Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile: Zugleich ein Beitrag zum Streitgegenstand im Verwaltungsprozeß- und Steuerprozeßrecht [1 ed.] 9783428410576, 9783428010578

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Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile: Zugleich ein Beitrag zum Streitgegenstand im Verwaltungsprozeß- und Steuerprozeßrecht [1 ed.]
 9783428410576, 9783428010578

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HERBERT MüFFELMANN

Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

Schriften zum Steuerrecht Band 1

Die objektiven Grenzen der materiellen Rech tskraft steuergerichtlicher Urteile Zugleich ein Beitrag zum Streitgegenstand im Verwaltungsproze.li. und Steuerproze.lirecht

Von

Dr.jur. Herbert Müffelmann

DUNCKER & HUMBLOTI BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1965 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1965 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

1. Ziel und Rechtfertigung der Untersuchung 2. Abgrenzung der Arbeit ..................................

13 15

§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht .... ..

17

1. Das Wesen der Rechtskraft gerichtlicher Urteile .. , . . . . . . ... 2. Die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile .......... 3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile ................ a) § 94 Abs. 4 (§ 76 Abs. 3) der Reichsabgabenordnung als Rechtsgrundlage der Rechtskraft ...................... b) Andere Ansichten über die Rechtfertigung der Rechtskraft c) Eigene Auffassung über die Rechtsgrundlage der Rechtskraft ................................................ d) Inhalt der Rechtskraft (materielle Rechtskraft und Unabänderlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17 19 20

§.2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der materiellen Rechts-

kraft

... ....... . ................ . . . ............ .. ..

21 25 27

29 33

1. Darstellung der vertretenen Ansichten ........................ ' 33 1. Die Auffassung des Reichsftnanzhofs .......... ; . . . . . . . . . . . 33 2. Die Auffassung des Bundesfinanzhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 36 3. Die Auffassung des Schrifttums .......................... 39

11. Eigene Stellungnahme

......................................

47

1. Ablehnung der Ansicht, die Rechtskraft umfasse die gesamte

Steuerfestsetzung ........................................ 47 2. Ablehnung der herrschenden Ansicht über den Umfang der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 50 3. Ablehnung der von Hensel und Rath entwickelten Theorien 55 4. Rechtfertigung für die Untersuchung des Zusammenhanges von materieller Rechtskraft und Streitgegenstand .......... 57 § 3 Der Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht ...

1. Darstellung der vertretenen Ansichten 1. Die Lehre Nikischs

2. Die Lehre Lents

............................... .... .....

59 59

60 61

6

Inhaltsverzeichnis 3. Die Lehre Rosenbergs und Schwabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Die Lehre Böttichers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . ..

62 63

5. Die Lehre Habscheids

63

H. Eigene Stellungnahme ~

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

64

4 Der Streitgegenstand im Verwaltungsprozeßrecbt ..................

69

I. Darstellung der vertretenen Ansichten ........................

69

1. Der angefochtene Verwaltungsakt als Streitgegenstand. . . . ..

70

2. Der Anspruch auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts als Streitgegenstand ............................ 3. Rechtsbehauptung und Rechtsbegehren als Streitgegenstand a) Die Auffassung, die Rechtsbehauptung des Klägers sei Streitgegenstand ................ '. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die prozessuale Streitgegenstandsauffassung . . . . . . . . .. c) Die Ansicht Hausteins Insbesondere .................... d) Ansichten zum Sozialgerichtsgesetz 4. Die Streitgegenstandsansicht Lerches ......................

74 79 81 84 84

11. Vom Streitgegenstand abhängige Fragen und Probleme........

85

1. Der Streitgegenstand und die verschiedenen Klagearten des Verwaltungsprozesses .................................... a) Das Verhältnis der Leistungsklage zu den übrigen Klagen b) Das Verhältnis der Feststellungsklage zu Anfechtungs- und Verpftichtungsklage ........... , ...................... c) pas Verhältnis von Anfechtungs- und Verpftichtungsklage d) Ergebnis ...... ;. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

2. Der Streitgegenstand und die Teilanfechtung von Verwaltungsakten .. '............................................ a) Teilanfechtung und Klageänderung .................... b) Teilanfechtung und Klagenhäufung .................... c) Teilanfechtung und die Einrede der Rechtshängigkeit .... d) Die materielle Rechtskraft von Urteilen über Teilanfechtungsklagen .......................................... 3. Der Streitgegenstand und die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft ... . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Bindung des Zivilgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Grenzen der Rechtskraft des stattgebenden Anfechtungsurteils .......................................... c) Die Grenzen der Rechtskraft des abweisenden Verpftich~ tungsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Die Grenzen der Rechtskraft des stattgebenden Verpftichtungsurteils .......................................... e) Die Grenzen der Rechtskraft des abweisenden Verpftichtungsurteils .......................................... f) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

72 74

86 87 89 92 95 95 98 100 101 102 104 104 106 107 108 109 111

Inhal tsverzeitn-nis IH. Eigene Stellungnahme

7

...•.................•............... , 113

1. Ablehnung der Ansicht, Streitgegenstand sei der angefochtene

Verwaltungsakt

........................................ 113

2. Ablehnung der Ansicht, Streitgegenstand sei die Rechtmäßig-

keit oder Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts 115

3. Ablehnung der Ansicht, Streitgegenstand sei der Anspruch

auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts ........ 117

4. Ablehnung der Ansicht, Streitgegenstand sei die vom Kläger

aufgestellte Rechtsbehauptung

......................... , 121

5. Vergleich des Anfechtungsprozesses mit einem Rechtsmittel-

verfahren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 125

6. Ablehnung der Ansicht Lerches 7. Die prozessuale Streitgegenstandslehre ..... . ... ,.......... , a) Definition des Streitgegenstandes ...................... b) Streitgegenstand und Teilanfechtung von Verwaltungsakten ................................................ e) Prozessualer Streitgegenstandsbegriff und. die Grenzen der materiellen Rechtskraft ............................. , Rechtskraft ..................................... , aa) Bindung der Zivilgerichte ....................... , bb) Die materielle Rechtskraft des stattgebenden Anfechtungsurteils. . ......... , ..... ... ... ..... ce) Die materielle Rechtskraft des abweis.enden Anfechtungsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. dd) Die materielle Rechtskraft des stattgebenden Verpflichtungsurteils ............................... , ee) Die materielle Rechtskraft des abweisenden Verpflichtungsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ff) Die Bedeutung des Klagegrundes für die materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Prüfung der prozessualen Streitgegenstandslehre an der Verwaltungsgerichtsordnung ......................... , aa} Der Klageantrag nach der Verwaltungsgerichtsordnung bb) Die Bedeutung des § 82 Absatz 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ........................ , ce) Die Aufhebung des Widerspruchsbescheides ........ § 5 Der Streitgegenstand im Steuerprozeßrecht

I. Vorschriften und Ansichten über den Streitgegenstand

127 127 127 129 129 134 129 130 132 133 133 134 136 136 138 139 141 141

1. Der Streitgegenstand in der Reichsabgabenordnung ........ 141

2. Der Streitgegenstand in den Entwürfen der Finanzgerichtsordnung ................................................ 141 3. Die Ansichten über den Begriff des Streitgegenstandes .... 142 a) Streitgegenstandsdeftnitionen in Schrifttum und Rechtsprechung ............................................ 142

Inhaltsverzeichnis

8

b) Die TeUanfechtung von Steuerbescheiden und die Teilrücknahme von Rechtsmitteln ............................ 143 c) Die Streitgegenstandsauffassung Niemeyers ............ 147 11. Eigene Stellungnahme

...................................... 149

1. Unbrauchbarkeit des Streitgegenstandsbegriffes der Reichsabgabenordnung .............................. , ........ 149

2. Unverwertbarkeit der dargestellten Definitionen .. ......... 3. Ablehnung der herrschenden Ansicht über die antragsunabhängige Nachprüfung des angefochtenen Bescheides ........ a) Der Rechtsmittelantrag gern. § 249 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung ........................................ b) Bedeutung des § 243 Abs.2 und 3 - Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 243 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aal Wesen der reformatio in peius - Ansichten über deren Vereinbarkeit mit dern Grundgesetz .......... bb) Verstoß des § 243 Abs.3 der Reichsabgabenordnung gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes .............. cc) Verstoß des § 243 Abs.3 der Reich'sabgabenordnung gegen das Gewaltenteilungsprinzip ...... . . . . . . . . .. dd) Einwendungen gegen § 243 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit .... ee) Ablehnung der Ansichten, die die reformatio in peius für verfassungsgerecht halten ...................... ff) Folgen der Nichtigkeit des § 243 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung für das steuergerichtliche Verfahren .. c) Das steuergerichtliche Verfahren ist kein verlängertes Ver~nlagungsverfahren .................................. d) Die Bindung an den Berufungsantrag gebietet sich aus dem Rechtssprechungsbegriff .......................... e) Die Praxis der Steuergerichte, nur über den Rechtsmittelantrag zu entscheiden ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

150

4. Ablehnung der Streitgegenstandsansicht Niemeyers ........ 5. Darlegung der eigenen Ansicht ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Grundlage: Klage (Berufungs-)Antrag ................ b) Definition des Streitgegenstandes ...................... c) Prüfung des entwickelten Streitgegenstandsbegriffs an Klageänderung, Klagenhäufung und Rechtshängigkeit ....

171 171 172 174

151 152 152 154 160 163 167 167 168 168 170 170

176

§ 6 Der Streitgegenstand als Grenze der materiellen Rechtskraft im

Steuerprozeß

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 179

1. Entscheidungen im Verfahren gemäß § 237 Abs.2 AO und im Beschlußverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 179

2. Urteile im Berufungsverfahren gegen Steuerbescheide ...... a) Unterschiede bei den abweisenden und den stattgebenden Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Die Rechtskraft des abweisenden Urteils ............ bb) Die Rechtskraft des stattgebenden Urteils ..........

182 182 182 185

Inhaltsverzeichnis

9

b) Materielle Rechtskraft des Urteils und die spätere Änderung oder Berichtigung der Steuerfestsetzung ........ 188 c) Der Einfiuß neuer Tatsachen und Beweismittel, die bezüglich eines rechtskräftig erledigten Streitgegenstandes bekannt werden ...................................... 191 3. Die objektiven Grenzen der Rechtskraft in der FGO ...... 195 197

Schluß 1. Ergebnis der Streitgegenstandserörterungen

197

2. Ergebnis der Untersuchungen über· die objektiven Grenzen

der materiellen Rechtskraft

Literaturverzeichnis

.............. . . . . . . . . . . . . . . .. 197 199

Abk ürzungsverzeichnis aaO. a.F. Anm.

AO AöR ArbGG Art. Bad BAG Bay BayVBI BayVerfGHE N. F. BB BBauG BBG Bd. BesSchädAbgeltG BFH BFHE BGB BGBII BGH BGHZ Br BStBI III BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BVerwGG DB

am angeführten Ort alte Fassung Anmerkung Reichsabgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Badisch Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (Amtliche Sammlung) Bayrisch Bayrisches Verwaltungsblatt Entscheidungen des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofes (Amtliche Sammlung), neue Folge Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbaugesetz Bundesbeamtengesetz Band Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Amtliche Sammlung) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt, Teil I Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) Bremisch Bundessteuerblatt, Teil III Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Amtliche Sammlung) Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht Der Betrieb (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis DÖV DR DStR DStRu DStZA DVBI DVBltr EFG EGGVG EStDV EStG FamRZ FG FGO FGO Entw.1 FGO Entw.1I FR FZVerwR GBI GewStG GG GrhzglBadRegBI GS GuVOBI h.A. Hess HFR h.M. i. S. JW JZ KStG KVStDV LAG LM MDR MRVO Nds n.F. NJW

11

Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsche Steuer - Rundschau Deutsche Steuerzeitung, Ausgabe A Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verwaltungsblätter Entscheidungen der Finanzgerichte (Publikationsorgan) Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht (Zeitschrift für das gesamte Familienrecht) Finanzgericht Finanzgerichtsordnung 1. Entwurf zur Finanzgerichtsordnung 2. Entwurf zur Finanzgerichtsordnung (vgl. dazu Einleitung, Anm. 9) Finanz-Rundschau, Deutsches Steuerblatt Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht Gesetzblatt Gewerbesteuergesetz Grundgesetz Großherzoglich Badisches Regierungsblatt Gesetzsammlung Gesetz- und Verordnungsblatt herrschende Ansicht Hessisch Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung (Zeitschrift) herrschende Meinung im Sinne Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Körperschaftsteuergesetz Kapital verkehrsteuer-Durchführungsverordnung Lastenausgleichsgesetz Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs Monatsschrift für Deutsches Recht Verordnung der (britischen) Militärregierung Niedersächsisch neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift

12

OVG Pr PVG Rdnr. RegBIKgrWürtt

Abkürzimgsverzeichnis

Oberverwal tungsgericht Preußisch Polizeiverwaltungsgesetz Randnummer Regierungsblatt für das Königreich Württemberg RFH Reichsfinanzhof RFHE Entscheidungen des Reichsftnanzhofs (Amtliche Sammlung) RGBl Reichsgesetzblatt RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) RStBl Reichssteuerblatt RuStG Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz S. Seite SGG Sozialgerichtsgesetz SJZ Süddeutsche Juristenzeitung Sp. Spalte StbJB Steuerberater-Jahrbuch StPO Strafprozeßordnung StRK Steuerrechtskartei (Entscheidungssammlung) StuF Steuern und Finanzen (Zeitschrift) StuW Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) StWa Steuerwarte (Zeitschrift) UStG Umsatzsteuergesetz VerwArch Verwaltungs-Archiv VG Verwaltungsgericht VGG Verwaltungsgerichtsgesetz VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche VjZStFR Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht VRspr. Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland (Entscheidungssammlung) VO Verordnung Vorbem. Vorbemerkung vstG Vermögenssteuergesetz Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen VVDStRL Staatsrechtslehrer Verwal tungsgerichtsordnung. VwGO· Wpg Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Weimarer Reichsverfassung WRVerf zum Beispiel z.B. Zivilprozeßordnung ZPO Zeitschrift für Zivilprozeß ZZP § § ohne Zusatz sind solche der ReiChsabgabenordnung.

Einleitung 1. Ziel und Rechtfertigung der Untersuchung Die vorliegende Arbeit bemüht sich - den Anregungen von Wacke\ Tipke 2 und Kruse 3 folgend - für das steuergerichtliche Verfahren den Inhalt und den Zusammenhang der Begriffe materielle Rechtskraft und Streitgegenstand 4 zu untersuchen. Mit dem Versuch, diese Fragen nicht nur unter Heranziehung steuerrechtlichen Schrifttums und steuergerichtlicher Rechtsprechung zu erörtern, soll ein Beitrag geleistet werden zu der immer wieder geforderten Annäherung von Steuerrecht und übrigem öffentlichen Recht5 • Obwohl nämlich das Steuerrecht ein Teil des besonderen Verwaltungsrechts ist, wird es oft versäumt, für die Entscheidung steuerrechtlicher Fragen etwa vorhandene Grundsätze des Verwaltungsrechts heranzuziehen6 • AöR Bd.79, 158 (183). FR 1961, 73. Tipke-'Kruse, Bd. I, § 222, Rdnr. 7. 4 Für den Begriff des Streitgegenstandes im Steuerprozeß empfehlen außerdem Kruse, FR 1961, 191 und 1962, 178 (179), sowie Niemeyer, S.72, Untersuchungen. 5 Vgl. etwa Becker, StuW 1931 Sp. 971 ff.; Hemet, § 1 I (S.l). Aus neuester Zeit: Boettcher, StuW 1962 Sp.lft.; Berger, DStR 1962, 44; Eckhardt, StbJB 1961/1962, S. 77 (117 ff.) (besonders interessante Erörterungen über die Annäherung des Steuerprozeßrechts an das allgemeine Verwaltungsprozeßrecht); Eisenberg, BB 1963, 86'1; Feli:r:, Festschrift für Spitaler, S. 137 ff.; Hartz, Die Auslegung von Steuergesetzen, S. 59/60; ders., Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I, S. 239 ff.; Mattem, NJW 1964, 617 ff. (allerdings mit Einschränkungen); Naumann, BB 1962, 1339; ;Spanner, DÖV 1963, 736; Tipke-Kruse, Bd. I, Einführung, S. VI; Vogel, DVBI 1962, 435 ff. Eisenberg, Naumann und ,Spanner erörtern den Entwurf einer Finanzgerichtsordnung und äußern sich zum Verhältnis von Steuerprozeß- und Verwaitungsprozeßrecht. Auch die Rechtsprechung zieht bereits des öfteren Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts zur Lösung steuerrechtlicher Fragen heran: z. B. BFH v. 3. 3. 1959 176/57 S, BStBI 111 1959, 251, BFHE 68, 661 (Heranziehung verwaltungsprozeßrechtlicher Vorschriften zur Lösung steuerprozessualer Fragen) und v. 18. 4. 1961 179/60 U, BStBl II! 1961, 342, BFHE 73 206 und StRK, § 96 AO, R. 26 mit zustimmender Anmerkung von Vogel; FG Karlsruhe v. 18. 12. 1959 II 361-362/58, EFG 1960, 231. 11 Diesen Vorwurf machen für die Frage der Rechtskraft im Steuerrecht bereits Klein, FZVerwR Bd.77, 241 (248) und Niemann, VerwArch Bd.40, 135 (136), dem RFH. 1

9 3

14

Einleitung

Nicht zuletzt im Interesse der Einheit der Rechtsordnung bietet sich darüber hinaus auf dem Gebiete des steuerlichen Prozeßrechts, jedenfalls soweit es das Verfahren vor den Steuergerichten betrifft, eine Prüfung an, ob sich nicht aus anderen Prozeßordnungen und deren Wissenschaft Anhaltspunkte für die Lösung steuerprozessualer Fragen gewinnen lassen. Nachdem das GG in Art. 96 Abs.l die ordentliche, die Verwaltungs-, die Finanz-, die Arbeits- und die Sozialgerichtsbarkeit als gleichwertig nebeneinander gestellt hat. dürfen wir für den Steuerprozeß sicher nach derartigen Anhaltspunkten in den übrigen Verfahrensordnungen, dem dazugehörigen Schrifttum und der dazu ergangenen Rechtsprechung suchen. Die Heranziehung dieser Verfahrensgesetze ist für das Steuerprozeßrecht besonders deshalb interessant, weil sie sämtlich nach Inkrafttreten des GG neu gefaßtT bzw. überhaupt erst erlassen8 worden sind, während die Prozeßordnung der Finanzgerichtsbarkeit - die FG09 - noch immer ihrer Verabschiedung harrt10 • Wackel l hat allerdings im Zusammenhang mit der Erörterung der Rechtskraft und des Streitgegenstandes im Verwaltungsprozeßrecht - also gerade den Fragen, die wir für das Steuerprozeßrecht unterT ZPO und StPO in der Fassung der Bekanntmachung v. 12.9. 1950 (BGBI I S. 533 bzw. 629) auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12. 9. 1950 (BGBI I S. (55). 8 ArbGG v. 3.9.53 (BGBlI S.1267); SGG v. 3.9.53 (BGBlI S.1239); VwGO v. 21. 1. 1960 (BGBI I S. 17). 9 Der erste Entwurf der FGO wurde dem Bundestag von der Bundesregierung im Jahre 1955 zugeleitet (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucksache 1716). Da dieser Gesetzentwurf nicht verabschiedet wurde, hat die Bundesregierung den Entwurf in wenig veränderter Form beim 3. Deutschen Bundestag erneut eingebracht (Deutscher Bundestag,3. Wahlperiode, Drucksache 127). Da das Plenum des Bundestages auch diesen Entwurf nicht verabschiedet hat, verfiel auch er gern. §126 der Geschäftsordnung des Bundestages mit dem Ablauf der 3. Wahlperiode. Im März 1963 hat die Bundesregierungdem Bundesrat einen erheblich überarbeiteten und veränderten Gesetzentwurf zur Stellungnahme zugeleitet (Bundesrat 129/63). Am 2. 8. 1963 hat die Bundesregierung diesen Entwurf beim Bundestag eingebracht (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache 14(6). Die Aussichten, daß die FGO in der 4. Wahlperiode des Bundestages - ' dem Verfassungsauftrag des Art. 108 Abs. 5 GG folgend - zum Gesetz wird, sind nicht ungünstig (vgl. Ziemer, DStZ A 1963, 113). - Der vorliegenden Arbeit sind der beim 3. Bundestag eingebrachte Entwurf (als Entw. FGO I bezeichnet) und der neueste Entwurf (Entw. FGO II) zugrunde gelegt. Die Berücksichtigung beider Entwürfe erscheint geboten, da sie teilweise erheblich voneinander abweichen. 10 Das Gesetz über MaßnahInen auf dem Gebiete der Finanzgerichtsbarkeit vom 22.10.1957 (RGBI I S.17(6) und das Gesetz über den Bundesfinanzhof v. 29.6.1950 (BGBI I S.257) betreffen lediglich gerichtsverfassungsrechtliche Fragen, nicht aber das Verfahren vor diesen Gerichten. 11 Vgl. Anm.1.

1. Ziel und Rechtfertigung der Untersuchung

15

suchen wollen - angeregt, für die Lösung verwaltungsprozessualer Probleme nicht auf die Heranziehung der "oft besten Ergebnisse" der Rechtsprechung des RFH zum Steuerprozeßrecht zu verzichten. Wacke spricht dann die Vermutung aus, daß auch gerade Rechtskraft und Streitgegenstand in der Rechtsprechung des RFH eine befriedigende Lösung gefunden haben mögen. Diese Vermutung trifft jedoch nicht zu. Ohne die Ergebnisse der Arbeit bereits hier im einzelnen vorwegzunehmen, dürfen wir feststellen, daß weder die Rechtsprechung des RFH, des BFH oder der Finanzgerichte noch, soweit ersichtlich, das steuerliche Schrifttum eine den Erfordernissen der Praxis und dem Institut der Rechtskraft gerecht werdende Bestimmung der bezeichneten Begriffe gefunden hat. Über das Verhältnis von materieller Rechtskraft und Streitgegenstand schweigen sich Literatur und Rechtsprechung fast völlig aus. Der Begriff des Streitgegenstandes ist der Steuerrechtswissenschaft - von einigen später zu erörternden Ausnahmen abgesehen - nur im Zusammenhang mit den §§ 320 ff. (Wert des Streitgegenstandes) geläufig. Eine lobenswerte Ausnahme bedeutet insoweit die Arbeit von Gisela Niemeyer 12 , die als erste den Streitgegenstand im Steuerprozeß eingehend untersucht hat. Diese Arbeit, mit der wir uns hier noch nicht im einzelnen auseinandersetzen wollen, leidet jedoch darunter, daß Niemeyer die umfangreichen Erörterungen über den Streitgegenstand im Verwaltungsstreitverfahren außer Betracht lassen zu können glaube 3 • Es kann daher nicht überraschen, daß Niemeyers Untersuchungen zu einem völlig eigenständigen steuerrechtlichen Verfahrensgegenstand (das Wort "Streitgegenstand" wird für dieses Ergebnis vermieden) führen und dadurch ein nicht gerade positives Beispiel für die Annäherung des Steuerrechts an die übrige Rechtsordnung, insbesondere das übrige öffentliche Recht, geben. 2. Abgrenzung der Arbeit Die Arbeit befaßt sich nur mit der materiellen Rechtskraft der steuergerichtlichen Urteile. Aus den Betrachtungen wird daher nicht nur die Frage der materiellen Rechtskraft der Beschlüsse der Finanzgerichte, sondern auch die der von Verwaltungsbehörden erlassenen Rechtsmittelentscheidungen (Beschwerde- und Einspruchsbescheide)14 12 Der Gegenstand des Verfahrens bei der Anfechtung von Steuerbescheiden, Düsseldorf 1962. 18 S.27. 111-' VgI. dazu etwa: bejahend Klein, VerwArch Bd.45, 49 (71); ders., FZVerwR Bd. 77, 241 (268); Crisolli, S.174; Hensel, S.140; Kühn, StuW 1942 Sp.89 (104); iKriszeleit, S.31/32; verneinend Bettermann FR 1947, 76; Niemann, VerwArch Bd.40, 135 (149); ders., VjZStFR 1930, 173. (~18).

16

Einleitung

ausgeschieden. Offen lassen wir darüber hinaus das Problem, ob, in welchem Umfange und unter welchen Voraussetzungen Steuerbescheide in materielle Rechtskraft erwachsen15 • Dennoch werden die folgenden Untersuchungen auch für die Frage der Änderung und Berichtigung von Steuerbescheiden besondere Bedeutung haben. Gerade für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten (d. h. den allgemeinen und den besonderen) ist nämlich nicht nur die Rechtskraftwirkung für das später über denselben Streitgegenstand entscheidende Gericht interessant, sondern wichtiger ist in der Regel, ob und in welchem Umfange die Rechtskraftwirkung eines Urteils die an dem Verwaltungsstreitverfahren beteiligte Behörde hindert, von dem rechtskräftigen Verwaltungsgerichtsurteil durch Erlaß eines neuen, ändernden oder berichtigenden Verwaltungs akts abzuweichen. Entsprechend dem Thema der Arbeit werden die Erörterungen nur die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft betreffen. Das bedeutet, daß wir auf die Frage, wie weit eine steuergerichtliche Entscheidung in subjektiver Beziehung reicht, nicht eingehen.

15 VgI. dazu z. B.: bejahend Crisolli, aaO.; Hensel, S.14O; Friedlaender, StuW 1956 Sp. 233 ff.; Knöchlein, S.34; Fuchs, DStZ A 1956, 367 ff.; Paulick, FR 1962, 99 (100); BFH v. 24; 8. 56 !Ir 14/56 U, BStBl ur 1956, 287, BFHE 63, 235; verneinend Klein, VerwArch Bd.45, 49 (60 fI.); ders., FZVerwR Bd.77, 241 ,(260/261);. Bettermann, aaO.; Niemann, VerwArch Bd.4O, 135 (149); den., VjZStFR 1930, 173 (319 ff.); Wittneben, StbJB 1960/61 S.37 (49).

§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozefirecht 1. Das Wesen der Rechtskraft gerichtlicher Urteile Unter der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile versteht die allgemein anerkannte Ansicht diejenige Wirkung einer formell rechtskräftigen Entscheidung, die sich in der Maßgeblichkeit ihres Inhalts äußert. Inhalt ist dabei der in der Entscheidung enthaltene Ausspruch über die im einzelnen Fall eingetretene Rechtsfolge (der Tenor). über diese Rechtsfolge darf zwischen den am Verfahren Beteiligten auch außerhalb des Verfahrens, d. h. insbesondere in einem neuen Prozeß, nicht mehr gestritten werden (ne bis in idem). Die Parteien oder Beteiligten sind an ein zwischen ihnen ergangenes Urteil gebunden. Ein Gericht darf in einem neuen Prozeß von einer früheren gerichtlichen Entscheidung nicht abweichen; es ist an die frühere Entscheidung ebenfalls gebunden. Diesen Begriff der materiellen Rechtskraft legt man heute im Prozeßrecht überall dort, wo für Urteile eine Rechtskraftwirkung anerkannt ist, zugrunde1 • Umstritten ist allerdings das Wesen der materiellen Rechtskraft. In der Hauptsache wurden zwei Ansichten entwickelt, die materiellrechtliche und die prozessuale Rechtskrafttheorie2 • Es kann jedoch nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, in den entstandenen Theorienstreit einzugreifen. Hier sei nur vermerkt, daß die materiellrechtliche Auffassung in dem rechtskräfVgI. z. B. für das Zivilprozeßrecht: Rosenberg, § 148 I 1; Lent-Jauernig, II; &hönke-Schröder-Niese, § 73 I; Wieczorek, § 322, Anm. A I ff.; SteinJonas, § 322, Anm. II; Baumbach-Lauterbach, Einf. vor § 322, Anm.l; - für das Verwaltungsprozeßrecht: Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 59 I; ders., Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 121, Anm.l; Eyermann-Fröhler, VwGO, § 121, Rdnr.4; KHnger, VwGO, § 121, Anm. Dia; - für das Sozialgerichtsverfahren: Hofmann-Schroeter, § 141, Anm. 2/3; - ähnlich ist es wohl im Strafprozeßrecht, wo das Wesen der materiellen Rechtskraft allerdings weniger in der Bindung der Verfahrensbeteiligten und eines späteren Richters, als vielmehr im Verbrauch der Strafklage zu sehen ist; vgI. etwa Kern, § 50 B; Schwarz-Kleinknecht, EinI. 8 B; Löwe-Rosenberg-Jagusch, Vorbem. zu § 296, 1

§ 62

Anm.B7.

2 Vgl. dazu und dem fOlgenden etwa Rosenberg, § 148 II, und LentJauernig, § 62 III. Grundlegende Ausführungen zur prozessualen Rechtskrafttheorie finden sich bei Bötticher, Kritische Beiträge ..., S. 95 ff.

2 Müffelmann

18

§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

tigen Urteil die Grundlage für eine materiellrechtliche Gestaltung der Rechtsbeziehungen der Parteien bezüglich des streitigen Rechtsverhältnisses erkennt. Das rechtskräftige Urteil ist also niemals unrichtig. Es hat konstitutive Wirkung, indem es das nichtbestehende festgestellte Recht zum Entstehen, das zu Unrecht verneinte zum Erlöschen bringt. Demgegenüber verneint die prozessuale Rechtskrafttheorie einen Einfluß des rechtskräftigen Urteils auf das materielle Recht. Das Urteil hat lediglich deklaratorische Wirkung. Obwohl es unrichtig sein kann, sind die Parteien oder Beteiligten und der spätere Richter daran gebunden. Eine abwägende Erörterung dieser Theorien erscheint auch deshalb entbehrlich, weil die neuere Ansicht im Schrifttum3 und in der Rechtsprechung! fast einhellig der prozessualen Rechtskrafttheorie folgt. Gegen die materiellrechtliche Rechtskraftauffassung hat man zutreffend insbesondere geltend gemacht, daß sie an das unrichtige Urteil anknüpft, das sicher nicht die Regel darstellt. Da die überwiegende Meinung 5 darüber hinaus die herrschende prozessuale Theorie auch für das Verwaltungsprozeßrecht anwendet, bestehen keine Bedenken, sie ebenso für das Steuerprozeßrecht zugrunde zu legen, wenn sich auf Grund der späteren Erörterungen ergeben sollte, daß auch steuergerichtlichen Urteilen eine materielle Rechtskraftwirkung mit dem für das übrige Prozeßrecht dargelegten Begriffsinhalt zukommt. Auf die im Zivilprozeßrecht innerhalb der prozessualen Theorie entstandene Frage, ob die der materiellen Rechtskraft innewohnende Bindungswirkung auch für den späteren Richter jede erneute gerichtliche Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge ausschließt6 oder ob sie unter grundsätzlicher Zulässigkeit einer erneuten Entscheidung lediglich eine Abweichung von der früheren nicht gestattet7, wollen wir hier noch nicht eingehen. Dieser Punkt ist möglicherweise für das Verwaltungsprozeßrecht einschließlich des Steuerprozeßrechts anders als für das Zivilprozeßrecht zu beurteilen, weil bei Anfechtungsklagen der von der Verwaltung Inanspruchgenommene in die Rolle des Klägers gedrängt ist und sich dadurch gegenüber dem Zivilprozeß praktisch eine Vertauschung der Parteirollen vollzieht8 . Dieser Umstand rechtfertigt es, diese Frage hier bei der allgemeinen Begriffsbestimmung der Rechtskraft zunächst dahinstehen zu lassen und sie späteren Erörterungen vorzubehalten. 3 Vgl. z. B. Rosenberg, § 148 II 3; Schönke-JSchröder-Niese, § 73 VI; LentJauernig, § 62 III; Baumbach-Lauterbach, Einf. vor § 322, Anm.2 B; SteinJonas-Schönke-PohZe, § 322, Anm. II 1. 4

Vgl. etwa RGZ 94, 271 (276); 129, 246 (248); 130, 119 (122).

UZe, Verwaltungsprozeßrecht, §59 I; ders., Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 121, Anm. I; Eyermann-FröhZer, VwGO, § 121, Rdnr.4; KZinger, VwGO, 5

§121, Anm. DIa. 6 So die herrschende Meinung zum Zivilprozeßrecht, vgl. etwa Rosenberg, § 148 II 4; Lent-Jauernig, § 62 V; Baumbach-Lauterbach, Einf. vor § 322, Anm.3A. 7 So z. B. Stein-Joans-Schönke-PohZe, § 322, Anm. II 2; ähnlich RGZ 136, 161, (163). 8 Wacke, AöR Bd.79, 158 (161).

2. Die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile

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2. Die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile Die Frage, ob verwaltungsgerichtliche Urteile in materielle Rechtskraft erwachsen, war vor Ergehen eindeutiger Regelungen in den Verwaltungsgesetzen der einzelnen Länder äußerst umstritten9 • Der entschiedenste Gegner der materiellen Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile war Zorn 10• Er meinte, die Verwaltungsgerichtsbarkeit sei überhaupt nichts von der Verwaltung verschiedenes. Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen seien daher nichts anderes als Verwaltungsakte. Verwaltungsakte aber seien der materiellen Rechtskraft wegen des öffentlichen Interesses an fehlerfreiem staatlichen Handeln nicht fähig. Für die Annahme der materiellen Rechtskraft der im Verwaltungsstreitverfahren ergangenen Urteile haben sich insbesondere SchuLtzensteinll und Loening 12 ausgesprochen. Sie vertreten die Ansicht, die materielle Rechtskraft folge aus dem Wesen eines Urteils als des Abschlusses eines sich in festen Formen bewegenden Verfahrens. Die der Rechtskraft innewohnende Bindung der Verfahrensbeteiligten an das Urteil sei geboten, da sonst jeder Beteiligte jederzeit ein neues Verfahren beginnen könne, so daß das verwaltungsgerichtliche Urteil "zu einem Schlag ins Wasser" werde 13. Auch Otto Mayer hat die materielle Rechtskraftwirkung verwaltungsgerichtlicher Urteile bejaht. Er hat dargelegt, daß die Tatsache, daß das Verwaltungsgerichtsurteil in einem Parteiverfahren unter Gewährung rechtlichen Gehörs zustande komme, bereits gebiete, diesen Urteilen eine dem Zivilprozeßrecht entsprechende materielle Rechtskraft zuzuerkennen14 • Nachdem der 26. Deutsche Juristentag einen die materielle Rechtskraft der Ur9 Derartige die materielle Rechtskraft anerkennende rechtliche Regelungen erfolgten teilweise mit Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. So etwa BadVO 1864, § 93 (GrhzglBadRegBI 1864, 333 ff.); ebenso BadVO 1884 (BadGuVOBl 1884, 385 ff.); Württ. Gesetz über die Verwaltungrechtspflege v. 16.12.1876, § 52 (RegBIKgrWürtt 1876, 485); Sächs. Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege v. 19.7.1900, § 61 (GuVBIKgrSachsen 1900, 486); - für die spätere Zeit vgl. etwa § 146 der Landesverwaltungsordnung für Thüringen v. 10.6.1926 (GS, S. 177 ff.), § 87 des Württ. Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes; § 47 BrVGG v. 6.1.1924 (BrGBl S.23), ebenso § 43 BrVGG v. 14.9.1933 (BrGBI S.351); § 55 Abs.1 Hamb. Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit v. 2. 11. 1921 (HambGuVBI S. 585). In Preußen, wo das verwaltungsgerichtliche Verfahren zuerst durch die §§ 140 ff. und 187 ff. der Kreisordnung vom 13. 12. 1873 (GS S. 661), später durch das Gesetz betreffend die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsstreitverfahren v. 3.7.1875 (GS S.375) und zuletzt durch die §§ 61 ff. des Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung v. 30.7.1883 (GS S.195) geregelt war, findet sich keine Bestimmung über die materielle Rechtskraft. 10 VerwArch Bd. 2, 74 (121 ff.); Festgabe für Paul Krüger, S. 510 (528 ff.). 11 VerwArch Bd.4, 77 (87). 12 VerwArch Bd.7, 1 (23 ff.). 13 Loening, aaO., S.23/24; Schultzenstein, aaO., S.87. 14 Lehrbuch, 1. Aufl., § 13 II (S. 174 ff.); 2. Aufl., § 16 (S. 167 ff.); 3. Aufl., § 16 (S. 162 ff.) und AöR Bd.21, 1 ff.; zustimmend ferner Kunze, S.113/114; v. Sarwey, S.733.



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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

teile der Verwaltungsgerichte bejahenden Beschluß gefaßt hatte15, wurde dieses Rechtsinstitut auch für das Verwaltungsprozeßrecht allgemein anerkannt16 . Bei der Wieder errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem Umsturz im Jahre 1945 haben die Verwaltungsgerichtsgesetze das Institut der materiellen Rechtskraft eindeutig bestätigt17 • Der Bundesgesetzgeber hat die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile bei der bundeseinheitlichen Regelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in § 121 VwGO anerkannt. Auch für den einzigen neben der Finanzgerichtsbarkeit bestehenden besonderen Verwaltungsgerichtszweig, die Sozialgerichtsbarkeit, hat der Gesetzgeber in § 141 Absatz 1 SGG eine positive Bestimmung über die materielle Rechtskraft der Urteile der Sozialgerichte getroffen.

3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile Die AO, nach der sich das Verfahren vor den Finanzgerichten und dem BFH infolge Fehlens des in Art. 108 Absatz 5 GG vorgesehenen Gesetzes über die Finanzgerichtsbarkeit weiterhin regelt, enthält in dem das Rechtsmittelverfahren betreffenden Abschnitt (§§ 228-324) keine gesetzliche Bestimmung über die Frage, ob unanfechtbar gewordene Urteile der Finanzgerichte und Urteile des BFH in materielle Rechtskraft erwachsen. Fraglich ist daher, ob man eine Rechtskraftwirkung steuergerichtlicher Urteile auch ohne gesetzliche Regelung annehmen kann. Zu der Zeit, als die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile noch heftig umstritten war, hat man auch bereits das Problem der materiellen Rechtskraft für die Entscheidungen dieser Gerichte in Steuersachen - besondere Steuergerichte gab es zu dieser Zeit noch nicht - erörtert18 • 11> "Die Rechtskraft der verwaltungs gerichtlichen Urteile und der ihnen gleichstehenden Entscheidungen ist grundsätzlich anzuerkennen, und zwar auch in der Weise, daß die Urteile (Entscheidungen) den Staat binden." Verhandlungen des 26. Deutschen Juristentages, S. 431; abgedruckt auch bei Klein, VerwArch Bd.45, 49 (64) und FZVerwR Bd.77, 241 (250). 16 Klein, aaO.; Friedrichs, Verwaltungsrechtspfiege, S.502; Ipsen, S.95; Fleiner, S.271 ff.; JelZinek, S. 307 ff.; Co ester, S.98; Niemann, VjZStFR 1930, 173 (306); ders., VerwArch Bd.40, 135 (145); vgl. auch BVerwG v. 30.8.1962 I C. 161/58 (NJW 1963, 172) zum pr. Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung. 17 Vgl. Z. B. § 80 MRVO Nr.65 (Amtsbl. der BritMilReg 1948, 799); § 84 VGG (BayGVOBI 1946, 281; BrGBl 1947, 171; HessGVOBl 1946, 194; WürttBadRegBI 1946, 221); § 70 VGG Rheinland-Pfalz (GVOBI 1950, 103); § 51 BVerwGG (BGBI 11952,625). 18 Obwohl der Reichsgesetzgeber nach Artikel 4 Ziff. 13 der Reichsverfassung v. 16. 4. 1871 - Gesetzgebungsbefugnis des Reichs über "das gerichtliche Verfahren" - die Möglichkeit hatte, auch das verwaltungsgerichtliche Verfahren gesetzlich zu regeln, hat er diese Materie - auch soweit sie die

3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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Fuisting hat die Frage für das preußische Staatssteuerrecht untersucht190, das ebenso wie die AO insoweit keine gesetzliche Regelung enthielt. Fuisting hat die materielle Rechtskraft der Urteile des OVG im Beschwerdeverfahren nach den Vorschriften des PrEStG20 abgelehnt, da die Rechtskraft nur das Ergebnis eines zwischen Parteien stattfindenden Prozesses sein könne, ein derartiger Prozeß im Beschwerdeverfahren aber nicht vorliege. Dem ist Loening21 entgegengetreten, indem er nachwies, daß das einkommensteuerliche Beschwerdeverfahren ein gewöhnliches Verwaltungsstreitverfahren sei, so daß auch den in diesem Verfahren ergehenden Entscheidungen des OVG in gleicher Weise wie den Urteilen im Verwaltungsstreitverfahren nach dem Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung vom 30.7.188322 materielle Rechtskraft zukomme.

Nachdem das Steuerverfahrensrecht durch die AO im Jahre 191923 reichseinheitlich geregelt worden war, nahm sich das Schrifttum dieses Rechtsgebietes, insbesondere auch der Fragen der Rechtskraft im Steuerrecht, in größerem Umfange an. a) § 94 Ab s atz 4 (§ 76 Ab s atz 3) der Re ich s ab gab e n ordnung als Rechtsgrundlage der Rechtskraft Zunächst hat man versucht, die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile aus der AO selbst zu rechtfertigen. Diese Versuche knüpften an § 76 Absatz 3 AO 1919 (= § 94 Absatz 4 AO n. F.)24 an, wonach andere Rechtsmittelentscheidungen als Einspruchsentscheidungen nicht zurückgenommen oder geändert werden können. Anfechtung von Steuerbescheiden betraf - den Landesgesetzgebern überlassen. Das ergibt sich aus § 4 EGGVG, wonach "durch die Vorschriften des GVG über die Zuständigkeit der Behörden ... die Landesgesetzgebung nicht gehindert" wurde, "den betreffenden Landesbehörden jede andere Art der Gerichtsbarkeit ... zu übertragen". In Preußen z. B. (vgl. das PrEStG v. 24. 6. 1891 - GS S. 175 - und das PrGewStG v. 24. 6. 1891 - GS S. 205) führte das gerichtliche Verfahren in Staatssteuersachen zum OVG. Bei der Einkommensteuer war das Rechtsmittel der Berufung gegen Steuerbescheide an die für jeden Regierungsbezirk gebildete Berufungskommission, eine Verwaltungsbehörde, gegeben (§§ 40, 41 PrEStG), gegen deren Entscheidung die Beschwerde an das OVG (§ 44 PrEStG) zulässig war. Bei der Gewerbesteuer ergab sich die Möglichkeit der Beschwerde an das OVG (§ 37 PrGewStG), nachdem der Steuerausschuß über den Einspruch gegen eine Veranlagung (§ 35 PrGewStG) und die Bezirksregierung über die Berufung gegen die Entscheidung des Steuerausschusses (§ 36 PrGewStG) befunden hatte. 19 VerwArch Bd.4, 293 (311). 20 Vgl. Anm.18. 21 VerwArch Bd. 7,1 (72/73). 22 Vgl. Anm.9. 23 AO v. 13. 12. 1919 (RGBl 1919, 1993) verkündet am 22. 12. 1919, in Kraft getreten am 23. 12. 1919. 24 Die AO ist in neuer Fassung bekanntgemacht unter dem 22. 5. 1931 (RGBI I 1931, 161).

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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

Als erster entnahm Lucas 215 dieser Bestimmung eine "Unverbrüchlichkeit" dergestalt, daß weder das erkennende Gericht noch etwa die Steuerbehörde allgemein zu einer Änderung und Berichtigung der Steuerfestsetzung oder einer Nachveranlagunig berechtigt sei. Lucas stützt dieses Ergebnis auf die Stellung des § 76 Absatz 3 hinter dem auf die Berichtigungs- und Änderungsbefugnisse (§§ 212, 213) hinweisenden § 76 Absatz 2. § 76 Absatz 3 schließe nicht nur eine Änderung und Zurücknahme durch die Rechtsmittelbehörde selbst, sondern, da diese Vorschrift sich auf die vorhergehenden Absätze 1 und 2 beziehe, auch durch die Steuerbehörde aus. Lucas läßt von diesem Grundsatz eng begrenzte Ausnahmen ZU26. Auch der RFH27 erkennt in § 76 Absatz 3 a. F. eine Vorschrift über die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile, ohne jedoch diese Auffassung zu begründen. Ebenso ist HeTbeTt Kühn 28 der Ansicht, daß in § 76 Absatz 3 a. F. eine Regelung der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile enthalten sei. Allerdings verwirft er mit Hensel 29 die von Lucas aus dem Wortlaut des § 76 entnommene Begründung für diese Ansicht, da bei der AO 1919 als einem wenig durchgefeilten Gesetz für systematische Erwägungen kein Raum sei. HeTbert Kühn findet seine Ansicht aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift begründet 30• Enno BeckeT, der Schöpfer der AO, der nach seinen eigenen Angaben nicht steuertechnisch ausgebildet gewesen sei 31, habe sich vermutlich an die allgemeine verwaltungsrechtliche Literatur über die Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile gehalten und daher in Anlehnung an die dort erzielten Ergebnisse durch die Fassung des § 76 Absatz 3 einen möglichst weitgehenden Ausschluß der Abänderbarkeit einer Rechtsmittelentscheidung normieren wollen. Diese Vermutung werde dadurch bestätigt. daß BeckeT selbst, als er den Gedanken, die ihn bei der Ausarbeitung des § 76 Absatz 3 geleitet hätten, noch besonders nahe stand, diese Vorschrift nicht nur auf die Rechtsmittelbehörde, sondern auch auf die Veranlagungsbehörde bezogen habe 32. Demgegenüber sei ohne Bedeutung, daß Becker von dieser Ansicht später - möglicherweise wegen des heftigen Widerstandes gegen diese Auslegung - ausdrücklich abgerückt sei 33• Kühn 211 S. 146 ff. 26 z. B. für § 74 Abs. 3 (= § 92 Abs.3 n. F.) - Berichtigung wegen Schreibund Rechenfehlern und ähnlicher offenbarer Unrichtigkeiten -, für § 214 (= § 4 Abs.2, 3 StAnpG) - Änderung bedingter Steuerfestsetzungen -, sowie für Rechtsmittelentscheidungen über vorläufiige Steuerbescheide und für strafbar beeinfiußte Rechtsmittelentscheidungen. Offen bleibt allerdings, wer in den ersten drei Fällen zur Berichtigung oder Änderung berufen ist, während im letzten Fall - unverständlicherweise - der Steuerbehörde die Richtigstellung obliegen soll. 27 Urt. v. 15. 12. 1922 11 A 274/22, RFHE 11, 85. 28 S. 238 fi. 291 1. Aufl.., S. 158, Anm. 4. 30 S. 243 fi. 31 Hinweis auf Becker, Kom., 1. Aufi., Einl., S. 2. 32 Hinweis auf BeckeT, Kom., 1. Aufi., § 75, Anm. 1; § 76, Anm. 5; § 212, Anm.10. 33 Vgl. etwa BeckeT, Kom., 7. Aufl.., § 212, Anm.12.

3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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entnimmt die Richtigkeit seiner Ansicht ferner der Tatsache, daß der § 76 Absatz 3 zwecks Herbeiführung einer leichten Abänderbarkeit von Einspruchs entscheidungen geändert worden seiM. Diese Gesetzesänderung sei unverständlich, wenn bereits vorher die Veranlagungsbehörden zur Änderung der Berichtigung von Einspruchsentscheidungen berechtigt gewesen seien. Hensel, der es in der ersten Auflage seines Lehrbuches abgelehnt hatte, dem § 76 Absatz 3 eine uneingeschränkte Rechtskraftwirkung für steuergerichtliche Urteile zu entnehmen35, hat diese ablehnende Ansicht in der dritten Auflage aUfgegeben 36• Er meint, daß die Annahme eines "Redaktionsversehens" nicht mehr in Betracht komme, nachdem die Änderungs- und Berichtigungsbestimmungen der AO nach deren Inkrafttreten mehrfach durchgesehen und zum großen Teil auch geändert worden seien. Es müßten daher Folgerungen aus dem Aufbau des § 94 gezogen werden. Hensel kommt dann aus den gleichen überlegungen wie Lucas dazu, daß Rechtsmittelentscheidungen nicht nur gegen Änderungen nach § 91 Absatz 1, sondern auch gegen Berichtigungen und Nachforderungen nach den §§ 222 ff. gefeit seien. Er hält jedoch das von ihm gefundene Ergebnis, daß nach einer Rechtsmittelentscheidung jede Änderung oder Berichtigung bezüglich des gesamten Steueranspruches durch die Steuerbehörde unzulässig sei, für ungerechtfertigt und versucht daher, den Umfang der Rechtskraftwirkung im Wege der Auslegung des § 94 Absatz 4 einzuschränken37 • Auf diesen Gedanken ist jedoch erst später einzugehen. Von Bedeutung ist hier zunächst nur, daß Hensel die Frage nach der materiellen Rechtskraft steuerverfahrensrechtlicher Rechtsmittelentscheidungen an § 76 Absatz 3 (§ 94 Absatz 4) anknüpft.

Auch Tipke-Kruse 38 sind der Auffassung, daß § 94 Absatz 4 (§ 76 Absatz 3~ eine Regelung der materielen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile enthalte. Die überwiegende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung erkennt in § 94 Absatz 4 (§ 76 Absatz 3) jedoch nur eine dem § 318 ZPO entsprechende Regelung, die lediglich eine formelle Bindung der Rechtsmittelbehörde selbst an ihre Entscheidung bedeute, d. h. eine Änderung und Zurücknahme derselben durch das Gericht oder die Rechtsmittelbehörde ausschließe 39 • M Durch § 14 Ziff.1 der Aufwertungs- und Vereinfachungsverordnung v. 11. 10. 1923 (RGBI 1923, 939). 35 Wie Anm. 29. 36 S.133; wegen der inzwischen erfolgten Neufassung der AO geht Hensel von dem gleichlautenden § 94 Abs. 4 n. F. aus. 37 S. 134/135. 38 Bd. I, § 93, Rdnr.3, und § 222, Rdnr.7; ebenso RFH, Urt. v.1l. 7.1928 IV A 91/28, RFHE 24, 27; StuW 1928 Nr.467. 39 Niemann, VjZStFR 1930, 173 (300); Becker, Kom., § 76, Anm.5; BeckerRiewald-Koch, § 94, Anm. 6 Abs. 2; v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, § 94, Anm.10; Kriszeleit, S.78; RFH v. 20.5.31 VI A 687/30, RFHE 29, 61, StuW 1931 Nr. 762; v. 22. 3. 33 IV A 42/33, RFHE 33, 76.

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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

Diese Auffassung über die Bedeutung des § 94 Absatz 4 (§ 76 Absatz 3) ist zutreffend, denn sie allein trägt dem Wortlaut und dem Sinn dieser Vorschrift Rechnung. Die Vorschrift sagt, daß Einspruchsentscheidungen abgeändert, andere Rechtsmittelentscheidungen dagegen nicht abgeändert werden können. Die Norm bezieht sich also auf die Rechtsmittelentscheidung selbst, nicht aber auf den der Rechtsmittelentscheidung zugrunde liegenden Steuerverwaltungsakt40 • Die Ansicht, die in § 94 Absati 4 (§ 76 Absatz 3) auch ein Änderungsverbot an die Steuerbehörde sieht, verkennt, daß bei einer späteren Änderung oder Berichtigung der Steuerfestsetzung, über die eine richterliche Entscheidung ergangen ist, nicht diese, sondern lediglich die Steuerfestsetzung selbst geändert oder berichtigt wird. Ob und in welchem Umfange die Steuerbehörde dabei von einer in derselben Sache ergangenen steuergerichtlichen Entscheidung abweichen darf, ist allerdings fraglich. Diese Frage betrifft jedoch die Bindung der Steuerbehörde an den Inhalt eines steuergerichtlichen Urteils. § 94 (§ 76) enthält aber nach allgemein anerkannter Ansicht nur Regelungen über das Änderungs- oder Zurücknahmerecht erlassener Staatsakte in demselben Verfahren4 1, hat also mit der Bindung an den Inhalt des Staatsakts nichts zu tun. Auch Absatz 4 (Absatz 3) kann sich daher lediglich auf die Frage beziehen, ob die Rechtsmittelbehörde selbst ihre einmal erlassene Entscheidung später - in Fortsetzung des Rechtsmittelverfahrens _. wieder zurücknehmen oder ändern darf. Die Frage, ob etwa die Steuerbehörde das Urteil eines Steuergerichts oder die Entscheidung einer anderen Rechtsmittelbehörde abändern oder zurücknehmen darf, ist in der AO nicht geregelt. Mit Niemann und Becker42 ist diese Frage als selbstverständlich zu verneinen. Wenn bereits der Rechtsmittelbehörde selbst die Änderung oder Zurücknahme der erlassenen Rechtsmittelentscheidung nicht gestattet ist, kann die Änderung der Steuerbehörde erst recht nicht erlaubt sein, soll nicht das Rechtsmittelverfahren jeder Bedeutung entkleidet werden. Ebenso wie die in § 318 ZPO ausgesprochene Bindung der Zivilgerichte an ihre Urteile nicht mit der materiellen Rechtskraft identisch ist 43 , besteht daher keine Übereinstimmung zwischen der Unabänderlichkeit steuergerichtlicher Urteile gem. § 94 Absatz 4 und deren materieller Rechtskraft. So zutreffend Niemann aaO. Kühn, Kom., § 94, Anm.l; Tipke-Kruse, § 94, Anm.l; Vogel, Berichtigungsveranlagung, S.9; Bettermann, FR 1947, 76 (77); Hippe, S.47. 40

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aaO.

Rosenberg, § 146 I 2; Baumbach-Lauterbach, § 318, Anm. 1; Stein-JonasSchönke-Pohle, § 318, Anm. I 1. 43

3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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b) An der e Ans ich t e n übe r die Re c h t fe r t i gun g der Rechtskraft Obwohl also die AO Vorschriften über die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile ni.cht enthält, haben sich Schrifttum44 und Rechtsprechung 45 fast einhellig für die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile ausgesprochen. Der RFH hat in seiner grundlegenden Entscheidung v. 25. 3. 192746 die Bindung der Beteiligten an eine unanfechtbare Rechtsmittelentscheidung eines Steuergerichts aus der strengen Trennung von rechtsprechender und verwaltender Staatstätigkeit entnommen. Wenn der Verwaltung eine Abweichung und Wiederaufnahme eines durch richterlichen Spruch beendeten Rechtsmittelverfahrens gestattet werde, würde das nach Ansicht des RFH eine untragbare Verwaltungskontrolle über den Richter und eine Bedeutungslosigkeit des Rechtsmittelverfahrens zur Folge haben. Der II. Senat des BFH entwickelt für die Bejahung der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile eine ähnliche Begrundung47. Art.20 Absatz 2 Satz 2 GG habe den Grundsatz der Gewaltenteilung zum tragenden Organisationsprinzip des Staates erhoben. Dieses Prinzip gestatte nicht, daß Entscheidungen der Finanzgerichte oder des BFH durch eine Verwaltungsbehörde nachgeprüft würden. Vielmehr sei die Rechtskraft dieser Entscheidungen unabänderlich. Auch der VII. Senat entnimmt die Rechtskraft rechtsstaatlichen Gesichtspunkten48 • 44 Bettermann, FR 1947, 76; Bühler, Allgemeines Steuerrecht, S.335; Berger, Steuerprozeß, § 245, Anm. 2 b 4; Blencke, DStRu 1959, 224 (225); Becker, Kom., § 212, Anm. 12, und Vorbem. 2 vor § 217; Becke.rRiewald-Koch, Vorbem. 3 Abs. 6 vor § 91; Coester, S. 74, 304; Crisolli, S. 174; Ehlers, StuW 1949 Sp. 555 (559); Friedlaender, Stuw 1956 Sp. 233; ders., StuW 1956 Sp. 667; Hippe, S.42; Hensel, Anm. 4 auf S.139/ 140; Klein, VerwArch Bd.45, 49 (57); ders., FZVerwR Bd.77, 241 (268); Knöchlein, S.34; Kriszeleit, S.31/32; Kühn, StuW 1942 Sp. 89 (104); ders., Kom., § 222, Anm. 7 e; Klempt-Meyer, S.39/40; Leibrecht, Stuw 1953 Sp.127 (129); List, FR 1958, 172 (175); Niemann, VjZStFR 1930, 173 (315 ff.); ders., VerwArch Bd.40, 135 (150); Niemeyer, S.45; Reche, S.25; ßcheuffler, StuW 1940 Sp.243 (249/250);Spitaler in Hübschmann-Hepp-Spitaler, § 222, Anm. 12; Theis, StWa 1937, 105 (106); Tipke, FR 1962, 73; ders., NJW 1962, 1040 (1044); ders. in Tipke-Kruse, Bd. II, § 282, Rdnr.5; Vogel, StRK, AO § 92, Anm. zu R.18; ders., Berichtigungsveranlagung, S.69; von Wallis, FR 1961, 53; Wragge, S.37; Zitzlaff, StuW 1936 Sp.1493 (1497).

45 RFH v. 25.3.27 II A 66/27, RFHE 21, 85, StuW 1927 Nr.296; v. 11.7.28 IV A 91/28, RFHE 24, 27, StuW 1928 Nr.467; v. 1. 4. 30 II A 689/29, StuW 1930 Nr.454; v. 17.6.30 Ie A 212/30, StuW 1930 Nr.1310; BFH v. 26.9.1952 III 134/52 U, BFHE 56, 752, BStBl III 1952, 289; v. 30.6.56 III 157/54 U, BFHE 63, 53, BStBl III 1956, 216; v. 1. 2. 57 III 188/56 U, BFHE 64, 253, BStBl III 1957, 98; v. 18.9.57 II 195/56 U, BFHE 65, 495, BStBI III 1957, 423; v. 22.7.60 III 95/59 U, BFHE 71, 741, BStBl III 1960, 524; v. 11.1.61 II 272/58 U, BFHE 72, 440; BStBl III 1961, 162; v. 11.10.61 VII 13, 14, 15/61 U, BFHE 63, 53, BStBl III 1956, 216; v. 1. 2. 57 III 188/56 U, BFHE 64, 253, III 1962, 55; v. 21. 10.60 III 2/59, HFR 1961, 64. 46 Vgl. Anm. 45. 47 Urt. v. 18.9.57 II 195/56 U, aaO. 48 Urt. V. 11. 10. 61 VII 13, 14, 15/61 U, aaO.

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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

Einzelne Schriftsteller leiten die materielle Rechtskraft steuerlicher Urteile teilweise ebenfalls aus dem Rechtsstaatsgedanken49 oder dem Wesen des Rechtsmittelverfahrens 50 ab. Andere51 meinen, der Schutz des besonderen Vertrauens, das der Entscheidung eines Steuergerichts von den Beteiligten, insbesondere den Steuerpflichtigen, entgegengebracht werde, rechtfertige die Bindung der Gerichte selbst und der Beteiligten an die rechtliche Beurteilung in einer unanfechtbaren Entscheidung. Niemann 52 entnimmt die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile dem Wesen gerichtlicher Urteile. Die materielle Rechtskraft sei die Wirkung einer Rechtsfeststellung, die in einem gerichtlichen Verfahren erfolgt sei, das die Entscheidung einer zwischen mindestens zwei Parteien streitigen Rechtslage bezwecke. Die Rechtsfeststellung durch das Steuergericht ergebe sich entweder daraus, daß bei abweisenden Urteilen festgestellt werde, der angefochtene Bescheid sei zutreffend, und bei Urteilen, die entweder zu einer Neufestsetzung der Steuer oder zu einer Aufhebung des angefochtenen Bescheides führten, daß die vom Gericht vorgenommene Rechtsgestaltung zulässig sei. Das Verfahren vor den Steuergerichten als unabhängigen Gerichten53 sei auch ein echtes Partei verfahren, in dem sich der Steuerpflichtige oder sonst Beteiligte und der Steuergläubiger als Parteien gegenüberständen. Mit Niemann stimmen im Ergebnis die Autoren übereinM, die den Grundsatz der Rechtskraft vom Zivil-, Straf- oder Verwaltungsprozeßrecht in das Steuerprozeßrecht - wohl im Wege der Rechtsanalogie 56 - übertragen. Vogel 56 schließlich stützt die materielle Rechtskraft richterlicher Urteile unter Bezugnahme auf Arndt57 auf die in Art. 97 Absatz 1 GG verfassungs rechtlich garantierte richterliche Unabhängigkeit 58 • Nach Erlaß des § 1 StAnpG hat insbesondere Eberlein5 \l1 ablehnend gegen die auch damals bereits herrschende Ansicht über die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile Stellung genommen. Er hat geltend gemacht, daß der Rechtskraftgedanke lediglich individuelle Belange berücksichtige. Im Interesse des Volksganzen müsse die Erreichung einer absoluten steuerlichen Gleichmäßigkeit angestrebt werden. Das sei nur möglich, wenn auch den steuergerichtlichen Entscheidungen formal-juristische Bindungen aberFriedlaender, StuW 1956 Sp. 667. Becker, Kom., § 212, Anm. 12; Kühn, Kom., aaO.; Leibre·cht, Spitaler und Theis, jeweils aaO.; RFH, Urt. vom 11.7.28 IV A 91/28, aaO. 51 Ehlers und Spitaler, aaO. 52 VjZStFR 1930, 173 (315 ff.); ähnlich Berger, aaO.; Bettermann, MDR 49

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1954, 7 (allerdings bezüglich der Urteile der allgemeinen Verwaltungsgerichte). 53 Hinweis auf Art. 102 WRVerf. M Bühler, Coester, Crisolli, Klein, IKnöchlein, Kriszeleit, Reche, jeweils aaO. (vgl. Anm. 44). 56 Eine Begründung wird in der Regel nicht gegeben; Bühler z. B.: " ... weil sie auch Erkenntnisse sind". 66 Berichtigungsveranlagung, S.14. 57 NJW 1959, 605 (606). 68 Ähnlich bereits Bettermann, FR 1947, 76. 59 StWa 1937, 165 (167) und 370 (371); ebenso anscheinend Giese, DVBltr. 1937, 7 (8, 12) und Berger, DStZ 1940, 322.

3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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kannt würden60 • Diese Ansicht hat sich jedoch nicht durchzusetzen vermocht, wie das in Anmerkung 44 angeführte Schrifttum zeigt. Der einzige, der sich in der neueren Literatur mit der Wirkung steuergerichtlicher Urteile auf ein späteres Berichtigungsverfahren befaßt und sich nicht eindeutig zur materiellen Rechtskraft der Urteile bekennt, ist Ringleb 61 • Er meint, daß Steuerfestsetzungen, die in Urteilen der Finanzgerichte oder des BFH erfolgt seien, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 3 durch das Finanzamt berichtigt werden könnten. Das ergebe sich daraus, daß die Steuerfestsetzung des Finanzgerichts nach den Vorschriften der AO eine Fortsetzung des Veranlagungsverfahrens des Finanzamts sei. Er weist dabei nicht auf die Einschränkungen hin, die die Rechtsprechung des RFH und des BFH im Hinblick auf die Rechtskraft der Urteile für derartige Berichtigungen gefordert hat62. Man kann jedoch annehmen, daß Ringleb als Bundesrichter des BFH auf dem Boden dieser ständigen Rechtsprechung steht und ebenfalls eine schrankenlose Berichtigung von Steuerfestsetzungen in steuergerichtlichen Urteilen nicht befürwortet. Man wird Ringleb daher nicht als Gegner der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht ansehen können. c) E i gen e Auf f ass u n g übe r die R e c h t s g run dIa g e der Rechtskraft Der herrschenden Ansicht über die Fähigkeit steuergerichtlicher Urteile, materielle Rechtskraftwirkungen zu entfalten, ist zuzustimmen. Auch die Entwürfe der FG0 63 gehen in wörtlicher Übereinstimmung mit § 121 VwGO von der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile aus. Wenn das Institut der Rechtskraft im Steuerprozeßrecht auf Grund der seit langer Zeit unbestrittenen Übung und des übereinstimmenden Geltungswillens nicht bereits eine gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt hätte 6 4, könnte man diese Vorschriften der Gesetzentwürfe sicher als ihre Rechtsgrundlage heranziehen. Es beginnt sich nämlich die Ansicht durchzusetzen, daß für die Entscheidung steuerprozessualer Probleme die Grundsätze der Entwürfe der FGO herangezogen werden können, da die darin enthaltenen Bestimmungen dem Wesen des gerichtlichen Verfahrens nach heutigem Rechtsdenken am ehesten entsprechenG". aaO., S. 167 und 371. DStR 1962, 116. 62 Vgl. unten § 2. 63 § 96 Abs. 1 S. 1 Entw.FGO I, § 106 Abs. 1 S. 1 Entw. FGO H. 64 Langwährende übung und übereinstimmender Geltungswille sind die Kriterien des Gewohnheitsrechts, vgl. Lehmann, § 3 UI, und Enneccerus60 61

Nipperdey, § 39 I, lI. 66 Hoffmann, FR 1962, 276 (277); dieser Ansicht scheint auch der BFH zuzuneigen, denn er nimmt im Urt. vom 1. 8. 1961 I 100/60 S, BStBI III 1962, 55, BFHE 74, 144, für die Frage der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile ausdrücklich und ohne Einschränkung Bezug auf § 96 Entw. FGO I; ähnlich BFH v. 3. 3. 59 I 76/57 S, BStBl IU 1959, 251, BFHE 68, 661, und v. 9. 7. 59/5. 11. 59 IV 131/57 U, BStBl III 1960, 122, BFHE 70, 326, be-

züglich der Untätigkeitsklage im Steuerprozeßrecht.

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§ 1 Der Begriff der materiellen ReChtskraft im Steuerprozeßrecht

Aber auch die von der Literatur und der Rechtsprechung entwickelten Begründungen für die materielle Rechtskraftwirkung steuergerichtlicher Urteile verdienen überwiegend Zustimmung. Von diesen Ansichten können wir am ehesten der direkt an Art. 97 Absatz 1 GG anknüpfenden folgen 66 • Es ist zutreffend, daß die in dieser Vorschrift verfassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt eine Bindung der Parteien und auch eines später in derselben Sache tätig werdenden Richters an ein formell rechtskräftiges Gerichtsurteil gebietet. Die in den einzelnen Verfahrensgesetzen enthaltenen positiven Vorschriften über die materielle Rechtskraft bedeuten dementsprechend lediglich Konkretisierungen dieses bereits von Verfassungs wegen gültigen Rechtsgrundsatzes. Da seit Inkrafttreten des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiete der Finanzgerichtsbarkeit v. 22.10.1957 67 unzweifelhaft sämtliche Steuergerichte echte Gerichte sind68 , läßt sich die materielle Rechtskraft der Entscheidungen dieser Gerichte auch ohne besondere Vorschrift dem Art. 97 Absatz 1 GG entAbsatz 2 AO 1931) zumindest keine persönliche Unabhängigkeit besaßen. Aber auch Niemann 69 trifft das Richtige, wenn er die Rechtsgrundlage der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile auf das Wesen gerichtlicher Urteile zurückführt. Denn dieser Gedankengang, für den er zudem auf die in Artikel 102 WRVerf. verfassungsrechtliCh normierte richterliche Unabhängigkeit Bezug nimmt, entspricht dem soeben Dargelegten fast völlig. Allerdings mag die Berechtigung dieser Begründung für das im Jahre 1930 geltende Verfahrensrecht bezüglich der Urteile der Finanzgerichte etwas zweifelhaft sein, da die Finanzgerichte bzw. ihre Mitglieder im Hinblick auf die Angliederung der Finanzgerichte an die Oberfinanzdirektion (§ 47 AO 1931) und die Besetzung der Kammern mit Beamten der Oberfinanzdirektion (§ 48 Abs.2 AO 1931) zumindest keine persönliche Unabhängigkeit besaßen. Darüber hinaus ist aber ebenfalls den Auffassungen beizupflichten, die die materielle Rechtskraft dem Rechtsstaatsgedanken (Gewaltenteilung) oder dem Wesen des gerichtlichen Rechtsmittelverfahrens entnehmen. Diese Ansichten können sich auf das Bundesverfassungsgericht berufen, das entschieden hat, daß die materielle Rechtskraft Ausfluß des rechtsstaatlichen Prinzips der Rechtssicherheit ist70 • 66

Vogel, aaO. (Anm. 56) und Arndt, aaO. (Anm.57).

BGBI I S. 1746. Der BFH war von Anfang an ein eChtes GeriCht; über die GeriChtseigensChaft des BFH und der FinanzgeriChte vgl. im einzelnen unten § 5 11 3bcc. 69 Anm.52. 70 BVerfGE 2, 380 (403 f.); zustimmend Menger, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd.lI, S.427 (438). 67

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3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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d) I n haI t der R e c h t s k r a f t (m a t e r i e 11 e R e c h t s k r a f t und U n a b ä n der 1 ich k e i t) Wenn somit den steuergerichtlichen Urteilen ebenso wie den Urteilen der übrigen Gerichte materielle Rechtskraft zukommt, liegt es nahe, diesem Begriff im Steuerprozeßrecht auch den unter 1. dargelegten allgemeinen Inhalt zu geben. Das erscheint bereits deshalb geboten, weil der Rechtsgrund der materiellen Rechtskraft richterlicher Urteile nach der hier für zutreffend erachteten Ansicht dem Verfassungsrecht entnommen wurde und das GG in Artikel 96 von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Gerichtszweige ausgeht. Die Inhaltsgleichheit des Begriffs der materiellen Rechtskraft für die verschiedenen Gerichtsbarkeiten läßt sich auch aus dem gleichlautenden Wortlaut der Vorschriften entnehmen, die in neuester Zeit Regelungen über die materielle Rechtskraft enthalten71 . Auch die steuerliche Literatur und Rechtsprechung verwenden den für das Zivilprozeßrecht entwickelten und dann in das Verwaltungsprozeßrecht übertragenen Begriffsinhalt der materiellen Rechtskraft. Etliche Autoren, die steuerrechtliche Rechtskraftfragen erörtern, haben sich ausdrücklich für einen im gesamten Prozeßrecht geltenden einheitlichen Begriff der materiellen Rechtskraft ausgesprochen 72. Allerdings hat es nicht an Versuchen gefehlt, für das Steuerrecht einen eigenen Rechtskraftsbegriff zu schaffen73. Diese Bestrebungen sind darauf zurückzuführen, daß die übertragung des prozeßrechtlichen Instituts der materiellen Rechtskraft nicht nur für Urteile der Steuergerichte und andere Rechtsmittelentscheidungen, sondern insbesondere auch für Steuerbescheide erwogen wurde. Da das durch die Bejahung der materiellen Rechtskraft auch für Steuerbescheide angestrebte Ziel die Begründung einer weitgehenden Unwiderruflichkeit des Steuerbescheides war, wurden in der Regel materielle Rechtskraft und Unwiderruflichkeit gleichgesetzt14 • Noch heute sehen daher manche in § 222 eine Vorschrift über die materielle Rechtskraft von Steuerbescheiden75. 71 §§ 121 VwGO, 141 Abs.l SGG und §§ 96 Abs.l Satz 1 Entw.FGO I bzw. 106 Abs. 1 Satz 1 Entw.FGO H. 72 Vgl. etwa Knöchlein, S. X; Kriszeleit, S.18 ff.; Reche, S.24; Niemann VjZStFR 1930, 173 (315); Bettermann, FR 147, 76; Friedlaender, StuW 1956 Sp.233; PauZick, FR 1962, 99 (100); ebenso RFH, Urt. v. 15.12.22 H A 274/ 22, RFHE 11, 85. 73 Vgl. Z. B. Herbert Kühn, S.15; Kloss, StuW 1925 Sp.218 (233); Becker, Kom., Vorbem. 1 vor § 217. 74 So insbes. Herbert Kühn, Kloss und Becker, aaO.; ferner Kühn, StuW 1942 Sp. 89 (91). 75 Vgl. etwa Friedlaender, StuW 1956 Sp.233; Spitaler in HübschmannHepp-Spitaler, § 222, Anm. 3 a, mit weiteren Nachweisen.

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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

Richtiger Ansicht nach hat jedoch die Unwiderruflichkeit einer Entscheidung mit deren mttterieller Rechtskraft nichts zu tun. Die Unwiderruflichkeit bedeutet lediglich, daß die Stelle, die die Erltscheidung erlassen hat, diese nicht mehr abändern kann. Wir haben bereits dargelegt, daß die AO für die von den Steuergerichten erlassenen Rechtsmittelentscheidungen in § 94 Absatz 4 (§ 76 Absatz 3) eine Regelung über die Unwiderruflichkeit dieser Entscheidung enthält76 • Dort haben wir auch nachgewiesen, daß diese Vorschrift gerade eine von der materiellen Rechtskraft unterschiedliche Wirkung regelt. So ist denn auch von einem Teil des steuerrechtlichen Schrifttums eindeutig anerkannt, daß auch im Steuerverfahrensrecht die Begriffe Rechtskraft und Unwiderruflichkeit einen unterschiedlichen Inhalt haben und daher nicht miteinander vermengt werden dürfen 77 • Wenn aber davon auszugehen ist, daß die materielle Rechtskraft finanz gerichtlicher Urteile mit der Unwiderruflichkeit oder der Unabänderlichkeit des einmal erlassenen Urteils nicht identisch ist, so besteht doch ein gewisser Zusammenhang der Begriffe materieHe Rechtskraft und Unwide-rruflichkeit bzw. Unabänderlichkeit im Steuerverfahrensrecht. Dieser Zusammenhang, der bereits angedeutet wurde78 , zeigt sich allerdings nicht für die Unabänderlichkeit der Urteile selbst. Vielmehr hat die materielle Rechtskraft eines steuergerichtlichen Urteils Bedeutung für die Frage, ob und inwieweit das Finanzamt die einem derartigen Urteil zugrunde liegende Steuerfestsetzung abändern bzw. widerrufen kann. Das beruht darauf, daß durch die materielle Rechtskraft eines steuergerichtlichen Urteils nicht nur der später in derselben Sache tätige Richter, sondern auch die Steuerbehörde als an dem gerichtlichen Verfahren Beteiligte an das rechtskräftige Urteil gebunden ist19 • Wir können nicht in Zweifel ziehen, daß rechtskräftige steuergerichtliche Urteile eine derartige Bindung der Steuerbehörde zur Folge haben, denn die Rechtskraftvorschriften der beiden bereits erlassenen Prozeßordnungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (VwGO und Vgl. oben a). Vgl. etwa Knöchlein, S.22; Reche, S. 27 ff.; Niemann, VerwArch Bd. 40, 135 (147 ff.); ders., VjZStFR 1930, 173 (322); Hensel, S.139; Bettermann, FR 147, 76. Für das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht sind z. B. Ipsen, S.67, und Haueisen, DVBI 1962, 881 (884), gleicher Ansicht. 78 Vgl. Einleitung 2. 79 Paulick, FR 1962, 99; Bettermann, FR 1947, 76 (77); Niemann, VjZStFR 1930, 173 (269 und 303/304); ders., VerwArch Bd.40, 135 (153); Scheufjler, StuW 1940 Sp.243 (250/251); Crisolli, S.174; unentschieden: Tipke, FR 1961, 73; nach Ansicht des BFH (Urt. v. 18.5.55 11 97/55 U, BStBl III 1955, 208, BFHE 61, 27) ist die Steuerbehörde durch die materielle Rechtskraft eines Finanzgerichtsurteils "nur hinsichtlich der Rechtsbeurteilung" gebunden. 76

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3. Die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile

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SGG) sprechen ausdrücklich von der Bindung der Beteiligten an das Urteil 80 • Auch § 96 Absatz 1 Satz 1 Entw.FGO I und § 106 Absatz 1 Satz 1 Entw.FGO II erkennen in der Bindung der am Verfahren Beteiligten den besonderen Inhalt der materiellen Rechtskraft. Zur Rechtfertigung dieser Rechtslage weist Niemeyer 8t zutreffend darauf hin, daß es gerade im Verwaltungsprozeßrecht nicht ausreicht, lediglich die Gerichte durch die materielle Rechtskraft eines Urteils zu binden. Während nämlich im Zivilprozeß die mit einem rechtskräf": tigen Urteil unzufriedene Partei nur durch eine erneute Anrufung des Gerichts den für eine angestrebte Leistung erforderlichen Titel erlangen könnte, besteht für eine Behörde, deren Verwaltungs akt von einem Verwaltungsgericht aufgehoben ist, bei bloßer Bindung des Gerichts theoretisch die Möglichkeit, ihrer Unzufriedenheit durch den erneuten Erlaß desselben Verwaltungs akts Ausdruck zu verleihen und dadurch zu einem vollstreckbaren Titel zu kommen. Wenn das Gericht einen Verwaltungs akt bestätigt oder abgeändert hat, könnte die beteiligte Behörde, wenn sie nicht an das Urteil gebunden wäre, ohne dessen Beachtung den bestätigten Verwaltungsakt ohne Einschränkungen ändern bzw. den vom Gericht geänderten mit dem ursprünglichen Inhalt erneut belassen. Die Bindung der Steuerbehörde bewirkt, daß sie bei einer späteren Entscheidung über die Frage der Änderung oder Berichtigung eines Steuerbescheides, dessen Hechtmäßigkeit im Berufungsverfahren durch ein Finanzgericht oder den BFH nachgeprüft worden ist, das rechtskräftige Urteil des Gerichts als maßgeblich und unbestreitbar zu beachten hat 82 • Problematisch ist jedoch, in welchem Umfange steuergerichtliche Urteile, die über einen Steuerbescheid ergangen sind, eine derartige Bindung des Finanzamts bewirken. Diese Frage ist nicht nur rechtstheoretisch interessant, sondern sie ist auch von besonderer praktischer Bedeutung. Die Bindungswirkung bedeutet nämlich sicher für alle Änderungs- und Berichtigungsvorschriften, die das Steuerverfahrensrecht in der A0 83 und im StAnpG84 enthält, eine mehr oder minder weitgehende Einschränkung oder gar einen Ausschluß der Änderungsoder Berichtigungsbefugnisse des Finanzamts. Bei Berichtigungen gem. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 2, die im Anschluß an Betriebsprüfungen Vgl. § 121 VwGO und I 141 Absatz 1 SGG. S.47. 82 Reche, S. 85 ff.; Niemann, VerwArch. Bd.40, 135 (153); ScheuffLer, aaO., S.250, 25l. 83 § § 92-96, 218 Absatz 4, 222-225. 84 §§ 4 Absatz 2 und 3, § 5 Absatz 5. 80

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§ 1 Der Begriff der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht

fast regelmäßig in Betracht kommen, ist nach herrschender Ansicht 85 eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles, d. h. eine erneute und gegenüber der ersten Veranlagung abweichende rechtliche Würdigung auch der bereits bekannten Tatsachen, gestattet. Gerade für derartige Berichtigungen berechtigt die Bindung des Finanzamts an ein in derselben Sache ergangenes Steuergerichtsurteil sicher dazu, das Recht zur völligen Wiederaufrollung, möglicherweise sogar zur Berichtigung selbst, in Frage zu stellen. Im folgenden wollen wir daher den Umfang der materiellen Rechtskraft eines Steuerurteils und dabei inbesondere den Einfluß desselben auf die dem Finanzamt vom Gesetz eingeräumten Änderungs- und Berichtigungsbefugnisse für Steuerbescheide erörtern.

85 RFH in ständiger Rechtsprechung, z. B. urt. v. 27. 9. 33 I A 183/33, RFHE 34, 189, RStBl 1933, 1158, und v. 10.2.38 !II 215/37, RStBl 1938, 537. Auch der BFH ist dieser Ansicht, stellt die Wiederaufrollung aber unter den Grundsatz von Treu und Glauben, vgl. etwa Urteile v. 18.11. 58 I 176/57 U, BFHE 68, 137, BStBl III 1959, 52, und v. 3.12.58 I 90/57 U, BFHE 68, 140, BStBl III 1959, 53. Aus dem Schrifttum z. B. Kühn, Kom., § 222, Anm. 5 d; Riewald, § 222, Anm. 3 d Abs.2; :Schmidt, FR 1960, 257 (260). Anderer Ansicht sind u. a. Spitaler in Hübschmann-Hepp-Spitaler, § 222, Anm. 10; TipkeKruse, § 222, Anm.19; Thoma, StbJB 1952, 207 (226 ff.); Vogel, Berichtigungsveranlagung, S. 79 ff.

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der materiellen Rechtskraft I. Darstellung der vertretenen Ansichten 1. Die Auffassung des Reichsfinanzhofs Aus dem ersten bekannt gewordenen Urteil des RFH1, das sich mit der Frage des Umfangs der Rechtskraft einer Rechtsmittelentscheidung befaßt, können wir eindeutige Anhaltspunkte für die Ansicht des RFH noch nicht entnehmen. Nach dieser Entscheidung ist jedoch die Berichtigung einer Steuerfestsetzung gern. § 212 Absatz 3 a. F. (§ 222 Absatz 1 Ziffer 3 n. F.) wegen der Aufdeckung eines Fehlers durch die Aufsichtsbehörde trotz des Vorliegens einer rechtskräftigen Rechtsmittelentscheidung jedenfalls dann zulässig, wenn die Aufsichtsbehörde den Fehler in der Berechnung der Steuer aufdeckt und die Rechtsmittelentscheidung nur die Frage, ob eine Steuerpflicht überhaupt in Betracht kommt, betroffen hat2 • Im Urteil v. 25. 3. 1927 3 hat derselbe Senat seine Ansicht dahingehend präzisiert, daß im Rahmen des § 212 Absatz 3 a. F. eine Nachprüfung nur insoweit zulässig sei, als außerhalb der rechtskräftig festgestellten Grundlagen der Rechtsmittelentscheidung eine Berichtigung möglich sei. Die Rechtskraft einer Rechtsmittelentscheidung umfasse den Anspruch, über den entschieden sei. Dabei sei ohne Bedeutung, ob der Richter im Urteil nur diese oder jene Frage erörtere; denn um zu einem urteilmäßigen Ergebnis zu gelangen, habe der Richter sämtliche den Sachverhalt betreffende Fragen in den Kreis seiner Erwägungen einbeziehen müssen. Auch wenn diese Erwägungen in die EntScheidungsgründe nicht ausdrücklich aufge4.2.21 II A 4.5/21, RFHE 4, 308, RStBl 1921, 183. Ähnlich: Urt. v. 7.10.31 II A 287/31, StuW 1932 Nr.102; dazu befindet sich in Stuw 1932 Sp. 270 eine zustimmende Anmerkung von Becker. 3 II A 66/27, RFHE 21, 85 (insbes. S.88), StuW 1927 Nr.296. Diese Entscheidung betrifft zwar die Rechtskraft einer Einspruchsentscheidung, wird aber mit Erwägungen begründet (insbes. Gewaltenteilung), für die eigentlich nur bei gerichtlichen Urteilen Raum ist. Für die Rechtskraft von Urteilen kann es daher herangezogen werden. Das Urteil ist bestätigt durch Urteile v. 1. 4. 30 II A 689/29, StuW 1930 Nr. 454, und v. 17.6.30 Ie A 212/30, StuW 1930 Nr. 1310. 1 V.

2

3 MÜffelmann

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§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

nommen würden, zeige der Tenor der Entscheidung doch, in welchem Sinne nicht erörterte Fragen gewürdigt worden seien. Dem gleichen Tatbestand dürfe daher im Rahmen des § 212 Absatz 3 a. F. keine erneute Erörterung zuteil werden. - Da unter "Anspruch" der in einem Steuerbescheid geltend gemachte Steueranspruch und unter "Tatbestand" der bei Erlaß des Steuerbescheides bekannte Sachverhalt, auf den sich dieser Steueranspruch gründet, zu verstehen sein wird, ist nach diesem Urteil des RFH eine Berichtigung gern. § 212 Absatz 3 a. F. (§ 222 Absatz 1 Ziffer 3 n. F.) zuungunsten des Steuerpflichtigen wegen der Aufdeckung eines Fehlers durch die Aufsichtsbehörde praktisch ausgeschlossen4 • Demgegenüber hat der Zoll- und Verbrauchsteuersenat in seinem Urteil vom 11. 7. 1928 5 entschieden, daß eine Zurücknahme oder Änderung eines Steuerbescheides völlig ausgeschlossen ist, wenn "die Rechtskraft eines Steuerbescheides durch eine Rechtsmittelentscheidung herbeigeführt" sei. Die Begründung für diese weitgehende Wirkung der materiellen Rechtskraft entnimmt dieser Senat einmal dem § 76 Absatz 3 a. F., der nicht nur die Rechtsmittelbehörde, sondern auch das Finanzamt an einer Änderung der Rechtsmittelentscheidung hindere, und zum anderen dem Wesen des Rechtsmittelverfahrens, für das der Senat auf das Urteil II A 66/27 6 Bezug genommen hat. - Der IV. Senat hat diese Rechtsansicht allerdings in seinem Urteil vom 22. 3. 19337 wieder aufgegeben, da eine Rechtsgrundlage für sie nicht mehr vorhanden sei. Nachdem der Gesetzgeber bei der Neufassung der AO den unklaren § 76 Absatz 3 als § 94 Absatz 4 unverändert übernommen habe, könne diese Vorschrift nur noch ein Verbot an die Rechtsmittelbehörde bedeuten, von sich aus ihre Entscheidung zurückzunehmen oder zu ändern. Der Rechtsprechung des IV. Senats über die uneingeschränkte Rechtskraftwirkung steuergerichtlicher Urteile ist der VI. Senat des RFH in seinem Urteil vom 20.5.1931 8 entgegengetreten. Dieser Senat hält allerdings die uneingeschränkte materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile auf dem Gebiet des Zoll- und Verbrauchssteuerrechts im Hinblick auf die leichte Abänderbarkeit der Zoll- und Verbrauchssteuerbescheide gern. § 76 Absatz 1 Ziffer 1 (§ 94 Absatz 1 Ziffer 1) für vertretbar. Eine übertragung der Rechtsprechung des IV. Senats auf die Rechtsmittelentscheidungen in anderen Steuersachen komme jedoch nicht in Betracht, da die unbedingte Rechtskraft der Urteile der Finanzgerichte den Bedürfnissen der Steuerverwaltung widersprechen würde und auch nicht mit den Interessen der Allgemeinheit an einer den gesetzlichen Bestim40 Wegen des entsprechenden Inhalts des § 213 a. F. (§ 222 Absatz 1 Ziffer 4 n. F.) scheitert dementsprechend nach Ansicht des RFH auch wohl eine Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen an der Rechtskraft eines über den Bescheid ergangenen Steuerurteils. 6 IV A 91/28, RFHE 24, 27, StuW 1928 Nr.467; bestätigt durch Urt. v. 26.9.28 IV A 162/28, RFHE 24, 129, StuW 1928 Nr.739. 6 Vgl. Anm. 3. 7 IV A 42/33, RFHE 33, 76. 8 VI A 687/30, RFHE 29, 61, RStBl 1931, 481, StuW 1931 Nr.762.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

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mungen entsprechenden Besteuerung übereinstimme. Insbesondere eine Neuveranlagung9 auf Grund neuer Tatsachen werde durch § 76 Absatz 3 (§ 94 Absatz 4) nicht ausgeschlossen, da diese Vorschrift nur für die Rechtsmittelbehörde selbst und darüber hinaus nicht für die §§ 212, 213 (§§ 222, 223) gelte. Eine Neuveranlagung wegen neu bekannt gewordener Tatsachen müsse trotz Vorliegens einer rechtskräftigen steuergerichtlichen Entscheidung über die neu zu veranlagende Steuerfestsetzung bereits deshalb für zulässig erachtet werden, weil auf Grund der neu bekannten Tatsachen ein anderer Tatbestand vorliege als der, über den das Gericht befunden habe. In der grundlegenden Entscheidung rr A 66/27 sei die die Neuveranlagungsbefugnis aus § 212 Absatz 3 (§ 222 Absatz 1 Ziffer 3) ausschließende Rechtskraftwirkung aber auf den Fall, daß der gleiche Tatbestand vorliege, beschränkt worden. Der VI. Senat des RFH hat in dem Urteil vom 20.5.1931 der materiellen Rechtskraft einer Rechtsmittelentscheidung über die frühere Steuerfestsetzung auch für eine Neuveranlagung auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel eine nicht unbedeutende Wirkung eingeräumt. Die Neuveranlagungsbefugnis werde insoweit eingeengt, daß das Finanzamt bei der Wiederaufrollung des Falles dann nicht von der rechtlichen Beurteilung der Rechtsmittelentscheidung abweichen dürfe10 . Aus dem Urteil des IH. Senats vom 10. 6. 1931 11 ergibt sich darüber hinaus, daß das Finanzamt bei einer Neuaufrollung des Steuerfalles dann nicht an die der Rechtsmittelentscheidung zugrunde liegende Rechtsauffassung gebunden ist, wenn die bisher bekannten Tatsachen im Zusammenhang mit den neuen Tatsachen eine andere rechtliche Bedeutung gewinnen. Aus den Urteilen vom 20.5. und 10.6.1931 lassen sich aber keine Anhaltspunkte darüber entnehmen, ob durch ein rechtskräftiges Urteil über einen Steuerbescheid bei einer späteren Berichtigung desselben wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ausgeschlossen ist oder nicht. Zwar spricht der RFH von einer Bindung an die der Rechtsmittelentscheidung zugrunde liegende Rechtsauffassung "bei der Neuaufrollung des Steuerfalles". Wir können jedoch nicht erkennen, ob damit lediglich eine Bindung an die in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich erörterte Rechtsansicht des Gerichts gemeint ist, oder ob auch eine Bindung bezüglich der Fragen, die durch die stillschweigende Bestätigung der Rechtsansicht des Finanzamts· entschieden bzw. zumindest gebilligt worden sind, in Betracht kommen soll. Obschon man von einer "Neuaufrol9 Die AO 1919 spricht in den §§ 212, 213 von "Neuveranlagung", die AO 1931 verwendet in dem diesen Vorschrüten entsprechenden § 222 den Begriff "Berichtigung". 10 Ebenso RFH v. 10.6.31 Irr A 903/30, StuW 1931 Nr.767; v. 16.12.36 VI A 588/35, RFHE 40, 312, RStBl 1937, 272, StuW 1937 Nr.89. 11 Vgl. Anm.l0.



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lung" eigentlich nur dann sprechen kann, wenn eine umfassende erneute Würdigung des Sachverhalts gestattet ist, können wir die zweite Möglichkeit nicht ausschließen. Das ergibt sich insbesondere daraus, daß nach der Ansicht des RFH im Rechtsmittelverfahren ohne Beschränkung auf die zwischen den Beteiligten umstrittenen Fragen eine völlige Nachprüfung des Sachverhalts zu erfolgen hatte12 • Auf Grund dieser Auffassung könnte man durchaus annehmen, daß der durch eine Rechtsmittelentscheidung bestätigten oder abgeänderten Steuerfestsetzung in ihrem gesamten Umfange die Rechtsbeurteilung der Rechtsmittelbehörde zugrunde liegt. Der RFH hat jedoch eine Berichtigungsveranlagung (Neuveranlagung) wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel bei Vorliegen einer steuergerichtlichen Entscheidung über einen Steuerbescheid dann nicht zugelassen, wenn diese Tatsachen oder Beweismittel dem Finanzamt vor Abschluß des Rechtsmittelverfahrens bekannt geworden waren und noch in diesem Verfahren hätten geltend gemacht werden können13• Der Steuerpflichtige müsse gegen vermeidbare Belästigungen durch eine Mehrheit von Steuerbescheiden geschützt werden. Auch den Rechtsmittelentscheidungen für die unter § 223 fallendeJ} Steuern hat der RFH eine besonders weitgehende Rechtskraftwirkung zugesprochen. In der Entscheidung vom 9.3.1934 14 hat er die Auffassung, daß Neuveranlagungen außer im Falle des § 212 Absatz 2 (§ 222 Absatz 1 Ziffer 1) generell unzulässig seien, wenn eine Sache durch eine Rechtsmittelentscheidung erledigt sei, ausdrücklich auch auf die Fälle des § 212 Absatz 1 (§ 223) bezogen. 2. Die Auffassung des Bundesfinanzhofs Im Urteil vom 18.5.195515 befaßt sich der 11. Senat des BFH mit der Frage, ob und in welchem Umfange bei der Gesellschaftsteuer eine Nachforderung gem. § 223 16 zulässig sei, wenn über die ursprüngliche 12 Urteile vom 3.6.21 I A 46/21, RFHE 6, 167; v. 5.11.30 VI A 1694/30, RFHE 27, 270; v. 2.10.30 111 A 273/30, RStBI 1932, 214; einschränkend allerdings: Urt. v. 9.7.35 I A 74/34, RStBI 1935, 1188. 13 Urteile v. 18.3.25 VI A 93/25, StuW 1925 Nr.368; v. 28.3.30 V A 1040/29, RFHE 26, 277; v. 23.2.33 11 A 108/32, RStBI 1933, 255, StuW 1933, Nr.505. 14 II A 232133, StuW 1934 Nr.201. 16 II 97/55 U, BStBl III 1955, 208, BFHE 61, 27. 16 Da bei der Gesellschaftsteuer gem. § 6 Abs. 1 Satz 2 KVStDV lediglich nichtförmliche Steuerbescheide vorgesehen sind (§ 212), kommt für Nachforderungen nicht der § 222, sondern der § 223 zur Anwendung (vgl. außer dem angeführten Urteil die Urteile des RFH v. 2. 4. 37 II A 325/36, RStBl 1938, 33, und v. 20. 1. 40 VI a 96/39, RFHE 48, 103, RStBl 1940, 190). Das bedeutet, daß bei der Gesellschaftsteuer Nachforderungen grundsätzlich ohne Beschränkungen bis zur Verjährungsfrist zulässig sind.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

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Steuerfestsetzung ein finanzgerichtliches Urteil ergangen sei. Der BFH meint dazu, daß auch bei einer vorangegangenen Rechtsmittelentscheidung eine Nachforderung an sich nicht ausgeschlossen sei. Es gelte aber die Einschränkung, daß es sich nicht um denselben Sachverhalt handeln dürfe, über den bereits eine Rechtsmittelentscheidung ergangen sei. Daher seien Nachforderungen insbesondere dann zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt geworden seien. Allerdings sei das Finanzamt in jedem Falle an die Rechtsbeurteilung des Finanzgerichts in einem über die frühere Steuerfestsetzung ergangenen Urteil gebunden. Derselbe Sachverhalt liegt nach Ansicht des BFH aber auch dann vor, wenn das Finanzamt von Tatsachen, die es zum Anlaß einer Nachforderung nimmt, bereits während des früheren Rechtsmittelverfahrens Kenntnis erlangt und sie nicht in das anhängige Verfahren eingeführt hat. Die Nichtzulassung dieser Tatsachen zur Grundlage einer Nachforderung beruhe auf dem Grundsatz des "ne bis in idem". Durch die rechtskräftige richterliche Entscheidung sei der Steuertatbestand in dem ganzen Umfang, wie ihn das Finanzamt gekannt habe, konsumiert. Die Entscheidung des IH. Senats vom 30.6. 195617 bestätigt die Rechtsprechung des RFH18 , nach der die Anwendung des § 222 Absatz 1 Ziffer 3 (§ 212 Absatz 3) auf den gleichen Tatbestand, der den Gegenstand einer rechtskräftigen Rechtsmittelentscheidung gebildet hat, ausgeschlossen ist, wenn es sich nur um eine abweichende Beurteilung handelt. Auch der II. Senat hat in seinem Urteil vom 18. 9. 1957 19 diese Ansicht des RFH für richtig gehalten, da Akte der Rechtsprechung nicht der Nachprüfung durch die vollziehende Gewalt unterworfen werden dürften. Dennoch zeigt dieses Urteil in seinem Tenor eine interessante Abweichung von der Ansicht des IH. Senats und von der des RFH. Während nämlich diese Entscheidungen eine Berichtigung gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 3 (§ 212 Absatz 3) bezüglich desselben Tatbestandes, der Gegenstand einer Rechtsmittelentscheidung war, für unzulässig halten, verknüpft der H. Senat den Ausschluß der BerichIII 157/54 U, BStBl III 1956, 216, BFHE 63, 53. Vgl. die in Anm. 3 angeführten Urteile. 19 II 195/56 U, BStBl III 1957, 423, BFHE 65, 495. In diesem Urteil ist der BFH jedoch von der Rechtsprechung des RFH insoweit abgewichen, als er nur Urteilen der Steuergerichte eine entsprechende Wirkung eingeräumt hat. Eine Fehleraufdeckung und eine anschließende Berichtigungsveranlagung sei den Finanzbehörden jedoch entgegen der Ansicht des RFH im Urteil Bd. 21, 85 dann nicht verwehrt, wenn lediglich eine Einspruchsentscheidung vorliege (ebenso bereits RFH v. 16.12.37 III e 27/37, RFHE 43, 34, RStBl 1938, 20, unter Bezugnahme auf § 1 Abs. 1 StAnpG). Auf diese Ansicht, die damit begründet wird, daß die Einspruchsentscheidung lediglich ein Verwaltungsakt und nicht ein Akt der Rechtsprechung sei, braucht jedoch hier nicht eingegangen zu werden. 17

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tigungsveranlagung nicht mit dem Tatbestand der Rechtsmittelentscheidung, sondern mit den Streitpunkten, über die die Rechtsmittelentscheidung ergangen ist. Der II!. Senat hat im Urteil vom 1. 2.1957 2 (\ die zu § 222 Absatz 1 Ziffer 3 (§ 212 Absatz 3) entwickelte Rechtsansicht auch auf § 222 Absatz 1 Ziffer 4 (~ 213) ausgedehnt und entschieden, daß ein durch rechtskräftiges Urteil eines Finanzgerichts festgestellter Einheitswert nicht auf Grund einer Fehleraufdeckung herabgesetzt werden dürfe. Einen interessanten Beitrag zu der Frage, welchen Umfang die materielle Rechtskraft eines steuergerichtlichen Urteils hat, liefert das Urteil desselben Senats vom 22.7.1960 21 • In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte das Finanzgericht die vom Finanzamt gern. § 92 Absatz 3 vorgenommene Berichtigung eines Vermögensabgabebescheides aufgehoben, weil der Tatbestand des § 92 Absatz 3 nach Ansicht des Gerichts nicht erfüllt war. Nachdem das Urteil rechtskräftig geworden war, berichtigte das Finanzamt den Vermögensabgabebescheid auf Weisung der Oberflnanzdirektion gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 3. Der BFH hat diesen Berichtigungsbescheid wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtskraft für rechtswidrig erachtet. In dem rechtskräftigen Urteil des Finanzgerichts sei bereits über den Berichtigungsanspruch erkannt worden. Zwar habe das Finanzgericht in diesem Urteil über die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagung nur unter dem Gesichtspunkt des § 92 Absatz 3 entschieden und habe dabei die Frage einer Berichtigung gern. § 222 Abs. 1 Ziffer 3 nicht in seine Erwägungen einbeziehen können, da eine Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt gewesen sei. Das ändere aber nichts daran, daß der gesamte Fehlerberichtigungsanspruch mit allen rechtlichen Beurteilungsmöglichkeiten dem Finanzgericht schon zur Prüfung und Beurteilung vorgelegen habe. Daher könne der Fehlerberichtigungsanspruch nicht nochmals von der Aufsichtsbehörde aufgegriffen und unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten neu gewürdigt werden. Das Finanzamt müsse in eine umfassende Prüfung des Berichtigungsko~plexes eintreten, bevor über die Zulässigkeit der Berichtigung eines Fehlers durch ein Gerichtsurteil entschieden werde. Zur Begründung seiner Ansicht weist der BFH neben dem Grundsatz der Rechtskraft auf den Rechtsstaatsgedanken, die Prozeßökonomie und auf die Grundsätze von Treu und Glauben hin. Im Urteil vom 21. 10. 1960 22 hat der BFH zu der Frage Stellung genommen, in welchem Umfange die Berichtigung eines Bescheides gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 zulässig sei, wenn über die Rechtmäßigkeit des Bescheides ein steuergerichtliches Urteil ergangen sei. Diese Entscheidung ist, soweit ersichtlich, die einzige, in der der BFH sich ausdrücklich zu dieser Frage äußert. Allerdings hat derselbe Senat in dem 20

21 22

III 188/56 U, BStBl III 1957, 98, BFHE 64, 253. III 95/59 U, BStBI III 1960, 524, BFHE 71, 741. III 2159, HFR 1961, 64.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten ' '

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bereits dargelegten Urteil vom 22.7.1960 21 in einem obiter dictum unter Hinweis auf die Rechtsprechung des RFH23 festgestellt, daß in begrenztem Umfange bei Berichtigungen von Bescheiden wegen neuer Tatsachen eine Abweichung von einem vorangegangenen Steuergerichtsurteil zulässig sei. Im Urteil vom 21. 10. 1960 hat dieser Senat nun entschieden, daß das Finanzamt nach rechtskräftiger Feststellung eines Einheitswertes nicht wegen der gleichen Streitfrage eine Berichtigung wegen später bekannt gewordener neuer Tatsachen gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 vornehmen könne. Für die Klärung und Würdigung der für die frühere Entscheidung maßgebenden Tatsachen sei im früheren Verfahren Zeit und Raum gewesen, so daß selbst dann, wenn insoweit neue Tatsachen bekannt würden, eine erneute Erörterung, auch nicht in einem Berichtigungsverfahren gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1, in Betracht komme. - Wir müssen jedoch ausdrücklich vermerken, daß sich die neuen Tatsachen gerade auf die in dem früheren Verfahren behandelte Streitfrage bezogen. Dieses Urteil enthält keine Stellungnahme zu der Frage, ob nunmehr Berichtigungen gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 2 generell ausgeschlossen sein sollen, wenn ein Steuergericht einen Steuerbescheid bestätigt oder eine anderweitige Steuerfestsetzung vorgenommen hat. In jüngster Zeit hat der VII. Senat des BFH24 - soweit ersichtlich, zum ersten und einzigen Male - den Streitgegenstand als den die materielle Rechtskraft begrenzenden Faktor angesehen. Dem Rechtsstreit lag jedoch keine Steuerfestsetzung, sondern die Ablehnung eines Antrages auf prüfungsfreie Zulassung als Helfer in Steuersachen zu-' grunde. Eine Definition des Streitgegenstandes hat der BFH zudem nicht gegeben. 3. Die Auffassung des Schrifttums Ein großer Teil der Autoren, die sich mit der Frage des Umfanges der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile befassen, beschänken sich auf eine Wiedergabe der Rechtsprechung des RFH oder des BFH25 • Spitaler2G hebt jedoch unter Bezugnahme auf Berger27 23 Vgl. das in Anm. 8 angeführte Urteil VI A 687/30 und das in Anm.10 angeführte Urteil UI A 903/30. 24 Urt. v. 9.7.1963 VII 133/62 U, BStBl III 1963, 411, BFHE 77, 254. 25 Vgl. etwa Becker, Kom., Vorbem.2 vor § 217; Riewald, § 222, Anm.5; Spitaler in Hübschmann-Hepp-SpitaleT, § 222, Anm. 12; Klempt-Meyer, S.39/40; Crisolli, S. 280/281; LeibTecht, Stuw 1953 Sp. 127 (130 f.); ähnlich bereits Bühler, DStZ 1922 Sp. 856 f., und Becker, StuW 1928 Sp. 1242 sowie 1929 Sp. 664. 26 aaO. 27 Der Steuerprozeß, § 245, Anm. 2 b 4.

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§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

hervor, daß wegen der von der Rechtsprechung des RFH angenommenen Bindung des Finanzamts an die rechtliche Beurteilung eines über einen Steuerbescheid ergangenen steuergerichtlichen Urteils eine Berichtigung gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 2 auch bei Bekanntwerden neuer Tatsachen ausgeschlossen sei, wenn sich aus den Urteilsgründen Anhaltspunkte ergäben, daß das Steuergericht auch bei Kenntnis der später bekannt gewordenen Tatsachen nicht anders als geschehen geurteilt haben würde. Diese Ansicht geht auf die Rechtsprechung des RE'H zurück, wonach das Finanzamt eine Berichtigung wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel dann nicht vornehmen darf, wenn feststeht, daß es auch bei rechtzeitiger Kenntnis der neuen Tatsachen oder Beweismittel seinen ursprünglichen Bescheid so erlassen hätte, wie es geschehen ist28 • Bcrger 9 macht geltend, daß das in Erweiterung dieses Gedankens erst recht gelten müsse, wenn ein rechtskräftiges steuergerichtliches Urteil vorliege.

Berger, der ebenfalls der höchstrichterlichen Rechtsprechung zustimmt, befaßt sich darüber hinaus auch mit der von der Rechtsprechung nicht behandelten Frage, ob eine Berichtigungsveranlagung gern. § 4 Absatz 3 Ziffer 2 StAnpG nach einem rechtskräftigen Gerichtsurteil über die Steuerfestsetzung zulässig sei. Berger bejaht das, weil bei einer derartigen Berichtigung im Gegensatz zu einer solchen gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 2 der Steuerfall nicht in seiner Ge~amtheit wieder aufgerollt, sondern die Berichtigung auf die Richtigstellung selbst beschränkt werde. Die "Urteilsfeststellungen" blieben mithin in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht schon deshalb im übrigen unberührt. - Interessanter ist jedoch die Auffassung, die Berger über die Auswirkungen der materiellen Rechtskraft eines steuergerichtlichen Urteils auf die Berichtigung einer Steuerfestsetzung gern. § 92 Absatz 3 entwickelt hat. Er meint nämlich, daß eine derartige Berichtigung durch das Gericht erfolgen müsse. Eine Begründung für diese Auffassung gibt Berger jedoch nicht. Die bedeutsamste Kritik hat die Rechtsprechung des RFH von Niemann 30 erfahren. Niemann hält die Berichtigung einer Steuerfest-

setzung, über die ein rechtskräftiges Steuergerichtsurteil ergangen ist, nicht nur dann für unzulässig, wenn sie lediglich dazu dienen solle, einen der Festsetzung anhaftenden Fehler zu beseitigen3 t, sondern

28 RFH v. 2.7.42 III 183/41, RStBI 1942, 778; ebenso: BFH v. 18. 12. 58 IV 13/58 U, BStBI III 1959, 105, BFHE 68, 271, und vom 6. 9. 62 V 166/59 U, BStBI III 1962, 494, BFHE 75, 623. 29 aaO. 30 VerwArch Bd.40, 135 (150 ff.); VjZStFR 1930, 173 (305 ff.). 31 VerwArch Bd.40, 135 (152).

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

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auch dann, wenn sich die Berichtigung auf später bekannt gewordene neue Tatsachen stützen lasse 32 • Diese Ansicht begründet Niemann damit, daß trotz der heuen Tatsachen der Sachverhalt, der bereits der gerichtlichen Würdigung unterlegen habe, identisch bleibe. Er werde durch die neuen Tatsachen lediglich vervollständigt. Da es sich bei Steuerfestsetzungen immer um festumrissene Tatbestände handele, etwa das Einkommen eines Jahres bei der Einkommensteuer oder das Vermögen an einem bestimmten Stichtag bei der Vermögensteuer, und es Aufgabe des Finanzgerichts sei, diesen Tatbestand von Amts wegen festzustellen, stehe dieser von vornherein fest und könne nicht durch neue Tatsachen verändert werden. Würden solche festgestellt, ließe das nur erkennen, daß es dem Gericht nicht gelungen sei, den maßgeblichen Tatbestand vollständig aufzuklären. Aber gerade diese erneute Aufklärung des Tatbestandes und erneute Entscheidung über eine bereits entschiedene Sach- und Rechtslage solle die materielle Rechtskraft des ergangenen Urteils verhindern. Da eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen steuergerichtlichen Verfahrens im Gesetz nicht vorgesehen sei und die §§ 222 ff. nur den Steuerbehörden, nicht aber den Steuergerichten das Recht einräumten, eine einmal erlassene Entscheidung abzuändern, unterliege die Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile keinen Einschränkungen. Vor Niemann hatte bereits FTiedTichs 33 eine uneingeschränkte Rechtskraftwirkung steuergerichtlicher Urteile angenommen. Auch Bcheuffler 34 kommt zu dem gleichen Ergebnis, wenn er feststellt, daß die Änderung oder Berichtigung einer Veranlagung durch die Rechtskraft eines über sie ergangenen rechtskräftigen Urteils ausgeschlossen sei. Das ergebe sich einmal daraus, daß die AO in ihrem das steuergerichtliche Verfahren regelnden Abschnitt Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht enthalte, und daß auch für einen Analogieschluß zu den entsprechenden Regelungen im Zivil- oder Strafprozeßrecht keine Anhaltspunkte vorhanden seien. Zum anderen habe die durch das Finanzgericht vorgenommene eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage eine weitgehende Klärung gebracht, die es vertretbar erscheinen lasse, auf eine spätere Nachprüfung in einem Berichtigungsverfahren zu verzichten. Schließlich ergebe sich auch aus dem Wesen des gerichtlichen Verfahrens als solchem - eine abschließende Tatbestandsaufklärung und Sachverhaltsbeurteilung darzustellen -, daß die Steuerbehörde eine erneute Entscheidung nicht unter Berufung auf neue Tatsachen, d. h. Tatumstände, die objektiv bereits zur Zeit der Entscheidung des Gerichts vorgelegen hätten und nachträglich lediglich erst erkannt worden seien, vornehmen könne. In die gleiche Richtung geht die Ansicht von Kühn 35 , der die Meinung vertritt, die Rechtskraft steuergerichtlicher Entscheidungen werde nur durch die Vorschrift des § 92 Absatz 3 eingeschränkt. Eine Fehlerberichtigung 32 33 34

35

VerwArch Bd.40, 135 (153); VjZStFR 1930, 173 (319). Grundzüge des Steuerrechts, S. 204. StuW 1940 Sp. 243 (255 ff.). StuW 1942 Sp. 89 (102 ff.).

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oder eine Berücksichtigung neuer Tatsachen bzw. Beweismittel komme jedoch im Anschluß an eine derartige Entscheidung nicht in Betracht, da sie in der AO nicht vorgesehen sei und die §§ 222 ff. nur für die in diesen Vorschriften aufgeführten Bescheide des finanzamtlichen Veranlagungsverfahrens Gültigkeit besäßen. Diese Rechtslage entspreche dem Umstand, daß eine Rechtsmittelentscheidung ihrer Funktion gemäß einer Berichtigung durch eine Verwaltungsbehörde nicht zugänglich sein könne. Die Ausschaltung des Einflusses etwa nachträglich bekannt gewordener neuer Tatsachen und Beweismittel ergebe sich auch aus der Notwendigkeit, im Rechtsmittelverfahren bezüglich des streitigen Steuerfalles das letzte Wort zu sprechen. In den seltenen Fällen, in denen der Steuerpflichtige die Rechtsflndung der Rechtsmittelbehörde durch unlautere Mittel beeinflußt hat, soll nach der Auffassung von Kühn auf den in § 96 Absatz 2 ausgesprochenen allgemeinen Rechtsgedanken zurückgegriffen werden und die Entscheidung außerordentlich aufgehoben oder geändert werden können.

Ehlers 36 , der sich de lege ferenda mit der Frage des Umfanges einer rechtskräftigen steuergerichtlichen Entscheidung befaßt, meint, eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkungen könne nur in ganz seltenen Fällen in Betracht kommen. Dafür müsse ein besonderes Wiederaufnahmeverfahren geschaffen werden, das lediglich dem Steuergericht erster Instanz auf einen entsprechenden Antrag hin bei Vorliegen besonders normierter Wiederaufnahmegründe eine Wiederaufnahme gestatte. Die Aufdeckung einfacher neuer Tatsachen und Beweismittel oder die Feststellung eines Fehlers könne das Abweichen von einem rechtskräftigen Urteil durch Erlaß eines Berichtigungsbescheides nicht rechtfertigen. Gegen den von Niemann, Friedrichs, Scheuffler und Kühn befürworteten Ausschluß der Berichtigung einer Steuerfestsetzung gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 oder 2 durch die materielle Rechtskraft eines Steuerurteils hat sich Kriszeleit 37 ausgesprochen: Der insbesondere bei Niemann und Scheuffler gewählte Ausgangspunkt, das Finanzamt entscheide auch bei Bekanntwerden neuer Tatsachen über denselben Tatbestand, sei unzutreffend. Beim Hinzutreten neuer wesentlicher Tatsachen und Beweismittel handele es sich vielmehr gerade nicht mehr um den ursprünglichen bekannten, sondern um einen anderen Tatbestand. Es sei jedoch gerade der Sinn des § 222, Möglichkeiten zu bieten, Fälle, in denen neue Tatsachen bekannt würden, neu aufzurollen. Die §§ 222 ff. seien daher als Umschreibungen der normalen Grenzen der materiellen Rechtskraft auch der steuergerichtlichen Urteile aufzufassen. Kriszeleit hält mit der herrschenden Meinung38 die vom RFH entwickelten Grenzen der Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile für zutreffend 39. 36 37 38 39

StuW 1948 Sp. 925 (945); StuW 1949 Sp. 555 (559). S.84. Vgl. die in Anm.25 angeführten Nachweise. S. 78 ff.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten Auch Herben IKühn40, der gegen die herrschende Meinung wegen des Fehlens einer den Umfang der materiellen Rechtskraft bestimmenden Vorschrift Bedenken erhebt, ihr aber dennoch folgt, weil sie brauchbar sei und· dem Ergebnis der steuerrechtlichen Entwicklung entspreche, nimmt bei Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel einen neuen, von der früheren gerichtlichen Entscheidung nicht erfaßten Sachverhalt an"'l. Am eingehendsten erörtern Hensel42 und Rath43 die Frage, in welchem Umfange das Finanzamt bei späteren Berichtigungen oder Änderungen einer Steuerfestsetzung, die bereits Gegenstand eines steuergerichtlichen Urteils gewesen sind, durch die materielle Rechtskraft des Urteils gebunden ist. Hensel meint, daß insbesondere bei den sogenannten Veranlagungssteuern44 ein uneingeschränkter Ausschluß von Berichtigungsveranlagungen nach Vorliegen· eines steuergerichtlichen Urteils nicht richtig sein könne, weil es dann ja für einen Steuerpftichtigen kein besseres Schutzmittel gegen eine spätere Nachforderung gäbe, als gegen einen Bescheid wegen einer beliebigen Bagatelle Rechtsmittel einzulegen und eine Entscheidung des Finanzgerichts herbeizuführen. Die Schwierigkeiten ergäben sich daraus, daß die Bescheide bei den Veranlagungssteuern nicht das Ergebnis eines einfachen Tatbestandes, sondern zahlreicher, zunächst voneinander unabhängiger Feststellungen und Erwägungen seien, die erst in ihrer Zusammenfassung zur zahlenmäßigen Konkretisierung eines bestimmten Steueranspruches führten. Deshalb sei es notwendig, den Schutz, den ein steuergerichtliches Urteil gegen spätere Berichtigungen und Änderungen gewähre, nur soweit zuzubilligen, als in dem Urteil eine sachliche Entscheidung getroffen worden sei. Nicht die Feststellung, der Steuerpflichtige habe einen bestimmten Steuerbetrag zu zahlen, binde die Steuerbehörde, sondern die Bindung erstrecke sich vielmehr und ausschließlich auf das, was das Steuer,gericht in der Rechtsmittelentscheidung tatsächlich entschieden habe. Das könne mit den Worten "das strittige Teilverhältnis, welches Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens war" umschrieben werden. Bei einer späteren Berichtigungsveranlagung gern. § 222 könne das Finanzamt daher durchaus neue Punkte in die Veranlagung einbeziehen, es dürfe jedoch nicht von der rechtlichen Beurteilung und den auf ihr fußenden Feststellungen abweichen, die auf Grund der Entscheidung eines Steuergerichts in einem strittigen Teilverhältnis46 getroffen worden seien. Hensel stellt diese von ihm entwickelte Theorie aber selbst wieder mit dem Hinweis darauf in Frage, daß die Rechtsmittelbehörden im Rechts-

S. 250 ff. S.253. 42 S.133 ff. 43 S. 2 und 22 ff. 44 Steuern, die laufend veranlagt werden: Einkommensteuer (§ 25 EStG), Körperschaftsteuer (§ 20 KStG), Umsatzsteuer (§ 11 UStG), Gewerbesteuer (§ 14 Abs. 2 GewStG) und Vermögensteuer (§ 12 ff. VStG). 46 Als Beispiel für ein derart strittiges Teilverhältnis gibt Hensel den Streit um die Höhe des Mietwertes einer Wohnung im eigenen Hause (§ 21 Abs. 2 EStG) an. 40

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§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der niat. Rechtskraft

mittelverfahren zu einer Überprüfung des gesamten Steuerfalles berufen seien46 • Da die Rechtsmittelbehörden auch Punkte erörtern und klären könnten bzw. sogar dazu verpfiichtet seien, die in dem Vorbringen der Beteiligten nicht erwähnt seien, könne durchaus eingewendet werden, daß jedes Urteil eines Finanzgerichts den gesamten Steuerfall erfasse und daher auch uneingeschränkt Schutz gegen spätere Steuernachforderungen gewähre. Dieser Einwand führe jedoch wieder zu dem für unzutreffend gehaltenen Ausgangspunkt zurück. Um aber auch der über die zwischen den Beteiligten strittigen Punkte hinausgehenden PrÜfungsbefugnis der Rechtsmittelbehörde Rechnung zu tragen, könne die erhöhte Schutzwirkung einer Rechtsmittelentscheidung in Erweiterung der eben dargelegten Theorie des strittigen Teilverhältnisses in folgendem Leitsatz zusammengefaßt werden: "Was die Rechtsmittelbehörde ausdrücklich in ihrer Entscheidung erörtert und entschieden hat, bindet die Steuerbehörde stets, gleichfalls aber, was nach Lage des Einzelfalles als erörtert und entschieden gelten kann, schließlich auch, was bei ordnungsmäßiger Erledigung des Einzelfalles unter verständiger Erwägung der Prüfungsbefugnisse hätte erörtert und entschieden werden müssen". Hensel meint aber, dieser "Leitsatz" könne lediglich eine vage Auslegungsregel schaffen. Im allgemeinen könne man nur im Einzelfall feststellen, was Gegenstand der Entscheidung gewesen und daher für die Steuerbehörde verbindlich sei. Eine eindeutige und für alle Fälle geltende Bestimmung des Umfanges der Bindung an ein rechtskräftiges Steuerurteil lasse sich nicht finden und sei auch von der Rechtsprechung und dem Schrifttum noch nicht gefunden worden. Rath, der an sich auf dem Boden der Rechtsprechung des RFH steht47 , hat die Ergebnisse dieser Rechtsprechung jedoch in ähnlicher Weise wie Hensel präzisiert48 • Auch er geht davon aus, daß insbesondere bei den Veranlagungssteuern in der Regel eine große Zahl von Steuertatbeständen zusammentreffe. In der geringsten Anzahl von Fällen würden in einem Rechtsmittelverfahren jedoch sämtliche für einen Steueranspruch maßgebenden Tatbestände geklärt, sondern in der Regel nur einige. Wenn dennoch die Rechtsmittelentscheidung sich nicht auf die umstrittenen Punkte beschränke, sondern den gesamten in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Anspruch umfasse, bestehe daher im Steuerprozeß eine Inkongruenz zwischen dem Prozeßstoff und dem Umfang der Entscheidung.. Die Bindung der Steuerbehörden knüpfe aber nur an die Punkte an, auf die sich die Entscheidung beziehe, die Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens gewesen seien. Allerdings entfalle die Bindung auch hinsichtlich der bereits entschiedenen Punkte dann, wenn sich auf diese Punkte beziehende neue Tatsachen ergäben, die geeignet seien, diesem Punkt eine andere rechtliche Qualifikation zu geben, als sie in der Entscheidung zum Ausdruck gekommen sei49 •

Die einzigen Autoren, die im Steuerprozeßrecht den Umfang der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile am Streitgegen46 Diese Ansicht steht im Einklang mit der herrschenden Auffassung. Sie wird - wie später noch darzulegen sein wird - auf § 243 gestützt. 47 S. 22 ff. 48 aaO. im Zusammenhang mit den Ausführungen auf S. 2 ff. 491 Hinweis auf die in Anmerkung 11 angeführte RFH-Entscheidung.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

45

stand bestimmen, sind Tipke 50 , Kruse 5 1, List52 und Becker-RiewaldKoch 53 • Tipke und Kruse weisen in ihrer ablehnenden Stellungnahme zum Urteil des BFH vom 22.7.1960 54 darauf hin, daß der BFH in dieser Entscheidung das Wesen des Streitgegenstandes verkannt habe. Eine Darlegung, welche !'olgerungen sich aus der Maßgeblichkeit des Streitgegenstandes für den Umfang der Rechtskraft ergeben, erfolgt jedoch nicht. Kruse nimmt lediglich Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und stellt fest, daß man sich im Steuerrecht über den Begriff des Streitgegenstandes noch so gut wie keine Gedanken gemacht habe. List und Becker-Riewald-Koch beschränken sich auf den Hinweis, daß die materielle Rechtskraft eines steuergerichtlichen Urteils sich nur auf den Streitgegenstand beziehe, ohne daraus weitere Folgerungen zu entnehmen. Allerdings können wir annehmen, daß auch Wacke 55 für das Steuerprozeßrecht einen Zusammenhang zwischen materieller Rechtskraft und Streitgegenstand sieht. Das ergibt sich daraus, daß er am Schluß seiner Erörterungen über den Streitgegenstand und die materielle Rechtskraft im allgemeinen Verwaltungsprozeßrecht eine Untersuchung darüber anregt, welche Lösung diese Fragen in der Rechtsprechung der Steuergerichte und im steuerrechtlichen Schrifttum gefunden haben.

Niemeyer können wir nicht in der Reihe derjenigen nennen, die den Umfang der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile am Streitgegenstand bestimmen, obwohl sie doch als erste Fragen des Streitgegenstandes im Steuerprozeßrecht untersucht hat 56 • Das beruht darauf, daß Niemeyer einen dem übrigen Prozeßrecht ähnlichen Streitgegenstandsbegriff für das Steuerprozeßrecht leugnet57 • Ihrer Ansicht nach bestimmt sich der Umfang der Entscheidung des Steuergerichts und daher auch der Umfang der materiellen Rechtskraft dieser Entscheidung nach dem Verfahrensobjekt58 • Verfahrensobjekt des steuergerichtlichen Verfahrens aber sei der zu einer Rechtsbehauptung der beteiligten Behörde formalisierte angefochtene Verwaltungsakt. Diese Behauptung sei darauf gerichtet, "daß der festgestellte Steuerzahlungsanspruch identisch mit dem Steueranspruch" sei, "wie er sich auf 50 51

52 53 54 55

56

51 68

FR 1961, 73.

Tipke-Kruse, Bd. I, § 222, Anm.7.

FR 1958, 172 (176). Vorbem.3 Abs. 6 vor § 91.

Vgl. Anm.21. AöR Bd. 79, 158 .(183). Siehe oben, Einleitung 1. S. 29 ff., insbesondere S.35. Vgl. zum folgenden S. 41 ff.

46

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

Grund des Steuerfalles" ergebe. Da mIt der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung der Gegenstand des Streites endgültig erledigt sein solle, sei jede neue Maßnahme des Finanzamts, die das Verfahrensobjekt des abgeschlossenen Rechtsstreites berühre, unzulässig. Das bedeute, daß sowohl das Finanzamt als auch der Steuerpflichtige von der Endgültigkeit des Steuerzahlungsanspruchs, wie er sich nach den Feststellungen des Gerichts auf Grund des konkreten Steuerfalles ergebe, auszugehen hätte. Fehlerberichtigungen gegenüber Rechtsmittelentscheidungen kämen daher nicht in Betracht. Niemeyer hält dennoch Berichtigungsveranlagungen wegen neuer Tatsachen gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 im Anschluß an die Entscheidung eines Finanzgerichts über einen Steuerfall für zulässig. Sie legt dar, auch für das Zivilprozeßrecht sei anerkannt, daß sich die materielle Rechtskraft eines Zivilurteils nur auf die tatsächlichen Grundlagen beziehe, die dem Richter zur Entscheidung unterbreitet worden seien59 • Es sei daher nur folgerichtig, die materielle Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils nur soweit anzuerkennen, wie der Steuerfall in tatsächlicher Hinsicht dem Finanzgericht vorgelegen habe. Das bedeute, daß die bei Erlaß des rechtskräftigen Urteils objektiv feststehenden und für den Anspruch wesentlichen Tatsachen von der Rechtskraftwirkung nur insoweit betroffen würden, als sie dem Gericht zur Kenntnis gelangt seien. Somit mache die Bestimmung des § 222 deutlich, wie welt die Grenzen der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht reichten. - Die spätere Berücksichtigung neuer Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen hält Niemeyer bei Vorliegen eines über den Steueranspruch ergangenen Urteils außer im Falle des § 222 Absatz 1 Ziffer 2 für unzulässig. Sie begründet dieses Ergebnis allerdings nicht mit der Rechtskraft des Urteils, sondern entnimmt es der diesem zukommenden Präklusionswirkung6tl • Da der Steuerpflichtige sowohl im Veranlagungs- wie auch noch im Rechtsmittelverfahren verpflichtet sei, alle ihm bezüglich des Steueranspruchs bekannten Tatsachen vorzutragen, sei es gerechtfertigt, die Berücksichtigung dieser Tatsachen ~päter auszuschließen. Wenn somit Niemeyer auch Berichtigungen gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 1 und 2 im Anschluß an ein steuergerichtliches Urteil über den nämlichen Steueranspruch zuläßt, können wir ihren Erörterungen doch eine eindeutige Stellungnahme über die vom RFH nicht klar beantwortete Frage61 der Wiederaufrollung bei diesen Berichtigungen ent59 Hinweise auf BGH v. 24. 11. 51 II ZR 51/51, LM § 322 ZPO Nr.4, und Habscheid, S.289.

60 61

S. 53:II.

VgI. oben 1 (am Ende).

r.

Darstellung der vertretenen Ansichten

47

nehmen. Niemeye'" fordert im Gegensatz zum RFH nicht nur eine Bindung des Finanzamts an die dem Urteil zugrunde liegende Rechts-· auffassung des Gerichts, sondern sie hält das Finanzamt bezüglich des gesamten dem Gericht bekannten Sachverhalts für gebunden. Das bedeutet, daß das Finanzamt nach ihrer Ansicht von rechtskräftigen steuergerichtlichen Entscheidungen nur bezüglich der neuen Tatsachen abweichen darf. Der Kommentar von Tipke-Kruse folgt in den Erläuterungen zu § 282 62 der Ansicht Niemeyers über den Umfang der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile, obwohl in den Erläuterungen zu § 222 der Streitgegenstand als entscheidendes Merkmal für die Bestimmung der Grenzen der Rechtskraft bezeichnet wird 63 ,64. In der Anmerkung zu § 282 lehnt jedoch Tipke die Entscheidung des RFH vom 20.5.1931 65 ab, da sie "festen Boden vermissen" lasse. Auch die Begründung Niemeyers, die materielle Rechtskraft sei durch § 222 eingeschränkt, da sie nur soweit reichen könne, wie der Steuerfall dem Gericht in tatbestandsmäßiger Hinsicht unterbreitet worden sei, treffe in Anbetracht der Untersuchungsmaxime nicht zu.

H. Eigene Stellungnahme 1. Ablehnung der Ansicht, die Rechtskraft umfasse die gesamte Steuerfestsetzung

Die geringsten Schwierigkeiten, die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile zu bestimmen, haben diejenigen, die im Anschluß an ein steuergerichtliches Verfahren über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides jede neue Entscheidung über den betreffenden Steuerfall durch Zurücknahme, Änderung oder Berichtigung dieses Steuerbescheides schlechthin ausschließen l • Bd.l1, § 282, Rdnr.5. Bd. I, § 222, Rdnr. 7 (vgl. oben). 64 Dieser Widerspruch wird verständlich dadurch, daß den § 282 Tipke und den § 222 Kruse kommentiert hat. Darüber hinaus ist die Arbeit Niemeyers erst 1962 veröffentlicht worden, während der Band I des Kommentars bereits 1961 erschienen ist. 66 Vgl. Anm. 8. 1 Die ältere Rechtsprechung des IV. Senats des RFH, vgl. oben I 1, und Niemann, Friedrichs, .scheuffler und Kühn, sowie - de lege ferenda Ehlers, vgl. oben I 3. Diese Ansicht vertreten ferner, mit Ausnahme von Hensel, die Autoren, die in § 94 Abs.4 (§ 76 Abs.3) eine Regelung der materiellen Rechtskraft erkennen, vgl. oben § 1 3 a. 62

63

48

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

Diese Ansicht führt jedoch zu wenig befriedigenden Konsequenzen. Sie bewirkt, worauf man auch im Schrifttum zutreffend hingewiesen hat2 , daß die Anrufung des Steuergerichts für jeden Steuerfall gewissermaßen provoziert wird. Es gäbe dann nämlich keine bessere Möglichkeit, um sich gegen spätere Steuernachforderungen durch Änderungs- oder Berichtigungsbescheide zu schützen, als wegen einer Bagatelle ein Rechtsmittelverfahren bis zum Finanzgericht zu führen. Allerdings würde dadurch in Kauf genommen, daß auch Berichtigungen zugunsten des Steuerpflichtigen, etwa gern. § 222 Absatz 1 Ziffer 2, nicht mehr möglich wären. Die an den gesamten Steuerfall anknüpfende Rechtskraftansicht übersieht auch, wie schon Hensel und Rath richtig bemerkt haben 3, daß das Finanzgericht, das über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides zu befinden hat, trotz der ihm von der herrschenden Auffassung eingeräumten umfassenden Prüfungsbefugnis im allgemeinen nur die zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt umstrittenen Tatbestandsmerkmale einer rechtlichen oder tatsächlichen Prüfung unterzieht. Wegen der insbesondere bei den Veranlagungssteuern regelmäßig in großer Zahl vorliegenden Einzelfeststellungen, -erwägungen und -entscheidungen, die erst in ihrer Gesamtheit zur Festsetzung einer bestimmten Steuer führen\ entzieht sich der überwiegende Teil der Besteuerungsgrundlagen fast immer der Prüfung des Finanzgerichts. Das bedeutet, daß die Erstreckung der Rechtskraft auf den gesamten Steuerfall zur Bindung des späteren Richters und der Beteiligten auch bezüglich der Punkte führt, die niemals einer richterlichen Erörterung unterlegen haben. Dadurch überschreitet diese in der Besteuerungspraxis sicherlich leicht zu handhabende Theorie eindeutig das Ziel, das das Institut der materiellen Rechtskraft im deutschen Prozeßrecht erreichen soll. Die materielle Rechtskraft soll bewirken, daß zur Wahrung des Rechtsfriedens jeder Rechtsstreit einmal ein Ende findet, daß die Gerichte wegen eines einmal entschiedenen Streites nicht stets von neuem angerufen werden können und daß widersprechende gerichtliche Entscheidungen ausgeschlossen werden5 • Dieser Grund und Zweck der Rechtskraft trifft für den zur Anrufung des Steuergerichts führenden 2 Vgl. etwa Hensel, S. 134. 3Vgl. oben 13. 4, Bei der Einkommensteuer etwa reicht die Skala der einer selbständigen EntScheidung zugänglichen Möglichkeiten von der Frage, ob bestimmte Einnahmen oder Einkünfte bei der Ermittlung des Gesamtbetrages der Einkünfte auszuscheiden sind (§ 3 EStG), über die der Bewertung am Bilanzstichtag (§ 6 EStG), und des steuermindernden Abzuges (§§ 4 Abs.4, 9, 10, 12, 33 und 33 a EStG) bis hin zur Frage der Steuerberechnung (§§ 32, 34 ff.). 5 So Rosenberg, § 148 I 1; Lent-Jauernig, § 62 I; ähnlich RGZ 125, 159 (161); 136, 162 (163); 160, 163 (165) und RG ZZP Bd.59, 424 (428).

II. Eigene Stellungnahme

49

Streit zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt aber nur bezüglich der gerade umstrittenen Einzelfragen zu. Es stört weder den Rechtsfrieden noch das Ansehen des Gerichts, wenn ein Steuergericht, das zunächst über die Rechtmäßigkeit eines Ausgabenabzuges als Werbungskosten bei der Veranlagung für 1961 entschieden hat, bei einer späteren Berichtigung der Veranlagung für 1961 wegen der Frage, ob die Voraussetzungen für die Bemessung der auf außerordentliche Einkünfte entfallenden Einkommensteuer gern. § 34 EStG gegeben sind, angerufen wird. Die dargelegte Ansicht hat jedoch nicht nur unbefriedigende Ergebnisse zu verzeichnen, sondern sie findet entgegen manchen Behauptungen in der Literatur auch keine Stütze in der AO. Daß § 94 Absatz 4 nicht als Grundlage einer materiellen Rechtskraftwirkung in Betracht kommen kann, haben wir bereits oben dargelegt 6 • Daher scheidet diese Vorschrift auch für die Frage des Umfanges der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile aus, obwohl manche Autoren die umfassende Rechtskraftwirkung gerade dieser Vorschrift entnehmen7 • Unrichtig ist auch die Meinung, die AO habe dadurch, daß in ihren Berichtigungsvorschriften, insbesondere im § 222, nur von Bescheiden die Rede sei, eine absolute Bindung bezüglich des gesamten Steuerfalles nach Ergehen eines steuergerichtlichen Urteils bestimmen wollen8 • Diese Ansicht verkennt ebenso wie die an § 94 Absatz anknüpfende, daß die materielle Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils nicht gleichbedeutend ist mit dessen Unwiderruflichkeit oder Unabänderlichkeit. Aus dem J.t'ehlen einer Bestimmung über die Berichtigung eines Urteils durch das Gericht selbst, das dieses Urteil erlassen hat, läßt sich daher ebensowenig wie aus dem Vorhandensein des § 94 Absatz 4 eine Begrenzung der materiellen Rechtskraftwirkung steuergerichtlicher Urteile entnehmen9 • Eine Regelung über die Berichtigung eines steuergerichtlichen Urteils durch die Steuerbehörde können wir darüber hinaus in § 222 bereits deshalb nicht erwarten, weil die Steuerbehörde, die eine durch ein Steuergericht bestätigte oder abge-

'*

6

§13a.

So etwa ScheujJler, StuW 1940 Sp. 243 (258), und Lucas, S. 146 ff. 8 So Kühn, StuW 1942 Sp. 89 (102). 9 Zudem fehlt eine derartige Bestimmung für § 222 auch gar nicht. Nach der zutreffenden Ansicht von Hensel (S. 133) und Bettermann (FR 1947, 76/78) gilt nämlich der § 94 Abs. 4 auch für die Berichtigung von Rechtsmittelentscheidungen. Hensel entnimmt dieses Ergebnis der Tatsache, daß diese Vorschrift dem auf die § § 222 ff. verweisenden § § 94 Abs. 3 unmittelbar nachfolgt. Diese Auffassung kann man aber auch, ohne auf das umstrittene Verhältnis der §§ 92 ff. und §§ 222 ff. zueinander einzugehen (vgl. dazu etwa Hensel, S.138, und Vogel, Berichtigungsveranlagung, S. 8 ff.), durch eine analoge Anwendung des 94 Abs. 4 auf die § § 222 ff. rechtfertigen. 7

4 Müffelmann

50

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

änderte Veranlagung berichtigt, nicht das Urteil, sondern den dem Urteil zugrunde liegenden Steuerbescheid berichtigt, und zwar auch dann, wenn dieser durch die dem Gericht eingeräumte Gestaltungsbefugnis im Urteil abgeändert worden ist10 •

2. Ablehnung der herrschenden Ansicht über den Umfang der Rechtskraft Auch der als herrschend zu bezeichnenden Ansicht11, daß die materielle Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile ausschließlich in einer Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts bestehe, vermögen wir nicht zu folgen. Diese Ansicht gerät bereits dadurch in Schwierigkeiten, daß man einem steuergerichtlichen Urteil regelmäßig nicht ohne weiteres für jede Einzelfrage die Rechtsauffassung des Gerichts entnehmen kann. Diese Bedenken vermindern sich allerdings dann, wenn wir die vom RFH nicht eindeutig beantwortete Frage, ob die Bindung an die richterliche Rechtsbeurteilung sich nur auf die ausdrücklich erörterte Rechtsansicht oder auch auf die durch stillschweigende Bestätigung der angefochtenen Entscheidung zum Ausdruck gekommene bezieht, mit Niemeye1·12 dahingehend entscheiden, daß die Rechtskraftwirkung eine Bindung bezüglich des gesamten dem Gericht bekannten Sachverhalts zur Folge hat. Einer derart modifizierten, an die Rechtsbeurteilung anknüpfenden Rechtskraftansicht müssen wir aber dieselben Einwendungen entgegenhalten, die zur Ablehnung der unter 1. erörterten Ansicht führten. Im Hinblick auf die Praxis der Steuergerichte, 10 Durch eine anderweite Festsetzung der Steuer durch das Finanzgericht wird der angefochtene Steuerbescheid nicht etwa inzidenter durch Aufhebung beseitigt. Er wird lediglich durch das Urteil abgeändert (vgl. Kalthoff, S. 83 f., und Niemann, VjZStFR 1930, 173 (302); anders Becker, Kom., § 212, Anm.7, der meint, die Rechtmittelentscheidung ersetze den angefochtenen Steuerbescheid). Für das Verwaltungsprozeßrecht hat diese besondere Gestaltungsbefugnis des Gerichts in § 113 Abs. 2 VwGO für Verwaltungsakte, die eine Leistung in Geld oder anderen vertretbaren Sachen betreffen, eine gesetzliche Regelung gefunden. Auch für diese Vorschrift nimmt das Schrifttum keine Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts, sondern lediglich dessen Änderung an (vgl. z. B. UZe, Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 113, Anm. 14; Klinger, VwGO, § 113, Anm. B 6 a). Eyermann-FröhZer, VwGO, § 113, Rdnr.57, sprechen allerdings von "Ersetzung", stellen daneben aber ausdrücklich fest, daß dadurch keine Kassation des Verwaltungs akts erfolge. Die Entwürfe der FGO enthalten in § 90 Abs. 1 S. 1 FGO Entwurf I und § 98 Abs. 2 S. 1 FGO Entwurf II eine dem § 113 Abs. 2 VwGO entsprechende Regelung über die Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts. 11 Sie wird vom RFH und vom BFH (vgl. oben I 1 und 2), sowie von Becker, RiewaZd, SpitaZer, Leibrecht und BühZer (vgl. oben I, Anm. 25), ferner von Berger, KriszeZeit und Herbert Kühn (vgl. sämtlich oben 13) vertreten. 12 Vgl. oben 13 (am Ende).

II. Eigene Stellungnahme

51

nur über die Fragen zu entscheiden, die zwischen den Verfahrensbeteiligten umstritten sind, und nur in seltenen Ausnahmefällen von der umfassenden Prüfungsbefugnis Gebrauch zu machen, halten wir es für nicht gerechtfertigt, mit der Unterstellung zu argumentieren, durch die Entscheidung eines Steuergerichts über die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung liege nunmehr der gesamten Steuerfestsetzung die Rechtsbeurteilung des Gerichts zugrunde. Die Abhängigkeit des Umfanges der materiellen Rechtskraft von der Rechtsbeurteilung eines Gerichts ist aber auch dann bedenklich, wenn man diese auf die ausdrücklich erörterten Rechtsfragen beschränkt. In diesem Falle ist eine eindeutige Bestimmung der Grenzen der Rechtskraft nicht gewährleistet. Abgrenzungsschwierigkeiten er~eben sich insbesondere, wenn eine vom Finanzgericht entschiedene Rechtsfrage für einen Steuerbescheid in mehrfacher Hinsicht Bedeutung hat oder in .Zukunft haben kann, im Urteil aber nur bezüglich eines Punktes erörtert worden ist. So hat etwa die steuergerichtliche Entscheidung der zwischen dem Finanzamt und dem Steuerpflichtigen umstrittenen Frage, ob bestimmte Einkünfte (Einnahmen) der Einkunftsart des § 2 Absatz 3 Ziffer 3 EStG (selbständige Arbeit) oder des § 2 Absatz 3 Ziffer 4 (nichtselbständige Arbeit) zuzurechnen sind, Auswirkungen auf die Gewährung des Freibetrages für Einnahmen aus freier Berufstätigkeit gern. § 18 Absatz 4 EStG, auf die Gewährung des Pauschbetrages für Werbungskosten gern. § 9a Ziffer 1 EStG, auf die Höhe des Sonderausgabenpauschbetrages gern. § 10c EStG13 und möglicherweise auf die besonderen Abzugsbeträge der §§ 46 Absatz 3 EStG und 70 EStDV. Tritt die Bindung an die Rechtsbeurteilung des Gerichts nun bezüglich aller Fragen ein, die das Vorliegen bestimmter Einkünfte voraussetzen, wenn das Gericht deren Vorliegen bei der Prüfung eines Tatbestandes angenommen hat? Noch eindringlicher zeigt ein anderes Beispiel die Unmöglichkeit, den Umfang der materiellen Rechtskraft durch die Bindung an die richterliche Rechtsbeurteilung zu bestimmen. Im EStG bzw. in der EStDV gibt es eine Anzahl von Vergünstigungsvorschriften, die die Gewinnermittlung auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung voraussetzen1 '. Sind nun etwa, wenn das Finanzgericht bei einem Streit über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 Absatz 2 EStG entschieden hat, daß die Buchführung des Steuerpflichtigen ordnungsmäßig ist, die Verfahrensbeteiligten und insbesondere auch der Richter an die Entscheidung bei einer Prüfung der Voraussetzungen einer anderen Vergünstigungsvorschrift, Vgl. einerseits Ziff 1, andererseits Ziff.2. Vgl. etwa §§ 6 Abs.2, 7 a Abs.l, 7 c Abs.l, 7 e Abs.l, 10 a Abs.l, 10 d EStG, §§ 74 Abs.l, 75 Abs. I, 76 Abs.l, 79 Abs.l, 80 Abs. I, 81 Abs.l, 82 Abs. 1 EStDV. 13

14

4"

52

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

die ebenfalls die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung voraussetzt, gebunden? - Der hier ersichtliche Mangel der herrschenden Ansicht liegt darin, daß sie die durch die Rechtskraftwirkung erzeugte Bindung nicht an die Entscheidung über eine Rechtsfolge, sondern an die über eine Rechtsfrage knüpft. Dem Prozeßrecht ist eine Bindungswirkung, die sich gerade und ausschließlich auf die in einer richterlichen Entscheidung zum Ausdruck kommende rechtliche Beurteilung bezieht, allerdings nicht fremd. Im Falle der Zurückverweisung einer Sache von einer höheren richterlichen Instanz an eine niederere ist das untere Gericht lediglich an die der aufhebenden und zurückverweisenden Entscheidung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung gebunden15 • Die offensichtliche übereinstimmung zwischen dem Begriffsinhalt dieser innerprozessualen Bindungswirkung im allgemeinen Prozeßrecht und dem der materiellen Rechtskraft nach der im Steuerprozeßrecht herrschenden Rechtskraftansicht kann man wohl nur dadurch erklären, daß der RFH, der die hier erörterte Rechtskraftansicht entwickelt hat, beide Bindungswirkungen gleichgesetzt hat, ohne den zwischen ihnen bestehenden Unterschied erkannt zu haben. Allerdings lassen sich aus der Rechtsprechung des RFH, soweit ersichtlich, dafür keine Anhaltspunkte entnehmen. Stützen läßt sich diese Annahme aber dadurch, daß die AO in § 296 Absatz 4 eine Bestimmung über die innerprozessuale Bindung enthält, während eine Vorschrift über die materielle Rechtskraft richterlicher Urteile in der AO fehlt. Bestärkt wird diese Annahme darüber hinaus dadurch, daß der RFH in den Urteilen, in denen er die Bindung an die rechtliche Beurteilung knüpft, regelmäßig den Wortlaut des § 296 Absatz 4 AO inhaltlich wiedergibt16 . Für die rechtliche Würdigung ist es aber gleichgültig, ob der RFH diese übereinstimmung bewußt oder unbewußt herbeigeführt hat. Jedenfalls hat sie zur Folge, daß der Begriff der materiellen Rechtskraft im allgemeinen Prozeßrecht und im Steuerprozeßrecht einen verschiedenen Inhalt hat. Denn nach unbestrittener Meinung ist die Bindung im Sinne der §§ 565 Absatz 2 ZPO, 358 StPO, 130, 141 VwGO, 170 SGG etwas anderes als die sich aus der materiellen Rechtskraft ergebende Bindungswirkung. Die innerprozessuale Bindungswirkung bezieht sich ausschließlich auf die rechtliche Begründung des zurückweisenden Urteils, d. h. auf die Entscheidung einer oder mehrerer Rechtsfragen, während die materielle Rechtskraft eine Bindung an 15 VgI. z. B. §§ 296 Abs. 4 AO, 565 Abs. 2 ZPO, 358 Abs.l StpO, 130 Abs.2 und 144 Abs. 6 VwGO, 159 Abs.2 und 170 Abs. 4 SGG. 16 VgI. etwa das Urt. v. 20.5.31 siehe oben I, Anm.8 - und die in Anm. 10 zu I angeführten Urteile v. 10. 6. 31 und v. 16. 12. 36.

·II~ Eigene Stellungnahme

53

eine vom Gericht ausgesprochene Rechtsfolge bedeutet, die aus der Erfüllung eines bestimmten gesetzlichen Tatbestandes durch einen bestimmten Sachverhalt abgeleitet ist17• Hebt ein Rechtsmittelgericht das bei ihm angefochtene Urteil auf und verweist es die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das untere Gericht zurück, so ist dieses zwar gehalten, die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, bei seiner erneuten Entscheidung zu beachten. Die Parteien sind jedoch nicht gehindert, vor dem unteren Gericht nunmehr andere Sachanträge zu stellen und neue Tatsachen und Beweismittel vorzubringen. Das untere Gericht kann dadurch veranlaßt werden, seine erneute Entscheidung auf ganz andere tatsächliche und rechtliche Grundlagen aufzubauen als die frühere 18 • Nach rechtskräftigem Abschluß eines Prozesses ist aber bezüglich desselben Streitgegenstandes - auch wenn man ein erneutes gleichlautendes Urteil zuläßt19 - eine vom materiell rechtskräftigen Urteil abweichende tatsächliche oder rechtliche Würdigung nicht möglich. Die Bindung an eine rechtliche Beurteilung kann sich natürlich nicht lediglich auf die Feststellung bestimmter Rechtsnormen oder Rechtsgrundsätze beschränken, sondern umfaßt ebenso deren Anwendung auf den konkreten Sachverhalt20 . Der Unterschied zur materiellen Rechtskraft, daß die Bindung nur die entschiedenen Rechtsfragen und nicht eine ausgesprochene Rechtsfolge ergreift, wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Nun hat allerdings Zeuner 21 nachgewiesen, daß im Zivilprozeßrecht den Urteilsgründen und insbesondere auch der daraus zu entnehmenden richterlichen Rechtsbeurteilung eine maßgebliche Bedeutung für den objektiven Umfang der materiellen Rechtskraft zukommt. Zeuner geht bei seinen Erörterungen von dem einfachen - bereits bei Nikisch 22 angeführten - Beispiel der Herausgabeklage aus 23 : Der gemäß § 861 BGB nach Besitzrecht zur Herausgabe einer Sache Verpflichtete könne durchaus ein Recht zum Besitz - etwa auf Grund seines Eigentums - haben. Die materielle Rechtskraft des auf § 861 BGB gestützten Herausgabeurteils dürfe den Verurteilten daher nicht hindern, sogleich mit einer Klage umgekehrten Rubrums die inzwi.:. 17

(85).

Vgl. Rosenberg,

§ 143 UI

1 b; ähnlich: Schultzenstein, ZZP Bd.48, 63

18 Vgl. statt aller RGZ 129, 224 (225) und Baumbach-Lauterbach, § 565, Anm.2C. 19 Vgl. dazu oben 1,1. 20 ISchultzenstein, aaO., S.85/86 und 97; Böchel, ZZP Bd. 56, 236; Wieczorek, § 565, ~m. C UI b 3; RGZ 90, 23 (25); 91, 134 (135). 21 Vgl. S. 31 ff. (insbesondere S. 39 ff.), S. 172 ff. 22 Streitgegenstand, S.149. 23 Vgl. S. 32.

54

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

schen herausgegebene Sache auf Grund des § 985 BGB zurückzuverlangen, denn sein Recht zum Besitz habe er in dem ersten Prozeß gemäß § 863 BGB nicht geltend machen können. - Diese Rechtsfolge kann im Zivilprozeßrecht - wegen des rein prozessualen Streitgegenstandsbegriffs24 - nur durch eine Heranziehung der Urteilsgründe zur Bestimmung der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft begründet werden, da die rechtliche Qualifikation des Klagebegehrens erst in der Urteilsbegrundung erfolgt. Zeuner kommt - nachdem er etliche andere Fallgruppen geprüft und die gleichen Grundsätze festgestellt hat - zu dem Ergebnis, daß "der rechtskräftige Inhalt der Entscheidung von Elementen beeinflußt" werde, "die nicht schon im Streitgegenstand enthalten" seien. Der Streitgegenstand sei "nicht der einzige Faktor, der den Umfang der Rechtskraft" bestimme. An dieser Aufgabe seien "vielmehr neben ihm auch die Gründe der Entscheidung und damit auch die jeweils zur Anwendung gekommenen Rechtsnormen maßgeblich beteiligt"2G. Gleichwohl führen die zutreffenden - auch für das Verwaltungs-26 und Steuerprozeßrecht27 nützlichen - Gedanken Zeuners nicht dazu, der Rechtskraftansicht des RFH und des BFH zu folgen. Während nämlich RFH und BFH eine ausschließlich auf die Urteilsgründe beschränkte Wirkung der materiellen Rechtskraft annehmen, will Zeuner gerade nicht die von v. Savigny 28 entwickelte, nach Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze aufgegebene und von der heutigen herrschenden Lehre 29 abgelehnte eigenständige Rechtskraftwirkung der Urteilsgründe wiederbeleben; vielmehr stellt er ausdrücklich fest, seine Untersuchungen hätten lediglich bezweckt, durch die Bindung an die den Urteilsgründen zu entnehmenden Sinnzusammenhänge "den vollen Gehalt dessen zur Anerkennung zu bringen, was das Gericht über die geltend gemachte Rechtsfolge festgestellt" habe30 • Die Tatsache, daß das Gericht über den vom Kläger bestimmten Streitgegenstand entscheidet, die materielle Rechtskraft aber an diese Entscheidung anknüpft, wird somit von Zeuner nicht in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu sieht die höchstrichterliche Steuerrechtsprechung die Rechtsbeurteilung des Gerichts, die sich aus den Gründen des Urteils ergibt, Vgl. unten § 3 II. S.176. 26 Vgl. unten § 4 II 3 f, § 4 III 7 c aa und bb. ~ Vgl. unten § 6 1 und 2. 28 §§ 291-294 (insbesondere S.350). 29 SchuZtzenstein, ZZP Bd.48, 63 (75); Rosenberg, § 150 II 2; Lent-Jauernig, § 631113; UZe, Verwaltungsprozeßrecht, § 59112; Eyermann-Fröhler, VwGO, § 121, Rdnr. 6. so S. 172/173. 24

25

II.· Eigene Stellungnahme

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als einziges die Hechtskraft bestimmendes und begrenzendes Merkmal an. Nach der Ansicht Zeuners ist die Aufgabe, den objektiven Umfang der materiellen Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung zu bestimmen, zwischen Kläger und Gericht verteilt. Der Kläger umreißt mit seiner Klage den Streitgegenstand und begrenzt - da sein rechtlicher Vortrag für das Gericht regelmäßig irrelevant ist - sein Begehren vom Tatsächlichen her, während das Gericht in seinem abweisenden oder stattgebenden Urteil die rechtliche Einordnung des Entschiedenen besorgt. Die Rechtskraftansicht der höchsten Steuergerichte führt mithin nicht nur zu großen praktischen Schwierigkeiten, sondern sie hat auch - wegen der Gleichstellung von innerprozessualer Bindungswirkung und materieller Rechtskraft - zur Folge, daß für das Steuerprozeßrecht ein eigenständiger Rechtskraftbegriff gilt. Bevor nicht festgestellt wird, daß die herkömmliche Begrenzung der materiellen Rechtskraft im übrigen Prozeßrecht für das steuergerichtliche Verfahren untunlich oder rechtlich unmöglich ist 31 , müssen wir daher - dem Streben nach Rechtsvereinheitlichung folgend 32 - die Rechtsprechung des RFH und des BFH bereits aus diesem Grunde in Frage stellen. 3. Ablehnung der von BenseI und Rath entwickelten Theorien Auch die Gedanken von Hensel und Rath33 führen nicht zu einer zufriedenstellenden Begrenzung des Umfanges der materiellen Rechtskraft im Steuerprozeßrecht.

Hensel hält seine Definition selbst lediglich für eine vage Auslegungsregel. Bedenklich ist außerdem, daß er die materielle Rechtskraft auch auf Fragen oder Punkte erstrecken will, die das Gericht nicht ausdrücklich erörtert und entschieden hat, sondern die als entschieden gelten können bzw. die das Gericht bei ordnungsgemäßer Sachbehandlung hätte erörtern und entscheiden müssen. Eine derartige Erweiterung der Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile würde dazu führen, daß dem Finanzamt bei einer etwaigen Berichtigungsveranlagung zunächst die Entscheidung darüber obläge, was das Finanzgericht oder der BFH in einem Rechtsmittelverfahren über eine Steuerfestsetzung bei zutreffender Sachbehandlung hätte entscheiden müssen. Daran könnten sich dann umfangreiche neue Streitigkeiten über das, was das Gericht hätte prüfen und erörtern müssen, anschließen. Bereits der mit Verfassungs rang ausgestattete Grundsatz der Rechts31

32 33

Vgl. dazu unten 4 und § 6 dieser Arbeit. Vgl. oben 1 der Einleitung. Vgl. oben 13.

56

§ 2 Rechtsprechung und Schrifttum zum Umfang der mat. Rechtskraft

sicherheit34 gebietet aber, den Umfang dessen, was ein Gericht rechtskräftig entschieden hat, voraussehbar und eindeutig zu bestimmen. Zudem erscheint es im Hinblick auf das in Artikel 20 Absatz 2 GG normierte Gebot der Gewaltenteilung fraglich, ob man einer Verwaltungsbehörde die Bestimmung des Umfanges der Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils überlassen kann35 • Letztlich ist es auch nicht besonders praktisch, durch eine unbestimmte Definition des Rechtskraftumfanges die Grundlagen für neue Streitigkeiten zwischen den Prozeßbeteiligten zu schaffen. Darüber hinaus übersieht Hensel - ebenso wie die höchstricht.erliche Steuerrechtsprechung -, daß die Beteiligten auch im Steuerprozeßrecht nicht lediglich um Rechtsfragen, sondern vielmehr um Rechtsfolgen streiten. Der Steuerpflichtige, der den Finanzrechtsweg beschreitet, will eine Herabsetzung der Steuer erreichen38 • Es ist daher nicht ausreichend, wenn die Begrenzung des Umfanges der materiellen Rechtskraft durch das umstrittene Teilverhältnis oder durch den vom Gericht ~prüften bzw. zu prüfenden Teilsachverhalt erfolgt. Vielmehr muß man bei der Bestimmung des Umfanges der materiellen Rechtskraft irgendwie das reale Streitobjekt, nämlich die Höhe der Steuer, berücksichtigen. Ohne hier späteren Erörterungen vorzugreifen, sei darauf hingewiesen, daß auch im Zivilprozeßrecht, etwa bei einem Urteil über eine Leistungsklage, die materielle Rechtskraft an die aus dem Urteilstenor zu entnehmende Entscheidung über den geltend gemachten prozessualen Anspruch anknüpft37 • In Rechtskraft erwächst bei einem obsiegenden Zahlungsurteil lediglich die Entscheidung, daß der Beklagte dem Kläger einen bestimmten Betrag zu entrichten hat39 • Der Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde liegt, ist dabei allerdings zur Konkretisierung des geltend gemachten Anspruchs und damit auch zur Bestimmung des Rechtskraftumfanges heranzuziehen. Ausgangspunkt für die Bestimmung des Umfanges der materiellen Rechtskraft ist aber stets der Tenor der Entscheidung, weil dort ersichtlich ist, über was die Beteiligten gestritten haben und wie das Gericht diesen Streit entschieden hat. M Vgl. dazu etwa Maunz-Düng, Art. 103, Rdnr. 124; Hamann, Einf. I D 1 (S.21). 35 Wir müssen davon ausgehen, daß ein großer Teil der Berichtigungsbescheide, bei denen über den ersten Bescheid ein steuergerichtliches Urteil ergangen ist, unangefochten bleibt und daher nicht zum Finanzgericht gelangt. 36 Vgl. § 232 Abs. 1 AO. 37 Vgl. statt aller: Rosenberg, § 150 I 1. 38 Rosenberg, § 150 II 3.

II. Eigene Stellungnahme

57

In gleicher Weise wie Hensel verknüpft Rath die Bestimmung des Umfanges der Rechtskraft mit den entschiedenen Rechtsfragen und den vom Gericht erörterten Teilsachverhalten. Auch er übersieht dabei, daß im Vordergrund der Streit um die Steuer steht, und daß Teilsachverhalte, aus denen steuerrechtliche Folgen abgeleitet werden, nur der Konkretisierung des umstrittenen Steuerbetrages dienen. 4. Rechtfertigung für die Untersuchung des Zusammenhanges von materieller Rechtskraft und Streitgegenstand Der Nachweis, daß eine befriedigende Bestimmung des Umfanges der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile auf Grund der Rechtsprechung und des bisherigen Schrifttums nicht möglich ist, gibt die Notwendigkeit, nach einer befriedigenden Lösung zu suchen. Die Wahl des Ausgangspunktes für einen derartigen Versuch erscheint uns nicht allzu schwierig zu sein, wenn wir bedenken, daß die allgemein anerkannte Ansicht sowohl für das Zivilprozeßrecht als auch für das Verwaltungsprozeßrecht - einschließlich des sozialgerichtlichen Verfahrensrechts - den Streitgegenstand als entscheidendes Kriterium zur Bestimmung des Umfanges der materiellen Rechtskraft ansieht. Für das Zivilprozeßrecht ergibt sich das aus einer völlig unbestrittenen Lehre, die den prozessualen Anspruch i. S. des § 322 Absatz 1 ZPO dem Streitgegenstand gleichsetzt39 • Für das Verwaltungsprozeßrecht kann dieses Ergebnis bereits dem insoweit eindeutigen Wortlaut der die materielle Rechtskraft regelnden gesetzlichen Vorschriften - §§ 121 VwGO und 141 SGG - entnommen werden. Da auch Wacke, Tipke, Kruse, List und Becker-Riewald-Koch40 sowie in einem Urteil sogar der BFH41 eine Abhängigkeit der materiellen Rechtskraft steuergerichtlicher Urteile vom Streitgegenstand annehmen42 dessen Begriffsbestimmung aber ausdrücklich besonderen Untersuchungen vorbehalten -, halten wir es für gerechtfertigt, zu prüfen, ob es im Steuerprozeßrecht überhaupt einen Streitgegenstandsbegriff gibt, der dem des übrigen Prozeßrechts entspricht. Die weitere Frage ist dann, ob dieser Begriff zur Bestimmung der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft geeignet ist. Im Rahmen dieser Erörterungen wollen wir auf die bereits kurz angedeutete Ansicht von Niemeyer, die die Annahme eines Streitgegenstandes i. S. des allgemeinen Prozeßrechts schlechthin leugnet, eingehen. Vgl. statt aller: Rosenberg, § 150 I in Verbindung mit § 88 I. Vgl. oben 13. 41 Vgl. oben 12 (am Ende). 42 Ebenso außerdem: § 96 Abs. 1 S. 1 FGO-Entw. I und § 106 Abs. 1 S. 1 FGO-Entw. II. 391

40

58

§

2 Rechtsprechung und Schrifttum ZUm Umfang der mat. Rechtskraft

. Um die erforderlichen Grundlagen für die angestrebte prozeßrechtliche Rechtsvergleichung zu schaffen, erscheint es uns tunlich, zunächst zu prüfen, welche Bestimmung der Begriff des Streitgegenstandes im übrigen Prozeßrecht gefunden hat. Die Erörterungen werden wir dabei auf das Zivil- und das Verwaltungsprozeßrecht beschränken. Das Strafprozeßrecht hat - wohl wegen seiner besonderen Struktur, denn es stehen sich dort nicht wie in den übrigen gerichtlichen Verfahren zwei Parteien gegenüber - einen an den Prozeßanspruch anknüpfenden Streitgegenstandsbegriff bisher nicht entwickelt43 • Für das arbeitsgerichtliche Verfahrensrecht können sich gegenüber dem Zivilprozeßrecht selbständige Erörterungen über den Begriff des Streitgegenstandes nicht ergeben, da dieses Verfahren wegen der Verweisung in § 46 Absatz 2 Satz 1 ArbGG dem Zivilprozeßrecht fast völlig angeglichen ist. Die zum Begriff des Streitgegenst'andes im Sozialprozeßrecht entwickelten Gedanken werden wir bei der Erörterung des verwaltungsprozessualen Streitgegenstandes berücksichtigen. Es kann nicht Aufgabe einer Untersuchung über steuerverfahrensrechtliche Fragen sein, die nahezu unübersehbaren Ansichten und Äußerungen über den Streitgegenstandsbegriff im Zivilprozeßrecht erschöpfend darzulegen und zu würdigen. Vielmehr erachten wir es als ausreichend, die Erörterungen auf die Ergebnisse, die die neuere Prozeßrechtsliteratur - also insbesondere Nikisch, Lent44 , Rosenberg, Schwab, Bötticher und Habscheid - erarbeitet hat, zu beschränken. Eine eingehendere Untersuchung ist über den Begriff des Streitgegenstandes im Verwaltungsprozeßrecht geboten, da sich dort eine gefestigte und in ihrer Grundkonzeption anerkannte Meinung trotz der ebenfalls äußerst reichhaltigen Literatur bisher nicht hat durchsetzen können. Aber auch dort werden wir uns Beschränkungen auferlegen und in der Hauptsache den Streitgegenstand der für den Verwaltungsprozeß typischen Klageart, der Anfechtungsklage, untersuchen. Da jedoch die Verpfiichtungsklage mit der Anfechtungsklage in engem Zusammenhange steht, werden wir, soweit das für die Darstellung erforderlich oder nützlich erscheint, auch auf den Streitgegenstand dieser Klage einzugehen haben. 43 Kern, § 50 B I, knüpft die materielle Rechtskraft im Strafprozeßrecht an den farblosen Begriff "Prozeßgegenstand" an, den er mit der abgeurteilten Tat gleichsetzt. Ähnlich: Schwarz-Kleinknecht, Ein!. 8 B; Löwe-Rosenberg-Jagusch, Vorbem. zu § 296, Anm. B 7. 44 Im folgenden werden die Nachweise der letzten von Lent selbst besorgten (9.) Auflage seines Lehrbuches entnommen. Jiauernig, der das Lentsche Lehrbuch fortführt, hat die Streitgegenstands ansicht Lents unverändert übernommen (vgl. die §§ 37 der 9. und 11. Auflage).

§ 3 Der Streitgegenstand im ZivilprozeErecht I. Darstellung der vertretenen Ansichten Einigkeit besteht darüber, daß die Begriffe Streitgegenstand und prozessualer Anspruch identisch sindl • Der zivilrechtliche Anspruchsbegriff des § 194 Absatz 1 BGB deckt sich jedoch mit dem prozeßrechtlichen und dementsprechend mit dem des Streitgegenstandes nicht2 • Das ergibt sich eindeutig daraus, daß bei den Leistungs- und den meisten Feststellungsklagen das Gericht gerade erst das Bestehen eines Anspruches feststellen so1l3. Der Prozeß wird daher regelmäßig über vom Kläger lediglich behauptete Ansprüche oder Rechtsfolgen geführt. Da das Gericht dem Kläger durch das Urteil nicht etwas zusprechen darf, was nicht beantragt ist (§ 308 Absatz 1 ZPO) und im Urteil über den durch die Klage erhobenen - prozessualen - Anspruch entscheidet, knüpfen sämtliche Ansichten über den Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht für die Bestimmung des Streitgegenstandsbegriffs an den Klageantrag an4 • Unterschiedliche Ergebnisse werden trotz dieses einheitlichen Ausgangspunktes nur dadurch erzielt, daß manche Ansichten die durch die Klage aufgestellte Rechtsbehauptung und andere das in der Klage enthaltene, auf eine bestimmte Entscheidung gerichtete Begehren in den Vordergrund stellen. Außerdem bestehen Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung des der Klage zugrunde liegenden Sachverhalts für den Begriff des Streitgegenstandes. Rosenberg, § 88 I 1 b; Nikisch, Lehrbuch, § 42 I 1, und Streitgegenstand, (S. 40); Lent, Lehrbuch, § 24 V und § 37 III, IV; Schwab, Streitgegenstand, Einl. II (S.3); Stein-Jonas-Schönke-Pohle, vor § 253, Anm. II 5; BaumbachLauterbach, § 2, Anm. 2 A; Wieczorek, § 253, Anm. B II; Thomas-Putzo, Einl. II 5; BGHZ 9, 22 (27). 2 Rosenberg, § 88 12 b; Nikisch, Lehrbuch, § 42 I 2, und Streitgegenstand, § 3 I; Lent, Lehrbuch, § 24 V; Schwab, Streitgegenstand, Einl. II (S. 2); Wieczorek, § 253, Anm. B II cl; Thomas-Putzo, Einl. II 4; BGHZ 9, 22 (27). 3 Nikisch, Lehrbuch, § 42 I 2; Lent, Lehrbuch, § 37 III. ~ Rosenberg, § 88 II 1 a; Nikisch, Lehrbuch, § 42 II, und Streitgegenstand, § 2 (S. 14 ff.); Lent, Lehrbuch, § 37 III, IV; ,Schwab, Streitgegenstand, § 16 I (S. 184); Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 253, Anm. III 2; Baumbach-Lauterbach, § 2, Anm.2 B; Wieczorek, § 253, Anm. B II a; Thomas-Putzo, Einl. II 6. 1

§3I

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§ 3 Der Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht

1. Die Lehre Nikischs Nikischf> hält lediglich die im Klageantrag enthaltene Rechtsbehauptung für bedeutsam, wenn er den Streitgegenstand als die Rechtsbehauptung des Klägers, über die er eine der Rechtskraft fähige Entscheidung begehrt, definiert. Der Streitgegenstand (prozessuale Anspruch) könne nicht das Rechtsschutzbegehren sein, das der Kläger an das Gericht richte6 • Das ergebe sich bereits daraus, daß der Kläger den prozessualen Anspruch gegen die andere Prozeßpartei geltend mache, das Rechtsschutzbegehren aber an das Gericht richte. Zudem seien die Wendungen in zahlreichen den prozessualen Anspruch betreffenden Bestimmungen der ZPü unverständlich, wenn man sie auf das Begehren beziehe7 .

Zur Frage, ob der Sachverhalt, aus dem eine Rechtsbehauptung abgeleitet wird, Bedeutung für den Streitgegenstandsbegriff hat, vertritt Nikisch keine einheitliche, für alle Fälle geltende Ansichts. Aus dem Klageantrag müsse sich eine individualisierte Rechtsbehauptung ergeben. Diese Individualisierung könne oft durch die Bezeichnung von Art und Gegenstand des behaupteten Rechts oder des maßgebenden Rechtsverhältnisses und der beteiligten Personen erfolgen9 , so daß der Entstehungsgrund des Rechts (der Sachverhalt) für die Rechtsbehauptung ohne Interesse sei. In manchen Fällen gehöre der Sachverhalt jedoch zu den Individualisierungsmerkmalen, so daß auch die Angabe des Anspruchsgrundes zum notwendigen Inhalt der Klage und damit zum Streitgegenstand gehöre. Das sei der Fall, wenn der Klageantrag an sich mehrdeutig sei und aus den verschiedensten Sachverhalten abgeleitet werden könne1°. Eine Mehrheit prozessualer Ansprüche nimmt Nikisch an, wenn der Kläger verschiedene Rechtsbehauptungen aufstellt und über jede eine der Rechtskraft fähige Entscheidung begehrtl l. Identität der Rechtsbehauptungen und damit der Streitgegenstände bejaht Nikisch allerdings auch dann noch, wenn eine Rechtsbehauptung auf mehrere Sachverhalte gestützt wird, die nicht zur Individualisierung des Streitgegenstandes erforderlich sind.

5 Lehrbuch, § 42 I 4, und Streitgegenstand, § 2 (S. 14 ff., insbes. S. 19 ff.); ebenso in Dietz-Nikisch, § 47, Rdnr.17. 6 Vgl. zum folgenden: Lehrbuch, § 42 I, und Streitgegenstand, § 3 II (S. 46 ff.). 7 Hinweis auf "zuerkannt" bzw. "aberkannt" in § 537, "anerkannt" in § 307 und "durch das Urteil festgestellt" in § 767 Abs. 1 (Streitgegenstand, S.49). 8 Vgl. zum folgenden: Lehrbuch, § 42 III, und Streitgegenstand, § 2 IV (S. 30 ff.). 9 Nikisch führt als Beispiele den Streit um das Eigentum an einer bestimmten Sache, um das Bestehen einer Ehe oder eines Mietverhältnisses an. 10 Als Beispiel weist Nikisch auf die reine Zahlungsklage und die Ehescheidungsklage hin. 11 Lehrbuch, § 45 II.

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

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2. Die Lehre Lents Lent12 verknüpft - soweit ersichtlich, als einziger im neueren Schrifttum - die inhaltliche Bestimmung des Streitgegenstandes mit dem materiellen Recht. Er bezeichnet als Streitgegenstand das auf die rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge gerichtete Begehren13• Da die Entscheidung unmittelbar über dieses Begehren und damit zugleich notwendig über die mit der Rechtsbehauptung identische, vom Kläger behauptete materielle Rechtsfolge ergehe, stehe auch bei der Frage nach dem prozessualen Anspruch das materielle Recht im Mittelpunkt. Lent hält das mit der Klage geltend gemachte materielle Recht aber auch deshalb für den Streitgegenstand für bestimmend, weil man sonst die Fragen der Klageänderung und der Anspruchshäufung nicht befriedigend lösen könne. Eine Mehrheit der Streitgegenstände liege grundsätzlich bereits dann vor, wenn der Kläger mehrere materielle Rechte geltend mache14• Eine Abweichung von diesem Grundsatz trete jedoch dann ein, wenn mehrere materielle Rechte sich auf dasselbe Ziel richteten1S oder in Gesetzeskonkurrenz zueinander ständen16• In diesen Fällen entscheide über die Einheit oder Mehrheit der Streitgegenstände der Antrag des Klägers. Begehre er nur eine Entscheidung, liege auch nur ein Streitgegenstand vor. Da aber nur die Antragstellung die Identität des Streitgegenstandes bei Geltendmachung mehrerer materieller Rechte herbeiführe, könne dem Kläger nicht verwehrt werden, den Streitgegenstand auf ein bestimmtes materielles Recht zu beschränken. Während in dem ersten Fall eine allgemeine Rechtsbehauptung vorliege, stelle der Kläger im zweiten Fall eine spezielle Rechtsbehauptung auf. Die enge Verbindung des Streitgegenstandsbegri:!fs mit dem materiellen Recht zeigt sich nach Lents Ansicht außerdem bei der Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges und auch der Zuständigkeit, wenn es auf die Art des umstrittenen materiellen Rechts ankonune17 • Trotz dieser Beziehungen zum materiellen Recht ist auch bei Lent Streitgegenstand nicht etwa der materielle Anspruch i. S. des § 194 BGB, sondern er bleibt ein prozessualer Begri:!f18 • Das ist eindeutig daraus ersichtlich, daß Adressat des den Streitgegenstand charakterisierenden Begehrens nach seiner Ansicht nicht die beklagte Partei, sondern das angerufene Gericht ist19• Den Sachverhalt hält Lent für einen Bestandteil des Streitgegenstandes20 • Das ergebe sich daraus, daß der Sachverhalt zur Individualisierung heranLehrbuch, § 37 (vgl. den Hinweis in Anm. 44 zu § 2 II), und ZZP Bd. 65, :!f.). 13 Lehrbuch, § 37 IV, und ZZP Bd.65, 315 (318). 14 Vgl. hierzu und zum folgenden: Lehrbuch § 37 IV. 15 Etwa aus Kaufvertrag und aus einem für den Kaufpreisanspruch ausgestellten Wechsel. 16 Etwa aus Vertrag, Delikt und Gefährdungshaftung oder aus Eigentum und Besitz. 17 Lehrbuch, aaO. 18 Lehrbuch, § 37III, und ZZP Bd.65, 315 (318). 19 ZZP Bd. 65, 315 (317). 20 Lehrbuch, § 37 Irr; anders offenbar noch: ZZP Bd.65, 315 (319 f.). Hier vertrat Lent die Ansicht, daß der Sachverhalt nur insoweit Bestandteil des Streitgegenstandes sei, als er zur Festlegung desselben erforderlich sei. Wir 12

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§ 3 Der Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht

zuziehen sei, da der Antrag in der Regel - insbesondere bei Leistungsklagen - über den Streitgegenstand keinen Aufschluß gebe. Wenn aber der Klagegrund zur Individualisierung notwendig sei, gehöre er auch zum Streitgegenstand, denn sobald er sich ändere, werde auch dieser ein anderer.

3. Die Lehre Rosenbergs und Schwabs Rosenberg 21 bezeichnet als Streitgegenstand das auf rechtskräftige Feststellung gerichtete Begehren, das durch den gestellten Antrag gekennzeichnet werde. Mit dieser Begriffsbestimmung ist Rosenberg der Ansicht seines Schülers Schwab gefolgt22, nachdem er fruher 23 eine Kennzeichnung des Begehrens durch Antrag und den zu dessen Begründung vorgetragenen Sachverhalt für richtig gehalten hatte. Rosenberg und $chwab meinen, daß der Streitgegenstand auf das Begehren des Klägers und nicht auf dessen Rechtsbehauptung zurückgeführt werden müsse 24 • Der Kläger begehre eine bestimmte Entscheidung. Gleichzeitig stelle er auch eine Rechtsbehauptung auf. Durch diese könne der Streitgegenstand jedoch nicht erschöpfend umschrieben werden, da der Kläger beispielsweise bei einer zunächst auf Feststellung und später auf Leistung gerichteten Klage dieselbe Rechtsbehauptung aufstelle. Die begehrten Entscheidungen und damit die Begehren selbst seien jedoch verschieden. Auch enthalte eine auf konkurrierende Anspruche, etwa Delikt, Vertrag und Haftpflicht, gestützte Klage so viele Rechtsbehauptungen, wie materiell-rechtliche Ansprüche in Betracht kämen, während der Kläger nur eine Verurteilung des Beklagten erreichen könne und dementsprechend auch lediglich diese eine Entscheidung begehre.

Der Sachverhalt gehört nach der Ansicht von Rosenberg und Schwab nicht in den Begriff des Streitgegenstandes25 . Sie räumen allerdings ein, daß die Fragen, ob ein Streitgegenstand oder mehrere vorlägen und ob ein Streitgegenstand mit dem anderen identisch sei, nur aus der Begründung der Klage beantwortet werden könne. Daraus dürfe jedoch nicht geschlossen werden, daß der Sachverhalt Teil des Streitgegenstandes sei, denn sonst würde eine auf mehrere Sachverhalte gestützte Klage zur Klagenhäufung und ein Wechsel des zur Klagebegründung vorgetragenen Sachverhalts zur Klageänderung führen. Daher diene der Sachverhalt lediglich der Individualisierung des erhobenen prozessualen Anspruchs. Die ausschließlich am Klageantrag orientierte Streitgegenstandsauffassung führt dazu, daß eine Klagenhäufung nur dann vorliegt, wenn der Kläger mehrere Klageanträge stellt26. Der Antrag entscheidet nach dieser Ansicht können aber wohl annehmen, daß auch nach der im Lehrbuch (aaO.) dargelegten Ansicht der Sachverhalt nur insoweit Bestandteil des Streitgegenstandes ist, als er für die Individualisierung erforderlich ist. Das bedeutet, daß für die Festlegung des Streitgegenstandes nicht eine bis ins einzelne gehende tatsächliche Begründung der Rechtsbehauptung verlangt werden

kann.

Lehrbuch, § 88 11 2. 22 Vgl. Schwab, Streitgegenstand, § 16111 2 und § 18. 2S Vgl. Lehrbuch, 5. Aufl., § 88 11 3 a. 24 Rosenberg, § 88 11 2; Schwab, aaO., § 1611. 25 Rosenberg, § 88112; Schwab, aaO., § 16111. 28 Rosenberg, § 88 11 3 a; Schwab, aaO., § 9 (S. 74 ff., insbes. S. 86 ff.). 21

I. Darstellung der vertretenen Ansichten

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auch über die Fragen der Rechtshängigkeit und der Klageänderung27 • Ebenso richtet sich der objektive Umfang der materiellen Rechtskraft nach dem Klageantrag, über den die gerichtliche Entscheidung ergeht28 • Das bedeute - so meinen Rosenberg und ;Schwab -, daß die Rechtskraft gegenüber allen konkurrierenden materiell rechtlichen Ansprüchen - im prozessualen Sinne lediglich als rechtliche Gesichtspunkte bedeutsam - wirke, auch wenn das Gericht nur über einen dieser Ansprüche entschieden und die anderen übersehen habe.

4. Die Lehre Böttichers In ähnlicher Weise wie Rosenberg und Schwab bestimmt Bötticher29 den Begriff des Streitgegenstandes. Bötticher untersucht zwar den Streitgegenstand des Eheprozesses, seine Ausführungen beschränken sich jedoch nicht auf diese Frage, sondern betreffen Probleme des Streitgegenstandes überhaupt30• Bötticher gelangt zu seinem Ergebnis auf eine besondere Weise. Er lehnt es ab, den Streitgegenstand "a priori" zu ermitteln. Dieser Begriff müsse vielmehr von der Rechtskraft her bestimmt werden, denn: "Wo keine Rechtskraft - da auch kein Streitgegenstand"Sl. Streitgegenstand im Eheprozeß sei, so meint Bötticher, die Scheidung oder Auflösung der Ehe32, die "Auflösbarkeit der Ehe in toto"33, oder genauer formuliert, "das Scheidungsbegehren nicht seinem Grunde, sondern seinem Ziele nach"34. Diese Definition, allgemein angewendet, führt nach Ansicht Böttichers dazu, den Streitgegenstand als Begehren eines Rechtsschutzziels - des Inhalts des angestrebten Urteils - anzusehen35• Da der Klageantrag den Inhalt dieses Urteils bestimme, stehe das Begehren des Klägers und nicht die von diesem aufgestellte Rechtsbehauptung im Vordergrund. Bei einer Mehrheit von Sachverhalten, aus denen derselbe Klageantrag abgeleitet wird, nimmt Bötticher mehrere Streitgegenstände an 36• Einen besonderen Streitgegenstandsbegriff hat Bötticher für den Eheprozeß entwickelt, auf dessen Darstellung wir hier jedoch verzichten können 37•

5. Die Lehre Habscheids Habscheid schließlich definiert den Streitgegenstand im Zivilprozeß als "die Rechtsbehauptung des Klägers, ihm sei in dem eingeschlagenen Ver27 Rosenberg, § 88 II 3 b; Schwab, aaO., § 10, 11 (S.104 ff., insbes. S. 107 ff. und 123 fi.). 28-Vgl. dazu und auch zum folgenden: Rosenberg, § 88 II 3 c; Schwab, aaO. § 12 ff. (insbes. § 14, S. 148 ff.). 29 Festgabe für Rosenberg, S.73 (86 ff.), und FamRZ 1957, 409 (412). 30 Vgl. insbes. Festgabe aaO .• S.86/87. 31 Festgabe aaO., S.95; ähnlich FamRZ 1957, 409 (411/412). 32 Festgabe, aaO., S. 84. 33 aaO., S. 92. 34 aaO., S. 85/86. 35 aaO., S. 86. 36 aaO., S. 94. 37 Vgl. aaO., S.92, und FamRZ 1957, 409 (412/413).

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§ 3 Der Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht

fahren die begehrte Rechtsfolge auf Grund eines bestimmten Lebenssachverhalts zuzusprechen"as. Er ist der Ansicht, daß der Begriff des Streitgegenstandes drei Elemente enthalte: die Verfahrensbehauptung, die Rechtsfolgenbehauptung und den Lebenssachverhalt39 • Die Verfahrensbehauptung sei darauf gerichtet, daß dem Kläger die begehrte Rechtsfolge in dem eingeschlagenen Verfahren zugesprochen werden könne4O • Durch die Rechtsfolgenbehauptung 41 mache der Kläger geltend, daß ihm eine bestimmte Rechtsfolge zuzusprechen sei. Diese Rechtsfolgenbehauptung könne eine allgemeine oder eine konkrete sein. Wenn dem Kläger nicht daran liege, die begehrte Rechtsfolge aus einem bestimmten materiellen Recht zugesprochen zu erhalten, stelle er lediglich eine allgemeine Rechtsbehauptung auf. Eine konkrete Rechtsbehauptung liege dann vor, wenn der Kläger zulässigerweise die Rechtsfolge aus einem bestimmten materiellen Recht begehre. Der Lebenssachverhalt schließlich begrenze die Rechtsbehauptungen des Klägers vom Tatsächlichen her42 • Lebenssachverhalt sei dabei nicht ein isoliertes historisches Ereignis, sondern ein lebensmäßig zusammenhängender Tatsachenkomplex43 • Habscheid kommt zu dem Ergebnis, daß sich die Frage nach der Einheit oder Mehrheit der Streitgegenstände an der Einheit oder Mehrheit der Rechtsbehauptungen oder Lebenssachverhalte entscheide". Die Identität der prozessualen Ansprüche sei sowohl bei der Mehrheit bzw. Verschiedenheit der Rechtsbehauptungen als auch bei der der Lebenssachverhalte zu verneinen.

II. Eigene Stellungnahme Zustimmung verdient allein die von Rosenberg und Schwab vertretene Ansicht, der sich auch der BGH - allerdings ohne die verschiedenen anderen im Schrifttum vertretenen Ansichten einer Würdigung zu unterziehen - angeschlossen hat l und die auch mit der von Bötticher vertretenen Streitgegenstands auffassung im wesentlichen übereinstimmt2 • Die Ansicht von Nikisch 8 begegnet deshalb Bedenken, weil er die Rechtsbehauptung .in den Vordergrund seiner Erörterungen stellt. as Streitgegenstand, § 15 (S. 221/222). § 15 aaO.

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40 41 42 43

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§ 11 II (S. 141 ff.). § 12 (S. 151 ff.). § 14 (5. 206 ff.). § 14 I (S.20B). § 14 III (S.218).

1 BGHZ 8, 47 (50); 9, 22 (27); NJW 1962, 1616. Dieser Ansicht haben sich auch Baumbach-Lauterbach, § 2, Anm.2, angeschlossen. 2 Auf die Beachtung der besonderen Bestimmung des Streitgegenstandes für den Eheprozeß durch Bötticher können wir hier verzichten. 3 Siehe oben I 1.

II. Eigene Stellungnahme

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Bötticher4 hat Nikisch zutreffend entgegengehalten, daß diese Anknüpfung des Streitgegenstandsbegriffes dazu führen würde, als Gegenstand des Rechtsstreites nicht den Klageantrag, sondern lediglich den Klagegrund anzusehen. Die Parteien streiten - wie Bötticher richtig feststellt - um den Inhalt des begehrten Urteils, wobei sie nur zur Begründung der gestellten Anträge Rechtsbehauptungen aufstellen oder bestreiten. Nikisch kann aber auch die Frage, ob in einem Einzelfall ein einheitlicher oder mehrere Streitgegenstände vorliegen, nicht befriedigend beantworten. Da der Kläger, der seine Klage auf mehrere materielle Ansprüche stützt, so viele Rechtsbehauptungen aufstellt, wie derartige Ansprüche in Betracht kommen5 , müßten bei konsequenter Befolgung der an der Rechtsbehauptung orientierten Streitgegenstandslehre auch ebenso viele Streitgegenstände vorliegen. Dieses für Klageänderung, Klagenhäufung, Rechtshängigkeit und materielle Rechtskraft in gleicher Weise unbrauchbare Ergebnis6 kann auch Nikisch nur dadurch verhindern, daß er seiner eigenen Definition untreu wird und bei der Frage nach der Identität des Streitgegenstandes auf das Begehren zurückkomme.

Auch die an das materielle Recht anknüpfende Streitgegenstandsauffassung von Lent8 führt zu Schwierigkeiten bei den Fällen materieller Anspruchskonkurrenz. Die gröbsten Unzuträglichkeiten, die auf der Feststellung beruhen, daß jedes geltend gemachte materielle Recht zu einem selbständigen Streitgegenstand führe, vermeidet Lent allerdings. Das geschieht durch die Annahme einer im Klageantrag enthaltenen allgemeinen Rechtsbehauptung, wenn der Kläger sich nicht auf einen bestimmten materiell rechtlichen Anspruch festgelegt hat. Dadurch aber, daß Lent dem Kläger gestattet, eine spezielle Rechtsbehauptung aufzustellen und dadurch den Streitgegenstand auf einen von mehreren möglichen materiellen Ansprüchen zu beschränken, läßt er über konkurrierende Ansprüche getrennte Klagen zu und öffnet damit der Möglichkeit widersprechender Entscheidungen Tür und Tor9 . Für die von Habscheid entwickelte Ansicht10 ist bereits bemerkenswert, daß nach der Definition11 der Streitgegenstand eine Rechtsbehauptung darstellt, während nach den dazu gegebenen ErläuterunFestgabe für Rosenberg, S.73 (86). So zutreffend Rosenberg, § 88 II 2. 6 Für einen auf Vertrag, Delikt und Gefährdungshaftung gestützten Anspruch könnten nach- oder nebeneinander drei Prozesse geführt werden. 7 Vgl. Lehrbuch, § 45 II. a Siehe oben I 2. 9 Ebenso: Schwab, Streitgegenstand, § 2 II 3 (S. 17). 10 Siehe oben I 5. 11 Vgl. Habscheid, § 15, S.221. 4

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5 Mllffelmann

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§ 3 Der Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht

gen12 der Kläger nicht das Bestehen eines materiellen Rechts, sondern vielmehr eine Rechtsfolge behauptet. Ernste Bedenken bestehen aber gegen die Einführung des in der Streitgegenstandslehre neuen Begriffes der "Verfahrensbehauptung". Die durch die Verfahrensbehauptung beantwortete Frage, ob das mit der Klage eingeschlagene Verfahren das richtige ist oder nicht, ist für die Fälle, für die der Streitgegenstandsbegriff Bedeutung hat - Klagenhäufung, Klageänderung, Rechtshängigkeit und Rechtskraft -, völlig belanglos1 !!. Aber auch die nicht gerechtfertigte Unterscheidung einer allgemeinen und einer konkreten Rechtsbehauptung gebietet eine Ablehnung der Auffassung Habscheids, zumal diese Unterscheidung wieder zu der bereits bei der Erörterung der Ansicht von Lent abgelehnten Bestimmung des Streitgegenstandes durch das materielle Recht führt. Es mag beim Vorliegen konkurrierender materieller Rechte möglich sein, daß der an der Verurteilung des Beklagten aus einem bestimmten materiellen Recht interessierte Kläger seinen Vortrag auf die dafür maßgebenden Tatbestandsmerkmale beschränkt. Er kann aber eine zweite Klage nicht auf eines der konkurrierenden Rechte stützen. Er kann daher nach Abweisung der etwa auf Vertrag gestützten Klage nicht eine neue erheben und die Verurteilung dabei aus unerlaubter Handlung begehren. Zutreffend hat bereits Schwab die Unrichtigkeit des von Habscheid befürworteten gespaltenen Streitgegenstandes nachgewiesen14 • Als richtig können wir nur eine Streitgegenstandsauffassung ansehen, die diesen prozessualen Begriff ausschließlich vom Prozeßrecht her bestimmt und sowohl für alle Klagearten (Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklagen) als auch für Klagenhäufung, Klageänderung, Rechtshängigkeit und materielle Rechtskraft einen einheitlichen Inhalt hat. Dieses Erfordernis erfüllt die von Rosenberg, Bötticher und Schwab vertretene Ansicht. Dadurch, daß man als Streitgegenstand "das Begehren der im Klageantrag bezeichneten Entscheidung t