Die Politik des Rechts: Eine Analyse juristischer Rationalität [Reprint 2012 ed.] 9783110904864, 3110181894, 9783110181890

Christian Hiebaum examines the political dimension of legal argumentation. He shows how two prevalent beliefs which seem

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Die Politik des Rechts: Eine Analyse juristischer Rationalität [Reprint 2012 ed.]
 9783110904864, 3110181894, 9783110181890

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Das Problem
2. Dworkins Pragmatismuskritik und Fishs Beschwichtigung
3. Konsequenzialismus und Prinzipienorientierung
4. Der Wiedereintritt des Pragmatismus
5. Ziel und Vorgangsweise
1. Teil: Interpretation und Zielannahmen
1.1 Bedeutung und Intention
1.2 Personifikation und juristische Interpretation
1.3 Juristische Praxis als geschlossene Veranstaltung?
1.4 Juristische Interpretation und Objektivität
1.5 Moral, Politik und Objektivitätsansprüche
1.6 Interpretieren
1.7 Zielsetzungen als „Mittel“ zur Reduktion von Unbestimmtheit
2. Teil: Vergangenheit und Zukunft
2.1 Traditionalismus oder radikale Unkonventionalität?
2.2 Konsistenz und Zukunftsorientierung
3. Teil: Rechte und Ziele
3.1 Gemeinschaft und Gerechtigkeit
3.2 Interessen
3.3 Der Ort des Gemeinwohls
3.4 Explikationen des Gemeinwohls
3.5 Gleichheit als Schranke
3.6 Die Stromkabelfälle
Schlussbemerkung
Literatur
Register

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Christian Hiebaum Die Politik des Rechts

w DE

G

Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Christian Hiebaum

Die Politik des Rechts Eine Analyse juristischer Rationalität

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstütztung der Karl-Franzens-Universität Graz und der Steiermärkischen Landesregierung.

[Das Land Steiermark Wissenschaft

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-018189-4 Bibliografische

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Der Deutschen

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen

Der Widerspruch ist ein untaugliches Kennzeichen der Wahrheit. Verschiedenen sicheren Dingen wird widersprochen. Verschiedenefalsche werden ohne Widerspruch hingenommen. Der Widerspruch ist also kein Zeichen für etwas Falsches, und wenn der Widerspruch fehlt, ist das auch kein Zeichen der Wahrheit. Blaise Pascal

Jeder Beginn einer Idee entspringt einer unmerklichen Verletzung des Geistes. E. M. Cioran

Vorwort

„Das Recht bzw. das, was Gerichte tun, ist politisch." Diese Feststellung hött und liest man immer wieder. Manchmal wird sie als nüchterne theoretische Einsicht ausgegeben, manchmal als Kritik. In jedem Fall wird damit auf einen Mangel an Objektivität hingewiesen. Und zumindest die, die darüber klagen, unterstellen, dass es sich hierbei um einen prinzipiell behebbaren Defekt handelt. Welcher Status dem Befund mangelnder Objektivität in der einschlägigen Theorie zukommt, ist weniger klar. Einerseits wird der Mangel oft als notwendig und unhintergehbar verstanden, andererseits soll diese Erkenntnis Ausgangspunkt „kritischer" Studien sein. Was aber bedeutet die Aussage „Das Recht ist politisch" überhaupt? Zum einen sicher, dass in der Rechtspraxis Macht und ihre ungleiche Verteilung eine wichtige Rolle spielen. Das allein wäre freilich eine wenig spektakuläre Erkenntnis, trifft sie doch auf jegliche soziale Praxis zu. Machtmechanismen wirken auch in einer so disziplinierten Praxis wie der naturwissenschaftlichen Forschung. Zum anderen bedeutet die Aussage aber oft auch, dass im Wege der juristischen Interpretation ideologische Kämpfe ausgetragen werden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vor allem mit der Politizität des Rechts in diesem Sinne. Die leitenden Fragen lauten: Inwiefern ist die juristische Argumentation nicht ideologisch neutral und was bedeutet das für den Anspruch auf rechtliche Korrektheit bzw. Objektivität, mit dem Entscheidungen und ihre Begründungen typischerweise verknüpft werden? Ist Objektivität, wenn jede juristische Argumentation ideologisch imprägniert ist, nichts weiter als eine Illusion, wenn auch vielleicht eine notwendige? Genauer: Inwiefern stützt sich die juristische Praxis immer schon auf notorisch umstrittene moralische Prinzipien oder gar auf Gemeinwohlannahmen? Tut sie dies überhaupt, und wenn ja, werden

Vorwort

dadurch ihre Rationalität und die Objektivität juristischer Aussagen zusätzlich untergraben? Zwingt die Anerkennung des politischen Charakters juristischer Arbeit zu Skeptizismus, Subjektivismus oder Relativismus? Nachzuweisen, dass dem nicht so ist, ist ein wesentliches Ziel dieser Arbeit. Die Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, welche im Sommersemester 2003 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz angenommen wurde. Dass die Arbeit daran zu einer im Großen und Ganzen angenehmen, intellektuell stimulierenden, keinesfalls aber qualvollen Stresserfahrung wurde (wie sie so viele in diesem Karrierestadium machen), dafür habe ich mehreren Personen zu danken, allen voran meinem Chef Peter Koller, der mir nicht nur jeden erdenklichen Freiraum gelassen hat, sondern mich im Zuge der Betreuung auch vor einigen Irrtümern bewahrt und in vielfacher Weise inspiriert hat - wahrscheinlich mehr, als ihm bewusst ist. Insbesondere hat er ganz wesentlich dazu beigetragen, dass ich von allerlei theorieinduzierten sprachlichen Extravaganzen Abstand genommen habe. Dies hatte den Nebeneffekt, dass mir immer mehr Schwächen jener (postmodernistischen) Ansätze, die ich lange Zeit favorisiert hatte, bewusst geworden sind. Das Formale lässt sich ja bekanntlich nicht vom Inhaltlichen trennen. Weiters möchte ich mich bei Peter Strasser und Alfred Schramm bedanken. Mit Ersterem hatte ich nicht nur eine Vielzahl ausgesprochen lehrreicher Gespräche über meine eigene Arbeit. Auch von der Vermittlung dessen, womit er sich in den letzten Jahren vorzugsweise beschäftigt hat, nämlich Fragen der Metaphysik, habe ich enorm profitiert. Wenn meine ansonsten eher „nachmetaphysisch" angelegten Ausführungen nicht von gängigen Vorbehalten gegenüber der Metaphysik geprägt sind, so ist dies vor allem Strassers Verdienst. Alfred Schramm wiederum hat mich als Institutvorstand unbehelligt von lästigen Verwaltungsaufgaben arbeiten und darüber hinaus auch noch an seinen profunden Logik-Kenntnissen teilhaben lassen. Von dem, was sich an Sprachphilosophie und Anti-Skeptizismus in dieser Arbeit findet, dürfte er freilich nur wenig überzeugt sein. Klaus Günther hat meine Arbeit - wie Peter Koller - prompt und wohlwollend begutachtet. Ohne ihn hätte das Habilitationsverfahren nicht so reibungslos über die Bühne gehen können.

Vorwort

IX

Dank schulde ich aber auch zahlreichen anderen Personen, die mehrere Jahre hindurch das zweifelhafte Vergnügen hatten, mit mir meine oftmals ausgesprochen unausgegorenen Ideen zu diskutieren. Hervorgehoben seien Erwin Bernat, Christine Gaster, Evelyn Höbenreich, Elisabeth Hödl, Bernhard Murauer und Peter Schwarzenegger. Dass niemand von den Genannten für die verbliebenen Mängel verantwortlich gemacht werden kann, versteht sich von selbst. Last but not least bedanke ich mich bei Wilfried Hinsch und Lutz Wingert, die mir die Ehre erwiesen haben, das Buch in ihre hochkarätige Reihe aufzunehmen.

Graz, im Juni 2004 C. H.

Inhalt

Vorwort Einleitung 1. Das Problem 2. Dworkins Pragmatismuskritik und Fishs Beschwichtigung 3. Konsequenzialismus und Prinzipienorientierung 4. Der Wiedereintritt des Pragmatismus 5. Ziel und Vorgangsweise 1. Teil: Interpretation und Zielannahmen 1.1 Bedeutung und Intention 1.1.1 Intentionalität als Voraussetzung für Bedeutung 1.1.2 Die Unbestimmtheit der Intention 1.2 Personifikation und juristische Interpretation 1.2.1 Die Personifikation der nationalen Rechtsgemeinschaft 1.2.2 Die Personifikation dezentrierter Gemeinschaften 1.2.3 Dworkins Verabschiedung des „Intentionalismus" 1.2.4 Kollektive Intentionen 1.3 Juristische Praxis als geschlossene Veranstaltung? 1.3.1 Modernes versus postmodernes Denken 1.3.2 Gebrauch ist nicht gleich Gebrauch 1.4 Juristische Interpretation und Objektivität 1.4.1 Probleme von Wahrheitsbegriffen 1.4.2 Bedeutung und Wahrheit

VII 1 1 10 14 20 25 31 34 36 41 46 46 50 55 60 64 65 69 75 76 84

XII

Inhalt

1.4.3 Zur speziellen Semantik des Rechts Exkurs zur Regel/Prinzip-Differenz 1.5 Moral, Politik und Objekrivitätsansprüche 1.5.1 Zur Objektivität von Normen und Werturteilen 1.5.2 Demokratie und Objektivitätsansprüche 1.5.3 Kollektive Ziele, Konsequenzen und Objektivität 1.6 Interpretieren 1.6.1 Die Rationalitäts- und Konsistenzunterstellung 1.6.2 Die ständige Überschreitung der Konvention 1.6.3 Rechtsfortbildung durch Rechtsanwendung 1.6.4 Zur Divergenz von B-Theorie und Bu-Theorie 1.6.5 Zur Begründung einer haftungsrechtlichen Konvention 1.7 Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit 1.7.1 Der Einwand der Inkommensurabilität 1.7.2 Kollektive Ziele als Elemente des Kontexts

90 94 109 111 119 129 138 138 143 145 150 153 160 161 167

2. Teil: Vergangenheit und Zukunft

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2.1 Traditionalismus oder radikale Unkonventionalität?

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2.1.1 Recht als Pluralität 2.1.2 Der Versuch mit der Tradition 2.2 Konsistenz und Zukunftsorientierung 2.2.1 Von der Theorie zur Politik 2.2.2 Zur Funktion von „Funktionen" 2.2.3 Der Wert der Vergangenheitsorientierung

182 188 197 197 206 208

3. Teil: Rechte und Ziele

213

3.1 Gemeinschaft und Gerechtigkeit

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3.1.1 Die Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse 3.1.2 Die Gemeinschaft und das Gute bei Rawls 3.1.3 Die kommunitaristische Alternative 3.1.4 Das Gute bei Dworkin

217 221 224 233

Inhalt

3.2 Interessen 3.2.1 Der Begriff des Interesses 3.2.2 Die ethische Imprägnierung des „wahren Interesses" 3.2.3 Gemeinschaft und schutzwürdiges Partikularinteresse 3.3 Der Ort des Gemeinwohls 3.3.1 Gemeinwohl als „Rechtsidee" 3.3.2 Gemeinwohl zwischen Effizienz und Gerechtigkeit 3.4 Explikationen des Gemeinwohls 3.4.1 Das öffentliche Interesse als Aggregat 3.4.2 Die Öffentlichkeit des öffentlichen Interesses 3.4.3 Das öffentliche Interesse als Allgemeininteresse 3.5 Gleichheit als Schranke 3.5.1 Zum Sonderstatus des Gleichheitsrechts 3.5.2 Gleichheit als rechtliche und als politische Kategorie 3.5.3 Gleichheit als Argument 3.5.4 Zum Gehalt des Gleichheitsarguments 3.6 Die Stromkabelfalle 3.6.1 Das Problem 3.6.2 Begriff und Schutz des „bloßen" Vermögens 3.6.2 Der Weg zur Lösung

XIII 246 247 255 264 269 270 275 286 288 293 297 312 313 324 326 334 343 343 346 351

Schlussbemerkung

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Literatur

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Register

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Einleitung 1. Das Problem Was heißt „Das Recht ist politisch", und wie verträgt sich diese Überzeugung mit der weiteren, dass es wahre und falsche juristische Aussagen gibt bzw. dass Rechtsanwendung ein wahrheitsorientiertes Unternehmen ist? Dass juristische Praxis etwas mit Politik zu tun hat, diese Feststellung hat mittlerweile den Status eines veritablen Gemeinplatzes erlangt. Kaum jemand, dessen Wort im Rechtssystem etwas zählt, erwartet sich heute vom Rechtsanwender noch in erster Linie mechanisches Subsumieren und anschließendes Deduzieren, welches nur in raren Ausnahmefällen einem umso mysteriöseren „Werten" Platz machen müsste. Auch als Utopie mutet diese Vorstellung reichlich seltsam, um nicht zu sagen lächerlich an. Sie erfüllte nicht einmal die Funktion eines regulativen Ideals, dessen Realisierung (wenigstens unter Bedingungen demokratisch legitimierter Gesetzgebung) mit der vollständigen Legitimität richterlicher Tätigkeit zusammenfallen würde. Sie regulierte einfach nichts. Wenn man nicht weiß, wie nahe man dem Idealzustand gekommen ist, weil man nicht sagen kann, wie der Idealzustand aussieht, muss man sich einer anderen Strategie bedienen, um die Vorzugswürdigkeit einer Entscheidungsoption auszuweisen, als nur auf der Eindeutigkeit einer vorgegebenen Regel zu beharren. Mit dieser Aburteilung zumindest vulgärerer Versionen des Formalismus sollen freilich die Verdienste der Begriffsjurisprudenz um die Rationalisierung des Rechtsdenkens keineswegs geschmälert werden. Es ist nur so, dass der Bedeutungsplatonismus, zu dem solches Denken neigt und wonach Bedeutungen Entitäten sind, die unabhängig von jeglicher Begúífsverwexdung in unterschiedlichen Kontexten existieren, zu keiner Zeit eine wirkliche Option darstellte. Denn wie Wittgenstein in seinem Spätwerk gezeigt hat, lässt sich die Regel als bestimmtes und die Praxis bestimmendes Etwas nicht völlig von den Fällen ihrer Anwendung trennen. Die Anwendung einer Regel in einer

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Einleitung

Gemeinschaft (was immer dies genau bedeutet), sogar einer derart klaren Regel wie jener der Addition,1 hat demnach Anteil an ihrer Konstituierung.2 Gesetzt den Fall, Wittgenstein lag richtig und schon die Hoffnung, aus einer mathematischen Praxis eine diese Praxis bestimmende Regelessenz (etwa als geistigen Inhalt) herauszudestillieren, kann sich nur als trügerisch erweisen, so muss das Projekt einer „reinen" Rechtserkenntnis und letztlich jeder Vorabbestimmung eines Gegenstands der Rechtserkenntnis erst recht scheitern. Für dieses Scheitern gab es seit langem nicht nur zahlreiche empirische Befunde. Auch in der Theorie wurden die skeptischen Stimmen immer lauter: Hierzulande zuerst jene von Vertretern der Freirechtslehre, der methodisch strengeren Interessenjurisprudenz und später dann der Wertungsjurisprudenz, im amerikanischen Rechtskreis vor allem jene der Rechtsrealisten. Das Ziel der Kritik waren Begriffsjurisprudenz und Formalismus, wie sie im Zuge der Positivierung und angesichts des Bedarfs an logischer Konsolidierung eines erheblich dynamisierten Rechts für einige Zeit das Selbstbild der juristischen Praxis bestimmten.3 Heute dagegen sind es vor allem die politisch denkenden Vertreter und Vertreterinnen der Critical Legal Studies, die nicht müde werden, auf die in den Selbstbeschreibungen des Rechtssystems typischerweise nicht repräsentierten „gefährlichen Supplemente" (Macht, Ideologie etc.) hinzuweisen, bisweilen freilich in einem unangebracht anklagenden Tonfall.·1 Ihre These ist die These der Unbestimmtheit. Demnach vermögen rechtliche Regelungen Entscheidungen nicht

1 Wittgenstein 1984b, 345 (5 202): „Darum ist ,der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen plaubtn ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel .privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen." (Hervorhebung im Original) Für eine (nicht unumstrittene) Interpretation siehe Kripke 1982. Kritisch dazu etwa Koch 2003. 2 Siehe Baker/Hacker 1985, 97: „The apparent logical gulf between a rule and its 'extension' arises from the mistaken assumption that understanding a rule is at least pardy independent of how it is projected on to actions. But however it is formulated or explained, a rule is understood only if it is correctly projected." 1 Luhmann 1995c, 389 ff. Zur Entwicklung des hiesigen Rechtsdenkens Somek 1996. Andererseits gab es aber auch Stimmen, die Unterscheidungen wie jener zwischen Begriffsund Interessenjurisprudenz verständnislos gegenüber standen, weil rechtliche Begriffe und rechtlich relevante Interessen einander bedingten (so z.B. Hönigswald 1934). 4 Siehe nur Binder 1996.

Einleitung

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zu determinieren. Und da rationale Letztbegriindung keine Option für Rechtsanwender sei, komme es eben am Ende des Tages auf Machtver hältnisse an, und handle es sich dabei nur um Defimtionsmachtverhältmsse. Insbesondere sei das, was als juristische Rationalität gilt, immer schon ein Konstrukt derjenigen, die das Sagen haben. Deren ideologische Präferenzen würden letztlich den Ausschlag geben. Recht wird also als Fortsetzung der Politik mit etwas anderen Mitteln beschrieben. Nicht einmal „unpolitischere" Varianten der neueren Rechtstheorie können diese „Unreinheit" der Rechtserkenntnis völlig in Abrede stellen. Sogar die soziologische Systemtheorie, welche das Recht notorisch (und hochumstritten) als autopoietisches Subsystem der Gesellschaft begreift, nimmt lediglich eine „operative", keineswegs jedoch „kognitive" Geschlossenheit der juristischen Praxis an.5 Kurz, und bei allen Differenzen: In den avancierteren Selbstbeschreibungen stellt sich das Recht überwiegend als interpretative Praxis dar/' Jede Regelanwendung, so nimmt man an, impliziert einen Akt der Interpretation, eine mehr oder weniger bewusste, mehr oder weniger gut begründete Selektion zwischen verschiedenen Optionen. Die Unterscheidung Rechtsanwendung/Rechtsfortbildung könnte man daher in ihrer ursprünglichen Simplizität als dekonstruiert betrachten. Wenn sich Regeln nicht abstrakt bestimmen ließen, sondern im Wege ihrer Anwendung tzprodu^iert würden, dann handelte es sich bei der Rechtsanwendung eben um einen Spezialfall der Rechtsfortbildung. Zwischen Rechtsetzung und Rechts»wsetzung könnten nur mehr empirische, aber keine essenziellen Unterschiede ausgemacht werden. Doch heißt das, dass Juristen wie Gesetzgeber auch konsequenzialistisch argumentieren bzw. ihre Argumente auf Zielsetzungen stützen dürfen? Mit anderen Worten: Können Juristen ihre Entscheidung im Einzelfall von den voraussichtlichen Folgen der Entscheidung für die Allgemeinheit abhängig machen? Oder haben wir es hierbei mit Überlegungen zu tun, die dem Gesetzgeber vorbehalten sind? Ginge andernfalls nicht gerade das abhanden, was einen Rechtsstaat erst zu einem solchen macht, nämlich die Gesetzesbindung? Kann man - andererseits - die konstruktive Dimension der

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Luhmann 1995c, 76 ff.

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Wittgensteinianer bilden hier eine Ausnahme. Dass das Recht eine sodale Praxis und kein

stabiles System von Normsätzen und Bedeutungen ist, ist aber eine Einsicht, auf die gerade auch sie allergrößten Wert legen.

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Einleitung

Rechtsarbeit würdigen und ihr gleichzeitig eine Klasse von Argumenten vorenthalten? Zumindest darauf wird man antworten wollen: Natürlich, wenn dies möglich ist. Aber ist es möglich? Und was bedeutet das alles fur die ewige Frage der Rechtstheorie, wie sich die Einheit des Rechtssystems angeben lässt? Nicht dass sich Gerichte „frei" dazu entschließen könnten, Gesetze und Präjudizien lediglich fallweise in die Argumentation aufzunehmen lind nur mehr aufgrund von Zielsetzungen und Folgenprognosen zu entscheiden. Aber nicht selten scheint das vorhandene „Rechtsmaterial" und Argumentereservoir keine oder zu wenig Anhaltspunkte für eine (im Sinne einer schlichten Perpetuierung der Vergangenheit) konsistente Fortführung der juristischen Praxis zu bieten. Tatsächlich sind konsequenzialistische Argumentationen aber nicht mehr nur im Verwaltungsrecht gang und gäbe. Man denke nur an die so genannte „finale Programmierung (Luhmann), wie sie insbesondere in den Bereichen der Raumordnung und Raumplanung sowie der Wirtschaftsverwaltung zum Tragen kommt. Dabei verzichtet der Gesetzgeber bewusst auf klar konditional strukturierte Regelungen, indem er den rechtsanwendenden Organen lediglich Ziele vorgibt. Dies bedeutet natürlich eine gewisse Auflockerung der Gesetzesbindung, welche dann üblicherweise durch strengere Verfahrensvorschriften ausgeglichen wird - Verfahrensvorschriften, die typischerweise die Beteiligung einer Vielzahl von Betroffenen vorsehen.7 Aber auch die Verfassungsgerichte scheinen kaum noch um eine Berücksichtigung der Folgen ihrer Entscheidungen herumzukommen, und zwar der Realfolgen für die Allgemeinheit und nicht bloß für die Prozessparteien.8 Man denke nur an die Bestimmung des Schutzbereichs von Grundrechten oder an die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Immer wieder sehen sich die Gerichte gezwungen, auch Po/óy-Überlegungen anzustellen, wenn sie den gesetzgeberischen Willen rekonstruieren - mithin zu fragen, was für die Gemeinschaft gut ist. Für Deutschland etwa stellt Dieter Grimm fest, dass der Schutzbereich der Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit (von Anfang an) im Blick auf die nachteiligen Folgen definiert (worden ist), die eine Siehe nur Adamovich/Funk 1987, 126 ff.; Luhmann 1995c, 198 ff. Zur Unterscheidung Rechtsfolgen/Realfolgen Lübbe-Wolff 1981. Systemtheoretiker unterscheiden entsprechend zwischen systeminternen und systemextemen Folgen. 7 8

Einleitung

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enge Schutzbereichsdefinition für die Offenheit der Kommunikation, für die öffendiche A u f g a b e der Kommunikationsmedien und das demokratische System insgesamt hätte. 9

Ähnliches lässt sich für andere Bereiche konstatieren. Strafgerichten ist es bekanntlich aufgetragen, sowohl speziai- als auch generalpräventive Aspekte zu berücksichtigen. Im Privatrecht wiederum sind es vor allem General- und Härteklauseln, die seit jeher als Einbruchstore für Folgenerwägungen fungieren. So ist man etwa im Wettbewerbsrecht dazu übergegangen, die Rechtswidrigkeit von Werbe- und Vertriebspraktiken von ihren voraussichtlichen Auswirkungen auf den Wettbewerb, die Volkswirtschaft oder den Konsumentenschutz abhängig zu machen.10 Sogar Niklas Luhmann, der dem Konsequenzialismus im Recht besonders skeptisch gegenübersteht,11 kommt nicht darum herum, „das schlichte Faktum einer praktizierten Folgenorientierung" im Sinne des Zweckdenkens zur Kenntnis zu nehmen: Unbestreitbar ist auch d a s faktische Zunehmen der Folgenempfindlichkeit in rechtswissenschaftlicher Literatur und Judikatur. Wenn diesen Tendenzen keine konstitutive, D o g m a t i k begründende Bedeutung zuzusprechen ist, s o könnten darin d o c h wichtige Korrektiv-Funktionen liegen. 1 2

In seiner gesellschaftstheoretischen Analyse geht Luhmann dann noch weiter, indem er Argumente, die auf Folgen abstellen, überhaupt als die einzigen gelten lässt, die „empirisch gesehen" zur Begründung taugen: Inzwischen hat sich die Kontrolle des Rechts an Hand erwünschter bzw. unerwünschter Folgen als einzig überzeugendes Prinzip durchgesetzt und ist in der Rechtstheorie wohl einhellig akzeptiert und auch durch sorgfältige Entscheidungsanalysen belegt. 1 3

Allerdings folgt die Relativierung auf den Fuß, indem wieder auf Prognostizierungsprobleme im Allgemeinen und für Gerichte im Besonderen hingewiesen wird. Schließlich kann Luhmann sogar für jene Verständnis aufbringen, die „ein Einschwenken des Rechts auf Funktionen der Gesellschaftspolitik als Verfall spezifisch juristischer Rationalität ... beschreiben".14 Grimm 1995,150. Siehe Sambuc 1977; Zimmerbauer 1995. 11 Siehe Luhmann 1995A 12 Luhmann 1974, 39. 11 Luhmann 1995c, 378. " Ebd., 382.

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Einleitung

Gleichwohl lässt sich die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Explizierung juristischer Folgenorientierung auch ohne tiefschürfende philosophische oder soziologische Analysen leicht erklären.15 So darf man jedenfalls vermuten, dass der Trend zum Konsequenzialismus mit einem Überhandnehmen „determinationsschwacher" Normen zu tun hat.16 Schon 1933 konstatierte Justus Wilhelm Hedemann eine Flucht des Gesetzgebers in Generalklauseln und warnte noch davor.17 Doch die zunehmende Überwälzung von Verantwortung auf die Justiz und die Verwaltung konnte er nicht aufhalten. Viele Interessenkonflikte wurden nicht mehr gelöst, sondern im Wege des Kompromisses in Zaum gehalten und an die Rechtsanwenderinnen weitergereicht. Nicht selten hatte dies Ungereimtheiten zur Folge, welche es notwendig machten, dem „Zweckdenken" einen ganz neuen Stellenwert in der juristischen Methodologie einzuräumen. Nach Philipp Heck, einem der prominentesten Vertreter der Interessenjurisprudenz, konnte bereits 1932 als überwiegende Meinung gelten, dass das Gesetz nicht nur Blankette, Delegationen an den Richter enthält, sondern auch zahlreiche ungewollte Lücken, in denen der Richter das fehlende Gebot nach praktischen, d. h. teleologischen Gesichtspunkten zu ergänzen und insoweit die Rechtsnorm zu schaffen hat. 18

Weiters machte sich in 1960iger und 1970iger Jahren ein gewisser Steuerungsoptimismus breit, der zu einer Aufweichung der klassischen Rechtsformen führte. Die traditionelle Konfliktregelungsfunktion trat zugunsten der Steuerungsfunktion immer weiter in den Hintergrund.19 Im Schatten dieser Entwicklungen konnte ein im Rechtsquellenkanon kontinentaleuropäischer Länder eigentlich nicht vorgesehenes Richterrecht gedeihen, allerdings ohne ein so stabiles System von Regeln und Prinzipien zu bilden wie das angelsächsische Common law. Und in der Methodologie verabschiedete man sich schließlich von allzu simpel anmutenden Subsumtionsidealen, erklärte die herkömmliche Methoden-

Ich orientiere mich im Folgenden an Deckert 1995, 22 ff. " Grimm 1995,143. 17 Hedemann 1933. 19 Heck 1932, 20. '» So etwa Assmann 1980, 252 f. 13

Einleitung

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lehre und den ihr innewohnenden Determinismus bisweilen sogar für tot20 und wandte sich dem Thema „juristische Argumentation" zu.21 Der Eintritt konsequenzialistischer Überlegungen in den Methodenkanon, vor allem in Form der ökonomischen Analyse des Rechts, markiert also keineswegs einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Insbesondere über die teleologische Interpretation und die Rechtsfortbildung konnten soziale Folgen als Thema in die juristische Argumentation aufgenommen werden.22 Natürlich fragen sich Gerichte nicht einfach ganz allgemein, was gut ist für die Gemeinschaft, sondern haben durchaus die Beförderung etwas konkreterer Güter im Sinn, etwa die Prozessökonomie und die Bewahrung rechtsstaatlicher Sicherheit. Nichtsdestoweniger machen sie dabei die Konkretisierung zunächst nur abstrakter Rechte von kollektiven Zielsetzungen abhängig. Doch handelt es sich hierbei um eine korrigierbare Fehlentwicklung oder nur um eine Selbstmanifestierung der unvermeidlichen politischen Dimension juristischer Praxis? Im Folgenden möchte ich diese Problematik ausgehend von einer Kontroverse zwischen Stanley Fish und Ronald Dworkin etwas näher beleuchten. Letzterer gehört wohl zu den einflussreichsten amerikanischen Rechtstheoretikern der Gegenwart. Berühmt wurde Dworkin mit seiner Kritik am Rechtspositivismus, welche er auf die auch hierzulande vieldiskutierte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien stützt. Robert Alexy hat diese Unterscheidung bekanntlich modifiziert und verfeinert und seiner elaborierten Grundrechtstheorie zugrunde gelegt.23 Weniger Beachtung gefunden hat eine zweite Unterscheidung Dworkins, nämlich jene zwischen Prinzipienargumenten und Po/icy-Atgamenten. Während die Pointe Ersterer darin bestehen soll, dass sie auf vorgängige Rechte von Individuen oder Gruppen abstellen, bezögen sich Letztere auf das, was für die Allgemeinheit gut ist. Als Beispiel für ein PrinzipienAdomeit 1970, 176; Schwerdtner 1971, 68. Die Aufgabe des Anspruchs juristischer Praxis, die jeweils beste Lösung zu finden, werde ich in dieser Arbeit allerdings nicht mitvollziehen. 21 Siehe nur Kriele 1976; Alexy 1978. Beide Arbeiten stehen symptomatisch für ein Einholen philosophischer, insbesondere ethischer Argumente in die juristische Methodenlehre. In diesem Zusammenhang wären allerdings ebenso ökonomische Analysen zu nennen, welche sich zunächst auf eine Außenbetrachtung beschränkten, allmählich aber auch juristischen Methodenstatus beanspruchten. " Deckert 1995, 37 ff. " Siehe Alexy 1996.

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Einleitung

argument nennt Dworkin den auch hierzulande gängigen Verweis auf den Grundsatz, dass niemand von eigenem Unrecht profitieren sollte. Jemand, der seinen Erbonkel ermordet, um schneller sein Erbe antreten zu können, muss demnach nicht nur mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen, sondern büßt damit gleichzeitig seinen Erbanspruch ein — und das selbst dann, wenn das Gesetz für einen solchen Fall keine eindeutige Regelung enthält. Polity-Argumente seien davon radikal verschiedenen. Hier gehe es nicht darum, welches Recht jemand hat oder nicht hat, sondern darum, welche rechtliche Lösung die günstigsten Folgen für die Allgemeinheit hätte. Wenn eine Richterin also meint meint, Partei X müsse im Rechtssstreit obsiegen, weil X andernfalls in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würde und gezwungen wäre, Tausenden Arbeitnehmern zu kündigen, stützt sie sich auf ein /V/çy-Argument. Und diese verfehlten die Pointe des Rechts. Bei vielen politischen Entscheidungen, etwa der Verkehrsplanung, gehe es nicht um die Durchsetzung individueller Rechte, sondern um die Beförderung des Gemeinwohls. Solche Argumente, wie sie Dworkin als typisch für eine pragmatistische Rechtsauffassung ansieht, gehörten aber grundsätzlich nicht ins Repertoire von Juristinnen, zumindest wenn sie zivil- und verfassungsrechtliche Fälle bearbeiteten.24 Die Konkretisierung abstrakter Rechte habe insoweit also ausschließlich über Prinzipien zu laufen. Unter einem „abstrakten Recht" wiederum versteht Dworkin ein „allgemeines politisches Ziel, dessen Angabe nicht anzeigt, wie dieses allgemeine Ziel unter bestimmten Umständen gegenüber anderen politischen Zielen zu gewichten ist oder wie Kompromisse zwischen ihm und anderen Zielen zu schließen sind".25 Beispiele dafür wären natürlich die Grundrechte. Meine These lautet, dass weder Dworkins Kritik an einer pragmatistischen, ausschließlich zukunftsorientierten, die Einheit des Systems immer wieder aufs Neue zugunsten des Gemeinwohls aufbrechenden Rechtspraxis noch die anti-theoretische, auf Unvermeidlichkeiten verweisende Kritik von Fish den Punkt trifft. Während Dworkin meint, dass seine „law-as-integrity"-Theorie nicht nur die Rechtswirklichkeit Dass, wie Detlef Horster (2002, 99) meint, die leitende Frage für Dworkin laute, wie Prinzipien und Zielsetzungen zur Deckung gebracht werden können, lässt sich beim besten Willen nicht nachvollziehen. 25 Dworkin 1984, 163. 24

Einleitung

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adäquat beschreibt, sondern ihr auch noch als normative Vorgabe dienen kann, sieht Fish im Gespenst des Pragmatismus ein Konstrukt, das sich Dworkin lediglich zur Begründung seiner eigenen, für das Rechtssystem eigentlich überflüssigen Theorie geschaffen hat. Damit hat er m.E. zwar nicht ganz Unrecht, verfehlt jedoch ebenfalls eine augenfällige Tendenz in der gegenwärtigen juristischen Praxis. Das Recht sieht sich heute tatsächlich zunehmend gezwungen, Entscheidungsfolgen zu berücksichtigen. Die primär konditionale Struktur der Argumentation wird immer öfter aufgelockert durch Zielsetzungen sowie Interessen- und Piinzipienabwägungen, die ihrerseits nicht gänzlich ohne (impliziten oder expliziten) Rekurs auf kollektive Ziele auskommen. Schließlich wollen Interessen bewertet und Prinzipien gewichtet werden. Nach dem oben Gesagten könnte man vermuten, dass das Recht immer schon so funktioniert hat, dass wir es heute also nur mit einer gesteigerten Transparenz zu tun haben. In diesem Sinne kreisen sämtliche Überlegungen, die ich im Folgenden anstelle, um das schlichte und durchaus bekannte Motiv der unausweichlichen Politizität des Rechts. Dworkins Skeptizismus bezieht sich freilich nicht auf Folgenerwägungen als solche, sondern nur auf jene, in denen es nicht um die Folgen für individuelle oder kollektive Rechte geht. Aber gerade dabei entgeht ihm die Funktion des Rekurses auf Zielsetzungen der Allgemeinheit. Ein erstes Indiz für diese Funktion könnte darin gesehen werden, dass Zielsetzungsargumente nicht nur in besonderen Fällen, sondern als teleologisches (Hintergrund-)Wissen in die Rekonstruktion jedweder Normbedeutung eingehen. Doch selbst wenn in der Folge auch die Unhintergehbarkeit weiterer impliziter oder expliziter Zielsetzungen erwiesen werden kann, bleibt noch die Frage: Können Zielsetzungsargumente (vor allem im ökonomischen Gewand) eine Auseinandersetzung mit zentralen juristischen Kategorien wie Freiwilligkeit, Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit etc. ersetzen? Muss von der Unvermeidlichkeit des zumindest impliziten Rekurses auf Zielsetzungen auf die Möglichkeit geschlossen werden, mit nichts als expliziten Zielsetzungen zu arbeiten? Oder gibt es Gründe, die gegen eine solche Radikalisierung des juristischen Konsequenzialismus sprechen? Ist die Verschleierung von Zielsetzungsargumenten, die Verfestigung von Zielen zu Begriffen/Prinzipien, die in weitere Zielsetzungsargumente eingearbeitet werden müssen, ihrerseits durch ein allgemeineres Ziel gerechtfertigt? Und muss man hier genauso

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argumentieren wie Dworkin gegen den von ihm perhorriszierten Pragmatismus? In diesem Zusammenhang wäre auch noch zu untersuchen, inwieweit konsequenzialistisches Denken schon in die Definition des Rechtsbegriffs einfließt. Noch eine Bemerkung zur Terminologie: Soweit hier von Zielen die Rede ist, meine ich kollektive Ziele. Pe/zçy-Argumente sind demnach solche, die auf Folgen für die (wie immer begrenzte) Allgemeinheit abstellen. Und bisweilen wird diese Allgemeinheit mehr sein als ein Aggregat individueller Interessen. Doch beginnen wir mit dem Disput zwischen Dworkin und Fish.

2. Dworkins Pragmatismuskritik und Fishs Beschwichtigung Dworkin wendet sich mit seiner Kohärenztheorie des Rechts nicht nur gegen Theorien, die ausschließlich auf vergangene politische oder rechtliche Entscheidungen abstellen, als handle es sich dabei um eindeutig bestimmte Konventionen, sondern auch gegen eine bloße Zukunftsorientierung, die er „Pragmatismus" nennt: The pragmatist takes a sceptical attitude toward the assumption we are assuming is embodied in the concept of law: he denies that past political decisions in themselves provide any justification for either using or withholding the state's coercive power.26 Dworkins Pragmatisten überlegen nicht, wie sich das vorhandene Rechtsmaterial auf neue Fälle anwenden lässt, sondern versuchen immer wieder aufs Neue, die für die Gemeinschaft günstigste Entscheidung zu treffen. Entscheidungsziel ist weniger die Lösung eines juristischen Problems auf der Grundlage existierender legaler Rechte und Pflichten als vielmehr die Beförderung eines zukünftigen Gemeinwohls: Pragmatism ... says that judges should follow whichever method of deciding cases will produce what they believe to be the best community for the future .... The pragmatist thinks judges should always do the best they can for the future, in the circumstances, unchecked by any need to respect or secure consistency in principle with what other officials have done or will do.27

2(1 27

Dworkin 1986, 151 Ebd., 160.

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Pragmatisten hätten zwar kein Problem mit moralischen und politischen Rechten, würden aber legale Rechte allenfalls als gemeinschaftsdienliche Fiktionen betrachten, die durch Gemeinwohlüberlegungen jederzeit wieder außer Kraft gesetzt werden könnten. Diese Konzeption legaler Rechte und der juristischen Praxis hält Dworkin für in hohem Maße unplausibel. Denn sie stelle den Diskurs um Rechte und Pflichten als großangelegtes Täuschungsmanöver dar: It can b e rescued only if we d o not take judicial opinion at face value at all; we must treat all the judges who worry about problematic statutes and precedents as practicing s o m e unmotivated form o f deception. 2 8

Das jedoch könne man nur akzeptieren, wenn der Pragmatismus tatsächlich die beste Rechtfertigung für staatlichen Zwang liefern würde. Was keineswegs der Fall sei. Staatlicher Zwang ist nach Dworkin nur insoweit gerechtfertigt, als er sich zur Durchsetzung individueller Rechte oder zur Verwirklichung eines kollektiven Ziels notwendig erweist, das wichtig genug ist, um individuelle Rechte, welche schon als abstrakte Rechte über ein gewisses Schwellengewicht verfügten29, ausstechen zu können. Gerichte hätten mithin von der „These der Rechte" auszugehen.30 Demnach hat in jedem Rechtsstreit eine Partei ein Recht, zu gewinnen. Gerichte hätten auch in schwierigen Fällen nicht nachträglich Recht zu setzen, sondern lediglich bereits geltendes Recht anzuwenden. Sie müssten ihre Entscheidungen also auf Prinzipienargumente stützen können, die „zeigen, dass die Entscheidung ein bestimmtes Recht eines Individuums oder einer Gruppe achtet oder sichert".31 Zwar versteht Dworkin die juristische Begründung durchaus als einen durchaus konstruktiven, mithin politischen Prozess. Schließlich verlangt er vom Richter eine Kurzschließung rechtlicher und politischer Entscheidungen mit ihrer Rechtfertigung. Doch eine Argumentationsstrategie soll dem Richter dabei verwehrt bleiben, nämlich der Rekurs auf gemeinschaftsbezogene Ziele. Begründet wird die Ablehnung des pragmatistischen Rechteskeptizismus mit dem Hinweis auf drei fundamentale Werte: faire politische Partizipation, materiale Gerechtigkeit und prozedurale Gerechtigkeit Ebd., 159. » Dworkin 1984, 162. 1,1 Zur These der Rechte ebd., 145-158. 11 Ebd., 146. 28

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oder Rechtsstaatlichkeit. Mit diesen drei Werten verbunden sei nun aber eine weitere Forderung, nämlich Gleiches gleich zu behandeln, und diese Forderung könne man am besten verstehen, wenn man den Staat, an den sie adressiert ist, als moralisches Subjekt begreife, dem eine konsistente Entscheidungspraxis zugemutet wird: T h e integrity o f a community's conception o f fairness requires that the political principles necessary to justify the legislature's assumed authority b e given full effect in deciding what a statute it has enacted means. T h e integrity o f a community's conception o f justice demands that the moral principles necessary to justify the substance o f its legislature's decisions b e recognized in the rest o f the law. T h e integrity o f its conception o f procedural due process insists that trial procedures that are counted as striking the right balance between accuracy and efficiency in enforcing s o m e part o f the law b e recognized throughout, taking into account differences in the kind and degree o f moral harm an inaccurate verdict imposes. 3 2

Konsistenz in diesem qualifizierten Sinne, so schließt Dworkin, müsse daher als Wert an sich betrachtet werden. Sie sei untrennbar mit dem Konzept moralischer Verantwortung verbunden. Weil der Pragmatismus diese Tatsache übersehe, biete er auch keine adäquate Rechtfertigungstheorie. Stanley Fish stimmt mit Dworkin in der Wertschätzung von Konsistenz grundsätzlich überein. Allerdings sei eine Verteidigung dieses Werts nicht notwendig, weil er ohnehin und notwendigerweise in die juristische Praxis eingeschrieben sei. Eine Praxis, die sich nicht an Gesetzen und Präjudizien orientiert, sei einfach keine juristische Praxis. Man brauche dem Recht eine Konsistenzorientierung nicht erst zu empfehlen, denn sie gehöre zu seinem Wesen als distinkter sozialer Praxis. Pragmatismus sei daher kein mögliches Entscheidungsprogramm für den Juristen. Zwar könne er sich durchaus als Pragmatist beschreiben, sobald er aber tut, was Juristen (und nicht Philosophen) tun, höre er auf, einfach Pragmatist zu sein: T h e mere fact that a lawyer or a judge lays that he is doing something impossible (acting freely and in disregard o f the past) doesn't make him capable o f doing it. O n e can b e a " s e l f - c o n s c i o u s " pragmatist only in the sense that one can sincerely believe oneself to b e acting on pragmatist principles (or, from Dworkin's perspective, nonprinciples), but self-conscious pragmatist action, as o p p o s e d to the philosophical action o f thinking o f oneself

Dworkin 1986, 166 f.

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as a pragmatist, is not an available option, and therefore is no need to counsel against it.33 Juristinnen könnten gat nicht anders, als das, was sie als Rechtmaterial wahrnehmen, immer wieder auszulegen und auf neue Fälle anzuwenden. „Law as integrity" sei daher ein Pleonasmus. Eine Praxis ohne erkennbare Konsistenz könne gar nicht als distinkte Praxis identifiziert werden. Und Konsistenz bedeute eben immer auch Vergangenheitsorientierung. Denn es gebe keine Praxis, die nicht schon durch Prinzipien strukturiert wäre. Freilich sind für Fish Prinzipien nicht etwas essenziell anderes als politische Ziele, wie sie Dworkins Pragmatisten verfolgen. Vielmehr müssten Prinzipien als geronnene Politik betrachtet werden: The distinction between principle and policy ... is finally a political distinction, a distinction with the political aim of claiming for some policy the label of principle.34 Das heiße jedoch nicht, dass auf diese Unterscheidung verzichtet werden kann. Sie leuchte im konkreten Fall aber immer nur vor dem Hintergrund eines politischen Programms ein. Juristische Praxis besteht, so könnte man Fishs Grundaussage vielleicht interpretieren, darin, politische Programme in Prinzipien zu verwandeln, die mit bereits etablierten Prinzipien ein möglichst kohärentes System bilden. Während also Fish ebenso wie Dworkin Konsistenz als unhintergehbares, allerdings nicht weiter empfehlungsbedürftiges Merkmal der juristischen Praxis begreift, gesteht er den Prinzipien, die diese Konsistenz gewährleisten, nur insoweit eine Orientierungsfunktion zu, als sie über einen politisch bestreitbaren Inhalt verfugen. Wollte man diesen Gedanken fortspinnen, so ergäbe sich daraus, dass soziale Systeme wie das Rechtssystem essenziell politisch konstituiert sind, zugleich aber diese politische Konstituierung vor sich verbergen müssen, indem sie ständig Politik in systemimmanente Standards transformieren. Das Vokabular, mit dem ein System operiert, mag von außen (etwa einer Soziologin oder einem Ökonomen) „der Realität" unangemessen erscheinen und wird auch immer weiterentwickelt. Ein radikaler Austausch jedoch kann nur um den Preis der Zerstörung des Systems erfolgen.35 Politik, der Kampf partikularer " Fish 1989c, 361 (Herv orhebung im Original). Ebd., 369. 35 Siehe Fish 1994c, 214.

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Positionen um Hegemonie36, ist somit etwas, das sich in „semantischen Kämpfen" ereignet, ohne den Bezug zu vergangenen Zuständen des Systems zu verlieren. Fish lehnt den Konsequenzialismus in seiner Kritik an Dworkin nicht grundsätzlich ab, verweist ihn aber ins Reich des Impliziten. Explizit gehe es immer um Konsistenz.

3. Konsequenyaltsmus

und Priwçipienorientierung

Dworkin schließt konsequenzialistische Überlegungen allerdings nicht gänzlich aus. Stattdessen trifft er eine Unterscheidung zwischen Konsequenzialismus im Rahmen einer prinzipienorientierten Argumentation und Konsequenzialismus im Rahmen einer Pwfcy-Argumentation. Die genannten Beispiele für juristische Folgenorientierung würde Dworkin vermutlich prinzipienorientierten Argumentationen zuordnen.37 Allerdings ist diese Unterscheidung alles andere als klar. Schließlich hätten wir es schon dann mit einem Prinzipienargument zu tun, wenn das Argument dazu dient, ein Recht zu konkretisieren. In einem solchen Fall dürften auch die sozialen Konsequenzen verschiedener Entscheidungsoptionen berücksichtigt werden. Mit dieser Subtilisierung seiner Leitunterscheidung büßt Dworkins Rechtstheorie jedoch nicht nur einiges von ihrer Identität ein. Sie verleitet auch zu etwas gekünstelt anmutenden Interpretationen gerichtlicher Entscheidungen. So sei es durchaus angebracht, ein Unternehmen, welches die Umwelt belastet, erst dann zu Haftung heranzuziehen, wenn eine ausreichend große Anzahl von Nachbarn geschädigt wurde. Unabhängig davon, ob eine derartige Entscheidung einleuchtet, Dworkins Begründung tut dies nicht. Denn die lautet folgendermaßen: Tatsächlich ist ein wesentlicher Bestandteil der konventionellen Moral, dass jemand, der „gebührende Achtung für andere" zeigt, die Anzahl der Leute, die durch seine Tätigkeit Schaden erleiden werden, ebenso wie die Höhe des Schadens berücksichtigt, den jeder erleiden wird. Wenn dieselbe Handlung, die ihm denselben Nutzen bringt, eine größere Anzahl von Leuten, sei es auch in der gleichen Höhe, schädigt, dann erweist er, wenn er auf seiner Siehe für eine jüngeren Theorieentwicklungen angepasste Reformulierung des Hegemoniebegriffs Laclau/Mouffe 1991. , 7 Dworkin 1984, 471 ff.; Dworkin 1985a. Dworkin ist jedenfalls nicht der reine Deontologe, als den ihn Teubner (1995, 13 f.) hinstellt. K

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Handlung besteht, jedem weniger Achtung, als er sie ihm dann erweisen würde, wenn die Anzahl der Geschädigten geringer gewesen wäre.38 Ob wirklich das der Grund sein soll, weshalb das Unternehmen dem einzigen geschädigten Nachbarn nicht haften sollte, darf bezweifelt werden. Wenn eine solche Haftungsregelung begründet erscheint, dann wohl, weil sie das Gemeinwohl befördert, ohne dabei die durch das Gleichheitsrecht gesetzten Grenzen zu überschreiten. Aus dem Gleichbehandlungsgebot selbst, so scheint mir, lässt sie sich nicht ableiten. Im Übrigen wundert man sich hier ein wenig über den saloppen Verweis auf die konventionelle Sozialmoral, zumal diese für Dworkin sonst nicht den letzten Maßstab abgibt. Dworkin ist schließlich kein Vertreter eines unkritischen Intuitionismus. Wie auch immer, im Sinne seiner Unterscheidung zwischen konsequenzialistischen Prinzipienargumenten und Pe/iry-Argumenten schlägt Dworkin jedenfalls für manche Fälle selbst an den Pragmatismus gemahnende Lösungen vor, Lösungen also, denen eine Simulation von transaktionskostenlosen Abhandlungen zugrunde liegt.39 Wogegen er sich wendet, ist lediglich die Überhöhung der ökonomischen Analyse zum schlechthinnigen Entscheidungsinstrument. Die Anwendung ökonomischer Methoden müsse ihrerseits durch Prinzipien gerechtfertigt sein. Dworkins Abneigung gegenüber Zielsetzungsargumenten beruht aber nicht auf einer bloßen Idiosynkrasie, sondern durchaus auf Gründen, die den Anspruch erheben, allgemein nachvollziehbar zu sein. Die Frage ist nun, ob es sich dabei wirklich um gute Gründe handelt, ob dem Egalitarismus den Dworkin der utilitaristischen, auf Wohlfahrtsmaximierung abzielenden Ethik entgegenhält, tatsächlich keinerlei Gemeinwohlorientierung innewohnt, der nicht bloß der Wunsch, vorgängige Rechte abwägend zu konkretisieren, zugrunde liegt. Im Folgenden möchte ich freilich nicht die Bedeutung des Gleichheitsgedankens als solchen infrage stellen, sondern lediglich noch einmal darauf hinweisen, dass dessen Operationalisierung immer schon durch kollektive Zielsetzungen supplementiert wird - auch bei Dworkin. Dworkins Kritik an der utilitaristischen Explikation der Gleichheit läuft auf die Behauptung hinaus, dass eine Pflicht zur allgemeinen '« Dworkin 1984, 492 (Hervorhebung im Original). " Grundlegend Coase 1960; ebenfalls zur Standardliteratur zählen mittlerweile Posner 1986 und Ott/Schäfer 2002.

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Glückmaximierung völlig unplausibel erscheine und mit unseren moralischen Intuitionen nicht in Einklang zu bringen sei. Das Argument richtet sich gegen die utilitaristische Überzeugung, Menschen als Gleiche zu behandeln, bedeute, das durchschnittliche Glück aller im Auge zu haben.40 Im Wesentlichen besteht es im Hinweis darauf, dass eine sicher etablierte Mehrheit Diskriminierungsbedürfnisse haben könne, deren Befriedigung zwar die Gesamtsumme an Glück anhebt, jedoch um den Preis eklatant unmoralisch erscheinender Behandlungen einer oder mehrerer Minderheiten. So könnte eine Mehrheit am Quälen einzelner Menschen in einem Maße Gefallen finden, dass die Präferenzen der Gequälten gar nicht mehr ins Gewicht fallen. Auch wenn man so etwas nicht für sehr wahrscheinlich hält, ist es immerhin denkbar und offenbart daher für Dworkin ein fundamentales Problem utilitaristischen Räsonierens: [T]he point of horrifying stories is not to provide a practical warning - that if we are seduced by utlitarianism we may well find ourselves advocating torture — but to expose defects in the academic elaboration o f the theory by calling attention to moral convictions that remain powerful even in hypothetical form. 4 1

Dieses Argument, welches auf die Möglichkeit fremdbezogener Wünsche abstellt, leuchtet schon eher ein und ist aus der allgemeinen Diskussion um den Utilitarismus auch bestens bekannt.42 Es widerlegt die Auffassung, dass „Menschen als Gleiche behandeln" nichts anderes bedeute als die Gesamtsumme an Glück in der Gesellschaft zu maximieren. Ein weiteres Argument Dworkins stellt die utilitaristische Auffassung infrage, dass wir immer verpflichtet seien, Menschen als Gleiche zu behandeln, mithin eine Maximierung des Gesamtnutzens anzustreben. Nach dieser Auffassung dürfen wir unsere eigenen Interessen und die uns nahe stehender Personen niemals wichtiger nehmen als die Interessen beliebiger anderer. Dworkin bezweifelt dies und meint, dass wir nur dann zur Gleichbehandlung angehalten seien, wenn unsere abstrakten Rechte mit denen anderer kollidieren:

*< Ebd., 290 f. 41 Ebd., 291. 42 Siehe nur Dworkin 1984, 382 ff.; eine knappe Darstellung des Problems fremdbezogener und egoistischer Wünsche bietet Kymlicka 1997, 45 ff.

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I must decide on my concrete rights ... in some way that respects your interests as much as my own, not because I must always act in that way, but because I must do so when our abstract rights compete. I have no such responsibility when they do not compete. I make most of my important decisions of my life on the premise that I am morally free to pay somewhat more attention to my life that to the lives of others, though of course that does not mean I am free to ignore others entirely.43 Wenn Richter also verpflichtet sind, Marktprozesse zu simulieren und einen schwierigen Haftungsfall so zu lösen, dass das Ergebnis mit dem Ausgang fiktiver Verhandlungen zwischen den Beteiligten (unter Vernachlässigung der Transaktionskosten) übereinstimmt, dann hat das nach Dworkin andere Gründe als UtilÎtaristen, die gewissermaßen von einer moralischen Pflicht zur ökonomischen Effizienz ausgehen, annehmen. Der Grund sei in einer überzeugenden Konzeption von Eigentum und moralischer Verantwortlichkeit zu finden. Eine wirklich überzeugende Konzeption enthalte nämlich eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Verantwortlichkeit sowie die Prämisse der Ressourcengleichheit. 44 Erstere Unterscheidung erkläre den Umstand, dass es uns keineswegs immer untersagt ist, die eigenen Interessen über die der anderen zu stellen. Letztere lasse dagegen den Schluss zu, dass wir die Konkretisierung abstrakter Rechte dann, wenn diese (etwa das Recht, Bauarbeiten in der Nähe von Stromleitungen durchzufuhren oder durchführen zu lassen) mit denen anderer (etwa dem Recht auf vertraglich zugesicherte Stromversorgung) kollidieren, tatsächlich an fiktiven Verhandlungen am freien Markt ausrichten sollten.45 Dworkin geht davon aus, dass soziale Verhältnisse gerecht sind, wenn jedes Mitglied der Gesellschaft mit jenem Bündel an materiellen Ressourcen (zu welchen auch Versicherungen gegen diverse Risiken des Lebens wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Behinderung gehören) beginnt, für das es sich im Rahmen einer Versteigerung, an der alle mit demselben Vermögen teilnehmen konnten, entschieden hätte. Hier kommen natürlich weitere hypothetische Annahmen ins Spiel, insbeson-

Ebd., 293. « Ebd., 295 ff. 41 Zur Ressourcengleichheit Dworkin 1981; 1996b. Für eine Kritik aus egalitaristischer Perspektive siehe Roemer 1996, 237 ff.; Somek 1998b, 17 ff.; allgemeiner zu präferenzindividualistischen Egalitarismen Kersting 1997.

41

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dere die Annahme, dass Lebensrisiken, gegen die man sich versichern kann, gleichmäßig verteilt sind und dass jeder, der um diese Risiken Bescheid weiß, sich dagegen in bestimmter Höhe versichern würde. Allerdings sind diese Annahmen nicht unbedingt unrealistisch. Zumindest fur einige Unglücksfalle wird es nicht allzu schwer fallen, sich auf die Bewertung einer Versicherung dagegen zu einigen. Dass dabei Faktoren wie die Effizienz jener beispielsweise medizinischen Leistungen, deren Finanzierung durch die Versicherung gedeckt ist, eine wichtige Rolle spielen, versteht sich von selbst. Jedenfalls aber, meint Dworkin, sprechen Probleme bei der genauen Bestimmung der Struktur des Versicherungsmarktes nicht gegen die Idee der Ressourcengleichheit als solche. Wie auch immer: Alle Differenzen, die sich aus den Transaktionen nach dieser Versteigerung ergeben, sind demnach insofern gerechtfertigt, als sie sich lediglich den unterschiedlichen Ambitionen der Gesellschaftsmitglieder verdankten. Verteilungsregime sollten also „ambition-sensitive" und „endowment-insensitive" gestaltet sein. Keiner soll Grund haben, einen anderen um dessen Ressourcenbündel zu beneiden. Eine „envy-free distribution" ist das Ziel. Daraus lässt sich u.a. ableiten, dass erfolglose Unbegabte grundsätzlich solange einen Ausgleichsanspruch gegen erfolgreiche Begabte haben, wie ihre Position ursächlich mit ihrem Mangel an Fähigkeiten und nicht mit einem Mangel an Leistungsbereitschaft zusammenhängt.46 Die Folgen letzteren Mangels hat man selbst zu tragen, jene des Ersteren dagegen nicht. Für mangelndes Talent ist man eben nicht verantwortlich, sehr wohl aber für die eigenen Präferenzen (sieht man einmal von Präferenzen ab, die man selbst lieber nicht hätte, wie eine Präferenz für harte Drogen). Mit den Problemen, die sich einstellen, wenn man versucht, eine klare Grenze zwischen Begabung und Ambition zu ziehen und die jeweilige Grenzziehung zu rechtfertigen, werde ich mich hier nicht länger aufhalten.47 Festgehalten sei nur, dass die Trennung zwischen der Verantwortung der Gemeinschaft und jener ihrer Mitglieder als Privater der Unterscheidung zwischen dem Bereich, in dem sich die GemeinDie Einnchtung eines Versicherungssystem stellt eine Kompensationsstrategie dar „to repair, so far as this can be done, inequalities in personal capabilities and in brute luck" (Dworkin 1996, 47). " Siehe nur Scheffler 2003,17 ff. 46

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schaftsmitglieder als Gleiche behandeln müssen, und jenem, in dem sie diese Verpflichtung nicht haben, entspricht. Erst wenn im Bereich des Privaten Konflikte auftreten, die eine präzisere Abgrenzung der Freiheitssphären notwendig machen, haben Private nach Dworkin solche Überlegungen anzustellen, wie sie dem öffentlichen Raum entsprechen. Das heißt, sie dürfen ihre eigenen Interessen nicht mehr über die der anderen stellen. Sie müssen sich wieder als Gleiche betrachten. Und dann spricht, Dworkin zufolge, tatsächlich einiges dafür, transaktionskostenfreie Verhandlungen zu simulieren: Market-simulating rules provide at least part o f the best practical elaboration o f the best compatible conception o f equality. S o these rules should guide citizens when they are properly engaged, not just in employing, but in elaborating their community's public scheme o f property, as they are when it's abstract rights conflict. 4 8

Wenn nämlich abstrakte Rechte kollidieren, dann habe man die Konkretisierung so vorzunehmen, als hätte noch überhaupt keine Verteilung stattgefunden. Unter der Prämisse der Gleichheit kann dies aber nur bedeuten, dass man dafür Sorge zu tragen hat, dass der Verlierer nicht mehr verliert als der Gewinner gewinnt - und zwar indem man sich fragt, wer mehr für die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufwenden würde. Diese Vorgangsweise setzt jedoch eine ausgeglichene Ressourcenausstattung voraus. Ansonsten wäre der Vermögendere der beiden Verhandlungsteilnehmer immer im Vorteil. Sieht man von einigen Fragen ab, die das Erfordernis der Ressourcengleichheit aufwirft, klingt dies zunächst völlig einleuchtend. Was aber, wenn wir es nicht bloß mit einem potenziell Geschädigten zu tun haben, der mit dem potenziellen Schädiger in Verhandlungen eintreten könnte, sondern mit einer Vielzahl, wie dies z.B. bei Stromunterbrechungen der Fall ist? Was, wenn der potenzielle Schädiger zwar mehr dafür geben würde, seine gefährlichen Handlungspläne zu realisieren, als jeder einzelne Gefährdete für die Verhinderung von Schäden, jedoch weniger als alle Gefährdeten zusammen? In diesem Fall wären nach Dworkins Auffassung die Beträge, die Letztere aufzuwenden bereit sind, zu addieren mit der Konsequenz, dass die gefährliche Tätigkeit zu unterbleiben hat bzw. mit einer entsprechenden Haftpflicht belastet wird.49 Das wäre « Dworkin 1986, 300 f. « Ebd., 304.

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allerdings eine ziemlich grobschlächtige Lösung für Haftungsprobleme wie jenes der Energieleiterstörungen. Aber noch ein anderes Problem verdient Beachtung. Was, wenn die Parteien wissen, dass zwischen ihnen keine Ressourcengleichheit herrscht In diesem Fall würde Dworkin nicht mehr auf eine Simulation des Marktes bauen: But when my action will affect, not some particular known person or group about whom I can discover information of that character, but unknown people about whom I cannot, I should presume that comparative cost provides the right test. Even if I believe that resources have been distributed unequally, I normally have no reason to presume anything about the direction of the inequality with respect to the particular people my act will affect.511

Natürlich ist sich Dworkin der Schwierigkeiten bewusst, die sich einstellen, wenn man die Bewertung von Präferenzen Fremder durch diese selbst abschätzen muss. Besonders dann, wenn wir den rein ökonomischen Kontext verlassen und es beispielsweise auch noch mit ökologischen Präferenzen zu tun bekommen, wird das Problem eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Allerdings könne man dieses Problem dadurch entschärfen, dass man auf „vernünftige Durchschnittsmenschen" und deren Präferenzen abstellt: In noncommercial contexts ... I may need to fall back on the idea of the "reasonable" or "representative" person in the affected neighborhood, on my general knowledge of how much most people dislike or would be frustrated by the injury I will inflict on them. But we do have sufficient general knowledge of that sort to make the principle of comparative financial harm workable enough in most cases.51

4. Der Wiedereintritt des Pragmatismus Nun könnte man annehmen, dass auch der Gesetzgeber ausschließlich Prinzipienargumente verwenden, mithin auf Kriterien der ökonomischen Effizienz nur zurückgreifen darf, wenn dieser Rückgriff durch das Prinzip der gleichen Achtung gedeckt ist. Aber dem ist nach Dworkin nicht

50 51

Ebd., 305. Ebd., 306 f.

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so. In der Regel werde der Gesetzgeber seine Verteilungsentscheidungen auf Po/wy-Überlegungen stützen.52 Allerdings dürfe er dabei Bürger nicht als Ungleiche behandeln. Gleichheit wird so bei Dworkin zu einem „side constraint". Als solche erfordere sie nicht die Berücksichtigung jedes speziellen individuellen Interesses und auch nicht die Kompensation jeglichen Nachteils, den irgendjemand erleidet: O n c e the legislature has m a d e its choice, however, then individuals d o have legal rights to what they have been assigned, and under law as integrity these rights extend not only to the explicit assignments but to the principled extension o f these into cases not expressly decided. 5 3

Und gerade in dieser Auffassung verbirgt sich ein Problem. Dworkin scheint hier davon auszugehen, dass Rechte so etwas wie eine Essenz besitzen, deren nähere Bestimmung ohne Rekonstruktion der PolicyUberlegungen, die ihrer Festlegung vorausgegangen sind oder sie begründen können, möglich ist. Wenn die Rechte verschiedener Individuen konfligieren, so bedarf es demnach keines Rekurses auf Zielsetzungen, sondern lediglich der Beachtung des Gebots, Menschen als Gleiche zu achten. Die Konkretisierung dieses Gebots erfolgt bei Dworkin jedoch auf dieselbe Weise wie bei den Utilitaristen bzw. Pragmatisten. Die Schutzwürdigkeit der individuellen Präferenz wird davon abhängig gemacht, ob die Präferenz sich wertmäßig gegen die aggregierten Präferenzen der anderen behaupten kann. Der Staat kann sich neutral verhalten, indem er die Beurteilung der Schutzwürdigkeit von Präferenzen einfach dem Markt überlässt. Die ihrerseits unbegründete politische Präferenz für den Markt supplementiert nahezu unbemerkt die Gleichheitserwägungen. Warum jemand ausgerechnet dann als Gleicher geachtet wird, wenn er mit seinen Präferenzen einem Aggregat von privaten Eigeninteressen unterliegt, bleibt unklar Wäre eine Begründung nicht transparenter und somit nachvollziehbarer, wenn die entsprechenden PolicyÜberlegungen als solche ausgewiesen würden? Freilich, und das sei hier noch einmal betont, werden juristische Argumentationen niemals den Argumentationen eines Gesetzgebers völlig gleichen (und einige der Volity-Argumente, die Dworkin anführt, muten tatsächlich völlig unangemessen für Juristinnen an). Auch wenn sich Gerichte auf Gemeinschaftsentwürfe bzw. das stützen, was für die GeEbd., 310 ff. " Ebd., 312.

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meinschaft gut ist, oder einfach darauf, wie die Gemeinschaft als solche beschaffen sein soll (eher als Markt oder als Solidaritätsverband), bleiben ihre Argumente eingebettet in ein Geflecht von dogmatischen Kategorien, an die der Gesetzgeber nicht gebunden ist. Nichtsdestoweniger bedarf die Vergangenheit immer der Interpretation im Lichte der gegenwärtigen und absehbaren gesellschaftlichen Problemlagen. Dworkins Unterscheidung zwischen abstrakten, mit einem bloßen Schwellengewicht versehenen, und konkreten Rechten verleitet dazu, den Prozess der Konkretisierung als Verhandlung zwischen zwei oder mehreren Rechtssubjekten zu begreifen, als Verhandlung, die nicht mehr eine Fortsetzung der gesetzgeberischen Tätigkeit, also keine interpretative, sondern bloß noch eine distributive Praxis ist. Verteilt werden die Kosten der Verfolgung jener Interessen, für die lediglich ein unbestimmter rechtlicher Schutz in Aussicht gestellt worden ist. Die soziale Bedeutung der geschützten Interessen wird reduziert auf den Wert von Gütern für Individuen und Gruppen als solche. Das mag in vielen Fällen durchaus unproblematisch erscheinen, nämlich dann, wenn die Bewertungsoptionen einigermaßen klar definiert sind und die Individuen oder Gruppen sich mit den „sozialen Rahmenbedingungen" abgefunden haben, wenn beispielsweise akzeptiert wird, dass es keine Alternative zum Markt als das zentrale Güterallokations- und -distributionssystem gibt. Insbesondere (aber nicht ausschließlich) dort, wo es um die Bedeutung und den Wert eines Guts geht, dessen Produktion kollektive Anstrengungen erfordert, etwa um das Gut einer halbwegs intakten natürlichen Umwelt, konfrontiert uns die Frage, wie viel jeder Einzelne für solche Güter aufwenden würde, aber wieder mit dem Problem der wechselseitigen Abhängigkeit der Präferenzen. Wie viel jedem Einzelnen ein effizienter Umweltschutz wert ist, hängt immer schon von dessen Annahmen darüber ab, wie viel eine intakte Umwelt anderen wert ist. Das Subjekt trifft seine „Wertentscheidungen" nicht unabhängig von den Entscheidungen der anderen. E s ist, wenn man so will, in einen kollektiven Wertungsdiskurs verstrickt. Die eigene Bewertung eines Guts gebiert sich immer als Erkenntnis, welche ihrerseits jedoch auf Annahmen darüber beruht, wie andere dieses Gut bewerten. In diesem Sinne schreibt Cass Sunstein: Individual rationality is a function o f social norms. Many efforts to drive a wedge between the two rest on obscure "state o f nature" thinking, that is, on efforts to discern what people would like or prefer if social norms did

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not exist. ... Individual choices are a function of social norms, social meanings, and social roles, which individual agents may deplore and over which individual agents have little or no control. 54

Der vernünftige Durchschnittsmensch, auf den Dworkin außerhalb rein ökonomischer Bewertungskontexte zurückgreifen möchte, ist zweifellos eine (unverzichtbare) Fiktion. Er ist jene Figur, in der sich die Differenzen in einer hochgradig pluralisierten Gesellschaft aufheben. Und insofern jeder, der an der fiktiven Aushandlung konkreter Rechte beteiligt ist, ein bestimmtes Verständnis von einem solchen Durchschnittsmenschen in die Verhandlung einbringt, haben wir es mit einem politischen Kampf um die wünschenswerte Gemeinschaft als solche zu tun. Über die Wünsche vernünftiger Durchschnittsmenschen können uns empirische Studien nämlich keinen Aufschluss geben. Sie können uns etwas über die durchschnittliche Bewertung eines Guts sagen. Die Übernahme dieser Bewertung durch die Judikatur ist jedoch niemals ein bloßer Nachvollzug, sondern zugleich ein performativer Akt, der diese Bewertung wiederholt und bestätigt, indem er sie als vernünftig anerkennt bzw. einem vernünftigen Subjekt zurechnet. Weit davon entfernt, Wertungsprozesse lediglich aus der Distanz zu beobachten, nimmt die juristische Praxis somit immer schon an ihnen teil. Nun wird man vielleicht sagen, die Bewertung des „vernünftigen Durchschnittsmenschen" müsse nicht ihrerseits vernünftig sein. Schließlich könne sich die Vernünftigkeit des Durchschnittsmenschen nur auf der Tatsache gründen, dass er regelmäßig vernünftige Wertentscheidungen trifft. Und wer die Vernünftigkeit einer einzelnen Entscheidung bezweifelt, wild nicht umhin kommen, die anderen Entscheidungen des fraglichen Subjekts, von dem er sonst nichts weiß, zu prüfen, bevor er diesem allgemeine Vernünftigkeit zubilligt. Und genau das ist im Fall des „vernünftigen Durchschnittsmenschen" nicht möglich, weil der vernünftige Durchschnittsmensch kein empirisches Subjekt und auch kein bloßes statistisches Mittel ist, sondern bis zu einem gewissen Grade ein Komplement zur wünschenswerten Gemeinschaft, eine Personifikation, die jeder Mensch vornimmt, wenn er nach dem Wert eines bestimmten, etwa öffentlichen Guts gefragt wird. Man weiß ganz einfach nicht, welche Entscheidungen der vernünftige Durchschnittsmensch sonst noch getroffen hat, weil er immer nur im Einzelfall zu Begründungszwecken Sunstein 1997b, 35 f.

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konstruiert wird. Die Voraus-Setzung eines vernünftigen Durchschnittsmenschen, der auch eine unvernünftige Entscheidung treffen kann, wäre also in sich widersprüchlich. Insoweit aber Annahmen über die gute Gemeinschaft Annahmen darüber, was gut für die Gemeinschaft ist, implizieren (und bis zu einem gewissen Grad tun sie das), hat die Fiktion des vernünftigen Durchschnittsmenschen bereits eine, wenn auch unauffällige und schwache kollektivistische Pointe. Im Übrigen hält Dworkin, wenn es um die Interpretation von Gesetzen geht, Po/zgi-Argumente ebenfalls für zulässig. Man denke nur an den Fall, dass unterschiedliche Zielannahmen unterschiedliche Interpretationsergebnisse zeitigen. In diesem Fall habe sich Herkules zu fragen, welche Kombination von Prinzipien und „policies" die beste Rechtfertigung einer Vorschrift liefern, „and in some cases it might be problematic which form of justification would be more appropriate".55 Der Grand dafür dürfte in der Einschränkung liegen, dass Pe/iVy-Argumente wie Prinzipienargumente in eine auf Kohärenz bedachte Theorie eingebettet sein müssen. Damit scheint ihnen ein Rahmen vorgegeben zu sein. Das mögen nun nicht mehr die Grenzen des kanonischen Wortsinns einzelner Normen sein. Aber kann dieser Rahmen auch die Rechtsordnung als Ganzes sein? Oder können schwierige Fälle mitunter sogar mit Rekurs auf die Funktionen des Rechts als solchem entschieden werden. Wenn dem so wäre, würde Dworkins Ausschluss von Zielsetzungsargumenten freilich ziemlich trivial. Die These würde dann nur mehr lauten, dass die Beschränkungen, denen Rechtsanwender als Rechtsanwender unterliegen, nicht völlig identisch sind mit denen, die den gesetzgeberischen Diskurs organisieren. Und was jene exemplarischen Zielsetzungsargumente angeht, an denen Dworkin sich stößt: Diese muten im Rechtskontext tatsächlich einigermaßen exotisch an.

Dworkin 1986, 339. Seine moralische Lektüre der amerikanischen Verfassung dagegen ist wieder stark deontologisch imprägniert. Siehe Dworkin 1996a, insbesondere die Ausführungen zur Meinungsfreiheit 195 ff.

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S. Ziel und Vorgangsweise Mit all dem ist natürlich nichts gegen die Ergebnisse von Dworkins Urteilsanalysen gesagt — nur, dass sie sich selbst uneingestandenen PolicyOrientierungen verdanken. Worauf es ankommt, ist, zu erkennen, dass Prinzipienargumente letztlich durch Policy-Annahmen supplementiert werden und bisweilen mit expliziten Policy-Argumenten verwoben sind.56 Diese Arbeit will aber keine neue Dogmatik oder Methodologie für solche Argumentationen entwickeln, sondern ist vielmehr um eine philosophische Grundlegung bemüht, d.h. um eine Erläuterung, warum sich die PoZ/çy-Dimension des Rechtsdenkens nicht gänzlich ausblenden lässt bzw. was das für eine Beschreibung der juristischen Praxis bedeutet. Dies erfordert eine Wiederaufnahme der klassischen Themen der Rechtstheorie: Was ist Interpretation? Wie steht es mit juristischer Objektivität? Gibt es etwas, das die Einheit des Rechtssystems begründet? Wie verhalten sich Rechte zu Zielen? Im Übrigen subsumieren manche Prinzipientheoretiker wie etwa Alexy durchaus auch kollektive Ziele unter „Prinzipien" - und werden gerade dafür bzw. für ihre Lesart von Prinzipien als „Optimierungsgebote" 57 bisweilen mit dem Argument kritisiert, sie verfehlten den „deontologischen Geltungssinn" von Prinzipien.58 Bis zu einem gewissen Grade kann diese Arbeit daher ebenso gut als Verteidigung solcher großzügigeren Prinzipientheorien gegen allzu rigide Deontologismen gelesen werden. Wiewohl Dworkins liberale Rechtstheorie das Problem vorgibt, das ich hier untersuchen möchte, sollte die Arbeit nicht als ein Gegenentwurf zur ihr betrachtet werden. Vielleicht könnte man sie über weite Strecken auch als radikalere Reformulierung der Kritik an diversen, insbesondere positivistischen Einheitskonzeptionen lesen. Erstens decken sich einfach zu viele Ergebnisse mit den Ergebnissen, zu denen Dworkin gelangt; zweitens anerkennt Dworkin selbst bisweilen die juristische Funktion von Pe/wy-Argumenten; und drittens bin ich mir nicht ganz sicher, ob mein relativ weiter Ρβ/ζ'91-Begriff, der auch Gemeinschaftskonzeptionen als solche umfasst, insoweit sie sich nicht auf Gerechtigkeits54

Einen schönes Beispiel dafür bietet die Argumentation Dworkins dafür, dass bestimmte Bevorzugungen von Angehörigen ethnischer Minderheiten bei der Vergabe von Studienplätzen keineswegs gleichheitswidrig seien. Siehe Dworkin 2003. 57 Siehe Alexy 1996, 75 ff. 58 Für eine solche Kritik siehe z.B. Habermas 1993, 255.

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oder Fairnessvorstellungen reduzieren lassen, derselbe ist wie jener Dworkins.59 Sollte es nicht so sein, glaube ich aber, dass dies an einem etwas zu oberflächlichen, für die liberale Theorie freilich typischen Verständnis des Politischen liegt. Andererseits macht es gerade dieses Verständnis leichter, mit der Theorie normative Ansprüche zu verbinden. Eine Theorie wie die hier vertretene, die sich weder zu einer ausgefeilten metaphysischen Position bekennt (freilich ohne dem postmetaphysischen Zeitgeist zu folgen und dem metaphysischen Denken seine Notwendigkeit oder Legitimität abzusprechen) noch dem Konventionalismus (ob sprachphilosophisch oder moralisch) huldigt, hat es da bedeutend schwerer. Im günstigsten Fall trägt sie ein wenig zur Erhellung der Dinge bei und weist bestimmte Policy-Argumente von vornherein als unangemessen aus. Jedenfalls aber zielt sie darauf ab, zu erläutern, inwiefern das Recht über das von Dworkin zugestandene Maß hinaus politisch ist — und das, ohne den mit juristischen Aussagen verbundenen Geltungs-, Wahrheits- oder Objektivitätsanspruch auf eine Strategie der Verschleierung von Machtverhältnissen zu reduzieren. Dabei werde ich in erster Linie auf die rezente analytische (oder wie sie bisweilen aufgrund ihrer Annäherung an den einstigen Antipoden Hegel genannt wird: „postanalytische") Philosophie zurückgreifen. Gelegentlich soll aber auch auf den parallel verlaufenden dekonstruktivistischen Diskurs verwiesen werden. Wenn man Letzteren nämlich von dem bei einigen Autorinnen und Autoren zu findenden antirationalistischen Pathos60 befreit, erweist er sich durchaus als weitgehend kompatibel mit den Ideen von Autoren wie Wittgenstein, Quine, Davidson oder Brandom. Und wenn man will, könnte man diese Arbeit auch als großangelegtes Dekonstruktionsunternehmen lesen - allerdings als eines, das nicht in einen (intellektuell) bequemen Skeptizismus münden, sondern zur Rehabilitierung von ObFolgendes zur Rechtfertigung meiner Begriffsverwendung: Die Frage, was gut für eine Gemeinschaft ist, lässt sich nicht trennen von der Frage, was eine gute Gemeinschaft ist: eine, deren Mitglieder über großes Finanzvermögen verfugen, eine, die über ein hohes Maß an „kultureller" Homogenität verfugt, eine, in der eine intakte Umwelt als besonders wichtiges Gut gilt, eine, in der „innere Sicherheit" über alles, insbesondere das ein oder andere Grundrecht, geht? Wir haben hier allerdings eine Asymmetrie: Wer zu entscheiden hat, was gut fur die Gemeinschaft ist, muss wissen, wie eine gute Gemeinschaft ungefähr aussieht. Wer Letzteres weiß, muss aber keine Vorstellung davon haben, mit welchen Mitteln man am besten die gute Gemeinschaft realisiert. M

Siehe etwa Schlag 1998. Gegen Rationalismus und für Kreativität plädiert auch Unger 1996.

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jektivitätsansprüchen beitragen soll. Im Grunde soll aber nur eine vulgärere Spielart des nicht zuletzt bei Vertretern der juristischen Praxis selbst beliebten Realismus als das zurückgewiesen werden, was er gerade nicht sein will: naiv, weil reduktionistisch - sowohl im Hinblick auf den Politikbegriff als auch im Hinblick auf die Rolle, welche Objektivitätsansprüche in der Kommunikation im Allgemeinen und in der rechtlichen Kommunikation im Besonderen spielen. Dann noch zu sagen „Objektivitätsunterstellungen mögen schon unverzichtbar sein, jedoch gibt es keine wirkliche Objektivität" zeugt nur mehr von einem verzweifelten Versuch, mehr als das Menschenmögliche zu tun, nämlich eine Perspektive einzunehmen, die das eigene Denken transzendiert. Selbst wenn ein Teil der Arbeit aus Methodenreflexion besteht, liegt mir wenig daran, Juristen zu neuen Argumentationsstrategien zu überreden; vielmehr soll eine Tiefengrammatik offengelegt werden, die jede juristische Argumentation, und sei sie noch so formalistisch, bestimmt. Anders als so manche CLS-Analyse möchte ich aber keine relativistischen Schlüsse zulassen, sondern halte den Objektivitätsanspruch, mithin die Unterscheidung zwischen rechtlicher Richtigkeit und Falschheit, für essenziell — und dies, obwohl juristischen Argumenten immer auch Gemeinschaftsentwürfe zugrunde liegen. Freilich glaube ich auch, dass es wenig Sinn hat, abstrakt den Begriff der juristischen Objektivität zu definieren oder nach klaren Objektivitätskriterien Ausschau zu halten. Alles, was man finden wird, sind Plattitüden, die gar nicht so verständlich sind, wie sie erscheinen, oder deren Angemessenheit an Uberzeugungen überprüft wird, zu denen man auch ohne sie gelangt ist. Wenn die Bedeutung von Zielannahmen und Zielsetzungsargumenten aber einmal zur Kenntnis genommen worden ist, liegt es auch nahe, dafür eine Dogmatik zu entwickeln. Insbesondere wäre es an der Zeit, den Intuitionismus, wie er nach wie vor die Abwägung zwischen kollektiven Zielen und individuellen Rechten auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung kennzeichnet, wenn schon nicht gänzlich zu ersetzen, so doch wenigstens um Kriterien, die rationale Nachvollziehbarkeit gewährleisten, zu ergänzen. Meine Analyse gliedert sich in drei Teile: Zunächst möchte ich der Frage nachgehen inwieweit schon die Bindimg an einen konventionellen Wortsinn von Normen politisch-teleologisch begründet ist, ja inwieweit nicht schon die sprachliche Konvention selbst etwas ist, dessen Repro-

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duktion sich unauffälligen Partikeln teleologischen Wissens verdankt. Was ist das Ziel interpretativer Praxis? Was bedeutet es, eine Bedeutung zu erfassen? Wie verhalten sich Konvention und Intention zueinander, und was folgt daraus für die Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung, eine Unterscheidung, die, mag man sie auch als immer schon dekonstruiert betrachten, einer Rekonstruktion bedarf. Zumal der Rechtsfortbildung bisweilen enge Grenzen gesetzt sind. Wenn man die Unterscheidung zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsanwendung eher pragmatisch-empirisch als begrifflich-essenziell auffasst, dann erübrigen sich auch anspruchsvolle Einheitskonzeptionen des Rechts Der Richter und der Gesetzgeber bleiben enger miteinander verbunden, als dies etwa Dworkin wahrhaben will. Was rechtens ist und was nicht, hängt dann ganz offensichtlich auch von Gemeinschaftsentwürfen bzw. Vorstellungen darüber ab, was für die Gemeinschaft als solche gut ist. Im Zuge meiner Ausführungen werde ich immer wieder auf Donald Davidson zurückgreifen. Zum einen weil mir seine Sprachtheorie als die einleuchtendste erscheint, zum anderen aber weil Dworkin selbst, soweit ich sehe, eine ähnliche Interpretations- und Begründungstheorie vertritt. Dass sich aus einer derartigen bedeutungstheoretischen Analyse keine Direktiven für die juristische Praxis ableiten lassen, kann bereits hier festgestellt werden. Juristen tun, was sie tun, sie subsumieren und interpretieren zunächst unbeeindruckt von philosophischer Aufklärung. Und ich habe auch nicht die Absicht, Juristen (falls dies überhaupt möglich ist) einzureden, ihre spezifischen Geltungs- bzw. Objektivitätsansprüche aufzugeben oder eine zynische Distanz dazu zu entwickeln. Im Gegenteil, ich möchte diese Ansprüche auch für Po/i'ry-Argumente sowie für Fälle hartnäckiger Wertkonflikte verteidigen. Dass sich keine klaren Definitionen und Kriterien für die Einlösung dieser Ansprüche finden lassen, ist noch kein Grund, auf sie zu verzichten. Ähnliche Probleme, Objektivität verständlich und zugleich nichttrivial zu definieren bzw. Kriterien für sie zu formulieren, haben wir auch im Bereich der empirischen Aussagen, zumal Bedeutung und Wahrheit zwei Begriffe sind, die aufeinander verweisen. In einem kürzeren zweiten Teil werde ich dann auf die Frage eingehen, inwieweit uns der Konsequenzialismus bzw. Po/zgi-Annahmen dabei helfen können, Entscheidungen zu begründen, welche die Rechtsqualität eines bestimmten Normenmaterials zum Gegenstand haben. Es geht

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also direkt um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Einheit des Rechts und um das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft im Rechtsdenken Anhand des Problems der juristischen Qualifizierung der so genannten „lex mercatoria" und anderer im Entstehen begriffener anationaler Regelwerke sollen einige Schwächen jener Lösungsvorschläge aufgezeigt werden, die sich entweder ganz der Tradition des Rechtsdenkens verschreiben oder diese Tradition mit für die juristische Praxis völlig neuartigen Begriffen, wiederum ohne Blick auf die Konsequenzen, zu sprengen versuchen. Ziel ist es, zu zeigen, wie sich Folgen- und Vergangenheitsorientierung ergänzen, wenn es gilt, die Rechtsqualität eines bestimmten Normenmaterials zu beurteilen. Dazu wird es notwendig sein, sich mit den Funktionen des Rechts auseinanderzusetzen bzw. zu fragen, inwiefern noch andere Funktionen als die Gewährleistung von Gerechtigkeit und Fairness entscheidungsrelevant werden können. Der dritte Teil handelt vom Verhältnis zwischen Rechten und Zielen. Dabei werde ich mich etwas vom juristischen Räsonnement entfernen und mich auf das Terrain der politischen Philosophie begeben. Die Begriffe, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, sind allerdings solche, die auch Juristen geläufig sind: Interessen (legitime, wahre, schutzwürdige Interessen), Werte, Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Indem ich den Verweisungszusammenhang rekonstruiere, in dem sich diese Begriffe befinden, möchte ich noch einmal die im ersten Teil formulierte und bedeutungstheoretisch begründete These der Unhintergehbarkeit von Zielsetzungen bei der Konkretisierung von Rechten plausibilisieren. Die zentrale Frage lautet, wie das Verhältnis zwischen schutzwürdigen partikularen Interessen und Überlegungen beschaffen ist, die sich auf einen Partikularinteressen übersteigenden Kontext beziehen. Interessen haben, so werde ich behaupten, anders als Präferenzen oder Wünsche, etwas über ihre bloße Existenz hinaus gehendes Objektives, und diese Objektivität verdanken sie einem Kontext, der den interessierten Subjekten nur gemeinsam zur Disposition steht. Vor allem interessiert aber die Frage, wie individuelle Interessen, öffentliche und das Interesse der Allgemeinheit zusammenhängen. Gibt es einen Gemeinwohlbegriff, dessen Anwendung nicht einfach auf eine Präferenz- oder Interessenaggregation nach utilitaristischem Muster hinausläuft. (Dworkin beispielsweise steht dem Gemeinwohlbegriff nicht zuletzt deshalb skeptisch gegenüber, weil er ihn mit dem Effizienzbegriff bzw. dem

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utilitaristischen Verfahren der Nutzenaddierung in Verbindung bringt. Und dass die Affirmation solcher Verfahren die Anerkennung von Rechten nicht gerade befördert, darf mittlerweile wohl zu den klassischen Einwänden gegen utilitaristische Ethiken gezählt werden.) Doch wie immer man Gemeinwohl versteht, zu klären wäre auch sein Verhältnis zu moralischen Werten, insbesondere zum Wert der Gleichheit. Als Egalitarist räumt Dworkin Gleichheitsüberlegungen einen Sonderstatus ein - und ich werde ihm darin folgen. Gleichzeitig möchte ich diesen Sonderstatus gegen derzeit modische and-egalitaristische Kritiken verteidigen. Andererseits aber möchte ich auch die These vertreten, dass Gleichheit nicht jener transzendentale Status zukommen kann, den ihr Dworkin in der Form der Ressourcengleichheit zuspricht. „Partielle Transzendentalität" ist, so denke ich, alles, was eine vernünftige Rekonstruktion ergeben kann. Das heißt: Die Operationalisierung des Gleichheitswerts im politischen, aber auch im juristischen Diskurs erfordert ihrerseits Überlegungen über das kollektiv Gute. Am Ende dieses dritten Teils möchte ich noch einmal von der Philosophie zur rechtlichen Praxis zurückkommen und meine These der Interdependenz von Rechten und Zielen anhand eines notorischen Haftungsproblems untermauern.

1. Teil Interpretation und Zielannahmen

In diesem ersten Teil der Arbeit möchte ich zeigen, dass der Ausschluss von Polig-Argumenten auf einem zweifelhaften Verständnis des Rechts als allzu distinkter sozialer Praxis beruht. Zum einen, so lautet meine These, liegen ihm eine Unterschätzung der Bedeutung von gesetzgeberischen Intentionen und eine falsche Gleichsetzung Letzterer mit den Intentionen eines historischen Gesetzgebers zugrunde. Zum anderen aber versteckt sich hinter der Po/Äy-Skepsis nicht nur ein reduktionistisches Bild von der politischen Auseinandersetzung als Interessenaggregationsverfahren, sondern auch die irrige Vorstellung, dass sich letzten Endes doch noch etwas ausmachen lässt, das die Einheit des Rechtssystems begründet. Sogar Dworkin, der den rechtlichen und den moralischen Diskurs verkoppelt, scheint noch daran zu glauben, wenn er meint, dass jedem Zustand des Rechtssystems ein kohärentes System von Prinzipien korrespondiert. Demgegenüber werde ich darauf beharren, dass es oft Pw&y-Annahmen sind, die Prinzipien erst kohärent erscheinen lassen. Für diese Behauptung möchte ich im Folgenden den Boden bereiten, indem ich bei den Basics der Interpretationstheorie beginne. Juristische Interpretation, so die erste These, geht unweigerlich mit der Repräsentation eines idealen Gesetzgebers als Ausdruck der (auch von Dworkin für unhintergehbar erachteten) Personifikation der Rechtsgemeinschaft einher. Es ist die Intention des idealen Gesetzgebers, die es zu „ergründen" bzw. zu rekonstruieren gilt. Ideal bleibt der Gesetzgeber insofern, als er sich nicht auf einen empirisch-historischen Gesetzgeber reduzieren lässt, sondern vom Rechtsanwender im Zuge der Interpretation konstruiert wird (1.1 und 1.2).

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Interpretation und Zielannahmen

Dem könnte man mit Dennis Patterson entgegenhalten, dass die juristische Praxis gar nicht in erster Linie eine interpretative, sondern einfach eine regelfolgende sei. Eine solche Sicht der Dinge wirft jedoch, wie ich zeigen möchte, nur weitere Fragen auf, die schließlich wieder zum Thema der Interpretation zurückführen. Insbesondere darf man bezweifeln, dass Methodenregeln geeignet sind, die juristische Praxis zu reiner Immanenz zu verhelfen. Überdies tendiert Pattersons Rede von der Bedeutung als Gebrauch dazu, Bedeutungen von der Wirklichkeit abzukoppeln und, entgegen aller Absicht, unnötig mysteriös erscheinen zu lassen (1.3). In der Folge möchte ich dann die Befürchtung zerstreuen, dass mit der „Überbetonung" des interpretativen Charakters juristischer Arbeit der Objektivitätsanspruch des Rechts seine Berechtigung einbüßen könnte. Allerdings werde ich mich davor hüten auszubuchstabieren, was es bedeutet zu sagen, eine juristische Aussage sei wahr oder eine Regel sei korrekt angewendet worden. Bisher ist uns Vergleichbares auch für den Bereich der empirischen Sätze nicht gelungen, und dennoch halten wir hartnäckig am Wahrheitsbegriff fest. Statt einer Objektivitätstheorie werde ich daher eine an die wahrheitskonditionale Theorie der Bedeutung angelehnte Semantik des Rechts skizzieren, die den Begriff der Objektivität in Gestalt der „korrekten Anwendung" bereits voraussetzt (1-4). Danach setze ich mich kurz mit dem Einwand auseinander, dass sich Pö/zVv-Argumente nicht mit Objektivitätsansprüchen vereinbaren lassen. Mein Argument lautet, dass wir auf Letztere auch im politischen Diskurs nicht notwendigerweise verzichten müssen. Postmodernistische Forderungen, sich ständig die Kontingenz der eigenen Überzeugungen vor Augen zu halten und jegliche Objektivität nur als soziales (daher machtbedingtes) Konstrukt anzusehen, verfehlen demnach die Bedeutung dessen, was es überhaupt heißt, eine Überzeugung zu haben. Selbst wenn das alles stimmt, kommen wir nicht umhin, von irgend etwas überzeugt zu sein. Freilich sind wir uns oft nicht sicher, ob unsere Überzeugungen richtig sind. Die Erzählung der kontingenten Geschichte ihres Erwerbs vermag sie aber noch nicht unbedingt zu erschüttern (1.5). Hier geht es jedoch, wie gesagt, nur darum, die Aufrechterhaltung des Objektivitätsanspruchs für juristische Aussagen zu verteidigen. Wie man diesen Anspruch genau einlöst, ist nicht mein Thema. Allerdings zwingt der Objektivitätsanspruch der juristischen Interpretation zu einer bestimmten Vorgangsweise, genauer: zu bestimmten Unterstellungen, was das Material der Interpretation bzw. den Gesetzgeber angeht. Man

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muss den Gesetzgeber als rational sowie in seinen Zielsetzungen «and Wertungen weitgehend konsistent betrachten. Das wiederum impliziert keinen Appell an eine transhistorische Vernunft, sondern bedeutet im Endeffekt lediglich, dass Interpretationen möglichst mit dem abzugleichen sind, was man selbst für wahr und richtig hält. Dass wir damit die Intention des Gesetzgebers konstruieren, desavouiert den Objektivitätsanspruch nicht. Schließlich konstruieren wir uns jeden Sprecher, den wir verstehen wollen, auf diese Weise zurecht. So überschreiten wir in der tagtäglichen Rechtsanwendung auch immer die Grenzen der sprachlichen Konvention bzw. instituieren neue Konventionen. Das jedoch tun wir nicht nur mit Prinzipienargumenten, sondern auch mit Po/tcy-Äigamenten, also solchen, die auf ein allgemeines Interesse abstellen. Letztere These möchte ich mit einem Beispiel aus dem Schadenersatzrecht untermauern (1.6). Im Anschluss daran werde ich mich kurz an der Debatte um die Bestimmtheit oder Unbestimmtheit des Rechts beteiligen. Ich selbst tendiere zu einer Version der Unbestimmtheitsthese, glaube aber nicht, dass wir deshalb auf Objektivitätsansprüche verzichten können. Tatsächlich erstreckt sich die Unbestimmtheit auch noch auf die Gründe, die Entscheidungen rechtfertigen sollen. Man könnte nämlich immer weiter fragen, warum die angegeben Gründe guie Gründe sind. Um aber die Qualität von Gründen in Zweifel ziehen zu können, muss man erst einmal die Unterscheidung zwischen (objektiv) guten und schlechten Gründen akzeptieren. Po&y-Argumente, so meine ich, können zwar keine Letztbegründung garantieren. Sie können jedoch als Mittel begriffen werden, diverse augenscheinliche Unbestimmtheiten zu reduzieren bzw. aufzuschieben, indem sie einen reichhaltigen Kontext ins Spiel bringen. Um diese These zu stützen, werde ich mich mit einer möglichen Ursache solcher Unbestimmtheiten, nämlich der Inkommensurabilität verschiedener Werte etwas näher befassen (1.7).

1.1 Bedeutung und Intention Was ist der Gegenstand der juristischen Interpretation? Ist es der subjektive Wille des Normsetzers oder ist es der objektive Sinn, mithin die allgemein nachvollziehbare Bedeutung der Norm? Die Methodologen unter den Juristen sind sich nicht ganz einig. Während „Subjektivisten" dafür plädieren, sich jedenfalls an den Willen des Normsetzers zu halten, auch dann, wenn die Formulierungen der Norm etwas anderes nahe legen, verweisen „Objektivisten" auf die Funktion von Normen, zu Handlungen zu motivieren bzw. Handlungen anzuleiten. Dies jedoch sei nur möglich, wenn sich die Normadressaten darauf verlassen können, dass die Bedeutung der Normen durch die mehr oder weniger allgemein bekannten Regeln der Sprache und nicht durch eine versteckte, schwer zugängliche Intention des Normsetzers bestimmt ist. Wenn wir das Problem so formulieren, dann bietet sich natürlich sofort eine, freilich weniger theoretisch als rechtspolitisch begründete Lösung an, zumindest für gewaltenteilig repräsentativ-demokratisch verfasste Rechtsgemeinschaften: Bei der Auslegung von (im materiellen Sinne) gesetzlichen Vorschriften soll es um den objektiven Sinn gehen; die Interpretation rechtsgeschäftlicher Normen dagegen soll sich am subjektiven Willen der Beteiligten orientieren (Falsa demonstratio non nocet)} Erst wenn die Intentionen der Beteiligten divergieren, hat man sich für jene Bedeutung zu entscheiden, die ein „vernünftiger Durchschnittsmensch" unter Zugrundelegung der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Regeln der gemeinsamen Sprache angenommen hätte. Für eine objektivistische Gesetzesauslegung sprechen vor allem drei Gründe: Zunächst einmal stellen Gesetze öffentliche Richtlinien dar, die ihre Funktion, wie schon gesagt, nur soweit erfüllen, wie ihre Interpretation keine aufwendige Erforschung des gesetzgeberischen Willens erfordert. Zweitens wird der Gesetzgeber durch die Aussicht auf eine objektivistische Auslegung eher dazu veranlasst, Normen möglichst klar zu formulieren. Und drittens scheint es angesichts der Komplexität des Gesetzgebungsprozesses, an dem typischerweise eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Erwartungen und Interessen beteiligt sind und oftmals einfach Kompromisse schließen, ausgeschlossen, dass Gesetze überhaupt von einem eindeutigen und einheitlichen Willen getragen werden, der über den bloßen Wunsch, dass sie gelten, hinaus geht.

1

Koller 1997, 2 0 5 ff.

Bedeutung und Intention

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Man könnte indes auch noch weitere Differenzierungen vornehmen, freilich ohne dass die Argumente pro und contra Objektivismus dadurch vollends entwertet würden. So wäre es durchaus denkbar, den subjektiven Willen des aktuellen (und nicht des historischen) Gesetzgebers für maßgeblich zu erachten 2 oder umgekehrt als entscheidend anzusehen, wie der durchschnittliche Adressat eine Norm zur Zeit ihrer Entstehung verstanden hat.3 Bydlinski lehnt jedoch beide Auffassungen ab: Die geltungszeitlich-subjektive These [also Erstere, C.H.] scheitert daran, dass der „gegenwärtige Gesetzgeber" zu älteren Normen in aller Regel gar keine Willen bildet bzw. erkennen lässt. Eine echte Alternative zur subjektiv-historischen Auslegung wird also gar nicht aufgewiesen. Der historischobjektiven Auslegung ist einzuwenden, dass sie das Verständnis des heutigen Nonnadressaten, um dessen Rechtsverhältnisse es geht und das im Allgemeinen, wo kein Anlass oder keine Möglichkeit zu historischen Forschungen besteht, faktisch ganz unvermeidlich für die Befolgung des Rechts maßgebend sein muss, zurückdrängt. Das erscheint praktisch als allgemeine Maxime gar nicht durchführbar; anders vielleicht für einzelne Rechtsgebiete, in denen es besonders auf Rechtssicherheit im Sinne von Kontinuität ankommt.4 Die Frage ist also immer noch dieselbe: Was soll den Ausschlag geben, der subjektive Wille eines konkreten Normsetzers, der sich möglicherweise darüber irrt, wie seine Elaborate von „vernünftigen und sprachlich hinreichend kompetenten Durchschnittsmenschen" verstanden werden, bzw. dessen Sprachgebrauch mit der Zeit veraltet, oder der objektive „Wille der Norm", wie ihn eine Anwendung der etablierten Sprachregeln zu Tage befördert? Aber kann man irgend etwas verstehen, indem man einfach auf Regeln zurückgreift? Auch in der juristischen Methodologie wird gerne von „semantischen Regeln" gesprochen, die man zu beachten hätte, wenn man die Bedeutung von Ausdrücken erforscht.5 Dabei entsteht leicht der Eindruck, als würden diese Regeln selbst die Bedeutung konstituieren, als wären sie die letzte Autorität. Außerdem kann das Insistieren auf semantischen Regeln zur etwas vorschnellen Ansicht verleiten, diese Regeln ließen sich eindeutig angeben und existierten unabhängig von ihrer Anwendung in verschiedenen Einzelfällen. Wir So etwa Nawiasky 1948, 130. ' So etwa in einem „Plädoyer" für die „objektiv-historische" Methode Meier-Hayoz 1966. 4 Bydlinski 1991, 429. 5 Siehe beispielsweise den Hinweis bei Koch/Rüßmann 1982, 132: „Die mit deren Hilfe die Intension, d.h. die semantische Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks angegeben wird,... nennt man häufig semantisdx Rigeln." (Hervorhebung im Original) 2

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Interpretation und Zielannahmen

wollen uns hier aber nicht mit Wittgensteins späteren Problemen herumschlagen, sondern vielmehr eine ganz elementare Frage stellen, deren Beantwortung dann ein wenig Last von der Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Interpretation nimmt (freilich ohne sie gänzlich zu erledigen). Wie entsteht Bedeutung im kommunikativen Alltag? Genügen Ausdrücke bzw. Sätze und entsprechende semantische Regeln? Oder setzt Bedeutung nicht vielmehr immer ein Subjekt voraus, das etwas Signifikantes kommunizieren möchte? Im Folgenden werden wir allerdings nicht mehr von einem bloßen „Willen" sprechen, sondern etwas Umfassenderes ins Visier nehmen: die Intention.

1.1.1 Intentionalität als Voraussetzung für Bedeutung Beginnen wir ganz allgemein: Kann man völlig von der Intention einer Sprecherin abstrahieren, wenn man eine Äußerung verstehen will? Stellen wir uns dazu vor, wir gingen an einem Strand spazieren und beobachteten plötzlich, wie die Gezeiten im Sand ein Muster hinterlassen, das einer Zeichenfolge, einem geschriebenen Satz, gleicht. Dürften wir annehmen, dass dieses Muster etwas bedeutet?6 Nun, das hängt von unserer Metaphysik ab. Wenn wir in dieser Struktur den Ausdruck einer Mitteilung Gottes oder von Mutter Natur sähen, dann würden wir ihr zweifellos eine Bedeutung unterstellen. Wenn nicht, dann würden wir hier von einem seltsamen Zufall sprechen, uns aber sicher nicht den Kopf darüber zerbrechen, was die Struktur bedeutet. Das heißt: Wir nehmen Strukturen nur dann als (im semiotischen Sinne) signifikant wahr, wenn wir dahinter eine Intention erkennen. Strukturen, die solchen signifikanten Strukturen ähneln, aber ganz offensichtlich nicht von einer Intention getragen sind, bedeuten (uns) nichts. Manche Atheisten werden eine Krankheit wie AIDS als sinnloses Faktum begreifen, manche aber werden dahinter vielleicht eine „Strategie" der Natur erblicken (wenn sie auch noch nicht wissen, was für eine), und manche Gläubige werden AIDS als Strafe Gottes für einen „degenerierten" Lebenswandel verstehen. Erstere haben entschieden, dass es nichts zu interpretieren gibt, Zweitere werden möglicherweise versuchen, einen „masterplan" zu entschlüsseln, mithin zu interpretieren beginnen, Letztere haben bereits eine Interpretation vorgenommen.

' Siehe Knapp/Michaels 1985, 15 ff.

Bedeutung und Intention

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Eine Intention ist aber nicht nur Voraussetzung für (sprachliche) Bedeutung, sondern sie ist in einem gewissen Sinne mit der Bedeutung gleichzusetzen. 7 Eine Bedeutung ist keine freischwebende Entität, sondern etwas, das nur im Modus des Erfasstwerdens existiert. Und erfasst wird sie als Intention: „Words", meint Fish, are intelligible only within the assumption of some context of intentional production, some already-in-place predecision as to what kind of person, with what kind of purposes, in relation to what specific goals in a particular situation, is speaking or writing.8 Für John Searle ist Bedeutung „eine Form abgeleiteter Intentionalität. Die ursprüngliche oder intrinsische Intentionalität des Denkens des Sprechers wird übertragen in Wörter, Sätze, graphische Zeichen, Symbole und so weiter." 9 Searle anerkennt aber auch noch eine konventionale Bedeutung. Dieser liege eben eine „konventionale Intentionalität" zugrunde, welche „vom Sprecher verwendet werden [kann], um einen Sprechakt zu vollziehen". 10 Auch Davidson, dessen Theorie ich meinen weiteren Ausführungen zugrunde legen werde, trennt strikt zwischen der „Sprecherbedeutung" und der „buchstäblichen" bzw. „ersten Bedeutung". Allerdings hat diese Unterscheidung bei ihm einen anderen Sinn. Insbesondere möchte er Letztere vom Konventionellen trennen. Hier sei lediglich noch angemerkt, dass für Juristinnen die konventionelle Bedeutung nur dann die letztverbindliche Bedeutung ist, wenn keine gesetzgeberischen Intentionen dagegen sprechen. Dass etwa, wie der Wordaut von § 33 Abs. 1 Satz 1 ö M R G nahe legt, auch der Mieter seinen Mietvertrag gerichtlich zu kündigen habe, muss nicht unbedingt angenommen werden. Wie immer man argumentiert, man wird auf die gesetzgeberischen Intentionen hinter dem Mietrechtsgesetz Bezug nehmen müssen. Umfasst die Schutzfunktion des ö M R G auch eine Warnfunktion, was gegen eine teleologische Reduktion sprechen und für eine Pflicht des Mieters sprechen würde, seinen Mietvertrag gerichtlich zu kündigen? Auch glaubt man trotz des Wordauts von § 1295 Abs. 1 A B G B nicht, dass jemand fur jedweden Schaden, den er einem anderen widerrechtlich und aus Verschulden zugefügt hat, haftet. Denn: „Das kann der Gesetzgeber doch nicht gemeint haben! E s muss wohl auf den Schutzzweck der Norm ankommen."

' Hirsch 1967, 216, 219; Grice 1993. « Fish 1989a, 295. ' Searle 2001, 168. 10

Ebd.

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Interpretation und Zielannahmen

Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Subjektivisten richtig liegen und tatsächlich der subjektive Wille dessen, der eine Norm gesetzt hat, Erkenntnisgegenstand der juristischen Interpretation ist. Zum einen muss noch geklärt werden, was eigentlich eine Intention ist; und zum anderen muss dieser Begriff für eine Praxis wie das Recht etwas präzisiert werden. Schließlich haben wir oben schon festgestellt, dass Rechtsetzung oft das Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener Kräfte, verschiedener Erwartungen und verschiedener Interessen ist. Jedenfalls versteht dass es sich trotz der Notwendigkeit, bestimmte Intentionen zu unterstellen, keineswegs von selbst, dass die Intentionen des empirischhistorischen Gesetzgebers den Ausschlag geben.11 Denkbar wäre nämlich auch, dass ein gegenwärtiger Gesetzgeber bzw. die am Gesetzgebungsprozess Beteiligten an einer Regelung festhalten, etwa weil erst eine Veränderung des Sprachgebrauchs die Norm mit den eigenen Intentionen vereinbar gemacht hat. Die Auffassung Stanley Fishs, dass zwischen den so genannten „originalists" und den „anti-originalists" im Grunde kein Unterschied bestehe, weil beide, egal wie sie ihre Praxis beschreiben, immer schon bestrebt seien, die wahre Intention des Gesetzgebers zu ergründen,'2 verfehlt daher ebenfalls den Punkt. Natürlich geht es darum, eine Intention „aufzudecken". Die Frage ist nur, um wessen b^w. welche Intention es sich dabei handeln sollte. Auch die Intention des historischen Gesetzgebers, so sich überhaupt eine ausmachen lässt, kann auf unterschiedliche Weise beschrieben werden, insbesondere mehr oder weniger allgemein.13 Und je allgemeiner die Intention gefasst wird, desto weiter, so könnte man sagen, bewegt man sich in Richtung „anti-originalism". Man ignoriert dann einfach spezifische Überzeugungen und Absichten des historischen Gesetzgebers, weil man sie im Detail für unerheblich oder falsch hält, nimmt aber weiterhin an, dass es dem historischen Gesetzgeber um eine gerechte und/oder effiziente Lösung eines bestimmten sozialen Problems ging, eines Problems, das sich heute möglicherweise etwas anders darstellt als damals. Der Rechtsanwender hat jedenfalls das vorhandene rechtliche Zeichenmaterial auf den gerade zur Lösung anstehenden Fall zu beziehen. Er betrachtet diesen Fall als Typ von Fällen, die der Gesetzgeber regeln wollte. Der Gesetzgeber ist dabei aber nicht notwendigerweise irgendein historisches Subjekt, sondern, wie wir noch sehen werden, ein Subjekt, dass immer wieder von

11

Siehe Dworkin 1986, 348 ff.

12

Fish 1994b, 181.

15

Dworkin 1985b, 163.

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Neuem konstruiert wird. In der Beurteilung des Einzelfalls wird er auf eine gewisse Weise präsent - nicht als empirische Entität, sondern als notwendige Setzung, nämlich Voraussetzung des Interpreten. In einem Punkt haben jedoch sowohl Fish als auch Knapp und Michaels Recht: Anders als Hirsch meint, ist der interpretativen Praxis mit der Erkenntnis, dass es bei der Interpretation „irgendwie" um Intentionen geht, keine Methode, sondern lediglich jenes Ziel vorgegeben, welches die Praxis erst zu einer interpretativen macht. Mit der Erkenntnis, dass Interpreten immer danach streben, Intentionen aufzudecken, ist daher auch keine Vorentscheidung der Frage „objektiv-teleologische oder subjektiv-historische Interpretation?" getroffen. Man darf aber vermuten, dass sich ein lexikalischer Vorrang Letzterer14 nur schwer begründen lässt. Wie auch immer, eines kann hier auf jeden Fall festgehalten werden: Bedeutungen sind keine Entitäten, die, um bei der zweifelhaften Metapher zu bleiben, unabhängig von ihrer Erfassung bzw. Erfassbarkeit existieren. Mit Davidson gesprochen: „Where understanding matches intent we can, if we please, speak of 'the meaning'; but it is understanding that gives life to meaning, not the other way around."15 Uberraschenderweise nennt uns Davidson aber kein Kriterium fur das Gelingen von Kommunikation. Ja, in einem Gespräch mit Giovanna Borradori leugnet er die Möglichkeit, sich auf ein solches Kriterium zu einigen.16 Wie lässt sich also Verständnis von Missverständnis unterscheiden? Oder impliziert jedes Verständnis ein Missverständnis, so dass das Lesen eines Textes immer zugleich ein Weiterschreiben bedeutet? So ortet Matthias Schaedler-Om in diesem Zusammenhang ein „Paradox der Intersubjektivität" bzw. ein „Paradox des Gesprächs".17 Ob man sich versteht, kann nur im Wege der Kommunikation geklärt werden. Jasper Liptow glaubt, eine Lösung für dieses Problem parat zu haben. Ich bin nicht sicher, ob man hier wirklich von einer „Lösung" sprechen sollte, doch zumindest zeigt Liptow, wie dieses Paradox in der Kommunikation entfaltet wird.18 Bezeichnenderweise verweist er dabei im Anschluss an Robert Brandom auf die Praxis des Common law.

So beispielsweise Koch/Rüßmann 1982, 182. Davidson 1994, 12. " Davidson 1991, 51. 17 Siehe Schaedler-Om 1997, 197. 18 Ich verwende hier systemtheoretische Terminologie, weil die Beschreibung frappant an Bilder selbstreferenzieller, zu Strukturen gerinnender Kommunikationen erinnert. 14

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Der grundlegende Begriff von sprachlicher Verständigung ist der einer prinzipiell unabschließbaren Praxis gelingender Verständigung mindestens zweier Sprecher/ Interpreten, die nach dem Muster des Case-ltm>-iAoääk funktioniert. Der Standard für das Gelingen von Verständigung stammt dabei nicht von außerhalb dieser Praxis, sondern ergibt sich aus einer Tradition gelungener Verständigung. Verständigung gelingt, wenn der Interpret über eine „Bedeutungstheorie" für den Idiolekt des Sprechers verfügt, die sich mit Bezug auf die Tradition rechtfertigen lässt. Die sprachlichen und begrifflichen Mittel, die das aufseiten des Interpreten voraussetzt, sind dabei ihrerseits das Produkt derselben Tradition, die durch ihre Anwendung fortgeschrieben wird." Wie die Richterin im Common law zwar selbst entscheide, ob ein Präjudiz für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich ist, dabei aber ihre Entscheidung der Kritik zukünftiger Richter aussetze, knüpften die verständigungsonentierten Gesprächsparteien immer an vergangene Kommunikationen an, die sie für gelungen halten, und zwar nach Möglichkeit so, dass ihre eigenen Kommunikationsakte zukünftig ihrerseits als gelungen anerkannt werden können. Wenn das stimmt, dann haben wit es hier also, dekonstruktivistisch formuliert, mit einem permanenten Aufschub der Präsenz (nämlich eines bestimmten Kriteriums) zu tun. Das, so könnten wir sagen, ist sogar eine der Pointen der Kommunikation. Ich werde im nächsten Abschnitt (1.2) übrigens den umgekehrten Weg gehen und juristische Interpretation als Interpretation von Normzeichen beschreiben, die einem Gesetzgeber zugerechnet werden können. Insofern darunter nichts anderes als eine Personifikation der Rechtsgemeinschaft zu verstehen ist und nicht unbedingt das real existierende Ensemble von Politikern und Politikerinnen, das Gesetze beschließt, können m.E. auch Präjudizien als solche Zeichen betrachtet werden. Auf eine zentrale Interpretationsmaxime, die schon mit dem intentionalen Charakter bedeutungsvoller Äußerungen zu tun hat und deren Einhaltung gewissermaßen eine notwendige Bedingung dafür ist, dass man überhaupt zu richtigen Ergebnissen gelangt, werde ich später noch zurückkommen (1.6.1).

" Liptow 2002, 144 (Hervorhebung im Original).

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1.1.2 Die Unbestimmtheit der Intention Zunächst möchte ich mich noch einmal diesem „Paradox der Intersubjektivität" von einer anderen Seite annähern, nämlich über die Frage, was wir uns eigentlich unter einer Intention vorzustellen haben. Knapp und Michaels beantworten diese Frage nicht, sondern gehen offenbar davon aus, dass es sich hierbei um etwas ganz Elementares und letztlich wohl ziemlich Einfaches handle.20 Unterscheiden wir zwei Fälle: die Intention einer einzelnen Person, die etwas äußert oder einen Text verfasst, und jene Intention, die rechtlichen Regelungen, und ich meine jetzt und im Folgenden damit an die Allgemeinheit adressierte Regelungen, zugrunde liegen. Schon im ersten Fall ist es nicht ganz leicht anzugeben, was genau eine Intention bzw. ein intentionaler Zustand ist. Und wollte man sich näher mit dieser Frage beschäftigen, müsste man sich wohl in die Philosophie des Geistes vertiefen.21 Wenn man unter Intentionen jene Zustände versteht, die der Äußerung von Sätzen vorausgehen, insbesondere Überzeugungen und Wünsche, stößt man bald auf das Problem, erklären zu müssen, wodurch sich solche Zustände auszeichnen bzw. inwiefern die Existenz solcher Zustände eine wie immer mangelhaft beherrschte Sprache, oder allgemeiner: die Möglichkeit der Kommunikation mit anderen voraussetzen. So meint etwa Wheeler: Given the rich infinity o f things w e can intend, and the grave difficulties o f memorizing a list o f such things, intentions must have semantically structured contents. The contents o f an intention must be organized by means o f things analogous to the terms, connectives, quantifiers, and other apparatus that permit an infinity o f sentences with distinct truth conditions to be constructed f r o m a finite number o f linguistic components. 2 2

Für eine Kritik an dieser Trivialisierung siehe nur Wheeler 2002b. Fish dagegen versucht, den Intentionalismus mit einem Konstruktivismus zu verbinden. Interpretation ziele zwar immer auf die Intention des Autors ab, Letztere sei aber selbst interpretativ konstruiert. Kontrolliert werde am Ende alles durch die „interpretive community" (siehe Fish 1980). Für eine Kritik an Fishs Theorie der interpretativen Gemeinschaften siehe nur Shusterman 1992, 106 ff. 21 Siehe z.B. Searle 1991, der allerdings anders als Davidson, an den ich mich im Folgenden halten möchte, der „Intentionalität des Geistes" einen konzeptuellen Vorrang vor Sätzen einräumt. Wie immer man diese Vorrang-These, wonach Sätze als Geräusche oder Schriftzeichen ihr „Repräsentationsveimögen" von der Intentionalität des Geistes herleiten, genau zu verstehen ist, Davidson betrachtet jedenfalls das Haben von Überzeugungen und die Fähigkeit, sich sprachlich zu verständigen, als interdependent. 22 Wheeler 2002b, 76. 20

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Interpretation und Zielannahmen

Nach Davidson wiederum impliziert jeder Gedanke den Begriff der Objektivität, also „die Unterscheidung zwischen dem, wovon man glaubt, dass es der Fall sei, und dem, was wirklich der Fall ist". Was jedoch einen „durch die gemeinsame Sprache bereitgestellten Maßstab" voraussetze. 23 Damit die beobachtbaren Reaktionen einer Person auf einen Gegenstand als Gedanken gelten können, so das Argument, muss diese Person den Begriff von diesem Gegenstand haben. Begriffsbildung wiederum setze ein Dreiecksverhältnis zwischen (mindestens) zwei weitgehend ähnlichen kommunizierenden Subjekten und einem Objekt der gemeinsamen Wirklichkeit voraus: We could not have a language, or the thoughts that depend on language (which comprise all beliefs, desires, hopes, expectations, intentions and other attitudes having propositional content), if there were not others who understand us and whom we understood; and such mutual understanding requires a world shared both causally and conceptually.24 Davidson spricht hier von einer „Triangulation". Die Idee, welche letztlich mit Wittgensteins Privatsprachenargument 25 konvergiert, ist - stark verkürzt - folgende: Angenommen, ein Kind soll den Begriff des Tischs erwerben. Dazu muss es irgendwie bei verschiedenen Gelegenheiten in Gegenwart anderer Personen auf Tische reagieren, d.h. günstigstenfalls auf einen Tisch zeigen und dabei ein Geräusch wie „Tisch" hervorbringen. Die anderen Personen, die dem Kind insofern ähneln, als sie ebenfalls eine Ähnlichkeit zwischen den Objekten, die zur Klasse „Tisch" gehören, wahrnehmen und darüber hinaus noch die Ähnlichkeit der kindlichen Reaktionen auf Tische bemerken, werden darauf mit Belohnung reagieren. Sie bzw. ihre Reaktionen haben die Funktion, für das Kind klarzustellen, worauf es mit dem Ausdruck „Tisch" eigentlich reagiert hat, eben auf einen Tisch. Aber nicht nur der Sprecher (in diesem Fall das Kind) hat ohne die anderen kein Kriterium für die Ähnlichkeit seiner Reaktionen. Die anderen (die Interpreten) bedürfen ebenfalls einer Bestätigung der Ähnlichkeit ihrer Reaktionen. Erst auf diese Weise wird allen Beteiligten klar, dass sie nicht bloß auf unmittelbare Empfindungen, Sinnesreizungen, sondern auf Objekte, und zwar dieselben Objekte, reagieren. Wir haben also ein Dreieck, dessen Scheitelpunkte zwei Personen und dessen Spitze ein Objekt (oder ein Ereignis) ist. Für 23

Davidson 1993d, 74. Mit diesem Rekurs auf eine „gemeinsame Sprache" (und nicht bloß

Kommunikation) hat sich Davidson allerdings in gefährliche Nähe zu seinem konventionalistischen Kontrahenten Michael Dummett begeben. u

Davidson 1993e, 303.

25

Wittgenstein 1984b, 356 ff. (§ 243 ff.); siehe dazu auch Kiipke 1982, 55 ff.

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den Nachweis, dass die beiden Personen über Begriffe verfugen, genügt aber nicht die bloße Reaktion auf die Reaktionen des jeweils anderen. Vielmehr muss beiden bewusst sein, dass sie interagieren: Dass der zweite Scheitelpunkt auf denselben Gegenstand reagiert wie man selbst, kann man nur dadurch in Erfahrung bringen, dass man herausbekommt, o b die andere Person denselben Gegenstand im Sinn hat. D o c h dann muss die zweite Person ebenfalls wissen, dass die erste Person einen Scheitelpunkt desselben Dreiecks bildet, welches einen anderen Scheitelpunkt aufweist, der v o n ihr - der zweiten Person - eingenommen wird. Damit zwei Personen voneinander wissen können, dass sie - dass ihre G e danken - in einer solchen Beziehung zueinander stehen, ist es erforderlich, dass es zwischen ihnen zur Kommunikation kommt. Jede dieser beiden Personen muss mit der jeweils anderen reden und v o n der anderen verstanden werden. 2 6

Überzeugungen und Wünsche sind demnach, insofern sie eine begriffliche Struktur aufweisen, an eine intersubjektiv nachvollziehbare Sprache bzw. an Kommunikation gebunden.27 Intentionen können, so gesehen, Bedeutungen nicht stabilisieren, weil sie ebenso die Vertrautheit mit Bedeutungen voraussetzen, wie diese die Vertrautheit mit Intentionen voraussetzt. Dekonstruktivisten sprechen denn auch gerne vom Flottieren der Zeichen, von Sinnverschiebungen, die das Subjekt nicht kontrollieren könne, vom unendlichen Aufschub der Präsenz des Sinns im Bewusstsein des Sprechers.28 Der Interpret direkter Rede müsse Bedeutung genauso konstruieren, nämlich rekonstruieren, wie der Interpret eines Texts. Nicht einmal dem Autor wird zugestanden, über ein unproblematisches Wissen um die Bedeutung der von ihm verwendeten Zeichen zu verfugen. So heißt es bei Michel Rosenfeld im einschlägigen Jargon: Davidson 1993a, 14 f. Dieser Aufsatz stellt eine Zusammenfassung von weiteren Arbeiten des Autors zur Begriffsbildung durch „Triangulation" dar. Siehe dazu auch SchaedlerOm 1997, 80 ff.; Heil 1998, 132 ff. Eine ähnliche Beschreibung des Vorgangs der „Welterschließung" findet sich bei Berger/Luckmann 1996, 60 ff. Freilich geht es dabei weniger um das philosophische Problem der Begriffsbildung als um das soziologische Problem der Institutionalisierung. 27 Dennoch haben wir uns mit der Auffassung, Bedeutung habe mehr mit Intentionen als mit Regeln zu tun, bereits auf einen gewissen Anti-Konventionalismus festgelegt. 28 Siehe nur Münker/Roesler 2000, 36 ff.; Culler 1988, 99 ff. Eine gerade Juristen verhältnismäßig leicht zugängliche Darstellung der Pointe des bei vielen als hermetisch, um nicht zu sagen: obskurantistisch geltenden dekonstruktivistischen Denkens bieten die Arbeiten von Jack Balkin (1987; 1996). Bisweilen schießen Dekonstruktivisten aber über das Ziel hinaus, indem sie gleich den Autor bzw. dessen Autorität verabschieden und einen subjekt- bzw. intentionslosen Zeichenstrom annehmen. Insofern sie das tun, erscheint die Kritik von Knapp und Michaels durchaus berechtigt (siehe Knapp/Michaels 1985, 21 ff.). 26

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Interpretation und Zielannahmen The meaning of a writing is neither immediately given nor self-present but depends on some future reading (or re-collecting) of that writing's past. And since all reading involves a rewriting, all meaning depends on a future rewriting of past writings as rewritten in the present writing that confronts the interpreter. A present writing is a rewritten past writing a not yet rewritten future writing. 29

Die Intention des Autors ist demnach ihrerseits ein interpretationsbedürftiger Text. Typischerweise geben Dekonstruktivisten denn auch die Autorität des Autors preis, indem sie Letzteren im Dickhicht der „Intertextualität" verschwinden lassen.30 Diese Dimension des Problems der Intention soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Ich habe auf die Zweifelhaftigkeit der Auffassung, Intentionen gelte es „einfach" zu entdecken, nur hingewiesen, weil diese Auffassung Fishs nicht ganz berechtigter Kritik an Dworkins Plädoyer für „konstruktive" anstatt „konversationeller Interpretation" zugrunde zu liegen scheint. Wie ich später zeigen möchte, liegt Dworkin durchaus richtig, wenn er meint, (juristische) Interpretation sei unweigerlich ein konstruktives Unternehmen. Nicht dass völlig frei und beliebig Bedeutungen konstruiert werden können, um eine Konstruktion, nämlich eine Rekonstruktion, kommt man jedoch nie herum. Feststeht jedenfalls: ohne Subjekt mit intentionalen Zuständen (wie immer diese konstituiert sind) bzw. ohne die Möglichkeit der Zuschreibung von Intentionen keine Bedeutung. Das meinende, wünschende, zweifelnde und beabsichtigende Subjekt werden wir nicht los. Das andere Problem und dessen Lösung scheinen für das juristische Unternehmen (oder wenigstens seine Selbstbeschreibung) von größerer Relevanz zu sein. Was heißt „Intention", wenn wir es mit einer interpretationsbedürftigen Praxis, d.h. der Setzung und Anwendung von RechtsvorRosenfeld 1998,18 (Zitat getilgt). Zumindest solange man sich nicht selbst missverstanden fühlt. Siehe etwa Derrida 2001, wo Derrida seinen Text „Signatur, Ereignis, Kontext" (Derrida 1999) gegen John Searles Kritik verteidigt und dabei eine Konfrontation von Texttn und nicht Autoren unterstellt. Bisweilen, wenn auch nur selten, versucht er aber selbst, Bedeutungen zu explizieren, indem er seine Intention offenlegt (siehe z.B. ebd. 80: „ ... wird man verstehen, was ich meine, wenn ich schreiben werde, ...). Im Übrigen stellt Derrida auch klar, dass es ihm keineswegs um eine völlige Entsorgung des Begriffs der Intention geht, sondern nur um den Aufweis der Gespaltenheit Letzterer, ihres Mangels an „Fülle" oder „Präsenz" (ebd. 93 ff.). Auf etwas weniger extravagante Weise gelangt man zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn man die intersubjektive Dimension der Begriffsbildung hervorhebt, die Tatsache, dass es keine Privatsprache geben kann - gleich, ob man sich zu diesem Zweck auf Davidson oder Wittgenstein stützt. 25

3,1

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schtiften, zu tun haben? Müssen wir uns in diesem Zusammenhang nicht vom Begriff der Intention verabschieden?

1.2 Personifikation und juristische Interpretation Nun liegt der Gedanke nahe, dass uns, wenn wit hinter dem Recht Intentionen ausmachen wollen, nichts anderes übrig bleibt, als eine Personifikation vorzunehmen. Doch bedeutet dies nicht einen Schritt in eine zweifelhafte Metaphysik? Können wir einer Gemeinschaft eine von der Summe ihrer Mitglieder unabhängige Existenz unterstellen? Wohl kaum, aber so weit müssen wir gar nicht gehen. Es genügt festzustellen, dass die Gemeinschaft etwas mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder. Das tun im Übrigen auch die Mitglieder mancher Gemeinschaften. Man denke nur an die Nation, deren Existenz auf einer in der Identifikation ihrer Mitglieder enthaltenen YxisXenzunterstellung beruht. Die Einzelnen identifizieren sich nicht national, indem sie einander direkt als gleich anerkennen, sondern sie anerkennen einander, indem sie gemeinsam ein nationales „Ding" annehmen.1 Doch Rechtsgemeinschaften sind nicht unbedingt Nationen. Mitunter eignen sie sich schlecht als Objekte kollektiver Identifikation. Sogar die Weltgesellschaft ist eine Rechtsgemeinschaft, insofern sie keinen rechtsleeren Raum kennt. Soweit es Bereiche gibt, die frei von rechtlichen Regulierungen und Zwängen gehalten sind, verdanken sie sich dem Recht.2 Wir sollten daher die Personifikation der Rechtsgemeinschaft auf eine andere Weise „begründen". Was wir allerdings aus einer Analyse nationaler Identität mitnehmen können, ist die Erkenntnis, dass eine Gemeinschaft, soweit ihr Intentionen unterstellt werden, auch wenn sie nicht auf ihre Mitglieder reduziert werden kann, anders als die Natur, nicht losgelöst von einer Praxis der Bezugnahme auf sie existiert.

1.2.1 Die Personifikation der nationalen Rechtsgemeinschaft Im Folgenden möchte ich auf Dworkins Ausführungen zur Personifikation zurückgreifen, freilich indem ich sie ihrem Kontext, nämlich der „law-as-integrity"-Theorie, ein wenig entfremde. Dworkin zeigt, dass wir in vielen Fällen ohne Personifikation von Personenmehrheiten nicht auskommen, wenn wir über die Rechte einzelner Personen befinden.3 Siehe Zizek 1994b, 134 ff. Siehe Radbruch 1999a, 181. ' Dworkin 1986, 167 ff. Im Übrigen bedeutet diese Personifikation auch eine Entlastung. Es stellt sich dann nicht mehr die Frage, weshalb die gegenwärtige Generation an rechtliche Vorgaben einer vergangenen Generation gebunden sein soll. Man kann dann etwa das 1

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Sern erstes Argument ist in etwa folgendes: Wie begründen wir einen Anspruch auf Ersatz jenes Schadens, der jemandem durch fehlerhafte Produkte entstanden ist, die nicht von einer einzelnen Person, sondern von einem Unternehmen hergestellt wurden, wenn kein Fehlverhalten eines einzelnen Mitarbeiters des Unternehmens nachgewiesen werden kann? Die Frage ist nicht, wie Juristinnen eine Haftung des Unternehmens begründen können, sondern wie der Gesetzgeber, der eine solche Haftung anordnet, argumentieren müsste. Und soweit er nicht gerade die ökonomische Effizienz eines derartigen Haftlingsregimes im Auge gehabt hat, ist er offenbar davon ausgegangen, dass Unternehmen moralisch verpflichtet sein können, Schadenersatz zu leisten, unabhängig davon, ob eine verantwortliche Einzelperson ausfindig gemacht werden kann oder nicht. Zwar könnte nun jemand sagen: „Wenn der Gesetzgeber annahm, dass Unternehmen moralisch verantwortlich seien, dann meinte er damit, dass die Anteilseigner, insofern sie am Gewinn partizipieren, auch die Risiken für Verluste (z.B. aufgrund von Schadenersatzleistungen) tragen sollten." Aber damit wäre noch nicht klargestellt, dass durch die Schädigung Dritter überhaupt wieder gutzumachendes Unrecht entstanden ist. Diese Annahme setzt voraus, dass es einen tatsächlich Verantwortlichen gibt. Und da in einem größeren Unternehmen möglicherweise niemand zu finden ist, der alles kontrolliert, kann nur das Unternehmen selbst als verantwortlich betrachtet werden. Ob dieses Argument wirklich ein gutes ist, lassen wir einmal dahingestellt. Dass wir tagtäglich Gemeinschaften personifizieren und dazu (vorerst) keine extravaganten metaphysischen Argumente benötigen, sondern einfach darauf hinweisen können, wie eine solche Personifizierung unserer moralischen Sprache eingeschrieben ist, dafür lassen sich Verfassungsrecht mit seinen Grundrechtskatalogen als rationale Selbstbindung einer Gemeinschaft analysieren, einer Gemeinschaft, die die einzelnen Generationen überdauert (siehe beispielsweise Holmes 1988). Hinzu kommt, dass der Generationenübergang ein fließender ist, was Jed Rubenfeld zunächst zu übersehen scheint, wenn er von einer „fundamental antithesis between constitutionalism and democratic self-government" spricht (Rubenfeld 1998, 197). In der Folge plädiert Rubenfeld jedoch ebenfalls für eine gewisse Personifizierung: „To be self-governing, a people must attempt the kind of self-government that takes place over generations. It must attempt the reins of time" (ebd., 214). Sowie die Autonomie des Einzelnen die Fähigkeit zur Selbstbindung voraussetze, so erfordere die Autonomie eines Kollektivs die Fähigkeit, die Macht der einfachen Mehrheit zu beschränken. Ökonomisch gesprochen hieße dies: Man verzichtet auf einige lokale Mixima zugunsten eines globalen Maximums. Dekonstruktivistisch-dialektisch formuliert: Die Bedingungen der Möglichkeit von kollektiver Selbstbestimmung sind zugleich Bedingungen der Unmöglichkeit.

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aber noch weitere Beispiele angeben.4 Da wäre zum einen die besondere Verantwortung, die man den Deutschen und den Österreichern in Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus zuschreibt. Nicht dass es möglich wäre, ihnen allen die Verbrechen Nazi-Deutschlands vorzuwerfen, aber dass sie zu einer gewissen Wiedergutmachung verpflichtet sind, darüber kann kein ernsthafter Zweifel bestehen. Allfällige Zweifel beziehen sich denn auch eher auf Art und den Umfang von Entschädigungsleistungen sowie auf Eingriffe in gutgläubig erworbene Rechte. Noch weniger umstritten ist jener Diskurs, wonach Einzelpersonen grundsätzlich gegenüber der Gemeinschaft als solcher Ansprüche und sonstige Rechte haben. Uneinigkeiten treten erst später auf, wenn die Frage lautet, welche konkreten Rechte Individuen oder Gruppen5 zukommen sollen bzw. wie diese Rechte am besten garantiert werden können. So meint Dworkin: When we say that individuals have arightto be protected against assault, we do not mean that this protection must be achieved through some particular scheme we already have in mind. But only that the community as a whole has a duty to provide adequate protection in some way.6 Dass die Gemeinschaft bzw. der Staat Individuen etwas schuldet, liegt in der Tat auf der Hand. Und es sind auch nicht primär die Organe der Gemeinschaft, denen die Gewährung von Freiheiten oder die Befriedigung von Ansprüchen gutgeschrieben werden. Wir beurteilen danach die Gemeinschaft als Ganze, z.B. als mehr oder weniger liberal, solidarisch, gut oder schlecht bzw. gerecht oder ungerecht etc. Die Organe sind vielmehr dem Recht und letzten Endes wieder der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen.7 Hier haMetaphysisch argumentieren wir jedoch, sobald wir uns mit dem Hinweis auf Konventionalität nicht mehr zufrieden geben wollen. Dass man früher oder später immer bei der Metaphysik und sogar bei der Religion landet, zeigt eindrucksvoll Strasser 2000. 5 Je nach Art des Gruppenbezugs „kollektiver Rechte" haben wir es wieder mit Personifikationen von Gemeinschaften zu tun. Für grundsätzlich individualistische Affirmationen kollektiver Rechte siehe Marko 1995; Kymücka 1995; Bauböck 1997. Freilich geht es den genannten Autoren vor allem um Rechte, und diese würden, meint Bauböck, keine moralische Subjektivität (oder Personalität) voraussetzen. Doch Rechte implizieren immer auch korrespondierende Pflichten. Und solche Pflichten haben nicht bloß Einzelindividuen, sondern auch Gruppen, insbesondere staatlich organisierte. 6 Dworkin 1986, 173. 7 Natürlich liegt diesem Konsens eine spezielle Metaphysik zugrunde. Sie fällt aber kaum noch als solche auf. Immerhin sind moralische Konzeptionen denkbar (und es gab und gibt sie auch), die von ganz anderen metaphysischen Prämissen ausgehen. Doch sollte dies, ganz nebenbei gesagt, nicht zu dem relativistischen Fehlschluss verleiten, dass zwischen

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ben wir es mit Personifikationen zu tun, die man, wenn überhaupt, nur um den Preis großer interpretativer Anstrengungen auf radikal individualistische Prämissen zurückfuhren kann. Dworkin versucht natürlich deshalb, die Personifikation der Gemeinschaft zu entdramatisieren, weil er die Gemeinschaft (als solche) benötigt, um seine Kohärenztheorie des Rechts plausibel zu machen. Demnach sollte eine Gemeinschaft nicht nur Rechte und Pflichten gerecht verteilen, sondern sich auch dann treu bleiben, wenn es gilt, diese zunächst abstrakten Rechte und Pflichten im Einzelfall zu konkretisieren. Mir dagegen geht es um etwas anderes. Ich muss von der Unvermeidlichkeit der Personifikation ausgehen, weil nach dem oben Gesagten jede Interpretation, auch die juristische, auf den Versuch hinausläuft, eine Intention zu aufzudecken bzw. zu rekonstruieren. Und anders als Dworkin schließe ich nicht aus, dass die juristische Interpretation bisweilen zu einer Überschreitung des aktuellen Gemeinschaftshorizonts führen muss. Juristische Arbeit ist nach dieser Auffassung nicht nur insofern politisch, als sie nicht ohne Rekurs auf Gerechtigkeit auskommt; sie ist es darüber hinaus noch in dem weiteren Sinn, dass der Interpret manchmal auch in Bezug auf Policy Farbe bekennen muss. Der „Gesetzgeber" fungiert dabei natürlich als Synonym für „Gemeinschaft" oder „Gesellschaft". Seine Intention ist nicht unbedingt die der Personen, die an der Formulierung eines Gesetzes mitwirken. Die Gesellschaftstheorie ermuntert uns zu dieser Gleichsetzung, insofern sie die politische Sphäre als jenes Subsystem auszeichnet, über das die Gesellschaft auf sich als Ganze einwirkt. Die Politik gilt in diesem Sinne als potenziell allzuständig.8 Sie ist jenes System, mit dem sich die Gesellschaft Handlungsfähigkeit verschafft.

den Vertretern unterschiedlicher metaphysischer Grundannahmen Kommunikation immer schon ausgeschlossen sei, weil wir es hier mit einer Unübersetzbarkeit moralischer Vokabulare zu tun hätten (siehe Davidson 1986c). Kommunikation scheitert immer nur aus empirischen Gründen. Zur Erforschung dieser Gründe brauchen wir keine Philosophen. Ob Konsenschancen bestehen, mithin R a u m für einen politischen Diskurs existiert oder aber Gleichgültigkeit und physische Gewalt unsere einzigen „realen" Optionen sind, darüber können uns vorzugsweise soziologische Untersuchungen Aufschluss geben. » Siehe Luhmann 1995b, 126; Weber 1976, 514 ff. Zur These, dass die (deliberative) Politik die „Ausfallsbürgschaft" für die Integration der Gesellschaft als Ganzer übernommen hat, siehe bekanntlich Habermas 1993, insbesondere 349-398. Die Idee der politischen Gemeinschaft als einer übergeordneten Sphäre, in der über die Grenzen partikularer Distributionsarrangements entschieden wird, findet sich auch bei Walzer 1994. Ausführlich zu den Begnffen der Politik und des Politischen Vollrath 1987.

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N u n haben wir allerdings ein Problem: Schließen wir damit nicht schon a priori aus, dass jene Normensysteme, in deren Hintergrund keine Organisation wie der Staat steht, über Rechtsqualität verfügen können? K ö n n e n wir eine Praxis der Auslegung und Anwendung interoder gar anationaler N o r m e n , etwa der so genannten „lex mercatoria" 9 , überhaupt noch als rechtliche Praxis begreifen, zumal hier, wie es scheint, gar keine Gelegenheit besteht, die Intention eines Gesetzgebers, mithin einer Gemeinschaft, zu rekonstruieren? D a s politische System der Weltgesellschaft ist nicht staatlich organisiert. J a , Politik auf internationaler Ebene stellt sich grundsätzlich anders dar als Politik auf nationaler Ebene. Der K a m p f um die Repräsentation des Ganzen hat keine Institutionalisierung erfahren. E s dominieren jene Momente der politischen Auseinandersetzung, die in einem „genuin" politischen System lediglich als Supplemente (im dekonstruktivistischen Sinne) fungieren: Verhandlungen („bargaining") zwischen Parteien, die nur mehr für eine bestimmte Klientel sprechen. 1 0 Ähnlich verhält es sich mit dem Wirtschaftssystem, insofern es N o r m e n aus sich hervorbringt. Der globale Markt und seine Akteure konstituieren nun einmal keine Gemeinschaft, die sich so einfach personifizieren lässt wie eine staatliche Gemeinschaft. Und dennoch wird sowohl in der Völkerrechtspraxis als auch in der Praxis der Konfliktregelung innerhalb der transnationalen Wirtschaft mit der Vorstellung eines „Gesetzgebers" gearbeitet — nur eben nicht so offensichtlich wie im Bereich des nationalen Rechts.

1.2.2 Die Personifikation de^entrierter Gemeinschaften Sehen wir uns zunächst die völkerrechtliche Interpretation an. Der Einfachheit halber beschränken wir uns auf das Vertragsrecht. D a s s bei dessen Interpretation ähnlich vorgegangen wird wie bei der Auslegung privatrechtlicher Verträge, darf schon vorweg vermutet werden. Wie bzw. wann kommen hier, wenn auch nur versteckte Personifikationen ins Spiel? 11 Oberste Maxime der Vertragsauslegung ist der Grundsatz, dass es auf den übereinstimmenden Willen, die Intentionen, der Parteien beim Abschluss des Vertrags ankommt. D a s heißt, es wird einer Art historiIch komme im zweiten Teil ausführlicher darauf zu sprechen. Siehe dazu nur Hiebaum 1999, insbesondere 27 ff. sowie Hiebaum 2001. " Zur Interpretation völkerrechtlicher Verträge siehe u.a. Köck 1976; Seidl-Hohenveldern 1994, 93 ff.; Shaw 1997, 655 ff.; Wallace 1997, 233 ff.

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scher Interpretation der Vorrang eingeräumt, es sei denn, der Vertragswille umfasst auch die Billigung zukünftiger Anpassungen. Darüber hinaus kommt es selbstverständlich auf den Zusammenhang an, in dem sich einzelne Stellen des Vertragstexts befinden. Weiters sollen Souveränitätseinschränkungen nicht vermutet werden. Wie im Privatrecht gilt außerdem die Regel, dass unklare Formulierungen zu Lasten desjenigen ausgelegt werden, der sie vorgeschlagen hat. Und wie Gesetze grundsätzlich verfassungskonform zu interpretieren sind, so sind einzelne internationale Verträge möglichst völkerrechtskonform auszulegen. Doch inwiefern können wir hier von einer Personifikation sprechen? Dass Staaten Rechtssubjektivität zukommt, im Übrigen auch eine privatrechtliche, die es ihnen ermöglicht, sogar mit Einzelpersonen Verträge abzuschließen, versteht sich für Juristen von selbst. Allfällige metaphysische Prämissen interessieren dabei ganz und gar nicht. Und auch in der Theorie internationaler Beziehungen spielt der Staat als Akteur eine herausragende Rolle, ob er nun, wie von den Realisten, als strukturbedingt eigeninteressiert 12 oder ob seine Identität, wie von den Konstruktivisten, als wesentlich komplexer konzipiert wird.13 Das ist aber nicht unser Problem. Was in diesem Zusammenhang interessiert, ist vielmehr, ob wir im Völkerrecht ebenfalls einen Gesetzgeber als Synonym oder Repräsentant der Rechtsgemeinschaft unterstellen müssen. Ich meine: Ja. Dagegen könnte nun jemand einwenden, diese Auffassung beruhe auf einer Verkennung des Völkerrechts spezifischen Geltungsgrundes. Da sich die Völkerrechtsordnung nicht auf den Willen eines Souveräns zurückfuhren lasse, sondern sich der Praxis der Völkerrechtssubjekte, insbesondere der Staaten, verdanke, mute die Idee eines Völkerrechtsgesetzgebers mit mehr oder weniger klaren Intentionen, gelinde gesagt, reichlich deplaziert an. Das wesentliche Merkmal dieser Ordnung sei ja gerade ihre dezentrierte Struktur. E s gebe weder zentrale Rechtsetzung noch auf einem Gewaltmonopol beruhende Rechtsdurchsetzung. Doch ein solcher Einwand würde die empirische Frage nach der Struktur mit der philosophischen Frage nach dem Geltungsgrund bzw. der Natur des Völkerrechts vermengen. Stellen wir uns eine einfache Frage: Ist es tatsächlich denkbar, dass die erste Völkerrechtsnorm eine Vertragsnorm gewesen ist? Könnten sich Herrschaftsverbände irgendwann einmal entschlossen haben, ihre Territorien vertraglich abzusichern und sich auf diese Weise als souve-

Siehe etwa Waltz 1979. " Siehe nur Wendt 1994; 1987.

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täne gleichberechtigte Staaten instituiett haben? Unabhängig vom empirischen Wahrscheinlichkeitsgehalt einer derartigen Aussage - logisch betrachtet, erscheint sie als gedankliches Unding. Selbst wenn diese Vereinbarung (für die Beteiligten) klipp und klar formuliert gewesen wäre, hätte sie sich nicht selbst Gültigkeit verschaffen können.14 Um Gültigkeit zu erlangen, bedarf es der Voraussetzung einer Rechtsordnung (oder zumindest einiger Rechtsprinzipien15). Es müssen zumindest solche Normen vorausgesetzt werden können, die den beiden Herrschaftsverbänden Rechtssubjektivität zuerkennen und darüber hinaus fesdegen, dass Verträge auch tatsächlich verbindlich sind („pacta sunt servanda"). Diese Normen müssen jedoch irgendwie gesetzt worden sein. Erst diese Annahme macht möglich, was notwendig ist, nämlich eine Interpretation: Wollte der Gesetzgeber, dass jede Vereinbarung, gleich welchen Inhalts, verbindlich wird? Wollte der Gesetzgeber, dass jeder beliebige Herrschaftsverband verbindliche Verträge abschließen kann, oder ging er vernünftigerweise davon aus, dass Rechtssubjektivität an bestimmte Bedingungen geknüpft ist? „Von außen" betrachtet, ist die Voraussetzung von Normen, die eine Antwort auf diese Fragen geben, immer auch eine Setzung und damit eine Frage von Definitionsmacht und (rhetorischer oder gar sonstiger) Gewalt. Am Anfang des Rechts kollabiert die Unterscheidung von Recht und nicht-rechtsförmiger Gewalt. Das Recht gründet sich, sagen daher Proponenten der Dekonstruktion und der Systemtheorie auf einer Paradoxic.16 Ob das nun eine tiefe Einsicht oder bloß Ergebnis der Arbeit mit einem bestimmten Vokabular ist17: Rechtsinterpreten müssen sich Siehe Weinberger 1988,135 f. So beispielsweise Verdross 1965. 16 Siehe Derrida 1991 sowie unzählige Hinweise bei Luhmann 1995c. Einen Überblick bietet Clam 2000, wo im Übrigen auch darauf hingewiesen wird, dass Gewalt und Willkür unterschieden bzw. „als die zwei Seiten einer Form (der Form; Gewalt) verstanden werden" müssen (ebd. 121). 17 Voraussetzung dafür, dass man hier eine Paradoxie sieht, ist erstens, dass man sich auf die Suche nach einem letzten Grund gemacht hat, und zweitens, vermutlich damit zusammenhängend, eine strikte Unterscheidung zwischen dem Innen und dem Außen des Systems, und sei es nur über einen spezifischen Code. So hat Habermas Derrida bekanntlich eine Abhängigkeit von der „Ursprungsphilosophie", die er zugleich dekonstruiere, vorgehalten und bei Luhmann lediglich eine Reformulierung des ,,sub¡ektphilosophischen" Paradigmas, aber keinen Bruch mit ihm, festgestellt (siehe Habermas 1985, 211, 426 f f ) . In einem ganz tnvialen Sinne lässt sich Gewalt freilich nicht ausschließen. Ein Rechtssystem, das auf allgemeine wohlüberlegte Zustimmung wartet, bevor es sich instituiert, bleibt naturgemäß auf ewig inexistent, kommen doch ununterbrochen neue Rechtsunterworfene hinzu. Dass dieses Moment der Gewaltsamkeit, wie es den „Ursprung" kennzeichnet, auch 14

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darüber aber nicht den Kopf zerbrechen, auch nicht die beiden ersten Vertragsparteien. Sie arbeiten mit ihren Überzeugungen. Und diese Uberzeugungen beziehen sich auch auf Bedeutungen von kulturellen Traditionen. Ob sie wissen, dass sie ihre Überzeugungen bestimmten Machtprozessen verdanken oder nicht, spielt keine Rolle. Dass Überzeugungen, von denen man naturgemäß glaubt, dass sie wahr sind,18 letztlich auf historisch-kontingente Umstände, allgemein: auf Kommunikation mit anderen, zurückgehen, bedeutet nicht, dass sie falsch oder gar wahrheitsunfähig sind. So kann ich wissen, dass meine Überzeugungen, alle Menschen seien als solche gleich an Würde, mit der jüdisch-christlichen und schließlich aufklärerischen Tradition zu tun haben, ohne deshalb annehmen zu müssen, dass man einfach nicht sagen könne, was besser ist: ein Kastensystem bzw. eine ständische Ordnung oder eine egalitäre Verfassung. Wie die Relativitätstheorie nur in einem bestimmten Kontext entwickelt werden konnte und dennoch, wenn sie wahr ist, für sämtliche „Kulturkreise" wahr ist. Auf die Frage nach der Wahrheit im Recht und darauf, ob der juristische Konsequenzialismus sich mit Wahrheitsansprüchen verträgt, komme ich später noch einmal zurück (1.5). An dieser Stelle sei nur festgehalten, dass schon der Hinweis auf die Notwendigkeit der Voraussetzung eines Gesetzgebers eine Politizität des Rechts erahnen lässt, die über die von Dworkin angenommene hinaus geht. Kommen wir noch kurz auf das zweite Problem zu sprechen, inwiefern wir auch bei Anwendung anationalen Rechts auf die Voraussetzung eines Gesetzgebers, mithin eine Personifikation der Gemeinschaft nicht verzichten können. Eigentlich handelt es sich dabei um zwei Probleme, zumal einerseits staatliche Gerichte klären müssten, ob anationalen Normen überhaupt Rechtscharakter zukommt, und andererseits nichtstaatliche Schiedsgerichte diese unabhängig von deren Rechtsqualität zu interpretieren und anzuwenden haben. Ersteres Problem möchte ich hier einmal auf sich beruhen lassen. Ich komme im zweiten Teil ausführlicher darauf zu sprechen. Vorerst interessiert nur das zweite Problem. Inwiefern imaginieren Schiedsgerichte bei der Auslegung von Normen, die zumindest teilweise aus einer komplexen Praxis hervorgegangen sind, einen Gesetzgeber, mithin eine Gemeinschaft mit Identität und Intentionen? später nicht vollständig überwunden werden kann, sondern in weiterer Folge im juristischen Alltag weiterhin eine bedeutsame Rolle spielt, darauf verweist gegen alle Verschleierungsversuche Fish 1989e. '» Williams 1978a, 218 f.; Davidson 1986e, 318; Fish 1999.

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Eine Gemeinschaft zu personifizieren bedeutet nichts anderes, als ihr Identität und Intention zu unterstellen. Einer Gemeinschaft eine Identität zuzuschreiben ist nicht schwer. Man grenzt sie von anderen Gemeinschaften ab und beschreibt dann näher, was sie auszeichnet. So kann man den Wettbewerbszusammenhang der ökonomischen Akteure als von Marktstrukturen geprägte Rechtsgemeinschaft von anderen Gemeinschaften unterscheiden. Damit hat man bereits eine generische Identität festgesetzt. Will man die Funktionsweise des gemeinschaftlichen Lebens dieser besonderen Rechtsgenossen, die ökonomische Akteure immer auch sind, als Argument bei der Lösung von Konflikten verwenden, muss man diese Identität allerdings noch spezifizieren, mithin weitverbreitete Praktiken, Werte etc. beschreiben.19 Freilich, im Gegensatz etwa zur Nation ist diese Gemeinschaft als solche schwerlich ein Objekt der kollektiven Identifikation. Anders als die Nation, die von ihren Mitgliedern als „Ding", als gemeinsame Angelegenheit, wahrgenommen wird, fällt sie zusammen mit spezifischen Praktiken, mit einer Struktur und einer Organisation des Wettbewerbs. Dennoch stiftet sie individuelle Identitäten, indem sie einzelnen Akteuren eine Position verschafft, von der aus sie kalkulieren und Entscheidungen treffen können. Und sie ist mehr als die Summe dieser Akteure. Sie bildet den Horizont für die Entscheidungen ihrer Mitglieder, auch wenn sich diese nicht mit ihr als Gemeinschaft identifizieren. Diese Identifikation der Gemeinschaft als Gemeinschaft wird erst dann notwendig, wenn Konflikte zu lösen sind. Wenn nun ein Schiedsgericht schwierige Fälle zu lösen hat, wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben, als die Gemeinschaft dadurch zu personifizieren, dass es ihr den „Wunsch", sich selbst zu erhalten bzw. sich selbst zu reproduzieren, unterstellt. Die empirischen Wissenschaften werden um eine solche Personifikation herumkommen. Sie können sich damit begnügen, von „Systemen" zu sprechen und diesen Systemen vielleicht eine Tendenζ zur Selbstreproduktion oder Selbststabilisierung zu attestieren. Juristinnen können das nicht. Sie müssen aus einer etwaigen Tendenz zur Selbstreproduktion einen Auftrag ableiten, einen Auftrag, den das System, für das sie arbeiten, erteilt. Es wird, mit anderen Worten, notwendig, Normen auf eine Weise interpretieren, die es der Gemeinschaft erlaubt, sich möglichst weitgehend treu zu bleiben. Nur durch diese Personifikation

19

Allerdings gibt es keine generische Identität ohne spezifische. Und mit einer radikalen Änderung der spezifischen Identität, der üblichen Praktiken und Werte, kann sich auch die generische Identität verändern.

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wird es möglich, Normen Sinn zuzuschreiben. Ohne Riickbezug auf die Gemeinschaft, hingen die Normen in der Luft. E s wäre nicht einmal klar, weshalb man sie überhaupt anwenden sollte. Etwa nur, weil die Parteien das gewünscht haben? Aber warum sollen die Wünsche der Parteien verbindlich sein? Warum sollten Schiedsrichter nicht nach eigenen Gutdünken entscheiden können? Weil „die Praxis", also die Gemeinschaft, der die Schiedsrichter verpflichtet sind, das nicht will. Dworkin geht jedoch einen anderen Weg und hält die Ausrichtung des interpretativen Unternehmens an einer Intention für unangemessen, wenn es eine soziale Praxis zu interpretieren gilt. In dieser Auffassung liegt, wie mir scheint, ein wesentlicher Grund für seine Skepsis gegenüber Zielsetzungsargumenten.

1.2.3 Divorkins Verabschiedung des „Intentionalismus" Dworkins Verhältnis zu dem hier beschriebenen und vertretenen „Intentionalismus" ist ambivalent. Diese Ambivalenz offenbart sich in einer Ablehnung der Vorstellung, das rechtsanwendende Organ repräsentiere im Akt der Interpretation den Gesetzgeber, bei gleichzeitiger Betonung der Konstruktivität richterlicher Arbeit. Richter und Richterinnen dürfen sich zwar nach Dworkin auch in schwierigen Fällen nicht als Rechtsetzer gebärden, sind aber dennoch dazu angehalten, konstruktiv zu verfahren, insofern es gilt, die entscheidenden Prinzipien zu bestimmen und anzuwenden. Es dürfe nur auf der Grundlage von Rechten entschieden werden. Rechten selbst komme indes nur ein „Schwellengewicht" gegenüber kollektiven Zielen zu. 20 Offenbar hat sich also auch Dworkins übermenschlicher Richter Herkules mit kollektiven Zielen auseinanderzusetzen. Zumindest muss er deren Bedeutung beurteilen, um das Gewicht entgegenstehender Rechte richtig einschätzen zu können. Wie kommt es nun zu dieser Ambivalenz? Dworkin unterscheidet zwei Arten der Interpretation (freilich um gleich darauf festzustellen, dass die eine wahrscheinlich besser als ein Spezialfall der anderen zu betrachten sei): konversationeile und konstruktive Interpretation: People interpret in many different contexts .... T h e m o s t familiar occasion o f interpretation ... is conversation. We interpret the sounds or marks another person makes in order to decide what he has said. So-called scientific interpretation is another context: we say that a scientist first collects data

211

Dworkin 1984.

56

Interpretation und Zielannahmen

and then interprets them. Artistic interpretation is yet another: critics interpret poems and plays and paintings in order to defend some view of their meaning or view or point. The form of interpretation we are studying - the interpretation of a social practice - is like artistic interpretation in this way: both aim to interpret something created by people as an entity distinct from them. Rather than what people say, as in conversational interpretation, or events not created by people, as in scientific interpretation.21 Die juristische Interpretation sei als Interpretation einer sozialen Praxis der ästhetischen Interpretation ähnlich und hebe sich durch ihren konstruktiven Charakter von der konversationellen Interpretation ab. Denn bei ihr gehe es nicht darum, die Intention eines konkreten Gegenübers zu ermitteln. Vielmehr komme es die Intention des Interpreten an: Interpretation of works of art and social practices ... is indeed essentially concerned with purpose not cause. But the purposes in play are not (fundamentally) those of some author but of the interpreter.22 Der Interpret unterstelle einem Interpretandum erst einen bestimmten Zweck. Er sei bestrebt, das Interpretandum im bestmöglichen Licht seines Genres darzustellen. Ahnliches gelte allerdings auch fiir die konversationelle Interpretation. Insofern dem Interpreten der Äußerungen eines anderen nichts anderes übrig bleibe, als von eigenen Vorannahmen auszugehen, könnte man die konstruktive Interpretation als allgemeinere Interpretationskonzeption verstehen.23 Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit die Interpretation einer Praxis auf die Rekonstruktion einer Intention abzielen kann. Um wessen Intention soll es sich handeln? Wohl nicht um die des Interpreten: So bleiben nach Dworkin dem Intentionalisten nur mehr zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte es um die Intentionen der an der Praxis BeteiligDworkin 1986, 50. Ebd., 52. 21 Ebd., 53. Dagegen wenden sich Fish 1989c und Knapp 1991. Für eine Replik auf Letzteren siehe Dworkin 1991a. Fish und Knapp lassen nur die konversadonelle Interpretation gelten. Zumindest Fish betont aber selbst immer wieder den politischen, mithin wohl konstruktiven Charakter der Interpretation, insbesondere der juristischen. Was die Interpretation von Rechtsnormen angeht, so scheint mir jedenfalls (genauso wie Dworkin) die Annahme, es gelte, die Intentionen eines (wenn auch in der Vergangenheit) präsenten Autors aufzudecken, reichlich unangemessen. Und wenn sich Fishs Kritik nur auf die Tatsache bezieht, dass Dworkin bewusste Konstruktion vorschlägt, dann könnte man erwidern: Man kann ruhig um die Konstruktivität seiner Interpretation wissen, dadurch ändert sich nichts, auch nicht an den Beschränkungen, denen man sich immer schon unterworfen hat, wenn man in einer Rechtsgemeinschaft mit Argumenten reüssieren will. Dabei handelt es sich um ein Argument, wie es auch Fish immer wieder gerne gebraucht. 21

22

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Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit die Interpretation einer Praxis auf die Rekonstruktion einer Intention abzielen kann. Um wessen Intention soll es sich handeln? Wohl nicht um die des Interpreten. So bleiben nach Dworkin dem Intentionalisten nur mehr zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte es um die Intentionen der an der Praxis Beteiligten bzw. (wenn der Interpret selbst daran beteiligt ist) um die Intentionen der anderen Beteiligten gehen; zum anderen könnte die Interpretation auf eine aktuelle Kollektivintention abzielen. Beides hält Dworkin für falsch. Auf die Intentionen der einzelnen an einer Praxis Beteiligten könne es nicht ankommen, weil a social practice creates and assumes a crucial distinction between interpreting the acts and thoughts o f participants one by one, in that way, and interpreting the practice itself, that is, interpreting what they do collectively. It assumes that distinction because the claims and arguments participants make, licensed and encouraged by the practice, are about what it means, not what they mean. 24

Das klingt plausibel. Etwas weniger plausibel erscheint dagegen Dworkins Einwand gegen die Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Kollektivintention, die es lediglich aufzudecken gilt. Problematisch dabei ist weniger die Skepsis gegenüber einer Ontologie, die eine Art „Volksgeist" voraussetzen würde, als vielmehr das konkrete Gegenargument: Mit einer solchen Vorstellung falle man wieder zurück zur konversationellen Interpretation. Wenn man etwa die Praxis der Ehrerbietung („courtesy") einer Gemeinschaft interpretiere, versuche man eben nicht zu entdecken, was irgendeine Person denkt: So even if we assume that the community is a distinct person with opinions and convictions o f its own, a group consciousness of some sort, that assumption only adds to the story a further person whose opinions an interpreter must judge and contest, not simply discover and report. He must still distinguish, that is, between the opinion the group consciousness has about what courtesy requires ... and what he, the interpreter, thinks courtesy really requires.25

Dieses Argument stützt jedoch nicht Dworkins Interpretaüonsbegriff, es leitet sich vielmehr aus ihm ab. Wer also nichts von konstruktiver Interpretation wissen will, der wird Dworkin auch hier nicht folgen. ändert sich nichts, auch nicht an den Beschränkungen, denen man sich immer schon unterworfen hat, wenn man in einer Rechtsgemeinschaft mit Argumenten reüssieren will. Dabei handelt es sich um ein Argument, wie es auch Fish immer wieder geme gebraucht. 24

Dworkin 1986, 63 (Hervorhebungen im Original).

25

Ebd., 65.

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Worauf ich jedoch hinaus will, ist, dass Dworkin mit seinem Konstruktivismus durchaus richtig liegt, dass dieser Konstruktivismus aber die Konstruktion eines Subjekts mit Intentionen inkludiert. Bei Dworkin hingegen ist in der Folge nicht mehr von Intentionen die Rede. Jetzt gibt es nur noch die soziale Praxis, deren Bedeutung das, was die Beteiligten denken, transzendieren soll. Bleiben wir bei dem Beispiel einer Praxis der Ehrerbietung. Eine Zeit lang kann sich diese Praxis reproduzieren, ohne dass es aufwendiger Interpretationen bedarf. Doch irgendwann einmal wird zweifelhaft, wer genau wann genau fur wen genau den Hut zum Gruß zu lüpfen hat. Dworkin nimmt nun Folgendes an: Die Gemeinschaft beauftragt einen Philosophen, die wahre Bedeutung der Praxis zu ermitteln, auf dass diese konsistent weitergeführt werden kann.26 Der Philosoph soll eine abstrakte Theorie der Ehrerbietung entwickeln, die einen begrifflichen Background für die alltäglichen Kontroversen darstellt. Da der Philosoph als Interpret die Binnenperspektive eines an der Praxis Beteiligten einnehmen muss, kann er nach Dworkin aber nicht so neutral bleiben, wie es die Gemeinschaft gerne hätte. Daher reformuliert sie den Auftrag: Dei Philosoph soll nun herausfinden, was die Essen% einer Praxis der Ehrerbietung ist. Doch die Antwort auf diese Frage sei notwendigerweise eine negative (Dworkin beruft sich hier auf Wittgensteins Überlegungen zur Familienähnlichkeit): Es gebe keine Essenz. Zwar weise die Praxis über ein gewisses Maß an Kontinuität auf, aber es lasse sich kein Bedeutungselement ausmachen, das zu allen Zeiten vorhanden war. Mit der Praxis verhalte es sich wie mit einem Seil, welches aus lauter Strängen besteht, von denen sich keiner vom Anfang bis zum Ende durchzieht. Dabei hätte es Dworkin belassen sollen. Er hätte seinen Philosophen in etwa Folgendes sagen lassen sollen: „Alles, was ich tun kann, ist, euch eine subtile Konzeption unserer Praxis vorzulegen. Subtil wird sie deshalb sein, weil ich mir hauptberuflich über Fragen wie diese den Kopf zerbreche und mich gut in Geschichte, Gesellschaftstheorie und Ethik auskenne. Aber da meiner Konzeption vermutlich nicht alle Kolleginnen und Kollegen zustimmen werden, bleibt die Entscheidung letztlich bei euch. Ihr müsst euch für eine Konzeption entscheiden, u.U. auch für eine, die nicht von einem Philosophen stammt. Als Teil von euch habe ich selbst auch nicht mehr als eine Stimme." Stattdessen macht Dworkin eine Kehrtwendung. Der Philosoph könne seiner Auftraggeberin auch etwas Positives mitteilen und ihr ein Bild zeichnen, in dem ihre Praxis K

Ebd., 68 ff.

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more concrete refinements or subinterpretations of these abstract propositions, about the branches of the tree.27 Und so könne der Philosoph z.B. sagen, im Wesentlichen gehe es um Respekt. Was das aber bedeutet, sei umstritten. Dann träten eben verschiedene Konzeptionen auf den Plan, um diesen Begriff zu bestimmen. Diese Konflikte könne der Philosoph nachzeichnen und der Gemeinschaft auf diese Weise ein besseres Verständnis ihrer Kontroversen vermitteln. Dworkin unterscheidet hier zwischen Konzept und Konzeption: The contrast between concept and conception is ... a contrast between different levels of abstraction at which the interpretation of the practice can be studied. At the first level agreement collects around discrete ideas that are uncontroversially employed in all interpretations; at the second the controversy latent in this abstraction is identified and taken up.28 Dagegen drängen sich jedoch zwei Einwände auf. (1) Wenn der Philosoph auf das verweist, was die meisten an der Praxis Beteiligten denken, auf einen Konsens, tut er dann nicht genau das, was er nach Dworkin nicht machen sollte, nämlich die Bedeutung der Praxis von den Intentionen der Beteiligten ableiten? (2) Wenn die Einheit der Praxis, wie Dworkin zuvor festgestellt hat, etwas Unbestimmtes ist, was soviel bedeutet wie, dass sich die Praxis nur als Ensemble von Elementen darstellt, die eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen, wie ist es dann möglich, doch noch einen Kern zu erkennen? Tatsächlich erscheint schon die erste Feststellung des Philosophen, dass es immer um Respekt gehe, als eine nicht ganz neutrale, sondern als eine interpretative Feststellung, die auf bestimmten Vorannahmen beruht. Mit anderen Worten: Das Konzept der Ehrerbietung ist entweder leer oder immer schon mit einem partikularen Rest einer Konzeption kontaminiert. Wenn mit dem Konzept tatsächlich eine „discrete idea" gemeint ist, dann wohl eher Letzteres. Der Konsens kann nicht für die Wahrheit einer Bedeutungstheorie bürgen. Schließlich können ja alle (insbesondere die Mehrheit) falsch liegen und die Bedeutung ihrer Praxis verfehlen.

27 M

Ebd., 70. Ebd., 71.

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1.2.4 Kollektive Intentionen Wie es scheint, gelangen wir nur auf einem Wege zur Bedeutung der Praxis und zu den Ressourcen, die wir benötigen, um die Praxis konsistent fortzuführen: Wir müssen eine Konzeption der Praxis entwickeln und dabei den gemeinschaftlichen Kontext, in dem diese Praxis steht, mitberücksichtigen. Anders gesagt: Wir müssen uns ein Bild von der Gemeinschaft machen, in der wir leben. Dazu dürfen wir nicht völlig von der Geschichte unserer Gemeinschaft abstrahieren. Ansonsten wäre nicht mehr klar, dass es um unsere Gemeinschaft geht. Aber dieses Bild wird keine reine Deskription sein, sondern auch normative Elemente enthalten, mithin eine Antwort auf die Frage geben: Wie soll unsere Gemeinschaft in Zukunft beschaffen sein? Dass ein derartiges Bild noch eine Interpretation darstellt, die mehr oder weniger angemessen sein kann, und kein bloßer Entwurf für die Zukunft, ergibt sich aus der Notwendigkeit, an die Vergangenheit anzuschließen, und aus der VorausSetzung eines Gesetzgebers, der für die Gemeinschaft das Beste will, wozu auch gehört, dass sie sich treu bleiben und ihre Identität so weit wie möglich bewahren kann. Diese Voraus-Setzung ist natürlich letztlich metaphysisch belastet25, und wollte man die Metaphysik dahinter ausbuchstabieren, würde sie einem möglicherweise gar nicht mehr vertraut, sondern reichlich seltsam vorkommen. (Mit Stanley Cavell könnte man hier von der „Unheimlichkeit des Gewöhnlichen" sprechen.) Aber wir können darauf auch verzichten und uns stattdessen an die Sozialpsychologie bzw. die Psychoanalyse halten. Man denke nur an den Begriff des „verallgemeinerten Anderen", wie ihn George Herbert Mead, oder den Begriff des „großen Anderen", wie ihn Jacques Lacan entwickelt hat.30 Halten wir uns an den besser eingeführten Mead. Mead nimmt, kurz gesagt an, dass ein Individuum nur insoweit über Identität verfügt, als es sich einer Gemeinschaft zurechnen kann. Dies wiederum bedinge, dass die Haltungen der andeDenkbar wäre auch eine ganz andere Ontologie, etwa eine radikal atomistische, die so etwas wie die Bedeutung einer sozialen Praxis gar nicht gelten lässt, ja nicht einmal in der Lage ist, eine Praxis als solche zu identifizieren - eine soziale Ontologie, die nur Individuen und ihre je speziellen Motive, Wünsche und Bedürfnisse anerkennt. Dann allerdings müsste man sich nach anderen Wegen der Konfliktlösung umsehen. Ein Diskurs um die richtige Interpretation einer gemeinsamen Praxis käme nicht mehr infrage. 10 Zu einigen Parallelen zwischen diesen beiden Denkern, von denen der Letztere oft — und vermutlich völlig zu Unrecht — als anti-aufklärerischer Obskurantist abgetan wird, siehe Dews 1995, insbesondere 490 ff. 29

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ren Gemeinschaftsmitglieder generalisiert werden können. Ergebnis einer solchen Generalisierung sei der „verallgemeinerte Andere". Der verallgemeinerte Andere aber sei, wenn ich Mead richtig verstehe, nicht einfach die Summe der Haltungen der einzelnen Mitglieder. Dean dann verfugten sie ja schon vor aller Vergemeinschaftung über eine Identität. Der verallgemeinerte Andere ist bei Mead, ähnlich wie Lacans „großer Anderer", eine Voraussetzung für die (soziale) Identität des Individuums. Mead exemplifiziert dies am Fall eines Baseballspielers: Jede seiner Handlungen wird von Annahmen über die voraussichtlichen Handlungen der anderen Spieler bestimmt. Sein Tun und Lassen wird durch den Umstand kontrolliert, dass er gleichzeitig auch jedes andere Mitglied der Mannschaft ist, zumindest insoweit, als diese Haltungen seine eigenen spezifischen Haltungen beeinflussen. Wir stoßen somit auf ein „Anderes", das eine Organisation der Haltungen all jener Personen ist, die in den gleichen Prozess eingeschaltet sind.31 Worauf es mir hier ankommt, ist der Hinweis auf die Organisation der Haltungen aller anderen Mitspieler. Es sind nicht beliebige aktuelle Haltungen, die den Ausschlag geben, sondern es sind Annahmen über eine bestimmte Organisation, mithin eine gewisse Einheit, von Haltungen. Mit den Annahmen über die Organisation der Haltungen anderer, kurz: mit dem verallgemeinerten Anderen, kommt die Gemeinschaft als Ganze (und nicht bloß als Ansammlung von Individuen) ins Spiel. Solange alle denselben verallgemeinerten Anderen unterstellen, gibt es kein Problem. Wenn aber Dissens entsteht, dann bleibt, wie mir scheint, nichts anderes übrig, als den verallgemeinerten Anderen, d.h. die Gemeinschaft als solche, zu thematisieren. Mit einem Rekurs auf das, was die einzelnen Mitglieder oder eine Mehrheit von ihnen denkt, wird es nicht getan sein. Der verallgemeinerte Andere ist aus der Perspektive jedes Einzelnen mehr als die Summe der Haltungen, deren Generalisierung zum verallgemeinerten Anderen führt. Ginge er in der Summe der Einzelhaltungen auf, könnte man nicht mehr unterscheiden zwischen Haltungen, die mit den gemeinschaftlichen Standards kompatibel sind, und solchen, die es nicht sind. Man könnte aber auch bei der Philosophie bleiben und sich auf Searles Ausführungen zur „kollektiven Intentionalität" stützen. Nach Searle lässt sich kollektive Intentionalität, die soziale Tatsachen (wie etwa das Recht) erst begründet, nicht resdos auf individuelle Intentionalität

" Mead 1973, 196.

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Interpretation und Zielannahmen

zurückfuhren. 32 So wird immer wieder vorgeschlagen, die Intentionen, die wir haben, auf die Intentionen in der ersten Person Singular aufzuteilen. Wir haben eine Intention I, wenn jeder von uns I hat und darüber hinaus noch glaubt, dass der Andere ebenfalls I hat und glaubt, dass ich I habe und glaube, dass er I hat und glaubt, dass ... etc. Searle hält diesen Vorschlag, kollektive Intentionalität als Ausdruck individueller Intentionalität und wechselseitiger Uberzeugung zu betrachten, für „konfus" und bietet eine Alternative an: Nehmen wir einfach die kollektive Intentionalität in meinem Kopf als nicht weiter zerlegbaren Grundbaustein. Sie ist von der Form „Wir beabsichtigen", auch wenn sie in meinem Kopf ist. Und wenn es mir tatsächlich gelingt, mit dir zu kooperieren, dann ist das, was in deinem Kopf ist, auch von der Form „wir beabsichtigen". Das wird Folgen dafür haben, was ich glaube und was ich beabsichtige, weil sich meine individuelle Intentionalität von meiner kollektiven Intentionalität herleitet.33 Schließlich definiert Searle, wie er freilich zugibt: „etwas willkürlich", eine „gesellschaftliche Tatsache ... als eine Tatsache, bei der zwei oder mehr handelnde Wesen im Spiel sind, die kollektive Intentionalität haben". 34 Als Grund für die Probleme des Reduktionismus nennt er die Tatsache, dass sich beim Glauben, dass der Andere glaubt, dass man selbst glaubt, dass der Andere glaubt etc. „kein Gefühl der Kollektivität einstellt" 35 — ein Gefühl, wie es nicht nur Fußballspieler, Orchestermusiker und Streitparteien auf einer Cocktailparty auszeichnet, sondern auch jene, die sich an einer juristischen Praxis beteiligen, und sei es nur als regelbefolgende Laien. Insofern diese nämlich wissen, dass es sich bei ihrer Praxis um eine gemeinsame Praxis und nicht bloß um eine zufällige Parallelität individueller Praktiken handelt. 36 Ich werde später (Abschnitt 1.6.1) noch einmal auf das Problem der Intentionalität, genauer: auf die Rationalität dieser kollektiven Intention, zurückkommen. Als Resümee wollen wir einmal festhalten: An der Konstruktivität juristischer Interpretation besteht kein Zweifel. Das verträgt sich jedoch

12 Siehe Searle 1997, 34 ff.; 2001, 141 ff. " Searle 2001,143. 34 Ebd., 145. -w Searle 1997, 35. 16 Für eine weitere Verteidigung des Begnffs der kollektiven Intention siehe Lagerspetz 2001, 379 ff. Allerdings geht es Lagerspetz letzten Endes um die Bindung der juristischen Praxis an eine i'orgängigt gesetzgeberische Intention und nicht um die Notwendigkeit einer (Re-)Konstruktion dieser Intention, welche nicht unbedingt zusammenfallt mit der Entschlüsselung einer historischen Intention.

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durchaus mit der Annahme, dass es um Intentionen gehe. Es ist die Intention eines Gesetzgebers, die es zu konstruieren gilt, nicht unbedingt jene der am Gesetzgebungsprozess Beteiligten. Dabei beginnt man nicht bei Null, sondern bei jenen Zeichen, die wir (ebenfalls interpretativ) dem Recht, mithin dem Gesetzgeber, zuordnen. Die Konsequenzen dieser Auffassung unterscheiden sich freilich nicht gravierend von Dworkins Vorschlägen. Der einzige, jedoch entscheidende, Unterschied besteht darin, dass sie Policy-Argumente nicht a priori als illegitim erscheinen lässt. Das war auch der Zweck dieser Ausführungen: nämlich zu zeigen, dass nicht schon das Konzept der juristischen Interpretation gegen eine Zielorientierung spricht. Und soweit es um die Auslegung von Gesetzen geht, gesteht Dworkin dies, in einer etwas unerwarteten Kehrtwendung, auch zu. Ich gehe lediglich einen Schritt weiter und behaupte, dass kollektive Intentionen auch dann im Spiel sind, wenn eine Judikatur interpretiert wird. Dworkins eigentliches Argument gegen die Arbeit mit Zielsetzungen, nämlich seine These der (vorgängigen) Rechte, ist damit aber noch nicht erledigt. Auf das Verhältnis von Rechten und Zielen werde ich im dritten Teil dieser Arbeit etwas näher eingehen. Dennis Patterson hingegen versucht, einen gänzlich anderen Weg zu beschreiten, und leugnet überhaupt die essenzielle Interpretativität der juristischen Praxis. Nicht alle juristische Erkenntnis sei das Ergebnis einer Interpretation. Für gewöhnlich gehe es bloß um die Anwendung klarer Methodenregeln. Doch mit dieser Auffassung handelt man sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ebenfalls einige Probleme ein.

1.3 Juristische Praxis als geschlossene Veranstaltung? Wii haben oben auf eine Paradoxie des Rechts hingewiesen und gemeint, der Gesetzgeber und seine Intentionen würden, indem sie vorausgesetzt werden, eben immer auch gesetzt bzw. konstruiert. Aber kann dann die juristische Arbeit überhaupt noch den Anspruch aufrechterhalten, wahre (oder objektiv richtige) Aussagen über das Recht zu produzieren? Zielt Interpretation auf Wahrheit? Oder sollten Juristen besser auf Wahrheitsanspriiche verzichten? Wie schon die Themen der vorangegangenen Abschnitte, so würde auch dieses eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung verdienen, als sie mir hier möglich ist. Angesichts dessen, was noch vor uns liegt, werde ich mich aber wieder möglichst kurz fassen. Bevor ich zu zeigen versuche, wie Objektivitätsansprüche und Interpretation zusammenhängen könnten, möchte ich mich etwas näher mit einer Theorie befassen, für die alles, was mehr sein will als eine regelgeleitete und wirkungsmächtige Argumentation im Rahmen eines mehr oder weniger klar definierten Kontexts, die Pointe der juristischen Praxis verfehlt. Recht erscheint darin als ein Unternehmen, das sich immer schon selbst reproduziert und legitimiert. Wenn die hier vertretene These, wonach die Reproduktion des Rechtssystems letzten Endes politisch erfolgt, mithin eine permanente Selbstüberschreitung der juristischen Praxis impliziert, richtig ist, dann kann etwas an dieser postmodernen Entzauberung nicht stimmen. Dass Wahrheit keine Eigenschaft juristischer Aussagen sei, weil es nichts gebe, was Aussagen über das Recht wahr macht, das ist die zentrale These von Dennis Patterson.1 Wir haben es hier insofern mit einem Fall von „Immanenzverdichtung" (Peter Strasser) zu tun, als angenommen wird, dass die etablierte Praxis auf nichts mehr verweist, was über sie hinaus geht. Man könnte bei Patterson also durchaus einen „Wittgenstein'schen Sprachspielpositivismus" feststellen.2 Doch wie sieht seine Argumentation im Einzelnen aus?3

Patterson 1996a; 1996b. Zum Begriff siehe Habermas 1985, 233 f. Für eine ähnliche Charakterisierung aller Theorien, die die Behauptung aufstellen, es gäbe nichts als unvereinbare Diskurse (darunter eben auch den juristischen) siehe Laclau 1997, 47 f. 1 Ich nehme Patterson, weil er den „praktologischen" Standpunkt besonders explizit formuliert und dabei sogar noch gegen notorische „anti-foundationalists" wie Fish argu1

2

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1.3.1 Modernes versus postmodernes Denken Patterson entwickelt sein Argument, indem er diverse traditionelle und in der Folge auch jüngere Rechtstheorien jeweils einer ausfuhrlichen Kritik unterzieht. Ich möchte auf diese größtenteils durchaus berechtigten Kritiken hier aber nicht näher eingehen. Nur so viel: Nach Auffassung Pattersons teilen alle diese Ansätze eine falsche Grundannahme, nämlich die Vorstellung, es gebe etwas, was juristische Aussagen wahr oder falsch macht - oder besser: juristische Aussagen könnten nur wahr oder falsch sein, wenn es etwas gibt, was sie wahr oder falsch macht. Als juristische Aussagen gelten Propositionen, die rechtliche Tatsachen beschreiben, etwa „§ 209 öStGB verstößt gegen den Gleichheitssatz und ist daher verfassungswidrig". 4 Mit solchen Propositionen, wie sie wohl typischerweise in Begründungen juristischer Entscheidungen zu finden sind, verhalte es sich jedoch (trotz ihres offenkundig deskriptiven Charakters) anders als mit empirischen Aussagen: Truth and falsity are not properties of legal propositions, nor are the forms of argument truth conditions for propositions of law. They are the means for showing that propositions of law are true or false.5

Offenbar hält auch Patterson juristische Propositionen für wahrheitsfähig. Man dürfe nur nicht annehmen, etwas mache juristische Aussagen wahr. Dass es zumindest nichts Bestimmtes gebe, was Sätze wahr machen kann, sagt übrigens auch Davidson.6 Aber nach Patterson hat Wahrheit auch nichts mit Bedeutung zu tun. Bedeutung hänge mit keinerlei Bedingungen zusammen. Sie sei ein Effekt gemeinsamer Regelanwendung: Nothing makes our legal utterances true. Truth in law is neither a property nor a relation. Truth is not a an explanatory useful concept. Likewise, mean-

mentiert. Die Charakterisierung seiner Theorie als „Proktologie" stammt von Alexander Somek (1994, 118 ff.). 4 Siehe die Beispiele bei Patterson 1996a, 3. Nebenbei: 2002 wurde diese Bestimmung, die männliche Homosexuelle gegenüber Heterosexuellen und lesbischen Frauen benachteilgt hatte, auch vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidng angesehen und aufgehoben (VfSlg. 16565). ' Ebd., 20. Mit Wahrheitsansprüchen empirischer Sätze hat Patterson dagegen keine besonderen Probleme. Siehe ebd., 3: „We are comfortable in saying that empirical claims (claims about some state of affairs in the world) are 'true'. But can the same be said of legal assertions?" " Davidson 1986c, 276.

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Interpretation und Zielannahmen ing is not to be explained as a matter o f conditions. O n e cannot say something meaningful in law without using the grammar of legal argument. 7

Patterson verweist, um seine Argumentation zu stützen, u.a. auch auf Gunther Teubner, der in einem Plädoyer für eine konstruktivistische Epistemologie des Rechts meint: In konstruktivistischer Sicht gibt es keine Möglichkeit, die epistemische Autorität des Rechts infrage zu stellen, weder durch die soziale Realitäten selbst noch durch Alltagswissen noch durch wissenschaftlich kontrollierte Beobachtungen. In einer solchen Perspektive wird verständlich, warum Recht ein „essentially self-validating discourse" ist, der sich als „largely impervious to serious challenge f r o m other knowledge fields" erweist. ... W e n n es keinen direkten kognitiven Zugang zur Wirklichkeit gibt, dann muss man sich mit der K o n k u r r e n z verschiedener Diskurse zufrieden geben, die unterschiedliche Realitätskonstruktionen liefern. 8

Patterson selbst bedient sich freilich nicht der systemtheoretisch-konstruktivistischen Terminologie Teubners. Dennoch bringt dieses Zitat seine Sicht der Dinge auf den Punkt. Mit Philip Bobbitt schlägt er anstatt aufwendiger Legitimationstheorien eine „modale Beschreibung" des Rechts vor. Eine solche Beschreibung sei, was sie sei, und gebe im Unterschied zu anderen Unternehmen auch nicht vor, zur juristischen Praxis etwas Wertvolles beizusteuern: (T)he essential task of jurisprudence is the accurate description o f o u r legal practices of argument. Theory is banished not because it is wrong, but because it is irrelevant. 9

Die juristische Praxis bedürfe keiner Legitimation, sie erhalte sich selbst, indem sie sich an grundlegenden methodologischen Vorgaben orientiere. Wenn bei einer Entscheidung diese Methodenregeln beachtet wurden, dann sei sie rechtens und legitim. Mehr gebe es nicht zu sagen. Grundlage all dessen ist Pattersons „postmoderne" Bedeutungstheorie. Nur diese Theorie gestattet es anzunehmen, der juristische Diskurs sei eine selbstgenügsame Veranstaltung ohne transzendentale „Verankerung". Die Pointe dieser Theorie scheint jedoch darin zu bestehen, keine Pointe zu haben. Eigentlich, so könnte man sagen, handelt es sich gar nicht um eine Theorie, insofern man darunter eine Erklärung 10 versteht, sondern, wie Patterson selbst zugibt, nur um ein alternatives Bild. Dieser 7 Patterson 1996a, 21. » Teubner 1990, 132 (Zitate getilgt). ' Patterson 1996a, 137.

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bescheidene Anspruch wiederum verdankt sich der Verabschiedung diverser Grundannahmen, Problemstellungen und Zielsetzungen „modernen Denkens". Modernes Denken ist nach Patterson durch drei Achsen gekennzeichnet: 11 Die erste Achse erstrecke sich vom Repräsentationalismus zum Emotivismus (Patterson spricht von „expressivism"). Während empirischen Aussagen die Funktion zugeschrieben werde, die Wirklichkeit abzubilden, würden ethische und ästhetische Urteile nur als Ausdruck subjektiver Präferenzen betrachtet. Auf der zweiten Achse seien die Optionen Skeptizismus und Letztbegründungsambitionen („foundationalism") angesiedelt. Die dritte Achse wiederum werde durch die Unterscheidung zwischen Individualismus und Kollektivismus konstituiert. In beiden Fällen setze die Analyse der sozialen Wirklichkeit bei den Akteuren und ihren Interessen und Intentionen an. Einmal sei es der Einzelmensch, das andere Mal eine Gemeinschaft (die Klasse, die Nation etc.), die dem Einzelmenschen zu einer Identität verhelfe. Postmodernes Denken dagegen vermeide diese Dichotomien. Es sei essenziell holistisch ausgerichtet. Demnach hingen alle Überzeugungen an anderen. Unter Berufung auf Quine stellt Patterson fest: [T]he whole idea of knowledge as a process of building from the simple to the complex, and the concomitant notion that knowledge is a matter of correspondence between word (concept) and world, had to be scrapped. ... The breakthrough was to see knowledge not as a matter of foundations - building up from bedrock - but a function of one's beeing able to move about a holistic web (be it a web of theory or intersubjective practice).12 Sprache repräsentiere nichts, sie konstituiere vielmehr die intelligible Wirklichkeit, sie sei das, in dem wir uns immer schon bewegen und das keinen Ausbruch in Richtung einer „wirklicheren" Wirklichkeit zulasse. Patterson postuliert also eine Hierarchie zwischen Bedeutung und Wahrheit. Die Wahrheit einer Aussage sei ein gänzlich immanentes „Vorkommnis" und gegenüber ihrer Bedeutung sekundär. Erst wenn man die Bedeutung einer Aussage verstanden hätte, könne man daran gehen, ihren Wahrheitsgehalt zu beurteilen. Die Kriterien dafür kämen aber immer aus einer partikularen Praxis. Es handle sich dabei um jene 10 Gerade im Fall des Rechts lässt sich Erklärung aber gar nicht einwandfrei von Legitimierung trennen. " Patterson 1996a, 150 ff. 12 Ebd., 158 f.

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methodischen Regeln, deren Befolgung zu wahren Aussagen führten, nicht weil ein bestimmtes Korrespondenzverhältnis vorliege, sondern weil eben die praxisimmanenten Standards gewahrt worden seien. Diese Standards gelte es zu erkennen, dann könne man bedeutungsvolle Aussagen produzieren: For the modernist, knowledge is knowledge of referring relations (the grasp of truth conditions). For the postmodernist, knowledge is an ability, manifested in linguistic practices. Understanding a linguistic practice, having the ability to say something true, is a learned ability.13

Bevor man die Wahrheit von Sätzen beurteilen kann, muss man demnach ihre Bedeutungen erlernen. Die daraus sich ergebende Beschreibung des juristischen Begründungsprozesses sieht in etwa folgendermaßen aus:14 Behauptungen, z.B. „§ 209 öStGB ist verfassungswidrig", müssten durch Gründe gestützt werden. Innerhalb dieser Gründe wird differenziert zwischen „ground" und „warrant". Unter „ground" versteht Patterson jene Tatsache, die den Anlass für eine Behauptung darstellt. In unserem Beispiel müsste die Angabe dieser Tatsache auf eine Präzisierung von § 209 ÖStGB hinauslaufen, also auf die weitere Feststellung: „§ 209 öStGB diskriminiert männliche Homosexuelle gegenüber Heterosexuellen und weiblichen Homosexuellen, indem er ein vom allgemeinen .Schutzalter' abweichendes höheres .Schutzalter' für männliche Homosexuelle fesdegt". Unter „warrant" wird jene Rechtfertigung verstanden, die den Konnex zwischen dem „ground" und der juristischen Behauptung herstellt, beispielsweise die Feststellung „Die österreichische Verfassung, nämlich der Gleichheitssatz, verbietet Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung". Als Rechtfertigung könnten jedoch nicht beliebige Gründe gelten, sondern nur solche, die sich mit den etablierten Methoden juristischen Denkens ermitteln lassen. „The forms of argument are culturally endorsed modes for the use of warrants. The forms of argument are the backings for warrants." 15 Patterson nennt vier solcher Argumentationsformen: „Textual, Doctrinal, Historical, and Prudential".16 Diese Methoden entsprechen grob den hierzulande gebräuchlichen: grammatischer, sys-

» Ebd., 170. 14 Ebd., 169 ff. 15 Ebd., 171 (Hervorhebung im Original). " Ebd.

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tematischer, historischer und objektiv-teleologischer Interpretation. Der Begriff der „prudentiellen" Interpretation ist möglicherweise jedoch etwas weiter als jener der teleologischen Interpretation, je nachdem, was man alles als teleologische Interpretation gelten lässt. Jedenfalls gehe es dabei um Konsequenzen: „Prudential arguments are, in effect, arguments of policy: the pursuit of collective goals."17 Doch nun stellt sich sofort die Frage, wie ein Konflikt zwischen den Argumentationsformen zu lösen wäre. Was, wenn der historische Verfassungsgesetzgeber noch von einem Unwert homosexueller Aktivitäten ausgegangen ist, während heute einiges dafür spricht, dass es sich bei dieser Auffassung um ein kaum plausibel begründbares Vorurteil handelt? Damit werden die Probleme von Pattersons Theorie manifest.

1.3.2 Gebrauch ist nicht gleich Gebrauch Patterson sieht natürlich, dass Methodenregeln bisweilen kollidieren, und natürlich hat er auch einen Lösungsvorschlag parat, sogar einen, der einleuchtet (ähnlich werde ich selbst etwas später argumentieren). Doch dieser Lösungsvorschlag steht im Widerspruch zu dem Bild, das er zuvor von der juristischen Praxis gezeichnet hat: In choosing between different interpretations, we favor those that clash least with everything else we take to be true.... In law, we choose the proposition that best hangs together with everything else we take to be true. 18

Damit hat Patterson sicher Recht, auch wenn Kohärenz, wie wir noch sehen werden, keine Wahrheit garantiert. Aber ebenso klar ist, dass es dann nicht mehr allein die Methoden sind, deren Anwendung zu wahren Urteilen führt. Denn wenn alle unsere Uberzeugungen irgendwie zusammenhängen, ist es unmöglich, die juristischen Überzeugungen fein säuberlich von anderen, etwa moralischen oder politischen Theorien, zu trennen. Offenkundig riskiert man mit einem derartigen Rekurs, dass ein Argument den Konflikt löst, das nicht immer schon zum Reservoir der juristisch einschlägigen Gründe gezählt hat - vielleicht sogar ein metaphysisches oder religiöses. Dass sich die Formulierung eines solchen Arguments ex post vermutlich unter die eine oder andere Methode subPatterson 2002, 29. '« Patterson 1996a, 172. 17

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sumieren lässt, ist lediglich eine Folge der Tatsache, dass sich neben den genannten juristischen Methoden kaum noch andere vorstellen lassen. Im Fall des Konflikts aber können sie nichts mehr kontrollieren. Patterson nimmt jedoch gleich eine Relativierung vor. Zum einen gehe es nicht um die Kohärenz aller Uberzeugungen, sondern nur um die Kohärenz juristischer Uberzeugungen. Zum anderen setze die Gültigkeit eines historischen Arguments keine Gründe voraus, welche die historische Interpretation transzendieren. Es müsse nur sichergestellt sein, dass die historischen Überzeugungen selbst wahr sind.19 Gleich darauf relativiert Patterson wieder diese Relativierung und lässt eine Weiterentwicklung der historischen Interpretation zu, nämlich in Richtung einer „dynamischen Interpretation".20 Aber das kann nur bedeuten, dass die Konvention, in diesem Fall die Regeln der historischen Interpretation, ihrerseits interpretationsbedürftig ist. Natürlich wird die Uberzeugungskraft einer Interpretation wieder davon abhängen, was wir sonst noch glauben. Der Punkt ist jedoch, dass sich für diese Interpretation keine klaren, nicht weiter interpretationsbedürftigen Regeln angeben lassen.21 Wenn es, wie Patterson meint, Kriterien dafür gibt, was als korrekte historische Interpretation gilt, dann handelt es sich um Kriterien, deren Vorabbestimmung uns in ähnliche Schwierigkeiten bringt wie der Versuch, Wahrheit gleichzeitig verständlich und nicht-trivial zu definieren. (Wir werden gleich darauf zurückkommen.) Auf den Punkt gebracht: Indem Patterson Bedeutungen von Bedingungen, insbesondere Wahrheitsbedingungen, entkoppelt, macht er sie zu etwas Primordialem und letztlich ziemlich Mysteriösem. Der ständige Verweis auf die „Praxis" („There is only practice and nothing more" 22 ) trägt in diesem Zusammenhang wenig zur Erhellung bei. Nicht dass nicht irgendeine Form von Praxis eine Rolle bei der Generierung und Stabilisierung von Bedeutungen spielen würde. Zu klären wäre jedoch, was „Praxis" in diesem Zusammenhang bedeutet23 und wie sich Bedeutungen genau konstituieren. Bedeutungen sind eben nicht immer schon da, so dass es nur der Anwendung bestimmter Regeln bedarf, um sie zu entdecken. Wie könnte man sonst die Tatsache erklären, dass wir biswei" Ebd., 174. Ebd., 178. 21 Siehe auch den Einwand Fishs gegen Hart (Fish 1989e, 511 f.). 22 Patterson 1996a, 142. 21 Zum Problem des schlichten Rekurses auf „die Praxis" Hurley 1998, ch. II. 6. 211

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len auch ziemlich unkonventionelle Äußerungen (sogar Malapropismen) verstehen und Bedeutungskonvenrionen sowie die Bedeutungsermittlungskonventionen sich ändern? Sobald man sich anschickt, auf derlei Fragen überzeugendere Antworten zu finden als Patterson, wird klar, dass „Sprachspiele" (auch das juristische) über nichts Bestimmtes verfügen, das ihre Einheit begründet, auch nicht irgendwelche Modalitäten der Argumentation. Pattersons wittgensteinianisch klingende Losung „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" 24 mag zwar einiges für sich haben. Worauf es ankommt, ist jedoch, dass Worte nicht bloß verwendet, sondern auch benötigt werden. Diese „Not" scheint für den Gebrauch und damit für die Bedeutung der Worte von größter Wichtigkeit zu sein. Sie bestimmt die Erfüllungsbedingungen für einen Begriff bzw. die Anwendungsbedingungen für eine fallentscheidende Regel. Natürlich werden Begriffe erst durch den Gebrauch von Wörtern zu Begriffen. Allerdings muss man hier wohl etwas präziser sein als Patterson. Dass der Inhalt von Begriffen von ihrem Gebrauch abhängt, kann nicht bedeuten, dass Begriffe ihren Inhalt verlieren, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. In diesem Fall würde der Sprachgebrauch zu einem solipsistischen Unternehmen, nicht eines Einzelindividuums, aber der Sprachgemeinschaft. Dass Wittgenstein so sehr auf dem Gebrauch als bedeutungskonstitutivem Faktum insistierte, hatte, so darf man vermuten, lediglich mit seiner wohlbegründeten Abneigung gegen die Vorstellung zu tun, Begriffe seien nicht mehr als ein Ausdruck privater Gedanken. Ihm ging es wohl weniger um den aktuellen Gebrauch, als um die Voraussetzung der Verständlichkeit für andere. Man gebraucht Begriffe erst dann, wenn man im Fall der Äußerung von Gedanken eine bestimmte Interpretation erwarten darf.25 Dem aktuellen Gebrauch der Wörter geht aber immer schon etwas voraus, das in ihre Bedeutung hineinreicht. So erfinden Juristen anlässlich neuartiger Fallkonstellationen nicht selten neue Begriffe. Um ein Beispiel aus dem österreichischen Privat24

Wittgenstein 1984b, 262 (§ 43).

25

Dass (der späte) Wittgenstein, der sein Hauptaugenmerk auf Konventionen und Regeln

gelegt hat, und der And-(Conventionalist Davidson, von dessen Theorie sich die Ausführungen in diesem ersten Teil stark inspirieren lassen, doch wesentlich mehr gemeinsam haben als bisweilen (wie es scheint auch von Patterson) angenommen wird, zeigt Hopkins 1999.

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recht zu nehmen: Muss es tatsächlich immer so sein, dass im Fall der Doppelveräußerung einer Wohnung derjenige Eigentümer wird, der zuerst um Einverleibung ins Grundbuch angesucht hat (§ 440 ABGB)? Irgendwann einmal war man mit dieser den klassischen Eigentumserwerbsregeln für Liegenschaften entsprechenden Lösung nicht mehr zufrieden. Man fragte sich, ob sich ein Wohnungsbesitzer, genauer: einer, der die gekaufte Wohnung bereits bezogen hat, nicht gegenüber dem Zweitkäufer behaupten können soll, der die Wohnung am „grünen Tisch" erstanden hat, dessen Eigentum aber zuerst ins Grundbuch einverleibt wurde. Ein Vorwurf lässt sich nämlich beiden machen: Der Erstkäufer hätte sich rechtzeitig um die Einverleibung ins Grundbuch bemühen müssen; der Zweitkäufer hätte, wäre er sorgfältig gewesen, die Wohnung vor Vertragsabschluss besichtigt. Schließlich wurde der Begriff des „besitzverstärkten Forderungsrechts" eingeführt, um den Vorrang der Erstkäuferinteressen begründen zu können. Verbindet sich demnach die Forderung des Erstkäufers mit dem Besitz der Wohnung, spricht die „Interessengerechtigkeit", so nimmt man an, für einen gegen den Zweitkäufer gerichteten Anspruch auf Übereignung der Wohnung. Entgegen der oben genannten tilu/us-modus-Regel muss sich in einem solchen Fall daher der Zweitkäufer mit Schadenersatzansprüchen gegen den bösgläubigen Verkäufer begnügen.26 Nun würde Patterson, wenn er die einschlägige Literatur (inkl. Judikatur) dazu lesen würde, vermutlich meinen, dass es sich dabei um ein Beispiel handle, das eher seine Position bestätigt. Denn die titulus-modusRegel, wie sie § 440 ABGB zugrunde liegt, wird nicht wirklich durchbrochen. Der Übereignungsanspruch des Erstkäufers wird als Schadenersatzanspruch betrachtet, um sich allzu gewagte Konstruktionen wie diejenige eines „außerbücherlichen Eigentums" zu ersparen. Doch die Tatsache, dass man sich schadenersatzrechtlichen Vokabulars bedient hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass erst ein zunächst moralisch identifiziertes Problem, ein Problem der „Sachgerechtigkeit"27, zum Gebrauch, d.h. zur nachvollziehbaren Verwendung des Ausdrucks „besitzverstärktes Forderungsrecht" führte. Die juristische Praxis ging damit Siehe Schilcher/Holzer 1974. So stellen Schilcher/Holzer schon zu Beginn ihrer Abhandlung fest, dass weder die Anwendung einschlägiger juristische Kategorien wie „Vertrauensgrundsatz" und „Eintragungsprinzip" allein noch die diversen Vermittlungsversuche zu völlig sachgerechten, „Härtefälle" ausschließenden Lösungen führen (ebd., 446). 24

27

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über sich selbst hinaus und ließ sich bei dei Konstruktion eines neuen Begriffs von einer nicht eindeutig rechtlichen Wirklichkeit, nämlich einem, wenn man so will, moralischen Unbehagen, leiten. Und wenn nach der Methode gefragt wird, derer man sich in der Folge bedient hat, so kann man nur antworten: „Man hat sich zwar mit etablierten Argumentationsmustern auseinandergesetzt, letztlich aber alle verworfen, zum Teil natürlich aus dogmatischen Gründen, zum Teil aber auch aus pragmatischen oder moralischen. Und man ist keiner bestimmten Methodenregel gefolgt, jedenfalls keiner spezifisch juristischen, es ging eben um

Sachgerechtigkeit. ' ' Die Einheit des Systems ist ein Problem, dessen man sich nicht dadurch entledigen kann, dass man Praktiken beschreibt. Nach Somek hat die Anweisung an die Theorie, ihre Legitimierungsambitionen aufzugeben und sich auf Beschreibung zu beschränken, mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens beschwört sie eine vorreflexive Einheit der juristischen Sprachspiele unter Berufung auf die konstitutive Funktion von Praktiken. Die Synthesis des intersubjektiv Erfahrbaren, die durch sie gewährleistet wird, lässt sich allerdings einer Bestimmung nicht zugänglich machen. ... Die Beschreibung dessen, was wir tun, deckt auf, wie unbestimmt ist, was wir tun. Zweitens hätte die Beschreibung, wenn sie, wie sie vorgibt, immanent verfährt, sich in demselben Praxisbereich zu bewegen, den sie für sich selbst als Horizont voraussetzt. Die propositionale Vergegenwärtigung von Spielzügen wäre damit dazu verurteilt, das in der Beschreibung Nicht-Vergegenwärtigte immer weiter hinauszuschieben, während sie es in Anspruch nähme. Da aber nur durch die Einheit der Praxis das Gelingen von bestimmten Tätigkeiten und Deutungen garantiert sein könnte, diese Einheit sich aber wegen dieses unendlichen Aufschubs einer Erfassung entzöge, würde sie die Bestimmtheit von Tätigkeiten und Deutungen gleichzeitig auch verunmöglichen.28

Wenn das stimmt, müssen wir aber auch die sprachspieltranszendierende Dimension der juristischen Argumentation zur Kenntnis nehmen. Oder vielleicht besser: Der Blick auf etwas anderes als die etablierten Regeln gehört zum Sprachspiel dazu. Das Sprachspiel reproduziert sich, indem es sich immer wieder selbst transzendiert. Es lassen sich keine Regeln angeben, die so etwas wie reine Immanenz gewährleisten. Regeln, und seien es die elementarsten Argumentationsregeln, bedürfen nämlich selbst einer Interpretation. Und das ist eine zentrale Lektion Wittgen-

24

Somek 1 9 9 4 , 1 1 8 f.

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steins, auf den sich Patterson ansonsten stützt: Keine Regel vermag ihre eigene Anwendung zu regulieren. In diesem Sinne meint Drucilla Cornell: „Law ... cannot be reduced to a self-generated and self-validating set of cognitive norms. Interpretation always takes us beyond a mere appeal to the status quo." 29 Doch die Frage bleibt: Lassen sich im Recht noch Objektivitätsanspriiche aufrechterhalten angesichts der Schwierigkeiten, anzugeben, was wahre juristische Aussagen auszeichnet — Schwierigkeiten, die daher rühren, dass sich nicht genau angeben lässt, wo die Grenzen des Systems verlaufen? Denn klar ist, dass „Objektivitätsansprüche erheben" bedeutet die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen bzw. die Unterscheidung zwischen dem, was wahr ist, und dem, was bloß für wahr gehalten wird, zu gebrauchen.

Cornell 1992, 102 (Hervorhebung im Original). Im Übrigen räumt Patterson am Ende seiner Abhandlung über Recht und Wahrheit selbst ein, dass Recht kein „self-contained enterprise", mithin als von sonstigen sozialen Praktiken isoliert zu sehen ist. Seine Grammatik sei nur nicht auf die Grammatik einer anderen Disziplin reduzierbar (Patterson 1996a, 182). Das ist zweifellos richtig, aber damit räumt er eigentlich ein, dass die Frage, der seine ganze Arbeit gewidmet war (nämlich, was es bedeutet zu sagen, eine juristische Aussage sei wahr), irgendwie witzlos ist - eben weil sich der Wahrheitsbegriff jeder Definition entzieht. Darum soll es im Folgenden nun gehen. 29

1.4 Juristische Interpretation und Objektivität Ziel jeder Interpretation ist es, Intentionen aufzudecken. Damit der auch von Dworkin hervorgehobenen dynamisch-konstruktiven Dimension dieses Unternehmens Gerechtigkeit widerfährt, sollte man besser sagen: Ziel ist es, Intentionen zu rekonstruieren. Im Begriff der Rekonstruktion kommt nämlich beides zum Ausdruck: die Beschränkung des Interpreten und seine produktive Funktion. Interpreten werden dadurch zu juristischen Interpreten, dass sie mit einschlägigem Material arbeiten. Bisweilen werden sie genötigt sein, auf philosophische, soziologische oder ökonomische Texte zurückzugreifen1, etwa wenn sie überlegen, ob Quotierungen mit dem Gleichheitssatz vereinbar sind, oder wenn sie den normativen Gehalt einer lapidaren Aussage wie „Das Eigentum ist unverletzlich" (Art. 5 Satz 1 StGG) ergründen wollen. Eine Verbindung zur Vergangenheit des Rechtssystems (Gesetze, Präjudizien etc.) muss jedoch bestehen bleiben. Doch wie verträgt sich Konstruktion mit Wahrheitsansprüchen? Besser als man auf den ersten Blick meinen möchte. Sehen wir uns zunächst das Problem der Wahrheit empirischer Sätze an. Wenn sich nämlich zeigen lässt, dass sämtliche Wahrheitstheorien an grundlegenden Defekten leiden, ohne dass daraus die Notwendigkeit oder gar die Möglichkeit der Aufgabe des Wahrheitsbegriffs folgt, ja wenn umgekehrt deutlich gemacht werden kann, dass der Wahrheitsbegriff essenziell ist für das Erfassen von Bedeutungen, dann, so scheint es, gibt es keinen Grund, sich gerade im Recht hyperreflexiv zu gerieten und jede Aussage darüber mit dem Hinweis zu versehen, es handle sich nur um einen Vorschlag. Man könnte natürlich die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, von der Wahrheit juristischer Aussagen anstatt von ihrer Richtigkeit zu sprechen. Nun, vielleicht könnte man sich darauf einigen, das Prädikat „wahr" den auf das Recht referierenden Sätzen von Entscheidungsbegründungen vorzubehalten, nicht aber auf die Entscheidungen selbst (welche richtig oder falsch sein können) anzuwenden. Der Satz „§ 209 öStGB ist verfassungswidrig" wäre demnach, auch wenn er viel zu allgemein ist, um eine Aufhebung von § 209 vollständig zu begründen, wahr oder unwahr, die Aufhebung dagegen richtig oder falsch. Wie mir scheint, handelt es sich dabei jedoch um wenig mehr als eine 1 Typischenveise konstruieren Juristinnen nicht, indem sie Fälle unter Verweis auf große Werke der Weltliteratur oder die Bibel lösen.

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Frage der Terminologie. Was mich interessiert, ist vielmehr der Objektivitätsanspruch. Soll bzw. kann man darauf verzichten, zumal ja alles „Interpretationssache" ist? Meine an Davidson angelehnte Antwort wird lauten: Nein, denn der Preis dafür wäre das Verschwinden jeglicher Bedeutung. Wenn das undenkbar ist, dann ist auch die Aufgabe des Objektivitätsanspruchs undenkbar. Dass sich im Recht womöglich keine unumstrittenen und klaren Kriterien dafür finden lassen, wann der Objektivitätsanspruch eingelöst ist, ist kein Argument gegen ihn. Nicht einmal die Tatsache, dass wir Objektivität nicht zufriedenstellend definieren können. Wir erheben schließlich auch Wahrheitsansprüche für empirische Aussagen, ohne dass wir eine verständliche Wahrheitsdefinition parat haben. Anders gesagt: Auch diejenigen, die keine der gängigen Wahrheitsdefinitionen für nicht-trivial, verständlich und zutreffend halten, arbeiten mit dem Wahrheitsbegriff.

1.4.1 Probleme von Wahrheitsbegriffen

Wann ist also ein empirischer Satz wahr? Diese Frage ist natürlich zweideutig. Die Antwort darauf könnte nämlich eine Definition von Wahrheit oder die Angabe eines Kriteriums für Wahrheit sein.2 Nach Ansicht mancher Philosophen sollten die Frage nach einer Definition und die Frage nach einem Kriterium aber streng getrennt werden.3 Zumindest auf die erste Frage lautet die Antwort der Korrespondenztheorie: Wenn er der von ihm beschriebenen Wirklichkeit entspricht bzw. wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt.·1 Die geläufigen Versuche, das Korrespondenzverhältnis zu explizieren bleiben jedoch insofern einigermaßen mysteriös, als sie mit ihrerseits problematischen Begriffen wie z.B. der „logischen Form" (von Sachverhalten und Propositionen) operieren.5 Hinzu kommt, dass in Theorien, die auf ein Übereinstimmungs- oder

Für brauchbare Zusammenfassungen der Diskussion siehe Skirbekk 1996 und Smith 1995.

2

5

So etwa Russell 1996, 63 f.

Siehe etwa Wittgenstein 1984a, 16 (2.222). D e m späteren Wittgenstein zufolge zeugt eme Frage wie „Was ist Wahrheit?" natürlich nur mehr von einer Verwirrung, wie sie denjenigen befallt, der glaubt, sich räsonierend über alle Praxis (in Lebensformen eingebettete „Sprachspiele") erheben zu können. 4

5

Ebd. 15 f.

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Abbildungsverhältnis abstellen6, die Negation regelmäßig keinen Sinn ergibt. Der Ausdruck „kein Baum" im Satz „Das ist kein Baum" beispielsweise bezeichnet nichts, was sich abbilden ließe. Auch kann es von raum-zeitlich unbeschränkten Kausalzusammenhängen (Naturgesetzen) keine Bilder geben. Abgebildet werden können allenfalls individuelle Zusammenhänge. Wenn „Übereinstimmung" aber nicht Abbildung bedeutet, was bedeutet es dann? Manche vertreten überhaupt die Auffassung, dass es keiner weiteren Explikation des Korrespondenzverhältnisses bedarf, und beschränken sich auf eine bestimmte Funktion des Wahrheitsprädikats. Man erspare sich einfach, Aussagen zu wiederholen, indem man sagt, sie seien wahr. Auf diese Weise könne man beispielsweise unendliche Konjunktionen vermeiden. Anstatt zu sagen „Wenn der Papst meint, homosexuelle Aktivitäten seien im Schöpfungsplan nicht vorgesehen, dann sind homosexuelle Aktivitäten im Schöpfungsplan nicht vorgesehen, und wenn der Papst meint, die Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden, dann ist die Welt in sechs Tagen erschaffen worden, und wenn der Papst meint ...", könne ein bedingungslos papsttreuer Mensch einfach sagen „Was immer der Papst meint, ist wahr". Umgekehrt füge das Prädikat „ist wahr" einer Aussage nichts hinzu, sei also im Grunde überflüssig.7 Doch ob sich darin tatsächlich die Pointe des Wahrheitsprädikats erschöpft, ist keineswegs klar.8 Das „Killerargument" gegen die Korrespondenztheorie aber lautet, dass sie nur in ganz und gar trivialer Form verständlich ist: „Ein Satz S ist wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt — und zwar der ganzen Wirklichkeit." Wenn er mit einzelnen Tatsachen übereinstimmen soll, müsste man Tatsachen in der Welt eindeutig lokalisieren können. Und ' Ebd. 26 (4.01): „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken." 1 Siehe Ramsey 1927. 8 Siehe Tarski 1996,165 f. Tarskis semantische Wahrheitstheorie bleibt nahe an der Korrespondenztheorie, transformiert jedoch das Entsprechungsverhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit in ein Übersetzungsverhältnis zwischen Objektsprache und Metasprache, wenn auch nicht für natürliche Sprachen. Ansonsten scheint es auch nach dieser Auffassung nichts Nennenswertes über den Wahrheitsbegriff zu sagen zu geben. Davidson verwendet sie jedoch zur Konstruktion seiner Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen. Während Tarski den Begriff der Bedeutung Undefiniert voraussetzt, setzt er den Begriff der Wahrheit voraus, um den Prozess des Verstehens, der Rekonstruktion von Bedeutung zu explizieren.

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sogar Objekte lassen nur identifizieren, indem man sie in einen Bezugsrahmen stellt, der dann zu dem gehören müsste, womit der Satz korrespondiert. Wenn also wahren Sätzen irgendetwas korrespondiert, ist es, so der Einwand, letzten Endes die gesamte Welt. Damit würde aber die Korrespondenzbeziehung völlig uninteressant. Davidson bringt dieses schon bei C. I. Lewis zu findende Argument folgendermaßen auf den Punkt: The correct objection to correspondence theories is not, then, that they make truth something to which humans can never legitimately aspire; the real objection is rather that such theories fail to provide entities to which truth vehicles (whether we take these to be statements, sentences, or utterances) can be said to correspond.9 Ahnlich argumentiert Peter Strawson: Gewiss sagen wir, dass eine Aussage mit den Fakten korrespondiert (ihnen entspricht, sich aus ihnen ergibt, mit ihnen übereinstimmt), wenn wir meinen, dass sie wahr ist, wir sagen jedoch niemab, dass eine Aussage mit dem Ding, der Person etc., über die etwas ausgesagt wird, korrespondiert.10 Tatsachen wiederum sind nach Strawson keine Entitäten in der Welt. „Tatsachen sind das, was Aussagen (sofern sie wahr sind) aussagen; sie sind nicht das, worüber etwas ausgesagt wird." 11 Hinzu kommt, dass wir, wenn wir dennoch an der Korrespondenztheorie festhalten und uns auf die Suche nach einem Erkenntniskriterium begeben, Gefahr laufen, uns in den Fallstricken einer verhängnisvollen Prämisse zu verfangen. Diese Prämisse besteht in der Annahme eines Dualismus zwischen Welt und Sprache. Und wie Davidson gezeigt hat, führt sie geradewegs dorthin, wo nur wenige landen wollen: in den Skeptizismus bzw. über die Theorie der Begriffsschemata in den Relativismus. 12 Der Grund dafür liegt, grob gesagt, darin, dass die Annahme einer uninterpretierten Wirklichkeit, die durch davon unbeeindruckte Begriffe geordnet wird oder mit der die Begriffe übereinstimmen, unverständlich werden lässt, wie wir zu Begriffen gelangen. Bedeutungen müssten be-

' Davidson 2001b, 184. 10 Strawson 1996, 252 (Hervorhebung im Original). " Ebd., 253. 12 Siehe Davidson 1986c, 282.

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reits existieren, bevor wir mit Sätzen auf die Wirklichkeit referieren.13 Tatsächlich mutet es jedoch plausibler an, Bedeutungen an die Wirklichkeit zu koppeln, und zwar an die gemeinsame Wirklichkeit mindestens zweier miteinander kommunizierender Subjekte. Wer dagegen Bedeutungen von jeglichem Wirklichkeitsbezug befreit, muss auch die Möglichkeit inkommensurabler Begriffsschemata anerkennen, die Möglichkeit, dass es so etwas wie unübersetzbare Sprachen gibt. Wie erkennen wir aber, dass jemand über eine Sprache, Begriffe und Gedanken verfügt ohne die Voraussetzung einer gemeinsamen Wirklichkeit, auf die der andere auf eine fur uns (jedenfalls mit der Zeit) nachvollziehbare Weise reagiert? Demgegenüber erscheint es wohl sinnvoller zu sagen, Bedeutungen entstünden und reproduzierten sich, indem mindestens zwei Subjekte in einem Kommunikationsprozess auf eine gemeinsame Wirklichkeit Bezug nehmen. Der Bezug ergibt sich aber erst aus der Kommunikation. Was die gemeinsame Wirklichkeit ist, mit welchen Objekten (und nicht bloß Sinnesreizungen) die beiden es zu tun haben, muss im Wege der Kommunikation festgestellt werden. Ohne gemeinsame Wirklichkeit keine Kommunikation, ohne Kommunikation keine Begriffe, ohne Begriffe keine wahren oder falschen Sätze und, so schließt sich ein unleugbarer Zirkel, ohne geäußerte Sätze keine Kommunikation und keine gemeinsame Wirklichkeit als Erkenntnisgegenstand.14 Wie dies funktionieren könnte, haben wir oben schon gesehen. Ich komme aber

Siehe in diesem Zusammenhang auch den Abgleich der psychoanalytischen Theorie Freuds mit philosophischen Theorien der Bedeutung und des Geistes bei Cavell 1997, insbesondere I. Teil. u Für seine Kritik an der „Metaphysik der Präsenz" wurde nicht nur Derrida bekannt und nachgerade berüchtigt. Auch in der analytischen Philosophie wird der „Mythos des (vorbegrifflich) Gegebenen" schon seit einiger Zeit als verzichtbares Übel angesehen. Siehe neben den hier zitierten Werken Davidsons auch Sellars 2000. Mit dem Mythos des Gegebenen ist die Vorstellung gemeint, dass epistemische Fakten wie Wissen oder Überzeugungen auf nicht-epistemische Fakten wie Empfindungen oder Sinnesdaten zurückgeführt werden können. Nach dieser Vorstellung geht der Bereich der Gründe, also dessen, was als Rechtfertigung dienen kann, über das Begriffliche hinaus. Sellars zufolge basiert der Mythos des Gegebenen auf einer Vermischung zweier Bedeutungen von „bewusst sein", nämlich wach sein und etwas wissen bzw. Gründe für Überzeugungen haben. Ersteres treffe auch auf Tiere zu, die nicht über Begriffe verfügen, Letzteres aber nur auf Wesen, die Begriffe verwenden. 13

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gleich noch einmal darauf zurück, insbesondere auf das darin enthaltene Moment der Konstruktion. 15 Der eben konstatierte Zusammenhang zwischen Wahrheit und Kommunikation könnte nun dazu verleiten, im Konsens ein Wahrheitskriterium zu vermuten, das zugleich geeignet ist, den Wahrheitsbegriff zu erhellen. Natürlich kann es nicht so sein, dass jeder beliebige Konsens Wahrheit garantiert. Zwei Kinder, die soeben von der Schöpfungsgeschichte gehört haben und sich nun darüber einig sind, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, liegen damit nicht unbedingt richtig. Konsenstheoretiker sind deshalb stets bemüht, bestimmte Konsensbedingungen zu formulieren. So ist Habermas die längste Zeit davon ausgegangen, dass nur ein Konsens, der unter „idealen Diskursbedingungen" zustandegekommen ist, ein geeignetes Wahrheitskriterium darstelle. Ideal sei eine in jeder Hinsicht herrschaftsfreie, von sämtlichen psychischen, sozialen und sonstigen Zwängen befreite Sprechsituation.16 Dazu müssten einige Kriterien erfüllt sein: Öffentlichkeit des Zugangs, gleichberechtigte Teilnahme, Rationalität und Wahrhaftigkeit der Diskursteilnehmer etc. Doch abgesehen von der empirischen Unwahrscheinlichkeit ihrer Erfüllung erweisen sich manche dieser Kriterien als a priori unerfüllbar. Insofern die Rationalität des Diskurses beispielsweise davon abhängt, dass allen alle relevanten Informationen bekannt sind, scheint sie niemals vollständig gewährleistet zu sein. Wir wissen heute nicht, was wir morgen wissen werden. Zwar könnte man nun auf die Idee kommen, Annäherungen an optimale Diskursbedingungen zu konstatieren. Doch wenn wir nicht wissen, wie ein völlig rationaler Diskurs aussieht, wissen wir auch nicht, wie nahe ihm unser aktueller Diskurs schon gekommen ist.17 Zuletzt hat sich Habermas allerdings selbst von seiner Theorie ein wenig

15 Dass der Baum, auf den sich die Kommunikationsteilnehmer beziehen, ohne die Bezugnahme auf ihn nicht existieren könnte, braucht man deshalb jedenfalls noch lange nicht anzunehmen. E s geht also nicht um linguistischen Idealismus. " Habermas 1973. 17 Mit einem analogen Problem ist übrigens Poppers Auffassung belastet, wonach wir uns der Wahrheit lediglich asymptotisch annähern (siehe Popper 1994, 428 ff). Für eine kurze Kritik der Idee der Wahrheitsannäherung siehe Strasser 2000, 22 ff.

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distanziert und klargestellt, dass es nicht möglich sei, die Pointe des Wahrheitsbegriffs epistemologisch vollständig zu erfassen.18 Aber sehen wir uns eine andere Kandidatin an, die pragmatistische Wahrheitstheorie. Nach dieser Theorie ist wahr, was nützt. Wenn demnach etwa die Aussage „Gott existiert" wahr ist, dann nicht deshalb, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern weil sie nützliche Auswirkungen hat. Mit den Worten von William James: Wahre Vorstellungen sind solche, die wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können. Falsche Vorstellungen sind solche, bei denen dies alles nicht möglich ist. Das ist der praktische Unterschied, den es für uns ausmacht, ob wir wahre Ideen haben oder nicht. Das ist der Sinn der Wahrheit, denn nur in dieser Weise wird Wahrheit erlebt."

James empfiehlt, unsere Intuition, nach der „Wahrheit eine rein statische Beziehung ist", 20 zu re formulieren, und koppelt die Wahrheit an die „Praxis". Das Ziel ist nicht mehr, zu erklären, wann man von einem Ubereinstimmungsverhältnis zwischen Aussage und Wirklichkeit ausgehen darf. Die Erkenntnis des Nutzens einer Aussage (oder Uberzeugung) fur die Praxis wird mit der Erkenntnis des Wahrheitsgehalts identifiziert. Wahrheit gilt als „ein Geschehen, ein Vorgang, und zwar der Vorgang ihrer Selbst-Bewahrheitung, ihre Veri-fikation".21 Doch auch diese Auffassung birgt Probleme in sich. Nun mag es zwar stimmen, dass sich wahre Vorstellungen nie von anderen hätten abheben können, „wenn sie nicht von Anfang an in dieser Art nützlich gewesen wären" 22 Dennoch mutet diese Argumentation etwas reduktionistisch an. Zunächst stellt sich schon die Frage, ob jeder Nutzen Wahrheit garantiert. Was, wenn einem kurzfristigen Nutzen ein langfristiger Schaden gegenübersteht? Und um wessen Nutzen soll es sich handeln? Um den Nutzen einer einzelnen Person oder den der gesamten Menschheit? Auch wenn sich diese Fragen durch Präzisierungen beantworten ließen, die Grundannahme bleibt problematisch. So kann, wie Strasser schreibt, der

" Siehe Habermas 1999. Habermas wendet sich darin gegen eine „Epistemisierung" des Wahrheitsbegriffs, die er selbst einmal vertreten habe (ebd. 231). " J a m e s 1996, 37. M

Ebd., 36.

21

Ebd., 37 (Hervorhebung im Original).

12

Ebd., 39.

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Glaube an einen Satz ... aufhören, von irgendeinem Nutzen zu sein, ohne dass deswegen der Sachverhalt, aufgrund dessen der Satz wahr ist - und noch immer geglaubt wird - , zu existieren aufhört. 23

Der Satz „Gott existiert" kann geglaubt werden, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hätte, was beispielsweise dann der Fall wäre, wenn außerdem noch angenommen würde, dass Gott am Lauf der Dinge auf Erden gänzlich uninteressiert ist. Man wird dann vielleicht nicht mehr darüber streiten wollen, ob Gott existiert, der Satz wird aber nicht schon dadurch unwahr. Hinzu kommt, dass wahre Sätze nur dann von Nutzen sein können, wenn sie unabhängig davon wahr sind. Der Satz „Auf dem Mond kann man nicht frei atmen", meint Strasser, war zu der Zeit, als Astronauten auf dem Mond herumspazierten, nur deshalb von Nutzen, weil er bestimmte naturgesetzliche Annahmen über die Entwicklung einer Atmosphäre voraussetze, Annahmen, die offensichtlich zutrafen.2*

Diese Annahmen waren, soweit sie wahr sind, schon wahr, als noch kein Nutzen absehbar war. Und schließlich setzt die Auffassung, dass Menschen sich etwas wie die Naturgesetze nutzbar machen können, voraus, dass die Naturgesetze als Aussagen wahr sind. Von den geläufigen Wahrheitstheorien bleibt am Ende noch die Kohärenztheorie. Demnach ist eine Aussage dann wahr, wenn sie sich umstandslos in das System der anderen Aussagen, von deren Wahrheit man überzeugt ist, einfügt. Der Hintergedanke dieser Theorie ist ein durchaus plausibler: Uberzeugungen lassen sich nur mit anderen Uberzeugungen rechtfertigen, Wahrheit bemisst sich an den Standards der Forschung. Nach Richard Rorty, ebenfalls ein deklarierter Pragmatist, heißt dies, dass etwas nur Bezug auf etwas als Rechtfertigung gilt, das wir bereits akzeptieren, und dass wir nicht durch Heraustreten aus unserer Sprache und unseren Meinungen zu einem vom Kriterium der Kohärenz unserer Behauptungen unterschiedenen Testkriterium gelangen können. 25

Dem mag man zustimmen, ein verlässliches Wahrheits- bzw. Erkenntniskriterium hat man damit allerdings noch nicht gefunden, und eine

» Strasser 2000, 33. 24 Ebd. 25 Rorty 1981, 199 f. Genauso Quine/Ullian 1978,127.

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Wahrheitsdefinition s c h o n gar nicht 2 6 , zumal es unter der Prämisse d e r Abwesenheit eines Wirklichkeitsbezugs logisch nicht ausgeschlossen ist, dass m e h r e r e konsistente Uberzeugungssysteme existieren. D a n n wiederum hängt der B e g r i f f der Ü b e r z e u g u n g in der Luft. W e n n sich Ü b e r zeugungen nicht a u f die Wirklichkeit beziehen und daher wahr

oder

falsch sind, fragt sich, was es mit Ü b e r z e u g u n g e n überhaupt a u f sich hat. Z w a r gibt es gute G r ü n d e , „ i n t e r n " (wie sonst?) gerechtfertigte Ü b e r z e u gungen für wahr zu halten. Sicher können wir uns jedoch nicht sein. A u c h w e n n sich die A n n a h m e , dass die meisten Überzeugungen, die m a n hat, falsch sind, nicht aufrechterhalten lässt, könnte d o c h einzelne

von

ihnen

falsch

sein. 2 7

Die

Annahme,

dass

jede

unsere

Überzeugungen im G r o ß e n und G a n z e n wahr sind, scheint wiederum, wie wir n o c h sehen werden, unverzichtbar zu sein, wenn wir einander verstehen wollen. 2 8 U n d damit verlassen wir die Wahrheitstheorien. W i r begnügen uns mit der Feststellung, dass keine der T h e o r i e n resdos befriedigt. 2 9 Viel-

Allerdings wird typischerweise auch nicht beansprucht, eine solche geliefert zu haben jedenfalls nicht von Rorty. 27 Davidson 1986e, 319. Tatsächlich handelt es sich bei Davidsons Ausführungen natürlich nicht um eine Kohärenztheorie der Wahrheit. Das anti-skeptizistische Argument lautet in etwa folgendermaßen: Überzeugungen müssen, damit sie zu Recht als solche gelten, prinzipiell dem Anderen verständlich gemacht werden können. Verstehen wiederum kann der Andere nur, wenn er unterstellt, dass die meisten unserer Überzeugungen wahr sind. Nur so kann er unsere Aussagen „verarbeiten", also seine eigenen Überzeugungen ins Spiel bringen. Dann aber müssen wir auch selber davon ausgehen, dass unsere Überzeugungen im Großen und Ganzen wahr sind. Andernfalls wüssten wir nicht, was wir überhaupt glauben (siehe auch Rorty 2000a, 231). Dieses Argument impliziert übrigens, dass es eine Beziehung zwischen Wahrheit und Überzeugung gibt. Wahrheit kann demnach kein radikal nicht-epistemischer Begriff sein, (siehe Davidson 2001b, 188). 28 Dem vorgreifend hat schon Sellars (2000, 79) festgestellt, dass die Wissenschaft ein rationales Unternehmen sei, „not because it has a foundation but because it is a self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at once" (Hervorhebungen im Original). Ins selbe Horn stößt bekanntlich Quine 1999. 29 Im Übrigen stößt jede Wahrheitstheorie, auf sich selbst angewendet, auf eine Paradoxie. Siehe Mitterer 2001, 83 f.: „Wenn der Konsenstheoretiker sagt, dass die Konsenstheorie falsch ist, wenn über sie kein vernünftiger/wahrer Konsens erzielbar ist, dann bleibt das Konsensprinzip erhalten; wenn ein Vertreter der Korrespondenztheorie sagt, dass die Korrespondenztheorie falsch ist, wenn sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, dann bleibt das Korrespondenzprinzip erhalten; wenn ein Vertreter der Kohärenztheorie sagt, dass die Kohärenztheorie falsch ist, wenn sie zum Beispiel nicht in ein System wissenschaftstheoretischer Aussagen passt, mit diesem nicht kohäriert, dann bleibt Kohärenzprinzip weiter in Kraft; ... wenn ein Anhänger des Neopragmatismus sagt, dass er seine 26

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Interpretation und Zielannahmen

leicht ist es daher am besten, wir folgen Davidson und finden uns mit der Undefinierbarkeit des Wahrheitsbegriffs ab. Und vielleicht können wir dadurch etwas zum näheren Verständnis dieses Begriffs beitragen, dass wir ihn mit einem anderen, ähnlich problematischen verbinden, nämlich mit dem Begriff der Bedeutung. Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn wir uns von der Vorstellung einer simplen Subjekt-Objektbzw. Aussage-Wirklichkeit-Beziehung verabschieden und die intersubjektive Dimension sowohl des Wahrheits- bzw. Objektivitätsbegriffs als auch jeglicher Bedeutungserkenntnis bzw.-festlegung in Rechnung stellen. Eine solche Auffassung wiederum kommt uns entgegen, wenn wir Objektivitätsansprüche für juristische Aussagen verteidigen wollen.

1.4.2 Bedeutung und Wahrheit Ich fasse im Folgenden kurz Davidsons Bedeutungstheorie30 zusammen, um dann in einem nächsten Schritt zu versuchen, diese augenscheinlich eher auf Beobachtungssätze zugeschnittene Theorie in eine Theorie der Bedeutung juristischer Aussagen zu übersetzen. Auf eine ausfuhrliche Diskussion werde ich mich nicht einlassen.31 Schließlich geht es nur darum, das auszubuchstabieren, was auch Dworkin, dessen Theorie Anstoß zur vorliegenden Arbeit war und der sich ebenfalls gelegentlich auf Davidson beruft, vorauszusetzen scheint. Zumal ich mich nicht allzu weit von Dworkin entfernen, sondern nur eine gewisse, wenn auch nicht unbedeutende Modifikation vornehmen möchte. Davidson will Tarskis semantische Wahrheitstheorie für eine Bedeutungstheorie natürlicher Sprachen nutzbar machen. Dabei vollzieht er eine Umkehrung. Während Tarski den Bedeutungsbegriff als verstanden voraussetzt und ihn für eine Wahrheitsdefinition verwendet, setzt Davidson den Wahrheitsheitsbegriff als Undefiniert und verstanden voraus, um zu erklären, was es mit dem Erfassen von Bedeutungen auf sich hat. Bedeutungen werden dabei nicht als völlig frei schwebende Entitäten Position dann aufgibt, wenn sie nicht hinlänglich gerechtfertigt werden kann - dann bleibt jedenfalls die hinlängliche Rechtfertigung als Prinzip für einen Neubeginn erhalten." 30 Siehe nur Davidson 1986a; 1986b. Für zusammenfassende Darstellungen siehe Hacking 1984, Abschnitt 12; Prechtl 1999, 230 ff.; Blume/Demmerling 1998, 200 f f ; Glüer 1993. " Siehe dazu etwa Picardi/Schulte 1990; LePore 1986; insbesondere zur Kontroverse zwischen Davidson und Dummett Glüer 1999,17 ff.

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betrachtet, sondern als etwas, das nur existiert, insofern es erfasst werden kann. Tarski hat bekanntlich vorgeschlagen, nur jene in der Metasprache formulierte Definition von „wahr" als sachlich zutreffend anzuerkennen, aus der alle Sätze folgen, die man aus dem Schema (W) s ist wahr genau dann, wenn ρ gewinnt, indem man für das Symbol „s" eine Bezeichnung irgendeines Satzes der Objektsprache und für das Symbol „p" die Übersetzung dieses Satzes in die Metasprache einsetzt.32 Wobei die Metasprache natürlich eine gewisse „Reichhaltigkeit" aufweisen muss; sie muss die Objektsprache als einen Teil enthalten.33 Bezogen auf natürliche Sprachen hieße dies etwa: „It is raining" ist dann und nur dann wahr, wenn es regnet. Hier hätten wir ein in der Metasprache Deutsch formuliertes Theorem für die Objektsprache Englisch. Sämtliche Theoreme dieser Art ergäben dann eine Wahrheitstheorie der englischen Sprache, d.h. eine Theorie, die einem sagt, unter welchen Bedingungen englische Sätze wahr sind. Man bemerke: Das Korrespondenzverhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit wird ersetzt durch ein Übersetzungsverhältnis zwischen Objekt- und Metasprache. Tarski geht also davon aus, dass die Bedeutung der objektsprachlichen Sätze bekannt ist. Andernfalls könnten wir uns nicht auf die Übersetzung verlassen. Davidson nimmt nun an, dass die Wahrheit der objektsprachlichen Sätze feststeht, nicht aber ihre Bedeutung. Die Bedeutung eines Satzes habe man aber erst verstanden, wenn man seine Wahrheitsbedingungen kennt.34 Und so schlägt Davidson folgende Definition einer angemessenen Bedeutungstheorie für die Äußerungen eines Anderen vor: Eine in Tarski 1996, 152 f. In dieser Fassung hielt man allerdings an der an das Englische angelehnten Bezeichnung „Konvention T " (anstatt „Konvention W") fest. » Ebd, 153. u Davidson vertritt also eine wahrheitskonditionale Theorie der Bedeutung. Die Bedeutung von Sätzen an ihre Wahrheitsbedingungen zu koppeln — etwas, das Patterson für fundamental verfehlt hält - ist zunächst wenig Aufsehen erregend. Siehe auch Wittgenstein 1984a, 28 (4.024). Die Pointe Davidsons besteht jedoch darin, zu zeigen, dass sich ein derartiger Ansatz durchaus mit einer richtig verstandenen Gebrauchstheorie der Bedeutung, einer Theorie, die auf intersubjektive Praxis abstellt, vereinbaren lässt. Die wahrheitskonditionale Theorie der Bedeutung ist, das sei noch erwähnt, um einiges großzügiger als die von den logischen Positivisten vertretene Doktrin, wonach die Bedeutung eines Satzes durch die Bedingungen seiner Verifikation gegeben sein soll. Damit wird nämlich Sätzen, die prinzipiell für nicht verifizierbar gehalten werden, jeglicher Sinn abgesprochen. 32

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der Metasprache formulierte B-Theorie für eine Objektsprache ist dann angemessen, wenn aus ihr alle Sätze folgen, die man aus dem Schema (B) s ist wahr genau dann, wenn ρ gewinnt, indem man für das Symbol „s" eine Bezeichnung irgendeines Satzes der Objektsprache und für das Symbol „p" einen Satz der Metasprache einsetzt, der genau dann wahr ist, wenn s es ist. Wie man sieht, unterscheidet sich Konvention Β nicht von Tarskis Konvention W. Auf den ersten Blick mag dies etwas seltsam erscheinen, zumal ja Äquivalenzen denkbar wären wie: „Grass is green" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist. Diese Äquivalenz ist zwar wahr, jedoch hat die rechte Seite nichts mit den Wahrheitsbedingungen für den Satz auf der linken Seite zu tun. Eine Theorie, die derartige Äquivalenzen zulässt, kann also nicht angemessen sein. Ein solcher Einwand übersieht jedoch die holistischen Restriktionen, die Konvention Β impliziert. Eine Theorie kann demnach nur dann als interpretativ gelten, wenn alle aus Schema Β zu gewinnenden Äquivalenzen wahr sind. Damit wären Äquivalenzen wie die obige jedoch ausgeschlossen - mögen sie auch wahr sein. Denn es ist unmöglich, dass eine Theorie, die solche Äquivalenzen enthält, zugleich noch wahre Äquivalenzen für die Sätze „This is green", „This is grass" oder „This is snow" enthält. Grund dafür ist, dass die Wahrheitsbedingungen immer im Rekurs auf die Struktur von Sätzen angegeben werden, mithin in Abhängigkeit von den darin enthaltenen Wörtern. Davidson bringt seinen Bedeutungsholismus exakt auf den Punkt, wenn er schreibt: Sofern Sätze hinsichtlich ihrer Bedeutung von ihrer Struktur abhängen und wir die Bedeutung jedes Elements in der Struktur nur als Abstraktion von der Gesamtheit der Sätze, in denen es vorkommt, begreifen, können wir die Bedeutung eines Satzes (oder eines Wortes) nur angeben, indem wir die Bedeutung jedes Satzes (und Wortes) der betreffenden Sprache angeben. Frege hat einmal gesagt, nur im Zusammenhang des Satzes habe ein W o r t Bedeutung; in der gleichen Einstellung hätte er hinzufügen können, nur im Zusammenhang der Sprache habe ein Satz (und daher ein Wort) Bedeutung. 35

Davidson 1986a, 47. Den Holismus könnte man mittlerweile beinahe als „state of the art" innerhalb der analytischen Philosophie ansehen. Nicht nur Autoren wie der späte Wittgenstein oder Quine haben den Atomismus hinter sich gelassen, auch die derzeit viel diskutierte „inferentialistische Semantik" von Robert Brandom zeigt sich „entschlossen holistisch" (Brandom 2001, 28). Demnach ergibt sich der Gehalt eines Begriffs aus dessen 35

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Wie die Bildung einer Bedeutungstheorie in diesem engeren Sinne einer Theorie, die uns sagt, was die Äußerungen anderer bedeuten, vor sich geht, möchte ich vorerst offen lassen. Darauf möchte ich später etwas näher eingehen. Hier seien nur zwei Charakteristika dieses Prozesses hervorgehoben. Zum einen ist die Entwicklung einer solchen Theorie ein quasi-empirisches Unternehmen der Hypothesenbildung und -Verwerfung. 56 Zum anderen „konstruiert" der Interpret den Sprecher dabei insofern, als er gar keine andere Wahl hat, als von dem auszugehen, wovon er selbst überzeugt ist, und diese Überzeugungen auf den Anderen zu projizieren. Der Interpret bezieht die Äußerungen des Sprechers auf eine gemeinsame Wirklichkeit, von der er selbst einiges weiß. Mit den empirischen Überzeugungen des Interpreten sind aber auch Objektivitätsansprüche ins Spiel gebracht. Es gibt demnach für den Interpreten keine Chance, die Äußerungen anderer zu verstehen, ohne dass er von dem ausgeht, was er selbst für wahr hält. Wenn der Interpret die Kommunikationspraxis der ihm zunächst unverständlichen Sprecher beobachtet, beobachtet er, wenn er sich zum Ziel gesetzt hat, irgendwann einmal etwas zu verstehen, nicht nur die Praxis (den Gebrauch von Lauten und Lautfolgen), sondern immer auch die Wirklichkeit, auf die sich die Praxis bezieht. Als würde er gegen Patterson argumentieren, hält Davidson daher fest: Ein Interpret, der ganz von vorn anfangt - der die Sprache des betreffende Sprechers also noch nicht versteht - , kann nicht so vorgehen, dass er das Thema der Überzeugungen eines Akteurs unabhängig herausfindet und anschließend fragt, ob sie wahr seien. Das liegt daran, dass die Situationen, welche normalerweise zu einer Überzeugung Anlass geben, auch die Bedingungen der Wahrheit dieser Überzeugungen bestimmen.37 Bevor wir diese Theorie in eine Theorie der Bedeutung für juristische Aussagen übersetzen, sollte noch auf drei Dinge hingewiesen werden. Erstens handelt es hierbei um eine rein extensionalistische Theorie. So Beziehungen zu anderen Begriffen. Einen Begriff haben bedeute immer, noch viele andere zu haben. Eine übersichtliche Rekonstruktion des Wegs der analytischen Philosophie vom anti-hegelianischen Atomismus zum Holismus (eines Fortschritts ^mici gewissermaßen) bietet Welsch 2001. Siehe im Übrigen auch Esfeld 2002, Kap. 1-5 und Bertram/Liptow 2002. Für eine entschiedene Zurückweisung des Holismus siehe aber Fodor/Lepore 1992. Holistisch wird auch die anschließend grob skizzierte juristische Semantik ausfallen. 56 „Quasi-empirisch" deshalb, weil dabei, wie wir noch sehen werden, auch (normative) Rationalitätsstandards eine Rolle spielen. " Davidson 1993b, 71.

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etwas wie Intensionen, die einfach „da sind" (etwa in Form neutral beschreibbarer Konventionen oder rein geistiger Entitäten), gibt es darin nicht. 38 Der Bezug zur Realität ist konstitutiv. Zweitens wird angenommen, dass Bedeutung, welche mit ihrer Intelligibilität zusammenfällt, dreierlei voraussetzt: einen Sprecher (Objektsprache), einen Interpreten (Metasprache) 39 und eine gemeinsame Wirklichkeit („Triangulation"). Die Interpretation fällt zusammen mit der Ermittlung der Überzeugungen des Sprechers, welche in einer kausalen Beziehung zu den auch dem Interpreten zugänglichen Umständen der Äußerungen (zur Wirklichkeit) stehen. In den Worten Davidsons: [H]e [der Interpret - C.H.] interprets sentences held true (which is not to be distinguished from attributing beliefs) according to the events and objects in the outside world that cause the sentence to be held true.'·0 Der Sprecher wiederum muss die Interpretation des Interpreten antizipieren. Eine Privatsprache, die allen denkbaren Interpretationsversuchen trotzt, ist demzufolge ausgeschlossen. Eine solche Sprache wäre schon keine mehr. Objektivität bezeichnet daher kein bloßes Abbildungsverhältnis, sondern hängt unmittelbar mit Intersubjektivität zusammen - ein Punkt, der gerade für die Legitimität von Objektivitätsansprüchen im Rahmen einer sozialen Praxis wie dem Recht von allergrößter Wichtigkeit ist. Drittens bleibt letztlich notwendigerweise unbestimmt, was die richtige Interpretationstheorie für eine Sprache bzw. ein System von Aussagen ist. Man braucht diese Unbestimmtheit nicht zu dramatisieren, " Natürlich wird die Rede von Intensionen dadurch nicht ausgeschlossen. Es ist nur so, dass Intensionen letztlich als Effekte extensionaler Bedeutungsfestlegung begriffen werden. Auf diese Weise lässt sich im Übrigen auch ihre Wandelbarkeit leichter verstehen. " Zur Klarstellung: Natürlich handelt es bei der Metasprache nicht um jene Metasprache, die es nicht nur nach Auffassung der Dekonstruktivisten und bestimmter Geistesverwandter nicht gibt. Wheeler nennt Letztere „magic language" und meint damit „a language that is, in Wittgenstein's terms, self-interpreting" (Wheeler 2000a, 3). w Davidson 1986e, 317. Weiter als Davidson geht aber John McDowell, der auch zwischen Tatsachen und Überzeugungen eine rationale, und nicht bloß kausale Beziehung unterstellt, da sich Tatsachen bzw. die Eindrücke ebenfalls „im Raum der Begriffe" befänden. Für McDowell gibt es keinen Unterschied zwischen Eindrücken und Erscheinungen, von denen Davidson allenfalls Letztere dem Begrifflichen (für ihn: den Überzeugungen) zuordnen würde. Die Welt liege zwar nicht völlig außerhalb der Begriffe, aber etwas weiter „draußen" als Gedanken (siehe McDowell 2001, 165 ff.) Für uns ist diese Auseinandersetzung freilich sekundär, da wir es in der Folge ohnehin nicht mit Fragen der empirischen, sondern der Normerkenntnis zu tun haben.

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nichtsdestoweniger lässt sie sich nicht ausschließen, und das aus mehreren Gründen: (1) Es ist möglich, dass mehrere angemessene Interpretationstheorien Prädikate, singulare Termini oder Quantoren unterschiedlich identifizieren (Unbestimmtheit der logischen Form). (2) Mehrere angemessene Interpretationstheorien können Ausdrücken unterschiedliche Referenten zuordnen (Unbestimmtheit der Referenz). (3) Ein und derselbe Satz kann für zwei angemessene Interpretationstheorien verschiedene Wahrheitswerte haben (Unbestimmtheit der Wahrheit).41 Die These der Unbestimmtheit der Interpretation gehört zu den schwierigsten Teilen von Davidsons Theorie. Auf eine Diskussion brauche ich mich hier aber nicht einzulassen. Nur eine Anmerkung noch: Die Autorität der Ersten Person wird dadurch nach Auffassung Davidsons nicht untergraben. Der Sprecher wisse typischerweise durchaus, was er meint. Bei ihm fielen nämlich Objekt- und Metasprache zusammen. Man könne also nicht sagen, der Sprecher interpretiere sich während des Sprechens selbst.42 Was die juristische Interpretation von der Interpretation des radikalen Interpreten einer ihm unbekannten Sprache unterscheidet, ist zunächst die Tatsache, dass „der Gesetzgeber", zu dem eine Rechtsgemeinschaft personifiziert wird, ganz offenkundig (und nicht bloß im Grunde) eine Konstruktion darstellt. Er tritt uns eben nicht als physische Entität gegenüber. Trotzdem unterstellen wir seine Existenz, wenn wir in bestimmten Rechtstexten Bedeutung vermuten. Denn wie gesagt: ohne Intention keine Bedeutung.43 Da jeder Interpret seine Bemühungen damit beginnt, dass er dem Sprecher (im Fall des Rechts: dem Gesetzge-

Siehe Davidson 1986d, 322 f.; dazu auch Schaedler-Om 1997, 49 ff. Eine „Unbestimmtheit der Übersetzung" konstatierte zuvor schon Quine (1980, 101 ff.; 1975, 111 ff.) Quine stellt sich bekanntlich einen Eingeborenen vor, der anlässlich eines gerade vorbeilaufenden Kaninchens „Gavagai" ausruft, und meint, dass wir nicht eindeutig bestimmen könnten, wie „Gavagai" genau zu übersetzen ist: mit „Kaninchen", mit „Kaninchenstadium" oder mit „integraler Kaninchenteil"? Der Bezug ließe sich nur relativ zu einem Begriffsrahmen bzw. einer Rahmentheorie festlegen. Anders als Quine verbindet Davidson seine These der Unerforschlichkeit der Referenz nicht mit einem ontologischen Relativismus. Soweit der Bezug relativ sei, sei er relativ zu einer Sprache. Unerforschlich bleibe er aber, weil es keine rein empirische Frage sei, um welche Sprache es sich jeweils handle. Denn es sei eben nicht möglich, zuerst die Überzeugungen (oder allgemeiner: Intentionen) des Sprechers festzustellen und in einem nächsten Schritt erst zu klären, worauf sich seine Worte beziehen. « Davidson 2001a, 79 f. « Nida-Rümelin 2001,101. 41

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ber) im Großen und Ganzen jene Überzeugungen unterstellt, die er selbst hat, ist dieser Akt der Konstruktion niemals ein Akt reiner Willkür. Schließlich entscheidet man sich nicht einfach für oder gegen Uberzeugungen.44 Wie man sicherstellt, dass alle Rechtsinterpreten tatsächlich an Interpretation und nicht an irgendetwas interessiert sind, das man sonst noch mit einem Text bzw. einem System von Texten machen kann, und dass nicht allzu abstruse Uberzeugungen das Interpretationsunternehmen kontaminieren, ist natürlich eine andere Frage. Ein erster Schritt wäre es, für Entscheidungen nachvollziehbare Begründungen zu verlangen. Der Begründungszwang dürfte in den meisten Rechtssystemen für gewöhnlich Entscheidungen ausschließen, welche die Rechte der Parteien an ihre Haarfarben knüpfen. Nun aber gilt es, Davidsons Theorie ein wenig an die Gegebenheiten des Rechtsdiskurses anzupassen.

1.4.3 Zur speziellen Semantik des Vichts Wenn wir Davidsons Theorie der Bedeutung im weiteren, philosophischen Sinne für die Rechtstheorie fruchtbar machen wollen, müssen wir zunächst klären, was im Bereich normativer Aussagen den Wahrheitsbedingungen entspricht. Ich möchte in diesem Zusammenhang zunächst einen beiläufigen Vorschlag John Searles aufgreifen, wonach Befehlssätzen Befolgungsbedingungen zugeordnet werden können.45 Einen Befehl zu verstehen heißt demnach zu wissen, was der Fall ist, wenn er befolgt wird.46 Diese Definition muss jedoch - zumindest für den Recbtsbefehl - etwas präzisiert werden. Ein Grund dafür liegt darin, dass Interpreten kein wertneutrales Erkenntnisinteresse verfolgen, sondern daran interessiert sind, dass ihre Interpretationen zu Ergebnissen führen, die mit dem, was sie sonst noch glauben, insbesondere ihren moralischen Uberzeugungen, möglichst im Einklang stehen. Es geht mit anderen Worten darum, nicht nur den speziell rechtlichen Kontext des Befehls in die Interpretation miteinzubeziehen (Gebot der gesetzes- und verfasHeil 1992, 46; Williams 1978a, 236. Searle 1982b, 149. 46 Siehe auch Baker/Hacker 1985, 97: „To be ignorant or mistaken about what acts are in accord with [the rule] is to be ignorant or mistaken about what the rule is. To understand a rule is to know what acts accord with it and what violate it (just as to understand a proposition is to know what is the case if it is true)." (Hervorhebung im Original) 44

45

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sungskonformen Interpretation), sondern auch jene Überzeugungen zu berücksichtigen, welche in die Interpretation der rechtlichen Geltungsgrundlagen des Befehls unweigerlich einfließen. Wenigstens in der Rolle als Teilnehmer am juristischen Diskurs „ist es uns", schreibt Peter Koller, nicht gleichgültig, wie die Regeln des Rechts interpretiert und angewendet werden. Vielmehr erwarten wir, dass ihre Auslegung und Handhabung sich an den zugrundeliegenden Wertvorstellungen orientiert, aufgrund welcher wir diese Regeln akzeptieren. 4 7

Einen Rechtsbefehl zu verstehen heißt also zu wissen, was der Fall ist, wenn er unter Berücksichtigung seiner Geltungsbedingungen befolgt wird. Und nicht nur das: Die „eigentliche" Interpretation des Rechtsbefehls setzt zuallererst eine Interpretation bestimmter Zeichen als Rechtsbefehl, soll heißen: eine Identifikation als Objekt juristischer Interpretation, voraus. Man muss einen Befehl als Rechtsbefehl verstehen. Als Rechtsbefehl ist er nämlich in einem spezifischen bedeutungskonstituierenden Kontext eingebettet. Zur Bedeutung eines Befehls gehört somit in einem weiteren Sinne auch sein Status. Der Grund dafür liegt darin, dass Rechtsbefehle eben rechtlich verbindlich sind; und rechtliche Verbindlichkeit ist nicht dasselbe wie beispielsweise moralische Verbindlichkeit. Schon die Entscheidung, was eine Rechtsnorm ist und was nicht, ist daher eine interpretative Entscheidung, welche die Bedeutung der Norm mitbestimmt. Typischerweise bezieht sich die Interpretation dabei auf Normen, die die Zuordnung von Normen zum Rechtssystem regeln. Hart spricht in diesem Zusammenhang bekanntlich von „Erkennungsregeln". Für manche Normen, insbesondere für solche „nicht-positivierten Prinzipien", auf die gerichtliche Entscheidungen zu Begründungszwecken verweisen, gilt jedoch, dass ihre Zuordnung zum Recht bereits ein zumindest grobes Verständnis voraussetzt. 48 Ich komme auf die Bedeutung der richtigen Zuordnung einer Norm fur die Interpretation gleich noch einmal zurück.

Koller 1997, 48 f. (Hervorhebung im Original) Es liegt also durchaus nahe, zwischen einem Begründungs- und einem Anwendungsdiskurs zu unterscheiden und gewisse Interferenzen festzustellen. Einerseits kann nur begründet werden, indem auf auf bestimmte, eben typische, Anwendungssituationen abgestellt wird; andererseits kann nur angewendet werden, was begründet wurde, also überhaupt prima facie anwendbar ist (siehe Günther 1988; 1989). 47

48

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Aber nicht alle generellen Rechtsnormen lassen sich ohne weiteres als Befehle beschreiben. So unterscheidet Ota Weinberger nicht nur zwischen Prinzipien und Regeln, sondern innerhalb der letzteren Klasse von Normen weiter zwischen Verhaltensnormen, Maßstabnormen, Aufgabennormen, Ermächtigungsnormen sowie Straf- bzw. Belohnungsnormen. 4 ' Cass Sunstein dagegen gibt sich mit der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien nicht zufrieden und nennt als weitere Normtypen, die zwischen Regeln und Prinzipien lägen, Präsumtionen, Standards, Faktoren und Richtlinien.5" Der Preis für derart subtile Differenzierungen ist allerdings und paradoxerweise ein gewisser Verlust an analytischer Schärfe. Mir scheint es daher besser, es bei Regeln belassen. Die Legitimität dieser Beschränkung wird ersichtlich, wenn man sich die logische Struktur jeglicher Argumentation, auch der juristischen, vor Augen fuhrt. Jedes Argument lässt sich als Beitrag zur Formulierung einer Regel verstehen, indem es darauf abzielt, die Bedingungen zu präzisieren, unter denen es zu einer bestimmten Rechtsfolge kommen soll. Sogar die Abwägung von Prinzipien läuft im Grunde auf nichts anderes hinaus als die Formulierung von Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen Prinzip vorgeht, mithin auf eine Regel. Robert Alexy spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kollisionsgesetz", welches wie folgt laute: Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorangehenden Prinzips ausspricht. 51

Dieses Kollisionsgesetz impliziert, dass sich Prinzipien weder kardinal noch ordinal skalieren lassen, mit anderen Worten: dass es immer Abwägungen im Einzelfall bedarf, welche sich dann jedoch nach und nach zu einem System von Kollisionsregeln entwickeln. Damit ist nicht gesagt, dass die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien völlig wertlos wäre, sondern nur, dass es letztlich wieder darauf ankommt, Regeln zu konstruieren. Mehr als Erwägungsgesichtspunkte können Prinzipien nicht sein. Verstanden hat man Prinzipien (oder Werte) nur, soweit man

« Weinberger 1988, 88 ff.; 2000, 59 ff.; 1989, 264 ff. Siehe auch Koller 1997, 84 f. 50 Sunstein 1996, 27 ff. 51 Alexy 1996, 84; 2000, 34.

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die Beziehungen zwischen ihnen kennt, d.h. soweit man Regeln angeben kann, die Vorrangrelationen festlegen. So meint etwa Brian Barry: Principles are given content in the process of applying them to particular cases. Until we see how a principle would work out in variety of cases, we can hardly be said to know what the principle is ,...52 Im Grunde sind Prinzipien und Werte (ich unterscheide hier nicht streng) überhaupt nichts anderes als Regelkomplexe. Wer wissen will, was „Kunstfreiheit" bedeutet, muss sich eine Fülle von Anwendungsfallen vergegenwärtigen. Und wer sich auf Kunstfreiheit beruft, wird zumindest einige paradigmatische Fälle kennen. Die Werturteile, mit denen Juristinnen Entscheidungen begründen, lassen sich also niemals nur in evaluativen Aussagen zum Ausdruck bringen, sondern immer auch in normativen. Wenn jemand sagt, das Wetter sei schön, dann evaluiert er bloß. Wenn jemand dagegen sagt, Kunstfreiheit sei ein bedeutendes Grundrecht, dann verweist er implizit auf Fälle, in denen man sich mit dem Argument der Kunstfreiheit durchzusetzen vermag. Mit dem Ausdruck „konstruieren" ist jedoch auf einen wichtigen Aspekt juristischer Arbeit hingewiesen. Regeln sind bekanntlich keine bedeutungsvollen Entitäten, die uns gleichsam aus dem Gesetzestext entgegenspringen, sondern etwas, das im Zuge der Argumentation und unter Verarbeitung zahlreicher einschlägiger Zeichen (Gesetzestext, Präjudizien etc.) mit mehr oder weniger großem Aufwand produziert wird.53 Schließlich wollen Entscheidungen immer als aus irgendeiner Regel abgeleitet dargestellt werden. Mit der bloßen Behauptung in einem konkreten Fall, dass das Recht auf Leben dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu weichen hat und damit ein nur leicht herzinfaktgefährdeter Beschuldigter eine Hauptverhandlung über sich ergehen lassen muss, finden wir uns nur ab, wenn wir darin die Anwendung einer Regel erkennen, nämlich der Regel: „Wenn das Gesundheitsrisiko des Beschuldigten nur sehr abstrakt erscheint, dann hat die Hauptverhandlung durchgeführt zu werden." Daran sieht man schon: Nicht nur Prinzipien sind nicht unbedingt „positiviert", sondern oft erst mühevoll zu rekonstruieren, für Regeln gilt dasselbe. Die Mehrzahl der im Gesetzestext

« Barry 1989, 263. 51 Siehe dazu die „regelskeptizistische Verteidigung des Regelbegriffs", u.a. auch gegen die „ontologisch ziemlich aufwendige Unterscheidung" Regeln/Prinzipien bei Somek/Forgó 1996, 85 ff.

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vorfindlichen Normsätze müssen erst in die Form von Regeln gebracht werden, regelmäßig dadurch, dass man sie mit anderen Normsätzen kombiniert. Die Anwendung von Normen ist letzten Endes nichts anderes als die Verwendung von Zeichen zur Rekonstruktion von Regeln, aus denen sich dann im Fall der Subsumtion eines Sachverhalts Rechtsfolgen ableiten lassen. „Gesetzliche Anordnungen werden", wie Alexander Somek schreibt, von der Rechtsanwendung als Zeichen für etwas anderes genommen, nämlich als Zeichen für Rechtsregeln. Diese Rechtsregeln findet die Rechtsanwendung in den gesetzlichen Anordnungen nicht vor, sondern konstruiert deren Bedeutung aufgrund eines subtilen Systems von Unterscheidungen, mit dessen Hilfe sie die Signale, die vom Gesetzestext ausgehen, in die Codes der Rechtsregeln transformiert. 54

Allerdings geht es nicht bloß darum, den propositionalen Gehalt, den die Normzeichen repräsentieren, festzulegen. Mit den Normzeichen werden letztlich Entscheidungen innerhalb eines partikularen Rechtssystems begründet. Ich werde für diese Zeichen im Folgenden den Ausdruck „Normen" verwenden, was mir insofern gerechtfertigt erscheint, als mit einer Norm eben nichts weiter als ein Sollen bezeichnet wird (ohne dass das Sollen selbst die Norm wäre). Der Ausdruck „Norm" liegt auch deshalb nahe, weil man Normen wie Regeln anwenden kann, während man Zeichen allenfalls verwendet oder berücksichtigt. Auf diese Weise ist es leichter, ein Schema für Äquivalenzen zwischen Normen und Regeln zu konstruieren. Zuvor möchte ich in einem kurzen Exkurs aber noch auf die Zweifelhaftigkeit der geläufigen Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien hinweisen.

Exkurs zur Regel/Prinzip-Differenz: Das bisher Gesagte scheint die gesamte Diskussion um die Abgrenzung zwischen und die jeweils unterschiedliche Anwendung von Regeln und Prinzipien zu unterlaufen. In einem gewissen Sinne ist das wahr. Zum einen glaube ich tatsächlich, dass die juristische Arbeit im Wesentlichen auf die Konstruktion von Regeln hinausläuft; zum anderen halte ich die

54

Siehe Somek 1998a, 344 (Hervorhebung im Original).

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Rede von der „Abwägung" mit Habermas fui zumindest „lax".53 Im Folgenden möchte ich nui kurz die Kritik an Dworkins Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien darstellen und darauf hinweisen, dass der daran anschließenden Debatte eine zweifelhafte Prämisse zugrunde liegt, die Prämisse, dass den Rechtsanwenderinnen Regel und Prinzipien vorgegeben seien. Ich dagegen gehe mit Somek davon aus, dass Juristen es nur mit Zeichen für Regeln zu tun haben, die sie selbst (rekonstruieren müssen. Diese Zeichen nenne ich, wie gesagt, „Normen". Dworkin nennt zwei Unterscheidungskriterien: die Alles-oderNichts-Anwendbarkeit und die Dimension des Gewichts.56 Eine Regel sei entweder anwendbar oder nicht, d.h. entweder sei sie gültig und ihr Tatbestand erfüllt, oder sie sei ungültig bzw. ihr Tatbestand sei nicht erfüllt. Daraus wiederum folge, dass Regeln eine Dimension entbehren, die für Prinzipen typisch seien, nämlich die Dimension des Gewichts. Prinzipien seien mehr oder weniger anwendbar, d.h. ihr Gewicht hänge von den Umständen des Einzelfalls und den mit ihnen konfligierenden Prinzipien ab. Sie könnten daher keine Entscheidung determinieren. Genau an dieser Stelle hakt Alexy ein. Was Dworkin über Regeln und ihre Alles-oder-Nichts-Anwendbarkeit sage, gelte nur für Regeln, deren Inhalt allein nach formellen Kriterien bestimmt ist, nicht aber für Regeln, deren Begründung auch materielle Kriterien impliziere.57 Und moderne Rechtsordnungen würden grundsätzlich nicht ausschließen, im Wege der teleologischen Reduktion Ausnahmeklauseln in bestehende Regeln einzufügen, Ausnahmeklauseln, die durch materielle Prinzipien begründet seien. Wenn jedoch, wie Dworkin meint, solche Prinzipien niemals vollständig aufgehstet werden können, dann gelte dies auch für Regeln. Mithin könnten auch Regeln keine Entscheidungen determinieren. Sie seien insofern ebenfalls mehr oder weniger anwendbar. Alexy schlägt daher eine Abgrenzung vor, die auf das Kollisionsverhalten von Regeln und Prinzipien abstellt. Letztere erwiesen sich nach dieser Auffassung in der Kollision als Optimierungsgebote. Da dies aber den Punkt nicht genau trifft, weil Alexy eigentlich darauf hinaus will,

Siehe Habermas 1993, 310. Dworkin 1984, 58 ff. 57 Alexy 1995,182 ff.; 1996, 88 ff. Siehe auch Siekmann 1990, 57 Fn 28.

55 56

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dass die Prinzipien selbst optimal realisiert werden,58 die Optimierung dagegen nur stattfindet oder nicht, räumt er ein, dass es sich bei Prinzipien in Wirklichkeit um zu optimierende Gebote handle, die ein Optimierungsgebot beinhalten würden. Optimierungsgebote wiederum sind ihrer Struktur nach Regeln, wenn auch besonderer Art. Um seine Theorie aufrechterhalten zu können, unterscheidet Alexy daher zwischen der Objektebene und der Metaebene. Auf Ersterer seien Prinzipien als zu optimierende Gebote angesiedelt, auf Letzterer die Regeln, die uns sagen, was mit den Gegenständen der Objektebene zu geschehen hat.59 Damit wird die Regel/Prinzip-Unterscheidung freilich zu einer ausgesprochen aufwendigen Angelegenheit. Noch aufwendiger gestaltet sie sich nach Jan-Reinard Siekmann.60 Somek erinnert daher in diesem Zusammenhang an Quines Postulat der „ontologischen Sparsamkeit"01, bemängelt aber vor allem die Verdinglichung, die in der Rechtstheorie oft, auch in dieser Debatte, dem Regelbegriff widerfährt. Und tatsächlich wird immer wieder der Eindruck erweckt, als seien Regeln und Prinzipien fertige Entitäten, mit denen der Rechtsanwender konfrontiert ist. Nun sei hier keineswegs behauptet, besagte Diskussion trage nichts zur Erhellung der juristischen Argumentationsstruktur bei.62 Dem unvoreingenommenen Beobachter fällt nur auf, dass nie von Bedeutung die Rede ist, als stünde diese immer schon fest und als ginge es bloß um die Anwendung von Normen. Wenn man aber Anwendung, Interpretation und Bedeutung zusammenzieht, dann gewinnt man rasch den Eindruck, dass man (wenigstens vorerst) mit dem Regelbegriff sein Auslangen findet. Die Frage lautet dann weniger: „Ist das Grundrecht der Kunstfreiheit nun eine Regel oder ein Prinzip?", sondern vor allem: „Was bedeutet Kunstfreiheit unter der Voraussetzung, das es noch andere Grundrechte gibt und der Gesetzgeber auch kollektive Ziele verfolgen darf?" Die Bedeutung der Kunstfreiheit wiederum erfasst nur derjenige, der — ich

Siehe Siekmann 1990, 64. Alexy 2000, 38 f. 60 Siehe auch Siekmann 2000. Für einen Überblick über die Diskussion, angefangen bei Dworkin, siehe Borowski 1998, 61 ff. 61 Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, a.a.O., 85. Man denke aber bereits an „Ockhams Rasiermesser" als Prinzip der Minimierung der Seinsarten: „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem." 62 Siehe nur die beeindruckende Rekonstruktion der logischen Struktur von Abwägungen bei Alexy 2003. M

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paraphrasiere hier Brandom - erkennt, welche Rolle sie im juristischen Schlussfolgern spielt, mit anderen Worten: in welchen Relationen sie zu anderen Rechtsgründen steht. Und das bedeutet eben: Man muss Kollisionsregeln formulieren können. Dann stellt sich jedoch die Frage, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begründet werden kann? Die Prinzipientheorie hat damit keine große Schwierigkeiten. Darauf könnte man vielleicht antworten: So wie die \ 7 erhältmsmäßigkeitsprüfung durchgeführt wird, lässt sie sich gar nicht überzeugend begründen. Mündet ihre Ableitung aus der vermeintlichen Natur von Prinzipien doch lediglich in eine „analytisch behutsame Formalisierung des moralischen Intuitionismus". 63 Um bei der Rationalisierung von Entscheidungen einen Schritt weiterzukommen, schlägt Somek daher eine egalitäre, nicht aus der vorgeblichen Natur einer Norm bestimmten Typs abgeleitete Alternative zur Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Diese Alternative soll sich unmittelbar aus einer speziellen Ausprägung des Gleichheitsprinzips ergeben. Und damit hätten wir ein Prinzip, das sich gerade nicht als Optimierunggebot beschreiben lässt, da es nicht einfach neben anderen Prinzipien existiert, sondern als „side constraint" bei der Konstruktion von Regeln fungiert. Es handelt sich dabei um die Operationalisierung eines Werts, der ausnahmsweise nicht mit anderen konkurriert. Auf Someks Vorschlag und darauf, inwiefern er ebenfalls eine Bewertung kollektiver Ziele impliziert, komme ich im dritten Teil noch einmal ausführlicher zu sprechen. Hier sei nur mehr festgehalten, dass man natürlich weiter von Regeln und Prinzipien sprechen kann, sofern damit keine ontologischen Präexistenzbehauptungen aufgestellt werden. Der Ausdruck „Prinzip" bezeichnet so gesehen nur ein Sollen, dessen Rekonstruktion besonderen Aufwand erfordert. (Ende des Exkurses) Kommen wir damit wieder auf unsere Ausgangsfrage zurück. Wie sieht eine angemessene Interpretationstheorie für das Recht aus? Nun, Davidsons allgemeinen Vorschlag paraphrasierend könnte man sagen: Eine in der Sprache der Interpretin formulierte BN-Theorie für eine Sprache des Gesetzgebers ist dann angemessen, wenn aus ihr alle Sätze folgen, die man aus dem Schema

" Somek 2000,194.

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Interpretation und Zielannahmen (Bn) Ν wird korrekt angewendet genau dann, wenn R korrekt angewendet wird

gewinnt, indem man für das Symbol „N" eine Bezeichnung einer in der Sprache des Gesetzgebers formulierten Norm und für das Symbol „R" eine in der Sprache der Interpretin verfasste Regel einsetzt. Die rechte Seite der Äquivalenz enthält also die Erfullungsbedingungen für die Norm, die sich auf der linken Seite formuliert findet. Zur Illustration: Die Norm „Mord soll bestraft werden" hat man verstanden, wenn man zu folgender Äquivalenz gelangt: Die Norm „Mord soll bestraft werden" wird korrekt angewendet genau dann, wenn „Für alle χ gilt, dass, wenn χ vorsätzlich einen anderen Menschen tötet und kein Rechtfertigungsgrund vorliegt, χ bestraft werden soll" korrekt angewendet wird.64 Wie Davidson den Begriff der Wahrheit als Undefiniert voraussetzt, setze ich den Begriff der korrekten Anwendung einer Norm bzw. einer Regel voraus. Wollte man diesen Begriff näher erläutern, würde man sich wohl mit ähnlichen Problemen konfrontiert sehen wie die diversen Wahrheitstheorien. Klar ist nur, dass „korrekt" zwar juristisch korrekt meint, dass das Recht aber als eben nicht abgeschlossenes System den Korrektheitsbegriff nicht eindeutig definieren und fixieren kann. Gleichwohl wird man den Anwendungsbereich des Begriffs der Anwendung vorweg ein wenig einschränken müssen. So müsste es heißen: Eine Norm wird juristisch angewendet, wenn man mit ihr eine Rechtsfolge, mithin ein legales Recht oder eine Rechtspflicht begründet. Korrekt dagegen wird eine Norm dann juristisch angewendet, wenn mit ihr eine Rechtsfolge begründet wird, die sich mit ihr begründen lässt. „Für alle χ gilt, dass, wenn χ vorsätzlich einen anderen Menschen tötet und kein Rechtfertigungsgrund vorliegt, χ bestraft werden soll" wird demnach korrekt angewendet, wenn x,, nachdem x¡ vorsätzlich und ohne Rechtfertigungsgrund jemanden getötet hat, deswegen bestraft wird.

Ich verzichte hier auf die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache. Man könnte natürlich das, was das Symbol „N" bezeichnet einen Satz der Objektsprache nennen. Auf der rechten Seite der Äquivalenz hätten wir dann aber wieder eine Objektsprache, nämlich jene Sprache, in der R formuliert ist. Nur würde es sich dabei um eine andere Objektsprache handeln. Die Rechtsanwenderin verfugt, wenn man so will, über zwei Sprachen: eine Objektsprache und eine Metasprache, die den Begriff der korrekten Anwendung enthält. 64

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Auch wenn wir es hier schwerlich mit einer Definition zu tun haben65, hilft diese Feststellung, einen Unterschied zu verdeutlichen: Man wird kaum sagen, das ABGB sei nicht angewendet worden, wenn ein unzuständiges Gericht unter Berufung darauf entschieden hat. Wenn es die vom ABGB gebotene Rechtsfolge behauptet, hat es das Gesetz sogar korrekt angewendet. Und wenn es weiß, wie man das ABGB korrekt anwendet, d.h. welche Rechtsfolgen man damit begründen kann, versteht es dieses Gesetz auch. Falsch oder zumindest nicht korrekt angewendet wurde in diesem Fall die Jurisdiktionsnorm oder aber jene Normen, wonach die Jurisdiktionsnorm das für Zuständigkeitsfragen maßgebliche Gesetz ist. Das ABGB kann auf vielerlei Weise angewendet werden, von Privatpersonen wie von Organen der Rechtspflege. Jedenfalls falsch angewendet wird es aber, wenn aus ihm präzise Regeln über die Zuständigkeit abgeleitet werden. R enthält also die Anwendungsbedingungen für N, welche sich aber nicht in dem erschöpfen, was gemeinhin „Tatbestand" genannt wird. Damit dies möglich ist, muss die Sprache, in der R formuliert ist, wieder reichhaltiger sein als die Sprache, in der Ν formuliert ist — um vieles reichhaltiger. Und das ist sie, insofern R auch die Geltungsbedingungen von Ν enthält. Ν kann nicht korrekt angewendet worden sein, wenn ihr ein der „ratio" des Gesetzes widersprechender oder ein verfassungswidriger Inhalt oder der Verfassung, der Ν bzw. der Verfassung Inhalte unterstellt worden sind, welche diese als illegitim erscheinen lassen. Eine korrekte Anwendung von Ν setzt aber nicht nur voraus, dass N, wenn man es etwas salopp ausdrückt, der richtige propositionale Gehalt unterstellt wird, sondern auch, dass Ν richtigerweise als Rechtsnorm bzw. Rechtsnormzeichen oder gerade nicht als solches identifiziert wurde. Die richtige Identifikation von Ν als Rechtsnorm ist nämlich Voraussetzung dafür, dass das Normzeichen in jenen Kontext anderer Normzeichen gestellt wird, dem es seine wahre Bedeutung mitverdankt, und spezifisch rechtliche Konsequenzen zu rechtfertigen vermag oder eben nicht. Es liegt nämlich nahe, in Anlehnung an Brandon zu sagen, dass man, um eine beliebige Norm zu verstehen, wissen muss, welche Rolle sie bei der

^ E b e n s o g u t könnte m a n sagen, eine empirische Aussage sei dann wahr, wenn das, was mit ihr ausgesagt wird, eine Tatsache ist.

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Begründung juristischer Entscheidungen oder Auffassungen spielt.66 Ein „gentlemen's agreement", das als rechtlich verbindlicher Vertrag gedeutet und entsprechend durchgesetzt wird, wird juristisch nicht korrekt angewendet. Auch die Norm, welche das von einem Rechtspraktikanten oder einem Verwaltungsorgan verkündete „Urteil" (nicht einmal ein nichtiges, sondern ein „Nicht-Urteil" 67 ) zum Ausdruck bringt, wird nicht korrekt angewendet, wenn sie überhaupt angewendet und das „Urteil" beispielsweise als Exekutionstitel behandelt wird. Was nicht juristisch anwendbar ist, kann logischerweise auch nicht juristisch korrekt angewendet werden. In der Terminologie Klaus Günthers: Was nicht einmal prima facie anwendbar ist, kann niemals angemessen angewendet werden.68 Wer eine rechtlich unanwendbare Norm zur Begründung von Rechtsfolgen heranzieht, hat möglicherweise einen Teil ihrer Bedeutung erfasst, aber die volle rechtliche Bedeutung verfehlt. Im Anschluss an Davidson könnte man hier von „first meaning", also der ersten oder buchstäblichen Bedeutung sprechen. 65 Umgekehrt wird eine Rechtsnorm auch dann missverstanden, wenn eine andere Rechtsnorm, mit der der Gesetzgeber den zeitlichen, örtlichen oder sachlichen Anwendungsbereich genauer bestimmen möchte, nicht als Normzeichen ins Kalkül miteinbezogen wurde. So kann beispielsweise die Anwendung eines befristeten Gesetzes, welches durch Zeitablauf aufgehört hat zu gelten, inkorrekt sein. Die Befristung und jene Regelungen, die noch eine nachträgliche Anwendung des Gesetzes auf bestimmte Fälle vorsehen, sind in das Gesetz hineinzulesen. Wir Wir können Günther Patzig also nicht folgen, wenn er behauptet, dass man zwar über die „Interpretation eines Rechtssatzes und seine Anwendung auf den vorliegenden Fall" streiten könne, nicht aber darüber, „ o b es einen solchen Rechtssatz gibt oder nicht gibt" (Patzig 1983,11). 67 Rechberger/Simotta 2000, 437 f. 68 Man wird vielleicht nicht sagen können, ein Nicht-Urteil, das als Exekutionstitel betrachtet wurde, sei inkomkt angewendet worden. Aber darauf kommt es gar nicht an. Der Punkt ist: Die Norm wurde keinesfalls korrekt angewendet. Auch im Fall von sinnlosem Gebrabbel wird man nicht sagen, es sei, indem man ihm Wahrheitsbedingungen zuordnete, missverstanden worden. Es gab einfach nichts zu verstehen, weil sinnloses Gebrabbel eben naturgemäß nicht wahrheitsfihig ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es genauso wenig unwahr sein konnte. Man musste es nur als sinnloses Gebrabbel verstehen (diesmal im Sinne von „betrachten") - nicht immer eine leichte Aufgabe. Ähnlich schwer fällt bisweilen die Entscheidung, ob eine Norm überhaupt anwendbar ist, mithin Rechtsfolgen begründen kann. M Siehe dazu nur Davidson 1993b, 300 f. M

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haben es hier, wie es scheint, mit etwas Ähnlichem zu tun wie bei der Interpretation ironischer Äußerungen. Die Interpretation ironischer Äußerungen kann auch nur als gelungen angesehen werden, wenn sie den ironischen Gehalt erfasst hat. Der ironische Gehalt einer Aussage erschließt sich aber nicht aus deren Wortlaut, sondern aus den Uberzeugungen, wie sie u.a. in weiteren Äußerungen der Sprecherin zum Ausdruck gekommen sind. Halten wir einmal fest: Um eine Norm juristisch richtig zu verstehen, muss man auch wissen, ob sie (noch) zum geltenden Recht gehört, mithin dem stets abwesend anwesenden Gesetzgeber zugerechnet werden kann. Wer eine aus welchen Gründen immer unanwendbare Norm anwendet (indem er eine Rechtsfolge mit ihr begründet, die nicht mit ihr begründet werden kann), der hat die Norm nicht ganz verstanden. Man könnte genauso gut sagen: der hat ein Zeichen falsch gedeutet. Womöglich hat er den Kontext nicht ausreichend berücksichtigt; womöglich hat er die Norm in einen falschen Kontext gestellt. Eine rein moralische Norm, etwa das Gebot, nur an einen Gott zu glauben, wird (wenigstens hierzulande) juristisch nur soweit verstanden, wie man sie für rechtlich unanwendbar hält. Dass mit ihr möglicherweise ein Anspruch auf Rechtsgeltung verbunden wird, tut nichts zur Sache, wenn sich die Pflicht, die Norm als Rechtsnorm anzuwenden, nicht dadurch begründen lässt, dass man andere anwendbare Rechtsnormen korrekt anwendet. Doch zur richtigen Identifikation gehört auch die Zuordnung zum richtigen Rechtssystem. Der Adressatenkreis jeder Rechtsnorm bzw. jedes Rechtssystem, der Kreis derer, für die Rechtsfolgen überhaupt in Betracht kommen, ist durch andere Rechtsregeln festgelegt. Österreichische Gesetze richten sich zwar an die Allgemeinheit, aber diese Allgemeinheit ist eine durch völkerrechtliche Normen beschränkte. Die völkerrechtlichen Beschränkungen sind in jede innerstaatliche Rechtsnorm hineinzulesen. Damit werden Letztere zusätzlich kontextualisiert. Und wer ein österreichisches Gesetz teleologisch interpretiert oder reduziert oder analog anwendet und dabei auf ein öffentliches Interesse rekurriert, muss wissen, dass es, sollte dies einen Unterschied machen, um ein österreichisches Interesse geht. Ohne diese Kontextualisierung, d.h. ohne die Beschränkung auf eine partikulare Rechtsgemeinschaft wäre ein richtiges Verständnis allenfalls zufällig. Umgekehrt riskiert man, eine moralische Norm misszuverstehen, wenn man sie lediglich als Ausdruck einer parti-

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kularen Sittlichkeit interpretieren würde, deren Standards nur für eine bestimmte Gemeinschaft verbindlich seien. Denn der besondere Geltungsanspruch und der Anspruch, von jeder vernünftigen Person anerkannt werden zu können, 70 spielen bei der präzisen Bestimmung des Inhalts der Norm eine Rolle. Nun könnte jemand sagen, das Tötungsverbot verstehe man auch, ohne zu wissen, dass es nicht bloß Ausdruck einer lokalen Tradition ist. Aber dem ist nicht so. Das Tötungsverbot als bedingte Norm versteht man erst, wenn man auch über die Gründe Bescheid weiß, die eine Tötung ausnahmsweise rechtfertigen können. Und diese Rechtfertigungsgründe müssen in gewisser Weise über den lokalen Wertehorizont hinausweisen. 71 Dass man nach der Identifikation als Rechtsnorm 72 nach Möglichkeit jene Interpretation zu wählen hat, die Ν nicht in Widerspruch zu anderen (ebenfalls interpretationsbedürftigen) Normen setzt, ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem Gesetzgeber Rationalität zu unterstellen. Würden wir das nicht tun, dürften wir nicht annehmen, irgendetwas zu verstehen. (Auf diesen Punkt komme ich in 1.6.1 noch einmal ausfuhrlicher zu sprechen.) Problematisch erscheinen jene Fälle, wo Ν beim besten Willen nicht so interpretiert werden kann, dass es zu keinem Widerspruch mit der Verfassung kommt, ganz einfach weil jede Regel, die Ν vernünftigerweise zugeordnet werden kann, verfassungswidrig ist. Wir können über Wortbedeutungen nicht beliebig disponieren. „Kraftfahrzeug" lässt sich nun einmal nicht mit „Femsprechanlage" übersetzen. Das würde unsere (ohnehin instabile) B-Theorie, an der wir nach wie vor festhalten, ziemlich durcheinander bringen. Klar ist aber auch, dass dies nicht bedeuten kann, Ν sei unverständlich. In diesem Fall bringt man eine andere Überlegung ins Spiel, nämlich dass es im Sinne der Rechtssicherheit besser oder gemäß einer anderen Norm sogar geboten ist, die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen nicht Was nicht bedeutet, dass sie gültig sind, nxil sie anerkannt wurden. „In gewisser Weise", weil ich nicht behaupte möchte, dass die Begründung sich gänzlich von partikularen Traditionen lösen kann. Aber ich gehe davon aus, dass innerhalb einer partikularen Tradition zwischen ihr und dem Allgemeingültigen unterschieden werden kann. Das heißt, die Stabilität einer bestimmten Gemeinschaft spielt im Rahmen der Begründung von Rechtfertigungsgründen keine Rolle. 72 Was bisweilen, wie gesagt, bereits ein gewisses inhaltliches Verständnis voraussetzt. Letztlich muss man auch die Verfassung schon ansatzweise interpretiert haben, um ihre Gültigkeit beurteilen zu können. Aus der bloßen Faktizität ihrer Implementierung erwächst noch keine normative Kraft. 70 71

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einfach jedem beliebigen rechtsanwendenden Organ, sondern einer darauf spezialisierten Instanz, etwa einem Verfassungsgericht, zu überlassen. Für gewöhnlich hat man dafür sogar ein anderes Normzeichen bei der Hand, nämlich die entsprechenden Bestimmungen der Verfassung. Um die Komplexität von R zu veranschaulichen, hier noch zwei weitere Beispiele: (1) § 1295 ABGB. Sind demnach auch die Angehörigen eines überlebenden Geschädigten für etwaige Nachteile zu entschädigen? Eine Richterin muss, wenn sie § 1295 richtig interpretiert zu folgender Äquivalenz gelangen: § 1295 wurde korrekt angewendet, wenn dem durch ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten Geschädigten ein Schadenersatzanspruch zuerkannt worden ist, nicht aber den Angehörigen des Geschädigten. Denn R lautet verkürzt in etwa folgendermaßen: Für alle χ und y gilt: Wenn χ y rechtswidrig und schuldhaft schädigt, hat χ lediglich y den erlittenen Schaden zu ersetzen. Die Richterin kommt daher zu dem Ergebnis (im Übrigen im Einklang mit der in Osterreich herrschenden Lehre und Judikatur), dass § 1295 nur Schadenersatzansprüche für den unmittelbar Geschädigten vorsieht, solange dieser nicht getötet wurde, weil ansonsten § 1327 ABGB, wonach denen, die gegen einen Getöteten Unterhaltsansprüche hatten, Schadenersatzansprüche zukommen, überflüssig würde. Wollte man R etwas weiter von ausbuchstabieren, so käme man ungefähr zu folgendem Ergebnis: Für alle χ und y gilt: Wenn die österreichischen Gesetze als solche eine gültige Rechtsordnung konstituieren und das ABGB ein gültiger Bestandteil derselben ist, dann hat x, wenn χ y rechtswidrig und schuldhaft geschädigt, aber nicht getötet hat, y, nicht aber den Angehörigen von y Schadenersatz zu leisten. Um R zu bilden, muss freilich auch eine methodologische Norm angewendet werden, das Gebot der systematischen Interpretation nämlich. Diese Norm gehört ihrerseits zum interpretationsbedürftigen Rechtsbestand.73 Man sieht daran, dass es kaum möglich ist, eine angemessene Äquivalenz für eine Norm zu bilden, ohne einer Reihe anderer Normen Regeln zuzuordnen. (2) § 33 Abs. 1 Satz 1 öMRG. Demnach können Mietverträge nur gerichtlich gekündigt werden. Eine, wie manche (freilich anders als die Robert Walter und Heinz Mayer dürften nicht ganz falsch liegen, wenn sie, zumindest für das österreichische Verfassungsrecht, Interpretationsregeln als „mittelbaren Gesetzesinhalt" betrachten (siehe Walter/Mayer 2000, 62). Siehe auch Vogel 1998, 4 f. 73

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Judikatur hierzulande) meinen, korrekte Interpretation dieser Bestimmung impliziert jedoch folgende Äquivalenz: § 33 Abs. 1 Satz 1 wurde korrekt angewendet genau dann, wenn R korrekt angewendet wurde, wobei R ungefähr lautet: „Für alle χ gilt: Wenn die österreichischen Gesetze eine gültige Rechtsordnung konstituieren und das öMRG gültiger Bestandteil derselben ist und wenn χ ein Vermieter ist, dann hat χ gerichtlich zu kündigen, und wenn χ ein Mieter ist, kann und darf χ formlos kündigen." Wir sehen schon an diesen beiden Beispielen, dass eine solche Semantik des Rechts keinen essenziellen Unterschied zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung unterstellt. So handelt es sich zwar im ersten Fall nach traditioneller Lesart um bloße Rechtsanwendung mittels systematischer Interpretation, im zweiten Fall um Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion. Die Struktur der Äquivalenzen, die gebildet werden, ist indes immer die gleiche. Und damit wir sicher gehen können, dass R wirklich die Anwendungsbedingungen von Ν bezeichnet, müssen wir für jedes Normzeichen, für jede gesetzliche Bestimmung, für jeden Rechtssatz eines Präjudizes, eine Äquivalenz formulieren. Wenn wir eine Norm verstehen wollen, müssen wir viele anderen Normen ebenfalls verstehen. Als weiteren Beleg für die These, dass die Interpretation einer Norm immer mit der Interpretation anderer Normen einhergeht, dass semantischer Atomismus keine Option ist, noch ein Beispiel aus dem Völkerrecht: Was bedeutet der Text einer auf einer internationalen Konferenz beschlossenen Deklaration, etwa die Aussage „Alle Menschen haben ein Recht auf x", für Juristen? Hat man die volle juristische Bedeutung dieses Texts verstanden, wenn man in der Lage ist, im Einzelfall daran anschließend eine Regel zu formulieren, wonach ein Mensch (unter bestimmten Bedingungen) tatsächlich den Anspruch darauf hat, χ zugewiesen zu bekommen? Einen Teil der Bedeutung hat man natürlich verstanden, aber eben nur die „erste Bedeutung". Doch das ist nicht die ganze Bedeutung. Diese erschließt sich erst, wenn wir uns die Frage stellen, was aus dem Text bzw. Texten diesen Typs folgen soll. Und dann werden wir vielleicht zu dem Ergebnis kommen, dass „Alle Menschen haben ein Recht auf x" hier rechtlich nicht bedeutet, dass alle Menschen unter im Einzelfall zu spezifizierenden Bedingungen einen einklagbaren Anspruch auf χ haben, sondern nur, dass eine Interpretation

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internationaler Rechtstexte geboten ist, die sich mit der Anerkennung eines Menschenrechts auf χ verträgt. Gerade für Völkerrechtler gehört die Frage, ob etwas „hard" oder „soft law" ist, zum interpretatorischen Tagesgeschäft — eine Frage, die sich wiederum nur im Rückgriff auf andere Normen beantworten lässt. Für viele Nonnzeichen, insbesondere für solche, die für „Prinzipien" stehen, müssen, wie wir gesehen haben, sogar mehrere Regeln formuliert werden. Schließlich verdanken Prinzipien ihre Bedeutung erst der Relation zu anderen Prinzipien oder Zielen im Einzelfall. Insofern es immer neue Abwägungsgelegenheiten geben wird, lässt sich ihre Bedeutung, welche eine Gewichtsdimension aufweist, überhaupt nicht fixieren. Kein Prinzip lässt sich getrennt von anderen Prinzipien und Zielen anwenden. Schon das Prinzip, wonach niemand von eigenem Unrecht profitieren soll, wird nur zur Korrektur der zunächst sich aufdrängenden Bedeutung anderer Normzeichen herangezogen und gegen ein anderes Prinzip, etwa dasjenige der Rechtssicherheit, abgewogen. Andernfalls enthielte es selbst ein definitives Sollen und wäre schon kein Prinzip mehr. Wer also eine BN-Äquivalenz für ein Prinzip formuliert, formuliert gleichzeitig eine Äquivalenz für ein anderes Prinzip oder für ein Ziel, insofern einem solchen überhaupt normative Bedeutung zukommt. Letzteres wäre dann der Fall, wenn sich das Ziel in eine Rechtsnorm mit der Form „Es ist geboten, Ziel Ζ anzustreben" übersetzen ließe.74 Eine Semantik wie die eben skizzierte lässt das Recht natürlich wesentlich offener erscheinen als etwa Dworkins Konzeption, die bereits mit einem Konsens über die Zuordnung von Normzeichen zur Sphäre des Rechts beginnt. 75 Soziologisch-empirisch gesehen ist das zunächst natürlich vollkommen plausibel. Dass parlamentarisch verabschiedete Gesetze Recht darstellen, steht normalerweise tatsächlich nicht zur Debatte. Und ein Rechtssystem könnte wohl nicht funktionieren, wenn seine Grundlagen heftig umstritten wären, wenn seine Gründungsparadoxie der Selbstlegalisierung ständig thematisiert würde. Dennoch versteht es sich nicht von selbst. Bisweilen zeigt sich das auch, nämlich dann, wenn es die Zuordnung neuer sozialer Praktiken zum Rechtssystem zur Diskussion steht. In diesem Fall stellen sich wieder die letzten Nicht jedes beliebige kollektive Ziel kann als Normzeichen fungieren. Allerdings geht auch Dworkin davon aus, dass schon die Zuordnung eines Normzeichens zum Recht eine interpretative Entscheidung impliziert (siehe Dworkin 1986,66). 74

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Fragen der Jurisprudenz. Nichtsdestoweniger sind es juristische Fragen. Man denke an die Diskussion, ob die so genannte „lex mercatoria" Recht oder lediglich eine Zusammenfassung von Handelsbräuchen darstellt. Nun stellt sich aber die Frage, was bei einer solchen Ubersetzung von gesetzlichen Bestimmungen/Normzeichen in Rechtsregeln der gemeinsamen Wirklichkeit entspricht, auf die sich empirische Sätze der Objekt- und der Metasprache beziehen. Und die Antwort darauf lautet: zum einen eine bestimmte sprachliche Praxis und zum anderen bestimmte Wertungen und Zielsetzungen (ob sie der Gesetzgeber irgendwo expliziert hat oder o b sie etwas aufwendigerer Rekonstruktionen bedürfen). 76 Die juristische Praxis findet nicht im sprachlichen und evaluativen Vakuum statt. Insofern der Gesetzgeber eine bestimmte Rechts- und Sprachgemeinschaft adressiert und sich deshalb Zeichen bedient, von deren Verständlichkeit er ausgeht, setzt er bei den Rechtsunterworfenen schon eine bestimmte B-Theorie voraus. Die gemeinsame B-Theorie wird selbst zu einem Teil der gemeinsamen Wirklichkeit. Gegenstand der Überzeugungen, mit denen Rechtsinterpreten beginnen, ist also weniger die natürliche als eine soziale Wirklichkeit, eine von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft geteilte B-Theorie, mit anderen Worten: eine Sprache. Vielleicht könnte man an dieser Stelle, da es nicht um die Konstitution von Bedeutung geht, den Begriff der sprachlichen Konvention gebrauchen. 77 Wenn das stimmt, dann lässt sich der Anti-Konventionalismus in

Davidson trifft eine analoge Feststellung für die Interpretation literarischer Werke. Die Stelle der gemeinsamen Wirklichkeit im Triangel nähmen dort andere literarische Werke in derselben Sprache, von denen der Autor erwarten darf, dass sie der Leserschaft bekannt sind, ein (Davidson 1993b, 306). Dieser Hintergrund bildet aber keine vorinterpretative Wirklichkeit, die in irgendeinem Korrespondenzverhältnis zu irgendwelchen Aussagen steht. Er ist vielmehr integraler Bestandteil der Kommunikation. Es gibt da keine einfache Dualität. Objektivität impliziert Kommunikation bzw. Intersubjektivität - gerade im Recht. Deshalb sollte man es auch vermeiden, die Gültigkeit juristischer Aussagen als Korrespondenz mit einer „institutionellen Wirklichkeit" zu definieren. Siehe auch Dworkin 1991b. 76

Zum Standardbegriff der Konvention siehe Lewis 1975, 5 f. Nach Lewis ist eine Regularität R eine Konvention, wenn sechs Bedingungen erfüllt sind: „(1) Everyone conforms to R, (2) Everyone believes that the others conform to R. (3) This belief that the others conform to R gives everyone a good and decisive reason to conform to R himself. ... (4) There is a general preference for general conformity to R rather than lightly-less-thangeberal conformity - in particular, rather than conformity by all but one.... (5) R is not the only possible regularity meeting the last two conditions. ... (6) Finally, the various facts listed in conditions (1) to (5) are matters of common (or mutual) knowledge: they are known to everyone, it is known to everyone that they are known to everyone, and so on." 77

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einer Theorie der Rechtssprache und des Rechtssprachverstehens nicht wirklich konsequent durchhalten. Nichtsdestoweniger erweisen sich, wie wir noch sehen werden, auch im Recht Konventionen nicht als letztentscheidend. Außerdem sind die vielzitierten Grenzen des konventionellen Wortsinnes oft alles andere als klar zu erkennen, und Juristinnen, die auf Konventionen Bezug nehmen, wiederholen diese nicht nur, sie fuhren zugleich (wenn auch ganz unscheinbare) Differenzen ein. Bisher haben wir aber lediglich ein Kriterium für die Angemessenheit einer juristischen Interpretationtheorie formuliert. Eine juristische Interpretation, welche naturgemäß darauf abzielt, die Intentionen eines (vernünftigen) Gesetzgebers zu erkennen/rekonstruieren, muss, um als korrekt gelten zu können, Teil einer solchen Theorie sein. Perfektes Vorabverständnis ist natürlich unmöglich. Dazu müsste man sämtliche Anwendungssituationen, auch die zukünftigen, kennen. Dann allerdings hätte man es nicht mehr mit anwendbaren Regeln zu tun, sondern mit lauter punktuellen Entscheidungen.78 Und diese wären nicht mehr gut oder schlecht begründet (eine Unterscheidung, die im Begriff der korrekten Anwendung einer Regel enthalten ist), ihre Richtigkeit wäre vielmehr selbstevident. Im Übrigen darf man den die einzelne Regel übersteigenden Horizont auch nicht zu einem Ganzen hypostasieren, das sich irgendwie bestimmen lasse. Denn unter der Bedingung, dass es keine zwei Interpreten gibt, deren Überzeugungssysteme identisch sind, würde dies die Schlussfolgerung nahe legen, dass Konsens sogar im Kleinen immer schon ausgeschlossen ist. Dann aber würde unverständlich, wie man eine Sprache, etwa die Sprache eines partikularen Rechtssystems, erlernen könnte. Auf diese Weise wäre man geradewegs ins Messer deklarierter Anti-Holisten wie Jerry Fodor und Ernest Lepore gelaufen, die den Holismus durch die These kennzeichnen, man müsse alles, was der Andere sagt, verstehen, um irgendetwas verstehen zu können. 7 ' Es ist die Unbestimmtheit des Ganzen, die Heterogenität der juristischen Logik, die Notwendigkeit, ökonomische, moralische und sonstige Begründungen für Regeln zu rekonstruieren, welche das Recht politisch bleiben lassen. Dennoch: Den Begriff der (objektiv) korrekten Anwendung benötigen wir; ohne ihn müssten wir auch auf die Vorstellung verzichten, man könne juristische Überzeugungen haben. Das System von Äquiva™ Günther 1989, 173. 7 ' Siehe nur Fodor/Lepore 1992, 9 und dazu Seel 2002, 32 ff.

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lenzen, von denen eben die Rede war, muss daher als dynamisches begriffen werden und nicht als statischer Bedeutungsträger. Das eigentlich Interessante ist also die Vorgangsweise bei der Bildung von B]\i-Äquivalenzen. Darauf komme ich gleich ausführlicher zu sprechen. Hier sei nur festgehalten, dass jegliches Verständnis rechtlicher Zeichen den Begriff der Objektivität, d.h. die Unterscheidung zwischen korrekten und inkorrekten Regelanwendungen, bereits voraussetzt. Doch wie immer man vorgeht, einige gesetzliche Anordnungen und Präjudizien wird man bei der Bildung von BN-Aquivalenzen jedenfalls wegen Mangelhaftigkeit aussondern müssen - sowie man als radikaler Interpret nach und nach auch die falschen Überzeugungen des Sprechers erkennt. Wenn man einen vernünftigen Gesetzgeber konstruiert, benennt man also gleichzeitig die (sprachlichen und sonstigen) Irrtümer des empirischen Gesetzgebers sowie die Irrtümer der Rechtsanwenderinnen. Den Ausschlag gibt letztendlich möglicherweise die Ästhetik, die Eleganz des Arguments. 80 Aber kann, wenn Moral und Politik ins Spiel kommen, überhaupt noch von Objektivität die Rede sein?

Siehe dazu Lege 1999, 563 ff.

1.5 Moral, Politik und Objektivitätsansprüche Die soziale Wirklichkeit als Hintergrund des juristischen Diskurses ist natürlich insofern prekär, als sie ständigen Modifikationen unterliegt, nicht zuletzt solchen, die durch den juristischen Sprachgebrauch selbst veranlasst werden. Das Recht macht nicht einfach von der Alltagssprache, von den „Konventionen", Gebrauch, sondern es partizipiert an der Alltagssprache. (Wie Luhmann gegen Habermas' Begriff der Lebenswelt einwendet: „Es ist doch Alltag überall, in jeder Bürokratie, in jeder Börse, bei jedem Aktienkauf." 1 Auch bei Gericht, könnte man hinzufügen und zwar nicht nur in der Kantine, sondern genauso bei den Beratungen eines Richtersenats.) Die Unbestimmtheit der Interpretation reicht auf diese Weise in das Recht hinein.2 Auffalliger ist jedoch eine weitere Form der Unbestimmtheit, die sich daraus ergibt, dass mehrere Rekonstruktionen von Wertungen und Zielsetzungen denkbar sind, ohne dass es ein neutrales Kriterium zu geben scheint, um zwischen ihnen zu entscheiden. Die Natur ist etwas, das nicht von unseren Überzeugungen abhängt. Die Ontologie von Werten und Zielen und deren Erkenntnis mutet dagegen um einiges mysteriöser an. Da aber in die juristische Interpretation unweigerlich moralische und sonstige Wertungen einfließen, müsste zumindest geklärt werden, ob solche Wertungen objektiv sein können. Wären sie nämlich naturgemäß nichts anderes als subjektiv, müsste der Begriff juristischer Objektivität ebenfalls ad acta gelegt werden. Bevor ich mich mit der Interpretation selbst befasse, möchte ich mich daher noch mit dem Einwand beschäftigen, dass, wenn jede Interpretation notwendigerweise mit einer Unbestimmtheit zu kämpfen hat und sogar eine Unterstellung von Wertungen und Zielsetzungen impliziert, für Interpretationen keine Objektivitätsansprüche erhoben werden dürften.

Luhmann 1996, 71. Im Übrigen unterscheiden sich juristische Aussagen in dieser Hinsicht nicht wesentlich von sozialwissenschaftlichen Aussagen, die ebenfalls gleichzeitig eine Wirklichkeit beschreiben und diese Wirklichkeit verändern, weil sie zu dieser gehören. Trotz ihrer performativen Komponente werden solche Theorien mit Geltungsansprüchen verbunden. Man denke nur an die lange Zeit vorherrschenden realistischen Theorien internationaler Beziehungen, welche die Außenpolitik von Staaten, insbesondere der USA, nachhaltig geprägt haben (siehe Ashley 1986, 270). Ein Hinweis auf die performative Dimension von Interpretationen findet sich auch bei Luhmann 1995b, 137. Demnach wird ein spezifischer Umgang mit dem Kausalschema innerhalb der Gesellschaft seinerseits zum Kausalfaktor. 1

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In einer schwächeren Version läuft der Einwand auf das Argument hinaus, dass Demokratie ein Ausdruck der Leugnung „absoluter Wahrheiten" sei, dass es also zumindest Demokraten gut zu Gesicht stünde, auf Begriffe wie „Wahrheit" und „Rationalität" zu verzichten. Und Demokratie genieße schließlich Vorrang vor der Philosophie.3 Jede politische Philosophie, die heute noch versucht, Kriterien für Rationalität zu definieren, und universelle Geltungsansprüche erhebt, muss mit mindestens zwei Einwänden rechnen: (1) Rationalität sei etwas unhintergehbar kontextgebundenes und damit Partikulares; wie immer man den Kontext fesdegt, funktionalistisch wie die Systemtheorie oder kulturalistisch wie etwa der Kommunitarismus, eine Rationalität, die sämtliche Kontexte transzendiert, gebe es nicht. (2) Universelle Geltung sei ebenso unmöglich; jeder Universalismus verkenne seine partikular-kulturelle Imprägnierung. Beide Einwände gehören mittlerweile zum Common sense postmodernen Denkens; welche Ordnung sicher auch immer etabliert hat, sie bleibe kontingent. Ich möchte im Folgenden nicht die philosophischen Programme verteidigen, gegen die sich diese Kritik richtet, etwa die Gerechtigkeitstheorie John Rawls' und die Diskursethik, sondern zeigen, dass die Kritik, wiewohl gerne „das Politische" beschwörend, eine wesentliche Pointe politischer Praxis verfehlt. Ich setze hier also meine Strategie fort, Objektivitätsansprüche als solche zu verteidigen, ohne anzugeben, was genau objektiv richtige Entscheidungen bzw. wahre juristische Aussagen sind und woran wir sie erkennen, geschweige denn, wie man zu ihnen gelangt. Derartige (zweifelhafte) Fragen überlasse ich den einschlägigen metajuristischen und metaethischen Unternehmen.4 5

So etwa Rorty 1988.

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Siehe dazu die Beiträge in Leiter 2001. Dass objektives Wissen nicht direkt mit Wahrheit

zu tun habe, dass die Menschen im Mittelalter

gwusst hätten,

dass sich die Sonne um die

Erde dreht (siehe Farber/Sherry 1997, 27) - diese Auffassung mutet aber dann doch etwas seltsam an. Dies umso mehr, wenn sie von Autoren vertreten wird, die sich als aufrechte Kämpfer gegen grassierende Relativismen verstehen. Im Übrigen schließe ich mich Dworkin an, der die abstrakte Frage nach der Möglichkeit von Objektivität im Recht und in der Moral für uninteressant hält: „I see no point in trying to find some general argument that moral or political or legal or aesthetic or interpretive judgements are objective. Those who ask for an argument o f that sort want something different from the kind o f arguments I and they would make for particular examples or instances o f such judgements. But I do not see how there could be any such different arguments. I have no arguments for the objectivity o f moral judgements except moral arguments, no arguments for the objectivity o f interpretive judgements except interpretive arguments, and so forth" (Dworkin 1983a, 297, Hervorhebung im Original).

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

111

Ganz besonders problematisch erscheinen Objektivitätsansprüche aber im Zusammenhang mit Zielargumenten. Und das ist wohl ein Grund dafür, dass Dworkin Entscheidungen (in den Bereichen Zivilund Verfassungsrecht) nicht auf irgendeine Policy gestützt wissen will.

1.5.1 Zur Objektivität von Normen und Werturteilen Im Folgenden möchte ich kurz den Objektivitätsanspruch für jene politischen, insbesondere moralischen Einstellungen verteidigen, von denen Urteile über korrekte und inkorrekte Rechtsanwendimg abhängen. Bisher haben wir nur festgestellt, dass der Objektivitätsbegriff schon im Bereich des Empirischen mit Intersubjektivität zu tun hat. Dass Rechtsanwendungen korrekt oder inkorrekt sein können, werden auch Positivisten zugeben. Positivisten könnte aber sagen, dass man dieser Entscheidung nicht notorisch subjektive moralische Wertungen zugrunde legen könne.5 Doch sollte man moralische Einstellungen tatsächlich als naturgemäß subjektive Präferenzen beschreiben?6 Dass mit moralischen Urteilen oft starke Emotionen einhergehen, spricht noch nicht gegen ihre Objektivität. „Value judgments", schreibt Davidson, typically express our positive and negative sentiments, and are potentially motivational: they are reasons f o r and against acting when action is possible or appropriate. These features o f value judgments have ... often been thought to distinguish them f r o m "factual" or "descriptive" judgements. Properly qualified, I think this is right. But it does not follow that value judgments are not true or false. T h e emotive and motivational attitudes that always, or typically, or often, go with a judgement d o not tell us its semantics; they follow f r o m semantics. 7

Beispielsweise hätte noch niemand eine Semantik entwickelt, nach der Konjunktionen wie „und" oder „wenn ... dann", welche auch in Werturteilen vorkommen, nicht wahrheitsfunktional wären.8 » Siehe Kelsen 1960, 65 ff. , 402 ff. 6 Siehe z.B. Foot 1978, 154, wo es heißt, „there is no such thing as an objectively good state of affairs. Such constructions as 'a good state of affairs', 'a good thing that p\ are used subjectively, to mark what fits in with the aims and interests of a particular individual or group" (Hervorhebungen im Original). Weiters: Ayer 1970, 135 ff; Stevenson 1974; Ross 1933, 429 ff.; Geiger 1964, 297 ff. Allgemein zum Subjektivismus Rachels 1993. 7 Davidson 1999, 358. 8 Davidson 2000, 19. Siehe auch die Kritik des Emotivismus bei Mylntyre 1997, 26 ff.

112

Interpretation und Zielannahmen

Aber lassen wir solche logisch-semantischen Feinheiten einmal beiseite. Zunächst liegt es nahe, Werte einfach als Hypostasierungen von rein subjektiven Wertungen zu betrachten. Demnach würden Werte leiblich auf nichts anderem beruhen als auf subjektiven Präferenzen; die Präferenz würde vor dem Wert kommen. Aber diese Annahme würde uns beim Versuch, die Bedeutung von Sätzen zu ermitteln, mit denen Wertungen zum Ausdruck gebracht werden, nicht weiter bringen. Bei der Interpretation solcher Sätze arbeiten wir nämlich immer mit Vorstellungen darüber, was vernünftige Werturteile sind. Was vernünftig ist, kann aber keine Sache privater Vorlieben sein.' Wer sich also an einer sozialen Praxis beteiligt und „wertet", setzt Werte (auch solche, die Ziele vernünftig/wertvoll machen) voraus. Werte ergeben sich für den einzelnen Teilnehmer nicht einfach aus subjektiven Wertungen oder aus vorgängigen Präferenzen.10 Im Vakuum der Wertefreiheit gibt es kein Werten, welches zunächst besser als eine von der Attraktivität und dem Gewicht der Werte bestimmte Auswahl zu verstehen ist. „The ordinary person", schreibt Iris Murdoch, „does not, unless corrupted by philosophy, believe that he creates values by his choices. He thinks that some things really are better than others and that he is capable of getting it wrong." 11 Genauso argumentiert James Griffin: W e see that an object has certain features, such as that it is pleasant or healthy or that it gives security, or that it would be an accomplishment. And therefore we desire it. W e have always to be able to cite some feature that makes the desirability of the object intelligible; otherwise the notion of "value" loses hold. ... N o one can just make something valuable by adopting it as his own personal aim. O f course, people disagree in their values. I might find mountain-climbing exciting and value it highly; you may find it simply terrifying and not value it at all. But we do not disagree here in our values in any deep or interesting way. Virtually everyone values excitement and does not value pure terror, though people differ in what they find ex-

' Siehe auch Raz 2001, 42, wonach „the mini of our attachments explain their value to us. Their value makes our attachments intelligible to us, and to everyone else" (Hervorhebungen im Original). Ausführlich dazu Hurley 1989,102 ff. " Murdoch 2001, 95. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie weit sich Murdochs platonistischer Ansatz mit der hier vertretenen, wenn schon nicht dezidiert realistischen, so doch wenigstens anti-antirealistischen Theorie kompatibilisieren lässt.

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

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citing and terrifying. We all have to be able to connect what we value to some generally intelligible desirability feature.12 Dennoch kann es nicht so sein, dass Wünsche, Geschmäcker etc. gar keine Rolle bei der Konstituierung von Werten spielen. Allerdings sind Wünsche und Vorlieben ihrerseits oft davon abhängig, dass etwas verstanden oder erkannt wird. Natürlich haben egalitaristisch gesinnte Menschen eine Präferenz für die Gleichstellung von Mann und Frau. Worauf es aber ankommt, ist, dass sie diese Präferenz haben, weil sie die Gleichstellung für richtig und zuvor die Geschlechtergleichheit für wertvoll halten und auch das ein oder andere Argument dafür zu haben glauben. Vielleicht ist die strikte Dichotomie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen daher auch hier nicht aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne, also gegen die Trennung des Privaten-Voluntativen vom ÖffentlichenKognitiven schreibt Griffin weiter: „Desire is not blind. Understanding is not bloodless. Neither is the slave of the other. There is no priority."13 Wir haben es, so scheint es, mit einem Phänomen zu tun, welches jenem der kollektiven Intentionen zumindest ähnelt. Natürlich handelt es sich bei Werten auch um individuelle Präferenzen, aber um Präferenzen, die sich nicht auf private Entscheidungen der Individuen zurückführen lassen. Wie derjenige, der sich an einem kollektiven Unternehmen beteiligt, und sei es ein verbaler Schlagabtausch auf einer Coctail-Party, von einem Wir, nämlich einem sozialen Setting, ausgeht, das er nicht erfunden hat, so setzt der Wertende Werte voraus, die gewissermaßen Gemeinschaftseigentum sind.14 Dass es dazu Erziehung, mithin eines Lernprozesses bedarf, tut nichts zur Sache. Dies gilt für das Erkennen subtiler Motive und Strukturen in Kunstwerken, etwa Musikstücken, genauso. Auch die Sensibilität, jedenfalls aber die dafür nötigen Begriffe, müssen irgendwie erworben werden. Und es wäre verfehlt, zu sagen, Beschreibungen solcher Qualitäten brächten nur Projektionen zum Ausdruck.

Griffin 1988, 27. Siehe auch Griffin 1993. " Griffin 1988, 30. Allerdings erscheint ein restloser Kurzschluss von Werten mit sozialen Praktiken nur auf den ersten Blick plausibel. Für die Teilnehmer an der Praxis transzendieren sie diese, insofern sie sie definieren (siehe dazu Raz 1999a). Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auch an Charles Sanders Peirce erinneren, für den „Werten" nichts anderes als eine Form logischen Schlussfolgerns war (siehe Lege 1999, 416 ff.). 12

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Interpretation und Zielannahmen

Ähnliches gilt für ethisches Urteilen, insofern es in der Anwendung von Begriffen besteht.15 Zwar haben diese Begriffe, zumal sie kommunikativ gebildet werden, immer eine Geschichte. Das gilt aber auch für empirische Begriffe. Die Bedeutung empirischer Begriffe hat, wie wir gesehen haben, viel mit der Wahrheit von Sätzen zu tun, für deren Erkenntnis Kriterien benötigt werden, die ihrerseits erst aus der kommunikativen Praxis heraus entstehen, ohne ein für allemal fixiert werden zu können. Denn es gibt, wie Robert Brandom schreibt, keine Vogelperspektive, aus der sich der Kampf der konkurrierenden Behauptungen beobachten lässt und aus der man diejenigen identifizieren kann, die es verdienen, zu gewinnen, oder auch nur notwendige und hinreichende Bedingungen dafür formulieren kann. 1 6

Das Argument der Historizität ethischer Begriffe gibt also nichts her, sowie das Argument, dass religiöse Überzeugungen immer physisch bedingt sind, selbst wenn dies zuträfe, den Wahrheitswert Letzterer nicht in Zweifel ziehen kann.17 Hinzu kommt, dass Wertbegriffe und empirische Begriffe mitunter eng verwoben sind, so dass die Rede vom „naturalistischen Fehlschluss" oft nur von einer eigentümlichen Blindheit zeugt. Wer etwa weiß, was ein Gärtner ist, hat auch Vorstellungen darüber, was ein guter Gärtner ist.18 Gerade die Politik ist voll von Begriffen, in denen sich evaluative und

Gegen das Argument, dass die Existenz von Meinungsverschiedenheiten und die Tatsache, dass evaluativen Einstellungen anerzogen werden, die Objektivität von Werturteilen ausschließen würden, wendet sich auch Thomas Nagel (1991, 66 f.). Für eine Kritik an der These, dass (ethische) Werturteile entweder nur Projektionen privater Vorlieben oder intuitive Erkenntnisse vorbegrifflicher Gegebenheiten seien, siehe McDowell 1998b. Gegen die Reduktion von Werturteilen auf Projektionen argumentiert auch Finnis 1983, 60 ff. Demnach unterscheidet sich die Werterkenntnis hinsichtlich des ihr zugrunde liegenden Anthropozentrismus nicht vom Erkennen sekundärer Qualitäten wie Farben (siehe auch Davidson 2000, 23). Die Argumentation weckt Assoziationen mit Searles Unterscheidungspaar ontologisch objektiv/subjektiv und epistemisch objektiv/subjektiv. So sind nach Searle soziale Tatsachen, wiewohl ontologisch lediglich subjektiv, epistemisch durchaus objektiv. Das heißt, sie existieren zwar nicht unabhängig von menschlichen Intentionen bzw. Überzeugungen, können aber doch Gegenstand wahrer und falscher Aussagen sein. Wer beispielsweise einem 10 Euro-Schein den Wert von 100 Euro zuschreibt, irrt sich ganz einfach (siehe Searle 1997, 17 ff.). 16 Brandom 2000, 834. " James 1997, 48. 18 Siehe dazu Williams 1978c, 47 ff.; Maclntyre 1997, 82 ff.; Searle 1964. Für eine Kritik des postivistischen Selbstverständnisses der Wissenschaften zuletzt Putnam 2002a, 28 ff. 15

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

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deskriptive Aspekte miteinander verschränken. Man denke an den Begriff „Demokratie". Zu wissen, was eine Demokratie ist, heißt zu wissen, was eine gute bzw. eine bessere oder schlechtere Demokratie ist. Und um den Wert der Demokratie, gerade der guten, zu belegen, kann man auf eine Fülle anderer Überzeugungen zurückgreifen: auf ökonomische, auf moralische, auch auf epistemologische. Freilich, den Begriff der ethischen Objektivität verständlich zu definieren dürfte uns kaum gelingen. Doch müssen wir das überhaupt? Wenn wir über keine nicht ihrerseits interpretationsbedürftige Definition von Wahrheit für empirische Aussagen verfügen, wenn sämtliche Wahrheitsdefinitionen entweder unverständlich, nichtssagend trivial oder sonstwie defekt sind und wenn wir dennoch am Wahrheitsbegriff festhalten, warum dann im Bereich des Evaluativen und Normativen den Begriff der Objektivität ausbuchstabieren oder auf entsprechende Geltungsansprüche verzichten bzw. sie für illusorisch halten? Ganz abgesehen davon, dass das Empirisch-Deskriptive, das Evaluative und das Normative einander immer schon „kontaminieren". Wenn also ein Subjektivist und Skeptiker wie John Mackie behauptet, dass die Semantik ethischer Urteile lediglich den Schein von Objektivität erzeugt,19 maßt er sich genau diese unmögliche archimedische Position an. Und er tut dies, indem er Aussagen darüber, was gut und schlecht ist, allzu extravagante weitere Annahmen zuordnet: etwa die Annahme, ethische Urteile korrespondierten Werte, die in einem unabhängigen moralischen (Kraft-)Feld existieren. Solche „externen Skeptiker" können Völkermord durchaus für schlecht und in weiterer Folge sogar falsch halten. Sie glauben nur nicht, dass Völkermord wirklich falsch ist. Denn die Falschheit läge nicht „da draußen" in einer nichtsprachlichen Wirklichkeit der Werte und Normen, denen Aussagen entsprechen könnten. Sie trennen Inhalt und „Status" von moralischen Aussagen. Dagegen könnte man einwenden, dass es vielmehr diese Trennung zwischen inhaltlicher Überzeugung und „metaethischer" Reflexion ist, die auf einer Illusion beruht. Angeblich moralisch neutrale Reflexionen über die Moral und ihre Objektivität als solche schaffen demnach nur Probleme, im günstigsten Fall lediglich für den Philosophen, womöglich aber auch für uns, die wir nun plötzlich, ohne dass uns " Siehe Mackie 1983b, Teil I, insbesondere 43 ff. (das „Argument aus der Absonderlichkeit").

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Interpretation und Zielannahmen

ein inhaltliches Gegenargument geboten worden wäre, unsere Überzeugungen nicht mehr für wahr halten dürfen.20 Wir können uns aber immer noch an jene halten, die uns überhaupt von der Objektivität-als-Korrespondenz-Vorstellungen befreien wollen. Wenn diese nämlich Recht haben und sich auch für empirische Aussagen kein verständliche Objektivitätsdefinition finden lässt, brauchen uns „Beweise", dass moralische Aussagen mit keiner Wirklichkeit „da draußen" übereinstimmen, nicht weiter zu beunruhigen. Wir können solchen Beweisführungen nämlich entgegenhalten, dass der verwendete Begriff der Korrespondenz weniger falsch als vielmehr unverständlich sei - nicht nur, wenn es um Moral gehe. Dem könnte man noch hinzufügen, dass wir zur Ontologie der Werte und Normen — wenn wir denn überhaupt eine benötigen - genauso gelangen wie zur Ontologie der empirischen Wirklichkeit: Wir erschließen sie aus dem Ensemble unserer Überzeugungen und der Semantik unserer Sprache, ohne über eine Metasprache zu verfugen. Ontologische Überzeugungen kommen auch erst nach dem Erwerb von Begriffen ins Spiel. Und wenn wir glauben, dass die natürliche Wirklichkeit objektiv existiert, dann nicht, weil wir uns auf eine verlässliche Erfahrung stützen könnten, sondern weil einfach zuviel an dieser Überzeugung hängt, nämlich unser Verständnis von Kommunikation, Begriffserwerb und letztlich der wissenschaftlichen Praxis selbst. Ein letztes Fundament gibt es aber, wie die analytische Philosophie seit Wittgenstein und Seilars gezeigt hat, für das System empirischer Überzeugungen, genauso wenig für andere Überzeugungen. Wenn Mackie meint, „am Ende" müsse der ethische Objektivist einer so mysteriösen „Art von Einsicht" wie der Intuition Zuflucht nehmen,21 dann könnte man erwidern, dass am Ende auch die „gewöhnliche" empirische Erkenntnis zu einem Problem wird - und dass dieses Problem erst mit Vorstellung verschwindet, man könne die Erkenntnis fundieren (etwa in „Sinneserfahrungen"). So hat Sellars gemeint, dass eine Fundierung empirischer Erkenntnisse und Überzeugungen, also epistemischer Tatsachen, in nichtepistemischen Fakten wie Empfindungen dem naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen ähnle.22

20 21 2!

Siehe dazu Dworkin 1996c. Mackie 1983b, 44 f. Sellars 2000.

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

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Allerdings scheint es ohnehin keinen Grund zu geben, Werte als Entitäten wie Moleküle oder Tische aufzufassen. Genau genommen ist die beliebte Frage, wo denn die Werte lokalisiert sind, nach Davidson genauso unverständlich wie die Frage, wo denn Eigenschaften wie die Röte oder die Größe eigentlich ihren Platz in der Natur haben: The acts, institutions, and objects to which values are attributed are real enough and typically exist in ordinary space and time. But to have a value is to have a property, and properties are abstract objects. They are nowhere. The question of where they are is meaningless. 23

Aber selbst wenn man eine kausale Verbindung zwischen Welt und Überzeugungen, wie sie den empirischen Bereich kennzeichnet, für das Feld der Moral leugnet (übrigens müsste man das dann wohl auch für die Mathematik) und strikt zwischen der Welt-auf-Wort-Ausrichtung normativer Aussagen und der Wort-auf-Welt-Ausrichtung empirischer Aussagen unterscheidet24, dem Objektivitätsanspruch entzieht man damit nicht schon jegliche Grundlage. Ist Letzterer doch verbunden mit dem Verbindlichkeitsanspruch. Dieser wiederum wäre unverständlich, wenn moralisches Sollen in lediglich subjektive oder kulturelle Präferenzen umgedeutet würden. Die Gegenposition wäre: Moralische Normen sind nicht verbindlich, sondern allenfalls faktisch existent. (Und wenn die Moral nicht verbindlich ist, dann ist nichts verbindlich. Mit dieser Überzeugung wiederum würden wir weite Teile unserer ohnehin an keinem bestimmten Punkt verankerten Praxis endgültig aus den Angeln heben.25) Ganz mysteriös und aus der Luft gegriffen erscheint dieser Verbindlichkeitsanspruch aber spätestens dann nicht mehr, wenn man bedenkt, dass ihm Werturteile zugrunde hegen, die sich ihrerseits durch eine gewisse Wort-auf-Welt-Ausrichtung auszeichnen. Und auch wenn sich ein " Davidson 2000, 23. 24 Siehe Searle 1982a, 19 f. 25 Der Versuch, dennoch die Vogelperspektive einzunehmen, fuhrt entweder in den Relativismus, der moralische Ansprüche abstrakt zurückweisen zu müssen vermeint, oder in die Leugung der Möglichkeit von Objektivität, während man noch Objektivitätsansprüche erhebt. In diese Falle tappt auch Michael Hauskeller (2001, 82 ff.). Hauskeller beruft sich dabei u.a. auf Williams (1978c), der sich allerdings gerade nicht explizit darauf festlegt, es gebe „objektiv gisibtn, also von einem unparteiischen Standpunkt aus, nichts Richtiges und nichts Falsches" (Hauskeller 2001, 87, Hervorhebung im Original). Später dann plädiert Williams aber für einen sehr gemäßigten „Relativismus der Distanz", vor allem bei der Betrachtung vergangener Gesellschaften und in Bezug auf zukünftige (siehe Williams 1999a, 226 ff.).

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Interpretation und Zielannahmen

Begriff wie „gut" als solcher nicht auf etwas anderes zurückfuhren lässt, so können doch Fälle angegeben werden, in denen er (mehr oder weniger) erfüllt ist. Diese Fälle lassen sich dann näher beschreiben, miteinander vergleichen und in jene Typen von realisierungswürdigen Zuständen und Entscheidungsgründen aufgliedern, die wir gemeinhin „Werte" nennen: Gleichheit, Freiheit, Demokratie, Solidarität, kollektiver Nutzen etc. Werte in diesem Sinne sind nichts anderes als Abstraktionen von Gründen für Entscheidungen und Bewertungen, die jedoch in gewisser Weise auf die Gründe zurückwirken.26 Wer von Werten redet, muss sich daher nicht zwischen Subjektivismus und Piatonismus entscheiden. Dem könnte man noch ein weiteres Argument hinzufügen: Wenn die Idee der Objektivität ethischer Aussagen aufgegeben wird (vorausgesetzt, dass dies überhaupt eine praktische Option ist), dann wird nicht bloß ein Austausch von Argumenten zwischen „Kulturen" unmöglich, sondern auch die Argumentation innerhalb einer „Kultur". 27 Dann muss nämlich jede Person, zumal sich ihre Sozialisation naturgemäß (wie geringfügig auch immer) von der der anderen unterscheidet, als eine Kultur für sich betrachtet werden. In diesem Fall würde der moralische Diskurs vollends sentimentalisiert. Es ist sogar fraglich, ob dann von „Diskurs" überhaupt noch die Rede sein kann. Zugestanden werden kann, dass die Konsenschancen im dezidiert normativen und evaluativen Diskurs oft (wenn auch bei weitem nicht immer) schlechter stehen als im empirischen Diskurs. Solange man sich aber durch Argumente beeindrucken lässt, solange man gewisse logische Verbindungen zwischen Werten, Regeln und Entscheidungen erkennen kann, auch wenn die so genannte Letztbegründung unmöglich bleibt28, solange wäre eine Gleichsetzung moralischer Uberzeugungen mit subjektiven Empfindungen verfehlt.29

Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zum „Überlegungsgleichgewicht" bei Rawls 1975, 38 f., 68 ff. 20

Gegen Rortys Ethnozentrismus/Anti-Universalismus sowie zur Unbestimmtheit der Unterscheidung zwischen dem Inter- und Intrakulturellen Tietz 2001. 27

An Letztbegründungen glaubt übrigens auch ein Werteobjektivist wie Davidson nicht: „I do not think that rationality itself delivers moral imperatives; only our purposes and experience can do this." (Davidson 1999, 360) 28

Dworkin 1983a, 299; Koller 1994b, 95. Zur Wahrheitsfáhigkeit siehe auch MacDowell 1998b, 162. 29

Diskursivität

als

Kriterium

der

Moral, Politik und Objekdvitätsansprüche

119

1.5.2 Demokratie und Objektivitätsansprüche Die Diskussion um Objektivität wird aber nicht nur in der Moralphilosophie gefuhrt, sondern auch in der politischen Theorie. Man denke bloß an die Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen. Darauf möchte ich hier aber noch nicht näher eingehen.30 Stattdessen beschränke ich mich auf jene etwas quer liegende Kritik an der liberalen Theorie, die das Motiv der Kontingenz aller politischer Überzeugungen zu ihrem Leitmotiv erkoren hat. Erst mit der Anerkennung der Kontingenz jeglicher Ordnung und Ordnungsvorstellung habe man das Politische in der Gesellschaft erfasst. Alle Theorien, die für den politischen Diskurs Rationalitätsstandards entwickeln, würden das Politische unterdrücken und damit letztlich ihre demokratiepolitischen Ambitionen verraten. Eine derartige Kritik möchte ich besonders hervorheben, nämlich diejenige von Chantal Mouffe an diversen liberalen und diskursethischen Entwürfen einer „deliberativen Demokratie". Ihre Angriffsziele sind in erster Linie Rawls und Habermas, genauer: deren Bestreben, dem politischen Diskurs einen moralischen Rahmen zu geben, mithin moralisch zu „disziplinieren". Zuerst zu Rawls: Rawls versteht seine Konzeption der „Gerechtigkeit als Fairness" zwar auch als eine moralische, zuallerst jedoch als eine politische Konzeption: Gerechtigkeit als Fairness ist zum Teil deshalb eine politische Konzeption, weil sie von einer bestimmten politischen Überlieferung ausgeht. Wir hoffen, dass sie zumindest durch einen, wie ich es nennen möchte, übergreifenden Konsens gestützt wird, das heißt einen Konsens, der alle die widerstreitenden philosophischen und religiösen Lehren einschließt, die mutmaßlich in einer mehr oder weniger gerechten konstitutionellen demokratischen Gesellschaft bestehen bleiben und Anhänger gewinnen werden.31

Schon in dieser allgemeinen Beschreibung seines theoretischen Anspruchs bringt Rawls einen gewissen Agnostizismus hinsichtlich diverser religiöser und metaphysischer Lehren zum Ausdruck. Auf einen universalistischen Wahrheitsanspruch möchte er genauso verzichten wie auf

Ich komme darauf später (3.1) zurück. 11

Rawls 1994c, 258 (Hervorhebungen im Original). Diese Hoffnung durchzieht schließlich

auch die spätere umfassende Reformulierung seiner Gerechtigkeitstheorie (siehe Rawls 1998).

120

Interpretation und Zielannahmen

Aussagen über Wesen und Identität von Personen.52 Worum es ihm geht, ist nicht, eine kontextungebundene Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, sondern eine, die auf einen bestimmten Kontext, nämlich den liberal-demokratischen Verfassungsstaat, zugeschnitten ist. Insofern setzt er sich jedenfalls nicht sofort jener Art von Kritik aus, die darauf besteht, dass es unmöglich ist, sich gegenüber sämtlichen religiösen und metaphysischen Traditionen neutral zu verhalten. Der Preis dafür ist natürlich, dass die Theorie etwas von ihrem theoretischen Charakter einbüßt und apologetische Züge annimmt.33 Jedenfalls scheint Rawls anzunehmen, dass seine politische Philosophie lediglich zwischen verschiedenen metaphysischen und religiösen Interpretationen der liberal-demokratischen Tradition vermittelt, auf dass ein „übergreifender Konsens" sichtbar werde. Denn von kontroversen philosophischen, moralischen und religiösen Fragen möchte er sich lieber fernhalten, und zwar deshalb, „weil sie unmöglich politisch gelöst werden können".34 Überhaupt könne man mit einer als Wahrheitssuche angelegten Philosophie „in einer demokratischen Gesellschaft keine brauchbare Basis für eine politische Gerechtigkeitskonzeption bereitstellen".35 Rawls nimmt an, dass eine politische Konzeption der Gerechtigkeit sich nur auf die Grundstruktur der Gesellschaft bezieht und unabhängig von metaphysischen oder religiösen Uberzeugungen angenom-men werden kann. Letztere anderen mit öffentlicher politischer Macht aufzuzwingen erscheint demnach dagegen, selbst wenn sie wahr wären, unvernünftig. Denn dies würde Rawls zufolge die Verkennung einer Grundtatsache moderner Gesellschaften bedeuten, nämlich des „Faktums der Pluralität".36 Dann stellt sich allerdings die Frage, welche Argumente überhaupt noch im politischen Diskurs zählen. Bleibt die Grundstruktur der Gesellschaft sakrosankt? In diesem Fall gingen wir jedoch das Risiko ein, dass eine immer schon ungerechte Ordnung konserviert wird.37 Und überhaupt: Wer bestimmt, wie die

Rawls 1994c, 255. Fish 1999, 292. Rawls 1994c, 264. Ebd. Rawls 1994c, 347. 57 Skeptisch gegenüber Rawls' Bestreben, einen übergreifenden Konsens zu formulieren, in dessen Rahmen dann vernünftig verhandelt werden könnte, zeigen sich im Übrigen nicht bloß ausgewiesene Postmodernisten, sondern auch Stanley Cavell (1990, XXXVIII): „But 52

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Grundstruktur beschaffen sein soll? Bevor ich auf Mouffes m.E. etwas fehlgeleitete Kritik eingehe, möchte ich noch kurz Habermas' Verabschiedung der Metaphysik aus dem politischen Denken skizzieren. Wie Rawls geht Habermas von einer metaphysisch-normativen Prämisse aus, ohne sie als solche auszuweisen, nämlich den Postulaten der Freiheit und Gleichheit. Nur dass er sie sogleich entsubstanzialisiert und in den Begriff des „rationalen Diskurses" überfuhrt. In Anlehnung an sein Diskursprinzip, wonach genau jene Handlungsnormen gültig seien, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten" 38 , postuliert Habermas ein Demokratieprinzip: Das Demokratieprinzip ergibt sich aus einer entsprechenden Spezifizierung für solche Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Grunde ... gerechtfertigt werden können. 39

Der politische Diskurs muss demnach so organisiert sein, dass er die Kriterien für einen „rationalen Diskurs" möglichst weitgehend erfüllt. Wobei Habermas unter einem „rationalen Diskurs" jeden „Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche" versteht, sofern er unter Kommunikationsbedingungen stattfindet, die innerhalb eines durch illokutionäre Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raums das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und Gründen ermöglichen. Indirekt bezieht sich der Ausdruck auch auf Verhandlungen, soweit diese durch diskursiv begründete Verfahren reguliert sind.«

Im politischen Diskurs werden nach dieser Auffassung also durchaus Geltungsansprüche erhoben, wobei Habermas zwischen pragmatischen Diskursen, in welchen es um Zweckrationalität gehe, ethisch-politischen Diskursen, in denen eine gemeinsame Identität verhandelt wird, und moralischen Diskursen, in denen Ansprüche auf universelle Geltung erhoben werden, unterscheidet. 41 Alle diese Diskurse seien vom Diskurs-

what if there is a cry of justice that expresses a sense not of having lost in an unequal yet fair struggle, but of having from the start been Ufi out." (Hervorhebungen im Original) M Habermas 1993,138. " E b d . , 139. « Ebd. 138 f. 41 Siehe zu dieser Unterscheidung ebd., 187 ff. sowie Habermas 1991,100 ff.

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Interpretation und Zielannahmen

prinzip reguliert, welches „den Sinn der Unparteilichkeit praktischer Urteile expliziert". 42 Mouffe ortet nun bei beiden Autoren einen Rationalismus, der „dem Politischen" im politischen Diskurs nicht gerecht werde. Beide Autoren würden unterstellen, dass sich die politischen Parteien auf ein „postkonventionelles Begründungsniveau" begeben, indem sie das „Faktum des Pluralismus" bzw. das „Diskursprinzip" anerkennen. Und beide Autoren würden die essenzielle Konflikthaftigkeit des politischen Diskurses unterschätzen: As current controversies about abortion clearly show, pluralism does not mean that all those conflicting conceptions of the good will coexist peacefully without trying to intervene in the public sphere, and the frontier between public and private is not given once and for all but constructed and constantly shifting. Moreover, at any given moment "private" affairs can witness the emergence of antagonisms and thereby become politicised. Therefore Rawls's "well-ordered society" rests on the elimination of the very idea of the political.43 Im Grunde dasselbe wirft Mouffe der Diskurstheorie des Rechts vor. So etwas wie eine neutrale Sprache, in der alle vernünftig miteinander diskutieren können, gebe es nicht. Was es gebe, seien lediglich verschiedene Sprachspiele, die unterschiedliche Deutungen der Welt anböten. 44 Unter Berufung auf Michael Walzer und Richard Rorty beharrt sie auf der Kontextgebundenheit allen Wissens und Denkens. Dem rationalen Diskurs, wie Habermas ihn vor Augen hat, stünden nicht bloß empirische Hindernisse im Weg, er sei vielmehr etwas a priori Unmögliches: In einer liberal-demokratischen Gesellschaft ist und wird Konsens immer Ausdruck einer Hegemonie und Kristallisation von Machtverhältnissen sein. Die Grenze, die sie zwischen dem Legitimen und Nichtlegitimen zieht, ist eine politische Grenze und sollte aus diesem Grund anfechtbar bleiben.45 Tatsächlich trifft sich Mouffe hier mit zahlreichen anderen Kontextualisten. 46 Und sie könnte damit im Großen und Ganzen auch Recht haben - jedenfalls soweit sie nicht einem Inkommensurabilitätsglauben verfällt.

« Habermas 1993,138. « Mouffe 1993, 51. +· Mouffe 2000a, 64. 45 Mouffe 1997, 85. 46 Diese Einsicht, das Wissen um die Kontingenz aller Überzeugungen und „Vokabulare", ist das, was nach Rorty die „liberale Ironikerin" auszeichnet (siehe Rorty 1992,127 ff.).

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Das Problem ist nur, dass entgegen ihrer Verlautbarung aus dieser Einsicht nichts folgt, nicht die Notwendigkeit, Objektivitätsansprüche aufzugeben und keinesfalls eine „Ethik der Demokratie".47 Das Wissen um die Kontingenz des eigenen „Vokabulars" bzw. der eigenen Uberzeugungen hat keine praktischen Auswirkungen — zumindest keine unmittelbaren. Zum einen sind auch empirische Uberzeugungen „irgendwie" kontingent, und sei es nur insofern, als sie sich einem bestimmten Wahrnehmungsapparat verdanken.48 Zum anderen wird man durch diese Kontingenzerkenntnis eben nicht toleranter (gegenüber Minderheiten, Andersdenkenden etc.). Zu wissen, dass ich unter anderen Sozialisiationsbedingungen höchstwahrscheinlich zu einem rabiaten Rassisten geworden wäre, macht mich nicht toleranter gegenüber rabiaten Rassisten. Möglicherweise meinen Leute wie Mouffe aber auch nur, dass Kontingenzbewusstsein ein bestimmtes „Klima" schafft, in dem Differenzen und also Freiheit eher gedeihen. Das mag zutreffen. Das Gegenteil ist jedoch mindestens gleich wahrscheinlich: Allgemeines Kontingenzbewusstsein könnte auch ein Sich-Abfinden mit den herrschenden Verhältnissen, unter denen andere leiden, zur Folge haben. Und wer nicht, wie etwa Carl Schmitt, dem Dezisionismus verfallt, könnte sich dann immerhin noch dazu gratulieren, nicht direkt das Leiden der anderen verursacht zu haben. Möglicherweise erweist sich in einer derartigen Situation nur mehr die Psychoanalyse als Spiel- und Spaßverderberin. Sie könnte nämlich zeigen, dass man sich mit den schlechten Verhältnissen nicht nur abfindet, sondern dass sich in ihnen gewissermaßen auch unbewusste Überzeugungen materialisieren. Demnach entlasten Institutionen dieje" Siehe Mouffe 2000b; ähnlich Connolly 1991; 1995. Und auch Rorty schlägt vor, Gerechtigkeit nur mehr als Ausdruck von Loyalität, von Gemeinschaftlichkeit, zu betrachten, so dass es in der Moral nicht mehr um richtig oder falsch, sondern nur noch um die Ausweitung von Gemeinschaftsbeziehungen gehe (siehe Rorty 2000b). 48 Siehe Raz 1999b, insbesondere 155: „What we know and what we do not know is partly a matter of the accident of our circumstances, and even the best epistemic justification possible cannot rid our beliefs of an element of luck. But epistemic luck is a feature of the conditions of knowledge in general. It is not a circumstance special to evaluative beliefs, and it does not negate the possibility of knowledge." Nun könnte man den Verdacht noch ausweiten und behaupten, dass mehrere moralische Begriffssysteme inkommensurabel sein könnten, so dass Objektivitätsansprüche nur relativ zu einem Diskurs Sinn ergäben. Gegen solche Inkommensurabilitätsvorstellungen hat aber nicht nur Davidson (1986c) überzeugende Einwände vorgebracht, sondern auch Autoren, die sich derselben poststrukturalistischen Tradition verpflichtet fühlen wie Mouffe (siehe etwa die Kritik an der Idee koexistierender in sich geschlossener Vokabulare oder Sprachspiele in Laclau 1997, 47 f.).

Interpretation und Zielannahmen

124 rugen,

die

auf

die

Kontingenzerfahrung

mit

Skeptizismus

oder

Relativismus reagieren, die also aus d e r E i n s i c h t in die K o n t i n g e n z d e r eigenen Ü b e r z e u g u n g e n die falschen Schlüsse ziehen, lediglich v o n d e r V e r a n t w o r t u n g u n d d e r Pflicht, Ü b e r z e u g u n g e n als b e g r ü n d e t (und n i c h t bloß sonstwie v e r u r s a c h t ) a u s z u w e i s e n . 4 9 F i s h , d e r sich, w a s die A n a l y s e angeht, a u f die Seite d e r K o n t e x t u a listen schlägt u n d liberale sowie diskursethische A s p i r a t i o n e n ebenfalls e n t w e d e r als A u s d r u c k d e r V e r n e i n u n g des Politischen ansieht, d e r W e i gerung, Stellung z u b e z i e h e n , o d e r als m e h r o d e r weniger subtile rhetorische Strategie, u m die e i g e n e n Ü b e r z e u g u n g e n d u r c h z u s e t z e n , spricht in diesem

Zusammenhang

gerne

von

der

„anti-foundationalist

theory

h o p e " . 5 0 Sich v o n seinen eigenen Ü b e r z e u g u n g e n distanzieren k ö n n e nie

Und selbst wenn es so sein sollte, dass manche konsequente Relativisten, soweit sie dies sind, überhaupt keine Überzeugungen strictu sensu haben, die sie „intolerant" verteidigen könnten, vielleicht haben wir es dann immer noch mit einer Variation „delegierten Genießens" zu tun. Der pragmatische Relativist, der Dogmatismus immer nur bei anderen sieht, könnte ein Musterbeispiel für jemanden sein, der nach Überzeugungen handelt, die er selbst nicht hat - und die womöglich niemand hat. Wer sein Genießen deligiert (sein Amüsement an das in die TV-Sitcom integrierte Publikum, welches für einen lacht; das Ansehen von Filmen an den Videorecorder; die Emotion beim Ansehen eines Theaterstücks an den griechischen Chor; seine Trauer an Klageweiber; das Beten an die Gebetsmühle etc.), verhält sich passiver als passiv (siehe dazu Pfaller 2000; theoretisch tiefer gehend Pfaller 2002). Der pragmatische Relativist, der selbst an nichts mehr glaubt, glaubt wenigstens noch an die Überzeugungen anderer, denen er in der Folge Rechnung trägt. Er verhält sich habituell so wie der Wiener Bürgermeister Häupl, der auf die Frage, weshalb Ausländer — anders als Inländer — keine Gemeindewohnungen erhalten sollen, eine Zeit lang lediglich antwortete: „Die Leute wollen das nicht" Im (freilichen unwahrscheinlichen) Extremfall dominieren so Überzeugungen den politischen Prozess, die eigentlich niemand vertritt, „Überzeugungen ohne Eigentümer", wie Robert Pfaller sie nennt. Es könnte also Antisemitismus nicht nur ohne Juden, sondern auch ohne Antisemiten geben. Vielleicht ist das, nebenbei bemerkt, auch der Grund, weshalb man Rassisten so schlecht mit Aufklärung beikommt. Auf eine bestimmte Weise glauben sie nämlich gar nicht an das, wogegen sich ihr Hass richtet: die „fremde rassische Substanz". Sie scheinen sich vielmehr wie Fetischisten zu verhalten, die wissen, dass an ihrem Fetisch „nichts dran" ist, aber dtmoch „Ich weiß, dass Schwarze Menschen wie du und ich sind, aber dennoch ist da was an ihnen ..." (Zizek 1991, 51 f.) Pfaller selbst ist hier aber skeptisch (2003, 87 f.). m

Fish 1989b. Das illusorische Programm der „anti-foundationalists" „wendet sich gegen die List der Macht, die versucht, sich vor jeder Anfechtung abzuriegeln" (Butler 1993, 39). Illusorisch ist dieses Programm insofern, als es sich „gegen jeden Drang nach normativen Grundlagen richtet" (ebd.). Denn es stellt sich unweigerlich die Frage, was es bedeutet, dieses Programm auszuführen (doch nicht einfach: alles „kontingent" zu nennen), und warum dieses Programm ausgeführt werden soll, insbesondere wenn man die Zahl der Rassisten und Sexisten in der Gesellschaft verringern möchte. Schließlich könnten Letztere 50

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

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mehr bedeuten als sich auf andere Überzeugungen, die man hat, zurückzuziehen. Und das Wissen um deren Kontextgebundenheit habe keinen Einfluss auf diese: This ... means that even someone ... who is firmly convinced of circumstantiality of his convictions will nevertheless experience those convictions as universally, not locally, true. It is therefore not surprising but inevitable that at the end of every argument, even of an argument that says there can be no end, the universalist perspective will reemerge as strongly as ever.51

Nun könnte man aber fragen, ob denn nicht ein Unterschied bestehe zwischen einem religiösen „Fundamentalisten" und einem aufgeklärten Liberaldemokraten. Ebnen wir hier nicht alle Differenzen ein, wenn wir die etwas „lockerere" Überzeugung des Liberaldemokraten nicht zur Kenntnis nehmen? Oder könnte man nicht wenigstens die „liberale Ironikerin" Rortys als jemanden ansehen, der von seinen Überzeugungen nicht ganz so fest im Griff gehalten wird? Ist doch die Ironikerin, der wir nach Auffassung vieler postmoderner Denker und Denkerinnen nacheifern sollten, der Kontingenz ihres moralischen „Vokabulars" bewusst, während radikale Moslems offenbar nichts von Kontingenz wissen wollen, sondern sich einen privilegierten Zugang zu einer objektiven Wahrheit attestieren. Nun, hier sollte man unterscheiden zwischen dem, was jemand tut (und sei es, an etwas zu glauben), und dem, wie er sich selbst beschreibt. Tatsächlich neigen manche aufgeklärte Liberale dazu, die Geschichtlichkeit ihrer Überzeugungen zu betonen. Aber ist es wirklich diese Überzeugung, die sie toleranter und pluralistisch gesinnt macht?52 Oder ist es ja auch aufhören, ihre Überzeugungen „Überzeugungen" zu nennen und stattdessen vom bloßen „Begehren" sprechen. Was gewinnt man, wenn man ständig gegen normative Grundlagen als solche wettert? Bloßes „Infragestellen" ist jedenfalls noch kein politisches Programm. 51

Fish 1989d, 467. Das Problem der Unhintergehbarkeit universeller Geltungsansprüche beschäftigt in der Zwischenzeit aber auch Poststrukturalisten (siehe nur Butler/Laclau/Zizek 2000). 52 Sogar jemand wie Luhmann scheint sich bisweilen besagter „Theoriehoffnung" hinzugeben, etwa wenn er (u.a. gegen Habermas) auf die „politisch fatale" Folge rationalistischer Einheitskonzepte hinweist, „dass sie offen lassen müssen, was mit denen geschieht und zu geschehen hat, die partout nicht zustimmen. Denn jede Gesellschaft, die auf letzte Kriterien des Richtigen des Richtigen zurückgreift, ist auf Mechanismen sozialer Diskriminierung angewiesen" (Luhmann 1995a, 95). Hier könnte man einmal fragen, was jene Gesellschaften mit hartnäckigen Abweichlern machen, die auf „wie immer verdünnte" Einheitskonzepte itnjchlen. Und können sie das überhaupt? Gibt es in solchen Gesell-

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Interpretation und Zielannahmen

nicht vielmehr eine weitere Überzeugung, nämlich dass physische Gewalt ein derartiges Übel darstellt, dass sie nur mehr im äußersten Notfall (aber immerhin) zur Anwendung kommen soll? Wie mir scheint, ist es weniger das Kontingenzbewusstsein, welches aufgeklärte Menschen immer wieder veranlasst zu argumentieren, Gründe für und wider zu formulieren, als vielmehr allenfalls die Anerkennung einer für objektiv gehaltenen Norm, dass sich alle weiteren Normen, die sich im Gespräch nicht rechtfertigen lassen, auch keine Gültigkeit haben sollen.53 Und gegebenenfalls schlicht Unsicherheit, wie sie Menschen, die über keine als klar perzepierte heilige Schrift verfügen, in komplexen Situationen befällt.54 Das gilt insbesondere für Menschen, die unter halbwegs demokratischen Bedingungen in einer funktional weit ausdifferenzierten Gesellschaft leben. Denn dass die moderne Gesellschaft vor allem durch Komplexität, ja Hyperkomplexität 55 , gekennzeichnet ist, ist mittlerweile beinahe schon ein Gemeinplatz. 56 D o c h wer einmal als durchschnittlicher Europäer eine Witwenverbrennung oder eine Klitorisbeschneidung miterleben muss, wird kaum daran zweifeln, Zeuge großen Unrechts zu sein. Und wenn er an seinem Recht zweifelt, dagegen einzuschreiten, dann weil er darüber hinaus noch davon überzeugt ist, dass es so etwas wie

Schäften etwa keine Abweichler, weil es nichts gibt, wovon abgewichen werden kann? Außerdem verwendet Luhmann einen Begriff, nämlich den der Diskriminierung, der seinerseits nur vor dem Hintergrund einer normativen Theorie (oder wenn man so will: Ideologie) jene Bedeutung erhält, die ihn vom Begriff der bloßen Unterscheidung oder Benachteiligung abhebt. " Vielleicht abgesehen von der Uberzeugung, dass alle Menschen als solche gleichwertig seien. 5J Die Unsicherheit kann natürlich auch aus der Einsicht resultieren, dass man für eine bestimmte Überzeugungen oder einige bestimmte Uberzeugungen keinen anderen Grund angeben kann als seine Sozialisation, welche ihrerseits aber nur Ursache sein kann. Siehe dazu G. A. Cohen 2002, 7 ff. Aus der Erkenntnis, dass alle Überzeugungen „irgendwie" soziaüsationsabhängig sind, da man ohne Interaktion mit anderen Menschen überhaupt keine Überzeugungen ausbilden kann, folgt jedoch gar nichts. 55 Siehe Fuchs 1992, 39 ff. „Hyperkomplex" sind demnach systemische Zustände, deren Komplexität systemintern auch noch unterschiedlich beschrieben wird. ^ Was Fish allerdings mit seiner „no-consequences"-These übersieht, ist, dass bestimmte „theoretische" Festlegungen, auch wenn sie das Verhalten im Einzelfall nicht präjudizieren, allgemeine Stimmungen und Atmosphären beeinflussen. Aus seiner eigenen Entzauberung des Rechts und seine Theorie der „interpretativen Gemeinschaften" beispielsweise folgt zwar nichts für die Losung konkreter Einzelfälle, dennoch leistet er damit einen Beitrag zu einem gewissen Anti-Rationalismus, der seinerseits intellektuelle Bequemlichkeit befördern könnte.

Moral, Politik und Objektivitätsansprüche

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„kulturelle Selbstbestimmung" gibt.57 Im Übrigen impliziert die Bewertung sozialer Verhältnisse „anderswo" als ungerecht weder das Recht, diese Verhältnisse mit Zwangsgewalt zu verändern, noch eine Antwort auf die Frage, wer dafür verantwortlich ist.58 Soziologen können in diesem Zusammenhang freilich noch darauf hinweisen, dass man sich den Luxus „toleranter Diskussion" auch leisten können muss. Je mehr auf dem Spiel steht, desto offenkundiger fließen partikulare Identitäten und Interessen in die Debatte mit ein, was zusätzliche Verständigungsschwierigkeiten schafft. Auch die Demokratie als solche gründet sich, wenn ich recht sehe, letztlich nicht einfach auf Kontingenzbewusstsein 5 ', sondern auf konkreten Überzeugungen, etwa moralischen Überzeugungen (bezüglich Menschen· und Grundrechten), epistemologischen Überzeugungen6", aber womöglich auch ökonomischen Überzeugungen. 61 Die Kontingenz und Dekonstruierbarkeit real existierender Ordnungen sind Möglichkeitsbedingungen des politischen Diskurses, aber das Bewusstsein darum ist kein wesentliches Charaktermerkmal des Demokraten. 62 Vielmehr sind " Siehe Balkin 1998,153. 5S Siehe Williams 1999a, 221, 230. Die Schuldfrage dürfte insbesondere dann schwer zu klären sein oder gar völlig unangebracht erscheinen, wenn diejenigen, die von den ungerechten Verhältnissen profitieren bzw. aktiv zu deren Erhaltung beitragen, nach bestem Wissen und Gewissen im Einklang mit ihren und den in der Gesellschaft weithin anerkannten Überzeugungen handeln. 59 So aber nicht nur Mouffe, sondern auch Lefort 1990, 296: „In meinen Augen ist das Wesentliche, dass die Demokratie sich dadurch instituiert und erhält, dass sie die Grundlagen alkr GcwißbetI auflöst. Sie eröffnet eine Geschichte, in der die Menschen die Probe auf eine letzte Unbestimmtheit machen ...." (Hervorhebung im Original) 60

Klassisch: Mill 1988, 24 ff.; für eine jüngere (mit allen Wassern der rezenten analytischen Philosophie gewaschene) Verteidigung des kognitiven Werts der Demokratie siehe Hurley 1989, 322 ff. " Für eine Verteidigung der Demokratie (in einem engeren traditionellen Sinne als Regierungsform) aus ökonomischer Sicht siehe z.B. Olson 1993. 62 Dass die Affirmation „des Politischen" noch keine Politik ergibt, das ist die These von Marchart 1998. Siehe auch Zizek 1996, 209. Ethik muss nach Zizek als Supplement des Politischen begriffen werden: „Es gibt keine politische .Parteinahme' ohne eine minimale Bezugnahme auf eine ethische Normativität, die den Bereich des rein Politischen transzendiert - anders gesagt, ohne eine minimale .Naturalisierung', die in der Legitimierung unserer Position über eine Bezugnahme auf eine außerpolitische (natürliche, ethische, theologische ...) Instanz beinhaltet ist." In einem ähnlichen Sinne hält auch Derrida die Voraussetzung am Beginn jeder Argumentation, dass etwas anderes als schiere (rhetorische) Gewalt den Ausschlag geben könnte, für unabdingbar. Siehe Derrida 1996, 83: „I do not believe in non-violence as a descriptive and determinable experience, but rather as an

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Interpretation und Zielannahmen

es bestimmte Überzeugungen: eben dass Menschen als Menschen gleichen Respekt verdienen, dass sie Grundrechte haben sollen63, dass das Gemeinwohl nicht a priori mit dem Wohl einer Elite gleichgesetzt werden kann, aber auch die Überzeugung, dass Konflikte möglichst ohne physische Gewalt beigelegt werden sollen. (Vielleicht kann man hier nicht sagen, dass man dies wisse, da sich dafür möglicherweise keine zureichende Gründe finden lassen werden. Es steht vielmehr für einen fest, handelt es sich doch dabei um Überzeugungen, die geradezu unser politisches Universum konstituieren, Gewissheiten, die, in einer Praxis materialisiert, nur um den Preis der Veränderung oder Zerstörung der Praxis erschüttert werden können. Ersteres erfordert die Instituierung neuer Gewissheiten, Letzteres den Nachweis, dass wir auch ohne Recht, Moral und Politik auskommen. Dieses Unterfangen wiederum erscheint ähnlich aussichtslos wie der Versuch zu beweisen, dass es keine bewusstseinsunabhängige Außenwelt gibt. Allenfalls wird ein solcher Versuch als intellektuell reizvoll zur Kenntnis genommen. Aber die angegriffene Gewissheit ist so eng mit unserer Praxis der alltäglichen Verständigung, der Wissenschaft etc. verwoben, dass man ihre Aufgabe vermutlich niemals ernsthaft in Erwägung ziehen wird. Ein Begriffsrelativismus folgt daraus aber nicht, jedenfalls kein strenger. Schließlich konstituiert sich das Begriffssystem oder, wenn man so will, die entsprechende Praxis nur über partikulare Überzeugungen.) Soweit es in der Demokratiepolitik also um die „Institurionalisierung von Kontingenz" geht, handelt es sich nur um eine Kontingenz innerhalb gewisser Grenzen. Außerdem machen erst bestimmte Grundannahmen die Kontingenz jeder realen gesellschaftlichen Ordnung sichtbar. Weitere Objektivitäts-, d.h. universelle Geltungsansprüche aber sind keineswegs ausgeschlossen. Kontingenz schließt Objektivität nicht aus.64 irreducible promise and of the relation to the other as essentially non-instrumental." Siehe zu dieser transzendentalistischen Pointe des Derrida'schen Dekonstniktivismus auch Critchley 1999. Critchley wendet sich darin vor allem gegen die Assimilierung der Dekonstruktion an einen pragmatistischen Kontextualismus, wie er Rorty vorzuschweben scheint. Allzu viel jedoch, das nur nebenbei, lässt sich daraus für die Analyse und Bewältigung konkreter politischer Probleme in weiterer Folge nicht gewinnen (siehe Krauß 2001). 6 i Es versteht sich von selbst, dass diese Überzeugungen kaum präzise genug sind, um jeglichen Dissens auszuschließen. Nichtsdestoweniger werden sich Demokraten gewöhnlich leicht auf einige paradigmatische Fälle von Grundrechtsverletzungen einigen können. Alles andere ist dann eine Frage der Analogie und der Verhältnismäßigkeit. " McDowell 2000, 112 ff.

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Worüber sollte man auch diskutieren, wenn nicht über das, was moralisch zulässig oder geboten, für die Gemeinschaft gut und ökonomisch sinnvoll ist?65 Die Alternative wäre bloßes Bargaining. Um sich damit abfinden zu können, muss man jedoch ebenfalls gewisse moralische Überzeugungen vertreten, etwa die, dass man nicht verpflichtet ist, seine Existenz im bewaffneten Kampf zu riskieren. Am Ende wäre man dann bei einer Affirmation dessen angelangt, was nach manchen Beobachtern die gegenwärtige Situation liberaler Demokratien kennzeichnet und von Jacques Rancière „Post-Politik" genannt wird: Verwaltung und Verhandlung anstatt ideologischer Kämpfe.66

1.5.3 Kollektive Ziele, Konsequenzen und Objektivität Nun könnte jemand aber zwei verschiedene Einwände erheben: (1) Im Recht gehe es nicht um universelle Geltung, sondern nur um eine relative. Die Gültigkeitsansprüche, die für juristische Aussagen erhoben werden, seien immer schon auf eine partikulare Rechtsgemeinschaft beschränkt. (2) Zwar könne man darüber reden, Aussagen über Rechte mit Objektivitätsansprüchen zu verbinden. Ausgeschlossen sei aber, im Zusammenhang mit politischen Zielsetzungen solche Ansprüche zu erheben. Und insofern mit juristischen Aussagen Ziele „konstruiert" werden, könne man auch nicht sagen, sie seien wahr oder falsch. Auf Einwand (1) möchte ich hier nicht näher eingehen. Nur soviel: Wenn eine österreichische Juristin behauptet, Art. 7 B-VG schließe nicht Dass die völlige Preisgabe von Geltungsansprüchen ein Ding der Unmöglichkeit ist, selbst wenn man sich wie der spätere Rawls betont kontextualistisch geben möchte, zeigt auch Raz 1990, 14 f. Rawls interveniert freilich nicht in den politischen Alltagsdiskurs, sondern beschäftigt sich bekanntlich nur mit der Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft. Und von Autoren wie Rorty wird er - kaum verwunderlich — gerade fur seine kontextualistische Bescheidenheit gepriesen. Rorty liest schon das Hauptwerk Rawls' als bloß erbauliche Erzählung, die an „uns Liberaldemokraten" adressiert sei (siehe Rorty 1988). Für eine Kritik an dieser Rawls-Interpretation siehe Habermas 1993, 85 f. Im Übrigen aber täuscht sich Rawls, wenn er meint, aus seiner politischen Gerechtigkeitskonzeption metaphysisch unschuldige Antworten auf moralische Fragen wie diejenige nach der Zulässigkeit von Abtreibung ableiten zu können (Rawls 1998, 349 f. Fn. 32). Siehe nur Reiman 1995, 272 Fn. 26. Keine Frage, Metaphysik, vor allem aber Religion, wirkt oft als „conversation stopper" (Rorty 1999). Zumindest manche öffentlich zu entscheidende Fragen lassen sich aber nicht metaphysisch und religiös neutral reformulieren. " Rancière 1995a. 45

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Interpretation und Zielannahmen

jede Art von Quotenregelung zugunsten der Frauen aus, dann wird sie diese Behauptung auch gegenüber ausländischen Kollegen verteidigen. Sie wird annehmen, dass ihre Argumente auch im Ausland Gültigkeit haben - insofern sie sich auf die gegenwärtige österreichische Rechtsordnung beziehen. Und so ist es natürlich auch denkbar, dass einem ausländischen Gericht, welches österreichisches Recht anzuwenden hat, ein Fehler unterläuft. Wenn das Gericht - verführt durch den Wortlaut des § 1295 ABGB - etwa meinte, in Österreich hafte man für jeden rechtswidrig und schuldhaft verursachten Schaden (und nicht bloß für Schäden innerhalb des im Wege einer teleologischen Reduktion konstruierten „Rechtswidrigkeitszusammenhangs"), so läge es einfach falsch. Mit einem solchen Urteil über die Rechtsauffassung des ausländischen Gerichts brächte man keine bloß subjektive oder kulturspezifische Präferenz zum Ausdruck, sondern eine Überzeugung, die man für (objektiv wie sonst?) wahr hält - und das zu Recht. Juristische Aussagen sind aber nicht nur in dem Sinne kontextrelativ, dass sie sich auf eine Rechtsordnung beziehen. Sie sind es auch noch in einem anderen Sinn. Die Richtigkeit juristischer Aussagen kann ebenso von den sozialen Verhältnissen zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängen. So ist die Behauptung „Affirmative-action-Programme sind gleichheitswidrig" weder wahr noch falsch. Sie ist unterbestimmt. Würde man Förderungsprogramme zugunsten der Weißen im heutigen Österreich für verfassungswidrig halten, läge man sicher richtig. Wer allerdings glaubt, dass Förderungsprogtamme generell verfassungswidrig seien, vertritt eine unangemessene Theorie der Gleichheit. Nichtsdestoweniger könnte einmal eine Zeit kommen, da die Förderung von Weißen in Österreich nicht mehr gegen die Verfassung verstößt. Was immer geschieht: Dass sich juristische Aussagen nicht auf ewige Naturgesetze, sondern auf Recht zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort beziehen, macht sie noch nicht wahrheitsunfähig. Doch das ist zweifellos eine ziemlich triviale Erkenntnis. Einwand (2) ist interessanter, auch weil er auf den ersten Blick durchaus unseren Intuitionen entspricht. Wenn ein Politiker meint, wir müssten die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und dazu wären die Maßnahmen χ und y nicht bloß geeignet, sondern auch notwendig, dann sind wir schon eher bereit, von einer bloßen Präferenz zu sprechen. Wie mir scheint, hat Dworkin Ähnliches im Sinn, wenn er der juristischen Praxis

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empfiehlt, auf Zielsetzungsargumente zu verzichten. Wie könnte er sonst, so möchte man meinen, noch seine „right-answer"-These aufrechterhalten? Doch Dworkins liberaler Politikbegriff ist insofern problematisch, als er außerhalb des Moralischen, welches er von anderen Diskursfeldern (freilich ohne Angabe eines klaren Kriteriums) unterscheidet, keine Geltungsansprüche zuzulassen scheint. Dworkin reduziert den demokratischen Prozess, soweit es nicht gerade um moralische Ansprüche geht, auf den Ausgleich partikularer Interessen: Entscheidungen der Zielsetzung müssen ... durch die Operation eines politischen Prozesses getroffen werden, der dazu bestimmt ist, einen genauen Ausdruck der verschiedenen Interessen hervorzubringen, die berücksichtigt werden sollten. 6 7

Demokratie ist demnach nicht mehr als ein (moralisch bedingtes) Verfahren der Aggregation präexistenter Interessen. Dazu bedürfe es Institutionen, welche vorhandene Interessen bündeln und artikulieren. Das Rechtssystem sei darauf aber nicht eingestellt, und deshalb könne es auch nicht mit Zielsetzungsargumenten operieren: Vielleicht arbeitet das System der repräsentativen Demokratie in dieser Hinsicht nur leidlich, aber es arbeitet besser als ein System, das nichtgewählte Richter, die weder Postsack noch L o b b y noch Interessenverbände haben, über konkurrierende Interessen in ihrer K a m m e r K o m p r o m i s s e

finden

lässt. 6 8

Doch dieses Modell des demokratischen Diskurses wird, wiewohl etwas realistischer als bestimmte republikanisch-kommunitaristische Modelle 69 , der Wirklichkeit nicht ganz gerecht. 70 Bevor ich auf die Bedeutung von Geltungsansprüchen im politischen Diskurs zurück komme, möchte ich eine Schwäche des liberalen Modells des Interessenausgleichs bzw. der Interessenaggregation besonders hervorheben. 71 Da ich im dritten Teil Dworkin 1984,150. Ebd. " Idealistisch bleiben Kommunitaristen insofern, als sie von den Teilnehmern des demokratischen Diskurses ein Maß an Gemeinsinn verlangen, das die Komplexität und unhintergehbare Konflikthaftigkeit moderner Demokratien aus dem Blick geraten lässt. Dazu später (3.1) mehr. 67

68

Für einen Vergleich republikanischer, liberaler und diskursethischer Demokratiemodelle siehe Habermas 1996a. 71 Dworkin wird zwar in oben zitierten Werk nicht explizit, scheint sich aber, insoweit er den grundrechtlich konditionierten politischen Prozess zuerst mit Lobbys und Bargaining 70

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Interpretation und Zielannahmen

noch einmal ausfuhrlicher auf den Begriff des Interesses, insbesondere auch des Allgemeininteresses zu sprechen komme, werde ich mich hier kurz halten und nur auf einen wichtigen Punkt hinweisen: Interessen ergeben sich aus Identitäten. 72 Niemand ist ein Akteur mit Interessen, wenn er keine Vorstellung von der sozialen Position hat, die er besetzt. Nach Barry Hindess ist dies eine ganz und gar geläufige Ansicht: Actors have interests as a consequence of the social conditions in which they find themselves, as members of a particular class, sex, ethnic group or community, or as victims of monopoly power or multinational companies, and so on.75 Weil man aber mehrere Positionen besetzt, d.h. in verschiedenen Kontexten zu agieren hat, muss man sich um eine gewisse Integration seiner Identitäten und Interessen bemühen, insbesondere wenn Entscheidungen anstehen, die Auswirkungen auf mehrere Kontexte haben. Dabei stellt sich die Frage, an welchen Maßstäben man sich orientieren kann. Natürlich kann prinzipiell jeder seine Werte gewichten und hoffen, dass Verhandlungen und Präferenzaggregationen zu vorteilhaften Ergebnissen fuhren - ohne darüber hinaus irgendwelche expliziten Geltungsansprüche für seine Werthierarchie erheben. Aber kommt man tatsächlich ganz ohne normative oder evaluative Überzeugungen aus, die man für

assoziiert, dennoch ein wenig an die ökonomische Theorie der Demokratie anzulehnen. Für klassische Beispiele dieser streng empiristischen Tradition innerhalb der Demokratietheorie siehe nur Schumpeter 1950 und Downs 1957. In einem jüngeren Aufsatz distanziert sich Dworkin (1998) entschieden und durchaus überzeugend von „statistischen" Modellen der Demokratie, nach denen es nur darauf ankommt, dass die (wohlüberlegten) Präferenzen der Mehrheit den Ausschlag geben. In Law's Empire favorisiert er dagegen einen ganz speziellen Politikbegriff. Und zwar entwirft er eine Prinzipiengemeinschaft, in der über kaum etwas anderes geredet wird als über Fairness und Gerechtigkeit: „Politics has a different character for such people. It is a theatre of debate about which principles the community should adopt as a system, which view it should take of justice, fairness, and due process ...." (Dworkin 1986, 211). 72 So konzentrieren sich postmoderne politische Theorien zu Recht vor allem auf den Aspekt der Identitätsbildung und greifen dabei gerne auf psychoanalytische Ansätze zurück. Siehe etwa Laclau 1996a; Hall 1996; verschiedene Beiträge in Rajchman 1995. Zu einem zentralen Thema wurde „Identität" vor allem in der Diskurstheorie der Politik. Für einige Beispiele solcher Analysen siehe Howarth/Norval/Stavrakakis 2000. Bisweilen laufen solche Ansätze allerdings Gefahr, in einen diskursiven Idealismus abzudriften, d.h. materielle Rahmenbedingungen aus dem Blick zu verlieren. 73 Hindess 1989, 9. Hindess meint allerdings auch, dass es kein simples Korrespondenzverhältnis zwischen Interessen und sozialen Positionen gebe.

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wahr oder richtig oder überhaupt selbstverständlich hält und von denen man annimmt, dass auch andere sie haben müssten?74 Ich glaube nicht. Und dabei geht es mir nicht um die Frage, ob man nicht auch das Interesse eines anderen erkennen kann. Interessanter ist ein anderer Punkt. Wer in die politische Auseinandersetzung eintritt (ich spreche hier noch gar nicht von einem Diskurs oder einer Debatte) und versucht, seine Interessen durchzusetzen, der muss zumindest eines voraussetzen: dass es keinen vernünftigen Grund gibt, die Gemeinschaft als Ganze, als Kontext der Kontexte, zum Thema zu machen. Ein Demokrat muss darüber hinaus noch voraussetzen, dass die Durchsetzung seiner Interessen sowohl moralisch angemessen, als auch - und sei es vermittels einer „invisible hand" - dem Gemeinwohl förderlich oder, wenn es sich eher um technische Fragen handelt, zweckdienlich ist. Wer etwa für eine restriktivere Einwanderungspolitik plädiert, ist unter demokratischen Bedingungen genötigt darzulegen, dass dies moralisch unbedenklich wäre und der Gemeinschaft als solcher zum Vorteil gereichen würde. Vielleicht wird er selbst daran nicht glauben, sondern nur an seinen eigenen Vorteil denken, aber er muss zumindest diesen Geltungsanspruch erheben. Wer bestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorschlägt, muss zunächst das Ziel, nämlich weniger oder gar keine Jugendarbeitslosigkeit, als legitim ausweisen. Das wird nicht schwer fallen. Und dabei werden moralische Argumente und Gemeinwohlargumente typischerweise nahtlos ineinander übergehen. Die einzelnen Maßnahmen wiederum müssen ebenfalls begründet werden. Insbesondere muss gezeigt werden, dass sie nicht nur geeignet und notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, sondern dass sie außerdem noch moralischen Anforderungen genügen und nicht die Verfolgung gewichtigerer Gemeinschaftsinteressen beeinträchtigen. So scheint es evident, dass Interpretationen prozessualer Vorschriften sich auch am Ziel der Prozessökonomie zu orientieren haben. Fraglich ist dann „lediglich", welches Gewicht diesem Ziel im Verhältnis zu anderen Zielen zukommt und inwieweit dieses Ziel Einfluss hat auf die Konkretisierung

Da Objektivität etwas mit Intersubjektivität zu tun hat, bedeutet „eine Uberzeugung haben" immer anzunehmen, dass andere sie ebenfalls haben müssten.

74

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des Fairnessprinzips. Indes, keine Antwort darauf spiegelt notwendigerweise nur subjektive Vorlieben und Interessen wider.75 Gemeinwohldiskussionen müssen auch nicht völlig arational ablaufen. Schließlich lassen sich verschiedene Gemeinwohlbegriffe und damit auch Kriterien denken, anhand derer beurteilt werden kann, welche Maßnahmen das Gemeinwohl befördern und welche nicht. Ich komme, wie gesagt, im dritten Teil noch einmal ausfuhrlicher darauf zu sprechen. Hier geht es nur um den Hinweis, dass Argumentation in diesem Bereich nicht a priori ausgeschlossen ist. Allerdings werden wir es immer mit Aussagen zu tun haben, für die ein Konsens von vielerlei kontingenten Umständen, nicht zuletzt der Verteilung von Definitionsmacht abhängt. Die Ausübung der Definitionsmacht in der Deutung des Begriffs impliziert eine Festlegung hinsichtlich der Maßnahmen, die einem Gemeinwohl dienen. Die Bedeutung des Begriffs ist, wie Bedeutung überhaupt, keine private, sondern eine soziale, die dadurch entsteht, dass intersubjektiv nachvollziehbar auf Maßnahmen verwiesen wird, die das Gemeinwohl befördern oder ihm abträglich sind. Nach einer lückenlosen und vollständigen Kette von Gründen dafür sucht man genauso vergeblich wie nach einer Begründung von moralischen Überzeugungen, die die letzten Gründe für alle anderen abgeben. Nun mag es schon zutreffen, dass der politische Diskurs, wie er sich gegenwärtig darstellt, eher einem großangelegten Bargaining ähnelt. Doch selbst wenn dem so ist, dann keineswegs notwendigerweise. Sogar wenn es um kollektive Zielsetzungen geht, kann noch argumentiert werden. Vor allem aber können noch Überzeugungen vertreten werden, auch wenn sich der Dissens nicht argumentativ auflösen lässt. In diesem Fall erscheint dann ein Kompromiss, der unter bestimmten Bedingungen zustande gekommen ist, oft als die zweitbeste Lösung, die der „an sich" erstbesten deshalb vorzuziehen ist, weil sie im Gegensatz zu dieser nicht mit den Kosten eines Konflikts belastet ist. Wie auch immer: Das bloße Bestehen von Meinungsverschiedenheiten war noch nie ein gutes Argument für Skeptizismus oder Relativismus. Allenfalls verbietet sich die Rede davon, dass man etwas sicher weiß. Doch wie schlecht die Kon-

Siehe auch Alexy 2000, 47 ff. Alexy repliziert darin auf Habermas' Einwand, mit der Interpretation von Prinzipien als Ziele, die es in ein optimales Verhältnis zueinander zu setzen gelte, werde der Richtigkeitsanspruch juristischer Falllösungen aufgegeben (siehe Habermas 1993, 310 f.) und beharrt darauf, dass gerade dies nicht der Fall sei. ,5

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senschancen auch stehen, Verhandeln ist nicht die einzige Option. Man kann auch versuchen, anderen Facetten und Aspekte der Gesellschaft sichtbar zu machen, für die die Gegner bis dahin noch kein Sensorium entwickelt hatten. Anders als Hauskeller aber meint76, scheint es dabei sehr wohl in gewisser Weise um die Bildung neuer Uberzeugungen zu gehen, nämlich der Uberzeugung, dass die eine Beschreibung der Gesellschaft angemessener ist als die andere - angemessener z.B. im Lichte der Geschichte und vor dem Hintergrund von Werthaltungen und Begriffen wie „Autonomie" und „Abhängigkeit". Sobald Letztere ins Spiel kommen, erhält die Gemeinschaftskonzeption, wie eingangs erwähnt, eine normative Qualität: „Die Gesellschaft soll primär als Marktveranstaltung begriffen werden." Oder: „Die Gesellschaft soll mehr dem ähneln, was sie eigentlich schon ist, einem kooperativem Unternehmen." Wenn es also stimmt, dass „realistische" und relativistische Verabschiedungen von Objektivitätsansprüchen im Bereich der Moral auf Missverständnissen und Irrtümern beruhen, dann gilt dies auch für jene Theorien, die den politischen Diskurs, zumindest soweit es um Zielsetzungen geht, von Objektivitätsansprüchen freihalten wollen. Dass es in der Politik nicht zuletzt um Macht geht, desavouiert diese Ansprüche nicht. Natürlich müssen die Kritiker der so genannt „neoliberalen" Globalisierung irgendwelche Machtmittel einsetzen, um die politische Agenda zu verändern. Und möglicherweise interessiert sich solange niemand von den großen Medien für sie, wie sie nicht Steine auf Polizeibeamte werfen. Dies befördert (oder beeinträchtigt) die Rezeption ihrer Argumente, nicht aber deren Qualität.77 Wenn wir uns an Davidson halten, dann kann es aber sogar Tatsachen geben, die sich prinsgpiell nicht beweisen lassen.78 (Natürlich stellt sich dann die Frage, ob wir politische oder rechtliche Entscheidungen auf solche Überzeugungen stützen sollen, zumal wenn wir keinen Konsens haben. Konsens und Argumentation sind schließlich ihrerseits wertvoll.)

" Hauskeller 2001, 96 ff. All dies bedeutet übrigens auch nicht, dass (rationale) Argumentation immer der beste Weg ist, politische Irrtümer zu beseitigen. Schließlich gibt es auch falsche Überzeugungen, die wirksam sind, ohne dass sie jemand wirklich vertritt. Viele Rassisten wissen es durchaus durchaus besser, nichtsdestoweniger sind sie in der rassistischen Illusion gefangen - ähnlich wie jemand, der seinen Computer nach einem Absturz beschimpft, ohne deshalb anzunehmen, dass dies etwas bringt. 78 Siehe dazu Wheeler 2000c, 194 f. 77

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Interpretation und Zielannahmen

Hier ging es freilich nur um Prinzipielles. Es soll keineswegs geleugnet werden, dass Politik, die allein auf Po/iVy-Argumenten gegründet sein möchte, mit kaum lösbaren Problemen zu kämpfen hätte.79 Aber das heißt nicht, dass es für manche Ziele und manche Mittel nicht bessere Argumente gibt als für andere. Und was juristische Po/wj-Orientierung angeht, so gibt es einen unbestimmt bestimmten Kontext, aus dem die Argumente stammen. Soweit Vorstellungen über die gute Gemeinschaft oder darüber, was gut oder allzu schlecht für die Gemeinschaft ist, in die richterliche Bestimmung konkreter Rechte einfließen, müssen sie mit der Vergangenheit der juristischen Praxis in Einklang gebracht werden. Die Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit eines Zielsetzungsarguments mag sich nicht aus einem politisch unumstrittenen Kalkül ergeben, sie ist jedoch immer eingebettet in ein juristisches Verständnis des jeweiligen Regelungsfelds. Und dieses juristische Verständnis lässt sich, wiewohl moralisch und ökonomisch imprägniert, von bestimmten moralischen und ökonomischen Einwänden, die im politischen Prozess verhandelt werden müssten, nicht beeindrucken. Auf diese Weise, aber das ist natürlich ein empirisches Argument, vermag der juristische Diskurs „geordneter" abzulaufen als der allgemein politische. Das heißt, auch wenn man nicht zu einer Letztbegründung von Uberzeugungen gelangt, wenn also eine Fundierung ohne Kohärenzerwägungen unmöglich ist, stehen die Chancen, einen halbwegs stabilen Konsens in einer Fülle von Fragen zu erreichen, hinreichend gut. Selbst dann, wenn kollektive Ziele wie ein effizientes Justizsystem oder ein funktionstüchtiger politischer Wettbewerb in der Argumentation eine Rolle spielen, und vor allem dann, wenn diese Ziele regelmäßig in Entscheidungsbegründungen einfließen und Juristinnen ein „Gefühl" für deren Gewicht entwickelt haben. Dazu trägt nicht zuletzt eine standardisierte Juristenausbildung bei. Wer sich allerdings, anders als Soziologen, mit juristischer Objektivität befasst, darf sich von dieser Erkenntnis nicht zur Annahme verleiten lassen, es sei der Konsens, der Objektivität verbürgt. Im Übrigen rechnet der Gesetzgeber offenbar selbst, dass gemeinwohlbezogene Argumentationen richtig oder falsch sein können. Andernfalls ließe sich die Fülle von gesetzlichen

Siehe Elster 1991. Elster verweist darin auf die Bedeutung nicht-konsequenzialistischer Argumente für die Politik. Strikter Konsequenzialismus scheitere, kurz gesagt, an der Komplexität der Gesellschaft und der Schwierigkeit, zu verlässlichen Informationen über die individuellen Präferenzen zu gelangen. 79

Moral, Politik und Objektivitätsanspruche

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Aufträgen an die rechtsanwendenden Organe, „öffentliche Interessen", das „allgemein Beste" oder eben das „Gemeinwohl" zu berücksichtigen, nicht erklären. 80

Stephan Kirste hat sich die Mühe gemacht, das deutsche Verwaltungsrecht auf solche Verweise hin zu untersuchen (Kirste 2002). Die Liste ist beachtlich. 80

1.6 Interpretieren Wir haben oben ein Kriterium für die Angemessenheit einer juristischen Interpretationstheorie entwickelt. Demnach ist eine in der Sprache des Interpreten formulierte Βκ-Theorie für Rechtstexte dann angemessen, wenn aus ihr alle Sätze folgen, die man aus dem Schema (BN) Ν wird korrekt angewendet genau dann, wenn R korrekt angewendet wird

gewinnt, indem man für das Symbol „N" eine Bezeichnung einer in der Sprache des Gesetzgebers formulierten Norm und für das Symbol „R" eine in der Sprache des Interpreten verfasste Regel einsetzt.1 Der Interpret hat es zunächst also nur mit Normzeichen zu tun, die er in Regeln übersetzen muss. Dabei geht er natürlich von seinem eigenen Vorwissen aus. Dieses Vorwissen umfasst insbesondere jene Bedeu-dungstheorie, die er mit dem Gesetzgeber zu teilen vermeint. Aber wie gehen wir vor, wenn wir Äquivalenzen bzw. eine ganze Bedeutungstheorie für das Recht formulieren? Und wie kommen dabei Zielsetzungen ins Spiel? Ich habe oben schon angedeutet, dass nicht jedes beliebige politische Ziel rechtlich relevant ist. Irgendwie muss ein Konnex zur Vergangenheit der juristischen Praxis hergestellt werden. Halten wir uns zunächst wieder an Davidson und werfen wir einen Blick auf die Situation, in der sich der „radikale Interpret" befindet, jener Interpret, der mit nichts weiter beginnt als seinen eigenen Uberzeugungen und Beobachtungen des Sprachverhaltens seines Gegenüber.

1.6.1 Die Rationalität!- und Objektivitätsunterstellung Wer jemanden verstehen will, dessen Sprache ihm gänzlich fremd ist, hat nach Davidson keine andere Wahl, als dieser Person zu unterstellen, dass ihre Überzeugungen im Großen und Ganzen wahr und konsistent sind. Er müsse ein Prinzip des Wohlwollens („principle of charity") anwenden:

1 Die Sprache des Interpreten ist freilich ihrerseits differenziert in eine Objektsprache, in der R abgefasst ist, und eine Metasprache, die den Begriff der korrekten Anwendung enthält.

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[Τ] he principle of charity directs the interpreter to translate or interpret so as to read some of his own standards of truth into the pattern of sentences held true by the speaker. The point of the principle is to make the speaker intelligible, since too great deviations from consistency and correctness leave no common ground on which to judge either conformity or difference. 2

Da die Wahrheit einer Aussage zum einen von deren Bedeutung, zum anderen aber von der Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, abhängt, sei man gezwungen, die empirischen Überzeugungen des Sprechers möglichst konstant zu halten. Worauf es ankomme, sei, Einigkeit zu optimieren. Jedoch: Der methodologische Ratschlag, in einer Weise zu interpretieren, in der die Einigkeit optimiert wird, sollte nicht so aufgefasst werden, als beruhe er auf einer nachsichtigen Voraussetzung mit Bezug auf die menschliche Intelligenz, die sich auch als falsch herausstellen könnte. Wenn wir keine Möglichkeit finden, die Äußerungen und das sonstige Verhalten eines Geschöpfs so zu interpretieren, dass dabei eine Menge von Überzeugungen zum Vorschein kommt, die großenteils widerspruchsfrei und nach eigenen Maßstäben wahr ist, haben wir keinen Grund, dieses Geschöpf für ein Wesen zu erachten, das rational ist, Überzeugungen vertritt oder überhaupt etwas sagt.3

Davidson 1986e, 316. Tatsächlich reformuliert Davidson hier eine altbekannte hermeneutische Maxime. Gadamer spricht von einem „Vorgriff der Vollkommenheit" (1972, 352). Aber schon die alten Bibelexegeten wussten um die Bedeutung des Wohlwollens, der „caritas", für die Interpretation. Zu verschiedenen Versionen dieser Interpretationsmaxime siehe Künne 1990. 3 Davidson 1986c, 199. Über Davidsons Theorie gäbe es natürlich noch einiges zu sagen. Ein Einwand, der von Nicholas Rescher, sei hier hervorgehoben, zumal er auf einem besonders nahe liegenden, aber genauso offenkundigen Missverständnis beruht. So meint Rescher (1993, 142) auf Davidson Bezug nehmend: „To be sure, it is sometimes said that to understand other people's discourse we must agree with them, must share their beliefs. But this is simply wrong. To understand others we may need to know (or conjecture) what their beliefs are, but we need certainly not agne with them." Doch Davidson behauptet nirgends, dass wir mit einem tatsächlichen Konsens die Interpretation beginnen. Vielmehr müssten wir dem Sprecher unsere Überzeugungen unterstellen. Nur so könne das Verstehen beginnen. Und erst wenn wir, nachdem wir unsere Interpretationshypothesen einige Male revidiert haben, bei einer halbwegs verlässlichen Bedeutungstheorie angelangt seien, könnten wir erkennen, inwieweit wir mit dem Sprecher übereinstimmen. Tatsächlich aber ist der Bereich der Nichtübereinstimmung begrenzt. Würden wir uns nämlich in den meisten Überzeugungen vom Sprecher unterscheiden, hätten wir guten Grund zur Annahme, dass etwas mit unserer Bedeutungstheorie nicht stimmt. Für eine leicht fassbare Darstellung des Arguments siehe auch Fay 1996, 82 ff. Rescher übersieht einfach Davidsons Holismus, welcher durchaus gewisse Divergenzen zulässt, aber ausschließt, dass der Interpret den Sprecher verstanden hat, wenn er zu dem Ergebnis gelangt, lauter andere

2

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Interpretation und Zielannahmen

In der Befolgung dieses methodologischen Ratschlags verschränken sich gewissermaßen Not und Tugend. Einerseits kommen wir um eine Anwendung des „principle of charity" nicht herum, wenn wir einen Sprecher verstehen wollen; andererseits verhalten wir uns bereits moralisch zu ihm, indem wir ihn - zumindest vorläufig - als rational und insofern gleich anerkennen.4 Dworkin greift nun diese Empfehlung auf und entwickelt sie, wie eingangs dargestellt, weiter zu einer Kohärenztheorie des Rechts. Aber man könnte diese Unterstellung für das Recht auch noch einmal gesondert begründen — und zwar, anders als Dworkin, ohne die Rechtsgemeinschaft auf eine Prinzipiengemeinschaft zu reduzieren. Wir haben oben schon gesehen, dass Interpretation Intention voraussetzt. Der Interpret muss unterstellen, dass hinter den Zeichen ein Subjekt steht, das auf eine Überzeugungen zu haben als dieser. Wer sonst nichts über den Anderen weiß, beginnt demnach bei seinen eigenen Uberzeugungen und liest sie in die fremden Äußerungen hinein - nichts weiter. Normalerweise können wir also, wenn wir die Wahrheitsbedingungen fremder Äußerungen ausgemacht haben, auch einzelne Irrtümer des Sprechers erkennen. Bisweilen scheint aber die Erfassung einer Bedeutung nicht nur die Überzeugung vorauszusetzen, dass die meisten der Überzeugungen des Sprechers wahr sind, sondern auch die Überzeugung, dass dies jedenfalls für bestimmte Überzeugungen gilt. Man denke an sehr esoterische „Glaubenswahrheiten" wie diejenige der Erbsünde. Wer nicht an die Existenz Gottes glaubt, wird dieses Dogma kaum jemals mrklich verstehen. Andererseits ist fraglich, ob religiöse Gewissheit, ein bestimmtes Gefühl der Geborgenheit, mit dem Haben einer Überzeugung gleichgesetzt werden kann. In diesem Fall müsste man sich nämlich wohl auch vorstellen können, im Irrtum zu sein. (Siehe Wittgenstein 2001, 78: „Wenn du mich fragst, ob ich an das Jüngste Gericht glaube oder nicht, und zwar in dem Sinn, in dem religiöse Menschen daran glauben, so würde ich nicht sagen: .Nein, ich glaube nicht, dass es so etwas geben wird.' Es erschiene mir völlig verrückt, so etwas zu sagen. Und dann gebe ich eine Erklärung: ,Ich glaube nicht an ...', aber tatsächlich glaubt der religiöse Mensch niemals das, was ich beschreibe ") Jedenfalls aber fallt es schwer, hier von einem Wissen zu sprechen, genauso wie es schwer fallt zu sagen, man wisst, dass es außerhalb des menschlichen Bewusstseins eine Welt gibt, dass man zwei Hände hat, dass die Erde wesentlich älter ist als man selbst etc. Siehe nur Wittgenstein 1984c, 168 (ξ 243): „,Ich weiß...' sagt man, wenn man bereit ist, zwingende Gründe zu geben. ,Ich weiß' bezieht sich auf die Möglichkeit des Dartuns der Wahrheit. Ob Einer etwas weiß, lässt sich zeigen, angenommen, dass er davon überzeugt ist. Ist aber, was er glaubt von solcher Art, dass die Gründe, die er geben kann, nicht sicherer sind als seine Behauptung, so kann er nicht sagen, er wisse, was er glaubt". Auf diese (vorletzten Fragen brauche ich hier aber nicht weiter einzugehen. Andererseits: Dass Spekulationen über Gott und das Ganze der Welt keineswegs in nichtdiskursive Gefühligkeit abgleiten und sämtliche Rationalitätsstandards umgehen müssen, dass metaphysisch-religiöses Denken eben das sein kann, nämlich Denken, zeigt Strasser 2002. 4

Auf diese moralische Dimension des „principle of charity" verweist Gamm 2000a, 171 f.

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bestimmte Weise verstanden werden will. Für den juristischen Interpreten ist dieses Subjekt der Gesetzgeber als Personifikation der Rechtsgemeinschaft. Nun, das mag vielleicht noch ohne weiteres einleuchten. Gleichwohl drängt sich die Frage auf, ob daraus irgendetwas für die Interpretation selbst folgt. Dass es noch keine bestimmte juristische Methode ist, scheint klar. Aber dürfen wir diesem Subjekt Rationalität unterstellen, wo wir doch wissen, wie Gesetze zustande kommen („dirty politics" etc., wenn auch nicht immer und vor allem nicht notwendigerweise)? Ich denke, wenn das, was ich oben über Bedeutung und Intentionen gesagt habe, zutrifft, dann können wir gar nicht anders. Doch selbst wenn meine These einer fragwürdigen Sprachphilosophie geschuldet wäre - es gäbe dennoch gute Gründe für diese Idealisierung, Gründe, über die uns die politische Philosophie bzw. die Rechtsdogmatik aufklären kann. Wie eine solche Begründung aussehen könnte, hat zuletzt Alexander Somek in einem etwas anderen Zusammenhang gezeigt.3 Somek geht es um die Frage, was der Satz „Alle Staatbürger sind vor dem Gesetz gleich" für die Gesetzgebung bzw. für das Verfassungsgericht bedeutet, und kommt zu dem Ergebnis, dass Ungleichbehandlung nur zulässig sei, wenn sie nicht der alleinige Zweck einer Regelung ist und keine Diskriminierung darstellt. Die erste Bedingung bilde den Inhalt des Rationalitätsprinzips und die zweite jenen des Antidiskriminierungsprinzips. Dies sei die angemessenste Rekonstruktion des Gleichheitssatzes. Eine solche Rekonstruktion bedingt jedoch, wie man sieht, die Anerkennung der Möglichkeit, dass der Gesetzgeber rational agiert ja, mehr noch: die Verpflichtung des Verfassungsgerichts, vom Gesetzgeber der Form nach rationales Verhalten zu erwarten. Ein Gericht, welches das Rationalitätsprinzip anwendet, betrachtet nach Somek die Gesetzgebung als eine Körperschaft, die - in der Regel - gute Ziele verfolgt und zu diesem Zwecke jene Mittel muss auswählen können, die zur Erreichung dieser Ziele geeignet erscheinen. Die Idealisierung der Gesetzgebung zum zweckrational handelnden Subjekt ist eine Folge der richterlichen Kompetenzbestimmung. ... Sie ist normativer Art. Daher ist sie, mit anderen Worten enttäuschungsfest konstituiert. An ihr ist festzuhalten, auch wenn die vorgebliche „Realität" des Gesetzgebungsprozesses anders aussieht, als es nach dem Modell des rationalen gemeinwohlorientierten Verhaltens wünschenswert wäre. 6 5 Somek 2001, 261 ff. ' Ebd, 275.

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Interpretation und Zielannahmcn

Andernfalls würde die verfassungsrechtlich festgelegte Kompetenzverteilung umgestürzt. Die Gesetzgebung verlöre das Recht, ihre Kompetenzen eigenständig zu deuten, und wäre plötzlich der Gerichtsbarkeit untergeordnet. Was ich nun vorschlage, ist, die von Somek kompetenzrechtlich begründete Verpflichtung des Verfassungsgerichts, dem Gesetzgeber einen Rationalitätskredit zu gewähren, auf sämtliche Rechtsinterpreten auszuweiten. Wenn das Verfassungsgericht zu einer solchen Idealisierung in der Lage ist, warum nicht auch andere Rechtsanwender? Dabei gilt es aber nicht nur, Zweckrationalität zu unterstellen, sondern darüber hinaus noch ein gewisses Maß an Konsistenz. Schließlich haben es Rechtsanwender nicht mit isolierten Akten, sondern, wie meine Ausführungen zur juristischen Semantik gezeigt haben sollten, mit der Rechtsordnung als Ganzes zu tun. Juristinnen können also nicht von vornherein sagen, der Gesetzgeber agiere nicht rational.7 Und wenn sie es täten, dann würden sie nicht einfach untugendhaft handeln, sondern sich der Möglichkeit begeben, juristische Begründungen für Entscheidungen oder Meinungen zu liefern. Ich habe oben schon festgestellt, dass sich der hier vertretene „Intentionalismus" zunächst nicht gravierend von Dworkins Konzeption juristischer Interpretation unterscheidet. Er verträgt sich durchaus mit der Forderung, Recht als möglichst kohärentes Ensemble von Normen anzusehen. Würden wir den Gesetzgeber und mit ihm die Rechtsgemeinschaft selbst als inhärent irrational betrachten, wäre vollends unklar, weshalb man sich dem Recht unterwerfen sollte. Interessanter aber ist die Frage, was alles in die Legitimationstheorie des Richters einfließen darf. Warum nicht auch Po/i'ry-Erwägungen? Wie viel „integrity" ist überhaupt möglich? Oder fragen wir zunächst anders: Warum glaubt Dworkin, nachdem der Gesetzgeber einmal policy-ontntiert argumentiert hat, dass der Rechtsanwender dies nicht mehr müsste? Eine Antwort könnte lauten: Weil er klammheimlich noch an jenem Konventionalismus festhält, den er selbst für unangemessen hält.

Wohlgemerkt: Es geht nicht um den empirischen Gesetzgeber. Siehe auch Wroblewski 1991, 94: „Even if the legislator is concieved as a real individual or a real collective entity with a determinate will (settling the meaning of of enacted rules), this legislator is still not exactly taken to be a fact of the past or the present. The legislating person is transformed through being endowed with characteristics of a rational and/or perfect legislator." 7

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1.6.2 Die ständige Überschreitung der Konvention Dass man bei der Bildung von Bn-Äquivalenzen zuerst typischerweise auf die eingeübte B-Theorie in der Rechtsgemeinschaft zurückgreift, bedeutet nicht, dass wir es mit einer Ergründung der wörtlichen Bedeutung von Ausdrücken, wenn man so will: der semantischen Intention des Gesetzgebers belassen können. Die Intention eines vernünftigen Gesetzgebers muss als komplexer gedacht werden.8 Zu ihnen gehören auch Ziele, denen der „Wortlaut" möglicherweise nicht ganz gerecht wird. Dworkin schließt nicht alle Zielsetzungsargumente aus dem juristischen Diskurs aus. Solche, die dazu dienen, die Wahl einer Bedeutungsoption innerhalb der durch den „kanonischen" Wortsinn gezogenen Grenzen zu rechtfertigen, seien im Wesen nach nämlich Prinzipienargumente. Denn sie würden nur verwendet, um legislativ bereits geschaffene Rechte zu bestimmen.' Hierzulande würde man einfach von einer teleologischen Interpretation sprechen. Das Problem ist nur: Wie lässt sich der kanonische Wortsinn bestimmen? Dworkin meint damit wohl die durch juristische Konventionen festgelegte Bedeutung von Wörtern. Aber ist diese Konvention etwas, das man völlig neutral beschreiben kann? Trägt nicht jede Beschreibung der Konvention zu ihrer Reproduktion bei, und führt nicht jede Beschreibung eine wie immer geringfügige Differenz ein? Der Verdacht liegt nahe, dass sich Konventionen, da sie nur in voneinander verschiedenen Einzelfällen reproduziert werden, einem Zusammenspiel von Wiederholung und Differenz verdanken. Wenn dem aber so ist, dann fließen in ihre Bestimmung und somit in die Bestimmung der Grenzen des konventionellen Wortsinns immer auch noch andere Überlegungen und Annahmen hinein als der bloße Gedanke an die Konvention. Es werden, mit anderen Worten, immer Einzelfälle miteinander verglichen. Auf diese Weise wird die Bestimmung der Konvention ihrerseits zu einer interpretativen Angelegenheit. Bisweilen tendiert Dworkin selbst zu einer solchen Auffassung. So weist er nicht nur den Pragmatismus, sondern auch den Konventionalismus als unangemessenes Entscheidungsprogramm zurück. Letzterer sei dadurch kennzeichnet, dass er das Recht auf die „explicit extensions" Zu dieser Unterscheidung zwischen semantischen und sonstigen Intentionen siehe Davidson 1993e, 298 f. ' Dworkin 1984, 190 Fn. 24. 8

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von Gesetzen und Präjudizien beschränkt. 10 Als explizite Extensionen gelten dabei Propositionen über das Recht, denen nahezu alle an der juristischen Praxis Beteiligten zustimmen. Unter „impliziten Extensionen" dagegen versteht Dworkin solche Propositionen, die das Ergebnis einer sorgfältigen Interpretation der Konventionen sind.11 Der eigentliche, nämlich der „strikte" Konventionalismus, wie Dworkin ihn konzipiert, läuft auf die Behauptung hinaus, dass Richter jenseits expliziter Extensionen frei von rechtlichen Beschränkungen entscheiden - was natürlich der These der Rechte zuwiderläuft. Und genau deshalb lehnt Dworkin ihn ab. Tatsächlich hat man aber den Eindruck, dass Dworkins Konventionalisten im Bereich der expliziten Extensionen überhaupt nicht interpretieren, sondern sich ausschließlich auf das stützen, was klar ist. Und genau dagegen wendet sich Fish in seiner Kritik. Fish ist der Meinung, dass nicht nur der Pragmatismus, sondern auch der Konventionalismus kein juristisches Entscheidungsprogramm sei. Es sei schlicht unmöglich, sich wie ein Konventionalist im Sinne Dworkins zu verhalten. Als Grund dafür gibt Fish an, dass es so etwas wie wörtliche Bedeutungen, die ihre Stabilität nicht lediglich festen interpretativen Vorannahmen verdanken, nicht gebe: To be sure, you can always cite a statute or a piece of the Constitution and declare roundly that you stand on it and will not go beyond it; but, in fact, you will already have gone beyond it, if by "it" you understand a meaning that declares itself and repels interpretation. Meanings only become perspicous against a background of interpretive assumptions in the absence of which reading and understanding would be impossible. A meaning that seems to leap off the page, propelled by its own self-sufficiency, is a meaning that flows from interpretive assumptions so deeply embedded that they have become invisible.12

Fishs Anti-Konventionalismus trifft sich hier mit dem wesentlich genauer ausgearbeiteten Anti-Konventionalismus von Davidson. Letzterer kulminiert am Ende sogar in der provokanten Feststellung, dass es so etwas wie eine Sprache eigentlich gar nicht gebe, zumindest wenn man

Dworkin 1986, 124. " Ebd., 123. Die Unterscheidung verläuft offenbar parallel zu jener von Hart zwischen dem Begriffskern und dem Begriffshof (siehe Hart 1997, 123 ff.) 12 Fish 1989c, 358; für eine entsprechende Kritik an Harts Berufung auf Konventionen siehe Fish 1989e, 507 ff.

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darunter - dem philosophischen und linguistischen Common sense entsprechend - ein System von Regeln und Konventionen verstehe, welches Bedeutungen konstituiere oder wenigstens konserviere und stabilisiere.13 Dass Sprecher eine gemeinsame Sprache sprechen, bedeute nicht viel mehr, als dass sie dazu neigen, gleiche Wörter zu benutzen, um gleiche Dinge zu bezeichnen.14 Mit anderen Worten: Sie tendieren immer schon zur gleichen B-Theorie. Aber bleiben wir bei Fish. Ob dieser völlig richtig liegt, ist keineswegs gesichert. Fish unterscheidet nämlich nicht zwischen der (natürlich ihrerseits wandelbaren) B-Theorie für den allgemeinen Sprachgebrauch und der BN-Theorie für das Recht. Versuchen wir zunächst sein Argument zu rekonstruieren, indem wir uns einem klassischen Problem der Methodenreflexion zuwenden.

1.6.3 Rechtsfortbildung durch Rechtsanwendung Das Thema Konventionalismus/Anti-Konventionalismus fällt nicht in die alleinige Zuständigkeit der Sprachphilosophie. Auch die juristische Methodenlehre hat etwas dazu zu sagen. So zeigt ein genauerer Blick auf den Vorgang der Subsumtion, dass die Zuordnung eines Sachverhalts zum Tatbestand einer Regel im Grunde einen Spezialfall der Analogsetzung darstellt, dass jede Rechtsanwendung Rechtsfortbildung impliziert Diese Auffassung ist freilich mit einer intensionalen Deutung des Subsumtionsvorgangs unvereinbar. So verstehen manche Autoren unter Subsumtion die Feststellung der Ubereinstimmung des „konkreten Merkmalskomplexes" eines Sachverhalts mit der „abstrakten Begriffsde-

13 Davidson 1990, 227. Der Lohn für diese Provokation ist die Wiederherstellung einer unmittelbaren Beziehung zwischen Worten und Wirklichkeit und damit ein starkes Argument gegen relativistische Versuchungen, denen allesamt ein Dualismus von Sprache und Welt zugrunde liegt. Außerdem muss sich Davidson nicht zum Anti-Realismus bekennen. So kann er beispielsweise auf jene zumindest missverständlichen Thesen verzichten, wie sie sonst den postmodernistischen Diskurs kennzeichnen, insbesondere auf die Annahme, die Welt sei „diskursiv konstruiert". Im Übrigen glaubt Davidson nicht, dass es in der Gesellschaft keinen realen Zwang, sprachlichen Konventionen zu folgen, d.h. im Großen und Ganzen so zu sprechen wie andere, gibt. Er bezweifelt nur, dass Konformität irgendetwas mit Bedeutung oder der Möglichkeit von Kommunikation zu hat (Davidson 1994, 9). 14 Davidson 1994, 3.

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finition" des Tatbestands 15 bzw. die Feststellung der Identität „zwischen den durch die Gesetzesworte allgemein bedeuteten Erfahrungsinhalten (Hupen von Autos) und der unmittelbar wahrnehmbaren Erfahrungstatsache des konkreten Sachverhalts (Hupen dieses Autos)". 16 Anders aber Engisch, der eine umfangslogische Deutung der Subsumtion der inhaltslogischen vorzieht: D e r konkrete Diebstahl aus d e m Kraftwagen ist ein Element der Klasse, die unter d e m Begriff Diebstahl mit Einbruch „in einen umschlossenen R a u m " zusammengefasst sind. D i e entscheidenden rechtslogischen Fragen ergeben sich erst dahinter: W o r a u f gründet sich eigentlich diese Einordnung des konkreten Sachverhalts in die durch den Rechtsbegriff gemeinte Klasse? D i e Antwort kann m . E . nur lauten: Sie gründet sich auf eine Gleichsetzung des neuen Falles mit denjenigen Fällen, deren Zugehörigkeit zur K l a s s e bereits feststeht ..., 17

Da aber jeder neue Fall von den bereits entschiedenen irgendwie verschieden ist, stellt sich die Frage, in welcher relevanten Hinsicht dennoch die erforderliche Gleichheit besteht. Und darauf kann die Antwort nur lauten: Die Fälle müssen sich in teleologischer Hinsicht, d.h. in ihrem „im Hinblick auf den Gesetzeszweck maßgeblichen Merkmalen" gleichen.18 Ob sie das tun oder nicht, darüber entscheidet die Interpretation. „Die Auslegung liefert nicht nur das Vergleichswa&rá/ fur die Subsumtion, sondern auch die Beziehungspunkte für die Vergleichung." 19 Dazu passt auch, was Searle im Rahmen allgemeinerer Bemerkungen zur Abhängigkeit des Sprachverständnisses von einem „Hintergrund" feststellt: Nichts in der wörtlichen Bedeutung des Satzes „Sie gab ihm ihren Schlüssel, und er öffnete die T ü r " schließt die D e u t u n g aus, dass er die T ü r mit ihrem Schlüsse! öffnete, indem er die T ü r mit dem Schlüssel einschlug; ... Ich überlasse es der Phantasie des Lesers, einen unendlichen Bereich von lächerlichen, aber immer noch wörtlichen Deutungen dieses oder eines anderen Satzes zu erzeugen. Und der Witz ist, dass diese Deutungen nicht durch den semantischen Gehalt, sondern einzig durch die Tatsache blockiert wer-

Strache 1968, 52 Fn. 132. Zippelius 1994, 91. " Engisch 1997, 64. Siehe auch Esser 1972, 33. 18 Koller 1997, 231. " Engisch 1997, 66 (Hervorhebungen im Original). Allerdings ist nach Engisch damit noch nicht geklärt, welcher Mittel man sich bei der Auslegung bedient, während wir hier bereits die Unvermeidlichkeit eines wenigstens stillschweigenden Rekurses auf Zwecke annehmen. 15 16

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den, dass man eine bestimmte Art der Kenntnis darüber hat, wie die Welt funktioniert, dass man eine bestimmte Menge von Fähigkeiten hat, mit der Welt fertig zu werden, und dass diese Fähigkeiten weder Bestandteil der wörtlichen Bedeutung des Satzes sind noch sein können. 20

Andererseits schließt Searle sich nicht Quines Kritik an der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Sätzen an, wie sie Davidsons Bedeutungstheorie zugrunde liegt, trennt also noch klar zwischen der Realität und der Sphäre der Bedeutungen. 21 Mit der umfangslogischen Deutung der Subsumtion vereinbar sind neuere Versuche, die Logik Charles Sanders Peirce' für die Rechtstheorie fruchtbar zu machen. So unterscheidet Somek wie Engisch zwei mögliche Sichtweisen der Subsumtion. Die eine, inhaltslogische (intensionale), gehe von einer prompten Deduktion aus; die andere aber setze einen „abduktiven" oder „retroduktiven" Schluss (der eigentlich kein Schluss sei) voraus: Während man bei der Deduktion vom verwirklichten Tatbestand der Regel zur notwendigen (rechtlichen) Folgerung gelangt ..., wird bei einer Retroduktion ausgehend von einem Sachverhalt eine Regel angenommen, um auf die Verwirklichung des Tatbestands (bzw. des „Falls") der Regel zu schließen. Es wird von dem Umstand, dass ein Verhalten [nämlich Singen in der Nacht - C.H.] vorliegt, das aufgrund seiner Merkmale den Eindruck erweckt, eine öffentliche Ruhestörung zu sein, darauf geschlossen, dass unter der Annahme einer Regel (eines „Bezugsrahmens") über die Fälle der öffentlichen Ruhestörung genau dieses Verhalten ein Element der im Tatbestand umschriebenen Klasse von Verhaltensweisen der öffendichen Ruhestörung darstellt. Vom Exempel wird solcherart auf die Regel geschlossen. 22

Doch die Interpretationshypothese 23 will natürlich auch begründet sein. Dazu greift man auf eine methodische Regel zurück, eine Entscheidung, die, insofern sie eine Selektion beinhaltet, ihrerseits gerechtfertigt werden muss. So könnte man etwa Einsicht in die Gesetzesmaterialien nehmen, aber nicht nur dass die darin verwendeten Wörter wieder einer Interpretation bedürfen und somit letztlich erneut auf die Frage nach dem Zweck der Verwendung dieser Wörter zurückwerfen, schon die Entscheidung für die eine oder andere Methode wird davon abhängen, um welches » Searle 1997,141. 21 Searle 1983,14 ff. 22 Somek 1998a, 346 (Hervorhebungen im Original). 25 Zur Möglichkeit, mittels Interpretationshypothesen aus dem berüchtigten hermeneutischen Zirkel auszubrechen Koller 1997, 200 ff.

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Rechtsgebiet es sich dabei handelt. Dementsprechend wird man sich dort, wo ein besonders hohes Maß an Rechtssicherheit gefordert ist wie im Strafrecht, eher an das halten, was ohne aufwendige teleologische Studien evident erscheint. Letzten Endes hängt also alles vom Hintergrund- oder Vorverständnis ab. „Ob das als öffentliche Ruhestörung verpönte .lautstarke Singen' genau .dieses Singen' ist", schreibt Somek, folgt nicht analytisch aus dem Begriff. Wir wissen es oder wissen es nicht, und sollten wir es nicht wissen, werden begrifflich explizite Interpretationen erforderlich, deren Überzeugungskraft aber letztlich auf etwas beruht, mit dem wir auf genau dieselbe Art vertraut sind wie mit dem sozialen Faktum, dass das Singen in der Nacht eine öffentliche Ruhestörung ist.24 Teleologisch ist dieses Hintergrundverständnis insofern strukturiert, als es Zielannahmen enthält. So meint etwa Josef Esser zunächst: Für die Interpretation im Recht wird ... ausschlaggebend, dass ja mit einer bestimmten Erwartung an die Lösungsmöglichkeit von Konfliktfragen an jene zu interpretierenden Texte herangetreten wird und dass diese Erwartung die Interpretationsmöglichkeiten begrenzt und erschließt.25 Das klingt bereits wie eine Vorwegnahme der letztendlichen Pointe von Fishs Interpretationstheorie als Theorie der Politizität der Interpretation. Und in diesem Sinne geht es auch weiter: Der Rechtsanwender kann sich dem Anwendungs- und Entscheidungszwang, unter dem er steht, nicht entziehen. Seine Normbefragung steht unter diesem entscheidungsbezogenen Vorverständnis der Konfliktsituation. In ihm erscheint Letztere nicht als persönliche Situation des Rechtsschutzsuchenden, sondern als eine „typische Fallsituation", die eine normative Behandlung erfordert, welche über die Einzelentscheidung hinaus befriedigen muss.26 Das „Vorverständnis einer Konfliktsituation" impliziert aber, wie mir scheint, nicht nur ein empirisches Verständnis des Kontexts, etwa des Wettbewerbs zwischen Unternehmen, sondern auch noch ein rudimentäres politisches Wissen um den Regelungsbedarf. Schließlich geht es darum, über den Einzelfall hinaus „befriedigende" Lösungen zu finden. Wer sich beispielsweise mit Gesellschafts- oder Arbeitsrecht befasst, kommt nicht umhin, gewisse Vorstellungen vom Wirtschaftssystem, seinen Funktionen, seinen Akteuren sowie deren Interessen und Zielset» Somek 1998a, 347. » Esser 1972, 139. 56 Ebd.

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zungen zu entwickeln. Und man kann davon ausgehen, dass libertär und sozialdemokratisch gesinnte Juristen bzw. Juristen der Gewerkschaft und Juristen der Wirtschaftskammer immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationsergebnissen gelangen werden. 27 Wenn Dworkin also PoÄy-Argumente ausschließt, dann tut er dies zumindest um den Preis, bestimmte politische Überzeugungen, nämlich die etablierten, immer schon als „Wissen" auszuzeichnen. 28 Po/zg*-Annahmen fungieren demnach als Supplemente im Sinne der Dekonstruktivisten. Im Normalfall, insbesondere dann, wenn sie von allen Rechtsanwenderinnenn geteilt werden, verrichten sie ihren Dienst ganz unauffällig. Sie repräsentieren das Andere des Rechts, das Politische, im Recht selbst. Bisweilen aber verlangen sie auch danach, expliziert und in die juristische Argumentation eingebaut zu werden. Damit stellt sich allerdings die Frage, was dann die Subsumtion noch von der Analogie unterscheidet. Diese Unterscheidung, auf die Fish nicht eingeht, ist deshalb wichtig, weil etwa im Strafrecht ein striktes Analogieverbot gilt und ein solches naturgemäß nicht handhabbar wäre, wenn man die Subsumtion umstandslos mit der Analogie in eins fallen lassen würde. Vielleicht könnte man die Abgrenzung folgendermaßen vornehmen: Wenn Subsumierbarkeit geboten, der Analogieschluss also unzulässig ist, so bedeutet dies, dass die Zuordnung eines bestimmten Sachverhaltsmerkmals zu einem bestimmten Tatbestandsmerkmal über die fragliche Regel hinaus möglich sein muss. Von einer Subsumtion, so würde die unvermeidlich vage Definition lauten, kann man demnach dann sprechen, wenn man geneigt ist, ein Sachverhaltsmerkmal demselben Tatbestandsmerkmal in einer anderen Regel zuzuordnen, ohne explizit auf den Zweck dieser anderen Regel zu rekurrieren. Wer also geneigt ist, ein bestimmtes Vehikel immer als „Kraftfahrzeug" zu betrachten, der subsumiert es unter diesen Begriff. Doch insofern wir ein

Was aber für sich noch kein Grund ist, auf Geltungsansprüche zu verzichten. Die Unbestimmtheit der richtigen Lösung eines konkreten Problems müsste, wie Dworkin immer wieder insistiert, gesondert nachgewiesen werden. Es könnte ja sein, dass der Libertarismus als moralische und politische Theorie dem egalitären Liberalismus in Wahrheit unterlegen ist. Dies a priori auszuschließen und beide als gleichwertige Ideologien anzuerkennen würde bedeuten, eine unmögliche Metaposition für sich zu reklamieren. a Wir werden im zweiten Teil auch hinter Dworkins Vorschlägen zur Lösung bestimmter haftungsrechtlicher Probleme ein solches politisches Wissen, oder besser: politische (und dennoch mit Objektivitätsanspruch vorgetragene) Präferenzen entdecken. 27

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Sachverhaltsmerkmal nur dann einem Tatbestandsmerkmal einer anderen Regel zuordnen, wenn wir die andere Regel zumindest ansatzweise interpretiert haben, können wir auf Ziel- bzw. Zweckannahmen niemals gänzlich verzichten. Der Ausschluss des analogischen Denkens (zu Lasten des Beschuldigten) muss daher uminterpretiert und als besonderes Konsistenzgebot verstanden werden. Das explizierte Verständnis des individuellen Normzwecks hat demnach hinter das implizite Verständnis aller anderen Normen des fraglichen Regelungskontextes und somit hinter das Hintergrundverständnis zurückzutreten.

1.6.4 Zur Divergen^

von B-Theorie

und Β

¡^Theorie

Der etwaige Anschein, dass sich der konventionelle Wortsinn gegenüber seinem teleologischen Hintergrund verselbständigt hat, ist - da hat Fish wohl Recht - nicht mehr als ein Ausdruck der Festigkeit wenigstens abstrakten teleologischen Hintergrundwissens.2' Mit anderen Worten: Eine Konvention ist zumindest für denjenigen, der in ihr Antworten auf aktuelle Fragen sucht, keine abgeschlossene Entität. Sie bedarf der ständigen Wiederholung und damit, im Fall des Rechts, der Wiederholung vergangener Zielsetzungen unter jeweils, wenn auch minimal veränderten Bedingungen. Die konventionelle Wortbedeutung ergibt sich in Wirklichkeit also aus einer gemeinsamen, mehr oder weniger instabilen BTheorie. Sie ändert sich selbst mit der Praxis von Sprechern und Interpreten.30 Ich würde also weiter gehen als Koller, der bezweifelt, dass sich der Wortsinn einer Regel in jedem Fall ohne Verständnis ihres teleologischen Hintergrunds erschließt (siehe Koller 1997, 216). Wie mir scheint, verdankt sich der mögliche Wortsinn einer Regel immer einem gewissen Verständnis ihres Zweckes. Analog verhält es sich im Bereich der Kommunikation zwischen Individuen. Schließlich lassen sich auch sprachliche Äußerungen nur so weit verstehen, wie es gelingt, dem Sprecher plausible Intentionen zuzuordnen. Je mehr wir über diese Intentionen wissen, desto genauer kennen wir die Bedeutung des Geäußerten. Was die rechtliche Interpretation von der Interpretation der Äußerungen eines Sprechers vielleicht unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie weniger auf Zweckerkenntnis als auf Zwecksetzung (Rekonstruktion von Zielen) beruht. 30 Tatsächlich muss man keine Wahl treffen zwischen atomistischem Individualismus, der dem Individuum Autonomie bei der Bedeutungsfestlegung zuerkennt, und holistischem Kollektivismus, wonach die semantische Autorität bei der Sprachgemeinschaft als solcher liegt. Man kann sich auch, wie der Anti-Konventionaüst und Anti-Atomist Davidson für einen holistischen Individualismus entscheiden. Zu den unterschiedlichen Unterschei29

Interpretieren

151

Nun mag man freilich einwenden, dass wir es im obigen Fall eben mit der Notwendigkeit einer teleologischen Interpretation zu tun hätten, weil schon der Wortsinn von „lautstarkes Singen" unklar sei. In anderen Fällen könnten wir durchaus sauber zwischen grammatischer und teleologischer Interpretation unterscheiden. Und oftmals sei gar keine teleologische Interpretation notwendig, weil der Wortlaut keine Zweifel aufkommen lasse (egal ob man nun sage, die Bedeutung sei aus einer BTheorie abzulesen oder durch die Konvention vorgegeben). Und wenn der Wortsinn aufgrund der Bedeutung der einzelnen Wörter klar sei, dann lasse sich eine BiM-Aquivalenz für eine Norm auch ohne irgendwelche Zielannahmen herstellen. Doch dieser Anschein trügt oder verdankt sich zumindest einem seinerseits teleologisch strukturierten Vorverständnis. Schließlich stellt sich immer die Frage, ob es nicht angebracht wäre, eine teleologische Reduktion vorzunehmen oder einen Analogieschluss zu wagen. Der Ausschluss teleologischer Denkanstrengungen muss genauso, wenn auch nur implizit, teleologisch gerechtfertigt sein wie diese selbst. So begründet etwa der O G H seine Auffassung, wonach sowohl der Vermieter als auch der Mieter einer unter das öMRG fallenden Wohnung gerichtlich zu kündigen hätte, nicht einfach mit dem Wortlaut des § 33 öMRG, sondern sieht sich darüber hinaus noch genötigt aufzuzeigen, dass die teleologischen Argumente für eine Unterschreitung des Wortsinns 31 nicht stichhältig seien. Zum einen weist er darauf hin, dass der Schutzzweck des öMRG aus verschiedenen Gründen sehr wohl eine gerichtliche Kündigung notwendig mache; zum anderen stellt er fest, dass das öMRG durchaus auch Interessen des Vermieters schütze.32 Das implÌ2Ìte Argument wird üblicherweise die Rechtssicherheit sein, nicht aber der Schutz eines bestimmten Rechts, zumal die Befürworter expliziter teleologischer Argumente typischerweise ebenfalls an bestimmte Rechte denken, etwa an das Recht, einen Mietvertrag außergerichtlich zu kündigen. Fishs Beispiel vermag den Konventionalismus daher noch nicht in jedem Fall als unmöglich auszuweisen. Der Wortlaut der Verfassungsbestimmung, wonach nur Personen Präsidenten bzw. Präsidentinnen der

düngen Individualismus/Kollektivismus und Atomismus/Holismus siehe Liptow 2002, 133 ff. " Siehe Koziol/Welser 2001, 228; Csoldich 1988; Iro 1993. 12 O G H in SZ 65/154.

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Interpretation und Zielannahmen

USA werden können, die das 35. Lebensjahr vollendet haben, scheint tatsächlich eindeutig zu sein. Die Eindeutigkeit resultiert aus einer B Theorie, in der der Ausdruck „Vollendung des 35. Lebensjahrs" eine ganz bestimmte Rolle spielt. Nun hätte Fish Recht, wenn er meinte, dass die B-Theorie fur die Bfj-Theorie nicht den alleinigen Ausschlag gibt und dass eine nähere Befragung der Intentionen des Gesetzgebers möglicherweise eine Bedeutung offenbart, die sich nicht aus der B-Theorie ableiten lässt: What did the writers mean by thirty-five years of age? The commonsensical answer is that by thirty-five years of age they meant thirty-five years of age; but thirty-five is a point on a scale, and the scale is a scale of something; in this case a scale of maturity as determined in relation to such matters as life expectancy, the course of education, the balance between vigor and wisdom, etc. When the framers chose to specify thirty-five as the minimal age of the president they did so against a background of concerns and cultural conditions within which "thirty-five" had a certain meaning; and one could argue ... that since those conditions have changed ... the meaning of thirty-five has changed too, and thirty-five now means "fifty".31 Doch wenn „35 Lebensjahre", angesichts einer gestiegenen Lebenserwartung, längerer Ausbildungszeiten etc., 50 Lebensjahre bedeutet, dann heißt das ja nur, dass der Ausdruck „50 Lebensjahre" ebenfalls eine bestimmte Bedeutung hat, und zwar eine von sich verändernden sozialen Bedingungen wie den genannten unabhängige. Fish muss also meinen, dass die BN-Theorie, die Bedeutungstheorie für das Recht, nicht direkt oder notwendig an die B-Theorie der Alltagssprache gekoppelt ist. Aber auch Dworkin verfehlt den Punkt, wenn er glaubt, die B-Theorie bestehe aus „kanonischen" Regeln, an die man sich bei der Entwicklung an einer BN-Theorie zu halten habe. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass die juristische Bestimmung der Bedeutung einer Norm (eines Normzeichens) mit der Zeit den Sinn der darin verwendeten Wörter verändert. Freilich: Oft wird es allzu gewagt anmuten, den „Wortsinn" einer Norm mit teleologischen Argumenten zu ignorieren. Oft werden diese zu schwach erscheinen, um gegen Rechts sicherheitserwägungen bestehen zu können. Und oft werden es andere teleologische Argumente sein, die dagegen sprechen. Bisweilen kommt uns es uns aber völlig natürlich vor, den historischen Gesetzgeber zu berichtigen oder zu er-

" Fish 1989c, 359 (Hervorhebung im Original).

153

Interpretieren

ganzen. Und das nicht immer nur aus Gründen der Gerechtigkeit. Auf diese Weise entsteht dann eine neue Konvention, auf die man sich später berufen kann. Sehen wir uns einen Fall der Instituierung einer neuen (haftungsrechtlichen) Konvention etwas näher an: die teleologische Reduktion, welche hierzulande zur Kategorie des „Rechtswidrigkeitszusammenhangs" bzw. des „Schutzzwecks" geführt hat.

1.6.5 Zur Begründung einer haftungsnchtüchen

Konvention

Entgegen dem durch die einschlägigen Bestimmungen des ABGB vermittelten Anschein hat ein widerrechtlich Geschädigter nur dann einen Schadenersatzanspruch, wenn sein Schaden vom Schutzzweck der verletzten Norm erfasst wird. Demnach ist beispielsweise jemand, der trotz eines aus forstwirtschaftlichen Gründen verhängten Schlägereiverbots in einem Wald einen Baum fällt und dabei einen Spaziergänger verletzt, nicht zivilrechtlich haftbar (wenn er ansonsten sorgfältig vorgegangen ist). Ebenso wenig haftet der Dieb für einen beim zunächst verdächtigten Unschuldigen entstandenen Vermögensschaden (Verteidigungskosten), weil das Verbot des Diebstahls bloß den Besitz des Bestohlenen schützen sollte.34 Ein Schadenersatzanspruch nach dem allgemeinen Regime der Verschuldenshaftung setzt also nicht nur einen Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden voraus, sondern auch, dass es Zweck der verletzten Norm ist, gerade Schäden der eingetretenen Art zu verhindern. Zu klären ist, welche durch rechtswidriges Verhalten verursachten Schäden dem Schädiger zugerechnet werden können.35 Die verletzte Norm kann ein direktes Verhaltensgebot oder -verbot sein, gleich ob es einem Gesetz oder einem Vertrag entstammt. Sie kann aber auch ein indirektes Gebot oder Verbot sein, eines, das sich aus der Existenz absolut, d.h. gegen jede Beeinträchtigung geschützter Güter (wie etwa Eigentum oder körperliche Unversehrtheit) ergibt. Die Lehre vom Rechtswidrigkeitszusammenhang ist wie die Lehre von der Adäquanz eine Haftungsbeschränkungslehre, und obwohl sich

u Ehrenzweig/Ehrenzweig 1986, 276; zahlreiche weitere Beispiele aus der österreichischen Judikatur zum Rechtswidrigkeitszusammenhang finden sich bei Welser 1975. Für Deutschland siehe Larenz 1987, 440 ff.; Grunsky 1994, Rn. 44 ff. 35 Siehe Koziol 1997, 247.

154

Interpretation und Zielannahmen

Adäquanz- und Schutzzweckargumente nicht immer leicht unterscheiden lassen36, sind sie auseinanderzuhalten. Nach der Lehre von der Adäquanz muss die Schadensverursachung vorhersehbar gewesen sein. Der Grund für diese juristische Modifikation des naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriffs ist nicht schwer zu erkennen: Eine Haftpflicht im Falle höchst unwahrscheinlicher Kausalverläufe erfüllt einfach keine verhaltenssteuernde Funktion.37 Nach der Lehre vom Schutzzweck hingegen wird auch für relativ leicht vorhersehbare (Folgeschäden nicht gehaftet, wenn nicht gerade sie durch die verletzte Norm verhindert werden sollten. Walter Wilburg hat diese Differenz folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Für die Adäquität kommt es auf eine gedachte Voraussehbarkeit im Augenblick des Handelns, für den Rechtszusammenhang dagegen nur auf die Voraussicht bei der Setzung der Norm an.38 Aus der Perspektive eines Gesetzgebers besteht ein klarer Unterschied zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und einem erhöhten Risiko. Denn der empirische Gesetzgeber hat typischerweise nur eine überschaubare Menge von paradigmatischen Fallkonstellationen vor Augen. Für die Rechtsanwenderin, die diese Unterscheidung im Einzelfall zu rekonstruieren und zu präzisieren hat, ist hier jedoch vieles alles andere als klar. Zwar kommt sie mit dem Kriterium der signifikanten Risikoerhöhung der Bedeutung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs schon auf die Spur. Allerdings, meinen Ott/Schäfer: „Wie weit das allgemeine Lebensrisiko reicht, steht nicht von vornherein fest, sondern bestimmt sich wiederum nach Gesichtspunkten einer sinnvollen Haftungsbegrenzung. " 39 Aber warum überhaupt eine solche Haftungsbegrenzung? Warum das Fehlen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs die Haftung ausschließen soll, ist weniger offensichtlich als der Verzicht auf eine ausfuhrliche Begründung dieser Lehre in der dogmatischen Literatur suggeriert. In

Nicht selten fuhrt die Schutzzwecktheorie auf die Adäquanztheorie zurück (so etwa Larenz 1987, 444). Umgekehrt könnte man aber auch sagen, dass sich das Adäquanzkriterium aus der Schutzzwecklehre ergibt. Inadäquate Schäden können vom Schutzzweck einer Norm niemals erfasst sein. 57 Koziol/Welser 2001, 292; Ott/Schäfer 2000, 246. » Wilburg 1941, 244. w Ott/Schäfer 2000, 249 (Hervorhebung von mir). 36

Interpretieren

155

der Lehre finden sich dazu lediglich einige Andeutungen.40 Zum einen dürfe die „Handlungsfreiheit", die „Entschlussfreudigkeit" und die „Initiative des Einzelnen" nicht übergebührlich eingeschränkt werden;41 zum anderen wird darauf hingewiesen, „dass jede Pflicht bestimmten Interessen dient und dass nur der Schaden, der diesen geschützten Interessen zugefügt wird, dem Schuldner zugerechnet werden soll".42 Hinter beiden Argumenten stehen konsequenzialistische und teleologische Überlegungen. Unabhängig davon, was man vom ersten Argument halten mag entgegen dem Anschein, dass es sich beim Argument der Handlungsfreiheit um ein Prinzipienargument handle, haben wir es in Wirklichkeit mit einem Policy-Argument zu tun. Zunächst ist bereits strittig, ob Handlungsfreiheit als solche überhaupt ein Recht darstellt. Dworkin verneint dies.43 Sein Argument lautet in etwa folgendermaßen: Wäre dies der Fall, so entstünde ein Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit. Eine Theorie, die einen solchen Konflikt unterstellt, ist aber grundlegend defizient. Jedes Recht auf Freiheit kann nur dann ein Recht im starken Sinne sein, sich also gegen Versuche behaupten, es unter Hinweis auf allgemeine Interessen einzuschränken, wenn es ein Recht auf eine spezifische Freiheit, z.B. der Meinungsäußerung, ist. Spezifische Freiheitsrechte müssen sich aber gleichheitsrechtlich rechtfertigen lassen. So gesehen kann der Hinweis auf die Handlungsfreiheit nicht anders denn als Verkleidung eines Po/fry-Arguments verstanden werden.44 Ich glaube zwar Die Auffassung, wonach ein bestimmtes Verhalten nur gegenüber bestimmten Geschädigten rechtswidrig sei („relative Rechtswidrigkeit"), wird mittlerweile überwiegend abgelehnt (siehe Larenz 1987, 446; Welser 1975, 2). 41 Welser 1970, 75; 1975, 2. 4 ! Rabel 1964, 497. « Dworkin 1984, 429 ff. 44 Viele folgen Dworkin in dieser Argumentation aber nicht. Eine andere Auffassung vertritt (mit Bezug auf das österreichische Recht) z.B. Franz Merli (1994). Allerdings behauptet Merli nicht, dass ein Gesetz nur wegen Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungswidrig sei, sondern dass mit der Behauptung einer derartigen Verletzung lediglich gesagt sei, dass man „in seinen Rechten" verletzt wurde. Damit das Gesetz aber aufgehoben werden könne, bedürfe es noch einer davon unabhängigen Verfassungswidrigkeit. Infrage käme natürlich auch eine Verletzung des Sachlichkeitsgebots, wie es in Österreich aus dem Gleichheitssatz abgeleitet wird (ebd. 315 f.) - gesetzt, man hält diese Interpretation des Gleichheitssatzes für gerechtfertigt. Tut man dies, dann muss man Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit auf ihre Begründung und Verhältnismäßigkeit hin prüfen. Sieht man darin aber eine Fehldeutung der Wendung „Vor dem 40

Interpretation und Zielannahmen

156

nicht, dass D i e t e r G r i m m dies o h n e weiteres unterschreiben w ü r d e (zumal in D e u t s c h l a n d ein R e c h t auf Handlungsfreiheit allgemein anerkannt w i r d ) , d e n n o c h t r i f f t e r d e n N a g e l a u f d e n K o p f , w e n n er m e i n t : D i e Freiheit ist e b e n s o ein G e m e i n w o h l b e l a n g , wie d e r legitimierende G r u n d für Freiheitsbeschränkungen tikularwohl g e g e n

e i n e r ist, s o dass in d e r Regel n i c h t

Gemeinwohl

steht, s o n d e r n

konkurrierende

Par-

Gemein-

w o h l b e l a n g e i n s V e r h ä l t n i s zu s e t z e n sind. 4 5 In d i e s e m Sinne bringt W e l s e r a u c h d e n G e d a n k e n d e s Verkehrsschutzes ins

Spiel.

„Bei

der

Aufstellung

schadenersatzrechtlich

sanktionierter

N o r m e n " , m e i n t er, „ h a n d e l t e s s i c h g a n z a l l g e m e i n u m e i n e E n t s c h e i dung im Spannungsfeld zwischen Handlungsfreiheit und Güterschutz."46 U n d gerade w e n n e s u m die A b w e h r v o n G e f a h r e n für „bloßes V e r m ö gen" gehe, werde der Handlungsfreiheit regelmäßig größeres

Gewicht

zugestanden. Andernfalls wäre das V e r m ö g e n eines H a n d e l n d e n untragbar belastet: D i e d i e s e m i m m e r h i n e r k e n n b a r e Möglichkeit, dass sein V e r h a l t e n b e i a n d e ren, i h m h ä u f i g g a r n i c h t b e k a n n t e n P e r s o n e n , unkalkulierbare N a c h t e i l e h e r v o r r u f e n k ö n n t e , m ü s s t e ihn b e i seinen H a n d l u n g e n zu g r ö ß t e r Z u r ü c k h a l t u n g v e r a n l a s s e n , w a s d e n V e r k e h r s c h w e r beeinträchtigte, w e n n n i c h t gar zum Erlahmen brächte.47 D i e s ist f r e i l i c h e h e r e i n A r g u m e n t f ü r e i n e H a f t u n g s b e g r e n z u n g Ausschluss der Rechtswidrigkeit einer Schädigung des b l o ß e n

g e n s u n d n i c h t erst d e s R e c h t s w i d r i g k e i t s z u s a m m e n h a n g s . W o l l t e mit diesem A r g u m e n t die E i n f ü h r u n g des

via

Vermöman

Rechtswidrigkeitszusammen-

Gesetz sind alle Staatbürger gleich", dann vermag eine bloße „unsachlich begründete" oder unverhältnismäßige Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit eine Gesetzesaufhebung nicht zu rechtfertigen. Wenn es kein allgemeines Sachlichkeitsgebot gibt, entfaltet die allgemeine Handlungsfreiheit demnach nur insofern Wirkungen, als seine Verletzung zum Anlass genommen werden kann, ein Gesetz auf seine sonstige Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Vielleicht könnte man aber auch auf den Gleichheitssatz verzichten und das Sachlichkeitsgebot selbst aus einem impliziten verfassungsrechtlichen Recht auf Handlungsfreiheit ableiten. Doch in jedem Fall stellt sich die Frage, ob ein Sachlichkeitsgebot, welches nicht mehr auf Differenzierungen abstellt, überhaupt justiziabel ist, nämlich vorhersehbare und rational nachvollziehbare Entscheidungen ermöglicht. In Deutschland stellt sich die Sache freilich etwas anders dar, zumal Art. 2 Abs. 1 G G ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit statuiert, als dessen Teil die allgemeine Handlungsfreiheit angesehen wird. « Grimm 2002,135. « Welser 1970, 75. 47 Ebd.

Interpretieren

157

hangs als zusätzliches Haftungskriterium begründen, würde man behaupten, dass rechtswidriges Verhalten durch die Handlungsfreiheit gedeckt bzw. dass ein funktionsfähiger „Verkehr" ohne rechtswidrige Handlungen gar nicht denkbar sei und dass man deshalb dem Einzelnen die Verantwortung auch für vorhersehbare Folgen rechtswidriger Handlungen teilweise abnehmen müsse. Eine solche Strategie, rechtswidrigem Handeln den Unwert abzusprechen, mutet jedoch, gelinde gesagt, etwas seltsam an. Dies zeigt aber nur, dass nicht jedes Pe/wy-Argument ein gutes Argument ist und dass sich damit nicht jede Dogmatik aushebeln lässt. Das zweite Argument ist etwas interessanter, weil es sich auf die Rechtsordnung als Ganze bezieht. Demnach schützen Rechtsnormen bestimmte Interessen. Würde man nun den Rechtstext von diesem Hintergrund ablösen, in unserer Terminologie also bei der Bildung von BNTheorien nicht mehr auf jene Werte und Ziele zurückgreifen, die den Text als Ganzes erst plausibel machen, dann würde man einer Sinnentleerung des Rechts Vorschub leisten, die seine Verbindlichkeit in Zweifel zieht. Dieses Argument stellt somit nicht nur auf Kohärenz, sondern darüber hinaus noch auf eine Richtigkeit ab, ohne die man nicht erklären könnte, weshalb man an das Recht gebunden ist. Auf diese Weise wird der Eindruck vermieden, es handle sich beim Recht um ein in sich geschlossenes Normenensemble, das man entweder akzeptiert oder eben nicht. Eine Rechtsordnung, die mit ihren sinnstiftenden Grundlagen verbunden bleibt, wird damit selbst zum kollektiven Ziel erhoben. Das heißt, dem Gesetzgeber wird die Intention unterstellt, nicht immer wörtlich genommen zu werden, zumindest dann nicht, wenn dies die Zerstörung der spezifisch rechtlichen Sinnstrukturen zur Folge hätte. Die gesetzgeberische Intention umfasst also mehr als bloß semantische Intentionen. Zur Intention des Gesetzgebers gehören noch einige weitere Intentionen. Was immer das für Intentionen sein mögen, eine befindet sich darunter jedenfalls, nämlich das politische Ziel, eine Rechtsordnung aufrechtzuerhalten, die es erlaubt, Fälle so zu lösen, dass die Natur von Verhaltensnormen, nämlich jeweils nur bestimmte Interessen zu schützen, nicht verleugnet werden muss. Zwar mag es bisweilen den Anschein haben, als bedürfe es zur Rekonstruktion einzelner Schutzzwecke nichts weiter als einiger argumentativer Verweise auf die Schutzwürdigkeit bestimmter Interessen, bei der Konstruktion einer Kategorie wie

158

Interpretation und Zielannahmen

des Rechtswidrigkeitszusammenhangs können wir uns aber keinesfalls nur auf Rechte berufen.48 Im Übrigen zeigt dieses Beispiel, dass Po/wy-Argumente nicht zwangsläufig eine unsichere Prognose miteinschließen. Dass ein Recht, welches an seine Rechtfertigung gekoppelt bleibt und also nur insoweit subjektive Ansprüche gewährt, als diese durch die Rechtfertigung gedeckt sind, gut ist für die Gemeinschaft, erfordert keine aufwändigen sozialwissenschaftlichen Folgenabschätzungen, sondern nur allgemeines soziologisches Wissen - das Wissen darum, dass Recht auf entgegenkommende Tugenden angewiesen ist, die ihrerseits u.a. durch die Einsicht in seinen Sinn motiviert sind. Die „Legitimation durch Verfahren" (Niklas Luhmann) spielt natürlich auch eine Rolle. Allerdings darf man bezweifeln, dass die Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften die inhaltlichen Gründe für den Rechtsgehorsam vollständig ersetzen kann. Wenn der Output eines Verfahrens regelmäßig unvernünftig oder gar unverständlich erscheint, wird das Verfahren kaum noch etwas legitimieren, sondern vielmehr selbst unter Legitimationsdruck geraten. Und unvernünftig bzw. unverständlich wären Regeln, die kein bestimmtes (öffentliches oder privates) Interesse zu schützen vorgeben, sondern gewissermaßen sich selbst genügen. Eine solche Emanzipation von den Rechtfertigungsgrundlagen hätte eine semantische Sterilisierung zur Folge, die schließlich in der Floskel kulminiert: „Gesetz ist Gesetz". Diese Tautologie bringt jedoch einen Widerspruch zum Ausdruck. Wird sie doch nur dann evoziert, wenn das Gesetz unsinnig bzw. ungerecht erscheint, d.h. sich auf nichts anderes als Gewalt stützen kann — auf das, was das Recht gerade nicht sein will.49

Tatsächlich wird auch der Schutzzweck der einzelnen Norm oft nicht prinzipienorientiert begründet, sondern mittels einer Polity im Dworkin'schen Sinne. Und das ist keineswegs ungewöhnlich. „Sozialadäquates" Verhalten etwa gilt überhaupt nicht als rechtswidrig (siehe nur Wiethölter 1960, 56 f.; Koziol 1997, 155). Was aber sozialadäquat ist und was nicht, wird aber vor allem von Vorstellungen darüber abhängen, was eine gute Gesellschaft ist, etwa inwieweit die Pflege des Brauchtums Sachbeschädigungen und Körperverletzungen zu rechtfertigen vermag. Man denke nur an den Krampus, der mit einem Rutenschlag ein Kleidungsstück beschädigt oder beschmutzt. Ob der Krampus dazu ein Recht hat, entscheidet letztlich ein POULJ-Argument. Selbst wenn man etwas gekünstelt ein individuelles Recht auf Brauchtumspflege einräumt, werden in die Abwägung Zielsetzungsargumente einfließen. w Zizek 1994a, 45; siehe auch Bourdieu 2001, 119. Freilich: Früher oder später gehen uns die Gründe jedenfalls aus, und dann bleibt nur mehr die Gewalt übrig, wenn eine Verta45

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Nun könnte jemand einwenden, dann interpretiere man eben die verletzten Vorschriften so, dass nur mehr bestimmte Geschädigten einen Ersatzanspruch haben, nämlich soweit ihre Interessen als schutzwürdig gelten. Aber dann müsste man mit der seltsamen Kategorie der relativen Rechtswidrigkeit operieren, um den Kreis der potentiell Ersatzberechtigten zu begrenzen. Wenn man das mit der vorherrschenden Lehre nicht will, muss man eine Norm wie § 1295 ABGB entsprechend ergänzen. Und dazu bedarf es eines allgemeineren Arguments, das sich darauf bezieht, was für die Gemeinschaft gut ist: eben ein Recht, das nur jenen Ansprüche gewährt, deren Interessen zu schützen Zweck der verletzten Vorschrift war, ein Recht, das mit seiner Rechtfertigung kurzgeschlossen bleibt. Vielleicht ist die gesamte Lehre vom Rechtswidrigkeitszusammenhang aber dennoch als verfehlt anzusehen. Vielleicht wäre es besser, mit der Rechtsfortbildung woanders anzusetzen, etwa bei jenen Bestimmungen, die sich auf die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten beziehen, nämlich § 1304 ABGB und 254 BGB. Zumal man auf diese Weise nicht immer zu einer Alles-oder-Nichts-Lösung, sondern zu einer oft sachgerechter erscheinenden Aufteilung des Schadens käme.511 Ich möchte mich hier nicht auf eine dogmatische Diskussion einlassen. Tatsächlich hat eine derartige Sichtweise einiges für sich. Doch auch wenn dieser Vorschlag der richtige ist, die Ablehnung der Kategorie des Rechtswidrigkeitszusammenhangs bzw. des Zurechnungskriteriums „Schutzzweck der Norm" kann nicht damit begründet werden, dass Po/tty-Argumente unzulässig seien. Und tatsächlich erweist sich die Argumentation in diesem Feld auch um einiges subtiler.

gung nicht infrage kommt. Pascal sprach in diesem Zusammenhang bekanntlich vom „mystischen Grund der Autorität". Worum es also nur gehen kann, ist ein Aufschub. Im Grunde handelt es sich hierbei nur um das auch von anderen Diskursen bekannte Problem der Letztbegründung. Aber Richtigkeit und Wahrheit ließen sich noch nie auf Begriindbarkeit reduzieren, schon gar nicht auf die Möglichkeit einer Begründung hic et nunc. Was sich allerdings mit meisten anderen Überzeugungen, die man hat, nicht verträgt, wird man kaum fur wahr halten dürfen. w Siehe Lorenz 1995.

1.7 Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit Dworkins These der Rechte ist natürlich nicht unwidersprochen geblieben. Zur Wiederholung: Die These der Rechte besagt, dass Richter nur aufgrund präexistenter Rechte entscheiden dürfen. In jedem Rechtsstreit habe eine Partei das Recht, zu gewinnen. Und für (fast) jeden noch so schwierigen Fall gebe es eine richtige Lösung - unabhängig davon, ob es uns gegeben ist, diese richtige Lösung zu entdecken. Wenn sich die Lösung nicht direkt aus dem vorhandenen Rechtsmaterial ableiten lasse, dann müsse man auf Prinzipien (nicht aber auf PoZ/Vy-Argumente) zurückgreifen, und zwar auf jene Prinzipien, die in der besten Legitimationstheorie des Rechts eine Rolle spielten. Dworkin koppelt die Richtigkeit einer Lösung also explizit an ihre Rechtfertigung. Die (objektiv) richtige Lösung sei einfach diejenige, die am besten begründet, also am vernünftigsten ist.1 Und auch wenn im Einzelfall Dissens darüber bestehe, welche das sei, könne man daraus nicht schließen, dass es keine richtige Lösung gibt. Dies müsse ebenfalls juristisch begründet werden, und zwar im Einzelfall. Ich glaube, dass Dworkin damit Recht hat. Dennoch sieht sich seine These der Rechte einem gewichtigen Einwand ausgesetzt. So stellt sich die Frage, wie es sich verhält, wenn zwei inkommensurable Werte aufeinandertreffen. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Werte, die der Rechtsanwender, wenn er seine Legitimationstheorie des Rechts entwirft, quasi vorfindet. Der Einwand richtet sich insofern ganz unmittelbar gegen Dworkin, als seine „law-as-integrity"-Theorie selbst zwei Kriterien für die Richtigkeit enthält, die, zumindest auf den ersten Blick, nicht immer miteinander harmonieren: „fit" und „justification" (oder „moral value"). Einerseits müssten die Prinzipien, die in schwierigen Fällen zur Anwendung kommen, zum Rechtssystem passen, und andererseits müssen sie das System und seine Teile legitimieren.2 Ich werde im Folgenden den Einwand der Inkommensurabilität kurz ausformulieren und dann zu zeigen versuchen, wie durch Wertkonflikte und Spannun-

1 Dworkin 1983b, 278, Und dafür bekommt er Applaus von einem, den er für seinen Gegner hält, nämlich Rorty (1991, 95 Fn. 6.). 2 Siehe Dworkin 1986, 228 ff. Und diese beiden Kriterien wendet er auf die Theorie eines Rechtssystems selbst an (ebd., 176 ff.).

Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit

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gen hindurch (für die einzelne Rechtsanwenderin) eine richtige Lösung sichtbar wird. Dazu muss man meines Erachtens die Abstraktion bestimmter Werturteile zurücknehmen und Letztere wieder in Gemeinschaftsentwürfe einbetten. Nichts anderes kann mit der immer wieder bemühten Phrase „all things considered" gemeint sein. Freilich lassen sich Gemeinschaftsentwürfe ihrerseits bewerten, so dass das Begründungsspiel von vorne beginnt. Bald wird man damit jedoch am Ende sein und nicht mehr erkennen können, was was begründet, und man gelangt zur Einsicht, dass sich individuelle Interessen und kollektive Ziele gewissermaßen wechselseitig supplementieren. Das Fundament der eigenen Überzeugungen erweist sich so als etwas, das sich nicht argumentativ einholen lässt.

1.7.1 Der Einwand der Inkommensurabilität Mit Bezug auf Dworkins Kriterien hat John Mackie als Erster den Verdacht der Inkommensurabilität geäußert: [TJhere is weakness in the argument that an exactly equal balance between the considerations on either side is so unlikely that it is almost certain that one party will have a antecedent right to win .... This argument assumes too simple a metric for strength of considerations, that such strengths are always commensurable on linear scale, so that the strength of the case for one side must be either greater than that of the case for the other side, or less, or else they must be equal in the sense of being so finely balanced that even the slightest additional force on either side would make it the stronger. But in fact considerations may be imperfectly commensurable, so that neither of the opposing cases is stronger than the other, and yet they are not finely balanced.5 Dass wir es nur selten mit einer völligen Gleichwertigkeit von Theorien zu tun haben, beweise nicht, dass Inkommensurabilität ein seltener Ausnahmefall ist. Dworkins Antwort darauf ist ziemlich lapidar ausgefallen. 4 Keinem der beiden Kriterien hege eine Metrik zugrunde. Das heißt, man könne nicht sagen, eine Theorie „passe" besser, wenn sie mehr Entscheidungen erklären kann als eine andere Theorie. Dazu müsste es klare Entspre5 4

Mackie (1983a), 165. Dworkin 1983b, 272.

162

Interpretation und Zielannahmen

chungen geben. Wir müssten die Vergangenheit des Rechtssystems in eindeutig identifizierbare Partikel aufteilen können. Und genau das sei unmöglich. Die einzelnen Entscheidungen und Gesetze seien schließlich unterschiedlich komplex, und so würde sich immer die Frage stellen, ob eine Theorie, die weniger Entscheidungen, dafür aber solche schwierigerer Fälle erklären kann, besser zum System „passt" als eine Theorie, die mehr Entscheidungen, dafür aber solche einfacherer Fälle berücksichtigt. Worauf es ankomme, sei die Charakterisierung der Geschichte. Dabei spielten auch die Entscheidungstrends eine Rolle. Im Übrigen verlange seine Theorie nur, dass Begründungen, was das Kriterium des fit angehe, eine gewisse Schwelle überschreiten muss. Wenn dies mehrere Begründungen tun, entscheide die politische Moral: [T]he conception of justification I described does not provide that any improvement along dimensions of fit is automatically an improvement in overall justification. It provides for a threshold of fit that must be met by any theory that is ultimately to qualify, but argues that if two theories each pass that threshold, the choice between the two will be governed by political morality.5 Gleichzeitig räumt Dworkin ein, dass er dabei eine Moralkonzeption voraussetze, die es ausschließt, dass moralische Begründungen häufig inkommensurabel sind. D o c h damit hat er einige Fragen offen gelassen. Zum einen ist nicht ganz klar, ob er damit Mackies Bedenken wirklich zerstreut hat. War es doch gerade dessen Argument, dass ein „Mehr" an fit mitunter gar nicht den Ausschlag zu geben vermag. Und wie eine Moralkonzeption aussieht, die um das Problem der Inkommensurabilität herumkommt, sagt Dworkin auch nicht. Zum anderen spricht er von einem Schwellenwert im Bereich des fit, ohne anzugeben, wo dieser liegt. Hier scheint Dworkin eine gewisse Unbestimmtheit in Kauf zu nehmen. In Law's

Empire

schließlich kommt die Schwellenwert-These nicht mehr vor. Ich will hier nicht bestreiten, dass Inkommensurabilität ein Problem sein könnte, das erst durch Theorien geschaffen wird. Allerdings denke ich, dass man dieses Problem nur vermeidet, wenn man die Sphäre des Moralischen und die Ethik als deren „Reflexionstheorie" (Niklas Luhmann) nicht als von der Sphäre des Ökonomischen, des Ästhetischen etc. völlig abge-

5

Ebd.

Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit

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schlossen konzipiert. Damit wird Moral natürlich in sich politisch. Doch dazu später. Jedenfalls verwundert es kaum, dass das Inkommensurabilitätsthema im Zusammenhang mit Dworkins These der Rechte noch öfter aufs Tapet gebracht wurde. So befindet John Finnis in einer Rezension von Law's Empire die „right-answer-thesis" für senseless, in much the same way as it is senseless to claim to have identified the English novel which meets the two criteria "shortest and most romantic" (or "funniest and best", o r "most English and most profound"). 6

Zwar könne man noch alle relevanten Umstände in Rechnung ziehen und dann eine Entscheidung treffen, aber es gebe kein Prinzip, auf das man verweisen könne, um andere Abwägungsentscheidungen als unvernünftig oder unmoralisch ablehnen zu können. Aber auch davon lässt sich Dworkin nicht irritieren. Die Beweislast liege bei jenen, die eine Inkommensurabilität annähmen. Schließlich träfen wir ja immer wieder Entscheidungen, deren Begründung auf unterschiedlichen Kriterien beruhe. Was wir dann täten, sei einfach, alle relevanten Umstände in die Kalkulation miteinzubeziehen. Und die Tatsache, dass wir in einzelnen Fällen nicht wissen, was wir tun sollen, indiziere noch keine Inkommensurabilität.7 Doch selbst wenn das Argument richtig ist (und ich denke, dass es richtig ist), befriedigt es nicht vollends. Könnte es doch sein, dass wir mehr unbegründete und unbegründbare Entscheidungen treffen, als Dworkin vermutet.8 Dworkin kann sein Argument aber verstärken, indem er eine Unterscheidung zwischen begrifflicher Inkommensurabilität („conceptual incommensurability") und einer Inkommensurabilität vorschlägt, welche nicht a priori behauptet werden könne.9 So könne man nicht sagen, ein bestimmtes philosophisches Argument sei klarer als der griechische Himmel. Hier seien in Wirklichkeit zwei Begriffe von Klarheit im Spiel, zwei Begriffe, die sich nicht miteinander vergleichen ließen. Andererseits jedoch ergebe die Feststellung, Shakespeare sei ein größerer Schriftsteller gewesen als Molière, durchaus Sinn. Wer bestreitet, dass sich so etwas überhaupt behaupten lässt, müsse eine entsprechende ästhetische Theo» Finnis 1987, 372. 7 Dworkin 1991b, 88 ff. 8 Bix 1993, 98. 9 Dworkin 1991b, 89.

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Interpretation und Zielannahmen

rie vorlegen, die begründet, weshalb die Qualität der Arbeiten Shakespeares nicht mit jener der Arbeiten Molières verglichen werden könne. Und wenn wir im Recht ein Inkommensurabilitätsproblem hätten, dann eines der zweiten Sorte, also eines, fiir dessen Vorliegen Gründe angegeben werden müssten. Unterstützung findet Dworkin bei Susan Hurley. Hurley, die sich mehr mit moralischen als rechtlichen Entscheidungen befasst, sieht die Pointe jeder anspruchsvollen Begründung ebenfalls in der Konstruktion einer Theorie, die mehrere Werte zu einem kohärenten Ensemble zusammenfasst.10 Dies bedeute jedoch nicht, dass die Werte unbedingt kommensurabel sein müssten. Kommensurabiltät sei nur vorausgesetzt, wenn die Theorie eine monistische sein soll, etwa eine utilitaristische. Die Theorie könne aber auch eine pluralistische sein und somit die Existenz mehrerer in einem starken Sinne inkommensurabler Werte unterstellen. In diesem Fall hätten wir es mit schwacher, nämlich bloß formaler Einheit zu tun. Eine Theorie, die eine solche formale Einheit der Entscheidungsgründe herstellt, sei durchaus rational in dem Sinne, dass sie das Postulat der Transitivität nicht verletze. Denn Transitivität sei nicht mit Kommensurabilität gleichzusetzen. Sie sei eine Eigenschaft der Theorie über die Beziehung von Werten und nicht der Werte selbst.11 Nun ist Transitivität nicht das große Problem Dworkins. Schließlich postuliert er ja nur vgvei Kriterien, die es im Einzelfall in ein angemessenes Verhältnis zu bringen gilt. Dabei ist, wie mir scheint, lediglich darauf zu achten, dass sich diese Einzelntscheidungen zu Regeln erweitern lassen, die dann auch tatsächlich angewendet werden, damit die Konsistenz (auf einer höheren Ebene) gewahrt bleibt. Umso mehr scheinen Hurleys Überlegungen Dworkins Kohärenztheorie des Rechts zu bestätigen. Die Frage ist nur: Wie gelangt man zu einer (möglicherweise pluraHurley 1989,193 ff. " Ebd., 259. Das ist allerdings keine allzu spektakuläre Einsicht. Schließlich stand nie außer Zweifel, dass Transitivität eine Begehung zwischen Werten/Präferenzen bezeichnet und nicht eine Eigenschaft der Werte/Präferenzen selbst. Alles, was noch hinzukommt, ist die Feststellung, dass eine solche Beziehung durch eine Person hergestellt wird, die darüber reflektiert. Insofern liegt es natürlich nahe zu sagen, Transitivität sei eine Eigenschaft der „Theorie" - vorausgesetzt, man meint mit „Theorie" nichts anderes als eine von Menschen geschaffene oder „erkannte" Ordnung der Werte und Präferenzen. Siehe in diesem Zusammenhang aber Raz 1986, 325: „The test of incommensurability is failure of transitivity." Nach Hurley dagegen ist Intransitivität (sofern sie nicht bloß ein Ausdruck von Irrationalität ist) zwar ein Zeichen für Inkommensurabilität. Das Umgekehrte gelte jedoch nicht.

Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit

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listischen) Theorie über die Beziehungen von Werten? Und was bedeutet es, dabei „alle relevanten" Umstände (und Werte) zu berücksichtigen? Außerdem bleibt offen, wie sich die Einheit des Ensembles inkommensurabler Werte begründet. Man darf vermuten: letzten Endes ästhetisch.12 Aber sollte man zur Rechtfertigung wirklich nichts weiter anführen können als ästhetische Gründe? Oder vielleicht besser: Was für Gründe sind das genau? Klar ist nur: One should, all things considered, act in accord with the theory rather than in accord with one of the conflicting values the theory is about; but the sense in which you should is just given by the supposition that it is the best account of the relationships among those values.13

Konflikte werden dadurch nicht ausgeschlossen. Die Anwendung einer Theorie über das richtige Verhältnis von Freundlichkeit und Gerechtigkeit etwa müsse kein freundlicher Akt sein. So wie die Anwendung einer Theorie über das richtige Verhältnis von fit und moral value, möchte man hinzufügen, nicht beide Kriterien gleichermaßen erfüllen muss. Soweit, so gut, aber abgesehen von der Frage, was „all things considered" bedeutet, bleibt noch ein Einwand, dem sämtliche Kohärenztheorien immer schon ausgesetzt sind: Kohärenz garantiert nicht Richtigkeit. Es könnte ja sein, dass in der Vergangenheit des Rechtssystems einige falsche Entscheidungen getroffen wurden. Sollen sich diese Fehler fortpflanzen können? Brian Bix bringt das Problem auf den Punkt: The later decision are "right" if they are consistent with the collection of past decisions (and choices one would currently make in hypothetical cases). ... The question then is, what made those initial decisions - which ground all later - right. One might answer, "nothing made the initial decisions 'right'; we just chose (choosing for a reason, but allowing that reason would have allowed other decisions), and now we are acting consistendy with those past choices because there is a value to acting consistendy and a value to acting in accord with who one is ...". Leaving aside evaluating the merits of that

12 Damit ist freilich noch kein Arationalismus beschlossen. Siehe Shusterman 2001, 159: „So wie die Kunst normalerweise in ihrer Ordnung, Einheit und ihrem Zweck Vernunft in sich trägt, so offenbart die Vernunft wiederum ihre eigenen tiefen ästhetischen Dimensionen. Denn viele ihrer zentralen Begriffe (wie etwa Kohärenz, Ausgewogenheit, Proportion, Vollständigkeit, Einfachheit und Gerechtigkeit) weisen nicht nur ästhetische Konnotationen auf, sondern bedürfen, selbst wenn sie mechanisch definiert werden einer Art kultivierter ästhetischer Wahrnehmung oder eines kultivierten Geschmacks für das angemessene Verständnis und ihre Anwendung." " Hurley 1989, 261 (Hervorhebung im Original).

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Interpretation und Zielannahmen

position, I want only to note that this approach does not so much solve as circumvent the core problem of incommensurability.14 In Rechtssystemen, die keine formelle Präjudizienbindung kennen, hat dieses Argument besonderes Gewicht. Hier lässt sich die Frage der Richtigkeit einer Entscheidungspraxis schon gar nicht mit dem Hinweis auf Kohärenz erledigen. Denn ein „overruling" bleibt immer möglich, zumindest wenn nachgewiesen werden kann, dass die Vorentscheidung falsch war.15 Berücksichtigt man Vorentscheidungen aber gar nicht, kann sich die Kohärenztheorie im Wesentlichen nur auf Gesetzesrecht beziehen. Und dann stellt sich die Frage, ob die Prinzipien, auf die man bei der theoretischen Erfassung dieses „Rechtsbestands" stößt (oder: die Regeln, die man aufgrund solcher Zeichen konstruiert), nicht allzu vage bleiben müssen. Will man über ihre Extension etwas erfahren, wird einem also kaum etwas anderes übrig bleiben, als sich mit den Anwendungsfallen zu befassen. Andernfalls wäre die Theorie mit dem belastet, was Somek der philosophischen Reflexion des Gleichbehandlungsprinzips vorwirft: eben einem „Extensionsdefizit".16 Und mit einem solchen Defizit wäre das Recht nicht mehr in der Lage, seine Funktionen auch nur halbwegs effizient zu erfüllen.17 Es wäre zu unberechenbar. Juiistinnen stünden nicht besser da als Philosophen, die losgelöst von den Zwängen außerhalb der Akademie über Begriffe räsonieren, dafür aber keine verbindlichen Entscheidungen zu treffen haben - womit wir wieder ein Po/iry-Argument formuliert hätten. Wieder wurde das Recht als kollektives Gut zu einem Bezugspunkt der Argumentation. 18

Bix 1993,103. Siehe Kriele 1976, 243 ff.; Bydlinski 1985. Im Übrigen hat das durch die modernen Suchprogramme ermöglichte exzessive Zitieren von Vorentscheidungen nicht selten gerade die Funktion, vor Fragen nach der Richtigkeit ab2uschrecken. Siehe dazu die Unterscheidung zwischen „inhaltlichen" und .„String'-Zitaten" bei Holzleithner/Mayer-Schönberger 2000, 338 f. " Somek 2001, 46 ff. 17 Wenn sich Juristinnen nur auf Gesetzesrecht verlassen dürften, hingen ihre Gründe wohl allzu lose in der Luft. Auch wenn jede einzelne Vorentscheidung falsch sein kann — eine generelle Skepsis würde juristische Argumente ihrer „Familienähnlichkeit" berauben. 18 Freilich kann eine solche Argumentation nur denjenigen überzeugen, der grundsätzlich noch bestimmte andere entscheidungsrelevante Funktionen des Rechts anerkennt als die Gewährleistung von Gerechtigkeit. Auf die Funktionen des Rechts komme ich im zweiten Teil noch einmal zu sprechen. 14

15

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Im Übrigen wissen wir bereits: Epistemisierungen des Wahrheitsbegtiffs, auch die Kohärenztheorie der Wahrheit, fuhren uns geradewegs dorthin, wo wir aus verschiedenen Gründen nicht landen möchten: in den Relativismus. Zwar bleibt uns nichts anderes übrig als Kohärenz zu maximieren. Daraus folgt aber noch nicht, dass Kohärenz Wahrheit oder Richtigkeit garantiert. Auch bei Dworkin bleibt die Kluft zwischen Wahrheit/Richtigkeit und Begründbarkeit erhalten. Denn die Qualität von Begründungen und Rechtfertigungen kann ihrerseits bestritten werden. Die Frage lautet immer: Welche Überzeugungen beziehen wir in unsere Systematisierung mit ein? Auch wenn es ausgeschlossen ist, dass die meisten unserer Überzeugungen falsch sind, so kann es doch jede einzelne sein.

1.7.2 Kollektive Ziele als Elemente des Kontexts Ich habe bereits angedeutet, dass ein Konflikt zwischen Werten sich nur auflösen lässt, indem man die Werte rekontextualisiert, d.h. den Kontext in Rechnung stellt, in dem sie zu Werten werden. Eine solche Rekontextualisierung erreicht man auch dadurch, dass man die Werte so präzise analysiert, dass ihre Verschränkung sichtbar wird. Auf diese Weise verblasst der Anschein, dass sie völlig getrennt nebeneinander existieren. Über die Präzisierung der Werte kommt der Kontext unweigerlich ins Spiel, zumal man dabei an das „principle of charity" gebunden ist, die Werte also im bestmöglichen Licht präsentieren muss. Ansonsten wäre nicht klar, ob wir es überhaupt mit Werten zu tun haben. Kurz: Nur der partikulare Kontext weist sie als Werte von Gewicht auf - und zwar von unterschiedlichem Gewicht. Bevor ich mich an einer Rekontextualisierung der beiden Kriterien fit und moral value versuche, möchte ich anhand eines geläufigeren Beispiels für ein „all-things-considered-judgement" verdeutlichen, was ich darunter verstehe. Es geht dabei um eine Kollision zweier abstrakter Rechte und die Konstruktion einer Regel, die eine Vorrangrelation festsetzt. Nicht dass Policy-Argumente, dabei allein maßgeblich wären. Zumindest aber supplementieren sie Argumente, die auf Rechte abstellen. Angenommen, jemand schreibt einen Roman, in dem der Öffentlichkeit bekannte Personen verunglimpft werden. Wie leicht zu sehen ist,

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Interpretation und Zielannahmen

prallen hier zwei Werte/Rechte/Prinzipien aufeinander: die Kunstfreiheit und das Recht auf persönliche Integrität. Und wenn man nicht gerade Utilitarist ist, wird man hinter beiden Rechten auch keine gemeinsame Metrik vermuten, die im Einzelfall eine Skalierung möglich machen könnte. Möglicherweise handelt es sich um inkommensurable Werte. Dennoch muss die „Abwägung" zwischen ihnen nicht ganz und gar willkürlich oder intuitiv bleiben. Alexys „Abwägungsgesetz", wonach die Wichtigkeit der Erfüllung eines Prinzips umso größer sein muss, je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des anderen Prinzips ist,19 muss nicht als letzte Entscheidungsregel akzeptiert werden. Wir können auch versuchen, die Abwägung egalitär zu erhellen. Um die Frage, was gut für die Gemeinschaft ist bzw. was eine gute Gemeinschaft ist, kommen wir daber freilich nicht herum. Will man hier den Gleichheitssatz ins Spiel bringen, muss man ihn allerdings erst einmal etwas präzisieren. Klar ist nur, dass der Begriff der Würde zur Diskussion steht. Und Würde lässt sich nicht als solche, sondern nur als Bezeichnung einer Relation zwischen Menschen bestimmen. Der Gleichheitssatz, das Gebot, Menschen gleich zu behandeln, solange es keine allgemein akzeptablen Gründe für Ungleichbehandlung gibt, mithin die Ungleichheit von Gleichheit und Ungleichheit,2" bringt also den Begriff der Würde in eine soziale Form. Mit Somek gesprochen, verbietet der Gleichheitssatz Demütigung, Stereotypisierung und Überdeterminierung.21 Eine Person wird gedemütigt, wenn bei der moralischen Urteilsbildung so verfahren wird, als existierte sie als gleichwertige Person gar nicht. Stereotypisierung liegt dann vor, wenn der anderen Person bei der moralischen Urteilsbildung eine „unpassende" Perspektive unterstellt wird, wenn also ihre Eigenperspektive einer falschen Generalisierung zum Opfer fällt. Und überdeterminiert ist eine Person, wenn ihr unzumutbare Anpassungen an ein bestimmtes Modell des Soseins abverlangt werden. Dem Recht ist es damit also auferlegt, sowohl dem Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck als auch dem Interesse jeder Person an ihrem guten Ruf Rechnung zu tragen. Im Konflikt-

" Alexy 1996, 146. Koller 1995, 58; Tugendhat 1993, 374; Alexy 1996, 370 ff.; Podlech 1971, 57. Ich komme später (3.5) noch einmal ausfuhrlicher darauf zu sprechen. 21 Somek 2001, 379 ff. 2,1

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fall ist insbesondere die Frage zu stellen, wem welche Beschränkungen zugemutet werden können. Mit dem Kriterium der Zumutbarkeit können aber auch Pe&y-Erwägungen ins Spiel kommen. Je nützlicher etwa künstlerische Äußerungen für eine Gemeinschaft sind, die sich als kunstfreundlich begreift, desto eher wird man dem, dessen Ruf gefährdet erscheint, zumuten können, Toleranz zu üben, mithin sich die Perspektive der Gemeinschaft zueigen zu machen.22 Sie haben sich insofern anzupassen, als sie von ihrem jeweiligen Sosein abstrahieren müssen. Tatsächlich lässt sich die Perspektive der Gemeinschaft nicht klar von der des Gemeinschaftsmitglieds trennen. Wie das Gemeinschaftsmitglied seine Identität (teilweise wenigstens) der Gemeinschaft verdankt, so ist die Gemeinschaft keine von ihren Mitgliedern unabhängige, eigenständige Entität. Nur wenn man die Gemeinschaft und ihr Wohl utilitaristisch konzipiert, kann die Zumutung grenzenlos werden. Man nehme etwa Werner Koflers Buch Üble Nachrede23, welches einige grobe Beschimpfungen allgemein bekannter Personen enthält, diese aber in ein subtiles ästhetisches Konzept einbettet, dessen Witz u.a. darin zu bestehen scheint, sich so nahe wie möglich an die Grenzen der Kunstfreiheit heranzutasten. Kofler formuliert grundsätzlich im Konjunktiv. Hätte er das Robert-Musil-Stipendium erhalten, so sagt der IchErzähler, hätte er geschrieben ... (man denke sich nun einen Rundumschlag hinzu, der sich gewaschen hat). Man könnte natürlich sagen, die Form verdränge oder neutralisiere hier den Inhalt. Dem Autor gehe es gar nicht so sehr um die Ridikülisierung von Personen, sondern um die Form derselben. Tatsächlich aber wäre die Form um einiges weniger reizvoll, wenn sie nicht diesen bestimmten Inhalt transportieren würde, wenn auf fiktive Personen Bezug genommen würde oder wenn man dem Autor ein ironisches Augenzwinkern unterstellen dürfte. Hinzu kommt, dass er sich Opfer aussucht, von denen man annehmen kann, dass sie

— Und man könnte noch weiter gehen und fragen, ob die Wertschätzung an künstlerischer Produktion nicht eine gute Gemeinschaft auszeichnet. Eine Annahme dieser Art wird auch für die Begründung der Kunstfreiheit als etwas von der Meinungsäußerungsfreiheit oder der allgemeinen „freedom of expression" Verschiedenes eine Rolle spielen. Mit rein individualistischen Argumenten, die nur auf das „Expressionsinteresse" abstellen, gelangt man kaum zum Sonderstatus, den künstlerische Äußerungen, die ja nicht einmal etwas „ausdrücken" müssen, genießen. » Kofler 1997.

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Interpretation und Zielannahmen

beim Autor kein besonderes Ansehen genießen. Der Ich-Erzähler attackiert nicht blind. Ich bezweifle daher, dass sich Form und Inhalt strikt trennen lassen und dass das ästhetische Interesse des Künstlers in erster Linie Ersterer gilt. Würde man nun die Verbreitung von Koflers Werk untersagen, ginge die Gemeinschaft einer beeindruckenden künstlerischen Leistung verlustig, werden die Verteidiger dieses Werks sagen. Dagegen könne das an sich berechtigte Interesse der beschimpften und verunglimpften Personen kaum bestehen. Wer anderer Meinung ist, muss die ästhetische Qualität des Werks bestreiten oder den Wert hochkarätiger Kunst für die Gemeinschaft infrage stellen. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist jedenfalls, dass nicht allein das „Ausdrucksinteresse" des Künstlers den Ausschlag gibt und direkt gegen das Interesse an persönlicher Integrität abgewogen wird. Entscheidend ist letztlich vielmehr der ästhetische Wert, der vor der Gesellschaft gerechtfertigt werden muss, und der Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft.24 Wenn Koflers Werk Schule machen würde, ginge dieser ästhetische Wert25 bald verloren und die

24

Andernfalls hätten wir es mit einem reinen Prinzipienargument zu tun. Tatsächlich wird aber - und das ist keine populäre Einsicht — das Recht des Künsders vom ästhetischen Nutzen der Arbeit abhängig gemacht. Ich habe schon oben festgestellt, dass Policy-Erwägungen nicht unbedingt die Form ökonomischer Berechnungen annehmen müssen. I m Übrigen haben das BVerfG im Fall „Mutzenbacher" (BVerfGE 83,130-155) und das O L G Wien im Fall „Holzfällen" (27 Bs 566/84 in MR 1/85, Archiv 9) ähnliche Überlegungen angestellt. Für eine Kritik an letzterer Entscheidung siehe Noll 1999, 112 ff. Nolls Argument gegen die Beschlagnahme von Bernhards Roman „Holzfällen" ist freilich ein ziemlich simples: Der Ich-Erzähler sei nicht mit dem Autor gleichzusetzen. Man dürfe daher nicht alles so „ernst" nehmen. Es handle sich eben um Kunst. Wie auch immer: Man kann sich nicht in jedem Fall ohne weiteres auf Somek (2000, 214 f.) berufen. Somek macht die Antwort auf die Frage, o b es durch das Grundrecht der Kunstfreiheit gedeckt ist, auf einer öffentlichen Straße ein Bild zu malen, davon abhängig, ob dem Künstler noch andere ,„zivilisiertere' Ausdrucksmöglichkeiten" offen stehen. Nur wenn das nicht der Fall wäre, wäre das Malen auf der Straße erlaubt. Erwähnt sei noch, dass diese Art der Argumentation ihre eigenen Probleme in sich birgt. Was ist, wenn das Malen auf der Straße konstitutiver Bestandteil des künstlerischen Programms ist, so dass andere Möglichkeiten der Entfaltung des schöpferischen Drangs von vornherein als minderwertig erfahren werden? Was, wenn gerade der Kontext des öffentlichen Verkehrs dem künstlerischen Akt seine Qualität verleiht? In diesem Fall gäbe es keine gleichwertige Ausdrucksmöglichkeit, und wir stehen wieder vor dem Problem, die Kunstfreiheit mit dem öffentlichen Interesse in Beziehung zu setzen. 25 Vorausgesetzt, man nimmt an, dass er sich vor allem über Innovativität herstellt (siehe dazu Groys 1992).

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dadurch beeinträchtigten Interessen gewännen wieder an Gewicht. Man braucht somit nicht zu befürchten, dass der Ruf von Personen nun gar nichts mehr zählt. Andererseits muss man künstlerischen Äußerungen mehr Freiraum zubilligen als anderen. Sonst wäre die Kunstfreiheit überflüssig. Man braucht aber nicht anzunehmen, dass Tötungen von Menschen, Körperverletzungen und Vermögensschädigungen im Namen der Kunst ebenfalls zulässig sein könnten. Eine solche Kunst wäre unzumutbar, der „schöne Mord" in erster Linie noch immer ein Mord. Und möglicherweise wird so etwas überhaupt nicht als künstlerisch wertvoll gelten können, nämlich insofern es sich dabei um eine plumpe Ausbeutung des Reizes radikaler Unkonventionalität handelt, die das Ästhetische (anders als bei Kofier) zur bloß begleitenden Rhetorik verkommen lässt. Außerdem fließen ins ästhetische Urteil auch moralische Elemente mit ein. Zweifellos kann vordergründige „politische Korrektheit" ein ästhetisches Ärgernis darstellen. Immoralität aber kann der ästhetischen Qualität ebenfalls abträglich sein. Der ästhetische Diskurs genügt sich genauso wenig selbst wie jeder andere.26 Vor allem aber bleibt dem Gericht, das die Grenzen der Kunstfreiheit im Einzelfall bestimmt, nichts anderes übrig, als die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst um eine weitere zu ergänzen, nämlich jene zwischen guter und schlechter Kunst. (Diese Unterscheidungen überschneiden sich zwar, decken sich jedoch nicht.) Insofern die zweite Unterscheidung gesetzlich nicht explizit aufgetragen ist, haben wir es dabei wieder mit einer Rechts fortbildung zu tun. Und ihre Rechtfertigung bezieht diese Innovationsleistung aus der Tatsache, dass die Institutionalisierung der Kunstfreiheit ganz offenbar auch das Gemeinwohl befördern soll. Damit ist keineswegs der intrinsische Wert großer Kunst infrage gestellt. Insbesondere ist damit nicht gesagt, dass die ästhetische Qualität sich an einem gesellschaftlichen Nutzen bemisst. Es verhält sich genau umgekehrt: Die Produktion großer Kunst dient der Gemeinschaft. Dies haben rechtsanwendende Organe ständig zu bedenken, wenn sie „Abwägungen" vornehmen. Warum qualitativ hochwertige Kunstwerke bessere Chancen haben, rechtlich toleriert zu werden, als minderwertige, Rudolf Burger hat demnach nur teilweise Recht, wenn er meint: „Nietzsches Wort ist unhintergehbar: ,An einem Philosophen ... ist es eine Nichtswürdigkeit, zu sagen, das Gute und das Schöne sind Eins. Fügt er gar noch hinzu: und das Wahre!, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich'." (Burger 2001, 30) Die Wahrheit muss keineswegs hässlich sein, sie kann es aber sein. 26

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Interpretation und Zielannahmen

ergibt sich also nicht aus Argumenten, die auf das bloße individuelle Interesse des Künstlers oder der Künsderin verweisen. Das Gewicht der Kunstfreiheit lässt sich nicht abstrakt gegen Persönlichkeitsrechte abwägen. Was die Kunstfreiheit tatsächlich wert ist, hängt nicht zuletzt vom konkreten Kunstwerk im konkreten kunsthistorischen Kontext ab. Unklar wäre auch, weshalb wir Kunstfreiheit überhaupt schützen sollten, wenn wir nicht schon irgendwelche Kunstwerke vor Augen hätten, die wir für wertvoll halten.27 Wenn die Unterscheidung zwischen Prinzipien- und Zielsetzungsargumenten vollständig ist, dann gehören Argumente, soweit sie nur auf die ästhetische Qualität eines Kunstwerks abstellen, in die Klasse der Zielsetzungsargumente. Da aber die ästhetische Qualität nicht allein den Ausschlag gibt, werden wir es bei so genannten Abwägungen immer mit hybriden Argumentationen zu tun haben. Doch sollte hier nicht die Gerechtigkeit allein den Ausschlag geben? Darauf könnte man mit einer altbekannten Gegenfrage antworten: Lässt sich Gerechtigkeit ohne Vorstellung vom Guten bestimmen? Ich denke nicht. Aber es geht auch umgekehrt: Kann das (kollektiv) Gute ungerecht sein? Wenn es nicht mehr als ein Aggregat individueller Nutzen ist, dann gewiss. Notwendig wäre daher der Aufweis eines nicht-aggregativen Gemeinwohlbegriffs bzw. eines Gemeinwohlbegriffs, der sich noch deutlich vom Effizienzbegriff unterscheidet und dafür eine moralische Dimension erhält. Es müsste sich um einen Gemeinwohlbegriff handeln, den zumindest extrem ungerechte Beziehungen zwischen Gemeinschaftsmitgliedern nicht erfüllen können. Eine ungerechte Definition der Freiheitssphären von Gemeinschaftsmitgliedem, so müsste die Maxime lauten, dient allenfalls in gewisser Weise den Interessen einzelner Gemeinschaftsmitglieder, und bilden diese die Mehrheit, das Wohl der Gemeinschaft vermag sie nicht zu befördern. Um diesen Gemeinwohlbegriff zu entwickeln, brauchte

Daher ist es falsch zu anzunehmen, Juristen müssten sich niemals auf einen ästhetischen Diskurs einlassen, sondern nur die Grenzen der Kunstfniheit bestimmen können. Natürlich können sie sich oft damit begnügen, die Rezeption eines Kunstwerks in der „Fachwelt" zu beobachten. Hätten die einschlägigen Medien Jeff Koons' Installation „Made in Heaven" seinerzeit ignoriert, hätte der Künstler wohl Schwierigkeiten mit den Exekutoren diverser Pornographiegesetze bekommen. Ähnliches gilt für den Marquis de Sade, dessen trasgressive Schriften nur schwer überbietbare Gewaltpomographie enthalten, aber dennoch als wichtiger Bestandteil eines schützenswerten „kulturellen Erbes" angesehen werden, nicht zuletzt seit sich Meisterdenker von Adorno bis Lacan mit ihnen befasst haben.

n

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man sich gar nicht weit von Dworkin zu entfernen. Man könnte sich durchaus an seinen Überlegungen über das liberale Gute orientieren. N u r den transzendentalen Status der Ressourcengleichheit hätte man in Zweifel zu ziehen. Ich k o m m e im dritten Teil noch einmal darauf zu sprechen. Wenden wir uns nun dem Verhältnis der beiden Dworkin'schen Entscheidungskriterien zu. Auch fit und moral value lassen sich in einen Zusammenhang bringen, dessen Entfaltung dann je nach Kontext einmal diesen Aspekt der Entscheidung und ein anderes Mal jenen als vorrangig ausweist. D a z u empfiehlt es sich, das Kriterium „fit" als Kriterium der Rechtssicherheit und moral value als Kriterium der Gerechtigkeit zu lesen. In jedem Fall, so könnte man sagen, gehe es darum, eine möglichst angemessene, d.h. gerechte L ö s u n g zu finden. Gerecht kann eine L ö s u n g aber nur sein, wenn sie sich einerseits an Regeln orientiert, die für sich über einen gewissen moralischen Wert verfügen, und andererseits die Umstände des Einzelfalls in Rechnung stellt. 28 Und zu diesen Umständen des Einzelfalls gehören, wie mir scheint, auch die Erwartungen der Beteiligten, wie sie etwa durch eine Entscheidungspraxis erzeugt worden sind. U m nun eine Theorie konstruieren zu können, die beide Kriterien angemessen berücksichtigt, muss man die Einzelfälle aber noch weiter typisieren, als dies der historische Gesetzgeber getan hat. Man muss sich überlegen, welche Rolle durch die Praxis erzeugte Erwartungen und moralische Rechtfertigungen in den einzelnen Rechtsgebieten spielen. (Der Weg zu einer „Wahrheit" des Einzelfalls, die nicht zugleich die Wahrheit eines — wenn auch spezifizierten - Typs ist, bleibt dem Rechtsanwender immer versperrt.) D a s Gewicht der Erwartungen wiederum wird man nur dann richtig einschätzen können, wenn man die Funktionen kennt, die das Recht für die einzelnen Sphären der Gesellschaft erfüllt. In diesem Sinne meint Bix: [Wjhere the law is unsettled or inconsistent, or where the legal question is novel, there will b e alternative theories with adequate " f i t " . A m o n g these, some will d o better on " f i t " , others better on moral value. In making comparisons a m o n g alternative theories, the relative weighting o f " f i t " and moral value will itself be an interpretive question, and will vary from one le-

Vielleicht liegt darin, wie Derrida meint, auch eine Aporie der Gerechtigkeit (siehe Derrida 1991, 46 ff.). Siehe dazu auch Gamm 2000b, 232 ff. a

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Interpretation und Zielannahmen

gal area to another {e.g. protecting expectations may be more important regarding estate or property law, while moral value may be more important for civil liberties questions).29 Es lässt sich somit folgende Faustregel formulieren: Je fundamentaler die Interessen, die auf dem Spiel stehen, desto größeres Gewicht kommt der moralischen Rechtfertigung derjeweiligen Entscheidungsregel Handelt es sich jedoch um nichtfundamentale wirtschaftliche Interessen innerhalb des Zivilrechtsverkehrs, so liegt es (oft) näher, auf eine Weise ψ entscheiden, die den Anforderungen eines funktionstüchtigen Markts Rechnung trägt, mithin der Berechbarkeit den Vorzug sp geben. Wenn man so will, ist dies eine metamoralische Regel, die das Gewicht moralischer Überlegungen (vage) bestimmt. Damit eine besser „passende" Theorie im Wirtschaftsprivatrecht durch eine moralisch ansprechendere ausgestochen werden kann, muss sie schon ganz gravierende Defizite aufweisen. Oft wird jener Effizienz des Wirtschaftens, die ein relativ stabiles Rechtssystem und eine halbwegs berechenbare Entscheidungspraxis erst ermöglichen, größeres Gewicht einzuräumen sein als geringfügigen Zugewinnen an Gerechtigkeit, zu denen schwer vorhersehbare, aber moralisch subtile Entscheidungen beitragen. Umgekehrt muten moralische Regeln ab einem bestimmten Grad an sozialer Ineffizienz auch nicht mehr plausibel an. Und in manchen Bereichen hat die Effizienz eben eine größere Bedeutung als in anderen, beispielsweise dort, wo die Investitionsbereitschaft der Verkehrsteilnehmer auf dem Spiel steht. Letztere speist sich nämlich zu einem guten Teil aus einem Gefühl der Sicherheit und der Vertrautheit mit der Praxis der Gerichte. Man sieht jedenfalls, dass Po/z'çy-Ûberlegungen nicht in einem moralischen Vakuum angestellt werden, sondern mit Gerechtigkeitserwägungen Hand in Hand gehen und diese dabei teilweise auf ein metamoralisches Niveau heben, dorthin, wo die Moral reflexiv wird und ihren eigenen Einsatz hinterfragt. Bisweilen aber verlangt schon die moralische Rechtfertigung eine besondere Berücksichtigung der (begründeten) Erwartungen. Man denke nur an die so genannten Mauerschützenprozesse, deren Ausgang durch das Bundesverfassungsgericht u.a. mit dem Argument bestätigt wurde, dass die Anwendung der „Radbruch'schen Formel" zwar eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots impliziere, dass aber in solchen Fällen

29

Bix 1999, 84 (Hervorhebung im Original).

Zielsetzungen als „Mittel" zur Reduktion von Unbestimmtheit die Rechtssicherheit hinter die Gerechtigkeit zurückzutreten

175 habe. 30

Dagegen wendet Horst Dreier zu Recht ein, dass das Rückwirkungsverbot bereits die Lösung des Konflikts zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit für den Bereich des Strafrechts darstelle und nicht bloßer Ausdruck ersteren Gedankens sei.31 Ich behaupte nicht, dass wir über Poäcy-Erwägungen

ans Licht der

letzten Gewissheit gelangen. Aber wenn wir zwei Werte oder Kriterien gegeneinander abwägen, schieben sie einem allzu vorschnellen Intuitionismus einen Riegel vor. Unbestimmtheiten werden auf diese Weise vielleicht nicht radikal ausgeschlossen, doch zumindest werden sie aufgeschoben und der Diskurs verlängert, Entscheidungen mithin rationaler und Begründungen transparenter. PoZ/gz-Erwägungen in Gestalt metamoralischer Regeln, welche die Relevanz von

Gerechtigkeitsargumenten

bestimmen, können auch dazu beitragen, dass Konsistenz und Richtigkeit noch dort gewahrt bleiben, w o zwischen mehreren Dimensionen der Konsistenz zu entscheiden ist.32 In der Terminologie der Systemtheorie ausgedrückt: Weit davon entfernt, Konsistenz zu untergraben, werden Folgenargumente mitsamt der kollektiven Ziele, die 2ur Bewertung der Folgen notwendig sind, gebraucht, „um das Recht angesichts ... hoher Varietät als konsistente Ordnung von Entscheidungszusammenhängen praktizieren zu können". 3 3 BverfG inJZ 1997, 142. " Dreier 1997, 432. Etwas später (3.3) werde ich noch weiter gehen und der Rechtssicherheit überhaupt ihren Eigenwert absprechen: Rechtssicherheit sei ein Mittel, die Ziele seien Effizienz, Gemeinwohl und Gerechtigkeit. 32 Poäcy-Argumente schieben die Unbestimmtheit auf, indem sie Kontexte unterscheiden, etwa den Kontext des Wirtschaftsprivatrechts, den Kontext der Grundrechte etc. Allerdings können sie die Unbestimmtheit nicht gänzlich auflösen, da Kontexte selbst naturgemäß keiner eindeutigen Bestimmung zugänglich sind. Mit jeder Bestimmung verändert sich der Kontext. Das ist eine der zentralen Thesen von Derrida 1999. Diese Auffassung kann man selbst dann noch teilen, wenn man mit Searle alles andere, was Derrida über Austin schreibt, für falsch hält. Zum Kontext als bestimmtheitsgenerierendem Unbestimmtem siehe auch Gamm 1994, 151 ff. " Luhmann 1995d. Wobei Varietät als Maß für jene Komplexität gilt, der Argumentation entgegenzusteuern habe. Argumentation dient demnach dazu, ausreichend Redundanz herzustellen. Folgenargumente aber würden nicht nur Komplexität reduzieren, sondern auch steigern. Letzteres darf nicht verwundern. Das Recht selbst musste schließlich ausgesprochen komplex werden, um soziale Komplexität effizient reduzieren zu können. Nicht zuletzt musste es sich recht weitgehend von der Moral emanzipieren und „positiv" werden, d.h. die eigenen Geltungsvoraussetzungen festlegen und seine planmäßige Veränderung regulieren. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kohärenz im

M

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Interpretation und Zielannahmen

Ich behaupte auch nicht, dass metamoralische Überlegungen ausschließlich Polides im Dworkin'schen Sinne zum Gegenstand haben, sondern nur, dass hier individualistische und eher kollektivistische Argumente ineinander greifen. Wenn die Bedürfnisse des „Verkehrs" nach Stabilität und Berechenbarkeit wichtig erscheinen, wird man sich zwar noch fragen, ob fundamentale Interessen der Individuen nicht doch dafür sprechen, eine Praxis im Sinne des moral value so zu interpretieren, dass größere Teile von ihr als nicht reproduktionswürdig ausscheiden. Wenn dies aber nicht der Fall ist, dann gewinnt das „Verkehrsinteresse" an Gewicht. Und um das Verkehrsinteresse dann noch resdos auf gemeinsame individuelle Interessen zurückfuhren zu können, bedarf es wohl regelmäßig derart hochgradiger Idealisierungen, dass sich die Verkehrsteilnehmer (oder einige von ihnen) gar nicht mehr wiedererkennen. Da liegt es schon näher, vorher abzubrechen, den Verkehr, d.h. die Gemeinschaft als solche ins Auge zu fassen und den Teilnehmern bzw. Mitgliedern entsprechende Identitäten zu unterstellen. Auf nichts anderes läuft eine nicht mehr rein individualistische Argumentation hinaus: auf eine Identitätsunterstellung bzw. -Zumutung. Und insofern jedes Begründungsprogramm irgendeine Identität unterstellen muss, und sei es ein Selbstverständnis der Individuen als eigeninteressierte Nutzenmaximierer, und insofern ein solches Selbstverständnis eine Funktion der Gemeinschaft ist, in der Individuen leben - insofern weist noch der radikalste Individualismus eine kollektivistische Pointe auf, indem er vorweg eine bestimmte gemeinschaftliche Lebensform dadurch legitimiert, dass er sie voraussetzt, wenn er ein Bild des Individuums und seiner legitimen Interessen zeichnet.34

Recht siehe Bracker 2000. Demnach wird hier wie bei Dworkin „narrative Kohärenz" in den Vordergrund gestellt. Überhaupt haben Kohärenztheorien seit Rawls und Dworkin auch im Rechtsdenken Hochkonjunktur. Siehe nur MacCormick 1978, 152 ff.; 1984; Feinberg 1972; Peczenik 1983,170 ff. Philosophen können natürlich individualistische und kollektivistische Konzepte analysieren. Wenn aber eine Entscheidung ansteht, dann müssen sie auf das zurückgreifen, was ihnen besser erscheint. Was besser erscheint, ist jedoch keine Frage der bewussten Wahl. Und ob sie für diese Wahl, die keine ist, Zustimmung finden, bleibt kontingent. So wurde selbst von Rawls' Sympathisanten eingeräumt oder eingewendet, dass seine Auflistung der Grundgüter nicht neutral sei (siehe etwa Nagel 1994c, 289 f.).

2. Teil Vergangenheit und Zukunft

Im Folgenden möchte ich anhand der Frage, ob Gerichte anationale Normen als Recht anerkennen und anwenden sollen, zeigen, wie vergangenheits- und zukunftsbezogene Erwägungen ineinander greifen können. Meine These lautet, dass Po&y-Gesichtspunkte auch dann eine Rolle spielen, wenn es gilt, die Rechtsqualität von sozialen Praktiken zu beurteilen. In diesem Fall kommt das Gemeinwohl, so meine ich, zumindest als negative Bedingung ins Spiel. Außerhalb demokratischer Verfahren generierte Normen können nur dann Rechtsqualität beanspruchen, wenn es vom Standpunkt des Gesetzgebers neben moralischen auch keine sonstigen politischen Gründe gibt, Letztere in Zweifel zu ziehen. Zuerst werde ich das Problem kurz darstellen und einige Weisen des Umgangs mit ihm etwas näher untersuchen. Insbesondere zwei Bearbeitungsmodi seien dabei hervorgehoben, zumal sie beide die Politizität des Rechts verkennen: ein soziologischer Ansatz, der vorgibt, lediglich detachiert zu beschreiben, wie sich das Rechtssystem selbst reproduziert; und ein strikt dogmatischer, der auf den Versuch hinausläuft, neue Entwicklungen mit der tradierten Begrifflichkeit zu erfassen bzw. danach zu bewerten. Beide Ansätze implizieren m.E. Argumente, die seltsam unangemessen erscheinen, ob nun radikal unkonventionell oder nachgerade übertrieben konventionalistisch (2.1). Im Anschluss daran werde ich skizzieren, wie man an das Problem heranzugehen hat, wenn man ihm als neuem Problem gerecht werden möchte und gleichzeitig an einer noch als konsistent erkennbaren Fortführung der juristischen Praxis interessiert ist. Zu diesem Zweck wird es auch notwendig sein, kurz auf die Funktionen des Rechts zu sprechen zu kommen. Dworkin dagegen steht der Annahme, das Recht habe Funkti-

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Vergangenheit und Zukunft

onen, die sich nicht auf die Gewährleistung von Gerechtigkeit und den Schutz von Rechten reduzieren ließen, ausgesprochen skeptisch gegenüber. Für ihn läuft die Affirmation von solchen Funktionen auf eine utilitaristische Unterminierung individueller Rechte hinaus. Dass dem nicht so ist und dass die Ziele, die Dworkin noch als entscheidungsrelevant (weil eingebettet in eine teleologische Interpretation) anerkennt, nichts weiter sind als Konkretisierungen bzw. (mehr oder weniger gut begründete) Aktualisierungen von Funktionen - das ist das Fazit dieses zweiten Teils (2.2).

2.1 Traditionalismus oder radikale Unkonventionalität? Seit die Globalisierung wichtiget Bereiche der Gesellschaft zu einem zentralen Topos der sozialwissenschaftlichen und politischen Diskussion geworden ist, erfreuen sich die klassischen Fragen der Rechtstheorie einer kaum noch für möglich gehaltenen Aktualität. Was ist Recht? Was hat das Recht mit dem Staat zu tun? Kann Recht auch außerhalb des traditionellen Stufenbaus der Normen und vor allem, ohne sich sogleich in diesen zu integrieren, entstehen? Was ist von Regelsystemen zu halten, die scheinbar ohne Bezug auf nationale oder internationale Regimes auskommen, herkömmlichem Recht aber ansonsten zum Verwechseln ähnlich sehen?1 Man denke dabei nur an die unter dem Titel „lex mercatoria" zusammengefasste, organisatorisch mittlerweile gut abgesicherte transnationale Vertrags- und Konfliktregelungspraxis2, an die internen Ordnungen multinationaler Konzerne3 oder an die Verdrängung klassischen Arbeitsrechts durch Regimes, die von privaten Akteuren (Unternehmen und Gewerkschaften) errichtet werden.4 Der Staat ist an der Reproduktion dieser Systeme vorerst nur als Aufhebungs- und Vollstreckungsinstanz beteiligt. Das mag man mit mehr oder weniger Interesse registrieren. Dem Rechtsanwender drängen sich in dieser Situation aber zahlreiche Fragen auf, die umso unangenehmer sind, als ihre Beantwortung eine Lösung der ohnehin schon als ewig abgestempelten theoretischen Grundprobleme vorauszusetzen scheint: Was ist von Normenmaterial zu halten, dessen Anwendung nicht eindeutig per politischer Dezision eines nationalen oder internationalen Gesetzgebers aufgetragen ist? Handelt es sich etwa bei den aus der Vertrags- und Entscheidungspraxis in der globalen Wirtschaft gewonnenen, von Schiedsgerichten auf immer neue Fälle angewendeten und bisweilen von privaten und internationalen Organisationen kompilierten Regeln und Prinzipien5 um Recht, und ist es so weit systemisiertes Recht, ' Siehe Cutler/Haufler/Porter 1999; Haufler 2001. Weise 1990; Stein 1995; Albert 2002, 235 ff.; Mertens 1992. ' Muchlinski 1996; Robé 1996. 4 Bercusson 1996. Siehe etwa die 1994 vom Römischen Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts (UNIDROIT) herausgegebenen „Principles of International Commercial Contracts"; weiters: Einheitliche Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive (1983), Einheitliche Richtlinien für Inkassi (1978), Einheitliche Richtlinien für ein Dokument des

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Vergangenheit und Zukunft

dass es Vertragsparteien vorab wählen und die entscheidenden Instanzen anwenden können oder gar müssen? Was, wenn die Anwendung dieser Normen nicht von den Parteien (ausdrücklich oder stillschweigend) vereinbart worden ist?6 Und können sich auch staatliche Instanzen darauf berufen oder ist dies Schiedsgerichten (ev. nur im Rahmen einer gesetzlich gedeckten Billigkeitsentscheidung) vorbehalten? Dürfen staatliche Instanzen in grenzüberschreitenden Privatrechtsangelegenheiten nur staatliches Recht nach Maßgabe ebenso staatlichen Kollisionsrechts anwenden? Im österreichischen Gesetz über das internationale Privatrecht (IPRG) beispielsweise ist von „fremdem Recht" (§ 3) oder einer „fremden Rechtsordnung" (§ 5) die Rede. Art. 3 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (EVÜ) wiederum spricht lediglich von dem „von den Parteien gewählten Recht". Dass es sich hierbei immer um staatliches Recht handeln muss, lässt sich aus diesen Bestimmungen nicht ohne weitere interpretative Bemühungen ableiten. Dementsprechend weit gehen die Ansichten über die Behandlung des in der Wirtschaftspraxis entstandenen Normenmaterials auseinander. Während die einen transnationales Handelsrecht oder anationales Welthandelsrecht für ein bloßes Phantasieprodukt halten, das nur im Wege einer Billigkeitsentscheidung von privaten Schiedsgerichten rechtliches Gewicht erhalte,7 ist es für andere schlicht nichtstaatliches Recht, das sogar staatliche Gerichte anzuwenden hätten, wenn die Parteien das so vereinbart haben.8 Einmal angenommen, wir haben es tatsächlich mit Rechtsnormen zu tun: Gibt es dann Recht, das über allem steht und die gleichzeitige Geltung von staatlichem und nichtstaatlichem Recht begründet? Die Normenlogik scheint solches zu gebieten. Wie kann die „Einheit des rechtlichen Sollens" gewahrt werden? Ist die Aufgabe der vertikalen Dimension

kombinierten Transports (1973/1975), Einheitliche Richtlinien für Vertragsgarantien (1978). Zur Entwicklung der lex mercatoria Mayer 1994. 6 Wenn eine Rechtswahl durch die Parteien unterblieben ist, ermitteln nach Art. 13 (3) und (5) ICC Rules of Arbitration von der Cour d'Arbitrage der Internationalen Handelskammer (ICQ eingesetzte Schiedsgerichte das anwendbare Recht nach Maßgabe der als geeignet erscheinenden Kollisionsnormen. Doch können sich die Schiedsgerichte kollisionsrechtliche Überlegungen nicht auch ersparen und gleich auf die lex mercatoria als naturgemäß „sachnächstes" Recht zurückgreifen? 7 von Bar 1987, 81 f. 8 Schwimann 1999, 84.

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des Systems zugunsten der horizontalen, ist also Pluralismus eine Option für Juristen? Respektive: Inwieweit ist er das? Für gewöhnlich brauchen Juristinnen sich nicht um das Ganze zu kümmern. Nur gelegentlich wird ihnen eine Antwort auf die Frage abverlangt, was denn nun die Einheit ihrer Praxis begründe. Doch müssen sie auf diese Frage wirklich eine Antwort geben bzw. welche könnte das sein? Im Folgenden möchte ich zunächst einen besonders elaborierten, mit allen Wassern jüngster Gesellschaftstheorie gewaschenen Ansatz genauer unter die Lupe nehmen: den „Neo-Rechtspluralismus" Gunther Teubners, der dem Recht die Vielfalt seiner Ursprünge und Anbindungen vorhält und daraus die entsprechenden Konsequenzen gezogen wissen will.' Meine These dagegen lautet, dass es zwar mit der apodiktischen Behauptung einer notwendigen Staatsausrichtung der rechtlichen Praxis"1 und einer bloßen Affirmation der Tradition nicht getan ist, dass radikal unkonventionelle Ansätze auf der anderen Seite aber Gefahr laufen, allzu offensichtlich auf rhetorische Überwältigung setzen zu müssen, um innerhalb des Rechtssystems reüssieren zu können/sollen. Aus jedem noch so pluralisierten System11 ragt - zumindest aus der Sicht des Teilnehmers - eines seiner Elemente hervor. Im Fall des Rechts ist es m.E., systemtheoretisch gesprochen, die Koppelung an die Politik, womit aber wieder einmal klargestellt wäre, dass es nichts Bestimmtes gibt, was die Einheit des Systems gewährleistet. Diese Auffassung möchte ich theoretisch begründen.12 ' Zumal es bei Teubner 1996a, 264 heißt: „Die Debatte um die kx amatoria ist... einer der seltenen Fälle, in denen praktische Rechtsentscheidungen unmittelbar von rechtstheoretischen Weichenstellungen abhängen. Umso erstaunlicher ist es, zu beobachten, welch schwächliche Konstitution die hier benutzten Theoriekonstrukte besitzen. ... Wenn wir sie mit Schlüsselbegriffen zeitgenössischer Rechtstheorie konfrontieren - lassen sich hiervon neue Einsichten für die Ux amatoria und andere Formen des Weltrechts jenseits des Staates erwarten?" (Hervorhebungen im Original) Für eine (freilich nur teilweise überzeugende) pluralistische Kritik an Teubners Pluralismus siehe Lurger 1997. Siehe von Bar 1987, 80: „Autonomie kann immer nur vom staatlichen Recht verliehen werden; Privatpersonen überschätzen sich maßlos, wenn sie meinen, über originäre Rechtsetzungsgewalt zu verfugen. Das staatliche Recht hat stets das letzte Wort; was es nicht autorisiert, das hat - gerade auch im demokratischen Staat - keine Geltungschance." 11 „Pluralisiert" heißt in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die Systemtheone: besonders eng an unterschiedlichste Umwelten gekoppelt. 12 Im Ergebnis wie Hans-Joachim Mertens, der allerdings zwischendurch einmal vom rechten Weg abzweigt und das Recht allzu umstandslos, eine populäre Intuition bedienend, zur „Ansichtssache" herunterputzt: „Alles in allem erscheint es ... wenig sinnvoll, einem

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2.1.1 Recht als Pluralità Inwiefern lässt sich Recht als Ensemble von Praktiken begreifen, die nicht alle ihren letzten Bezugspunkt im Staat haben, so dass auch anationale Normen potenziell Recht darstellen? Ob Rechtstheoretiker von Schlage Teubners eine Praxis als eine juristische Praxis ansehen, hängt in erster Linie von ihrer Codierung ab. Teubner hat nämlich immer schon von Normen auf Kommunikationen umgestellt, genauer: auf binär codierte Kommunikationen. Eine rechtliche Kommunikation erkennt man demnach an ihrer Ausrichtung am Code Recht/Unrecht. Damit man aber weiß, was nun rechtens ist und was nicht, bedürfe es noch Programme. 13 Am Ende ist es dieser notwendige Rekurs auf ein die Leitunterscheidung handhabbar machendes Supplement, die eine allzu radikale Verabschiedung herkömmlicher Rechtstheorien unmöglich macht. Doch wie sieht Teubners Begründung für seine Empfehlung, ohne staatliche Mitwirkung entstandene anationale Normengeflechte als autonome Subsysteme des Rechts zu betrachten, im Einzelnen aus? Entscheidend ist dabei die Betonung des Prozesshaften. So meint Teubner: Regeln werden dann zu Rechtsregeln, sobald sie in kommunikativen Akten auf den binären Code Recht/Unrecht bezogen werden und Mikrovariationen der Rechtsstruktur bewirken. ... Nicht die Existenz eines ausgearbeiteten Regelwerks ist entscheidend - vielmehr geht es um die einen selbstorganisierten Prozess wechselseitiger Konstituierung von Rechtsakten und Rechtsstrukturen.14 Dementsprechend spiele der Begriff Rechtspluralismus nicht auf eine Vielfalt von Normen in einem sozialen Feld an, sondern meine ein „Ne-

transnationalen Wirtschaftsrecht den Geltungsanspruch mit dem Argument abschneiden zu wollen, es ermangele ihm die Qualität richtigen Rechts. Die Erkenntnisgrundlage, die es ermöglichen könnte, praktizierte Normen als Recht oder Nichtrecht einzustufen, beruht auf Einbildung und ist brüchig" (Mertens 1992, 238). Ähnlich Mertens 1996, 37. Auch Ursula Stein verlässt sich vorwiegend auf die Rechtspolitik, jedoch mit der etwas saloppen Begründung, dass sich über theoretische Geschmäcker nicht gut streiten lässt (siehe Stein 1995, 239 f.). Hier wird dagegen die Theorie verwendet, um die Unausweichlichkeit rechtspolitischen Räsonnements darzulegen und Zweifel an „theoretisch" anmutenden Lösungen zu formulieren. » Niklas Luhmann 1995c, 93, 190 ff. 14 Teubner 1996a, 271.

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beneinander verschiedener kommunikativer Prozesse, die soziale Handlungen unter dem binären Code Recht/Unrecht beobachten". 15 Daraus folge, dass es nicht Hierarchie, sondern lediglich eine „Heterarchie verschiedener Rechtsdiskurse (gibt), deren genuin rechtlicher Charakter nicht nur von der Soziologie oder der Rechtstheorie, sondern auch von der Rechtsdogmatik anzuerkennen ist".16 Und da es keine vorgängige Rechtsordnung gebe, die als Geltungsgrundlage fungieren könnte, müssten transnationale Verträge sich eben selbst validieren. Dieses Paradox der vertraglichen Begründung der nicht-vertraglichen Grundlagen der Verträge werde auf dreierlei Weise entfaltet: erstens durch Einführung interner Hierarchien zwischen vertraglichen Normen und Bildung einer aus den Vertragsparteien bestehenden Schiedsinstanz, zweitens durch Verweis auf etablierte Standards und zukünftige Konflikdösungen und schließlich drittens durch Unterstellung des Vertrags unter externe Schiedsgerichte.17 Vor allem Letzteres verschaffe dem neuen Recht eine interne Differenzierung zwischen vertraglichen Rechten und Pflichten einerseits und jenem Recht, in dessen Licht sie ermittelt werden, andererseits. Mit anderen Worten: Das System wird „gesetzt", indem es von Schiedsgerichten und den sie einsetzenden Parteien vorausgesetzt wird. Wenn diese Paradoxieentfaltung gelinge, bedürfe es auch keiner Anerkennung mehr durch andere Rechtsordnungen, um Geltung zu erlangen. So heißt es mit Bezug auf die Regeln des transnationalen Handels: „Selbstverständlich ist diese stille Revolution der lex mercatoria - wie jedes auf einem revolutionären Akt basierende Recht - auf die Anerkennung durch andere Rechtsordnungen angewiesen. Doch für die Geltungsfrage ist dies lediglich eine sekundäre Frage. Anerkennung ist nicht konstitutiv für die Existenz einer Rechtsordnung". 18 Teubner plädiert damit für eine Rekonstruktion der gesellschaftlichen Pluralität im Recht bzw. in der Rechtstheorie, aber nicht einer Pluralität von Personengruppen, wie sie von herkömmlichen Pluralismen propagiert werde, sondern einer Pluralität von Diskursen. Diese mache sich im Recht auf dreierlei Weise bemerkbar: erstens als Normproduk-

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Ebd., " Ebd., 17 Ebd., '» Ebd.,

272. 273. 275 ff. 278 f.

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tion jenseits der Gerichte (legislative Maschinerie, Vertragsmechanismus, Standardisierungen durch nicht-staatliche Organisationen); zweitens in Form rechtsfremder, formales Recht materialisierender Elemente in Rechtsdogmatik und -methodik (Zweckdenken, Interessenabwägung, Rekurs auf die „billig und gerecht Denkenden" etc.); drittens in Form „nicht-rechtlicher Rechtstheorien, die die Einheit der Reflexion des Rechts sprengen". 19 Gegenwärtig würden moralische, ökonomische und politische Theorien um die Vorherrschaft ringen. Teubner hingegen möchte den Polytheismus, wie er die moderne Gesellschaft kennzeichne, im Recht institutionalisiert wissen. Die Devise lautet: Der Vielfalt von Logiken/Sprachspielen/Diskursen/Systemen in der Gesellschaft gerecht werden! Der Staat bzw. das politische System wäre damit im Rechtssystem enttrohnt und der Weg frei, anationales Recht als das anzuerkennen, was es sei, nämlich autonomes/vollwertiges Recht. Bevor ich auf die Frage der Notwendigkeit einer Anerkennung anationaler Normen durch nationales Recht zu sprechen komme, möchte ich noch kurz auf eine Wiederkehr des Verdrängten eingehen. Diese verdankt sich einer „Selbstdekonstruktion" der hierarchischen Opposition zwischen Code und Programmen. Teubner unterschätzt die konstitutive Funktion Letzterer, wenn er meint, dass es weder Struktur noch Funktion der Erwartungen, sondern die Sekundärbeobachtung über den binären Code ist, die das „spezifisch Rechtliche" im lokalen oder globalen Rechtspluralismus ausmacht.20 Denn dass mit der Beobachtung eines Codes das Spezifische eines Systems beobachtet wird, steht keineswegs fest. Nicht jede am Code Recht/Unrecht ausgerichtete Kommunikation ist eine rechtliche, genauso wenig wie jede Zuteilung der Codewerte wahr und unwahr schon eine wissenschaftliche Operation darstellt. Worauf es ankommt, sind die Programme (Normenmaterial und Rechtstheorien, ob nun vornehmlich an den Akademien gelehrt oder von den entscheidenden Instanzen „umgesetzt").21 Das heißt, man kann sich der Frage, welche Norm eine (gül" Teubner 1996b, 204. Teubner 1996a, 273. 21 Urs Stäheli (1996) verweist im Zusammenhang mit der Unterscheidung Code/Programm in dekonstruktiver Manier auf die Gefährlichkeit des Supplements Programm. Demnach könnten Veränderungen auf Programmebene sogar Veränderungen des Codes nach sich ziehen. Man denke an die Kunst, wo es kaum noch um „schön" und „hässlich" geht, oder an die Politik, die im Zuge der Demokratisierung nach systemtheoretischer Auffassung ihre w

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tige) Rechtsnorm, oder besser: ein relevantes Normzeichen ist und welche nicht, nicht gänzlich entziehen - weder als Rechtsanwender noch als Rechtstheoretiker, der nur Rechtsanwender beobachten und Selbstbeschreibungen des Rechtssystems beschreiben will. Schließlich muss klar sein, welche Beschreibungen als Selbstbeschreibungen des Rechts gelten dürfen. Nicht nur transnationale Verträge, sondern auch Teubners Theorie leistet so etwas wie eine Paradoxieentfaltung, ohne freilich das Problem aus der Welt schaffen zu können. Sie zerbröselt die Geltungsfrage, indem sie spezifische Modalitäten, diese Frage zu behandeln, beobachtet. So endedigt man sich eines leidigen Problems nur vorübergehend. Dass Regeln bestimmte Entitäten sind, an deren Konstituierung man als Interpret keinen Anteil hat, braucht man deshalb noch nicht anzunehmen. 22 Wer aber weder zu erkennen gibt, dass er sich weder auf etablierte Programme unterschiedlicher Stufe (von gesetzlichen Anordnungen über Methodenregeln bis hin zu Festlegungen des Rechtsbegriffs) bezieht noch ausgewählte, ebenfalls durch Programme eingesetzte Instanzen (Behörden, Rechtsparteien etc.) adressiert, dessen Diskurs wird kaum dem Rechtssystem zugerechnet werden. Wo vom Unrecht in der aktuellen Migrationspolitik die Rede ist, findet noch nicht unbedingt ein rechtlicher Diskurs statt. Erst wenn dabei auf Verfassungsbestimmungen oder Menschenrechtkonventionen verwiesen oder bestimmte Entscheidungserwartungen formuliert werden, ist klar, dass die Kommunikation die Grenzen des Rechtssystems passiert hat.23 Die Etablierung eines neuen Programms mag bereits im System vorgesehen sein (etwa durch Regelungen bezüglich Gesetzgebung), das jeweils etablierte Arrangement erhebt sich als Ganzes aber immer über einem Abgrund und stabilisiert sich über einen - von außen betrachtet gewaltsamen, d.h. rechtlich nicht einwandfreien Ausschluß. Schließlich

Codierung von progressiv/konservativ auf Regierung/Opposition umgestellt hat. Demgegenüber erscheint ein Austausch des Rechtscodes Recht/Unrecht freilich nur schwer vorstellbar. ~ Siehe dazu auch Somek 1992, wo wie hier davon ausgegangen wird, dass die Begründung von Rechtsregeln die distinkte Einheit des Rechts ständig in Richtung Politik unterwandert. Ich komme noch darauf zurück. 25 Freilich: Wie wir noch sehen werden, büßt das Recht umso mehr von seiner Besonderheit ein, je weiter es zu einer Grundnorm, einem Programm, das die Qualifikation von Programmen ermöglichen soll, vorstößt.

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wollen auch Gesetzgebungsregeln erst einmal als Rechtsregeln identifiziert/ rekonstruiert werden. Im Inneren sieht man jedenfalls nur mehr oder weniger gut begründete Programme, deren Nichtanwendung einen als Systemteilnehmer disqualifiziert. Wo man kein Programm, keine Norm zu erkennen vermeint, dort verschwimmen die Konturen der juristischen Interpretationspraxis. Kein Code vermag dann noch die Einheit des Unternehmens zu garantieren. Es findet, wie etwas später gezeigt werden soll, eine Assimilation an andere normative Diskurse statt. Die Gewalt des Ausschlusses von bestimmten Normen zu vermindern, das scheint ein zentrales Anliegen Teubners zu sein. So plädiert er für eine besondere Reflexion der vielfaltigen Koppelungen des Rechtssystems im Rechtssystem, ohne dabei einer bestimmten Koppelung, nämlich jener an die staatlich verfasste Politik, ein Übergewicht einzuräumen. Freilich: Um das zu erreichen, müsste der Rechtspluralismus selbst hegemonial werden. Das kann aber nur gelingen, wenn er sich der Frage nach der Funktion und der Abgrenzung des Rechts stellt und dabei die Probleme löst (oder unproblematisch/uninteressant erscheinen lässt), welche eine Staatsausrichtung des Rechts mit sich bringt. Die Behauptung, einfach nur zu beschreiben, was ist, kann dabei allenfalls eine geschickte diskursive Strategie sein, eine mehr oder weniger gelingende performative Äußerung. Kaum gelingen wird sie, wenn sie überhaupt keine für das System redundante Vokabel enthält, die von Juristen verstanden werden kann. Teubner, so bin ich geneigt, ihn zu interpretieren, möchte sein Reflexionsvermögen dem Rechtssystem zur Verfügung stellen, indem er ein Programm (eine Theorie) vorschlägt, das die Bedeutung des Codes auf Kosten jener der Programme betont. Dass er selbst nur ein anderes Programm präsentiert, um Recht identifizieren zu können, verschweigt er natürlich, indem er lediglich Selbstbeschreibungen zu beobachten vorgibt. Ob ein Rechtssystem, das sich von innen her als Ensemble binär codierter Kommunikationen sieht, noch zu Entscheidungen gelangt, ist allerdings höchst fraglich. Deshalb liefert Teubner auch gleich einen Entscheidungsvorschlag mit: nämlich den Rechtscharakter bestimmter transnationaler Normensysteme anzuerkennen. Würde dieser Vorschlag abgelehnt, so würde das aber nichts am Rechtscharakter ändern, man befände sich als Jurist nur im Irrtum, meint er. Was aber, wenn nicht nur nicht anerkannt, sondern auftragsgemäß nicht anerkannt wird, d.h. wenn

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Gesetze über das internationale Privatrecht festlegen, dass „fremdes Recht" immer nur nationales Recht sein kann? Verletzt ein staatlicher Gesetzgeber damit irgendeine Rechtsnorm, unterliegt auch er einem juristischen Irrtum? Wohl kaum. Mit anderen Worten: Programme entscheiden, soweit sie sich bestimmen lassen, nicht nur über die Zuordnung von Codewerten, sondern auch über die konkreten Grenzen des Systems, in dem solche Zuordnungen überhaupt als rechtliche Operationen gelten.24 Wenn Teubner darauf erwidern würde, dass eben Recht und Unrecht im rechtlichen Sinne gemeint seien, der Code also in Wirklichkeit legal/illegal sei, dann müsste er wahrscheinlich schon mit empirischen Einwänden rechnen. Davon, dass in der transnationalen Wirtschaft tatsächlich Rechtsiibençeugungen (opiniones iuris) artikuliert werden, wenn auf irgendwelche Normen verwiesen wird, steht nämlich keineswegs fest.25 Einwenden ließe sich aber auch, dass mit der Wendung „Recht und Unrecht im rechtlichen Sinne" als unproblematisch vorausgestezt wird, was gerade zur Debatte steht. Was heißt denn „im rechtlichen Sinne" überhaupt? Dass man es bei anationalen Regelzusammenhängen mit durchaus eigendynamischen Kommunikations- und Normensystemen zu tun hat, braucht keineswegs bestritten zu werden. Nur: Wenn die von Systemtheoretikern beobachteten Verfasser systemischer Selbstbeschreibungen, Juristen, schon nicht wissen, ob sie das, für dessen Klassifikation sie ausgebildet wurden, als Recht beschreiben sollen (was immer davon abhängt), wie kann der sensible Gesellschaftstheoretiker dann vorgeben, eindeutig Recht zu thematisieren? Der durchaus eindrucksvolle Hinweis auf die sozialen/kommunikativen Realitäten allein genügt nicht. Andernfalls würde eintreten, was gerade Systemtheoretiker und postmoderne Pluralisten am meisten fürchten: die Überwältigung eines Diskurses durch einen anderen. Es sei denn, man wende sich gar nicht weniger an den juristischen als an den politischen Diskurs. In diesem Fall aber müssten politische, mithin pragmatische und moralische Gründe geltend gemacht werden. Dass eine subtile empirisch-theoretische Analyse solche

Teubner beruft sich übrigens auch auf den Anti-Etatisten Ehrlich, dessen Abgrenzungsvorschlag (siehe Ehrlich 1989, 131 ff.) in der Rechtspraxis letztlich keinen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen vermochte. 25 Muchlinski 1997,80 ff. 2,1

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Gründe ersetzen kann, darf bezweifelt werden. Dass sie deshalb nutzlos sein wird, kann jedoch mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Sie könnte vor allem als Motivation wirken, rechtspolitische Argumente zu formulieren. So könnte man, soziologisch aufgeklärt, auch das traditionelle Recht auf Paradoxien absuchen und würde bald auf die notorische Gründungsparadoxie stoßen, die den Selbstbegründungsproblemen anationalen Rechts in nichts nachsteht. Wenigstens könnte man auf diese Weise zeigen, dass eine Paradoxie als Grund noch nicht den Rechtscharakter ausschließt und, positiv, dass es sich bei der lex mercatoria und vergleichbaren Systemen um Regelungssysteme handelt, die ihre Existenz als Rechtssysteme, soweit sie Rechtssysteme sind, nicht irgendeinem inneren Wesen, sondern einzig und allein „kommunikativen" Anschlüssen, nämlich der Anerkennung durch herkömmliches Recht verdanken. Letzteres möchte Teubner aber gerade nicht. Nicht die Anerkennving durch nationales oder internationales Recht soll den Ausschlag geben, sondern objektive Merkmale. Diese objektiven Merkmale eines Kommunikationszusammenhangs, wie sie von Teubner beschrieben werden, sollen dessen Rechtsqualität begründen. Somit könnte neben dem bisherigen Recht eine neue Rechtsordnung eine nicht von dieser abgeleitete Geltung2' erlangen. Nur, wie soll das möglich sein?

2,1.2 Oer Versuch mit der Tradition Dass das Recht des transnationalen Handels durch die Verträge und die Entscheidungen, denen es zugrundeliegen soll, selbst hervorgebracht worden sein müsste, mag seltsam erscheinen, vom übrigen Recht würde es sich in dieser Hinsicht nicht unterscheiden. Man frage sich nur, woher eine Verfassung ihre rechtliche Geltung bezieht. Zwar könnte man, wenn man eine entsprechende monistische Theorie verträte, zunächst noch auf das Völkerrecht ausweichen;27 aber das wäre nur ein Aufschub des Problems. Denn wie begründet sich die Geltung des Völkerrechts?

Wenn hier von „Geltung" die Rede ist, dann natürlich von juristischer und nicht sozialer oder moralischer Geltung, wie immer diese Geltungsdimensionen mit der juristischen zusammenhängen mögen. Zu dieser Unterscheidung Alexy 1992, 139 ff. 27 Wofür einiges spricht (siehe nur Weinberger 1988,143 ff ). 26

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Über die Praxis von Staaten? Wo diese sich doch wieder völkerrechtlich konstituieren! Wie auch immer, die Frage lautet nun: Kann, nachdem sich ein wie immer komplexes globales Rechtssystem konstituiert hat, noch ein weiteres entstanden sein, das die Geltung seiner Normen nicht vom Ersten ableitet? Die spontane juristische Antwort darauf lautet natürlich: Nein. Wenn ersteres System tatsächlich irgendwie zu einer Einheit gelangt ist und einen universellen Diskurs darstellt, dann muss das nachfolgende Subsystem im Zuge der Reproduktion dieses ersten Systems entstanden sein. Das wiederum bedeutet, dass es Akte der Anerkennung sind, die etwas Neues dem System zuschlagen. Dabei handelt es sich typischerweise um Sequenzen kleiner Anerkennungen bis ins Zentrum des Systems, wo Gerichte entscheiden.28 Solange das System in seinem prämodifizierten Zustand Normen nicht als Rechtsnormen betrachtet, sind sie es auch nicht. Im System allerdings wird der notwendige Anerkennungsakt als Akt verschleiert. Juristinnen sehen nur bestimmte Qualitäten eines Normenmaterials, einer Argumentation, die die Anerkennung rechtfertigen könnte. Was sie nicht sehen, jedenfalls nicht auf der operativen Ebene des Systems, um im systemtheoretischen Jargon zu bleiben, ist die Konstitutivität der Anerkennung selbst. Wenn sie etwas als Recht anerkennen, dann weil sie es bereits für Recht halten. Die Anerkennung erfolgt über den scheinbar einfachen Nachvollzug.29 Im Zentrum des Systems ist der Blick nicht auf die Ereignishaftigkeit von Rechtsoperationen gerichtet, sondern einmal auf das, was zu beurteilen ist, und das andere Mal auf die „Bestände", mit denen man arbeiten kann. Klar ist, dass es sich bei den Beständen um bereits anerkannte

Zur systeminternen Differenzierung Zentrum/Peripherie Luhmann 1995c, 320 ff. Siehe auch Habermas 1993, 241: „Weil alle Rechtskommunikationen auf einklagbare Ansprüche verweisen, bildet das Gerichtsverfahren den Fluchtpunkt für die Analyse des Rechtssystems." 29 Man denke in diesem Zusammenhang an die rechtliche Geburt souveräner Staaten. Dazu bedarf es, juristisch gesehen, keiner Anerkennung durch andere Staaten. Eine solche Anerkennung hat lediglich deklarativen Charakter. Konstitutiv ist die Tatsache, dass ein Staat die völkerrechtlichen Kriterien erfüllt (differenziert Seidl-Hohenveldem 1997, 138 ff). Schon hier könnte man sagen, der neue Staat bzw. eine neue staatliche Rechtsordnung bedarf vielleicht nicht der Anerkennung anderer Staaten, sehr wohl aber der Anerkennung durch internationales Recht. Und wenn man noch berücksichtigt, dass sich das Völkerrecht selbst nicht zuletzt über die Praxis von Staaten reproduziert, dann wird die Auffassung, dass etwas ohne entsprechende Anerkennung als Recht gelten kann, vollends unverständlich. 28

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Rechtsquellen handelt, wobei mit dem Begriff der „Rechtsquelle" eine spezielle Begründungsfigur gemeint ist. Mit Luhmann gesprochen: „Er wird als Kriterium benutzt in Rechtsanwendungssituationen, in denen bezweifelt wird, ob Recht, auf das sich jemand beruft, auch wirklich als Recht gilt",» Klar ist ebenfalls, dass sich mit der Subsumtion weiterer Nonntypen unter die etablierten Rechtsquellen die Qualität Letzterer auch - wie geringfügig immer - verändert. Wer hingegen eine radikale Erweiterung der Rechtsquellenbestände vorschlägt, dem empfiehlt sich ein zum Rechtsanalogieschluss analoges Vorgehen: Man versucht, jene Wertungen „ausfindig zu machen", die der Anerkennung der aktuellen Rechtsquellenkataloge zugrunde liegen könnten. Auf diese Weise schlittert man unversehens in die rechtspolitische Diskussion. Aber nur so könnte man zu einer Entstaatlichung des Rechtsbegriffs und letztlich des Rechts selbst gelangen. Doch bleiben wir einmal beim Versuch, anationale Normen traditionellen Rechtsquellen zuzuordnen. Welche Rechtsquellen bzw. Quellen, aus denen Rechtsquellen entspringen, kommen auf den ersten Blick infrage?31 Entscheidend ist, dass das nichtstaatliche Recht als autonomes Recht auch zwingendes staatliches Recht übertrumpfen muss.32 Es kann sich deshalb nicht bloß aus der gewöhnlichen, staatlich (d.h. nationalrechtlich) gewährten Privatautonomie herleiten. In diesem Fall hätten wir nur den Vertrag selbst, der über einen entsprechenden Verweis nichtstaatliche Normen inkorporiert und so mit Rechtsqualität ausstattet. Nichtstaatliches Recht wäre demnach so etwas wie eine Sammlung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, und das wäre wohl zu wenig. Denn ob und inwieweit ein Vertrag überhaupt gültig ist, hängt von einer dem Vertrag äußerlichen Rechtsordnung ab. Jene Rechtsordnungen, von denen einwandfrei feststeht, dass sie solche vertragsbegründenden Rechtsordnungen sein können, sind derzeit jedoch staatliche Rechtsordnungen. Nach staatlichem Recht entscheidet sich, ob die Privatautonomie auch kollisiLuhmann 1995c, 101. Dass das nichtstaatliche Recht seinerseits eine Fülle von Rechtsquellen aufweisen könnte (Schiedsspruchpraxis, Klauselkataloge, wie immer gewonnene allgemeine Rechtsgrundsätze etc.), interessiert hier weniger. Die Frage lautet vielmehr, wie die Einheit dieser Rechtsquellen begründet sein könnte. , 2 Außerdem hätte es nur Sinn, soweit es Regelungen enthält, hinsichtlich derer die nationalen Rechtsordnungen nicht weitgehend übereinstimmen (siehe Spickhoff 1992,123). w

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onsrechtliche Parteiautonomie einschließt, also die Möglichkeit der Wahl eines nichtstaatlichen Normenensembles als dasjenige Recht, dem der Vertrag unterworfen sein soll. Die Parteiautonomie leitet sich nicht aus einer quasi naturgegebenen Privatautonomie ab, sondern wird neben dieser von staatlichen Rechtsordnungen eingeräumt, typischerweise indem sie zugleich auf bestimmte Bereiche beschränkt wird. Damit ist erst recht der Versuch verworfen, den Rechtscharakter anationaler Normen über einen Vertrag plausibel zu machen, der in gar keiner Rechtsordnung Rückhalt sucht, sondern sich selbst genügen will. Es kann keine selbstregulierenden, rechtsordnungslosen Verträge geben.33 Die Frage ist nicht, ob der Vertrag eine „vollständige Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien enthält"34, sondern ob das (internationale oder nationale und möglicherweise anationale) Recht, welches die Vertragsparteien als geschäftsfähige Rechtssubjekte konstituiert, eine solche vollständige Regelung überhaupt zulässt.35 Die Lückenlosigkeit des Vertrags erhebt ihn noch nicht über sämtliche Rechtsordnungen. Diese Auffassung wiederum wird von Alfred Verdross zurückgewiesen. Verträge brauchten als Grundlage keine komplette Rechtsordnung; es genügten Rechtsprinzipien. Demnach kann es rechtsordnungslose, aber keine rechtsgrundsatzlosen Verträge geben. Parteien könnten ihre Verträge durchaus allgemeinen Rechtsgrundsätzen unterstellen. Doch woher sollen diese kommen? Verdross' Antwort darauf lautet: „aus der Vernunft, aus der Praxis der zivilisierten Völker und aus den Vorentscheidungen".56 Dies freilich bedeutet, dass als Geltungsgrundlage wenig Mit dem Begriff eines solchen „contrat sans loi" arbeitet etwa Schmitthoff 1964, 68 ff. Siehe auch Reimann 1970; für eine Kritik an diesem Konzept siehe Boneil 1978, 492 ff. « Schmitthoff 1964, 69. " Was mit der Annahme einer präpositiven Vertragsfreiheit übersehen wird, ist die Tatsache, das die Vertragsparteien bereits geschäftsfähige Rechtssubjekte sein müssen. Dieses Problem lässt sich nicht einfach mit möglichst lückenloser Vertragsausgestaltung kaschieren, sondern allenfalls über jene aufwendigen Entparadoxierungsstrategien, auf die Teubner verweist. Und ob sich Gerichte damit zufrieden geben können, ist ohnehin eine andere Frage. Schmitthoff ist aber nicht wirklich so radikal, wie es zunächst den Anschein hat, sondern leitet die Befugnis, den Vertrag über eine lückenlose Regeln nationalem Recht zu entziehen, aus dem nationalrechtlich gewährten Recht zur Rechtswahl ab. Gleichwohl ist für ihn dieser Schluss von der Parteiautonomie zu grenzenloser Vertragsfreiheit logisch zwingend (Schmitthoff 1964, 69). Aber natürlich ist er das nicht. Mit der Einräumung von Rechtswahlmöglichkeiten ist noch keineswegs entschieden, dass man sich über jegliches nationales Recht hinwegsetzen darf (Teubner 1996a, 278). * Verdross 1965,133. 53

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mehr als der Grundsatz „pacta sunt servanda" infrage kommt.37 Doch dieser Grundsatz reicht als Argument spätestens dann nicht mehr aus, wenn es bereits elaboriertes Vertragsrecht gibt. Denn dieses konkretisiert das Gebot, Verträge einzuhalten, gerade dadurch, dass es seine Geltung begrenzt. Nicht zuletzt scheint es die Funktion modernen Vertragsrechts zu sein, davon abzuhalten, sein normatives Zentrum, eben den Grundsatz „pacta sunt servanda", als solches zu thematisieren. Nun könnte jemand einwenden, anationales Recht werde eben dadurch ins Leben gerufen, dass staatliche Gerichte Schiedssprüche, deren Grundlage ein Vertrag ist, weitgehend anerkennen. Dem Staat entgleite auf diese Weise seine Definitionsmacht in Bezug auf Recht. Doch wie Ralf Michaels zutreffend bemerkt, handelt es sich hierbei um einen Fehlschluss: Der Staat nimmt bei der Anerkennung von Schiedssprüchen gerade keine (oder nur eine sehr eingeschränkte) inhaltliche Überprüfung vor, weil er den Schiedsspruch als Konsequenz der Vertragsfreiheit anerkennt.38

Die Vertragsfreiheit wiederum gewährt er (genauer: das nationale Recht) selbst. Allerdings könnte man eventuell das Kalkül hinter der rechtlichen Anordnung, wonach Schiedssprüchen als durch Vertragsfreiheit gedeckt anzuerkennen sind, als Argument für die Rechtsqualität schiedsgerichtlicher Entscheidungsgrundlagen ins Treffen fuhren. Denkbar wäre aber auch, dass eine längere Praxis „selbstregulierender Verträge" sich eine gewohnheitsrechtliche Grundlage verschafft hat. Eine Qualifikation nichtstaatlichen Rechts als schlichtes Gewohnheitsrecht wäre freilich aus ähnlichen Gründen problematisch wie seine Herleitung aus einer präpositiven Privatautonomie. Doch zunächst wäre einmal zu klären, inwieweit man überhaupt von einer lang andauernden gleichförmigen Übung sprechen kann. Auch die Klauselkataloge und Richtlinien der lex mercatoria werden regelmäßig an neue Gegebenheiten angepasst.39 Zudem handelt es sich bei Regelsammlungen oft gar nicht um Aufzeichnungen einer tatsächlichen Praxis, sondern um Richtlinien, die die Praxis erst anleiten sollen. Diese Mängel scheinen mir aber, genauso wie das Problem der Rechtsüberzeugimg, behebbar zu sein. Gerade dort, wo auf die spezifischen Problemlagen transnationaler Interaktionen Siehe auch Goldstajn 1973, der auf das Prinzip der Privatautonomie, den Grundsatz „pacta sunt servanda" und die Schiedsgerichtsbarkeit verweist. » Michaels 1998, 620. " Eberth 1985, 203. 37

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zugeschnittene Regelsammlungen, Standardverträge u.ä. existieren, wo sich eine Schiedspraxis eingespielt hat, die zunehmend auf sich selbst rekurriert, und wo Entscheidungen veröffentlicht und wissenschaftlich kommentiert werden40, könnte man das Fehlen langer Übung und Zweifel an der Rechtsqualität von Normen vielleicht als kompensiert ansehen. Insofern hätten wir es mit einer Weiterentwicklung der Kategorie „Gewohnheitsrecht" zu tun, die dem Zweck der Anerkennung einer solchen Rechtsschicht nicht unbedingt zuwider läuft. Möglicherweise wird man eine direkte Subsumtion unter „Gewohnheitsrecht" für ausgeschlossen halten, aber dann könnte man immer noch an eine analoge Anwendung dieser Kategorie denken. Oder müssen die juristischen Methoden und Argumentationsformen vor dem Rechtsquellenkatalog haltmachen? In diesem Fall würde sich allerdings die Frage stellen, wie die Zuordnung von Normenmaterial zu Rechtsquellen vonstatten gehen könnte, wenn nicht interpretativ mittels der eingeübten Methoden. Sind Rechtsquellen etwa vorgegebene Positivitäten? Aber selbst wenn die These, bestimmte Praktiken als (so etwas wie) Gewohnheitsrecht verbuchen zu können, einer näheren Überprüfung standhalten sollte, würde sie unser Problem nicht lösen. Das Gewohnheitsrecht erweist sich nämlich immer schon als unzureichender Grund für die Geltung einer autonomen Rechtsordnung jenseits des Staates. Gewohnheitsrecht ist nicht Naturrecht; man überwindet mit ihm genauso wenig nationale Grenzen wie mit dem Rückgriff auf die Privatautonomie. Alles hängt davon ab, ob und inwieweit Recht, das nicht in der Auseinandersetzung mit staatlichen Anordnungen entstanden ist, nationalrechtlich anerkannt wird. Das wiederum wird auch vom Rechtsgebiet abhängen. Im Einzelfall mag es genügen, dass ein Gericht anationale Normen als Gewohnheitsrecht und in der Folge als Vertragsstatut betrachtet. Ein Argument, das jedes Gericht dazu veranlassen könnte, hat man damit noch nicht gefunden. Wie ich noch zeigen möchte, könnten sich aber die nationalen Diskurse zur Frage, ob Gewohnheitsrecht eine Rechtsquelle darstellt und wie man es von bloßen Gepflogenheiten abgrenzt, in einen transnationalen Diskurs darüber transformieren, ob unter Bedingungen der Globalisierung sozialer Beziehungen sich weitgehend selbst regulierende Praktiken zu Recht gerinnen und ein kollisionsrechtlich wählbares System bilden können.

« Stein 1995,96 ff.

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Zuvor bietet sich aber noch eine andere Sichtweise an. Vielleicht beruht anationales Recht nicht auf gewöhnlichem Gewohnheitsrecht, sondern auf völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht. Zur Benatwortung dieser Frage bedarf es eines Blicks auf die Staatenpraxis. Inwieweit wird anationales Recht von nationalen Rechtsordnungen bzw. von nationalen Gerichten als Recht anerkannt? Hier gibt es natürlich ein breites Spektrum von „Anerkennungsintensitäten". Tatsächlich wird auf diese Weise der Frage, ob anationale Normensysteme Rechtsnormen enthalten oder nicht, ihre strenge binäre Struktur genommen. Vieles scheint denkbar. Um einige Positionen auf dem Kontinuum von Nicht-Recht zu Recht hervorzuheben: Man könnte - und man tut es ja bereits - ausdrücklich gewollte Billigkeitsentscheidungen von Schiedsgerichten anerkennen. Üblicherweise sind damit auch Schiedssprüche auf der Grundlage anationaler Normen legitimiert. Entscheidungen auf anationaler Grundlage könnten auch dann noch anerkannt werden, wenn die Parteien das Schiedsgericht nicht ausdrücklich zu Billigkeitsentscheidungen ermächtigt haben. Weiters könnte für den Fall, dass keine diesbezügliche Willensäußerung der Parteien existiert, die Anwendung des am engsten mit der Sache zusammenhängenden Rechts für geboten erachtet und dabei auch die Anwendung anationaler Normen durch das Schiedsgericht toleriert werden, wenn das von den Parteien nicht ausgeschlossen wurde. Ja, es wäre sogar denkbar, anationale Normen Entscheidungen staatlicher Instanzen zugrunde zu legen, ohne sie deshalb schon als „vollwertiges" Recht betrachten zu müssen. Eine Rechtswahlvereinbarung, die sich nicht auf nationales Recht bezieht, könnte nämlich als materiellrechtliche Verweisung gedeutet werden. In diesem Fall dürfte der Richter die Rechtswahl nur dann ignorieren, wenn sich das Normenensemble, auf welches verwiesen wurde, beim besten Willen nicht auf den Sachverhalt anwenden ließe oder zwingendem nationalen Recht zuwiderliefe. Schließlich, und erst dann hätten wir es mit Recht im härtesten Aggregatzustand zu tun, könnte man auch staatliche Instanzen auf die Anwendung anationalen Rechts als Vertragsstatut verpflichten lassen. Ob Letzteres denkbar ist, hängt in Ermangelung einschlägiger und halbwegs eindeutiger Vorschriften wieder vom Rechtsbegriff, den Gerichte voraussetzen, ab. Von der Behandlung einer Wahl anationalen Rechts als materiellrechtliche Verweisung zur Anerkennung anationalen Rechts als autonomes Recht ist jedoch, das sei hinzugefugt, ein weiter Weg. Im ersten Falle hätten wir

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es nämlich mit nicht viel mehr als der Ausschöpfung des unter dem Titel „Privatautonomie" eingeräumten Freiraums zu tun, im Grunde also mit etwas durchaus Unspektakulärem. Wirklich interessant ist nur die Frage, ob anationale Normen zwingendem staatlichen Recht kollisionsrechtlich gleichgestellt sein sollen. Erst mit ihr wird die Dogmatik wieder auf die Theorie zurückgeworfen. (Und die Theorie, jedenfalls die hier vertretene, wird sie an die Politik weiterverweisen.) Doch zurück zum Gewohnheitsrecht: Soweit die Staatenpraxis uneinheitlich wäre, blieben wir auf unserem Problem sitzen. Wie begründet man eine Positionierung auf dem Kontinuum? Tatsächlich haben sich die Staaten noch keineswegs durchgerungen, anationales Recht als vollwertiges gerichtlich anwendbares Recht zu behandeln.41 So wird Art. 3 EVÜ, welcher analog zu nationalen Gesetzen die Rechtswahl durch die Parteien regelt, noch überwiegend als bloße Ermächtigung gelesen, nationales Recht zu wählen. Einigen sich die Parteien dennoch auf „anationales Recht", so soll es sich höchstens um eine materiellrechtliche Verweisung auf Normen handeln, die gegebenenfalls zwingendem Recht weichen müssen. 42 Dagegen lässt die Interamerikanische IPR-Konvention nicht nur die kollisionsrechtliche Berufung auf die Prinzipien des transnationalen Handels zu, sondern ermöglicht sogar die Berücksichtigung innerhalb eines objektiven Vertragsstatuts.41 Gerichte können sie demnach auch von sich aus zur Entscheidung heranziehen. Von einer einheitlichen Staatenpraxis kann also kaum die Rede sein. Wenn damit nun das Reservoir an Argumenten ausgeschöpft wäre, stünde es nicht gut mit der Anerkennung anationaler Nonnen als autonome Rechtssysteme. Man könnte mit Michaels sagen: Im demokratischen Staat ist die juristische Geltung von Normen grundsätzlich daran geknüpft, dass sie verfassungsgemäß und von einem zuständigen Organ gesetzt worden sein müssen. 44

Das könnte sich jedoch, wie Michaels selber meint, als etwas „vorschnell" erweisen. In der Tat, denn wer hartnäckig ist und diese Norm hinterfragt, dem tun sich noch weitere Argumentationsmöglichkeiten " Gerade fur das internationale Wirtschaftsrecht lassen sich nach Zamora (1989) kaum „harte" völkergewohnheitsrechtliche Normen finden. Die lex mercatoria freilich scheint ihm durchaus gewohnheitsrechtlich begründet zu sein. « Weise 1990, 169; Michaels 1998, 610. « Michaels 1998, 610. 44 Ebd., 612.

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auf. Dazu kann man die Schlagseite des Rechts in Richtung Staat durchaus zur Kenntnis nehmen. Man muss nur versuchen, die dafür vorgebrachten Argumente auf eine neue Situation anzuwenden, nämlich auf die Bedingungen einer globalisierten Gesellschaft.

2.2 Konsistenz und Zukunftsorientierung Inwiefern erfüllen anationale Normen ähnliche Funktionen wie völkerund nationalrechtliche Normen? Diese Überlegung war gemeint, als vorhin ein zur Rechtsanalogie analoges Vorgehen in Erwägung gezogen wurde. Voraussetzung ist allerdings ein Verständnis dafür, dass die Koppelung des Rechts an die Politik nicht eine unter mehreren, sondern eine besondere Koppelung ist. Wenn man das einmal begriffen hat, kann man daran gehen, ausgehend vom aktuellen Zustand des Rechtssystems eine neue Geltungsgrundlage für anationales Recht zu konstruieren. Dass dies gelingt, ist aber keineswegs gesichert. Worauf es mir im Folgenden ankommt, ist, irgendwie eine Quadratur des Kreises zustandezubringen, nämlich die theoretische Möglichkeit aufzuzeigen, die Antwort auf die Geltungsfrage vom aktuellen national differenzierten Rechtssystem abhängig zu machen und dennoch ein sehr weitgehend autonomes Rechtssystem zu begründen. Wie mir scheint, muss man dazu die Frage der Geltung anationaler Ordnungen mit dem Begründungsproblem im nationalen Recht kurzschließen. Teubners Feststellung, dass „[uns] [d]er globale Kontext, in dem keine bereits bestehende Rechtsordnung eine Geltungsquelle globaler Verträge darstellt, [dazu nötigt], den Vertrag selbst als Rechtsquelle anzuerkennen, gleichgeordnet neben dem Richterrecht",1 versteht sich jedenfalls nicht von selbst. Wen nötigt der globale Kontext: uns Bürger, uns Juristen oder uns Soziologen? Und gilt ein etwaiger Sachzwang wirklich schon als Rechtsywang

2.2.1 Von der Theorie ?ur Politik Nach Teubner leistet die Globalisierung genau das, was Generationen von Soziologen und sonstige Dekonstrukteure nicht geschafft hätten, nämlich dem Recht die Idee auszureden, vornehmlich hierarchisch strukturiert und am Staat ausgerichtet zu sein.2 Jüngste Entwicklungen des Rechts ließen Beschreibungen, die noch mit der Vorstellung einer Hierarchie von Rechtsschichten operieren, obsolet erscheinen. Das den Verhältnissen angemessenere Paradigma heiße „Pluralismus" - eine 1 2

Teubner 1996a, 278. Teubner 1996c.

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Sichtweise, die die „strukturelle Koppelung" des Rechts an das politische System (repräsentiert durch den Staat) ein wenig in den Hintergrund rückt und dafür anderen Koppelungen zu bis dahin ungeahnter Prominenz verhilft, im Fall der lex mercatoria: der Koppelung des Rechts an das Wirtschaftssystem.3 Das Recht wird, wie die Gesellschaft, nicht mehr als primär stratifiziert, sondern als funktional differenziert beschrieben, als Einheit unterschiedlich entwickelter und organisierter Praktiken, die weniger durch eine gemeinsame Geltungsgrundlage als durch einen gemeinsamen Code, nämlich Recht/Unrecht, zu ein und demselben System zusammengeschweißt sind. Dennoch suggeriert der eingangs aufgestellte Fragenkatalog, dass eine völlige Loslösung des Rechts (oder auch nur eines Teils) vom Staat vorerst nicht gelingen kann. Sind es doch Gerichte, die die Rechtsqualität anationaler Praktiken zu beurteilen haben, und zwar im Unterschied zu Soziologen rechtlich verbindlich. Aber auch nach Luhmann findet das für das Rechtssystem entscheidende „Paradoxiemanagement" bei den Gerichten statt,4 deren Entscheidungen, so könnte man hinzufügen, nötigenfalls mittels staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Die Frage ist nun, wie sich diese Beziehung zu einer (bürokratisierten) Zwangsgewalt im Recht darstellt und wie sie seine Fortbildungsmöglichkeiten beeinflusst. Um die Beziehung zum Staat zu erfassen, muss man sich das Recht unter dem Gesichtspunkt seiner Durchsetzung ansehen. Für Teubner dagegen sind Fragen der Durchsetzung, der Sanktionierung, zweitrangig. ' Einen alternativen Pluralismus schlägt Lurger vor. Aber abgesehen davon, dass ungeklärt bleibt, weshalb Pluralität angestrebt werden soll, was für ein Wert Pluralität sein soll, wie Pluralität möglich ist, ohne dass sie an einer Stelle suspendiert wird, und nach welchen objektiven Kriterien „die gewählten Wertekombinationen der einzelnen Akteure ... bewertbar und rechtfertigbar" (Lurger 1997, 718) sind, fragt sich, inwieweit es sich hier überhaupt noch um eine RiArtheorie handelt. Denn worum es darin zu gehen scheint, ist nichts weiter als den „rechtlichen Zentralismus" (ebd., 719) infrage zu stellen und dem staatlichen Recht sein normatives Primat über sämtliche Weitsysteme streitig zu machen. Im Recht selbst bedeute dies die Anerkennung einer Vielzahl von Rechtsquellen auf regionaler, staatlicher und globaler Ebene" sowie „eine aktive Auseinandersetzung mit den in den verschiedenen Ordnungen enthaltenen Wertkonzepten" (ebd., 722). Das klingt nicht wirklich neu, zumal man nach Lurger schließlich doch wieder zu den staatlichen Entscheidungsträgem als politisch letztverantwortliche Instanzen zurückkommt. Dass es eine Vielzahl von Rechtsquellen gibt, wird kaum jemand bestreiten. Manchmal stellt sich allerdings die Frage, was die Einheit dieser Vielzahl von Rechtsquellen begründet. 4 Luhmann 1995c, 320.

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„Entscheidend" sei, „wie der konkrete Rechtsdiskurs seinen Geltungsanspruch kommuniziert".5 Aber gerade diese Kommunikation des Geltungsanspruchs erfolgt im modernen Recht nicht zuletzt über den Verweis auf spezifische Sanktionen, auf die Einklagbarkeit von Rechten und Pflichten. Denkt man sich diesen Verweis weg, ginge, so hat es wenigstens den Anschein, auch das spezifisch Rechtliche verloren. Zumindest wäre unklar, ob man dann noch auf Recht referiert oder auf etwas anderes. Und mit der Kategorie eines „paralegalen Rechts"6 fangt ein Gericht, das sich fragt, welche Normen es anwenden, d.h. bei der Konstruktion von Rechtsregeln verwenden darf, wenn ihm bloß aufgetragen ist, Recht anzuwenden, nicht viel an. Zweifellos ist es, wie Luhmann schreibt, so, dass der Normbegriff nicht durch Sanktionsdrohung, geschweige denn Sanktionsverhängung definiert sein kann. Gleichwohl gehört die Aussicht auf Sanktion zu demjenigen symbolischen Instrumentarium, an dem man erkennen kann, ob man im Sinne des Rechts erwartet oder nicht. 7

Man braucht sich nun nicht auf Diskussionen einzulassen, inwieweit Rechtsnormen zutreffend als Sanktionsnormen beschrieben sind. Worauf es ankommt, ist lediglich, dass ein Rechtssystem wenigstens an einige Tatbestände Rechtsfolgen knüpft, die man im weitesten Sinne als Sanktionen8 begreifen könnte, vor allem dann, wenn es, wie die lex mercatoria, Normen enthält, die verhaltenssteuernd oder, wie es die Systemtheorie bevorzugt, erwartungsstabilisierend wirken sollen. Nun liegt folgender Einwand nahe: Es mag schon sein, dass ein Gericht mit „paralegalem Recht" nicht arbeiten kann; aber hilft man ihm, wenn man jene Normen als Recht identifiziert, die es selbst zu sanktionieren gedenkt? Natürlich nicht.9 Allerdings soll mit dem Zwangscharakter von Rechtsnormen auch weniger das wahre Wesen des Rechts beschrieben, als vielmehr die Frage aufgeworfen sein, wie sich der spezifische Zwang des Rechts rechtfertigt. Verdient eine Norm die gewaltsame Exekution durch einen oder mehrere Staaten? Mit der Betonung des Teubner 1996a, 270. Mertens 1992. 7 Luhmann 1995c, 135. Noch eindringlicher zum physischen Zwang als Markenzeichen des Rechts Luhmann 1983b, 219 ff. " Darunter verstehe ich auch die Erzwingung von Verhalten. ' Für einen ähnlichen Einwand gegen den Rechtsrealismus und Oliver Wendell Holmes' berüchtigtes Bonmot, wonach Recht lediglich eine Prognose darüber ist, wie die Gerichte entscheiden, Murphy/Coleman 1990, 34. 5 6

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Zwangs kommt ein Legitimitätsproblem aufs Tapet, welches jeder Entscheidungsbegründung vorgegeben ist. Und dieses lässt sich nach Somek dahingehend charakterisieren, dass die Rechtsanwendung in einem Rechtsstaat an sich selbst die Anforderung richtet, sie habe nicht nur über irgendeine, sondern über die bestmögliche Rechtfertigung zu verfugen. ... Das mit ihr vorgefundene normative Problem stellt sich in seiner allgemeinsten Form so dar, dass über Menschen nur dann Zwang verhängt werden darf, wenn sich dafür Gründe finden lassen, die sich vernünftigerweise nicht ablehnen lassen.10 Die Eigenart des Rechts zu einem bestimmten Zeitpunkt besteht demnach weniger im Zwang als in den besonderen Modalitäten, ihn anzuwenden und zu rechtfertigen. Unter Bedingungen einer Gesetzesbindung rekurriert man eben typischerweise auf gesetzliche Anordnungen als „Zeichen fur etwas anderes ..., nämlich als Zeichen für Rechtsregeln". 11 Man braucht also keine essenzielle Verbindung oder gar eine Identität von Recht und Staat zu unterstellen, um die Staatsnähe des Rechts einmal als historisch vorgefundene und argumentationsbestimmende Ausgangslage zu akzeptieren. Solange rechtliche Entscheidungsträger an Gesetze gebunden sind, bleiben sie auf einen Gesetzgeber und damit auf eine Rechtsgemeinschaft verwiesen. Nun sagen uns die Gesetze über das internationale Privatrecht nicht viel mehr, als dass, welches Recht die Parteien immer wählen, es sich dabei eben um Recht handeln muss. Wie immer hat man sich einen Gesetzgeber zu konstruieren, der das, was er damit meint, vor einer Gemeinschaft von Gleichen rechtfertigen kann. Dementsprechend muss sich die „Sachangemessenheit" anationaler Regelungen als Argument bei der Rekonstruktion des Willens eines Gesetzgebers bewähren, der zuerst einer Gemeinschaft und nicht einer „Sache" verpflichtet ist. 12 Somit steht, selbst wenn ein anationales Normenensemble sich entsprechend ausdifferenziert und Verfahren der Zwangsausübung entwickelt, noch keineswegs fest, dass vom Zentrum des Rechtssystem aus, den staatlichen Gerichten, ein solches Ensemble als autonomes Rechtssystem anzuerkennen ist. Dies wird erst dann der Fall sein, wenn diese

Somek 1998a, 341. Ebd., 344. 12 Auf die Inadäquanz nationaler und internationaler Regelungen transnationaler Sachverhalte verweist immer wieder Stein 1995. 10

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Systeme nicht nur gewissen Anforderungen einer „internen Moralität"13 genügen14, sondern darüber hinaus als solche ähnlich gerechtfertigt werden können wie die Existenz der überkommenen Rechtssysteme. Anationale Systeme müssen sich einem Gültigkeitstest unterziehen, der auf nationale Rechtssysteme bzw. ihre mögliche Geltungsgrundlage, das Völkerrecht, zugeschnitten wurde, bei diesen aber kaum noch zur Anwendung kommt. Und dieser Test besteht in der Rechtfertigung des Zwangs, der von einem System als solchem ausgeht bzw. ausgehen soll, vor dem Tribunal der Allgemeinheit. Lässt sich dieser Zwang ähnlich rechtfertigen wie der Zwang, mit dem staatliches Recht gesichert wird?15 Natürlich sind etablierte Rechtssysteme, soweit sie etabliert sind, nicht mit der Gültigkeitsfrage in ihrer vollen Wucht konfrontiert. Gleichwohl bestimmt dieses Problem den alltäglichen Betrieb. In der Aufgabe der Gerichte, jede entscheidungskonstitutive Regel als zum „richtig verstandenen" Rechtsbestand gehörig auszuweisen und dabei diesen Rechtsbestand immer wieder neu zu rekonstruieren, indem sie ausloten, was es heißt, an die Gesetze gebunden zu sein, und wieweit diese Bindung geht, liegt die eigentliche politische Dimension des Rechtssystem begründet. Um die Rechtspraxis von dieser anspruchsvollen Aufgabe ein wenig zu endasten, hat man die politische Rechtfertigung sehr weitgehend externalisiert. Mit der verfassungsrechtlichen Institutionalisierung des politischen Prozesses entledigt sich das Rechtssystem, empirisch betrachtet, eines Teils seiner Begründungsaufgabe. Jedenfalls solange Konsens darüber besteht, dass die Verfassung selbst spezifische Kriterien für Rechtsregelzeichen erfüllt, und soweit das, was sie bezeichnet, halbwegs unstrittig ist. Insofern aber auch die Verfassung als „Erkennungsregel"16 nicht mehr als ein Zeichen ist, das erst einmal als solches wahrzunehmen und dem immer wieder Bedeutung verliehen

» Fuller 1969, 39. 14 Insbesondere müssen die Normen hinreichend publik und transparent sein. Überdies müssen sie einen Zusammenhang aufweisen, der es erlaubt, Entscheidungen auch tatsächlich auf sie zu stützen. Eine lose Ansammlung allgemeinster Prinzipien wird nicht ausreichen. Siehe für die lex mercatoria Stein 1995, 240 ff. 15 So heißt es bei Esser (1967, 128) mit Bezug auf das Gewohnheitsrecht: „In jedem pluralistischen Rechtsstaat bedarf eine auf einer Gruppenüberzeugung der Rechtsnotwendigkeit aufbauende Übung der gesamtgesellschaftlichen Sanktion, wie sie sonst (und eigentlich) dem Gesetzgeber zukäme." 16 Siehe Hart 1997, 100 ff.

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werden muss, kann sich das System nicht völlig stabilisieren.17 Zur vorläufigen Stabilisierung muss immer wieder auf etwas zurückgegriffen werden, das nicht schon im System als gängiges Argument gilt bzw. anderswo ebenfalls zu finden ist: typischerweise moralische und pragmatische Überlegungen. U m es dekonstruktiv zu formulieren: Das System muss sein Außen integrieren, um überhaupt funktionieren zu können. 18 Die damit bewirkte „Unreinheit" erweist sich als konstitutiv für seine Reproduktion. 19 Das, was seine Einheit untergräbt, dient gleichzeitig der Schaffung neuer Einheit. 20 Im juristischen Alltag kommt Politik hauptsächlich als Mikropolitik vor, in den „semantischen Kämpfen" um die Interpretation von Zeichen, deren Wahrnehmung als Zeichen für Rechtsregeln gewöhnlich außer Frage steht. Wenn allerdings der Rechtsquellenkatalog thematisch wird, ist man der Grenze des Systems schon sehr nahe. Zusehends verschwindet dann die Spezifität des juristischen Diskurses. Die politischen Überlegungen, die bis dahin den Diskurs nur supplementiert haben, indem sie Unbestimmtheiten invisibilisierten, rücken ins Zentrum der Argumentation. 21 Wie schon bei seiner Erstkon17

Siehe F i s h 1989c. 511 f. I n s b e s o n d e r e ist keineswegs geklärt, o b der für v e r f a s s u n g s -

kompatibel gehaltene R e c h t s q u e l l e n k a t a l o g wirklich eine e r s c h ö p f e n d e A u f z ä h l u n g aller Rechtsquellen enthält. S o v e r s t a n d sich in Ö s t e r r e i c h a u c h die R e c h t s e t z u n g s k o m p e t e n z der K o l l e k t i w e r t r a g s p a r t e i e n nicht s o f o r t v o n selbst. Z w a r waren Kollektivverträge seit längerem gesetzlich geregelt; a b e r o b diese R e g e l u n g e n v e r f a s s u n g s k o n f o r m b z w .

ob

K o l l e k t i w e r t r ä g e durch d e n g ä n g i g e n R e c h t s q u e l l e n k a n o n g e d e c k t waren oder aus „ g r u n d sätzlicheren" E r w ä g u n g e n heraus nicht infrage gestellt werden sollten, darüber war m a n sich nicht i m m e r einig. Siehe d a z u etwa K l e c a t s k y 1963 u n d S c h w a r z 1972. tB

D a s scheint mir auch die P o i n t e d e r Rechtstheorie D w o r k i n s z u sein.

" Siehe F i s h 1994a. 20

D i e s e S u b v e r s i o n v o n Einheit, die in Wirklichkeit gar nicht b e s o n d e r s subversiv ist,

braucht nicht eigens betrieben z u werden. D e r ausdrückliche V o r s c h l a g , die „künstliche Isolation des R e c h t s a u f z u b r e c h e n u n d es für die soziale Realität u n d d a s g a n z e S p e k t r u m der real existierenden Wertkonflikte zu ö f f n e n " (Lurger 1997, 723), wirft vielmehr die Frage auf, o b es hinter der Realität d e s R e c h t s n o c h eine realere Realität gibt. W e n n v o n der „künstlichen I s o l a t i o n " die R e d e ist, d a n n wird - nicht gerade glücklich - die Möglichkeit eines wahrhaftigeren Z u s t a n d e insinuiert. M a n m u s s d e m R e c h t aber keine e n g e r e B e z i e h u n g z u „ E t h i k , Religion u n d Politik" (ebd.) e m p f e h l e n . M a n m u s s sich nur die F r a g e stellen, weicht Politik juristisch betrieben w e r d e n s o l l / k a n n . Pragmatisch zu sein u n d sich nicht a u f eine „ m o n i s t i s c h e " L ö s u n g v o n K o n f l i k t e n zu verlassen ist kein E n t s c h e i d u n g s p r o g r a m m . D i e S y s t e m t h e o r i e w i e d e r u m bietet ein allzu zweifelhaftes P r o g r a m m an u n d dient wohl, wie L u r g e r b e m e r k t , „letztlich d a z u , d e n status q u o der Machtverteilung ... in der b e s t e h e n d e n Praxis z u k o n s e r v i e r e n " (ebd., 710). 21

S c h w a r z etwa verteidigt d e n K o l l e k t i w e r t r a g u n d seine s o genannte „Außenseiterwir-

k u n g " , i n d e m er u.a. v o n einer „in d e r V e r f a s s u n g v o r g e f o r m t e n institutionellen u n d

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stituierung kann sich das Rechtssystem auch diesmal nicht (ausschließlich) auf Eingeübtes verlassen, sondern muss, weil sein Begriff auf dem Spiel steht, eine politische Entscheidung produzieren. Dass es sich dabei gleichzeitig um eine Operation des Rechtssystems handelt, erkennt man dann nur mehr an der Zuständigkeit von Juristen und dem Auftrag, die bisherige Judikatur sowie jene Argumente zu berücksichtigen, auf die sich der Kanon der anerkannten Rechtsquellen stützt. Ja, die Rede von einem Innen und einem Außen des Systems, als ob hier eine unproblematische Grenzziehung möglich wäre, mutet spätestens jetzt als im schlechten Sinne abstrakt an. Wenn man sich einmal von der Vorstellung verabschiedet hat, es gäbe etwas Bestimmtes, das die Einheit des Systems begründet, sei es eine Erkennungsregel, seien es Methodenregeln oder ein spezifischer Code, wird man sich mit der Feststellung von „Familienähnlichkeiten" zwischen verschiedenen Operationen und Nonnzeichen begnügen.22 Um nun in der Frage des Rechtscharakters anationaler Regelungssysteme zu einer tragfähigen Begründung zu gelangen, haben sich entscheidende Organe mit einigen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. So muss, nachdem einmal festgestellt worden ist, dass die fraglichen Normenkomplexe die allgemeinsten Merkmale anwendbaren Rechts aufweisen, geklärt werden, inwieweit anationale Regeln den Interessen aller unmittelbar Betroffenen gerecht werden. Wenn diese Regeln nur die üblichen Vertragsbedingungen jener Parteien widerspiegelten, die über ausreichend Kapital verfugen, um sie anderen aufzunötigen, dann hätten wir ein Argument gegen eine Anerkennung. Hier wird man jedoch unterscheiden müssen zwischen Bereichen wie den Arbeitsbeziehungen, wo ein gewisser Schutzgedanke zum Tragen kommen sollte, und solchen wie etwa dem Sport, der ebenso dazu tendiert, sich über nationale Grenzen hinweg zu organisieren, wo dies nicht der Fall ist. Weiters wären externe Effekte spontan generierten Rechts zu untersuchen. Inwieweit sind davon Personen betroffen, die an seiner Erzeugung keinen Anteil haben? Welche Allgemeininteressen sind berührt? Käme man mit einer Nationalisierung von transnationalen, zum Teil höchst komplexen Rechtsstrei-

funktionellen Garantie gesellschaftlicher Repräsentation" spricht und auf die „gesellschaftliche Funktion" verweist, welche für die Beurteilung der Rechtsnatur des Kollektiwertrags von „ausschlaggebender Bedeutung" sei (Schwarz 1972, 240). 22 Siehe Wittgenstein 1984b, 278 (§ 67).

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ügkeiten zu besseren Ergebnissen? Oder sollte sich das nationale Recht mit dem Einwand der ordre-public-Widrigkeit, der dem Schutz der Integrität einer Rechtsordnung/Rechtsgemeinschaft dient, begnügen? Inwiefern soll man einen Unterschied machen zwischen Rechtsordnungen notorisch undemokratischer Staaten und an der Peripherie des Rechtssystems entstandenen Subsystemen? Zu fragen wäre aber auch, ob die Großzügigkeit nationaler Rechtsordnungen gegenüber Billigkeitsentscheidungen von Schiedsgerichten nicht auf rechtspolitischen Argumenten beruht, die genauso gut oder noch mehr für eine Anwendung anationaler Regeln und Prinzipien durch staatliche Instanzen sprechen. Warum sollen Schiedsgerichte nach Billigkeit entscheiden dürfen, wenn es die Parteien so wollen, staatliche Gerichte aber nicht einmal nach öffentlich zugänglichen Regeln, die schon vielfach kommentiert wurden? Votiert ein Gericht für die gerichtliche Anwendung anationaler Normen, dann müssen die Gründe dafür allerdings stark genug sein, um einen Schwenk in der Rechtsprechung, wenn dies ein Schwenk wäre, rechtfertigen zu können.23 Dieser Vorschlag erinnert nicht zufällig an Dworkins „law-as-integrity"-Lehre. Und der systemtheoretische Einwand dagegen Hegt auf der Hand. So meint Anton Schütz, Dworkins Begriff eines „law's empire" stehe einfach für eine Abneigung gegenüber Prozessen, mit deren Komplexität die humanistische Tradition nicht zurechtkomme. Noch im Beharren auf der Interpretativität des Rechts zeige sich ein Hang zur Simplifizierung: It neither invites consideration of the possibility of interpnting interpretations nor of ongoing recursive network-building. More ambitious modern tasks, such as recursive operations (interpreting interpretations, recursive networkbuilding) are, in contrast, far beyond the scope of an "empire of the law". The imagery Dworkin evokes involves the assumption that politics is in command and that societal processes are effectively both governed by politicians and judged by judges. 24 Für eine knappe Zusammenstellung der Für und Wider legislatorischer und nichtlegislatorischer Wirtschaftsrechtsvereinheitlichung siehe Mertens 1992, 220 ff., 239. Im Übrigen liegt es auch nicht ganz fem, in der Entwicklung der &x minatoria ein gegen die staatliche Regelungskompetenz gerichtetes „neoliberales" Projekt zu sehen. Zumindest den, der ein wenig mit den ideologischen Kämpfen der Gegenwart vertraut ist, kann eine solche Einschätzung nicht überraschen (siehe etwa Cutler 1997). Es ist jedenfalls schwer zu sehen, wie ein staatliches Entscheidungsorgan hier ideologisch neutral bleiben könnte. 24 Schütz 1996, 265 (Hervorhebungen im Original). 11

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Sieht man einmal davon ab, dass damit Dworkin wohl etwas zuviel an gesellschaftstheoretischer Naivität unterstellt wird, drängt sich hier noch die Frage auf, was nun konkret aus der zweifellos trivialen Einsicht, dass man auch Interpretationen interpretieren kann und das alles ziemlich komplex ist, für die juristische Arbeit folgt. Der Imperativ kann ja nicht lauten: Rekursiv verfahren! Das tut jede juristische Interpretation ohnehin. Und die Perspektive eines Beobachters dritter Ordnung, also eines Beobachters, der Beobachter beim Beobachten anderer Beobachter beobachtet und damit erst der Komplexität einer modernen Gesellschaft gerecht wird, jene Perspektive also, die die Systemtheorie für sich reklamiert, ist sicher nicht die Perspektive dessen, der juristisch argumentiert. Juristen sind keine Soziologen. Niemand sollte das besser wissen als Vertreter einer Theorie autopoietischer Systeme. Das systemtheoretische Wissen um die Funktion des Argumentierens, nämlich Varietät in Redundanz zu überführen, bringt den Rechtsanwender nicht sehr weit. Dieter Grimm hat das Problem prägnant beschrieben: [Der Rechtsanwender] wird durch dieses Wissen seiner Argumentationslast nicht enthoben, denn er erfüllt die vom Soziologen durchschaute Funktion gerade, indem er argumentiert. Er kann daher auch nicht den Schluss ziehen, dass es nur auf Argumente überhaupt, aber nicht auf ihre Güte und Uberzeugungskraft ankäme. Vielmehr würde er dadurch die im Begriff der Argumentation vorausgesetzten Anforderungen verletzen und folglich dysfunktional handeln. Die Frage nach den guten Gründen bleibt dem Rechtsanwender folglich nicht erspart. A u f diese Frage gibt die Funktionsbestimmung jedoch keine Antwort. 2 5

Plädoyers für eine der Hyperkomplexität der Gesellschaft angemessene Reflexivität und Rekursivität, so könnte man hinzufugen, auch nicht. Der systemtheoretische Einwand verfehlt also den Punkt. Man könnte sogar sagen, er sei kaum mehr als ein Ausdruck eben jener „Theoriehoffnung", von der sonst eher politisch inspirierte Fundamentalkritiken an diversen „Rationalismen" getragen werden. Aber sind Funktionsbestimmungen deswegen rechtlich völlig irrelevant?

25

Grimm 1995,158 f.

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2.2.2 Zur Funktion von „Funktionen " In seiner Kritik an Richard Wasserstroms Analyse juristischen Entscheidens26, wo von einer Hauptfunktion des Rechts, nämlich Glück zu maximieren bzw. Leid zu minimieren, ausgegangen wird, leugnet Dworkin, dass es Funktionen des Rechts gebe, die über das hinaus gehen, was sich unter „Gerechtigkeit" und „Fairness" subsumieren lässt. Und selbst wenn wir dem Recht eine utilitaristische Funktion unterstellen dürften (was tatsächlich einigermaßen unplausibel anmutet27), sei damit noch keineswegs ausgemacht, dass diese auch als Standard zur Bewertung gerichtlicher Entscheidungen taugt.28 Dworkin verweist hier auf die Differenz zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus. Allerdings ist mit einer Ablehnung einer utilitaristischen Funktionsbestimmung nicht gesagt, dass sich dem Recht keinerlei Funktionen unterstellen lassen, deren Erfüllung voraussetzen würde, dass Gerichte auch im Einzelfall in die Zukunft blicken und Entscheidungsfolgen abschätzen. Joseph Raz argumentiert wesentlich differenzierter als Wasserstrom und unterscheidet mehrere Funktionen, von deren Erkenntnis abhänge, was im Einzelfall als rechtens gelten kann:29 Zum einen direkte Funktionen, deren Erfüllung schon in der Befolgung und Anwendung des Rechts liege wie Verhaltensregulierung, Ermöglichung privater Koordination und Kooperation, Bereitstellung und Verteilung von Gütern sowie Konfliktregelung als Primärfunktionen und Regelung der Rechtsanwendung und Rechtsetzung als Sekundärfunktionen; und zum anderen indirekte Funktionen, deren Erfüllung in der Erzeugung von Meinungen und Verhaltensdispositionen bestehe, die aus dem Wissen um die Existenz und Durchsetzung von Gesetzen resultieren. Letztere würden spezielle Normzwecke umfassen wie die Beförderung des Respekts vor bestimmten moralischen Werten, die Steigerung der Effizienz ökonomischen Handelns, die Stärkung des Sinns für nationale Zusammengehörigkeit etc.

Wasserstrom 1961. Man denke nur an die zahlreichen Probleme, mit denen der Utlitarismus zu kämpfen hat. Diese lassen es in der Tat kaum denkbar erscheinen, dass sich eine Gemeinschaft um nichts anderes als Glücksmaximierung bz\v. Leidminimierung kümmert. 2». Dworkin 1965, 646. 29 Raz 1979. 26 27

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Vor allem diese speziellen Normzwecke können Gerichte veranlassen, Entscheidungen an die Realfolgen für die Zukunft und die Gemeinschaft zu koppeln. Dies entspricht auch der gängigen Praxis, zumindest hierzulande, bisweilen den als konventionell erkannten Wortsinn von Normen zu über- oder zu unterschreiten. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Methoden der Rechtsfortbildung wie Analogieschluss, teleologische Reduktion oder Größenschlüsse. Hier kommen echte Zielsetzungsargumente zur Anwendung. Echt deshalb, weil es nicht nur darum geht, innerhalb bestimmter Grenzen der Konvention den Wortsinn einer Norm zu bestimmen. Vielmehr werden diese Grenzen, deren Erkenntnis sich ihrerseits, wie oben ausgeführt, schon einem teleologischen Hintergrundverständnis verdankt, gesprengt. Es werden unabhängig von der Vergangenheit des Systems neue Regeln bzw. Ausnahmen geschaffen, die bisweilen ausschließlich mit Po&y-Argumenten gerechtfertigt werden.30 Freilich: Wenn sich eine derartige Rechtsprechung etabliert hat, wird diese Po/z^-Überlegung zu einem Prinzip gerinnen, das in schwierigen Fällen eine Orientierungshilfe bietet. Oft wird es sich um einen verhältnismäßig evidenten Zweck handeln. Eventuell bietet sich auch Blick in Materialien eines Gesetzes an. Gleichwohl ist die Berufung auf Zwecke, die nicht mehr durch den „Willen" eines historisch-realen Gesetzgebers gedeckt erscheinen, keineswegs ausgeschlossen, Zwecke, deren (Re-)Konstruktion einen weitaus größeren Aufwand erfordert.31 Und die allgemeinsten Zwecke sind jene, die Recht als solches zu legitimieren vermögen. Indem Dworkin Polines im Wesentlichen als utilitaristisch strukturiert denkt, fallt es ihm natürlich leicht, sie gegen Rechte auszuspielen. Wie wir aber noch sehen werden, muss der Begriff des Gemeinwohls keineswegs immer als bloßer Aggregationsbegriff verstanden werden. Dass der Utilitarismus gewisse Schwierigkeiten hat, Rechte in sein Modell zu integrieren, ist allgemein bekannt. Dass er jedoch kein Monopol auf die Bestimmung des Gemeinwohls hat, wird später noch zu zeigen sein.

Oft werden freilich Prinzipienargumente im Dworkin'schen Sinne ausreichen, etwa wenn im Wege der Rechtsanalogie aus einzelnen Vorschriften ein Prinzip oder eine allgemeine Regel herausdestilliert wird, um es dann auf nicht explizit geregelte Fälle anzuwenden. " Siehe Koch/Rüßmann 1982, 261 f.

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2.2.3 Der Wert der Vergangenheitsorientierung Aber warum dann überhaupt so etwas wie Rechte voraussetzen und sich nicht auf Zielsetzungen (Volleies) beschränken? Richard Posner schlägt, nachdem er Idealisierungen wie Dworkins These der Rechte verabschiedet32 und ebenfalls den essenziell politischen Charakter rechtlicher Entscheidungen betont hat, eine andere Form der „Reduktion von Politizität" vor. Posner möchte die spezifisch juristische Begrifflichkeit abgelöst wissen durch eine empiristisch-ökonomische: Suppose the sole goal of every legal doctrine and institution was a practical. The goal of a new bankruptcy statute, for example, might be to reduce the number o f bankruptcies and lower interest rates. The operation of this statute would be evaluated in terms of these goals, and if the statute failed to fulfill them it would be repealed. Law really would be a method of social engineering, and its structures and designs would be susceptible of objective evaluation, much like the projects of civil engineers. This would be a triumph of pragmatism. 33

Obwohl Posner Dworkins These der Rechte fur falsch hält, glaubt er an die Möglichkeit, die juristische Praxis als Suche nach etwas Objektivem zu begreifen. Allerdings müsse man dafür auf jene mysteriösen, weil metaphysisch aufgeladenen Kategorien verzichten, die das prä-pragmatistische Recht kennzeichnen. „Eigentum", „Verantwortlichkeit", „fairer Prozess", „Kausalität" etc. sollten ersetzt oder wenigstens resignifiziert werden durch das Vokabular der ökonomischen Theorie des Rechts.34 Worauf es demnach ankommt, ist nicht, die etablierten Kategorien immer subtiler zu interpretieren, sondern die harte empirische Wirklichkeit, mithin wohl vor allem Interessen und Nutzen zu berücksichtigen: The object o f pragmatic analysis is to lead discussion away from issues semantic and metaphysical and toward issues factual and empirical. Jurisprudence is greatly in need of such a shift in direction. Jurisprudence needs to become more pragmatic. 35

Doch bewegt sich der pragmatistische Richter tatsächlich auf festerem Terrain als derjenige, der an den tradierten Fragestellungen und Metho« Siehe Posner 1990, 127 ff. » Ebd., 122. 34 Posner spricht von einem „struggle against metaphysical entities in law" (ebd., 185). Für eine Kritik an der „klassisch theologischen Jurisprudenz" siehe schon Cohen 1935. 15 Posner 1990, 387.

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den festhält? Posners Plädoyer für eine empiristische Rechtspraxis scheint die Überzeugung zugrundezuliegen, dass es hinter dem Nebel, den metaphysische Begriffe erzeugen, eine realere Realität gibt, der ein anderes Vokabular angemessener wäre. Es soll also etwas außerhalb des Texts geben, das sich durch einen neuen Text besser einfangen lässt. Wenn es aber stimmt, dass dem nicht so ist,36 braucht man auch kein subtileres Argument dafür zu entwickeln, dass man auf Revolutionen im Rechtssystem verzichten sollte, als das Argument der Rechtssicherheit, welches ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenbarkeit als zentralen Wert des Rechts unterstellt. Und ein solches Argument formuliert Fish. Zwar wäre es durchaus denkbar, dass es irgendwann einmal zu einem Austausch der Vokabulare kommt und der juristische Diskurs nur mehr ökonomische Argumente gelten lässt, aber damit hätte er sich noch nicht von metaphysischen Unterstellungen freigespielt: [W]e will not have escaped semantics (merely verbal entities) and metaphysics (faith-based declarations o f what is) but merely attached ourselves to new versions o f them. As many commentators have observed, "wealthmaximation," efficiency, Pareto superiority, the Kaldor Hicks test, and other components o f the law and economics position are all hostage to metaphysical assumptions, to controversial visions o f the way the world is or should be. A transformation such as Posner seems to desire would not lead to methods "susceptible o f objective evaluation" but to methods nor more firmly grounded that the wholly contestable premises that "authorize" them. 57

Fish geht aber noch weiter. Eine solche Transformation des juristischen Begriffsapparats würde das Recht nicht bloß verändern, sondern als distinktes Handlungs- und Entscheidungssystem beseitigen.38 So weit würde ich freilich nicht gehen, zumal die Unvermeidlichkeit impliziter oder expliziter Rekurse auf die Gemeinschaft, das öffentliche Interesse etc. immer schon an der Geschlossenheit des Rechtssystems zweifeln lassen. Hier interessiert aber noch ein Argument, das Fish dem Drang,

34

Für eine analytische Reformulierung von Derridas berühmt-betüchtigter Negation

solcher Thesen einer präsymbolisierten Realität, die als neutraler Maßstab für ihre theoretische Erfassung herhalten könnte, siehe Davidson 1993c. Davidson setzt sich hier noch einmal mit dem „dritten D o g m a " des Empirismus auseinander, nämlich der Dualität von Schema und Inhalt, Theorie und Daten sowie Weltsicht und Anhaltspunkten. " Fish 1994c, 212. M

Ebd., 212 f.

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konsequenzialisüsche Überlegungen jederzeit zu explizieren und damit den rechtlichen Diskurs grundlegend zu reorganisieren, entgegenhält: Law emerges because people desire predictability, stability, equal protection, the reign of justice, etc., and because they want to believe that it is possible to secure these things by instituting a set of impartial procedures.3' Dieses Argument erinnert natürlich an Dworkins Verteidigung seiner „law-as-integrity"-Theorie. Es liest sich wie die anspruchslosere Version derselben. Und dennoch gibt es einen kleinen, aber theoretisch gesehen wesentlichen Unterschied. Die Botschaft liegt gewissermaßen in der Anspruchslosigkeit. Fish leitet das Postulat der Konsistenz nicht direkt und vor allem nicht ausschließlich aus objektiv gültigen Prinzipien der Gerechtigkeit ab, sondern aus kollektiven Präferenzen für eine bestimmte Organisation der Gesellschaft. Neben die Gerechtigkeit treten Anforderungen wie Berechenbarkeit und Stabilität, zumal der juristische Diskurs zwar, wie Dworkin zutreffend herausgearbeitet hat, einige Verbindungen zum moralischen Diskurs aufweist, aber deswegen noch keineswegs als Spezialfall desselben begriffen werden kann. Und soweit die Gerechtigkeit dem Rechtssystem eine bestimmte Struktur aufzwingt, tut sie das in Gestalt von Kategorien, die ihrerseits bereits rechtliche Kategorien sind. Sie ist nicht einfach das Tribunal, das dem Recht äußerlich und übergeordnet Ratschläge erteilen würde, sondern sie schmiegt sich gewissermaßen an das Recht an und erfährt durch dieses selbst eine Konkretisierung. Das Recht schafft mit der Zeit Intuitionen, vor denen sich auch jede Gerechtigkeitskonzeption zu bewähren hat. Weil die Gesellschaft an das Recht moralische Anforderungen stellt, muss dieses auch die Sprache der Moral sprechen, und sei es mit geringfügigem Akzent. Wenn das Recht aber u.a. eine Fortsetzung der Moral mit anderen Mittel ist, dann können wir uns nicht vorstellen, wie es auf jene Begriffe verzichten könnte, die zum Standard moralischen Denkens gehören. Zu diesen Begriffen zählen etwa „Gleichheit", „Verantwortlichkeit" und „Intention". Wenn das Recht funktionieren und Erwartungen stabilisieren soll, dann muss es an die Sprache anschließen, in der Menschen sonst normative Erwartungen zum Ausdruck bringen. Wollte das Recht sich einer ganz anderen Sprache bedienen, als Menschen sie gewohnt sind, würde es grundlegende Erwartungen an es selbst enttäuschen. Diese Erwartungen wie die Gerechtigkeits- und die Stabilitätserwartung " Ebd., 213.

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sind jedoch keineswegs solche, von denen man sich jederzeit befreien könnte. Wir können uns kein Recht denken, das nicht den Anspruch erhöbe, soziale Verhältnisse auf faire Weise zu regeln und ein System zu bilden, das sich bei seiner Reproduktion auch an der Vergangenheit orientiert. Dass die Vergangenheit immer im Lichte aktueller Probleme und deren Lösung für die Zukunft interpretiert wird, dass die Vergangenheit also keine präinterpretative Wirklichkeit ist, aus der unproblematische Schlussfolgerungen für die Gegenwart gezogen werden können, dass Konventionen der Reproduktion unter jeweils neuen Bedingungen bedürfen und keine Evidenzen sind, die Richtigkeit dieser These darzutun war das Hauptanliegen der vorangegangenen Ausführungen. Doch auch wenn die Vergangenheit mitsamt den Kategorien, die vergangenen Entscheidungen zugrunde liegen, als solche noch nichts zu determinieren vermag - indem sie in den Diskurs miteingebaut werden will, beschränkt sie die richterliche Rechtsfindung. Ja, über diese Beschränkung, die allerdings nicht zu einer völligen Schließung der juristischen Argumentation führt, konstituiert sich die juristische Arbeit erst als juristische. Wenn überhaupt kein Bezug zur Vergangenheit mehr gegeben ist, lassen sich Entscheidungen auch nicht mehr als rechtliche Entscheidungen identifizieren. Probleme entstünden allerdings, wenn, wie Posner meint, zentralen Kategorien des Rechts überhaupt kein vernünftiger Sinn abgewonnen werden könnte, d.h. wenn die Arbeit mit ihnen nicht auch in anderen Bereichen Sinn machen würde. Wenn sich die rechtliche Praxis nicht mehr an Praktiken in anderen Bereichen anschließen ließe. Wir mögen die kniffiligen philosophischen Probleme, mit denen uns der Begriff des intentionalen Handelns konfrontiert, nicht lösen können; doch wir verfügen über genügend gerichtliche Entscheidungen, um einigermaßen zuverlässige Prognosen darüber anzustellen, wie Gerichte ihn in Zukunft verwenden werden, nämlich so, wie wir ihn im Großen und Ganzen auch im Alltag außerhalb des Rechtssystems verstehen. Und solange er nicht gerade jeden vernünftigen Inhalts entbehrt - und dass dem so wäre, steht, wie die lebhafte handlungstheoretische Diskussion beweist, keineswegs fest - , gibt es auch keinen Grund, Entscheidungen schon deshalb für verfehlt oder unzureichend begründet zu halten, weil sie sich auf diesen Begriff stützen.

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Nun mag es durchaus sein, dass die Berechenbarkeit von Entscheidungen unter der Einfuhrung allzu subtiler begrifflicher Differenzierungen und Subdifferenzierungen leidet. Und tatsächlich wird es manchmal ratsam erscheinen, anstatt sich in feinsinnigen Begriffsanalysen zu verlieren, den teleologischen Hintergrund eines Normenensembles zu explizieren und auf die mögliche Funktion einer Norm und mitunter sogar des Rechts an sich abzustellen. Doch das ist kein Argument dafür, nicht mehr mit den tradierten Begriffen zu arbeiten. Vielmehr wird das allgemeine, in einem Rechtsstaat durchaus öffentliche Interesse an der Funktionsfähigkeit und der Legitimität des Rechtssystems gebieten, dass Gerichte sich selbst und damit ihren Begriffen und Methoden so weit wie möglich treu bleiben. Die Rechtsstaatlichkeit selbst gebietet demnach eine gewisse Vergangenheitsorientierung. Ein öffentliches Interesse spricht sozusagen gegen den exzessiven Gebrauch von expliziten PolicyArgumenten.

3. Teil Rechte und Ziele

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, warum in die Bestimmung konkreter Rechte notwendigerweise Überlegungen oder Annahmen darüber einfließen, was gut für die Gemeinschaft bzw. was eine gute Gemeinschaft ist. Einiges darüber habe ich bereits im ersten Teil gesagt. Nun gilt es aber, die Perspektive zu wechseln: von der Sprachphilosophie bzw. Bedeutungstheorie zur politischen Philosophie. Auf diese Weise hoffe ich zu einer weiteren Konkretisierung des Zusammenhangs zwischen partikularen Rechten und allgemeinem Guten zu gelangen. Überdies sollen die Möglichkeiten, Letzteres zu rationalisieren, ausgelotet werden. Beginnen möchte ich mit einer Rekonstruktion jener Diskussion, die lange Zeit die politische Philosophie beherrscht hat: der Diskussion zwischen Liberalen und Kommunitaristen über das Verhältnis von Gemeinschaftsinteressen und individuellen Rechten. Nach einer allgemeinen Einführung in die Debatte werde ich mich einigen paradigmatischen Positionen zuwenden. Die Kritik an den liberalen Theorien überlasse ich dabei den behandelten Kommunitaristen. Ich selbst werde mich darauf beschränken, einige Schwachstellen dieser Kritik aufzuzeigen, ohne dabei explizit den Liberalismus zu verteidigen. Insbesondere werde ich Zweifel anmelden an der dichotomischen Gegenüberstellung von individuellen und kollektiven Ansprüchen und dem Bestreben, eine abstrakte Vorrangrelation festzulegen (3.1). Bevor ich mich an den Versuch einer weiteren Klärung des Verhältnisses zwischen Rechten und allgemeinem Guten sowie einer Konzeptualisierung des Letzteren mache, möchte ich das bis dahin Gesagte ein wenig abrunden, indem ich den Fokus, ganz im Sinne der Interessenju-

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risprudenz, auf das Substrat von Rechten richte, eben Interessen. Dazu soll zuerst der Begriff analysiert werden; insbesondere scheint eine Abgrenzung zwischen Interessen und bloßen Wünschen oder Präferenzen angebracht. Dies erfordert, mehrere Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen: volitionale und kritische Interessen, legitime Interessen, wahre Interessen, schutzwürdige und weniger oder nicht schutzwürdige Interessen etc. Worauf ich dabei hinaus will, ist, dass jede subtile Interessenbeschreibung bereits normative und evaluative Züge aufweist. Schließlich soll noch einmal die Bedeutung des gemeinschaftlichen Horizonts bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit von Interessen herausgearbeitet werden. (3.2). Sodann werde ich mich der Frage zuwenden, wo denn nun die Gemeinwohlorientierung bei der Begründung politischer und juristischer Entscheidungen systematisch zu verorten ist. Als Ausgangspunkt dient mir dabei Radbruchs Elaboration der „Rechtsidee" und ihre Reformulierung durch Winfried Brugger. Ziel ist bloße Nachweis, dass Gemeinwohl weder in Effizienz noch in Gerechtigkeit aufgeht, gleichwohl aber nur im Lichte dieser beiden Maßstäbe konzeptualisiert werden kann (3.3). Damit ist auch schon die Frage aufgeworfen, was genau „Gemeinwohl" eigentlich bedeuten könnte. Feststeht zunächst nur, dass es etwas mit öffentlichen oder kollektiven Interessen zu tun hat. Doch was hat man sich darunter vorzustellen? Kann man das Gemeinwohl, das, was für alle gut ist, jederzeit restlos auf individuelle Interessen zurückfuhren? Meine Antwort wird lauten: Nein - jedenfalls nicht auf volitionale Interessen. Erstens ist das Gemeinwohl normativ gehaltvoller als Effizienz, insofern seine Bestimmung eine Identitätszumutung (und nicht so etwas wie Präferenz Souveränität) einschließt; zweitens, und damit zusammenhängend, ist es nicht unbedingt das, worauf sich alle tatsächlich einigen können; und drittens verweist der Begriff auf etwas, das zu erreichen nicht direkt ein Gebot der Gerechtigkeit ist, wenn es auch nur im Rahmen der Gerechtigkeit erreicht werden kann (3.4). Eine wichtige, vielleicht die bedeutendste Grenze für Gemeinwohlargumente (PW/çy-Argumente) bildet das Gleichheitsrecht. Als Grenze kann Letzteres allerdings nur wirksam werden, wenn es auf eine ganz bestimmte Weise verstanden wird. Versteht man mit der Judikatur in Osterreich als allgemeines Sachlichkeitsgebot, vermag es gemeinwohlorientierter Politik keine Schranken zu setzen. Dazu ist eine andere In-

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terpretation des Gleichheitssatzes erforderlich. Allerdings kann auch diese Interpretation nicht ausschließen, dass Gemeinwohlüberlegungen schon in die Konkretisierung des Gleichheitsrechts einfließen. Insofern aber ein akzeptabler Gemeinwohlbegriff selbst auf eine gewisse Weise egalitär strukturiert ist, wird man darüber nicht verzweifeln müssen (3.5). An Hand eines konkreten Haftungsproblems möchte ich schließlich die zuvor gewonnen Einsichten wieder in den rechtlichen Diskurs einbauen (3.6).

3.1 Gemeinschaft und Gerechtigkeit Wer sich mit dem Verhältnis von Rechten und (kollektiven) Zielen befasst, kommt um eine Auseinandersetzung mit der Debatte, die die politische Philosophie im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat, nicht herum: der Liberalismus/Kommunitarismus-Kontroverse. Was hat Vorrang: das Individuum oder die Gemeinschaft? Was ist eine gute Gemeinschaft? Hängt das Rechte und hängen subjektive Rechte davon ab, was für die Gemeinschaft gut ist? Kann man eine Theorie der Gerechtigkeit entwickeln, indem man von individuellen Präferenzen oder Interessen ausgeht? Oder tut man besser daran, bei der Gemeinschaft und jenen Werten zu beginnen, die sie konstituieren? Das sind einige der Fragen, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte. Aus der Perspektive der Rechtstheorie mag man nun einwenden, dass all dies in Wirklichkeit gar nicht zu interessieren braucht, da Juristinnen es nie mit derart fundamentalen Fragen zu tun hätten. Juristinnen betrieben eben keine Philosophie. Doch sieht man einmal davon ab, dass sich auch in der juristischen Praxis bisweilen die Frage stellt, ob man subjektive Rechte davon abhängig machen darf, was für die Allgemeinheit gut ist, kennt das Recht mit den Grundrechten fundamentale Rechte, deren präzise Bestimmung im Einzelfall unweigerlich zu einem Unternehmen der politischen Philosophie wird. Allerdings werde ich mich hier noch zu keiner abschließenden Beurteilung durchringen. Ziel ist vielmehr, das Problem zu erfassen und auf einige Defizite besagter Diskussion hinzuweisen. Zunächst werde ich kurz die Themen der Diskussion und die immer wieder erklingenden Motive vorstellen. Im Anschluss sollen einige prominente Positionen näher beleuchtet werden. Beginnen werde ich mit der liberalen Auffassung von John Rawls. Dieser Theorie werden dann die anspruchsvolleren Gemeinschaftsentwürfe einiger Kommunitaristen gegenübergestellt. Mein eigener kritischer Beitrag beschränkt sich vorerst aber auf eine Kritik an dieser Kritik: Kritik vor allem an einem selbstzerstörerischen Kontextualismus und an soziologisch allzu naiv anmutenden Gemeinschaftskonzeptionen. Im Anschluss daran werde ich noch Dworkins ethische Version des Liberalismus und der liberalen Gemeinschaft besprechen. Das Resultat wird die These sein, dass man sich nicht zwischen Individualismus und einem Vorrang des Gemeinschaftlichen ent-

Gemeinschaft und Gerechtigkeit

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scheiden sollte. Weder kann man beim Individuum beginnen, noch bei der Gemeinschaft. Stattdessen liegt es nahe, auf den Versuch einer letzten Fundierung überhaupt zu verzichten. Und tatsächlich tun wir das ja in der Praxis. Wie das funktioniert, darauf werde ich dann später noch einmal zurückkommen.

3.1.1 Die Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse Im Folgenden ein kurzer Überblick über die nicht zuletzt thematisch verzweigte Diskussion:1 Der erste kommunitaristische Einwand richtet sich gegen einen liberalen „Atomismus", der dem Individuum im Grunde eine präsoziale Existenz attestiere und die Gesellschaft folgerichtig lediglich als marktförmigen Kooperationszusammenhang unabhängiger und selbständig handlungsfähiger Nutzensmaximierer begreife.2 Dieser Atomismus komme nicht zuletzt im bevorzugten liberalen Modell der Legitimation sozialer Ordnung zum Ausdruck: dem Gesellschaftsvertrag. ' Kommunitaristen lehnen die Vorstellung ab, dass sich die Gesellschaft über einen Vertrag konstituiert, in dem bereits voll individuierte Personen unter Abstraktion von ihren Interessen und Potenzialen einander wechselseitig gleiche größtmögliche Freiheit einräumen, und insistieren auf der unhintergehbaren sozialen Vermitteltheit personaler Existenz. Für das Individuum, dessen Denken und Handeln auf gemeinschaftliche Bindungen und Bedeutungen angewiesen ist und dem keinerlei Priorität vor seiner Vergesellschaftung zukommt, wurde der Beg-

1 Für eine systematische Entfaltung des Positionengeflechts siehe Forst 1995. Siehe aber auch: Frankenberg 1994; Brumlik/Brunkhorst 1993; Forst 1996; Reese-Schäfer 1997. 2 Siehe den Hinweis auf einen mitunter nicht unproblematischen Liberalismusbegriff bei Somek 1992, 256 f. Fn. 601: „Zuweilen gewinnt man ... den Eindruck dass dasjenige, was von dem Kommunitarismus wohl nahestehenden Autoren als ,liberalism* präsentiert wird, dessen Reduktion auf ein eigenwilliges Kompositum von hobbistischer Lehre über die menschliche Natur, Locke'schem Naturrecht und einem Großteil utilitaristischer Metaphysik darstellt...." Dass die Kritiker des Liberalismus für gewöhnlich grob verzerrten Darstellungen desselben aufsitzen, meint auch Stephen Holmes (1993, Part II). 1 Das Gedankenexperiment des Gesellschaftsvertrags findet sich schon bei Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und anderen. Zu diversen jüngeren Sozialkontraktstheorien, namentlich von Rawls, Nozick und Buchanan Koller 1987. Für eine Skizze eines weiteren Version des Kontraktualismus und einen Vergleich mit dem Utilitarismus siehe Scanion 1985.

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riff des „gebundenen Selbst" geprägt.4 Die liberale Theorie dagegen imaginiere ein „ungebundenes Selbst" und erweise sich damit als ganz und gar ahistorisch. Dies lässt Rawls, das Hauptangriffsziel der Kommunitaristen, freilich nicht gelten. Sein Kontraktualismus habe „keine besonderen metaphysischen Implikationen, welche das Wesen des Selbst beträfen".5 Kommunitaristen bleiben aber nicht bei der Ontologie des Subjekts stehen. Mit der Ahnung, dass sich Identitäten nur innerhalb bestimmter kultureller Kontexte ausbilden und erhalten lassen, wird schließlich die Behauptung verbunden, „jede Gesellschaft beruhe auf „einer tradierten sozialen Praxis, die ihren Sinn und Zweck in sich selbst trage".6 Aus dieser Sensibilität für quasi-naturwüchsige Wertsysteme und deren Funktion für die Individuen speist sich auch die weitere Kritik an der Rechts- und Moralphilosophie der Aufklärung. Sie betrifft vor allem den Anspruch deontologischer Ethiken, Gerechtigkeit unabhängig von Vorstellungen des guten Lebens bestimmen zu können. Pluralität und Diversität der modernen Gesellschaft veranlasst Liberale, sich mit der Suche nach denjenigen Prinzipien zufriedenzugeben, die jedem die Realisierung seiner eigenen Vorstellungen von einem gelungenen, und also guten Leben ermöglichen. Somek charakterisiert die liberale Position folgendermaßen: Gerechtigkeitsgrundsätze begrenzen die legitimen Varianten des guten Lebens, ohne selbst eine von ihnen fördern oder voraussetzen zu dürfen, und geben den normativen Hintergrund für deren eigenwillige Verwirklichung ab; konkretisiert man die Grundsätze zu individuellen Rechten, dann dürfen diese durch Regeln, in denen bloße Präferenzen der Mehrheit z u m Ausdruck gebracht werden, nicht eingeschränkt werden. 7

Dem halten substanzialistische Ethiken, wie sie von Kommunitaristen bevorzugt werden, entgegen, dass jeder Diskurs über Gerechtigkeit eine Vorentscheidung über die Vorzugswürdigkeit von Gütern impliziert, die

Siehe Sandel 1982. Rawls 1998, 95. Dies wird bisweilen auch von Kritikern eingeräumt (siehe etwa Taylor 1988c, 273 Fn. 9). Es gibt aber liberale Theorien, nämlich die „Iibertaristisch" genannten, die sich diesem Vorwurf des Atomismus weniger leicht entziehen können (exemplarisch: Nozick 1974). Um diese Theorien zu kritisieren, muss man aber kein Kommunitarist sein (siehe nur Nagel 1994b). » Koller 1993a, 79. 7 Somek 1992, 258 f. 4 5

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ihrerseits nur im Lichte kontextgebundener sozialer Bedeutungen getroffen werden kann bzw. immer schon in Gestalt einer gemeinschaftlichen Praxis das Selbstverständnis der Einzelnen prägt; jedenfalls finden jene „starken Wertungen", die verschiedene Güter moralisch qualifizieren und gewichten8, innerhalb eines gemeinschaftlich geteilten Vokabulars statt, das der Einzelne nur um den Preis der Entfremdung und des Verlusts seiner Identität zurückweisen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die liberalistische Betonung der individuellen Freiheit und der damit verbundenen ethischen Neutralität des Staates5 lediglich als verschleierte Affirmation bestimmter menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten und einer Gesellschaftsform, die deren Entwicklung eben fördert. Damit wird nicht nur ein Vorrang des Guten vor dem Rechten, sondern auch ein prinzipieller der Gemeinschaft, sprich: kollektiver Zielsetzungen, vor der individuellen Wahl postuliert. Was ein individuelles Recht ist, so könnte man diese Überlegung übersetzen, entscheidet sich danach, was gut ist für die Gemeinschaft; denn nur diese kann Rechte gewähren. Doch wie steht es dann mit der Freiheit des Individuums? Sie existiert, meinen Kommunitaristen, nur innerhalb eines korrigierbaren Projekts von Zieldefinitionen, an das Standards herangetragen werden, die nicht auf subjektive Empfindungen verweisen, sondern im Rahmen öffentlicher Debatte interpretativ gewonnen werden.10 Wenn der Einzelmensch schon nicht in der Lage ist, seinen kulturellen Horizont zu überschreiten - zumindest soll er nicht erwarten können, dass er dafür Anerkennung findet - , dann lassen sich erst recht keine Prinzipien denken, die universelle Geltung besitzen und keiner weiteren Revision unterliegen. Gegen liberale Versuche, eine einheitliche, auf alle Gesellschaften anwendbare Gerechtigkeitsvorstellung zu entwickeln", Siehe Taylor 1988a, der den starken Wertungen „schwache" gegenüberstellt, in denen sich bloß Wunschvorstellungen äußern, deren Attraktivität unreflektiert bleibt und von individuellen Empfindungen und kalkulierten Konsequenzen abhängt. ' Zu den verschiedenen Lesarten dieses Gebots siehe Forst 1996, 55 ff. 10 Somek 1992, 267. Neben dieser am Prozess der Selbstverständigung eines Kollektivs orientierten republikanischen Spielart des Kommunitarismus gibt es jedoch auch Varianten, die das Wesen der Gemeinschaft (eher statisch) als vorpolitische Substanz begreifen. Siehe Forst 1996, 161 ff. 11 Zum Ausdruck kommt diese Suche nach allgemein vertretbaren Normen in den diversen Konzeptionen eines Urzustands, in dem sich Menschen, ihren kontingenten Lebensumständen entrückt, also unter Abstraktion von ihrer sozialen Stellung, ihren besonderen 8

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führen Kommunitaristen die Variabilität und Kontingenz normativer Vokabulare und Rationalitätsstandatds ins Treffen. Während der Liberalismus also vorgibt, sich der Bewertung individueller Lebensentwürfe weitgehend zu enthalten, bezieht sich die kommunitaristische Indifferenz eher auf kollektive Lebensformen, partikulare Gemeinschaftssittlichkeiten als reichhaltige und vor allem geschlossene Sinn- und Wertsysteme, deren Integrität zu erhalten - um bereits hier den Restbestand an Individualismus sichtbar werden zu lassen - angesichts ihrer identitätsstiftenden Funktion im Interesse jedes Einzelnen liegen müsste. Wie schon diese grobe Skizze erkennen lässt, spielt der Begriff der Gemeinschaft in der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Kommunitaristen eine Schlüsselrolle. Wird die Gemeinschaft auf der einen Seite zuallererst als potenzielle Bedrohung fur die Rechte des Einzelnen aufgefasst, so dient er der anderen als ständiger Bezugspunkt, der gleichsam Anfang und Ende jeglicher Wertung und Reflexion markiert. In diesem Sinne bringt Rainer Forst die Quintessenz des Kommunitarismus folgendermaßen auf den Punkt: Allgemein genug gefasst lässt sich ... eine kommunitaristische These als zentral ansehen, die den Gebrauch dieses Begriffes rechtfertigt. Sie besagt, dass der „Kontext der Gerechtigkeit" eine Gemeinschaft sein muss, die in ihren historisch erwachsenen Werten, Praktiken und Institutionen, kurz: ihrer Identität, einen normativen Horizont bildet, der für die Identität ihrer Mitglieder und damit für die Normen des Gerechten konstitutiv ist.12

Bevor ich mich auf diesen emphatischeren Gemeinschaftsbegriff einlasse, soll noch sein „Anderes" vorgeführt werden, die Gemeinschaftskonzeptionen von Rawls und Dworkin. Ich klammere hier diverse libertarisüsche Theorien, die sich tatsächlich einem sozialen Atomismus verschrieben haben, bewusst aus, zumal sie gar keinen Gemeinschaftsbezug enthalten und daher von vornherein wenig plausibel erscheinen.

Interessen und Werten, auf eine gerechte Ordnung für ihr Zusammenleben einigen. Dieselbe (regulative) Funktion, nämlich die Gewährleistung einer unparteiischen Betrachtungsweise, soll außerhalb namentlich liberaler Theorien, nämlich in der Diskursethik von Apel und Habermas, die Idee einer herrschaftsfreien und also vernünftigen Konsensbildung erfüllen. Siehe dazu Koller 1997, 239 ff. 12 Siehe Forst 1996,14.

Gemeinschaft und Gerechtigkeit

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i. 1.2 Die Gemeinschaft und das Gute bei Rawls John Rawls, dessen bedeutende Gerechtigkeitstheorie für Kommunitaristen als bevorzugtes Objekt der Kritik fungiert, unterscheidet zwischen der „privaten Gesellschaft" und der „sozialen Gemeinschaft". Mit „privater Gesellschaft" meint er eine Zweckgemeinschaft egoistischer, berechnender Individuen: Ihre Haupteigenschaften sind erstens, dass ihre Bestandteile, seien es Einzelmenschen oder Gruppen, ihre privaten Ziele haben, die einander entgegengesetzt oder unabhängig voneinander sind, aber keinesfalls einander ergänzen; und zweitens wird Institutionen keinerlei Wert an sich zugeschrieben, die Teilnahme an ihnen gilt allenfalls als Last. Jeder beurteilt also gesellschaftliche Regelungen nur als Mittel zu seinen privaten Zielen. ... Die private Gesellschaft wird nicht von einer öffentlichen Überzeugung zusammengehalten, dass ihre Grundverhältnisse gerecht und an sich gut seien, sondern durch die Erwägung aller - oder doch zumindest so vieler, dass das System erhalten bleibt - , dass jede Veränderung die Mittel zur Verfolgung ihrer persönlichen Ziele schmälern würde.15 Mit der bloß ökonomischen Vorteilhaftigkeit einer privaten Gesellschaft geben sich Menschen als soziale Wesen, die gemeinsame Institutionen und Lebensformen um ihrer selbst willen schätzen und auch benötigen, aber nicht zufrieden, das weiß auch Rawls. Soweit sich die Kooperation auf Endziele und Tätigkeiten bezieht, „die als an sich wertvoll empfunden werden", spricht er von einer „sozialen Gemeinschaft". 14 Als Beispiele für als „an sich wertvoll empfundene" Praktiken und insofern soziale Gemeinschaften nennt er Wissenschaft und Kunst, aber auch „Familien, Freundschafts- und andere Gruppen". 15 Während die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv im Fall der privaten Gesellschaft lediglich eine instrumentelle sei - eigentlich handelt es sich ja nur um einen halbwegs regulierten Konkurrenzkampf zwischen Individuen , binde die soziale Gemeinschaft die Menschen auch gefühlsmäßig aneinander. Was zeichnet aber die „wohlgeordnete Gesellschaft" aus? Rawls versteht darunter eine „soziale Gemeinschaft sozialer Gemeinschaften", eine „übergeordnete Kooperationsgemeinschaft" (Koller): » Rawls 1975, 566. 14 Ebd., 570. 15 Ebd.

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Rechte und Ziele Der Gedanke besteht darin, dass eine ... wohlgeordnete Gesellschaft für jeden Bürger ein weit umfassenderes Gut sein kann als das bestimmte Gut von Individuen, wenn diese ihren eigenen Vorkehrungen überlassen oder auf kleinere Vereinigungen beschränkt bleiben. Die Teilhabe an diesem weit umfassenderen Gut kann das bestimmte Gut jeder Person überaus erweitern und stützen. 16

Da sich das Individuum nur in der sozialen Vereinigung „vollendet", liege in einer wohlgeordneten Gesellschaft das gemeinsame Ziel in der gesellschaftlichen Kooperation selbst.17 Insofern es dazu des Rahmens einer öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption bedarf, werde diese ein Gemeinschaftswert.18 Doch wie soll nun eine solche Gerechtigkeitskonzeption nach Rawls beschaffen sein? Hier kommen wieder jene zwei Begriffe ins Spiel, die zu einem Markenzeichen seiner Theorie wurden: der „Schleier der Unwissenheit" und das „Differenzprinzip". Ersterer bezeichnet jene paradoxe Bedingung, wonach sich die einzelnen Individuen im (hypothetischen) Urzustand in Unkenntnis ihrer sozialen Position bei gleichzeitig völliger Transparenz der Gesellschaft19 auf zwei Grundsätze einigen würden, nämlich darauf, dass allen Bürgern die größtmögliche gleiche Freiheit zukommen soll, und eben - neben dem Prinzip der fairen Changleichheit - auf das Differenzprinzip. Dieses besagt, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur soweit zulässig sind, als sie den am schlechtesten Gestellten den größtmöglichen Vorteil bringen.20 Dass der Zusammenhang zwischen Individuum und Gemeinschaft, den der moralpoint of view, der Standpunkt der Unparteilichkeit, impliziert, " Rawls 1994a, 192. Siehe auch Rawls 1975, 527. In einem bestimmten Sinne ist die „wohlgeordnete Gesellschaft" nach Rawls jedoch keine Gemeinschaft. Sie basiere nicht auf einer umfassenden (religiösen oder philosophischen) Theorie des Guten (siehe Rawls 1998, 114). 17 Rawls entwickelt diesen Gedanken am Beispiel eines Orchesters, in dem die individuellen Fähigkeiten durch Koordination der Aktivitäten zu einem allgemeinen Werk führen, das die aktuellen Kapazitäten der einzelnen Musiker zwangsläufig überschreitet, zumal die menschlichen Grenzen auch den talentiertesten Aliromdtrn Beschränkungen auferlegen. >· Rawls 1975, 574. 19 Uberhaupt nimmt sich der Gesellschaftsvertrag, wie immer wieder angemerkt worden ist, als Paradoxon aus, da er das, was er hervorbringen soll, nämlich Freiheit und Gleichheit, bereits voraussetzt. Außerdem müssen die (abstrakten) Individuen schon allein deshalb das Richtige wählen, damit sie sich auch für die Zukunft diese Freiheit der Wahl, die sie in radikaüsierter Form im Urzustand genießen, erhalten. » Rawls 1975, 81. Siehe dazu KoUer 1998a.

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natürlich immer ein prekärer ist, liegt daran, dass Letzterer Ausdruck einer eigentümlichen Spaltung ist. Demnach erschöpft sich die Person nicht in ihren Eigenschaften und ihrem sozialen Status, kurz: in ihrer „Identität", es ist noch etwas mehr in ihr. Die Eigentümlichkeit besteht darin, dass dieses „Mehr" die Person einerseits von ihrer Gesellschaft entfremdet, andererseits aber auch wissen lässt, woher jede ihrer Identitäten stammen muss. Sie weiß, dass sie ihre soziale Stellung nicht aus sich selbst hervorbringt, sondern dabei auf ein gesellschaftliches Umfeld angewiesen ist. Sie weiß, dass ihre Fähigkeiten und Talente immer in dem Sinne sozial konstituiert sind, dass ihre Entwicklung und Bewertung von gesellschaftlichen Strukturen abhängt. All das ist Rawls (im Gegensatz zu seinen hyperliberalen libertaristischen Kritikern) völlig klar. Er begründet damit zunächst sogar die Verbindlichkeit seiner Gerechtigkeitskonzeption.21 Allerdings bedient er sich dazu einer etwas missverständlichen Formulierung. Er meint nämlich, die Forderung, im Urzustand von natürlichen und sozialen Kontingenzen abzusehen, bedeute praktisch nichts anderes, als dass man die Verteilung der natürlichen Gaben als gemeinsames Gut betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden. 22

Wie auch immer: Nach all dem gebietet die Einsicht in den sozialen Charakter von Bildung, Produktion und Eigentumserwerb zwar eine gemeinschaftliche Lösung der Verteilungsfrage, diesbezügliche Ansprüche können aber nur die einzelnen Personen erheben, und diese sind es auch, die darüber nach Gerechtigkeitsgrundsätzen, denen alle, eben als immer auch „Entfremdete", im Rahmen eines fairen Verfahrens zustimmen können, zu entscheiden haben. So setzt sich der individualistische Duktus der Rawls'sehen Gerechtigkeitstheorie noch in der Rede von „Gemeinschaft" fort. Doch zumindest räumt Rawls ein, dass eine Später freilich, in Political Liberalism, ver2Ìchtet er bewusst auf anspruchsvolle Begründungen. 22 Rawls 1975, 122. Diesen Schritt können z.B. Liberale vom Schlage Hayeks oder Nozicks nicht mitvollziehen. Bei ihnen bleibt das Individuum nicht nur letzter, sondern auch noch autarker und in sich völlig konsistenter Anknüpfungspunkt der Theorie. Siehe den Überblick bei Koller 1993a, 94 ff. sowie Koller 1994a, 138 ff., wo er fur das einem solchen Liberalismus zugrunde liegende Gesellschaftsbild den Begriff „Marktplatzkonzeption" prägt, als Gegensatz zur „Fabrikskonzeption", von der Rawls offenbar ausgeht. 21

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Rechte und Ziele

Gerechtigkeitskonzeption auf eine schwache Theorie des Guten angewiesen bleibt. Eine solche liegt der gesamten Vertragskonstruktion zugrunde. Denn was im Urzustand bestimmt werden soll, sind elementare Regeln fur die Verteilung von „Grundgütern", also Dingen, „von denen man annehmen kann, dass sie jeder vernünftige Mensch haben will".23 Gleichzeitig beansprucht er für seine Theorie nur mehr eine „Art von Verfahrensneutralität"24 und eine „Zielneutralität" in dem Sinne, dass ihr zufolge die „grundlegenden Institutionen und die öffentliche Politik nicht darauf ausgerichtet sein (dürfen), eine besondere umfassende Lehre zu begünstigen".25

3.1.3 Die kommumtanstische

Alternative

Für Michael Sandel greift eine derartige Gesellschaft/GemeinschaftKonzeption, trotz des Wertes, der gesellschaftlicher Kooperation beigemessen wird, zu kurz. Beide Begriffe, „private Gesellschaft" und „soziale Gemeinschaft", bleiben seiner Interpretation nach dem Bild eines präindividuierten Selbst verhaftet - eines Individuums, dessen Einbindung in soziale Zusammenhänge noch immer als Ergebnis einer souveränen Wahl erscheine. Zwar liege der Wert der Rawls'schen Gemeinschaft nicht nur in der unmittelbaren Vorteilhaftigkeit sozialer Kooperation, sondern auch in der Qualität der Motivationen und der emotionalen Bindungen, die die Kooperation begleiten, but neither the instrumental nor the sentimental account of community, presupposing as they do the antecedent individuation of the subject, can offer a way in which the bounds of the subject might be redrawn; neither seems capable of relaxing the bounds between the self and the other without producing a radically situated subject. For while Rawls allows that the good of community can be internal to the extent of engaging the aims and values of the self, it cannot be so thoroughgoing as to reach beyond the motivations to the subject of motivations. ... [F]or to do so would violate the

Rawls 1975, 83. Zur Bedeutung einer Theorie des Guten siehe auch Rawls 1998, 266 ff. Rawls stellt hier fünf in seiner Gerechtigkeitskonzeption enthaltene Ideen des Guten vor. 24 Rawls ist sich durchaus bewusst, dass sowohl seine Gerechtigkeitsgmndsätze als auch die für den Urzustand relevanten Konzeptionen der Person und der Gesellschaft bereits über (nicht-neutrale) moralische Substanz verfügen (siehe Rawls 1998, 288). 25 Rawls 1998, 290. 25

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priority of the self over its ends, to deny its antecedent individuation, to reverse the priority of the plurality over unity ....2i Rawls verkenne den konstitutiven Charakter von Gemeinschaftlichkeit. Diese sei kein bloßes Gefühl oder eine Präferenz, sondern, im Gegenteil, Bedingung für die Ausbildung personaler Identität: For a society to be a community in this strong sense, community must be constitutive of the shared self-understandings of the participants and embodied in their institutional arrangements, not simply an attribute of certain of the participants' plans of life.27 Was an Sandels Theorie auffällt, ist, dass das Subjekt bei aller gemeinschaftlichen Konstituiertheit nicht vollständig in der Rolle aufgeht, die ihm die Gemeinschaft zugedacht hat. In der Reflexion seiner Geschichte soll es durchaus in der Lage sein, sich vom Kontext zu distanzieren, dem es seine Individuierung verdankt, und eventuell sogar eine vorgefundene Identität zu revidieren: As a self-interpreting being, I am able to reflect on my history and in this sense to distance myself from it, but distance is always precarious and provisional, the point of reflection never finally secured outside the history itself.28 Wie die „Konstituierung" des Subjekts durch gemeinschaftliche Traditionen und Praktiken mit dessen Fähigkeit zur reflexiven Distanzierung zusammengeht, bleibt allerdings unklar. 29 Das heißt nicht, dass diese Annahme von vornherein unplausibel wäre (im Gegenteil), sie steht nur in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu einer immer wieder explizierten Vorstellung von Gemeinschaft als Identitätsausgabeuntemehmen, der sich zu verweigern den Selbst-Verlust zur Folge hätte. Schon der bloße Gedanke an die Möglichkeit einer derartigen Identitätszurückweisung signalisiert das Bewußtsein von einer gewissen Nwv&i-Identität des Subjekts mit sich selbst. Es scheint also doch etwas im Einzelnen zu geben, das, wenn es der Gemeinschaft schon nicht vorausgeht, ihr zumindest äußerlich ist. Sandel entledigt sich des Problems mit der Feststellung, dass eine Person mit einem Selbstverständnis nach der Reflexion ohnehin in den Kontext zurückkehrt, dem sie ihr Selbst verdankt.

26 27 M M

Sandel 1982,149. Ebd., 173. Ebd., 179. Siehe Forst 1996, 27 f., 35 ff.

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Dieser scheint, unbeeindruckt von individuellen Distanzierungen, immer auf die Rückkehr der „Renegaten" zu warten. Was nun diesen konstitutiven Kontext anbelangt, so sei erwähnt, dass Sandel einen, gemessen an dessen Stellenwert innerhalb kommunitaristischer Ansätze, erstaunlich undifferenzierten Gemeinschaftsbegriff verwendet. Darunter subsumiert er nämlich so unterschiedliche Gebilde wie „family or tribe or class or nation or people".30 All diese Gemeinschaftsformen werden in einer organizistischen Betrachtung als mehr oder weniger homogene Großsubjekte begriffen, deren Unterschiedlichkeit hinter ihre subjektivierende Funktion zurücktritt. In jedem Fall haben wir es mit einer Beziehung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen zu tun. Auch Charles Taylor betont die Abhängigkeit des individuellen Selbst von einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum als übergreifender Wertegemeinschaft.31 Dieser gebe nicht nur die Bedingung fur jede unmittelbar identitätsstiftende Kommunikation innerhalb einer konkreten Gemeinschaft ab, sondern gewährleiste auch eine gewisse Kontinuität zwischen zwei verschiedenen Typen von Gemeinschaft: der historisch gegebenen und der gewählten. Abseits seiner Untersuchungen zur modernen Identität bzw. zur Identität der modernen westlichen Kultur als solcher richtet sich seine Kritik vor allem gegen liberale Gesellschaftskonzeptionen, die, insoweit sie sich aus einer atomistischen Ontologie speisten, versuchen würden, sozialen Zusammenhalt über aufgeklärte Selbstinteressen zu erklären. In Wirklichkeit bedürfe es dazu nämlich einer „Identifizierung mit anderen in einem bestimmten gemeinsamen Unternehmen".32 Taylor nennt diese Identifizierung „Patriotismus" und versteht darunter den Sinn geteilten Schicksals, in dem das Teilen selbst von Wert ist. Dies ist es, was diesem Band seine besondere Bedeutung gibt, was meine Bindungen an (meine Landsleute) und an dieses Unternehmen (einer funktionierenden Republik) besonders bindend macht, was meine „virtu" oder meinen Patriotismus mit Leben erfüllt.33

» Sandel 1982, 172. " Taylor 1995a. 12 Taylor 1995b, 111. » Ebd., 115 f.

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Gerade in seinem intrinsischen Wert unterscheide sich die gemeinsame Bürgerwürde als „unmittelbar gemeinsames Gut" auch von „mittelbar gemeinsamen" Gütern, die, wie z.B. ein Musikkonzert, ihren Wert lediglich aus dem gemeinsamen Genuß beziehen. Erst recht unterscheide sie sich aber von „konvergenten" Gütern wie die öffentliche Sicherheit, die zwar kollektiv produziert würden, weil sie sich kein Einzelner leisten könnte, deren Nutzen jedoch immer ein individueller bleibt. Auch für Taylor ist der Wert der Gemeinschaft ein wesentlich „intrinsischerer" als für Rawls. Zumindest für »«mittelbar gemeinsame Güter gilt demnach, dass sie die Differenz zwischen dem Einzelnen und seiner Gemeinschaft vollständig zu verwischen scheinen. Ähnlich argumentiert Alasdair Maclntyre, dessen Theorie jedoch, insofern sie vornehmlich auf einen Nachweis der Notwendigkeit des Scheiterns deontologischer Moralbegründungen abzielt, die mit dem Anspruch auf Neutralität und Universalität ihren Vorrang vor traditionsimmanenten Moralbegriffen einklagen, nicht einmal mehr den Ansatz zu einem ausgearbeiteten Gemeinschaftsmodell aufweist. Allerdings lässt sie auch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es den oben beschriebenen Modellen sehr nahe kommen muss. In seiner Kritik am liberalen Individualismus stellt Maclntyre eine gute gemeinschaftskonstituierende Praxis einer schlechten gegenüber, welche im Wesentlichen dem Bild der „privaten Gesellschaft" bei Rawls entspricht: Für den liberalen Individualismus ist eine Gemeinschaft einfach ein Schauplatz, auf dem jeder Einzelne seine selbstgewählte Vorstellung von gutem Leben verfolgt, und politische Institutionen existieren, um jenes Maß an Ordnung zu sichern, das eine solche frei gewählte Tätigkeit ermöglicht. Staat und Gesetz sind hinsichtlich konkurrierender Vorstellungen über das gute Leben für den Menschen neutral, oder sollten es sein.*4

Die gute Gemeinschaft dagegen zeichne sich durch die Verpflichtung auf ein «¿¿/individuelles Gutes aus. Diese Form der gesellschaftlichen Integration verlangt von den Männern und Frauen, tugendhaft nach dem zu suchen, was für ihr Gemeinwesen das Beste ist. Genau genommen liege das Gute nämlich in der kollektiven Suche danach: Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben verbracht wird, und die für die Suche notwendigen Tugenden

14

Maclntyrel997, 261.

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sind jene, die uns in die Lage versetzen, zu verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst das gute Leben fur den Menschen besteht.35 Was das nun wirklich bedeutet, wird nicht ganz klar.36 Klar ist jedoch, dass das Individuum wieder Produkt eines Kontextes ist, der durch Traditionen definiert wird, die ihrerseits auf die Ausübung bestimmter Tugenden angewiesen sind. Es wird zuerst als „Teil einer Geschichte", als Teil eines Ganzen wahrgenommen. „Denn die Geschichte meines Lebens", schreibt Maclntyre, „ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite. Ich wurde mit Vergangenheit geboren." 37 Daraus folgt dann das Paradoxon, dass diese zugleich soziale und historische Identität noch in ihrer Ablehnung zum Ausdruck kommt. Auch wenn besagte Autoren durchaus unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen, so scheinen sie doch alle von einem ganzheitlichen Gemeinschaftsbegiiff auszugehen. Soweit dieser Gemeinschaftsbegriff aber vorgibt, Tatsachen zu beschreiben, setzt er sich mindestens drei Einwänden aus38: Zwar bestreitet heute niemand mehr, dass die Ausbildung individueller Selbstverständnisse nur innerhalb bestimmter sozialer und kultureller Kontexte (allerdings nicht nur auf der Schiene zwischen Familie und Nation) erfolgt. Doch diese Gemeinschaften sind keineswegs immer Horte der Geborgenheit. So kann es, erstens, vorkommen, dass Menschen ihre von der Gemeinschaft angebotenen oder aufgedrängten Rollen irgendwann zurückweisen und die damit einhergehenden Identitäten revidieren bzw. „in Opposition zur gegebenen Gemeinschaft /ertentwickeLn".39 Wenn sie das tun, können sie, zweitens, regelmäßig aus mehreren Wertordnungen „auswählen"40, die im Kollisionsfall auch transzendiert werden müssen. Und drittens ist daran zu erinnern, dass Gemeinschaften meistens hierarchisch strukturierte, konfliktbeladene Machtgebilde waren und sind. Genauso wie Gemeinsinn und Solidarität kennzeichnen sie Gegensätze und Repression. Die hierarchische Gemeinschaft stiftet nicht nur (für sie unmittelbar wertvolle) Identität, Ebd., 293. " Zu dieser Unklarheit und zahlreichen weiteren Inkonsistenzen bei Maclntyre siehe Holmes 1993, 88 ff. " Maclntyre 1997, 295. Siehe in diesem Zusammenhang auch Maclntyre 1995. M Fink-Eitel 1993, 308 f. " Ebd., 308 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch Kukathas 1996. 55

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sie zerstört oder behindert auch Identität. Auf diese Weise „produziert" sie dissidente Identitäten. Daraus schließt Fink-Eitel, dass der anspruchsvolle kommunitaristische Gemeinschaftsbegriff weniger die Wirklichkeit beschreibt als vielmehr ein normatives, idealisierendes Gegenangebot zur Zerrissenheit und Gleichgültigkeit der modernen Gesellschaft.41 Diese Zerrissenheit manifestiert sich aber nicht nur im Fehlen der einen integrierenden Tugend, somit als bloße ethische Konfusion innerhalb voneinander getrennter Gesellschaften; schon das Objekt etwaiger Vergemeinschaftungsstrategien scheint sich verflüchtigt zu haben: möglicherweise dezentrierte und desintegrierte, aber nichtsdestoweniger identifizierbare Gesellschaften. Gesellschaftssysteme fallen nicht mehr in allen Facetten mit ihren politischen Rahmen zusammen. Die Rede von den Gesellschafte» versteht sich heute weniger denn je von selbst. Wenn sich der Einzelne nach Auffassung Sandels und Maclntyres nur seiner Abhängigkeit von einem dichten kulturellen Hintergrund bewusst sein muss, um ein moralisches Subjekt sein zu können, dann liegt angesichts einer „Realität der weltweiten netzwerkartigen, heterarchischen, konnexionistischen Verflechtungen von Kommunikation und vor allem der unleugbaren Gleichzeitigkeit aller Weltereignisse"42 nicht nur die Frage nahe, wo es diese Art von gehaltvollen Wertegemeinschaften noch gibt, sondern auch, wo es sie in der Zukunft wieder geben könnte. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass es gerade die spezifisch moderne Tendenz zur Desintegration ist, welche überhaupt erst ein Bedürfnis nach patriotischer Verbundenheit erzeugt. Insofern bleibt Maclntyres Feststellung, dass in modernen nationalen Gemeinschaften „echter Patriotismus" deshalb nicht möglich sei, weil geschichtliche Bindungen durch solche „wechselseitigen Eigeninteresses" ersetzt würden43, ergänzungsbedürftig. Denn historisch betrachtet erscheint das Bewusstsein von geschichtlichen Bindungen gegenüber einem weitgehend anonymen Kollektiv gerade als Konsequenz der Auflösung traditioneller Wert- und Autoritätssysteme. Doch die empirische Plausibilität ist nicht das Einzige, was bestritten werden kann. Im Rekurs auf die Kultur als Set von Werten und darauf Fink-Eitel 1993, 311. Luhmann 1995b, 117 Fn. 30. 4> Maclntyre 1995,99. 41

42

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aufbauenden Praktiken manifestiert sich eine weitere Schwäche kommunitaristischer Diskurse, die es vor allem auf das Denkmuster einer transzendentalen Subjektivität abgesehen haben. Es gelang zwar, die Situiertheit des Individuum wieder stärker in Erinnerung zu rufen, es zeigte sich aber auch, dass man das bekämpfte Paradigma nicht schon durch Rekontextualisierung des Einzelmenschen überwindet. Insofern dessen Individuierung lediglich als Funktion eines nicht näher erläuterten „kulturellen Kontextes" gedacht wird, rückt nämlich die transzendentale Bedingimg der Kulturgemeinschaft an die Stelle des transzendentalen Subjekts. Wenn Sandel darauf insistiert, dass der Reflexionsprozess das Individuum wieder in seine Geschichte entlassen muss, die zwischenzeitige Distanz also immer nur eine „prekäre und provisorische" sein kann, dann hat er einerseits Recht; andererseits aber unterschlägt er damit die Verschlungenheit von Kontextgebundenheit und -Überschreitung - die „schlichte" Tatsache, dass die „individuierende Geschichte" nach der Distanzierung von ihr nicht mehr dieselbe „konstituierende" ist wie davor, zumal die Distanzierung eben nicht in einen luftleeren Raum, sondern nur zu einer anderen Perspektive führt. Nach Fink-Eitels treffender Analyse wird im kommunitaristischen Diskurs das abstrakte, souveräne Individuum ersetzt durch das kollektivpartikulare [/¿«rsubjekt: Der Kommunitarismus verfehlt sein Thema: Gemeinschaft, weil er Gemeinschaft nicht als /«ftr-Subjektivität zu denken vermag. Dies kann er nicht, weil er zugleich zu abstrakt und zu konkret, zu subjektfem und zu subjektnah ist. Er ist zu subjektnah, weil er den Anderen instrumentell nur aus der Perspektive der JV/W-Verständigung des Einen und nicht auch ah Anderen im Blick hat. Und er hat den Anderen zweitens nicht als Anderen im Blick, weil der zu subjektferne, transzendentale Vorrang des übersubjektiven, kulturellen Ganzen die fundamentale Differenz verschleift, die das Individuum - bei aller Gemeinsamkeit - auch von seiner Gemeinschaft und ihrer Sprache trennt.44

Soweit er die Orientierung am kollektiven Guten einer individualistischen Rechts- und Gerechtigkeitskonzeption vorzieht, verschleiere der Kommunitarismus zwei grundlegende Diskontinuitäten: „die durch die Macht bewirkten, sozialen Differenzen und die kontingenten, (inter-)

« Fink-Eitel 1993, 311 f. (Hervorhebungen im Original)

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individuellen Differenzen". 45 Dieser Befund ist um den eines weiteren Mankos zu ergänzen: In seinem prinzipiell durchaus berechtigten Beharren auf der sozialen Konstituiertheit jedes Menschen, tendiert der kommunitaristische Diskurs nicht nur dazu, über gesellschaftliche Konfliktlinien hinwegzusehen, sondern auch über eine, wenn man so will, intraindividuelle Differenz, die es erst ermöglicht, von den „eigenen" konstitutiven Werten im Sinne eigener Überzeugungen zu sprechen - Überzeugungen, mit denen man naturgemäß auch falsch liegen könnte.46 So weist Zizek in seinen Vorlesungen über die Funktionsweise von Ideologie u.a. auf die reflexive Distanz hin, die bereits jeder Rede von „Werten" inhärent ist, egal ob es sich dabei um (sozial-)darwinistische oder um kommunistische handelt. Demnach „besitzt" man Werte entweder oder man nimmt sie gar nicht als solche wahr: Sobald man von „Werten" spricht, hat man Werte a priori als etwas Relatives, Kontingentes gesetzt, deren Bewahrung nicht unzweifelhaft ist, als etwas, worüber zu diskutieren notwendig ist - das heißt, worüber gerade zu werten ist.47

Für den Lacanianer Zizek ist diese Distanz, diese Kluft, die den Einzelnen von seiner Position innerhalb des symbolischen Netzes, nämlich seiner Gemeinschaft oder Gesellschaft, trennt, ein anderer Name für das Subjekt.48 Hier scheint jedoch eine kleine Ergänzung, ein kleines Zugeständnis an die Kommunitaristen angebracht: Man „hat" nur einzelne Wertüberzeugungen, nicht aber das gesamte System von Überzeugungen. Letzteres ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wir über unsere Werte überhaupt diskutieren können. Man kann nicht alle Werte gleichzeitig infrage stellen. Das ist die Spannungslage, die keine Theorie ignorieren darf. Nun könnte man zwar argumentieren, dass diese Spaltung ihrerseits ein historisch kontingentes Produkt ist, man könnte den „abendländischen" Rationalitätsbegriff seiner Partikularität überfuhren, indem man seine soziale Bedingtheit darlegt, doch all dies würde nach Zizek nichts daran ändern, dass Ebd., 312 ff. So auch ausdrücklich, und zwar mit Bezugnahme auf Maclntyre, Laclau 1996b, 60. 46 Allenfalls wird sie als atomistische Verirrang wahrgenommen. 47 Zizek 1994a, 144 f. (Hervorhebung im Original) 48 Identität ist demnach nichts anderes als wiederholte Identifikation (siehe Reese-Schäfer 1999, 14 ff.). 45

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die Epoche der Aufklärung ... alle Epochen beendet .... Der springende Punkt ist schlicht der, dass die Aufklärung wie ein krebsartiges Gewebe jede vorhergehende organische Einheit kontaminiert und sie retroaktiv in eine affektierte Pose verwandelt.49 Mit der „Kontextualisierung" der eigenen Überzeugungen hat man also gleichzeitig die nicht selten als „eurozentrisch" denunzierte Perspektive des rationalen Subjekts bestätigt. Davon abgesehen kann ein Kommunitarismus, der es ja gar nicht auf die Überschreitung kultureller Kontexte anlegt, aus dem Nachweis der Partikularität „westlichen" Denkens keinen Vorteil ziehen. Betreibt der Kommunitarist also modernitätsimmanente Kritik und begibt er sich zu diesem Zweck auf die Suche nach den grundlegenden normativen Überzeugungen seiner politischen Gemeinschaft, dann riskiert er seine Identität als konsequenter Kontextualist. Universalismus und Individualismus sind nämlich die Wesensmerkmale „unserer" (partikularen) Kultur, welche Rechtspositionen sich daraus auch immer ableiten.5" Und solange sich der Kommunitarist auf eine moderne, komplexe Gesellschaft bezieht, dürfen nach Wolfgang Kersting „nicht die partikularistischen Wertorientierungen verblichener Sozialwelten", sondern nur die entsprechenden individualistischen Prinzipien der politischen Moderne „als philosophische Präzisierungen unserer grundlegenden normativen Überzeugungen gelten; diese auch sind allein in der Lage, im Falle individualisierungsbedingter Wertkollisionen aufgrund ihres universalistischen Charakters die für eine mögliche Lösung erforderlichen kontextübergreifenden Kriterien bereitzustellen."51 Und soweit Traditionen geschützt werden sollen, kann man auf die Allgemeinheit der Menschenrechte ohnehin nicht verzichten. „Universalismus und Kontextualismus", meint Albrecht Wellmer, „sind keine Gegensätze; eine .Politik der Differenz' lässt sich ohne den Hintergrund einer universalistischen Moral gar nicht kohärent praktizieren."52 Im Schutz des Konkreten liegt denn auch eine Funktion abstrakter Grundrechte.53

« Zizek 1994, 278 f. 5,1 Siehe Kersting 1994, 86, der auch darauf hinweist, dass das gegenwärtige Abrücken von kulturinvarianten Beweisprogrammen keinesfalls mit einem auf das Ideal partikularer Gemeinschaftsmoralen ausgerichteten Antiuniversalismus gleichzusehen ist. 51 Ebd., 87; wobei natürlich anzumerken ist, dass in der „Präzisierung" immer auch ein Moment des Konstruierens steckt. Siehe im Übrigen auch Walzer 1995. 52 Wellmer 1993,194; siehe auch: Honneth 1994; Laclau 1996a. " Maus 1994a, 1994b.

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Die größte Gefahr für den Kommunitaristen besteht jedoch darin, dass er im Zuge der Exploration seines kulturellen Kontextes nicht auf den eben vorgeführten Individualismus stößt, einen Individualismus, der auf substanzielle Aussagen zur „menschlichen Natur" verzichtet bzw. Letztere in die kontingenten „gesellschaftlichen Verhältnisse" auslagert, sondern auf jene Variante, die persönliche Unabhängigkeit als Essenz und daher Selbstverantwortung und Wettbewerb als höchste Werte betrachtet. Wenn diese Sicht der Dinge tatsächlich das ontologische und normative Paradigma „unserer westlichen Kultur" wiedergibt, dann hat sich seine Argumentation fiir Gemeinsinn und Solidarität erledigt. Der Kommunitarismus träfe sich mit einem Liberalismus, der sein politisches Programm - sofern er sich überhaupt zu einer „anspruchsvollen" Rechtfertigung veranlasst sähe - als Inbegriff der „westlich-kapitalistischen Wertetradition" ausweisen würde.54

3.1.4 Das Gute bei Dworkin Liberale, denen Gleichheit als der zentrale politische Wert gilt, müssen aber noch lange nicht zu jenen Gemeinplätzen greifen, die den modernen oder postmodernen politischen Diskurs beherrschen und als rhetorischer Zierrat jener ideologischen Formation fungieren, die man gemeinhin „Neoliberalismus" nennt. Rawls tut dies nicht, und Dworkin auch nicht. Dennoch gibt es zwischen den beiden einen gravierenden Unterschied: Während Rawls lediglich eine „politische" Version des Liberalismus vorschwebt, die auf eine Fundierung in einer anspruchsvollen Theorie des Guten verzichten kann, präsentiert Dworkin seinen Liberalismus als durchaus umfassendere Lehre, in der die Gerechtigkeit und das Gute in einem starken Sinne miteinander verschmelzen. Dworkin begegnet damit der kommunitaristischen Kritik sozusagen auf Augenhöhe. Allerdings untergräbt er, wie ich zeigen möchte, auf diese Weise auch seine Position gegenüber Policy-Argumenten. Zumindest dort, wo es um fundamentale Rechte wie Grundrechte geht, die typischerweise so formuliert sind, dass ihre Rekonstruktion zu klaren Regeln einigen argumentativen Aufwand erfordert. Doch wie stellt sich Dworkin das Gute vor, und was hat die Gerechtigkeit seiner Auffassung nach damit zu tun? Obwohl H

Koller 1993a, 104 f.

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Rawls sich ausführlicher zu diesem Thema geäußert hat, möchte ich Dworkin deutlich mehr Platz einräumen. Schließlich war es die Idee einer Rechtsgemeinschaft als bloßer „community of principle", die uns als Ausgangspunkt diente. Dworkins These ist, dass, entgegen der Auffassung vieler Kritikerinnen, aber auch solcher Autoren, die sich als liberal verstehen, Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft keine voneinander unabhängige Werte seien. Vielmehr bestehe zwischen ihnen ein Verhältnis der Komplementarität. Für Dworkin sind sie „aspects of a single political vision, so that we cannot secure or even understand any one of these three political ideals independently of the others".55 Um dies zu zeigen, skizziert er eine liberale Theorie des Guten, die - wieder ganz auf Kohärenz - bedacht, beansprucht, besser zu unseren vielfaltigen ethischen Einstellungen zu passen als so manche religiöse, utilitaristische oder schlicht kommunitaristische Theorie. Zuerst wendet er sich gegen diverse Reduktionismen, insbesondere utilitaristischer Bauart, wonach sich die Qualität eines Lebens an Glücksgefühlen bemisst, die aus der Erfüllung von Wünschen resultieren. Dworkin unterscheidet zwischen volitionalem und kritischem Wohlergehen: Someone's volitional well-being is improved, and just for that reason, when he has or achieves what in fact he wants. His critical well-being is improved by his having or achieving what it makes his life a better life to have or achieve.54

Zur Illustration: Ich halte mein Leben für besser, wenn ich nur selten einen Zahnarzt aufsuchen muss. Aber häufige Zahnarztbesuche entwerten mein Leben nicht wie beruflicher Misserfolg. Weder bedaure ich sie nachträglich, noch schäme ich mich dafür. Es ist wichtig für mich, möglichst selten zum Zahnarzt gehen zu müssen, weil ich nicht gern dorthin gehe. Aber ich wünsche mir beruflichen Erfolg, weil er wichtig ist für mich. Und ich glaube, dass er mein Leben besser machen würde, selbst wenn mir nichts an ihm läge. Man könnte auch sagen: Ich beziehe meine Abneigung gegenüber Zahnarztbesuchen nicht, wohl aber beruflichen Erfolg, auf mein Leben als solches. Was das kritische Wohl befördert, liegt nach Dworkin im kritischen Interesse; dem Begriff des volitionalen Wohls wird der Begriff des voliti55 ss

Dworkin 2000b, 237. Ebd., 242.

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onalen Interesses zugeordnet. Kritische Interessen hätten denn auch eine objektive Dimension: Man könne sich über sie täuschen. Kritische Interessen hätten aber auch etwas zum Gegenstand, was man um seiner selbst willen anstrebt: „Indeed it is undoubtedly part of what makes ... interests critical that they are not pursued out of self-interest."57 Damit keine Missverständnisse aufkommen, sollten wir Dworkin hier vielleicht folgendermaßen interpretieren: Mein kritisches Interesse ist durchaus mein eigenes Interesse; aber wenn ich es verfolge, dann nicht aus Eigeninteressiertheit, sondern weil seine Befriedigung mir die Möglichkeit verschafft, ein objektiv gutes Leben zu haben. Dworkin sieht natürlich, dass es einige Verbindungen zwischen volitionalen und kritischen Interessen gibt. Eine Sportart gut zu beherrschen, möge zunächst nur mein volitionales Wohlergehen steigern. Doch ein gewisses Maß an Erfolg bei der Verfolgung volitionaler Interessen liege seinerseits durchaus in meinem kritischen Interesse. Andererseits sei es oft so, dass Menschen bestimmte Dinge einfach wollen, weil sie meinen, ein kritisches Interesse an ihnen zu haben. Aber das müsse nicht so sein. Dworkin erinnert hier an Phänomene wie Akrasia. Willensschwäche Menschen würden oft Dinge wollen und tun, von denen sie wissen, dass sie nicht gut sind für sie. Dworkin weiß aber auch, dass er sich mit seiner Unterscheidung einige Probleme einhandelt. Die Bearbeitung dieser Probleme erfordert weitere Unterscheidungen. Eine Unterscheidung ist für Dworkin dabei essenziell, nämlich die Unterscheidung zwischen einem „Wirkungsmodell" des Guten und einem „Herausforderungsmodell", wobei er dem Letzteren den Vorzug gibt. Doch was sind das für Probleme?58 Zunächst stellt sich die Frage, wie ein einzelnes menschliches Leben überhaupt so etwas wie Wert besitzen kann angesichts des Universums, seiner Größe und seines Alters? Weiters müsste geklärt werden, ob Werte etwas Transzendentes sind oder irgendwie von den realen Lebensverhältnissen abhängen und, wenn Letzteres der Fall wäre, ob sie dann rein subjektiv wären. Außerdem ist fraglich, was die Moral mit dem guten Leben zu tun hat. Dass volitionale Interessen unmoralisch sein können, ist klar. Aber wie steht es mit kritischen Interessen? Und welche Bedeutung hat die Überzeugung eines Menschen, ein gutes Leben zu fuhren, wenn es gilt, 57 58

Ebd., 243 (Hervorhebung im Original). Ebd., 246 ff.

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zu beurteilen, ob dieser Mensch ein gutes Leben fuhrt? Kann jemand ein gutes Leben fuhren und dabei vom Gegenteil überzeugt sein? Schließlich bleibt noch zu klären, wie man den Konflikt löst zwischen unserer Intuition, dass ein gutes Leben etwas Höchstpersönliches ist, und unserer Intuition, dass das, was für eine Person gut ist, bisweilen davon abhängt, was für eine Gemeinschaft, deren Mitglied diese Person ist, gut ist. Bisweilen scheinen sich die kritischen Interessen einer Person aus denen der Gemeinschaft zu ergeben, mit der sich die Person identifiziert. Wie kann man glauben, dass das Gute eine persönliche und zugleich gemeinschaftliche Angelegenheit ist? Dworkin meint nun, dass diese Rätsel lösbar werden, wenn wir uns vor Augen fuhren, dass sie im Grunde nur einen Antagonismus zwischen zwei Wertmodellen widerspiegeln. Nach dem einen Modell, das er das „model of impact" nennt, bemisst sich der Wert eines Lebens daran, welche Wirkungen es in der Welt entfaltet hat: [The model of impact] holds that the ethical value of a life - its success in the critical sense - is parasitic on and measured by the value of its consequences for the rest of the world. ... A life can have more ore less value, the model claims, not because it is intrinsically more valuable to live one's life in one way rather than the another, but because living in one way can have better consequences. 59

Das Problem dieses Modells sei aber, dass es nur zu einem Teil unserer ethischen Überzeugungen und Praktiken passe. Wir hielten eben viele Dinge für wichtig (etwa ein Musikinstrument zu beherrschen), nicht weil wir glauben, dass dadurch die Welt besser werde, sondern weil sie uns an sich, als Bestandteil eines gelungenen Lebens, wichtig erscheinen. Kurz: Das Wirkungsmodell komme nicht wirklich mit kritischen Interessen zurecht. Es lasse sie vielmehr „silly and self-indulgent" erscheinen.60 Das andere Modell, das Dworkin als „model of challenge" bezeichnet, hat dagegen aristotelische Züge: It adopts Aristotle's view that a good life has the inherent value of a skillful performance. So it holds that events, achievements, and experiences can have ethical value even when they have no impact beyond the life in which they occur. ... The model of challenge holds that living is itself a performance that demands skill, that our critical interests consist in the achieve-

50 a>

Ebd., 252. Ebd., 253.

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ments, events, and experiences that mean that we have met the challenge well."

Der Vorzug dieses Modells bestehe u.a. darin, dass es in der Lage sei, auch jenen ethischen Intuitionen gerecht zu werden, denen das Wirkungsmodell erst seine Plausibilität verdanken würde. Wer sein Leben den Armen widme, könne also nach dem einen wie nach dem anderen Modell ein gutes Leben haben. Zwar lasse das Herausforderungsmodell bestimmte ethische Intuitionen ebenfalls seltsam erscheinen, dies aber nach Dworkins Auffassung nur, weil sie seltsam sind. Doch wie kommen nun die beiden Modelle mit den genannten Problemen zurecht? Nun, wer das Wirkungsmodell bevorzugt, müsse jedenfalls erklären, warum eine bestimmte Wirkung sub specie aeternitatis von Bedeutung sein soll. Das Herausforderungsmodell müsse dies nicht.62 Worauf es demnach ankomme, sei einfach, der Herausforderung, die das Leben zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort darstellt, gerecht zu werden. Ob eine Erfindung, eine sportliche Leistung oder die Herstellung eines Kunstwerks ethischen Wert besitzt, habe lediglich damit zu tun, wie sehr man sich dazu überwinden musste, wie viel Leidenschaft man investiert hat, wie originell man war etc. Andererseits müsse man keineswegs etwas Außergewöhnliches zustande bringen, um ein gelungenes Leben zu führen. Das Leben selbst sei schon eine Herausforderung. Welche „Perfortnanz" nun tatsächlich Wert hat, das, so betont Dworkin immer wieder, sagt uns dieses Modell freilich nicht. Weiters schließe das Wirkungsmodell die Auffassung ein, dass ethischer Wert etwas Unabhängiges und Transzendentes sei, das Herausforderungsmodell dagegen nicht.63 Letzteres beziehe den Wert eines Lebens auf die jeweiligen Lebensumstände. Ähnliches verhalte es sich mit ästhetischem Wert. Dieser ergäbe sich ebenfalls nur vor dem Hintergrund einer Kunstgeschichte. Eine Malerin, die als gut gelten will, muss sich demnach im Kontext des Kunstsystems behaupten. Bloß moralisch gut zu sein, reicht nicht aus. Dennoch sei ethischer wie ästhetischer Wert nicht einfach etwas Subjektives: fTjhe artistic analogy reminds us that the value o f a performance can be indexed without being subjective, because the indexing can be provided by

" Ebd. (Hervorhebung im Original) « Ebd., 255 ff. « Ebd. 257 ff.

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parameters of challenge that change with time and situation, but that nevertheless pose categorical demands.64 Bei der Frage nach dem guten Leben könne es daher nicht darum gehen, welches Leben immer und überall als ideal gelten soll. Welche Rolle spielt nun die Moral in einem gelungenen Leben? Kann ein ungerechtes Leben gut sein? Genauer: Können ungerechte Handlungen zu einem guten Leben beitragen? Und wie verhält es sich, wenn zwar nicht die Handlungen, aber die sozialen Verhältnisse ungerecht sind?65 Auf die erste Frage gibt das Wirkungsmodell nach Dworkin keine klare Antwort. Je nachdem, was man als wertvolle Wirkung ansieht, müsse diese Frage positiv oder negativ beantwortet werden. Allerdings ergebe sich aus diesem Modell, dass die Ungerechtigkeit der Verhältnisse nicht verhindern können, einen gutes Leben zu führen. Zwar könne jemand Wohlhabendes immer wesentlich mehr bewirken als ein Armer, aber nur, weil er einfach über mehr Ressourcen verfüge. Nach dem Herausforderungsmodell dagegen spielt Dworkin zufolge die Gerechtigkeit eine ganz entscheidende Rolle: If living well means responding in the right way to the right challenge, then someone's live goes worse when he cheats others for his own unfair advantage. It also goes worse when, even through not fault of his own, he lives in an unjust society, because he cannot face the right challenge whether he is rich, with more than justice allows him to have, or poor, with less.6' Die Begründung dafür lautet: In einer ungerechten Gesellschaft könnten die Reichen nicht jene Beziehungen zu anderen, insbesondere den Armen, aufbauen, die ein gutes Leben auszeichnen. Dazu verhelfe nicht einmal individuelle Wohltätigkeit. Soziale Gerechtigkeit sei eine Frage der Institutionen. Ohne solche könne man nicht sagen, welcher Anteil am gesellschaftlichen Reichtum einem zusteht. Offen bleibe nur, ob Gerechtigkeit als „harter" Parameter des Guten anzusehen ist, mithin Ungerechtigkeit jedes Leben vollständig entwertet, oder als „weicher" Parameter, so dass Gerechtigkeit zwar ebenfalls konstitutiv für ein vollends gelungenes Leben wäre, Ungerechtigkeit das individuelle Leben aber nur irgendwie defizient macht. Dworkin scheint eher letzterer Auffassung zuzuneigen. Doch jedenfalls gelte, dass man mit einem Anteil,

" Ebd., 259. 65 Ebd., 263 ff. " Ebd., 265.

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der das gerechte Maß übersteigt, höchstens sein volitionales Wohl steigern, nicht aber sein kritisches Wohl vollständig realisieren kann.67 (Ich werde später diese Einsicht beherzigen und behaupten, dass zumindest krasse Ungerechtigkeit niemals dem Gemeinwohl, verstanden in einem bestimmten Sinne, dienen kann.) Nun könnte man meinen, dass die Unterscheidung zwischen volitionalem und kritischen Wohl und die Affirmation des Letzteren, mit einem Liberalismus schwer zu vereinbaren sei. Aber Dworkin entkoppelt das Gute keineswegs von dem, was von einer Person für das Gute gehalten wird. Er vertritt vielmehr die Ansicht, dass ein gutes Leben, das von der Person, die es führt, nicht für ein solches gehalten wird, auch nicht gut sei. Die Überzeugung, ein gutes Leben zu führen, sei durchaus konstitutiv. Nach dem Wirkungsmodell dagegen verhalte es sich anders. Wie jemand demnach über sein Leben denke, sei weitgehend unerheblich. Worauf es ankomme, seien objektiv wertvolle Wirkungen. Das Herausforderungsmodell führe aber auch nicht in den Subjektivismus: „When I consider what life is best for someone else, I must take his settled convictions into account, just as facts, in my judgement about what kind of life he should lead." 68 Dies schließt diverse Paternalismen natürlich weitgehend aus. Zwar könne man glauben, dass ein anderes Leben als das von ihr geführte für eine andere Person besser wäre, doch zugleich könne man wissen, dass ihr Leben noch schlimmer würde, wenn man sie zu diesem anderen Leben nötigte. Natürlich sei es immer möglich und zulässig, die andere Person zu einem anderen Leben zu überreden. Aber darf man auch den gesellschaftlichen Kontext, der die notwendigen Herausforderungen generiert, als Ganzes verändern? Hier wird Dworkin vage, und hier kann dann auch die Kritik ansetzen. Dworkin meint nämlich, dass zwar „kultureller Paternalismus" ebenso unzulässig sei wie andere Formen der Bevormundung. Aber: That does not mean that government has no responsibility for the cultural background against which people decide how to live. A government anxious to provide the right circumstances for citizens' choosing how to live might In der Tradition der Continental Philosiphy Sozialisierte denken in diesem Zusammenhang natürlich sofort an Adornos berühmtes Diktum: „ E s gibt kein richtiges Leben im falschen" (Adorno 1997, 42). Bei Adorno kommt der Begriff des Interesses in der Folge aber nur mehr negativ konnotiert vor, als Chiffre für Kälte und Geisdosigkeit. 68 Dworkin 2000b, 271. 67

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well strive that its community's culture provide opportunities for and examples of lives that have been thought good by reflective people in the past, and that might sensibly and properly be lived now, particularly if popular culture provides few examples of those lives.69 Jedenfalls dürfe der Geset2geber aber gestaltend in den "kulturellen Hintergrund" eingreifen, soweit es gilt, Gerechtigkeit im Sinne Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit70 zu gewährleisten.71 Ich komme gleich darauf zurück. Zuvor noch Dworkins Auflösung des letzten Dilemmas: Ist es sinnvoll zu glauben, dass individuelle kritische Interessen mit jenen einer Gemeinschaft verbunden sein können? Nach dem Wirkungsmodell sei dies nur dann der Fall, wenn die positiven Wirkungen individueller Handlungen dadurch stärker würden, dass die Handlungen als Beitrag zu einem gemeinschaftlichen Unternehmen verstanden werden. Liegt aber keine Gefangenen-Dilemma-Situation vor, könne sich man sich mit dem Wirkungsmodell keinen Reim auf die Überzeugung machen, dass ein individuelles Leben bisweilen besser wird, wenn die Interessen einer Gemeinschaft verfolgt werden. Kurz: Dieses Modell komme mit starken kollektiven Identifikationen nicht zurecht, das Herausforderungsmodell hingegen durchaus: The model of challenge puts ethical integration in an entirely different light. ... It need only show how ethical integration might sensibly seem an appropriate response to an important parameter of an individual's circumstances - the fact that he lives bound up with other people in a variety of communities.72 Wenn uns das Herausforderungsmodell also auch nicht sage, was genau nun ein gutes Leben ist, so erweise es sich doch deutlich kompatibler mit unseren ethischen Intuitionen. Das klingt alles ziemlich plausibel. Darüber hinaus aber stütze dieses Modell, meint Dworkin, auch die Idee, dass Gleichheit immer Ressourcengleichheit und nichts anderes bedeuten könne: We live in pluralist societies: People disagree about how, concretely, to live well. Government might try to surmount this difficulty by choosing one conception of living well - say, the hedonistic conception - and using that conception to judge everyone's success. But ethical liberals could not accept " Ebd., 274. 7 " Ich habe diese Theorie in der Einleitung kurz dargestellt. 11 Dworkin 2000b, 282 (siehe auch Dworkin 2000a). 72 Dworkin 2000b, 276.

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this, because government would then usurp the most important part of challenge people face in leading a life, which is identifying life's value for themselves. 73

Außerdem sei fur Ethisch-Liberale klar, dass man erst wissen könne, was die eigenen kritischen Interessen sind, wenn man eine Vorstellung davon habe, wie eine gerechte Ressoutcenverteilung aussehen müsste. Mit einer schwachen Theorie des Guten, wonach die Qualität des eigenen Lebens mit der Menge der Ressourcen, die man zur Verfugung hat, zunimmt, könnten sie nichts anfangen.74 Wie es scheint, hat Dworkin bewiesen, dass Gerechtigkeit und das Gute, individuelle Rechte und Gemeinschaftsinteressen, wechselseitig aufeinander bezogen werden können, ohne dass dieser Zusammenhang ein Dilemma ergibt. Doch ist Dworkin wirklich jene Begründung für den Liberalismus gelungen, auf die Rawls glaubt, verzichten zu müssen? Ich möchte auf drei Punkte hinweisen. (1) Dass bei Dworkin die Theorie des Guten und die Theorie der Gerechtigkeit/Gleichheit einander wechselseitig zu bestärken scheinen, hat m.E. nicht zuletzt mit dem Abstraktionsgrad Ersterer zu tun. Insbesondere hat Dworkin einen Konflikt, den er angesprochen hat, nicht wirklich aufgelöst. Was, wenn ein Teil der Gemeinschaftsmitglieder ihre kritischen Interessen enger mit dem Wohl der Gemeinschaft verbunden sehen als der andere Teil? Diese Frage aber kann Dworkin noch beantworten. Man darf vermuten, dass er individualistisch konzipierten kritischen Interessen im Zweifelsfalle den Vorzug gibt. Und er wird wahrscheinlich auf die Bedeutung der Ressourcengleichheit hinweisen. Außerdem wird er sagen, dass jene, die, was immer sie sonst noch sein mögen, auch Liberale in einem ethischen Sinne sind, tolerant sein und sich mit Argumenten behelfen müssten. Vielleicht wird er ihnen noch Rhetorik und Polemik zugestehen. Jedenfalls aber soll jeder das Recht haben, andere mit diskursiven Mitteln zu bekehren. Auf die Frage, warum beispielsweise religiöse Menschen nicht an ihren möglicherweise höchst idiosynkratisch anmutenden Überzeugungen, was das Gute angeht, festhalten sollen, antwortet Dworkin: They should. The question is not whether they should campaign for the good as they see it, but how. Liberal tolerance denies them only one

71 74

Ebd., 277. Ebd., 278.

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Rechte und Ziele weapon: they must not use the law, even when they are in the majority, to forbid anyone to lead the life he wants, or punish him for doing so, just on the ground that his ethical convictions are, as they believe, profoundly wrong. ... Ethical liberals know that they cannot make other people's lives better by the coercive means that liberal tolerance forbids, because they know that someone's cannot be improved against his steady conviction that it has not been. 75

(2) Andererseits aber hat sich auch eine liberale Gemeinschaft soweit paternalistisch zu gerieten, wie dies notwendig ist, um jene „freiheitliche Kultur" zu reproduzieren, auf deren „Entgegenkommen" ihre politischen Institutionen angewiesen sind.76 Selbst Dworkin hält es nicht für ausgeschlossen, das die Gemeinschaft in die Kultur als Ganzes interveniert. So spricht er durchaus von der „possibility that the community should collectively endorse and recommend ethical ideals not adequately supported by the culture".77 Allerdings dürfe es sich nur um kurzfristige und nicht allzu invasive Maßnahmen handeln. Überdies müsse es wahrscheinlich sein, dass sie von nichtmanipulierten Menschen befürwortet würden. Damit setzt Dworkin sich jedoch wieder dem Vorwurf aus, ein Subjekt ohne Identität zu imaginieren. Dem könnte er entgehen, wenn er ein Kriterium angäbe, welches es erlaubt, genuine Zustimmung von manipulativ erschlichener Zustimmung zu unterscheiden. Dieses Kriterium sollte das Urteil über die Rationalität der Zustimmung nicht einfach von der Maßnahme, der zugestimmt wurde, abhängig machen. Dworkin könnte aber auch auf eine so anspruchsvolle Begründung liberaler Politik verzichten und einfach darauf verweisen, dass der Liberalismus als beste aller Theorien oder Ideologien für seine eigene Reproduktion sorgen können muss. Die Ansprüche auf Wirkungsmacht und Konsistenz müssten eben optimal eingelöst werden. Also: Ein wenig Paternalismus, um weiter gehende Paternalismen zu verhindern. Was aber, wenn die Wahrung kritischer Gemeinschaftsinteressen oder der Interessen einer bestimmten Gruppe, und sei es der Mehrheit, den Einsatz rechtlicher Mittel erfordert? Man denke etwa an die Frage, ob ein Land der Europäischen Union beitreten soll. Das ist sicher nicht ausschließlich eine Frage der Gerechtigkeit, aber zweifellos eine, die das 75

Ebd., 283. " Zu dieser Abhängigkeit des Rechtsstaats von einer Kultur, die er als solcher nicht generieren kann, siehe Habermas 1993, 366; 1996b 311 ff. 77 Dworkin 2000b, 274.

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Leben der Menschen bzw. deren Chancen, ein gutes Leben zu fuhren, berührt. Jedenfalls wird dabei auch über eine Konzeption des kollektiv Guten entschieden. So muss geklärt werden, wie wichtig bestimmte nationale Traditionen sind, die sich in der Rechtsordnung der größeren Gemeinschaft nicht erhalten ließen? Was ist z.B. eine „Sozialpartnerschaft" wert? Und kann ein solches halbformelles Verhandlungs- und Konfliktlösungssystem noch eine Funktion erfüllen, wenn ein Großteil der wirtschaftspolitischen Kompetenzen denationalisiert ist? (3) Versteht es sich wirklich von selbst, dass der Staat hinsichtlich des Guten weitgehend neutral zu sein habe, während der Markt, den Dworkins Konzeption der Ressourcengleichheit legitimiert, dies ganz und gar nicht ist, sondern die Möglichkeit, ein Leben zu führen, das man selbst für gut hält, durchaus von den Präferenzen der Mehrheit abhängig macht? Dworkin möchte, wie viele liberale Egalitaristen, Institutionen des Ausgleichs jener Nachteile begründen, die aus einer ungleichen persönlichen Ausstattung der Menschen, oder allgemeiner: die nicht aus freien Entscheidungen resultieren.78 Der Staat mag sich dieser Konzeption zufolge durchaus neutral gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen verhalten. Und tatsächlich lässt Dworkins Liberalismus keinen direkten rechtlichen Zwang zu - dafür überlassen die rechtlichen Institutionen der Gesellschaft dem Markt die Entscheidungsbefugnis. Nur ist Markt kein Subjekt, das für seine Entscheidungen verantwortlich wäre. Alles, was er tut, ist einen Output hervorbringen. Dabei spielt dann Gleichheit keine Rolle mehr. Wer extravagantere Vorstellungen vom guten Leben hat, sich also beispielsweise der Religionsphilosophie widmen möchte, dessen Chancen, sein Leben rückblickend als gelungen anzusehen, stehen deutlich schlechter als die eines „angepassteren" Menschen. Denn — wie Somek ausführt: Was als Ressource zu betrachten ist, bestimmt sich danach, was andere für eine solche halten. Ihr Wert bemisst sich an deren Wertschätzung. Das ei-

Diese Ambition kennzeichnet gewissermaßen den egalitären Liberalismus (Roemer 1994, 179 f.; Scheffler 2003, 5). Für eine Kritik an dieser Verkürzung des Egalitarismus siehe Anderson 1999, 295 ff. und Fraser 1997. Fraser plädiert darin für eine Politik, die darauf abzielt, Strukturen und Institutionen zu transformieren. Nicht zuletzt müssten Produktionsstrukturen geändert werden. Umverteilung bei gleichzeitiger Affirmation der Produktionsstrukturen führe unweigerlich in ein Dilemma. Die Nutznießer hätten dann nämlich mit Anerkennungsproblemen zu kämpfen. Zuerst würden sie als hilfsbedürftig, am Ende aber als unersättlich wahrgenommen. 78

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gene Gute gerät damit inhaltlich in Abhängigkeit von dem, was andere in ihrer Eigenschaft als Marktteilnehmer für gut erachten. Das kann dazu fuhren, dass bestimmte Lebensprojekte unerschwinglich werden.79 In Dworkins liberaler Gemeinschaft kann man also keineswegs wohlüberlegte Entscheidungen über das Gute treffen. Die Entscheidung haben, wenn man so will, immer schon andere getroffen. Elizabeth Anderson bringt das Problem auf den Punkt, wenn sie sagt, „that real or hypothetical market choices offer no guidance whatsoever to what citizens are obligated to provide to one another on a collective basis".80 Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass von der Gemeinschaft unter Marktbedingungen in Fragen des Guten kein Zwang ausgeht.81 Für den Markt müsste es somit noch andere Argumente geben als das Argument der Gleichheit; noch etwas muss gut sein an ihm. Wer will, dass Fragen des Guten im Wege des (wie immer polemischen) Diskurses entschieden werden und dass nicht nicht-diskursive, ökonomische Zwänge die individuellen Antworten determinieren, muss auch für die entsprechenden rechtlichen Vorkehrungen sorgen. Gleichheit, wie immer verstanden, ist nicht bloß eine Bedingung für das gute Leben. Der Gehalt dieses Postulats hängt selbst von anspruchsvolleren Konzeption des Guten, nicht zuletzt des kollektiv Guten, ab.82 Wenn aber die Ressourcengleichheit nicht als tranzendental betrachtet werden kann, sondern mit einer beSomek 1998b, 24 (Hervorhebung im Original, Zitat getilgt). Anderson 1999, 310. 81 Im Übrigen lässt auch Walzers Konzeption „komplexer Gleichheit" (Walzer 1994) wesentlich weniger Pluralität zu, als man sich bisweilen von ihr verspricht. Damit wird fraglos eine bestimmte Lebensform privilegiert. Die Differenzen, die sie zulässt, sind alles andere als spektakulär, jedenfalls aber nicht besonders tiefgehend. Das ist freilich kein Vorwurf, sondern nur eine Warnung vor übertriebenen Hoffnungen. Als kommunitaristisch gefärbte Spielart des Liberalismus weist Walzers Theorie der autonomen Gerechtigkeitkeitszonen, wonach es vor allem darauf ankommt zu verhindern, dass der Besitz eines Gutes nicht automatisch Vorteile bei der Verteilung anderer Güter nachzieht, durchaus Ähnlichkeiten mit Dworkins ethischem Liberalismus auf. Anders als Dworkin kennt Walzer allerdings kein Kardinalgut wie Ressourcen, welches gleich zu verteilen wäre. Walzer hat es vielmehr, wie David Miller hervorhebt, auf Statusgleichheit abgesehen. Status sei aber kein Gut wie andere Güter (siehe Miller 1995, 199 f.) Zur entsprechenden Unterscheidung zwischen einem individualistischen und einem holistischen Gleichheitsverständnis Miller 1999, 232. Im Übrigen, so könnte man gegen „Präferenzindividualisten" allgemein einwenden, erscheint staatliche Einmischung gerade deshalb oft als legitim, weil der Markt die Ausbildung von Präferenzen provoziert, die die Autonomie von Individuen beeinträchtigen (siehe nur Sunstein 1997a, 19). 82 Somek 2001, 52. 79

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stimmten Vision des Guten verknüpft bleibt, und wenn das Leben eines Individuums nur unter der Voraussetzung wirklich gut ist, dass es von diesem als gut erkannt wird, ohne dass kritische Interessen selbst auf Willensakte eines Individuums zurückgehen - dann ist zumindest bei der Durchsetzung von Konzeptionen des gelungenen Lebens Vorsicht geboten. Nur: Ganz ohne Patemalismus wird man nicht auskommen. Dieses Moment der rhetorischen oder gar physischen Gewaltsamkeit kennzeichnet denn auch das, was man „das Politische" nennt. Im Übrigen, so könnte man insbesondere gegen Dworkin einwenden, leiste seine Vision der guten Gesellschaft einer Proliferation von Rechten Vorschub, welche den Handlungsspielraum des Gesetzgebers soweit einschränkt, dass der demokratische Diskurs schließlich zur Begleitmusik der Exekutive verkommt.*3 Doch nicht nur in der Politik des politischen Systems geht es immer um mehr als präexistente Rechte, auch das Rechtssystem kann Rechte nur rekonstruieren, indem es auf Interessen abstellt. Damit stellt sich allerdings die Frage, was Rechte und Interessen miteinander zu tun haben, und welche Rolle kollektive Interessen, mithin das, was für die Gemeinschaft gut ist, dabei spielen. Auf diese Weise kommen wir noch einmal auf einige Motive von Dworkins Theorie des Guten zurück, und zwar ausgehend von jener Einsicht, die der Interessenjurisprudenz ihren Namen gab: dass Rechte sich letztlich immer auf Interessen beziehen.84

Für eine liberale Kritik an der liberalen Neigung, den moralischen Diskurs auf einen Diskurs über Rechte zu reduzieren, siehe Rorty 2000c. Im Ergebnis ähnlich, vor allem aber auch skeptisch, was die politischen Segnungen einer vermeintlichen Alternative, nämlich des Dekonstruktivismus, angeht, Hiebaum 2001b. 14 Siehe dazu nur Bydlinski 1991, 113 ff. Im Übrigen ist diese Bindung der Rechte an Interessen (wenigstens in Österreich) so eng, dass Rechte völlig losgelöst von den Interessen, die sie schützen, gar nicht geltend gemacht werden können („Rechtsmissbrauch"), ja dass der Gebrauch eines Rechts mit der bloßen Absicht, einem anderen zu schaden, haftbar machen kann (§ 1295 Abs. 2 ABGB). 83

3.2 Interessen Was bisher gesagt wurde, muss jenen, die von einer im Grunde unpolitischen Rechtsprechung träumen, unbefriedigend erscheinen, hat es doch den Anschein, als ob Gemeinwohlorientierung und so etwas wie Rationalität einander ausschließen. Dass dies nicht der Fall ist, habe ich bisher kaum mehr als angedeutet (1.5.2). Wer in diesem Zusammenhang „Rationalisierung" liest, denkt natürlich sofort an Modelle der Vermitdung partikularer Interessen. Doch gewinnen wir mit dem Rekurs auf partikulare Interessen so etwas wie festen empirischen Boden unter den Füßen? Andererseits: Wenn das Recht mit Interessen 2u tun hat, kann es dann juristische Objektivität geben? Bestimmen letztlich nicht die einzelnen Rechtsadressaten, was ihre Interessen sind? Diese Frage werde ich im Folgenden - inspiriert von Dworkin - verneinen. Jedenfalls, so lautet meine These, gibt es keine „Interessensouveränität". Dass hier objektive Momente eine Rolle spielen, soll aber nicht zu einem apolitischen Szienüsmus verleiten. Die Identifikation von Interessen ist auch keine rein empirische Angelegenheit. Ein Interessenpositivismus erscheint gänzlich unangemessen. Sogar dann, wenn man sich auf sein Verständnis des Kontexts verlässt, in dem sich die „normalen" Interessen konstituieren, kommt man als Rechtsanwender nicht um eine Bewertung herum. Kontexte sind nämlich naturgemäß unbestimmt. Etwas über sie auszusagen bedeutet zugleich, sie zu transzendieren. Und damit befindet man sich auf dem Terrain der Politik. Umso mehr, als es gilt, die relative Schutvç Würdigkeit von Interessen zu beurteilen. Die Beziehung zwischen Rechten und öffentlichen Zielen, die bei der Konkretisierung von Rechten immer wieder aufs Neue rekonstruiert werden muss, war schon das Thema der vorangegangenen Ausführungen. Und sie wird uns noch weiter beschäftigen. Im Folgenden nehmen wir dazu die Perspektive der politischen Theorie und der Soziologie ein und beschreiben sie als Beziehung zwischen Interessen. Ein Recht, welches über seine Argumentationsformen reflektiert, kommt um diese Fremdreferenz nicht herum. 1 Allerdings wird eine Analyse des Begriffs ergeben, dass schon die bloße Identifikation von Interessen normative bzw. eva-

' Zum Rekurs auf Interessen als Konstruktion einer Fremdreferenz für interne Zwecke siehe Luhmann 1995c, 394 f.

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luative Urteile einschließt.2 Jedenfalls gilt dies für kritische Interessen im Sinne Dworkins. Rechtsanwenderinnen haben überdies zwischen schutzwürdigen und weniger schutzwürdigen Interessen zu unterscheiden. Und damit kommen wieder jene Fragen aufs Tapet, die schon Gegenstand der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen waren.

3.2.1 Der Begriff des Interesses Beginnen wir mit einer etwas seltsamen Frage: Warum sollten wir sagen, das Recht handle von Interessen, und nicht bloß von Wünschen oder Präferenzen? Die Antwort könnte lauten: Weil das Recht lediglich mit einem bestimmten Maß an Komplexität zurecht kommt und viele Präferenzen auf eine gewisse Weise subjektiver und flüchtiger sind als Interessen. Wenn wir unter Präferenzen nichts anderes verstehen als wie immer zustandegekommene Wünsche, dann schützt sie das Recht nur soweit, wie sie mit (intelligiblen) Interessen zusammenfallen. Natürlich wird das geschützte Interesse in der Regel weit genug sein, um eine Vielzahl von Wünschen abdecken zu können.3 Dennoch hängt die rechtliche Erzwingbarkeit der Erfüllung eines Wunsches vom rechtlichen Schutz eines entsprechenden Interesses ab, und sei es das Interesse an der Freiheit, seinen spontanen Neigungen nachzugehen. Doch wodurch unterscheiden sich Interessen und Wünsche?4 Inwiefern ist „X ist in As Interesse" nicht gleichbedeutend mit „A wünscht sich X"?5 Im Übrigen kann man sich nur darüber wundern, dass bisher dem Begriff des Interesses keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Er taucht in ethischen, juristischen und politischen Texten zwar immer wieder auf. Was darunter zu verstehen ist, wird aber nur selten expliziert. Die folgenden Bemerkungen sollen daher auch die Vielschichtigkeit des Begriffs vor Augen fuhren. 1 Siehe in diesem Zusammenhang auch Regan 1983, 120: „[RJights are special protections accorded certain preferences in the form of extra weighting." (Hervorhebung, C. H.) Damit einer Präferenz ein Extragewicht in Form rechtlichen Schutzes zukommen kann, muss sie sich, wenn man so will, als token eines type ausweisen lassen, als Ausdruck eines legitimen oder schutzwürdigen Interesses. 4 Zur Entwicklung des Diskurses um Interessen siehe nur Hirschman 1987, 39 ff.; 1989. 5 Es gilt hier zunächst, etwas präziser zu sein als einige Vertreter der lnteressenjurisprudenz, die den Interessenbegriff mit dem Präferenzbegriff zusammenfallen lassen. Siehe nur Heck 1932, 27, wonach Interessen „Begehrungsdispositionen" sind, welche freilich nicht unmittelbar zu beobachten seien: „Wir erschließen sie nur aus den verursachten Handlungen oder daraus, dass soziale Grundlagen vorhanden sind, die nach der Erfahrung des 1

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Nach Brian Barry lassen sich mindestens fiinf Unterschiede feststellen.6 (1) Bisweilen wünschen sich Menschen einen Zustand, der nicht durch menschliche Intervention herbeigeführt werden kann, etwa schönes Wetter. In diesem Fall sagen wir Barry zufolge nicht, dass schönes Wetter in irgendjemandes Interesse liegt, sondern einfach nur, dass schönes Wetter gewünscht wird. Der Satz „X ist in As Interesse" ergibt demnach nur Sinn, wenn mit X eine Handlung oder ein Entscheidungsprogramm gemeint ist. „A täuscht sich mit Bezug auf seine Interessen" bedeutet daher auch nicht „A weiß nicht, was gut für ihn ist", sondern lediglich „A weiß nicht, welche Konsequenzen eine bestimmte Entscheidung für ihn hat". Kurz: Interessen haben etwas mit Handlungen zu tun, während Wünsche sich auf wesentlich mehr beziehen können. Nun kann man bezweifeln, dass der Satz „Schönes Wetter liegt im Interesse von Bergsteigern" im Grunde unsinnig ist. Doch das braucht uns nicht weiter zu beschäftigen. Schließlich haben wir es hier ohnehin nur mit Entscheidungen bzw. Entscheidungsprogrammen zu tun. (2) Aber könnte man nicht den Satz „Eine Entscheidung X ist in As Interesse" durch den Satz „A wünscht Entscheidung X" ersetzen? Nun, ob X in As Interesse liegt, lässt sich zunächst durchaus ohne Bezugnahme auf die Wünsche von A ergründen. Möglicherweise hat A nicht einmal eine Ahnung von der Option X. Hinzu kommt, dass sich Menschen, die sich für oder gegen X entscheiden müssen, nicht einfach fragen können, ob sie X wünschen. Vielmehr fragen sie, ob X in ihrem Interesse liegt. „X ist in As Interesse" ist daher nicht gleichbedeutend mit „A wünscht X". Allerdings könnte „X ist in As Interesse" zunächst einmal durchaus dasselbe bedeuten wie „A wünscht sich die Konsequenzen von X". Unter der Voraussetzung, dass es sich bei den Konsequenzen um halbwegs kurzfristige Folgen handelt und dass A eine „durchschnittlich kompetente" Person ist, womit bereits der „objektivere" Charakter von Interessen sichtbar wird.

Lebens solche Dispositionen zu erzeugen pflegen. Der Sprachgebrauch der Gegenwart bezeichnet nun solche Begehrungsdispositionen, soweit sie sich auf Kulturgüter beziehen, und die begleitenden Vorstellungen, die Grundlagen und die Objekte, als Interessen. Dabei gebrauchen wir das Wort Interesse für jede kulturelle Begehrungsdisposition, ohne Rücksicht auf die besondere Art des begehrten Objekts. Wir reden heute nicht nur von materiellen, sondern ebenso von idealen, religiösen, nationalen, ethischen Interessen." 6 Barry 1990,178 ff.

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(3) Weiters muss man nach Barry, wenn man Interessen als spezielle Wünsche ansehen will, Wünsche ausschließen, die sich auf Konsequenzen für andere Leute beziehen. Auch diese Behauptung lässt sich bezweifeln. Man denke nur daran, dass heute in der ökonomischen Theorie verstärkt auch Präferenzen berücksichtigt werden, die die relative Position von Akteuren betreffen.7 Und wenn diese Präferenzen nur als hinreichend gewöhnlich begriffen werden, werden sie zu Interessen gerinnen. Sie erfahren damit eine Objektivierung. Man kann sich wieder über sie täuschen. Der Punkt bleibt jedoch: Interessen haben etwas Objektives an sich. Vielleicht könnte man sie als allgemein antizipierte Wünsche betrachten. (4) Interessen sind generalisierte Mittel zur Erreichung einer Palette von Zielen.8 „X ist in As Interesse" bedeutet nicht „X erfüllt die unmittelbaren Wünsche von A". Es bedeutet lediglich, dass X die Erfüllung von As Wünschen begünstigt. Entscheidungen, die einer Person ein größeres Einkommen verschaffen, mögen daher in deren Interesse liegen. Wenn das Einkommen jedoch ausgegeben wird, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen (etwa nach Unterhaltung), dann sagt man nicht mehr, die Ausgaben seien im Interesse dieser Person gelegen, es sei denn, die Ausgaben hätten einem weiteren Zweck gedient (etwa jemanden mit seinen kulturellen Präferenzen zu beeindrucken).5 Sich bloß zu vergnügen mag von jemandem gewünscht werden, liegt aber nicht seinem Interesse. Wenn etwas in jemandes Interesse liegt, dann deshalb, weil es ihm in Aussicht stellt, dass seine Wünsche erfüllt werden. Mit dem Interesse hat man daher eine Kategorie bei der Hand, die einen davon entlastet, die Wünsche der Menschen genau aufzulisten und ihre Gewichtung in Erfahrung zu bringen. Interessen sind also auch insofern objektiver, als sie sich bei Menschen, die unter vergleichbaren Bedingun-

Eine Definition von Pareto-Superiorität wie jene bei Murphy/Coleman 1990, 182 trägt diesem Umstand bereits Rechnung: „Si is Pareto superior to S if and only if no one prefers S to Si and at least one person prefers Si to S." Allgemein zur Relationalität sozialer Positionen, mit denen naturgenäß auch Positionsbehauptungsinteressen verbunden sind, Laclau 1993. 8 Siehe auch Bayles 1978, 100; Benditt 1972/73, 297. 9 Wünsche sind natürlich auch nicht dasselbe wie Bedürfnisse. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie nicht mit Interessen zusammenfallen. Siehe Connolly 1993, 59 ff. 7

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Rechte und Ziele

gen leben, weitgehend gleichen (was natürlich nicht bedeutet, dass sie harmonieren). 10 (5) Bisweilen hindert man Personen auch daran, sich ihre Wünsche zu erfüllen, mit dem Argument, das sei nur in ihren eigenen Interesse. Hat man damit das Interesse idealisiert? Nach Barry nicht. Barry differenziert lediglich zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Wünschen. Der Schutz von Interessen dient demzufolge nichts anderem als der Möglichkeit, sich zukünftige Wünsche zu erfüllen. Den Einwand, dass das Argument, der anderen Person (etwa einem Kind) nur in deren eigenen Interesse Beschränkungen aufzuerlegen, oft nur Gründe verschleiert, die nichts mit den Wünschen dieser Person zu tun haben, lässt Barry nicht gelten. Das paternalistische Argument werde nämlich nur in ganz bestimmten Kontexten sinnvoll gebraucht. Nicht alles, was Eltern ihren Kindern zumuten (z.B. in die Schule zu gehen), sei ausschließlich von der Überlegung getragen, es läge im Interesse der Kinder. Die Zumutung des Schulbesuchs braucht demnach nicht mit dem wohlverstandenen Interesse der Kinder gerechtfertigt zu werden. Es genügt, auf die gesetzlich verankerte Schulpflicht hinzuweisen. Was immer man nun im Einzelnen von diesen Unterscheidungen halten mag — sie machen eines deutlich: Interessen fallen nicht ohne weiteres mit Wünschen zusammen. Die begriffliche Unterscheidung lässt sich auch empirisch plausibilisieren. Unter bestimmten Bedingungen werden die Wünsche von Menschen, nicht aber das, was wir ihre Interessen nennen würden, ganz und gar anspruchslos. Besonders deutlich wird dies an einem Beispiel von Amartya Sen: A thoroughly deprived person, leading a very reduced life, might not appear to be badly off in terms of the mental metric of desire and its fulfilment, if the hardship is accepted with non-grumbling resignation. In situations of long-standing deprivation, the victims do not go on grieving and lamenting all the time, and very often make great efforts to take pleasure in small mercies and to cut down personal desires to modest - "realistic" - proportions." Am ehesten fallen Interessen und Wünsche noch zusammen, wenn wir sagen: „A ist an X interessiert". Hier haben wir es nicht unbedingt mit kritischen, sondern möglicherweise nur mit volitionalen Interessen im

10 11

Benditt 1972/73, 298. Sen 1992, 55.

Interessen

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Sinne Dworkins zu tun. Barrys Definition verbindet auf eine gewisse Weise volitionale mit kritischen Interessen. Und das ist keineswegs unplausibel, wenn man volitionale Interessen hinreichend abstrakt bestimmt. Der Wunsch, ein gutes Leben zu fuhren, ist jedoch nicht selbst schon ein Interesse. Und wenn dieser Wunsch rational ist, dann nicht, weil er einem Interesse dient.12 Hingegen scheint eine Vorstellung davon, was ein gutes Leben ist oder sein kann, notwendig, um Interessen identifizieren zu können. Was nicht bedeutet, dass alles, was ein individuelles Leben zu einem guten Leben macht, unter das Eigeninteresse der fraglichen Person subsumiert werden kann. Mutter Theresa etwa führte nach allem, was man weiß, ein gutes Leben, und man darf annehmen, dass sie ihr eigenes Leben als gut ansah. Dennoch bestand ihr Leben zu einem großen Teil in der Verfolgung nicht ihrer eigenen, sondern fremder Interessen. Wie auch immer, rechtliche Instanzen können nicht jedes Individuum fragen, woran es interessiert ist, sondern sie fragen nach Interessen, bestimmten Wünschen, die, u.a. weil sie sehr allgemein gehalten sind, typischerweise unterstellt werden können.13 Festzustehen scheint aber auch, dass sich Interessen nicht völlig losgelöst von Wünschen konzeptualisieren lassen. Interessen, wie sie bei der Formulierung von Rechtsregeln zu berücksichtigen sind, beziehen sich in der Regel auf

Anders verhielte es sich jedoch, wenn man argumentieren dürfte, dass ein gutes Leben zualler st ein gottgefälliges Leben sei und es in jedermanns Eigeninteresse liege, eine gottgefälliges Leben zu führen, solange man sich nicht sicher sein könne, dass es keinen Gott und kein jüngstes Gericht gibt. Der Einsatz wäre endlich, der mögliche Gewinn (Glückseligkeit) aber ebenso unendlich wie der mögliche Verlust (das Leid) im Fall eines Verzichts auf den Einsatz. So argumentierte bekanntlich Pascal im ersten Teil seiner berühmten Wette, um die Rationalität des Glaubens darzulegen (Pascal 1997, 227 ff.). Allerdings ließe sich dagegen aus theologischer Sicht möglicherweise einwenden, dass ein wahrhaft gottgefälliges Leben nicht auf einer schlichten Kalkulation beruhen kann (James 1985, 6). Das würde bedeuten: Im eigenen Interesse liegt eine Handlung, die nicht durch das eigene Interesse motiviert ist. Pascal war im Übrigen auch klar, dass man über eine derartige Kosten/Nutzen-Rechnung nicht dinki zum Glauben gelangt. Diese Einsicht bildet den zweiten Teil seines Arguments. 12

" Im Übrigen sind auch Präferenzen im Sinne von Wünschen und Bedürfnissen nicht einfach gegeben oder „souverän" bestimmt, sondern nicht zuletzt von Informationen darüber abhängig, was man sich als möglich vorstellt (Williams 1979, 113; Elster 1997, Kap IV). Wer also die Verwendung des Interessenbegriffs fur eine unnötige Komplexitätserhöhung hält und stattdessen dabei bleibt, dass Rechte Präferenzen schützen, sagt noch nichts wirklich Interessantes.

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allgemeine Möglichkeiten, Wünsche zu erfüllen. Insofern sie selbst so etwas wie Wünsche darstellen, sind sie Wünsche, die eine heterogene politische Gemeinschaft jedem Mitglied unterstellt. Mit dieser Unterstellung, der Zuschreibung von Interessen, werden als solche unbestimmte Menschen zu Adressaten gemeinschaftlicher Normen bestimmt. Allerdings stellt sich sogleich die Frage, ob man mit einer Definition, wonach „X liegt in As Interesse" lediglich bedeutet, X begünstige die Erfüllung von As Wünschen, die ganze Pointe des Begriffs erfasst. Zumindest bisweilen scheint es nämlich, als ob einem mit zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten, insbesondere mit zusätzlichen Ressourcen, nicht wirklich gedient ist, weil sich dadurch die Beziehungen zu anderen verändern. So liegt es für gewöhnlich im Interesse einer Person, eher mehr Geld als weniger zur Verfugung zu haben. Aber dies ist keineswegs selbstverständlich. Es könnte nämlich sein, dass sich eine Person, die zu materiellem Reichtum gelangt, von ihrer sozialen Umgebung entfremdet und darunter leidet. Natürlich könnte sie immer noch einen großen Teil ihres Vermögens verschenken oder einer karitativen Einrichtung spenden. Doch möglicherweise zementiert sie damit nur einen Sonderstatus ein, auf den sie keinerlei Wert legt. Womöglich bringt sie das Vermögen in ein Dilemma: Behält sie es, muss sie mit Neid rechnen, gibt sie es her, gilt sie als exzentrisch, gönnerhaft oder sogar irrational.14 Vielleicht liegt es also manchmal, ohne dass man dies bemerkt, im eigenen Interesse, sich mit seinen (oder einigen seiner) Interessen nicht durchsetzen zu können oder zu wollen, etwa weil man nur auf diese Weise unbelastete Freundschaften und andere soziale Beziehungen aufrechterhalten kann.15 Und könnte man nicht auch sagen, dass bestimmte soziale Beziehungen

Siehe Tocqueville 1985, 246 und dazu Elster 1999, 201. Ein schönes Beispiel dafür, wie soziale Diskriminierung sogar dem Interesse von Personen zuwiderlaufen kann, die auf den ersten Blick zu den Profiteuren der Diskriminierung zählen, liefert Sennett 2002, 35 ff. Der Autor beschreibt hier seine Beziehung zu einer schwarzen Philosophiestudentin, die letzten Endes an den sozialen Verhältnissen, genauer an der durch diese belasteten Kommunikation von Achtung und Respekt scheitert: „Ungleichheit kann Unbehagen verursachen, und Unbehagen mag den Wunsch auslösen, eine Verbindung herzustellen, auch wenn diese Verbindung zurückhaltender und schweigsamer Art ist. Die Gefuhlskette erschwert das Vorhaben, jemandem .Respekt zu erweisen', der auf der sozialen oder ökonomischen Stufenleiter tiefer steht. Die Menschen mögen diesen Respekt durchaus empfinden, furchten aber, herablassend zu erscheinen, und halten sich deshalb zurück. Auch das Wissen um die eigenen Privilegien kann Unbehagen erzeugen" (ebd., 3 η . 14

15

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konstitutiv sind für ein gutes Leben, selbst wenn sie den Menschen mitunter völlig gleichgültig sind? Dass sich diese Personen einfach über den Wert von freundschaftlichen Beziehungen zu anderen irren? Umgekehrt sind Menschen oft davor zu bewahren, sich unterdrücken zu lassen. In der psychoanalytischen Theorie wird bisweilen sogar die Meinung vertreten, dass die Leute prinzipiell nicht den unmittelbaren Lustgewinn anstreben. Mit Bezug auf Brechts Gedicht „Gegen Verführung" bemerkt Robert Pfaller: Die Leute streben unmittelbar nach ihrem Unglück. Die primitivsten Antriebe sind jene, die sich auf das vermeintlich Allerhöchste richten. Es sind keineswegs etwa egoistische Selbsterhaltungstriebe, sondern vielmehr die dem eigenen Idealich gewidmeten Bestrebungen — genau jene Antriebe, die selbst noch über die wirkliche eigene Person zugunsten des Ideals großzügig hinwegsehen, ja dafür sogar noch bereitwillig noch über deren Leiche gehen. ... Diese idealistischen, asketischen und letztlich suizidären Strebungen sind für Brecht das eigentlich Primitive, Barbarische. Ihnen folgen die Leute unmittelbar; erst mühselige Arbeit der Kultur kann sie dazu bringen, sich mit ihrem Glück anzufreunden, es zu ertragen, glücklich zu sein.16

Pfaller mag hier etwas übertreiben, doch dass das (individuelle) Glück nicht unbedingt mit dem identisch ist, was die Menschen für sich anstreben, liegt auf der Hand. Das Problem scheint jedenfalls fundamental zu sein: Wenn das, was für eine Person gut ist, mithin in ihrem Interesse liegt, nicht einfach von ihren Präferenzen abhängt, lässt sich das individuelle Interesse dann gänzlich objektiv bestimmen? Doch vielleicht gibt es auch eine dritte Theorie. Diese dritte Theorie würde der Theorie Dworkins ähneln, wie sie auch unsere Ausführungen inspiriert hat. Demnach ist das Interesse einer Person weder durch bloße Präferenzen bestimmt, die der Werterkenntnis vorausgingen, noch aus Werten ableitbar, die der Person völlig äußerlich sind. So meint Derek Parfit: We might ... claim that what is best for people is a composite. It is not just their having knowledge, engaging in rational activity, being aware of true beauty, and the like. What is good for someone is neither what Hedonists claim, nor just what is claimed by Objective List Theorists. We might believe that if we had either of these, without the other, what we had would have little or no value.17

" Pfaller 2003, 237. 17 Parfit 1987, 502 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch Griffin 1993, 59 ff.

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Auch liberale Individualisten sind somit, wie das Beispiel Dworkins zeigt, keineswegs auf einen Anti-Objektivismus festgelegt. Was sie freilich betonen, ist, dass zur Realisierung des Guten dessen subjektive Anerkennung notwendig ist. Auf der Hand liegt dies bei existenziellen Entscheidungen. Mutter Theresa mag nicht durch ihr Eigeninteresse motiviert gewesen sein, als sie sich zu einem Leben für die Armen entschlossen hat. Dennoch war ihr Leben gut. Es wäre aber sicher um einiges schlechter gewesen, wenn sie diese Entscheidung gar nicht selbst und direkt getroffen hätte. Wenn ihr die Entscheidung etwa von jemandem abgenommen worden wäre. (Ich nehme an, dass sie von niemandem dazu gezwungen wurde und dass sie auch nicht das Los entscheiden ließ.) Was immer genau ihr Eigeninteresse ausmachte, die Möglichkeit, eine solche existenzielle Entscheidung autonom treffen, sie sich also selbst zurechnen zu können, lag jedenfalls in ihrem Interesse.18 Die autonome Entscheidung war in diesem Fall konstitutiv für die Realisierung des individuellen guten Lebens; die Möglichkeit, sie zu treffen, bildete ein Interesse. Allerdings scheint nicht jeder Wert in gleichem Maße von der autonomen Anerkennung durch den Einzelnen abzuhängen. Und auch der Wert der autonomen Anerkennung oder Entscheidung („autonom" im landläufigen Sinne von freiwillig) variiert mit den Optionen, die einem offen stehen. Für Mutter Theresa hätte es keinen großen Unterschied gemacht, wenn sie nur die Wahl gehabt hätte zwischen den Armen in Calcutta und den „Müllmenschen" in Kairo. Kann also nicht schon die Auswahl von realisierbaren Lebensentwürfen im Interesse einer Person liegen oder ihm zuwider laufen? Gibt es nicht einen Begriff von Interessen, der diese noch objektiver aussehen lässt, indem er sie weiter von aktuellen Wünschen der jeweils unterschiedlich situierten Individuen abkoppelt? Ist das „wahre Interesse" nur ein Pleonasmus? Oder könnte man darin den Verweis auf einen Punkt sehen, an dem die Gemeinschaft als solche ins Blickfeld eintritt und die Interessen (von tragischen Konstellationen abgesehen) konvergieren? Mit dem Rückgriff auf das „wahre Interesse" scheinen wir jedenfalls der deskriptiven Rede von gegebenen Interessen einen noch stärkeren normativen Drall zu geben. „Wahre

11

Siehe dazu Putnam 2002b, 80 ff.

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Interessen", so könnte man meinen, sind die schlechthinnigen kritischen Interessen.19

3.2.2 Die ethische Imprägnierung des „wahren Interesses" Interessen ergeben sich, wie wir bereits festgestellt haben, aus Identitäten. Identitäten wiederum sind Positionen in einem Netzwerk sozialer Beziehungen - und als solche differenziell konstituiert.20 Dass Identitäten nichts weiter als Differenzeffekte sind, bedeutet, dass sie über keinen stabilen Kern verfugen. 21 Was eine Universitätsprofessorin ist und welche Interessen sie als solche haben kann, versteht nur jemand, der mit dem Bildungssystem als Ganzes ein wenig vertraut ist, der weiß, welche Aufgaben Professoren haben, was Studenten sind, welche ungefähre Rolle die Ministerialbürokratie als Dienst- und Geldgeber etc. spielt usw.22 Wenn sich im Koordinatensystem um das Einzelindividuum etwas verändert, ändert sich auch die Identität des Letzteren und damit die Präferenzen, die ihm vernünftigerweise unterstellt werden können.23 Letztlich verdankt sich also das Interesse, ob nun legitim oder nicht, Voraussetzungen, die die Einzelindividuen nur gemeinsam schaffen können. Die Frage, was für ein Interesse der Mensch hinter der Universitätsprofessorin hat, ist demnach, so könnte man meinen, geradezu unverständlich. Aber müssen wir uns mit einmal etablierten Institutionen und sonstigen sozialen Gegebenheiten abfinden, um sinnvoll von Interessen sprechen zu können? „It is", meint Connolly, 19 Mit dem in dieser kruden Form etwas kindisch anmutenden Einwand, dass ,,[e]ine objektive und allgemeinverbindliche Bestimmung dessen, was angeblich die wahren Interessen aller Menschen sind oder zu sein haben, ... grob die liberale Überzeugung [verletzt], dass jeder selbst bestimmen darf, wie er sein Leben gestalten will" (Gosepath 1992, 360), werde ich mich nicht auseinander setzen. Die daran anschließende Argumentation Gosepaths ist natürlich um einiges subtiler. 20 Ladau 1993; 1996a. 21 Wir sprechen hier wohlgemerkt von socalen Identitäten, nicht von ptrsonakr Identität, die sich nicht auf Rollen oder Subjektpositionen reduzieren, aus der sich aber auch noch keinerlei bestimmtes Interesse ableiten lässt. Zum Begriff der Person bzw. des Subjekts Strasser 2000,132 ff.; noch grundlegender Strasser 2004, Teil A und B. 22 In der Systemtheorie werden Identitäten als Adressen verstanden, die soziale Systeme (wir sprachen bisher von Gemeinschaften und Kontexten) zu Kommunikationszwecken vergeben. Zum Individuum aus systemtheoretischer Sicht Luhmann 1993. 31 Sunstein 1997b, 42 ff.

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in this sense, in the interests of the blue-collar worker, relative to the established expectation that he will pay for his family's housing, health care, food, and recreation out of private earnings in a system where such goods are relatively scarce and income is unequally distributed, to press for higher wages; it is in the interests of the prisoner, relative to the conditions of imprisonment, to have visiting hours expanded; it is in the interests of a prostitute, relative to her need to ply an unlawful trade, to see that the police are not payed so highly that they refuse to accept bribes. But on occasions such as these we also sometimes legitimately ask, "Are the background conditions and/or accepted objectives within which those assessments are made in the real interests (or really in the interests) of those persons who now live as blue-collar workers, prisoners, and prostitutes do?"24 Man bemerke, dass plötzlich nicht mehr von den Interessen der Arbeiter, Gefangenen und Prostituierten die Rede ist, sondern von denen der Personen, die als solche leben. Damit wird klar, dass die Bestimmung der wahren Interessen nicht auf der Grundlage jener Perspektiven erfolgen kann, die die jeweiligen durch die sozialen Umstände begründeten Identitäten kennzeichnen.25 Connolly schlägt daher folgendes Kriterium vor: Ein Programm X liegt mehr in Person As wahrem Interesse als Programm Y, wenn A, würde sie die Ergebnisse von X und Y kennen, Χ Y vorziehen würde.26 Dieses Kriterium impliziert erstens, was sich schon aus Barrys Ausführungen ableiten lässt, nämlich die Notwendigkeit, Programme bzw. deren

Connolly 1993, 63 (Hervorhebungen im Original). Als eine anschauliche Darstellung der Beeinträchtigung „wahrer Interessen" durch umfassende Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen lesen lässt sich Sennett 2000. Sogar die in der „postfordistischen" Wirtschaft im gewöhnlichen Sinne Erfolgreichen könnten demnach Grund haben, ihr Leben als signifikant beschädigt anzusehen: „Er befürchtete, durch seinen Lebensstil, den der Konkurrenzkampf in der modernen Wirtschaft erzwingt, jede innere Sicherheit zu verlieren, in einen Zustand des Dahintreibens zu geraten" (ebd., 22). Andererseits gibt es natürlich auch Gewinner, die sich in ihrer Situation rundum wohl fühlen. Diese positive Bewertung des eigenen Lebens versteht sich aber keineswegs von selbst. Sie scheint vielmehr ein mehr oder weniger atomistisches Menschen- und Gesellschaftsbild vorauszusetzen. Und ein derartiges Paradigma etabliert sich bevorzugt unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen (siehe Taylor 1988b, 168 ff.). Die Bestimmung des eigenen wahren Interesses hängt also durchaus mit Annahmen zusammen, die falsch sein oder zumindest bei näherer Betrachtung unplausibel werden können. So liegt der marxistischen Utopie beispielsweise die schon beim Evangelisten Markus (8, 36) zu findende Einsicht zugrunde, dass noch der größte materielle Profit dem nichts nützt, der dafür an seiner Seele Schaden nimmt (G. A. Cohen 2002,181). Connolly 1993, 64. 24

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Auswirkungen zu vergleichen. Auf diese Weise erfahrt der Diskurs der Interessen eine gewisse Rationalisierung. Er wird transparenter. Zweitens stellt Connollys Kriterium auf Entscheidungen ab, die nach der Implementierung von Programmen im Wissen um deren Folgen getroffen worden wären. Das bedeutet: Nicht die jeweils aktuellen Wünsche geben den Ausschlag. Andererseits werden keine Wünsche ausgeschlossen, die sich auf die Art der Beziehung zu anderen Menschen beziehen, etwa die Fähigkeit und die Freiheit, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen. Insofern das Kriterium aber, drittens, Interessen nicht gänzlich von dem abkoppelt, was jemand für sich will, assimiliert es Entscheidungen, die auf Interessen gründen, auch nicht vollständig an solche, die lediglich ein Verpflichtungsgefühl, Angst vor Sanktionen oder Wohlwollen gegenüber anderen widerspiegeln. Denn eines steht fest: Handlungen, die einem Gefühl der Verpflichtung entspringen, können nicht über das Eigeninteresse erklärt werden. Die Annahme, man halte sich an Normen, um ein schlechtes Gewissen zu vermeiden, ist geradezu ein Musterbeispiel für einen funktionalistischen Fehlschluss. Denn das Verpflichtungsgefuhl muss bereits vorhanden sein, damit Gewissensbisse überhaupt prognostiziert werden können. Die Verletzung einer Norm, die für sich kein Handlungsmotiv sein kann, kann auch keine Gewissenbisse verursachen. Letzten Endes bildet dann dieses Verpflichtungsgefuhl selbst das Motiv und nicht die Furcht vor den Qualen des schlechten Gewissens. Allerdings darf man durchaus annehmen, dass eine präzise Abgrenzung der Motivationen sowie eine Unterscheidung zwischen Eigeninteressiertheit und Selbstlosigkeit im Einzelfall oft nur schwer möglich sein wird.27 Connolly geht es um eine hinreichend komplexe, aber für die empirische Politikwissenschaft dennoch nützliche Begriffsbestimmung. Letztlich aber ist ihm, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, nichts weniger als der Nachweis gelungen, dass der Begriff des Interesses an einem bestimmten Punkt einfach aufhört, ein rein deskriptiver Begriff zu sein. Um das zu verdeutlichen, könnte man zunächst einmal das Kriterium etwas präzisieren: Ein Programm X liegt mehr in Person As wahrem Interesse als Programm Y, wenn A, würde sie die Ergebnisse von X und Y kennen, X Y vernünftigerweise vorziehen würde.

Man denke nur an einen Vater, der sich für seine Kinder aufopfert. Tut er dies aus Pflichtgefühl, aus Altruismus oder weil er sein eigenes Wohlergehen an das der Kinder koppelt? Siehe Griffin 1988, 318 f. Fn. 5. 27

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Dafür spricht vor allem die vierte Implikation des Kriteriums, welche allerdings eine Präzisierung des Begriffs der Entscheidung bzw. der Wahl erfordert. Anlass für diese Präzisierung ist für Connolly ein scheinbares Gegenbeispiel: „What if a person, after experiencing the results of a policy that legalizes heroin, chooses that as the result he would rather have?"28 Dagegen wendet Connolly ein, die Frage laute nicht „Was will die Person jetzt?", sondern: „Was würde sie wollen, wenn sie auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissens (nämlich dass sie nun ihre Sucht nicht so einfach aufgeben kann) die Entscheidung noch einmal treffen könnte?" Und die Antwort darauf hängt eben von Annahmen darüber ab, was jemand vernünftigerweise wollen kann. Natürlich lässt sich ein Prädikat wie „vernünftigerweise" auf mehrere Arten deuten. Gesetzt, dass sehr schwache Rationalitätsbegiiffe wenig überzeugen,29 kommen jedoch spätestens an dieser Stelle Konzeptionen dessen, was eine Person zur Person macht und was eine gute Gesellschaft bzw. was gute soziale Beziehungen sind, ins Spiel. Die Analyse der Interessen von Menschen wird damit von einer detachiert beobachtenden zu einem politischen Unternehmen. Die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verschwimmt.30 Noch deutlicher wird dies, wenn man sich eine Tatsache vor Augen hält: Zumindest im'Rechtsdiskursbezeichnen Interessen mehr als bloße (individuelle) Handlungsmotive. Ein vernünftiges Rechtssubjekt geht nämlich von der Geltung des Prinzips der formalen Gerechtigkeit aus, wonach Gleiches gleich zu behandeln ist. Es weiß, dass juristische Argumentation immer a

Connolly 1993, 66. Siehe Griffin 1993, 49 f. 311 Interessen sind so gesehen nicht nur durch Umstände konstituiert, die sich der Kontrolle des einzelnen Individuums entziehen. Sie sind auch keine in einem interessanten Sinne rein internen Handlungsgründe. Eine Art Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen internen und externen Gründen bieten Scanion 1998, 363 ff., McDowell 1998a und Pumam 2002b, 88 ff. Für die prominenteste Neuformulierung des Humeschen Intemalismus, wonach nur solche Gründe Handlungsgründe für eine Person sind, die sich aus dem „motivationalen Set" dieser Person ergeben, siehe Williams 1999. Wenn Christine Korsgaard Recht hat und der Internalismus tatsächlich nicht mehr fordert, als „dass rationale Überlegungen uns motivieren müssen, sofern wir rational sind" (Korsgaard 1999, 133), dann liegt das Dilemma auf der Hand: Der Internalismus impliziert bereits den Externalismus. Schließlich kann „im praktischen Sinne rational sein" wohl nicht mehr bedeuten als „sich gewöhnlich von rationalen Überlegungen motivieren lassen". Rationalitätsstandards aber sind essentiell öffentlich. Wenn es keine Privatsprache gibt, dann auch keine private, höchstpersönliche Rationalitat. 29

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auf die Konstruktion einer Regel hinausläuft. Wenn es sich also fragt, was seine Interessen sind, dann denkt es bereits an Regeln, die auf alle gleichartigen Fälle anzuwenden sind. Nicht dass im Begriff des wahren Interesses die Interessen der Menschen zu einer undifferenzierten Masse verschmelzen würden. Man kann auch auf dieser Ebene noch zwischen eigenen und fremden Interessen unterscheiden. Mein Leben kann gut sein, während gleichzeitig das anderer Menschen aus welchen Gründen immer schlecht ist. Weltumspannende Glückseligkeit mag ich mir zwar wünschen, aber nicht weil sie mein eigenes Leben besser machen würde und damit in meinem Interesse läge. Es versteht sich von selbst, dass ich das eigene wahre Interesse hintanhalten und im wahren Interesse anderer agieren kann, auch wenn die Anerkennung, die ich dafür möglicherweise erhalte, eine gewisse Entschädigung darstellt und eine etwaige Beeinträchtigung der Qualität meines Lebens abschwächt. Eine andere Frage wäre, ob es im wahren Interesse anderer liegt, auf meine Selbstlosigkeit angewiesen zu sein. Die Antwort dürfte auf der Hand liegen. Mutter Theresa hat also durchaus im Interesse anderer gehandelt, auch wenn sie mit ihrem eigenen Leben schließlich ganz zufrieden war. Im Übrigen — das sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt - macht die Tatsache, dass ein Handeln im Interesse anderer weder auf Eigeninteresse basiert, noch das Eigeninteresse nennenswert befördert, die Entscheidung dafür nicht notwendig irrational.3' Begreift man Interessen übrigens als individuelle Handlungsmotive, dann stimmt es schon, dass sie nicht die alleinige Grundlage von moralischen Verpflichtungen und Gerechtigkeit sein können. Selbst eine Theo" Zur Unangemessenheit einer Theorie der Rationalist, wonach rationale Handlungen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Interessen der handelnden Person befriedigen, siehe Parfit 1987, insbesondere 187 ff. Gegen eine solche Engfuhrung des Rationalitätsbegriffs argumentiert auch Sen 1999. Die Unterscheidung zwischen den Handlungsmotiven Egoismus, Verpflichtungen und Altruismus ist jedoch eine ausgesprochen prekäre. Wenn man nämlich Max Weber glauben darf, dann gehörte die Verschränkung von Pflicht und rationaler Eigeninteressenverfolgung nachgerade zu den Spezifika des frühen Kapitalismus. Nicht egoistischer Hedonismus, sondern die angenommene Verpflichtung zum Streben nach wirtschaftlichem Erfolg (bzw. der Wunsch, herauszufinden, ob man zu den Auserwählten gehört) bildeten demnach das Motiv für konsequente Nutzenmaximierung. Der Erfolg wiederum bemaß sich nicht einfach an der Erfüllung kontingenter Wünsche. Vielmehr standen dafür objektive betriebswirtschaftliche Kriterien zur Verfügung (siehe Weber 2000, insbesondere 14 f.).

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rie, die, wie diejenige Rawls', auf der Idee basaler (eben: wahrer) Interessen gründet, benötigt noch weitere Annahmen (wie den „Schleier des Nichtwissens"), um das sein zu können, was sie zu sein beansprucht: eine Theorie der Gerechtigkeit. Geht man andererseits mit Dworkin davon aus, dass unter ungerechten Verhältnissen kein wirklich gutes Leben möglich ist, dann liegen gerechte soziale Institutionen selbst schon im wahren Interesse jedes Menschen - und zwar nicht bloß als Partei eines hypothetischen Vertrages.32 In keinem Fall aber sollte wir uns zu dem Kurzschluss hinreißen lassen, politisches Engagement sei naturgemäß lediglich durch Eigeninteresse motiviert. Handlungsmotivierend wirken im Fall des politischen Engagements für gerechtere Verhältnisse weniger das individuelle Interesse als vielmehr die Gerechtigkeitsvorstellungen. Indes ließe sich nun fragen, ob es auf dieser Ebene der wahren Interessen Interessens^o«/M/e geben kann. Die Interessen von Unternehmern und Arbeitnehmern können natürlich konfligieren. Aber gilt dies auch für die wahren Interessen von Personen, sobald sie einmal korrekt bestimmt sind, sobald man also weiß, was ein individuelles Leben im kritischen Sinne gut macht oder gut machen kann? Ich denke schon. Selbst wenn man so weit geht und als das erste wahre Interesse halbwegs gerechte gesamtgesellschaftliche Strukturen ansieht, ist ein Konflikt

An einer Versöhnung der Ideale Selbs[Verwirklichung (als möglicherweise zwingendster Manifestation des guten Lebens) und Gerechtigkeit sowie am Nachweis, dass ein bestimmter Perfektionismus nicht nur nicht undemokratisch, sondern geradezu konstitutiv für die Demokratie ist versucht sich auch Cavell 1990, und zwar im Wege einer sympathisierenden Kritik an Rawls. Ahnlich dachten sich schon Marx und Engels die kommunistische Gesellschaft. Siehe Marx/Engels 1971, 548: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin, die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Zum Begriff der Selbstverwirklichung und für eine Verteidigung der Auffassung, dass Selbstverwirklichung im Zentrum einer jeden Konzeption des guten Lebens stehen müsse, siehe Elster 1989. Um also keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht alles, was Menschen für sich gut finden (wie etwa Selbstverwirklichung), ist selbst schon ein Interesse. Ich teile etwa Elsters Auffassung, dass Selbstachtung kein Interesse darstelle, weil es Gegenstand eines gänzlich „inneren Bedürfnisses" sei (siehe Elster 1999, 91). Weder ist es ein eigenständiges Handlungsmotiv, noch kann Selbstachtung direkt durch andere induziert werden - etwa durch einen Gesetzgeber, der dekretiert, dass jede Bürgerin und jeder Bürger Grund zur Selbstachtung habe. Woran aber sehr wohl ein Interesse besteht, sind soziale Verhältnisse, die es einem ermöglichen, Selbstachtung zu entwickeln. Rawls hält denn auch nicht den Selbstrespekt, sondern lediglich die Ressource» fur Selbstrespekt für verteilungs fähig. 52

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möglich. So sind leicht Situationen vorstellbar, in denen trotz gerechter Institutionen das eigene Überleben von der Opferung anderer abhängt. Man könnte in einem solchen Fall vielleicht von einer Tragödie sprechen.33 Auf der Hand liegt jedoch, dass über die korrekte Bestimmung des wahren Interesses Uneinigkeit bestehen kann, zumal wenn es stimmt, dass das Gute sich nur unter der Bedingung voll „entfaltet", dass es als solches anerkannt wird. Wer nun wissen will, was denn eigentlich die wahren Interessen von Menschen sind, der möge sich an Rawls' Grundgüterliste und die diversen Grundrechtskataloge. Hier findet man zumindest einige plausible Anhaltspunkte für die Bestimmung jener Interessen, deren Befriedigung auch eine politische Aufgabe ist. Im Übrigen - und das ist entscheidend - hat es den Anschein, als ob auch die Vertragsparteien in Rawls' Urzustand, wenn sie hinter dem Schleier des Nichtwissens ihre durchaus selbstinteressierten Entscheidungen treffen, mithin ihre Interessen verfolgen, immer schon in ein evaluatives Unternehmen verstrickt sind. Sie müssen sich nämlich darüber klar werden, welche Ordnung ihrer Interessen, welche Gewichtung der Grundgüter, in ihrem Interesse liegt. Und wenn sie sich für das bestmögliche Leben des am Schlechtestgestellten entscheiden wollen, müssen sie zuallererst wissen, wer am schlechtesten gestellt ist: die Person mit dem geringsten Einkommen; die Person, die am wenigsten Freizeit hat, ohne über ein besonders hohes Einkommen zu verfugen; die Person mit dem geringsten Ansehen? Wie verhalten sich verschiedene Grundgüterbündel zueinander?34 Im Urzustand wird also, denke ich, eine stärkere Theorie des Guten gebraucht, als Rawls sie seinen Vertragsparteien mitzugeben bereit ist. Man muss nicht zu Kulturalismus und Relativismus tendieren, um hier der kommunitaristischen Kritik am liberalen " Siehe in diesem Zusammenhang auch Sunstein 1997c. Sunstein vertritt die These, dass die Zukenntnisnahme von Inkommensurabilitäten dazu beiträgt, jenen „sense o f tragedy" aufrechtzuerhalten, der sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Gut sei: „A sense o f tragedy is an individual good because it accompanies and makes possible certain relationships and attitudes that are an important part o f a good life. It is a collective good for this reason and also because it focuses attention on the fact that, even when the law is doing the right thing, all things considered, much may be lost as well. This is valuable, for example, in current thinking about the environment and occupational safety. In the presence o f tragedy, there is a large incentive to create social arrangements so that people do not face that prospect" (ebd., 102). « Koller 1998a, 60; Elster/Roemer 1993, 9.

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Neutralismus einen Punkt zuzuerkennen. Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass Rawls' Gegenstand nur die Grundstruktur der Gesellschaft ist. Und wohl nicht zuletzt deshalb glaubt Rawls, auf eine stärkere Theorie des Guten verzichten und „das Gesellschaftssystem soweit wie möglich von der Position der gleichen Bürgerrechte und den verschiedenen Einkommens- und Vermögensschichten her" beurteilen zu können35 Wie auch immer: Jedenfalls sind solche wahren Interessen legitime Interessen. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist nur, dass schon die Beschreibung von Interessen keine ganz einfache Angelegenheit ist. Wenn sie nur einigermaßen subtil sein will, kann sie nicht gänzlich wertneutral erfolgen - zumindest wenn Interessen natürlicher Personen bestimmt werden sollen, deren Daseinszweck sich nicht in der Verfolgung eines spezifischen Hauptinteresses (etwa der Maximierung finanziellen Profits) erschöpft.36 Die Entwicklung von der Interessen- zur Wertungsjurisprudenz war, so gesehen, keine zufällige. Um den hier vertretenen Objektivismus nicht bizzar erscheinen zu lassen, sollte allerdings festgehalten werden, dass die Menschen im Großen und Ganzen durchaus an dem, was in ihrem objektiven Interesse liegen soll, interessiert sein müssen. Das heißt, ihre Interessen müssen meistens als Handlungsmotive oder Motive für die Affirmation fremder Entscheidungen infrage kommen. Andernfalls würde der Begriff des Interesses im Diskurs gar keine Rolle spielen, weil er gänzlich unverständlich wäre. Dies ergibt sich aus der Notwendigkeit, Menschen, mit denen wir kommunizieren, möglichst viel Rationalität zu unterstellen. Es ist Ausfluss des bereits im ersten Teil abgehandelten principle of charity. Jede einzelne Interessenbestimmung kann natürlich falsch sein. Wären wir jedoch generell außerstande, unsere eigenen (objektiven) Interessen und die der Anderen korrekt zu bestimmen, hätte der Begriff des objektiven Interesses keinerlei Bedeutung.

Rawls 1975, 119. Gegen die subjektivistische These, dass rein empirisch ermittelbare Präferenzen (höherer Ordnung) Werten vorgehen, mithin für die Auffassung, wonach die Präferenzbildung immer schon durch Werte möglich gemacht und beschränkt wird, argumentiert auch Hurley (1989, 102 f f ) . Dementsprechend kann das notorische Problem des interpersonellen Wohlfahrtsvergleichs nicht als rein empirisches Problem (nämlich der Messung von Präferenzintensitäten) aufgefasst werden (siehe Griffin 1993, 66). 35 5'

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Freilich, wo die Person als solche aus dem Blick gerät und nur mehr als Adresse eines besonderen Systems auftritt (beispielsweise als Mieter oder Vermieter), dort reduziert sich die Politizität der bloßen Beschreibung. Und im Großen und Ganzen verzichten wir auch auf die pathetisch-philosophisch anmutende Rede von den „wahren Interessen". Dafür muss im Recht aber eine Unterscheidung zwischen im konkreten Fall schutzwürdigen und weniger schutzwürdigen Interessen getroffen werden. In dieser Unterscheidung wird die Politizität der Interessenbestimmung gewissermaßen konserviert, ja noch einmal potenziert. Man könnte fast sagen, das Recht erinnere sich so daran, dass jeder Rechtsadressat mehr ist als die Rolle, die er in einem bestimmten System (wie dem Wohnungsmarkt) spielt. Auf diese Weise wird ein Dilemma aufgelöst, in das der Rekurs auf Interessen bisweilen führt: nämlich dass etwas, nicht aber die Beteiligung an dessen Herstellung, im Interesse jedes Einzelnen liegen kann. Man denke nur an klassische Kooperationsprobleme wie das berühmte Gefangenen-Dilemma. Andererseits wird im Recht immer schon ein qualifizierter Interessenbegriff verwendet, einer, der über den Motivbegiiff hinaus geht. Vielleicht könnte man sagen, dass legitime Interessen lediglich prima facie schutzwürdige Interessen sind („Das Interesse ist legitim, aber ...). Doch mit der Unterscheidung zwischen schutzwürdig und weniger oder gar nicht schutzwürdig werden sämtliche Maßstäbe, deren sich ein vernünftiger Gesetzgeber bedienen kann, in die juristische Argumentation eingeführt. Schutzwürdig sind Interessen, die ein „maßgerechter Mensch" als solche anerkennen kann.37 Der „maßgerechte Mensch" ist der mit den rechtlich geschützten Werten verbundene Mensch38 - nicht nur Mieter oder Vermieter, Arbeitnehmerin oder Arbeitgeberin. Was in derartigen Definitionen verschwiegen wird, ist freilich, dass rechtliche geschützte Werte ihrerseits auf den maßgerechten Menschen verweisen. Rechtlich geschützt werden, wie wir schon oben gesehen haben, nicht einfach jene Werte, die sich empirisch feststellen lassen, sondern solche, die einem bestimmten Bild von der Gemeinschaft entsprechen. Und zu diesem Bild gehören natürlich vor allem Menschentypen und Interaktionsfor-

, 7 Ein zugegeben ungute Assoziationen hervorrufender Terminus, wie er sich vor allem in der österreichischen Strafrechtsdogmatik großer Beliebtheit erfreut (siehe nur Fuchs 1998, 15, 206; Triffterer 1994, 54,148, 152, 249, 303). 38 Fuchs 1998, 206.

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men. Maß und maßgerechter Menschen werden also in einem gewissen Sinne gleichzeitig bestimmt.

3.2.3 Gemeinschaft und schutzwürdiges Partikularinteresse Jene Identität, die sämtliche partikularen Identitäten übersteigt, ist aber kein bloßes Gedankenkonstrukt. In der modernen Demokratie wird sie sogar rechtlich geschützt. Als solche findet sie ihren Ausdruck in der Teilnahme am politischen Diskurs. So nimmt die Identität als Bürgerin und Bürger einer demokratisch-politischen Gemeinschaft gegenüber den sonstigen Identitäten eine Sonderstellung ein. Der Grund dafür liegt im Anspruch der Politik, prinzipiell für alles zuständig zu sein. Die von Liberalen gerne bemühte Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten (dem Feld der partikularen Interessen) verläuft im Öffentlichen. Es ist eine Grenze, die dem politischen Prozess nur als zu bestimmende vorgegeben ist. Die politische Gemeinschaft legt fest, was eine kollektiv verbindliche Entscheidung verlangt und was den Verhandlungen Privater überlassen bleibt. Der genuin politische Akt ist demnach kein Akt des Managements öffentlicher Angelegenheiten, sondern die Definition des Öffentlichen. Wenn sich aber das Private (genauer: das Ökonomische, das Familiäre, das Wissenschaftliche etc.) politisch konstituiert und seine Grenzen immer politisch behauptet werden müssen, dann kann es gar nicht anders sein, als dass private Identitäten und Interessen ebenfalls an einer Instabilität laborieren. Zum einen ergibt sich diese Instabilität daraus, dass das Subjekt jede besondere Identität mit seinen anderen partikularen Identitäten vereinbaren muss,39 und zum anderen hat sie mit der Tatsache zu tun, dass jede Identifikation mit der ständigen Erwartung neuer politischer Grenzziehungen einhergeht. Nur als Mitglied der politischen Gemeinschaft, als Bürger und Bürgerin, verfugt das Subjekt über eine halbwegs stabile Identität, die hinter den wandelbaren ideologischen Identifikationen dieselbe bleibt. Dafür wird diese Identität bisweilen auch als substanzlos angesehen.40 Vielleicht sollte man besser sagen: Sie ist die Identität des Subjekts, das erkennt, was schutzwürdig ist. Und es ist diese Erkenntnis, die eine „ideologische Identifikation" auszeichnet. Persona35 40

Siehe nur Elster 1986. Siehe Donald 1996,178 f. Ausführlicher zu diesem Subjektbegriff Laclau/Zac 1994.

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lität und Autonomie sind demnach nur „in Aktion" zu haben. Personen sind, schreibt Hurley, fragmented and conflicted, but it is their nature as persons to seek a coherent interpretation of themselves and thus to determine their selves. Personal coherence is not unproblematically given by experience or open to observation, but must be achieved through the exercise of autonomy in the cognitive sense.41 Interpersonelle Interessenkonflikte haben also - wenigstens in einer hinreichend komplexen Gesellschaft - ihre intrapersonelle Entsprechung.42 So wie das Subjekt keine Substanz bezeichnet, die von einem Zentrum aus die Psyche organisiert, werden natürlich auch die Grenzen zwischen den Kontexten oder Sphären nicht (ausschließlich) von einer zentralen Gesetzgebungsinstanz gezogen. Was noch als wissenschaftliche Theorie und nicht als religiöse Überzeugung gilt, ist zwar letztlich eine politische Frage, aber nicht unbedingt eine, die sich durch rechtliche Normierung entscheiden lässt. Eine politische Frage ist sie deshalb, weil sie sich auf einem Terrain entscheidet, das nicht eindeutig einem bestimmten Kontext zuzuordnen ist.43 Aber wenn die Auseinandersetzung beendet ist, dann haben sich u.U. die Kontexte und damit das gesamte soziale Koordinatensystem verändert. Lehrpläne werden möglicherweise modifiziert und Argumente, die bislang als religiös gebrandmarkt waren und wenig Überzeugungskraft besaßen, werden plötzlich ernst genommen, weil sie nun mit dem Prädikat „wissenschaftlich" versehen sind — mit unabsehbaren Folgen für die weitere Gestaltung der Gesellschaft. Man denke nur an die Geschichte der Psychoanalyse, deren Etablierung

Hurley 1989, 362. Hinter der Reflexion von Wertüberzeugungen verbirgt sich also nicht unbedingt ein schlichtes Kosten/Nutzen-Kalkül. Kohärenzüberlegungen, wie sie Hurley vorschweben, erweisen sich oft als wesentlich komplexer, zumal nicht von vornherein feststeht, welche Werte unhinterfragt als „constraints" wirken und welche wie auch immer reformuliert werden. Zu den Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes siehe etwa Mordt 1999, 161 ff. 42 Und man darf vermuten, dass die vielbeschworene liberale Tugend der Toleranz letztendlich wenig mehr ist als ein Ausdruck mangelnder Betroffenheit oder eben jener Komplexität der eigenen Interessenlage, die einen erst Verständnis für die Interessen anderer aufbringen lässt. Deshalb wirken abstrakte Plädoyers für Toleranz auch immer eigentümlich hohl. 43 Zur Politizität sozialer Kontexte Hiebaum 1999. 41

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weitreichende soziale Konsequenzen nach sich zog, bis in den Alltagssprachgebrauch und die Selbstwahrnehmung der Individuen hinein. Aber wie kommen nun Gemeinschaftsinteressen bei der Fesdegung schutzwürdiger Einzelinteressen ins Spiel? Wie es aussieht, vor allem im Wege der Abwägung zwischen Einzelinteressen (an Eigentum, Vermögen, Gesundheit, Freizeit etc.). Mysteriös erscheint dieser Abwägungsprozess nur solange, wie Einzelinteressen hypostasiert werden und dem öffentlichen Interesse als vollkommen äußerlich gegenübergestellt werden. Wenn man das nicht tut und Einzelinteressen immer schon als durch öffentliche bzw. sie transzendierende Interessen kontaminiert ansieht, gelangt man zwar noch nicht zu einer Abwägungsregel, aber wenigstens büßt die Abwägung ihre Exzeptionalität ein. Und tatsächlich: Schon die Feststellung, dass ein bestimmtes Einzelinteresse Schutz genießt und in eine Abwägung einzubeziehen ist, erfordert ein gewisses Verständnis des Kontextes, in dem das einzelne Interesse zu einer intelligiblen Größe wird. Das einzelne Interesse kann nur vor dem Hintergrund eines geteilten Kontextverständnisses rekonstruiert werden. Es ist nichts, was das Individuum aus sich selbst hervorbringt. Dass in die Unterstellung von privaten Interessen immer auch Annahmen über den jeweiligen Kontext als Ganzes einfließen und dass Kontexte keine klar bestimmten Grenzen aufweisen, heißt aber nicht, dass partikulare Interessen jederzeit mit öffentlichen Interessen zusammenfielen. Aus der Sicht des Einzelnen kann man sogar eine verhältnismäßig klare Grenze ausmachen. Was ich als in einem öffentlichen Interesse gelegen erkenne, kann durchaus privaten Interessen von mir zuwider laufen. Voraussetzung ist eine stabile Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten.44 Aus der Sicht derjenigen Instanzen jedoch, die beanspruchen, unparteiisch zu agieren, und die, bevor sie Wenn man aber diese binäre Unterscheidung fur zu grobschlächtig hält, also etwa mit Systemtheoretikern von „Polykontexturalität" ausgeht, und wenn man das individuelle Selbst nicht in atomistischer Manier als präsoziale Gegebenheit begreift, dann wird auch die Bestimmung individueller Interessen zu einem ziemlich anspruchsvollen Unternehmen jedenfalls anspruchsvoller als jene, die ihre ökonomischen und politischen Theorien gerne als besonders nüchtern und „realistisch" ausweisen. Damit büßt übrigens die Priorisierung der negativen Freiheit durch einige Liberale ihre Plausibilität ein. Eine solche findet sich sogar noch bei einem Davidsonianer wie Rorty. Der Grund dafür dürfte vor allem in einer allzu simplen Gegenüberstellung des Öffentlichen und des Privaten zu suchen sein. Siehe dazu Shusterman 2001, 93 ff. Kritik an dieser Dichotomie übt neben vielen anderen auch Habermas 1995, 554 f.

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Interessen berücksichtigen, deren Legitimität und schließlich konkrete Schutzwürdigkeit zu beurteilen haben, erweisen sich öffentliche und partikulare Interessen als enger miteinander verbunden. Wenn Private als Private sich über ihre Interessen klar werden wollen und dazu den Kontext, in dem sie ihre Entscheidung treffen, rekonstruieren, gehen sie weniger normativ vor als öffentliche Instanzen wie Gerichte oder Gesetzgeber. Sie betrachten den Kontext als vorgegebene Positivität. Zwar verändern ihre Überlegungen (etwa als Konsumenten) ebenfalls den jeweiligen Entscheidungskontext, aber nur, weil sie, wenn sie überlegen und nicht einfach spontan agieren, potenzielle Entscheidungen in einem anderen Kontext (etwa als Eltern) ins Kalkül miteinbeziehen.45 Gerichte und Gesetzgeber dagegen agieren immer aus größerer Distanz zu den Handlungskontexten der Gemeinschaftsmitglieder. Sie wollen diese Kontexte nicht bloß halbwegs korrekt erfassen, sondern darüber hinaus auch noch als Kontexte gestalten. Und anders als Private müssen sie ihre Entscheidungen als Anwendung oder Produktion allgemein verbindlicher Regeln begreifen. Was sie als berücksichtigungswürdige Partikularinteressen ansehen, wird also auch von Annahmen über das allgemein Gute abhängen. Wenn beispielsweise das durchaus begreifliche Interesse eines Monopolisten an seiner Monopolstellung als nicht schutzwürdig abgetan wird, dann auch deshalb, weil ein funktionierender Wettbewerb das öffentliche Interesse eher zu befördern scheint.46 Und wenn die Interessen von Marktteilnehmern berücksichtigt werden, dann weil man den Markt selbst bis zu einem gewissen Grad für einen guten Allokations- und Distributionsmechansimus hält. Oder um ein konkretes juristisches Beispiel zu nehmen: Die Regelungen des gutgläubigen Eigentumserwerbs (§ 367 ABGB, §§ 932 ff. BGB) sind nichts anderes als Lösungen eines Interessenkonflikts, des Konflikts zwischen dem Interesse des Eigentümers, sein Eigentum zu erhalten, und dem des Erwerbers, in seinem Vertrauen geschützt zu werden. Die Bewertung dieser Interessen aber erfolgt, wie Bydlinski schreibt, „auf Grund von .Gemeinschaftsinteressen' (des .Gesetzgebers"), zB dem Interesse an der Verkehrssicherheit, das mit jenem am Eigentumsschutz abgewogen werden muss".47 Man könnte hier von mikropolitischen Entscheidungen sprechen, wie sie in postmodernistischen Theorien erhöhte Aufmerksamkeit genießen. Siehe etwa de Certeau 1988. n Es könnte aber natürlich auch sein, dass Gerechtigkeitsüberlegungen für eine Beseitigung des Monopols sprechen. 47 Bydlinski 1991,115. 41

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Eine derartige „Abwägung" läuft jedoch, soweit ich sehe, wieder auf Überlegungen darüber hinaus, was für die Gemeinschaft besser ist. Wieviel Vertrauens schütz und wie viel Eigentums schütz bekommt dem „Verkehr"? U n d welchen Stellenwert nehmen die „Verkehrsinteressen" überhaupt ein? Bewertung ist demnach zwar ein komplexer, aber keineswegs völlig mysteriöser Vorgang. Und wie ich oben versucht habe zu zeigen (1.7), k o m m e n Gemeinschaftsinteressen nicht nur im Zuge der teleologischen Interpretation ins Spiel, sondern immer (oder: oft auch) dann, wenn es gilt, „abstrakte Rechte" abwägend zu konkretisieren. Vielleicht wird man aus der gesetzlichen Regelung des gutgläubigen Eigentumserwerbs ein Prinzip ableiten können. Aber schon in dessen Konkretisierung im Einzelfall, und erst recht in die „Abwägung" mit anderen Prinzipien, werden Annahmen über das Gemeinschaftsinteresse ein fließen. Entscheidend ist jedoch: Das allgemeine Interesse lässt sich keinem Kontext zuordnen. E s geht gewissermaßen der Differenzierung v o n Kontexten voraus. U n d da Gerichte und Gesetzgeber nicht an eine einmal etablierte Differenzierung gebunden, sondern einerseits dem Recht und andererseits der Gemeinschaft als solcher (Stichwort: Allzuständigkeit) verpflichtet sind, müssen sie ihre Entscheidungen darüber, welche partikularen Interessen zu berücksichtigen sind, vor der Öffentlichkeit und nicht einem kontextspeziñschen Publikum (etwa Unternehmern und Konsumenten) rechtfertigen. Dass dies prinzipiell möglich ist, dass die jeweilige Unterscheidung zwischen schutzwürdigen und weniger oder gar nicht schutzwürdigen Interessen überhaupt eine Chance auf Zustimmung hat, ergibt sich aus dem Mehr, welches jede Person als Bürger oder Bürgerin, gegenüber ihren partikularen Identitäten ist. U n d es ist dieses Mehr, das die Rede von wahren Interessen nicht völlig sinnlos erscheinen lässt und das die richterliche Bezugnahme auf „rechtlich geschützte Interessen" zu einer politischen Angelegenheit macht.

3.3 Der Ort des Gemeinwohls Wir haben bisher von der Gerechtigkeit, vom kollektiv Guten, von Rechten und von Interessen gesprochen. Und es sollte klar geworden sein, dass es zwischen dem Rechten und dem Guten sowie zwischen Rechten, (schutzwürdigen) partikularen Interessen und dem Allgemeininteresse zahlreiche Verbindungen gibt. Aber wo ist das kollektive Interesse, das Gemeinwohl, nun genau angesiedelt? Steht es über der Moral, darunter, oder fällt es gar mit ihr zusammen? Ist der Begriff allgemeiner oder spezieller als der Begriff der Gerechtigkeit? Das Substrat von Rechten sind Interessen. Interessen, die rechtlich geschützt werden, sind aber besondere Interessen, eben Interessen, die des Schutzes würdig sind. Schutzwürdig können auch votitionale Interessen im Dworkin'schen Sinne sein. Voraussetzung dafür ist, dass sie sich unter ein kritisches Interesse subsumieren lassen. Kritische Interessen wiederum sind jedenfalls legitime Interessen, beispielsweise das Interesse an bestimmten Freiheiten, welches das Interesse einschließt, auch unkluge Entscheidungen treffen zu können.1 Letzteres Interesse verdient jedoch nur prima facie Schutz. Bisweilen wird einem derartigen Interesse gewissermaßen per Gesetz jegliches Gewicht genommen. So muss eine geistig behinderte Person, die dazu neigt, ständig Entscheidungen gegen ihre kritischen Interessen zu treffen, damit rechnen, dass ihr Interesse an Entscheidungsfreiheit kaum noch in das juristische Kalkül eingeht. Man denke nur an die Möglichkeit der Entmündigung oder der Bestellung eines Sachwalters.2 Vielleicht könnte man sogar sagen, dass der Gesetzgeber nur geistig gesunden Personen ein Autonomieinteresse zubilligt. Das spräche ebenfalls für die These, dass Interessen letzten Endes nicht durch ein Wollen konstituiert werden, das jeder Werterkenntnis vorausgeht. Jedenfalls aber erfordert die Bestimmung der Schutzwürdigkeit eines „an sich" legitimen, weil auf ein gutes individuelles Leben bezogenen Interesses die Anwendung von Maßstäben der Moral/Gerechtigkeit und des allgemeinen Guten. Nun gilt es, die Beziehung zwischen diesen 1 Siehe Raz 1990, 35; 1986, 57, wo es aber auch heißt: „This obviously applies to some areas of life more than to others, to choice of friends more than to the choice of legal argument in a court case." 2 Libertaristen etwa hätten Probleme damit. Ihrer Auffassung nach sollte - Raz (1990, 35) bringt es auf den Punkt - eher der Wille als der Intellekt des Anderen respektiert werden.

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Maßstäben zu klären. Ich habe zwar oben gegen Dworkin festgestellt, dass nicht nur Gerechtigkeitsargumente eine Einschränkung der Möglichkeiten, individuelle Konzeptionen des Guten zu realisieren begründen können, ja dass sich Gerechtigkeits- und Gemeinwohlargumente gar nicht strikt trennen lassen. Gleichwohl möchte ich diese Begriffe nicht als deckungsgleich behandeln. Sowie Unterscheidungen nicht deswegen aufgegeben werden, weil sie sich dekonstruieren lassen. Um hier ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, möchte ich einen Systematisierungsversuch unter die Lupe nehmen, der an Gustavs Radbruchs berühmte Rechtsidee, die Trias von Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit, anschließt und sich bei Juristen großer Beliebtheit erfreut. Dem werde ich dann ein alternatives, an Kant und Habermas angelehntes System gegenüberstellen. Der Vorzug dieses Systems liegt, soweit ich sehe, in einer Hierarchisierung der Gesichtspunkte, wie sie wohl auch Dworkin vorschweben dürfte. Auf diese Weise bietet es Orientierung bei der Entscheidungsfindung — und zwar etwas mehr als ein System, welches nur eine (wohl intuitiv) angemessene Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte verlangt.

3.3.1 Gemeinwohl ah „Rßchtsidee " Populistische, vorzugsweise faschistische Machthaber3, die lästige rechtliche Beschränkungen ihres Tuns ignorieren, begründen dies gern mit der Feststellung: „Recht ist, was dem Volk nützt." Dem hält Radbruch entgegen: „Nein, es hat nicht zu heißen: alles was dem Volke nützt, ist Recht, vielmehr umgekehrt: nur was Recht ist, nützt dem Volke." 4 Das Gemeinwohl lässt sich demnach nicht direkt realisieren. Es erscheint um mit Jon Elster zu sprechen - als Zustand, der wesentlich Nebenprodukt ist.5 Aber dann liegt es natürlich nahe, die „Idee des Rechts" zu definieren, ohne den Gemeinwohlbegriff zu verwenden. (Zur Erinnerung: Im zweiten Teil dieser Arbeit habe ich zwar keine Definition des Rechts gegeben, aber die entgegengesetzte These vertreten, das die Ant-

3 „Macht haben" im Sinne von „in der Lage sein, auf ein Kollektiv bezogene Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können". 4 Radbruch 1999b, 209. 5

Zu diesen Zuständen Elster 1987, Kap. III.

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wort auf die Frage, ob bestimmte Normen dem Rechtssystem zuzuordnen sind, mitunter eine Beurteilung ihrer Gemeinwohldienlichkeit voraussetzt.) Nach Radbruch ist Recht „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen".6 Die „Rechtsidee" wiederum sei durch drei Elemente gekennzeichnet: Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit.7 Unter Gerechtigkeit versteht Radbruch vor allem formale Gerechtigkeit, also das Postulat, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Weil daraus aber nicht mehr folgt als die Forderung, nach Regeln zu entscheiden, braucht er noch die Zweckmäßigkeit. Die Frage nach Zweck und Zweckmäßigkeit lasse sich jedoch „nicht eindeutig beantworten, sondern nur relativistisch durch die systematische Entwicklung der verschiedenen Rechts- und Staats-, der verschiedenen Parteiauffassungen".8 Und weil ein solcher Relativismus nicht befriedige, kommt bei Radbruch noch die Rechtssicherheit als dritter Bestandteil der Rechtsidee hinzu. Die Rechtssicherheit fordere die Positivität des Rechts. Schließlich beanspruche das Recht, eine Ordnung für das Zusammenleben von Menschen zu sein, zwischen denen auch Meinungsverschiedenheiten bestehen können. Der Stellenwert der Positivität ist nach Radbruch aber ein durchaus eigentümlicher: Die Positivität des Rechts wird ... in höchst merkwürdiger Weise selbst zur Voraussetzung seiner Richtigkeit; es gehört ebenso sehr zum Begriffe des richtigen

Rechts, positiv zu sein, wie es Aufgabe des positiven Rechts ist,

inhaldich richtig zu sein. 9

In der Folge weist Radbruch auf zahlreiche Spannungen zwischen diesen Bestandteilen der Rechtsidee hin. Er nennt sie sogar „Antinomien". Nicht nur könne Gerechtigkeit in Widerspruch zur Zweckmäßigkeit treten, beide zusammen könnten auch mit dem Postulat der Rechtssicherheit kollidieren: Rechtssicherheit fordert Positivität, das positive Recht aber will gelten ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. ... Ja die A n f o r d e rungen der Rechtssicherheit können schließlich sogar zu den Folgerungen aus der Positivität, die doch selbst eine Forderungen der Rechtssicherheit