige und versöhnliche Liebe gegenüber allen Menschen kennt, oder ob er nur diejenigen liebt, die ihm gehorchen und folgen. Die Frage, wie weit Gottes Liebe geht, könnte nach alledem zum entscheidenden Punkt des religiösen Dialogs werden. Aus meiner Sicht ist nämlich nicht – jedenfalls nicht zeitnah – zu erwarten, dass der Islam entgegen seiner grundsätzlichen Prägung die Vernunft – und schon gar nicht die menschliche – vor den Willen Gottes stellt. Ich erwarte deshalb eher – und zwar unabhängig von jedem Säkularisierungsgedanken – einen inner- und interreligiösen Diskurs über das Prinzip der Gottesliebe und die Frage, ob der Gott des Islams seinem Willen entsprechend alle Menschen liebt, ihnen vergibt und verzeiht, gleich ob sie in seinem Sinne gläubig sind oder nicht. Aus meiner Sicht könnte die unbedingte (absolute) Liebe Gottes das einigende Prinzip des religiösen Dialogs schlechthin werden, der damit auch den Kriterien der Vernunft entsprechen würde. Religiöse Versöhnung statt Abgrenzung wäre möglich. In der Liebe als Leitmotiv könnten sich die göttliche Vernunft und der göttliche Wille vereinen. In der Liebe könnten alle Unterschiede von Vernunft und Wille dialektisch aufgehoben werden. Die Gleichung könnte lauten: Liebe ist gleich Vernunft und Wille. Diese Gleichung könnte auch zum alles erfassenden obersten ethischen Integrationsprinzip weltweit werden. Aus der Gottesliebe folgt nämlich die Liebe der Menschen zu sich selbst (Selbstliebe) und untereinander (Nächstenliebe). Aus der Menschenliebe, die immer noch etwas geradezu Metaphysisches, Göttliches beinhaltet und insoweit sogar noch über die menschliche Form der Menschenwürde hinaus geht, folgt – theologisch entkleidet – das polardialektische Prinzip der Menschenwürde und die daraus abgeleitete Toleranz. Bei dieser Betrachtung wären Metaphysik, Religion und gesellschaftliches Miteinander in Einklang zu bringen. Vernunft, Wille und Religion wären von den gleichen Leitlinien geprägt. Göttliche Vernunft, göttlicher Wille und metaphysisch gefärbte Menschenliebe sowie menschliche Vernunft und Menschenwürde würden zusammenfließen und böten für jedermann, gleich welcher Herkunft und welcher Weltanschauung, gläubig oder nicht gläubig, inhaltlich miteinander zusammenhängende Orientierungspunkte. Es war deshalb durchaus in die richtige Richtung weisend, wenn der türkische Ministerpräsident Recep Teyyip Erdogan die Liebe zum maßgebenden Prinzip der Integration erhob und darauf hinwies, dass auch der Islam auf Liebe aufbaue; man liebe die Geschöpfe des Schöpfers wegen. Für den übergreifenden Gedanken der Liebe als Prinzip der Integration schlechthin, als „Weltethos“, habe ich große Sympathie. Dieser Gedanke, wenn er denn ernsthaft verfolgt würde, könnte global bahnbrechend werden, weil er sowohl religiös

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sinnliche Menschen als auch – auf einer anderen Ebene – streng säkularisierte Menschen erreichen kann. Das Prinzip der Liebe mit seinem vergebenden, barmherzigen, aber auch gönnenden sowie friedvollen Charakter kann zudem nicht durch andere Werte verfärbt und überlagert werden, sondern steht letztlich bedingungslos (absolut). Die Weltformel könnte lauten: Der Weg und das Ziel der ethischen Integration aller Kulturen ist die Idee der Liebe. Darin vereint sich Realität und Metaphysik, Mensch und Gott, Ich und Du. Es scheint so, als ob die Idee der Eigenliebe und Fremdliebe, beides vereint in der Gottesliebe wie auch der ethischen Existenz des Menschen, ein ewig junges Prinzip der menschlichen Einheit und Zusammengehörigkeit ist.

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Stichwortverzeichnis Akkommodation 126 Akkulturation 17, 19 ff., 47 Ambivalenz 32, 50, 52 ff., 66, 80, 81 „anything goes“ 51 Assimilation 17 ff., 22, 26, 39, 47, 111 f., 116, 128 ff., 154 Aufklärung 62, 67 f., 194 Basiswerte 61., 90 ff., 97, 108 f., 121, 149, 154, 163 f. Begriff 11 f., 28 ff., 32, 34 f., 52 Bewusstseinsprozess 123 ff., 135, 150, 154 Bibel 71, 78 Bildung 175 ff. Bildungspolitik 176 ff. Burka 181 f. Chauvinismus 146 Christentum 96, 192, 194 ff. Demokratie 23 ff., 45, 61 f., 101, 111 ff., 115, 147, 161, 178, 199 Denken, begriffliches 10 f., 28 ff., 124 Desintegration 14, 36, 43, 125, 132, 157 Dialektik 15 f., 21, 30 ff., 124 Dialog – gesellschaftlicher 12, 35 f.. 42, 83, 163 ff. – innerreligiöser 199 f. – interreligiöser 131, 196 f., 200 – politischer 11, 33, 163 – religiöser 195 ff. Diskurs – ethischer 163, 175 – vernünftiger 34 f., 124, 189 Dominanzkultur 128 f. Egoismus 45, 76, 80, 127 Eigennutz 76, 84 Einheit – als Ganzes 13 ff., 37 ff.

– gesellschaftliche 12, 16, 40 ff., 96 ff., 143 ff., 148 ff., 159, 172 ff. – synthetische 14 ff. Ethik 31, 50, 57, 65, 67, 70, 75 f., 80, 83, 93, 133 f., 164, 174, 177, 180, 184 f., 195 f. Existenz – ethische 71 ff., 93, 176 f., 202 – menschliche 51, 62, 75 – personhafte 49, 63, 73 f., 85 ff., 121 Freiheit – ethische 61 f., 68, 70, 76 ff., 81, 90, 131 – geteilte 53, 78 – in Gebundenheit 78, 122 – negative 77 – positiver Begriff der ~ 77 Fremdachtung 61, 74, 80, 83, 150, 176, 178 Ganze 13, 15 ff., 37, 41, 43, 94, 125, 141, 144 f., 147 Gemeinwohl 53, 80 f., 83 f., 93, 147 Gesellschaft – atomisierte 142 – integrierte 41, 43, 158 – multikulturelle 26, 36, 109 f., 184 – pluralistische 133 Gesellschaftsganze 41, 43 ff., 53 f., 56, 59, 67 f., 83, 115, 122 ff., 144 ff., 170 ff. Gesellschaftskultur 93, 95 f., 103, 108, 143 Gesellschaftsraum 97, 107, 160 Gesellschaftsvertrag 41 ff., 61, 64 f., 68, 76, 95, 97, 101, 127, 143 f. Gesinnungsfreiheit 129 f. Glaubensfreiheit 102, 116, 184, 188 ff., 195 Gleichberechtigung 21, 23 f., 92, 98, 116, 136, 140, 158, 199 Gott 49, 58, 62 f., 70 ff., 105 f., 192 ff. Gut 32, 48 ff., 52 ff., 75, 87, 177 „gut und böse“ 50, 57, 73 Heimat 137 f., 142 ff.

Stichwortverzeichnis Identifikation 19, 70, 120, 123, 125 ff., 138 f., 153 f. Identität – kulturelle 22, 24, 36, 95, 112, 116, 153 – transkulturelle 21, 23 ff. Integration – Allgemeinbegriff der ~ 36 ff. – als transkulturelle Identität 23 f. – Angebot zur ~ 96 ff., 99, 102, 161 – äußere 131 ff., 161, 181 – demokratische 111 ff. – differenzierter Gesellschaftskulturen 103 – durch Recht 182 – eigene 12, 155 ff. – gelungene 11, 116, 119, 135, 138, 152, 166 f. – gesellschaftliche 39 ff., 96, 119 f., 129, 159 f., 177 – gesellschaftsethische 123 ff., 126 ff., 128 ff., 161, 172, 181 – handlungstheoretisches Konzept 18 f. – identitätsschonende 22, 110 – im allgemeinen Sprachgebrauch 13 f. – in der parteipolitischen Debatte 24 f. – in Stadtgesellschaften 40, 170 f., 174 – in Subsysteme 40 f., 154, 170 f. – innere 161, 196 – ins Recht 133 f. – ins Wertesystem 138, 149 f., 171 ff. – mangelnde 123, 157 – monoplurale 119 ff. – ohne Assimilation 111 – philosophische Deutung 14 ff. – räumliche 137, 145 – soziale 99, 123, 172 f., 175 – soziologische Deutung 16 – strukturelle 17 f. – systemdialektische 122 – systemrelevante 122 – vollendete 127, 134, 154, 159 ff., 164, 195 ff. – Wesen der 41 ff. Integrationsbegriff 11, 16, 28 ff., 36 ff., 39 ff. Integrationsidee 40, 119 ff., 128 f., 148 f., 152 ff., 159, 163 f., 169 f. Integrationsplan, nationaler 152 ff. Integrationspolitik – Begriff 147 ff., 150 ff., 160

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– Prinzipien der ~ 152 ff. Integrationsvertrag 161 Integrierung – als Prozess 14, 37 f., 123 ff. – Definition 38 ff. – emotionale Faktoren der ~ 135 ff., 183 – gesellschaftliche 39 ff., 69, 119 ff., 123, 180 ff. – politische 149 ff., 159 ff., 164, 168, 172 f. Internalisierung 126, 128 f., 131, 149, 160, 164, 177 Islam 96, 103 ff., 108, 115, 154, 160, 166, 168, 182, 192 ff., 200 Islamkonferenzen 152, 165 Kairoer Erklärung 105 Kategorischer Imperativ 77 f., 83 Konsens 12, 29, 33 ff., 42, 54, 67, 120, 143, 163 Kopftuch 187 Koran 103, 185, 190, 193, 195, 198 ff. Kultur – als Symbolsystem 17, 96 – christlich-abendländische 69 – deutsche 11, 94, 116 f., 147 – einer Gesellschaft 93, 95 f., 103, 108, 143 – im allgemeinen Sinne 93 – nationale 47, 94 f., 121, 130, 156 Leitkultur 22 f., 26 f., 96, 111 f., 115 ff., 149, 156 ff. Logik – klassische 28, 30 ff., 172 – paradoxe 30 ff. „melting pot“ 21 Menschenbild 24, 75 f., 79 Menschenrechte 25 ff., 43, 52, 58, 68 f., 84 ff., 97, 105 f., 111 f., 118, 127, 180 f., 196 f. Menschenwürde 54, 58, 61 ff., 72 f., 75, 79 ff., 87 ff., 97 f., 101 ff., 107 f., 111 f., 114 ff., 120 f., 129 ff., 144, 163 ff., 176 ff., 187 ff., 198, 201 Monopluralismus, monopluralistisch 119 f., 122, 163, 170, 176 Moschee 166 Multikulturalismus – aufgeklärter 22 f., 119 ff.

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Stichwortverzeichnis

– reiner 21 f., 96, 107 ff., 122 – systemimmanenter 121 f., 169 Multikulturelle Demokratie 26 Multikulturelle Gesellschaft 11, 26, 109 f., 184 Nächstenliebe, Gebot der 72, 78, 81 f., 201 Nation 46 f., 61, 94, 142, 146 Parallelgesellschaft 148, 171, 184 Partizipation 17, 98 f., 176, 179 Patriotismus – ethisch-politischer 139, 143 ff., 173 – nationaler 146 – national-völkischer 142, 146 – politischer 141 f. – Verfassungspatriotismus 139 ff., 142 ff. Pflichtenkatalog, ethischer 100 Pluralismus 23, 88, 90, 100, 102, 118, 120, 132, 157, 162 Polardialektik 30, 32, 84, 90, 102, 108, 114, 122, 127, 157 Recht 46, 65 ff., 85 ff., 93, 103, 105, 107, 113, 132 ff., 161, 180 ff. Rechtsordnung 25 ff., 57, 64 ff., 96, 109, 122, 129 ff., 152 f., 159 ff., 188 ff. Rechtsprechung 44, 180 ff. Regel, goldene 78, 83 Religion 23, 25, 62, 67 ff., 93, 105, 115, 130, 149, 162, 192 ff. Religionsfreiheit 113, 164, 167, 184, 187, 190, 197 Säkularisierung 67 ff., 200 Scharia 85, 103 ff., 114, 154, 159, 168, 171, 190 ff., 196 Schulpflicht 175, 179, 186 Segregation 110, 135, 137, 168 ff., 189 Selbstachtung 61, 74, 80 f., 150, 174, 176 ff. Selbstbestimmtheit 62 f., 68, 74 f., 78 ff., 88, 100 f., 108, 119, 130, 159, 176, 185 ff., 195, 199 Sittlichkeit 62, 67, 81, 91 Soziale Stadt 179 Sozialpolitik 150, 154, 173 ff. Sprache 7, 17, 19, 22, 25, 29, 46, 93 f., 116, 128, 130, 142, 146, 152, 178 ff.

Staat 42, 44 ff., 61, 63 f., 67, 71, 113, 115, 129 ff., 139 ff., 173, 180 Stadt 170 f., 179 Stadtgesellschaft 170 f., 174 Teilhabe 24, 26, 97 ff., 101, 122, 132, 150, 160 ff., 172 ff. Teilnahmepflicht, ethische 101, 150, 161, 171 f., 179, 186 Toleranz 23, 25 f., 52, 54, 75, 87 ff., 97 f., 100 ff., 107 ff., 118 ff., 152, 162 ff., 166 ff., 189 Vaterland 139, 142 f. Verfassung 61, 64 ff., 86, 100, 104, 114 ff., 130, 132 ff., 139 ff., 156 f. Vernunft – abstrakte 12, 31 ff., 34 f., 78, 108, 121, 147 ff., 151, 196 – lebendige 12, 31 ff., 108 Vertrauen 66, 135, 153, 162, 165 ff., 181 Vielheit 13, 39, 120, 136 Volk 45 f., 70, 112, 146 Wert – absoluter 63 – Begriffsbestimmung 48 f. – ethischer 75 ff. – oberster 59 ff., 76, 91, 93, 108, 114, 119, 123, 131, 133, 136 – polardialektischer 48 ff., 80, 91, 100 – relativer 48 ff., 54, 63, 87 Wertesystem – als Bezugsrahmen des Integrationsprozesses 96 ff., 119 – als Kultur der Gesellschaft 94 ff. – christliches 67 f., 70 ff. – der Bundesrepublik 91 f., 100, 102 – der Scharia 104 ff., 190 – gesellschaftsethisches 42 ff., 54 ff., 59 ff., 64 ff., 69 f., 87, 91, 96 ff., 102 ff., 123 ff., 135 ff., 156, 172, 180 ff., 194 – religiös-ethisches 67 ff., 192 ff. – verfassungsrechtliches 71, 100 Wertkonsens 22, 48 ff., 142 f. Wertrangfolge 49, 51, 58 ff., 125, 133, 185 Wertrelativismus, radikaler 52, 88, 107 Werttheorie, personale 50

Stichwortverzeichnis Wille, göttlicher 108, 199, 201 „Wir-Gefühl“ 26, 136, 138, 143, 146

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Zeitgeist 33 f., 164, 183 Zwangsassimilierung 118, 129 f., 158 ff., 164

Der Autor spricht sich in seiner politisch-philosophischen Schrift für eine Integrationspolitik aus, die sich an einem Integrationsbegriff orientiert, der mit der abstrakten Vernunft übereinstimmt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht das in unserem ethischen Gesellschaftsvertrag vereinbarte Wertesystem, welches durch den polardialektischen Wert der Menschenwürde als höchsten Wert geprägt ist. Allein dieses Einheit stiftende System, welches Pluralität in Gebundenheit an den Wert der Würde zulässt, ist der Maßstab der Integrierung von Zuwanderern. Die Idee der Integration ist verwirklicht, wenn sich der Zuwanderer mit diesem System einschließlich der Erstrangigkeit der Menschenwürde identifiziert, wobei es nicht ausreicht, dass er sich bereit erklärt, die aus dem Wertesystem entwickelten staatlichen Rechtsnormen einzuhalten. Die Idee verlangt vielmehr die Internalisierung des Wertesystems. Dies ist erreicht, wenn der Zuwanderer zu unserem vom Würdebegriff geprägten Wertesystem freiwillig und aus ethischer Überzeugung „Ja“ sagen kann. Erst durch diese ethische Gesinnung kann die für die gesellschaftliche Einheit notwendige Identität herbeigeführt werden – können Menschen vereinigt werden. Die Aufgabe der Politik besteht darin, den Weg in das Wertganze zu gestalten und zu steuern, wobei der Maßstab der Politik wiederum nur unser gesellschaftlich vereinbartes Wertesystem sein kann. Hieraus folgen ethische Prinzipien, die die Politik bei der Integrierung von Zuwanderern zu beachten hat.

*** Burkhard Wilk, geboren am 28.1.1955 in Gotha, studierte Rechtswissenschaften an der Universität in Marburg. Im Anschluss daran war er am dortigen Fachbereich Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Rechtsphilosophie als wissenschaftlicher Assistent tätig und promovierte über den Schadensbegriff. Seit 1986 ist Wilk Rechtsanwalt in Kassel. Seine Schwerpunkte liegen auf den Gebieten des Haftungsund Schadensersatzrechts sowie des Arbeitsrechts. Seit 2007 ist Wilk auch als Mediator tätig.