Die Moral der Optimierung des Wohls: Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips 9783495997505, 3495479880, 9783495479889

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Die Moral der Optimierung des Wohls: Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips
 9783495997505, 3495479880, 9783495479889

Table of contents :
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Einleitung
Kap. I: Das Moralische als das Vorziehenswerte
I.1. Das instrumenteile Vernunftmodell
I.1.1. Buchanan und Gauthier
I.2. Konstitutive Vernunftmodelle
I.2.1. Platon
I.2.2. Nagel
I.3. Fazit
Kap. II: Die Systematisierung von Intuitionen
II.1. David Hume
II.2. John Rawls
II.3. Fazit
Kap. III: Der Begriff der Moral
III.1. Zwei Grundprohleme einer formalen Analyse
III.2. Die Charakteristika der moralischen Rede
III.3. Fazit
Kap. IV: Vom Begriff zum Prinzip
IV.1. R. M. Hare
IV.1.1. Die Form des Rollentausches
IV.1.2. Der Übergang zum Utilitarismus
IV.2. J. Habermas
IV.3. I. Kant
IV.3.1. Das Kriterium der Selbstaufhebung
IV.3.2. Glückseligkeit und Rollentausch
IV.3.3. Gesetzestauglichkeit und Selbstzwecklichkeit
IV.4. E. Tugendhat
IV.5. Das plausibelste Moralprinzip
IV.5.1. Prinzipien und Zusätze
IV.5.2. Die Formen der Unparteilichkeit
Kap. V: Vom Prinzip zur Anwendung
V.1. Was heißt Wohlbefinden?
V.2. Grenzen der Optimierung
V.3. Nicht-kompensierbare Beschädigungen
V.4. Nicht-berücksichtigungsfähige Interessen
V.4.1. Moralisch signifikante Interessen
V.4.2. Expensive Tastes
V.5. Fazit
Kap. VI: Positive Pflichten
VI.1. Die Tiefe und Weite positiver Pflichten
VI.1.1. Das Budget für medizinische Leistungen
VI.1.2. Das Eigentum an Organen
VI.1.3. Supranationale Gerechtigkeit
VI.1.4. Das Gut der Arbeit
VI.2. Supererogatorische Pflichten
VI.2.1. Der Begriff des Supererogatorischen
VI.2.2. Supererogatorische Pflichten in der Moral der Optimierung
VI.3. Fazit
Kap. VII: Gleichheit und Optimierung in Produktion und Austausch
VII.l. Ausgleichsmodelle
VII.2. Maximierungsmodelle
VII.2.1. Das Belohnungs-Modell
VII.2.2. Das Markt-Modell
VII.3. Fazit
Kap. VIII: Gerechtigkeit zwischen Generationen
VIII.1. Die Probleme des Utilitarismus
VIII.2. Optimierung über Generationen
VIII.3. Die Pflicht zum Fortschritt
VIII.4. Konkrete Pflichten gegenüber Zukünftigen
Literaturverzeichnis
Register

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Walter Pfannkuche

Die Moral der Optimierung des Wohls Begrndung und Anwendung eines modernen Moralprinzips

ALBE

BAND 68 IE

https://doi.org/10.5771/9783495997505

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A

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997505 .

Zu diesem Buch: Welches sind die Fähigkeiten und die Verfahren, mit denen wir erken­ nen, was moralisch richtig ist? Ausgehend von einem breiten Begriff des Moralischen versucht die Arbeit eine Logik des moralischen Argumentierens freizulegen. Dieser Logik entspricht, so die in Auseinander­ setzung mit Kant, Hare, Habermas und Tugendhat entwickelte These, weder ein utilitaristisches noch ein egalitäres Moralprinzip, sondern nur eines, das auf die Optimierung des Wohls der am schlechtesten gestell­ ten Person zielt. Das Prinzip der Optimierung führt zu einer Moral mit starken positiven Pflichten und erzwingt eine Neubestimmung des Verpflichtungscharakters der supererogatorischen Pflichten. ln einem Anwendungsteil werden die Implikationen des Optimie­ rungsprinzips für die Verteilung von Einkommen und Arbeit, für den Umfang medizinischer Versorgung und für die Probleme supranationa­ ler und transgenerationaler Gerechtigkeit analysiert. About this book: To think about moral motivation presupposes to know what is morally demanded. This book tries to first establish a broad concept of morah'ty and to prove that a specific type of moral reasoning is implied by this concept. The further thesis is that the moral principle to aim at optimizing the well-being of the worst-off is more naturally linked to this logic than utilitarian or egalitarian principles are. The principle of optimization is then applied to the distribution of income, medical treat­ ment and labor and finally to justice between nations and generations. Der Autor: Dr. phil. Walter Pfannkuche lehrt zur Zeit an der Technischen Universi­ tät Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Moralphilosophie, Antike und Politische Philosophie. Veröffentlichung beiAlber: Platons Ethik als Theorie des guten Lebens (1988).

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Walter Pfannkuche Die Moral der Optimierung des Wohls

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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 68

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Walter Ffannkuche

Die Moral der Optimierung des Wohls Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pfannkuche, Walter: die Moral der Optimierung des Wohls : Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips / Walter Pfannkuche. Freiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 68) Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Habil.-Schr., 1999 ISBN 3-495-47988-0 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47988-0

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Vorwort

Diese Arbeit ist in den Jahren 1991-98 im Rahmen einer Assisten­ tenstelle an der Technischen Universität Berlin sowie während zwei­ er längerer Forschungsaufenthalte an der Georgetown University in Washington D.C. entstanden. Mein Dank gilt deshalb zuerst den Pro­ fessoren des Berliner Instituts, Günter Abel und Hans Poser, die dort ein für den wissenschaftlichen Nachwuchs gedeihliches Klima von Toleranz und Ungestörtheit gestiftet haben. Mein Dank gilt sodann der Alexander von Humboldt Stiftung, die meine Aufenthalte in Wa­ shington ermöglicht und mit der ihr eigenen Zuvorkommenheit und Flexibilität begleitet hat. Zu Dank verpflichtet bin ich schließlich Alfonso Gomez-Lobo, der meine Arbeit in Washington mit Anteilnah­ me und Kritik gefördert hat, sowie last, but really not least, meinen Mitstreitern im Berliner >Habil-Kreis< - Beate Rössler, Stefan Gosepath, Marcus Otto, Holmer Steinfath und Bernhard Thöle. Ohne die über die Jahre hinweg in dieser Gruppe geführten Diskussionen wäre die Untersuchung schwerlich so weit gediehen.

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Inhalt

Vorwort

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Einleitung.....................................................................................

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Kap. I: Das Moralische als das Vorziehenswerte

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Das instrumenteile Vernunftmodell............................... 1.1.1. Buchanan und Gauthier...................................... Konstitutive Vernunftmodelle......................................... 1.2.1. Platon.................................................................. 1.2.2. Nagel .................................................................. Fazit ..................................................................................

27 28 36 36 50 65

Kap. II: Die Systematisierung von Intuitionen......................................

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11.1. David Hume..................................................................... 11.2. John Rawls........................................................................ 11.3. Fazit ..................................................................................

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Kap. III: Der Begriff der Moral

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111.1. Zwei Grundprohleme einer formalen Analyse ............. 111.2. Die Charakteristika der moralischen Rede...................... 111.3. Fazit ..................................................................................

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1.1. 1.2.

1.3.

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Inhalt

Kap. IV; Vom Begriff zum Prinzip............................................................

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IV.l. R. M. Hare........................................................................ IV.1.1. Die Form des Rollentausches............................ IV.1.2. Der Übergang zum Utilitarismus...................... IV.2. J. Habermas ..................................................................... IV.3. I. Kant .............................................................................. IV.3.1. Das Kriterium der Selbstaufhebung ................ IV.3.2. Glückseligkeit und Rollentausch ...................... IV.3.3. Gesetzestauglichkeit und Selbstzwecklichkeit . IV.4. E. Tugendhat..................................................................... IV. 5. Das plausibelste Moralprinzip...................................... IV.5.1. Prinzipien und Zusätze...................................... IV.5.2. Die Formender Unparteilichkeit.......................

118 120 124 132 140 142 151 162 174 186 186 190

Kap. V; Vom Prinzip zur Anwendung.....................................................

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V. 1. Was heißt Wohlbefinden?........................................... V.2. Grenzen der Optimierung............................................... V.3. Nicht-kompensierbare Beschädigungen......................... V.4. Nicht-berücksichtigungsfähige Interessen...................... V.4.1. Moralisch signifikante Interessen...................... V.4.2. Expensive Tastes ............................................... V. 5. Fazit ...............................................................................

203 207 212 222 222 227 230

Kap. VI; Positive Pflichten........................................................................

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VI. 1. Die Tiefe und Weite positiver Pflichten...................... VI.1.1. Das Budget für medizinische Leistungen .... VI.1.2. Das Eigentum an Organen ............................... VI.1.3. Supranationale Gerechtigkeit............................ VI.1.4. Das Gut der Arbeit ............................................ VI.2. Supererogatorische Pflichten ......................................... VI.2.1. Der Begriff des Supererogatorischen................ VI.2.2. Supererogatorische Pflichten in der Moral der Optimierung ..................................................... VI.3. Fazit .................................................................................. 10

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Inhalt

Kap. VM: Gleichheit und Optimierung in Produktion und Austausch . .

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VII.l. Ausgleichsmodelle......................................................... VII.2. Maximierungsmodelle................................................... VII.2.1. Das Belohnungs-Modell ............................... VII.2.2. Das Markt-Modell ......................................... VII.3. Fazit ...............................................................................

303 309 310 318 322

Kap. VIII: Gerechtigkeit zwischen Generationen

...................................

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Die Probleme des Utilitarismus................................... Optimierung über Generationen ............................... Die Pflicht zum Fortschritt ......................................... Konkrete Pflichten gegenüber Zukünftigen................

325 333 342 345

VIII.l. VIII.2. VIII.3. VIII.4.

Literaturverzeichnis

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Register........................................................................................

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Einleitung

Von der Moralphilosophie besonders scheint das zu gelten, was viele von der Philosophie im Ganzen vermuten - daß es in ihr keinen Fort­ schritt geschweige denn eine Lösung der von ihr behandelten Fragen gibt. Oder allenfalls einen negativen Fortschritt: Das Problem­ bewußtsein werde an allen Ecken und Enden ausdifferenziert, die Probleme zusehends mikrologisiert, aber einem Konsens über die Wahrheit oder wenigstens die relative Vorzüglichkeit einer der kon­ kurrierenden Theorien sei man damit noch nicht näher gekommen. So scheint es zu sein. Wer sich etwa als Unentschiedener fragt, was moralisch richtig und was falsch ist, und dann auf den Gedanken ver­ fällt, in der Philosophie nach Rat zu suchen, sieht sich mit etlichen Moraltheorien konfrontiert, die alle eine Antwort zu geben ver­ sprechen. Wie soll sich der Suchende zwischen den Vorschlägen des Eudaimonisten, des Deontologen, des Utilitaristen und des Kontraktualisten - um nur die wichtigsten zu nennen - entscheiden? Über welche Werkzeuge verfügt er, um die wahre Theorie herauszufinden oder selbst zu entwickeln? Ein erster Schritt zu einer Entscheidung des Streits besteht dar­ in, sich über die möglichen Ursachen moralischer Meinungsverschie­ denheiten klarzuwerden: Angenommen Peter behauptet, es sei mo­ ralisch richtig, wenn alle Mitglieder einer Volkswirtschaft in etwa dasselbe Einkommen für ihre Arbeit erhielten. Maria dagegen meint, daß auch große Einkommensunterschiede gerechtfertigt sein kön­ nen. Für diese entgegengesetzten Vorstellungen gibt es drei mögliche Erklärungen: Eine erste Ursache für diese Meinungsverschiedenheit kann dar­ in bestehen, daß Maria und Peter verschiedenen Moraltheorien an­ hängen. Peter könnte ein Anhänger des Utilitarismus sein, und mei­ nen, daß bei annähernd gleicher Verteilung der größtmögliche Gesamtnutzen erreicht wird. Maria könnte die Orientierung am Ge­ samtnutzen für völlig unerheblich halten, und meinen, daß jedes Ei­ ^

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Einleitung

gentum gerechtfertigt ist, solange es aus freiwilligen Kontrakten, sei­ en das Austauschprozesse oder Übertragungen, hervorgegangen ist. Doch der moralische Konflikt muß nicht auf einem fundamen­ talen moralischen Dissens beruhen. Maria und Peter könnten beide Anhänger des Utilitarismus sein und nur in anderen Einschätzungen voneinander abweichen. Maria könnte bestreiten, daß der größtmögliche Gesamtnutzen bei annähernder Gleichverteilung er­ reicht wird: Bei Ungleichheit seien die dann möglichen Betätigungen und Freuden der Reichen so eminent und wertvoll, daß sie durch die Zuwächse der Armen bei stärkerer Gleichverteilung nicht aufgewo­ gen werden könnten. Peter dagegen würde die Freuden der Armen und die Verluste der Reichen anders gewichten. Die Uneinigkeit zwi­ schen Peter und Maria beruht hier auf verschiedenen Theorien darüber, was ein Leben gut macht, auf verschiedenen Theorien des Guten, das maximiert werden soll. Und schließlich könnten die beiden vom utilitaristischen Moral­ prinzip überzeugt und sich sogar hinsichtlich des Maßstabs für das Gesamtglück einig sein, nicht aber hinsichtlich einiger empirischer Annahmen. Nur bei größerer Ungleichheit, könnte Maria sagen, werden die Menschen mehr Initiative entwickeln und so insgesamt einen größeren Reichtum an Gütern und damit mehr Glück pro­ duzieren. Peter dagegen könnte die unterstellte Kausalverbindung nicht für zutreffend halten und behaupten, hier werde die Psycho­ logie eines historisch konstituierten Menschentyps zur anthropolo­ gischen Wahrheit überhöht. Stattdessen sei es wünschenswert und auch möglich, einen anders motivierten Menschentypus heranzubil­ den. Hier würde der Streit um die empirische Wahrheit der konkur­ rierenden Anthropologien gehen. In vielen konkreten Moralurteilen wird man diese drei Kom­ ponenten - ein Moralprinzip, eine Theorie des Guten und empirische Annahmen - freilegen können. Deshalb ist es bei moralischen Mei­ nungsverschiedenheiten zuerst immer wichtig zu lokalisieren, in welcher oder welchen dieser Komponenten der Dissens besteht. Falls er im Bereich der empirischen Annahmen liegt, wird die Philosophie wenig zur Lösung des Problems beitragen können. Dies ist schon eher bei den Theorien des Guten der Fall. Auch wenn Psy­ chologie und Anthropologie hier eine wichtige Rolle spielen, bei der begrifflichen Systematisierung von deren Fakten und bei der Bestim­ mung von deren argumentativer Kraft kann die Philosophie gute Dienste leisten. Die wichtigste Frage ist hier sicher die nach der 14

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Einleitung

Möglichkeit der Objektivität von Werten oder Gütern. Werden Din­ ge, Zustände usw. dadurch zu einem Gut, daß sie gewünscht werden, oder können Dinge und Zustände zuerst als gut und wünschenswert erkannt werden und werden erst dann und deshalb faktisch gewünscht? Oder ist beides möglich? Und welches sind in diesem Fall die Geltungsbereiche für jede Implikationsrichtung? Bei einem Dissens im ersten Bereich schließlich, beim Aufein­ anderprall verschiedener moralischer Prinzipien also, scheint einzig die Philosophie zuständig zu sein. Diese Zuständigkeit ist gleichsam analytisch verbürgt. Wenn jemand in privaten Kontexten oder auch im Rahmen irgendeiner Wissenschaft, darüber nachzudenken be­ ginnt, ob und wie eine rationale Entscheidung zwischen verschiede­ nen Moralprinzipien möglich ist, dann betritt er damit das Gebiet jener Wissenschaft, für die Aristoteles den Namen >sophia< reserviert hat: Das meinte eine Wissenschaft von den ersten Ursachen und Prinzipen, oder - etwas weniger ontologisierend ausgedrückt - eine Wissenschaft, die sich um die Klärung der grundlegenden Begriffe unseres Welt- und Selbstverständnisses bemüht. Und zweifellos gehören moralische Fragen zu den grundlegenden Komponenten un­ seres praktischen Selbstverständnisses. Aber wie kann die Philosophie zur Begründung einer Entschei­ dung zwischen verschiedenen Moralprinzipien beitragen? Welche Begründung kann es insbesondere noch geben, wenn es um eine Ent­ scheidung zwischen den letzten und allgemeinsten Prinzipien ver­ schiedener Moralen geht? Soll man seinen Nächsten lieben, wie sich selbst, oder nach Regeln handeln, die man als allgemeine Gesetze würde wollen können, oder soll man alles tun, um den Gesamtnutzen zu mehren? Gibt es Gründe, die eine Alternative der anderen vor­ zuziehen? Oder muß man sich überzeugen, daß es eine wahre Theo­ rie gar nicht gibt und aufhören, moralische Urteile zu fällen? Oder soll man, wenn das schwer fällt, sich einfach der Schule anschließen, die am besten zum eigenen Charakter paßt? Hier wird ein zweiter Schritt notwendig, der wiederum in einer Klärung der Ausgangssituation besteht. Man muß sich darüber klar werden, wonach man hier eigentlich fragt, nach was für Gründen man sucht. Das philosophische Verständnis der Begründungsfrage ist zuerst durch eine besondere Radikalität gekennzeichnet. So könnte man einem Christen gegenüber die Verurteilung von Ehe­ bruch durch Verweis auf dessen Glaubensbekenntnis begründen. Aber von einer philosophischen Begründung erwartet man mehr. ^

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Einleitung

Die Begründung soll nicht an die spezifischen Voraussetzungen einer speziellen Gruppe anknüpfen und damit von diesen Bedingungen ab­ hängig bleiben, sondern sie soll sich an alle Menschen wenden und für alle plausibel sein können. Ja nicht einmal nur an alle Menschen. Da es in der Begründung um die Begründung von Handlungen geht, sind Adressat der Begründung alle Wesen, die handeln können und die Fähigkeit haben, nach Begründungen zu fragen und solche ver­ stehen zu können. Wenn man einmal annimmt, daß das Haben von Vernunft eine notwendige und hinreichende Bedingung für solches Fragenstellen-Können ist, dann sind die Adressaten einer philosophi­ schen moralischen Begründung alle vernunftbegabten Lebewesen. Innerhalb dieses Horizontes gibt es jedoch zwei sehr verschiede­ ne Möglichkeiten, die Begründungsfrage zu verstehen: • Mit der Frage nach einer Begründung für eine moralische Über­ zeugung und Forderung kann man nach Gründen fragen, die zei­ gen sollen, daß jeder einen schwachen oder sogar einen überragen­ den Grund hat, so zu handeln. • Man kann aber auch meinen, daß es dabei nicht um motivierende Gründe geht, sondern um die Angabe von Gründen, die unabhän­ gig von Motivationen die Richtigkeit einer moralischen These be­ legen sollen. Die Gründe für den Nachweis der Richtigkeit sind lediglich rechtfer­ tigende Gründe. In diesem Fall bleibt die moralische Motivation et­ was der moralischen Überzeugung Externes. Im ersten Fall dagegen ist das Überzeugtsein mit der Motivation untrennbar verbunden. Das moralisch Richtige ergibt sich hier als ein Teil dessen, was zu tun jeder einen Grund hat. Die Begründungsmodelle scheinen dialektisch aufeinander zu verweisen: Im Rahmen des ersten Begründungskon­ zepts genügt es nicht zu zeigen, daß jeder einen Grund hat, so und so zu handeln. Denn man meint ja, daß dieses So-und-so-Handeln auch das ist, was den moralischen Forderungen genügt. Und dazu muß man bereits einen Begriff des moralisch Richtigen haben. Aber wie soll man umgekehrt etwas als moralisch richtg erweisen, wenn nicht dadurch, daß man zeigt, daß es für jeden gute Gründe gibt, sich ge­ rade so zu verhalten? Meine These ist, daß diese Dialektik nicht be­ steht. Genauer, daß es möglich ist, einen Disput über die Richtigkeit einer moralischen These zu führen, ohne dabei die Frage zu berüh­ ren, ob es für einen oder jeden der Disputanten gute Gründe gibt, so zu handeln. Das bedeutet auch, daß es möglich ist, eine moralische

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Einleitung

Überzeugung zu haben, und gleichwohl zu meinen, daß man keinen und schon gar keinen überragenden Grund hat, so zu handeln. Um diese These zu stützen, werde ich mich zuerst kritisch mit Theorien auseinandersetzen, die das moralische Handeln als die vernünftige Reaktion auf die menschliche Situation zu konzipieren versuchen (Kap. I). Der weiteste Bezugsrahmen aller praktischen Fragen ist die Frage nach dem guten Leben. Wenn es für jeden einen guten Grund geben soll, moralisch zu handeln, dann müßte man zei­ gen können, daß moralisches Handeln oder eine Disposition zu sol­ chem Handeln mindestens ein Element, vielleicht auch eine notwen­ dige Bedingung für ein gutes Leben oder sogar mit diesem identisch ist. Die bei diesen Ableitungen verwendeten Vernunftkonzeptionen unterscheiden sich allerdings stark voneinander. Die schwächste Konzeption ist die der instrumentellen Ver­ nunft. Das Moralische soll sich demnach als der befriedigungsopti­ mierende Umgang mit den immer schon vorhandenen, außermora­ lischen Interessen ergeben. Die Moral ergibt sich auf der Basis solcher Interessen durch den Abschluß eines Vertrages. Der Ab­ schluß eines Vertrages ist vernünftig, weil er zur Verminderung von Bedrohungen und Schädigungen führt. Wenn eine solche Theorie dem Anspruch gerecht werden will, daß sich die Moral als eine vernünftige Reaktion auf die reale Situation des Menschen ergibt, darf sie natürlich nicht auf irreale Annahmen zurückgreifen. Ein idealer Kontraktualismus Rawls'scher Prägung ist für dieses Be­ gründungsprogramm deshalb nicht geeignet. Gerade darin, daß sie solche Idealisierungen vermeiden, besteht die Stärke der Vertrags­ theorien von Buchanan und Gauthier. Doch dabei werden zugleich die Schwächen solcher minimalistischen Theorien erkennbar: Die unter realen Bedingungen vernünftigen Verträge können inhaltlich sehr verschieden sein, sie führen nicht zu einer bestimmten Moral. Zudem können die Theorien gerade das nicht zeigen, was sie eigent­ lich zeigen wollten - daß es nicht nur vernünftig ist, solche Verträge zu schließen, sondern daß es auch vernünftig ist, moralisch zu han­ deln, d. h. sich an die Verträge auch zu halten. Das Scheitern dieser Theorien läßt es angeraten erscheinen, sich Theorien zuzuwenden, die mit einem stärkeren Vernunftbegriff ar­ beiten. Die Schwächen der instrumentellen Theorie könnten über­ wunden werden, wenn man zeigen könnte, daß die Vernunft selbst Ziele aufstellen kann, die den moralischen Erwartungen näher kom­ men. Der prototypische Vertreter eines solchen Vernunftmodells ist ^

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Einleitung

natürlich Kant. Doch dessen Theorie ist für das jetzige Beweisvorhahen nicht geeignet, weil sie irreduzibel dualistisch ist. Die Ver­ nunft bringt nach Kant zwar das Sittengesetz hervor, aber das mora­ lische und das gute Lehen stehen sich antagonistisch gegenüber. Kant verfügt nicht über einen plausiblen Begriff des Guten, demzufolge es besser wäre, moralisch zu sein als unter Übertretung moralischer Verbote das eigene Glück zu mehren. Diesen Mangel beanspruchen die eudaimistischen Theorien von Platon und Aristoteles zu über­ winden. Beide Denker entwickeln das System der Tugenden als Teil der Frage nach dem guten Leben. Die Herausbildung einer an den Tugenden orientierten seelischen Ordnung wird als Bedingung oder gar Garant eines guten Lebens angesehen. Doch beide Ansätze scheitern an einem gemeinsamen Problem: In den von ihnen favorisierten Seelenverfassungen hat die Vernunft zwar die bestimmende Rolle. Aber sie zeigen nicht, warum die Herr­ schaft der Vernunft ausgerechnet zu einem Verhalten führen muß, das sich an den gewöhnlichen moralischen Standards orientiert. Für Platon etwa steht der Begriff der psychischen Harmonie im Zentrum. Diese Harmonie ist ein von der Vernunft konstituiertes Ziel. Er de­ finiert die gerechten Handlungen als solche, die geeignet sind, die seelische Harmonie herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Aber dann muß man entweder bereit sein, alle in diesem Sinn harmonie­ stiftenden Handlungen als gerecht anzusehen, auch wenn dadurch andere empfindlich geschädigt werden. Oder man muß zeigen können, daß die seelische Harmonie nur zu erreichen ist, wenn man solche Schädigungen unterläßt. Der erste Ausweg ist nicht begehbar. Wir würden nicht aufhören, ein ausbeuterisches Verhalten ungerecht zu nennen, auch wenn uns der Ausbeuter plausibel machen kann, daß dies seiner Seelenharmonie zuträglich ist. Für die Verteidigung des zweiten Auswegs reichen aber die von Platon entwickelten Argu­ mente nicht aus. Seelische Harmonie ist in verschiedenen Formen möglich. Sie erfordert nicht notwendig ein rücksichtvolles Verhalten gegenüber allen anderen. Diese Schwierigkeit, eine Brücke zwischen den eigenen Befind­ lichkeiten und dem Wohl der anderen zu schlagen, wird durch den Ansatz Thomas Nagels von vornherein vermieden. Ihm zufolge verfügen wir als rationale Wesen über die Fähigkeit, jenseits unserer individuellen Besonderheit einen unpersönlichen Standpunkt ein­ zunehmen und von diesem aus Werturteile abzugeben. Da diese Ur­ teile per definitionem nicht mehr von subjektiven Neigungen abhän­ 18

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Einleitung

gen, sind sie objektiv und realisieren die Erkenntnis von objektiven Werten. Diese objektiven Werte sollen schließlich die zentralen Ele­ mente der Moraltheorie bilden. Das wichtigste der objektiven Urteile ist für Nagel, daß Schmerzen eine schlechte Sache sind. Daraus fol­ gert er, daß es für jeden einen Grund gibt, sich für die Verminderung von Schmerzen einzusetzen, wo immer diese auch auftreten mögen. Der offenkundig schwierige Übergang in dieser Argumentation ist der von der Beurteilung des Schmerzes als eine schlechte Sache zu der These, daß dies für jeden einen Grund abgibt, alle Schmerzen in der Welt beseitigen zu wollen. Ich werde zu zeigen versuchen, daß es zur Beurteilung des Schmerzes als schlecht gar keines neigungs­ unabhängigen Bewertungsvermögens bedarf, daß es sich bei diesem Urteil vielmehr um eine analytische Wahrheit handelt, und daß die Artikulation dieses Urteils deshalb keinen Grund generiert, die Schmerzen anderer vermindern zu wollen. Die Kritik dieser zu starken Ideen von praktischer Vernunft soll die Bereitschaft erzeugen, sich auf das zweite Verständnis von Be­ gründung einzulassen. Bei dieser bleibt das Problem der moralischen Motivation ausgeklammert. Hier geht es um die Richtigkeit der mo­ ralischen Urteile. Eine solche motivationsunabhängige Richtigkeit setzt voraus, daß es innerhalb des moralischen Diskurses so etwas wie eine Logik der moralischen Argumentation gibt, die ausreicht, um Kriterien für moralische Richtigkeit zu liefern. Wenn sich solche Kriterien finden lassen, muß in in einem zweiten Schritt geklärt wer­ den, ob diese Kriterien ausreichen, um eine hinreichend konkrete Moral zu empfehlen. Eine Art von Richtigkeit ist innerhalb des Kos­ mos der Moral auf zwei Weisen herstellbar: • Man kann zuerst von den stets schon vorhandenen, inhaltlichen moralischen Überzeugungen und den sie begleitenden oder auch fundierenden Gefühlen ausgehen, und versuchen in diesem Ge­ flecht grundlegende Prinzipien freizulegen und Widersprüche zwischen den Prinzipien und den einzelnen Urteilen oder Intuitio­ nen zu beseitigen (Kap. II). Der erste Schritt in diesem Verfahren, die Freilegung von Prinzipien, findet sich prototypisch bei Hume, der zweite Schritt, die Erzeugung eines widerspruchsfreien Gan­ zen, ist in seiner Bedeutung von Rawls hervorgehoben worden. Doch beide Ansätze sind mit einem gravierenden Problem behaf­ tet: Das von Hume als Prinzip aller moralischen Urteile identifi­ zierte Gefühl der >humanity< ist zu unbestimmt. Es bietet z. B. kei­ ne Kriterien für die Entscheidung der Frage, ob das Wohl der ^

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Einleitung

Menschheit am besten dadurch gefördert wird, daß es allen gleich gut geht oder dadurch, daß man die Gesamtsumme des Wohls so groß wie möglich macht. Dasselbe gilt für Rawls Theorie des >reflective equilibriumMüssens< dabei mindestens, die Existenz einer schwachen inneren Sanktion sowie die Überzeugung, daß es diese Sanktion bei allen geben soll. Hierdurch sind Moralregeln von Ratschlägen unterschieden. Bei Ratschlägen meint man nicht, daß eine negative Konsequenz eintreten soll, sondern ist der Überzeu­ 20

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Einleitung

gung, daß diese für den Beratenen einfach eintreten wird, wenn er dem Ratschlag nicht folgt. Mit der Aufstellung eines Begriffs der Moral ist allerdings unmittel­ bar nichts für die Auszeichnung einer bestimmten Moraltheorie ge­ wonnen, denn dieser Begriff muß ja unspezifisch genug sein, um die verschiedenen Moralen einschließen zu können. Gleichwohl kann ein solcher Begriff für die Generierung einer möglichst plausiblen Moral sehr hilfreich sein. Denn nun kann man verschiedene Theo­ rien daraufhin analysieren, welche Elemente sie über jene Elemente, kraft derer sie moralische sind, hinaus aufnehmen, um sich in ihrer Spezifizität zu konstituieren (Kap. IV). Der Diskurs über die Vorzü­ glichkeit einer Moraltheorie muß dann als Diskurs über die Vorziehbarkeit solcher Zusatzelemente geführt werden. Zur Ermittlung die­ ser vorziehenswerten Elemente untersuche ich vier Theorien, die einerseits das Spektrum der wichtigen Alternativen repräsentieren und die andererseits bereits mit einem Begriff der Moral arbeiten, und deshalb für eine solche Analyse gut zugänglich sind. Das sind die Ansätze von Hare, Habermas, Tugendhat und Kant. Diese Theo­ rien werden daraufhin untersucht, ob es ihnen ausgehend von Begriff der Moral gelingt, so etwas wie eine notwendige Logik des mora­ lischen Denkens zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, daß diese Theo­ rien trotz aller Verschiedenheit ein gemeinsames Element enthalten: Eine notwendige Bedingung moralischen Denkens besteht darin, einen Rollentausch vorzunehmen, bei dem man sich in die Position anderer so hineinversetzt, daß man deren Präferenzen gleich wichtig nimmt. Doch die untersuchten Theorien unterscheiden sich radikal dar­ in, wie sie mit den mannigfaltigen und einander widerstreitenden Präferenzen umgehen. Da nicht alle Präferenzen vollständig befrie­ digt werden können, ergeben sich für die Lösung der daraus entste­ henden Konflikte drei Möglichkeiten: Eine Moral kann darauf zielen, - die Gesamtsumme der Interessenbefriedigung so groß wie möglich zu machen, oder aber - alle Interessen gleich weitgehend zu befriedigen, oder - die größte vorkommende Interessenfrustration so gering wie möglich zu machen. Meine These ist, daß die dritte Möglichkeit die plausibelste Umset­ zung des Impulses, jeden gleich wichtig zu nehmen, darstellt. Sie ist deshalb vorzuziehen, weil sie am besten der unhintergehbaren Selbstzwecklichkeit der Individuen, deren Bezogenheit auf je ihre ^

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Einleitung

Glückseligkeit, Rechnung trägt. Die Vorzüglichkeit dieser Lösung hängt deshalb - anders als hei der Rawls'schen Konstruktion einer Wahl unter Unwissenheit - nicht von einer speziellen Einstellung zum Eingehen von Risiken ah. Die Moral zielt demzufolge auf die Minimierung der Instrumentalisierung. Sie verlangt, so oder nach solchen Regeln zu handeln, daß die größte dahei auftretende Frustra­ tion so gering wie möglich ist. Positiv gewendet entspricht dem das Prinzip der Optimierung des Wohls. Es verlangt die Optimierung des Wohls des schlechtestgestellten Individuums. Auch dieses Prinzip ist noch unbestimmt und mit zwei Proble­ men behaftet: Wie sollen die möglichen Interessenfrustrationen ver­ glichen werden? Und verdienen überhaupt alle Interessen eine Berücksichtigung? Zur Lösung des ersten Problems braucht man eine Theorie des Wohls oder des Wohlbefindens (Kap. V). Meine These ist, daß die Moral sich hier weder an objektiven Werten noch an sub­ jektiven Interessen orientieren kann, sondern auf die Optimierung der subjektiven Freude-Zustände der Individuen zielen muß. Aber Freude kann aus einer unabsehbaren Vielzahl von Aktivitäten und Gütern entstehen. Eine Moral, die versuchen wollte, sich verglei­ chend auf die Vielfalt dieser Quellen einzulassen, wäre zum Schei­ tern verurteilt. Es läßt sich jedoch zeigen, daß die Aufgabe der Moral durch drei Gesichtspunkte erleichtert werden kann: - Es gibt einen Bereich ihres Wohls, für den die Individuen die Ver­ antwortung allein tragen. In diesem Bereich braucht der mora­ lische Impuls nicht zur Anwendung zu kommen. - Es gibt einen Bereich nicht-kompensierbarer Beschädigungen. Das sind solche Beeinträchtigungen, die nicht durch eine verstärkte Ausstattung mit anderen Güten ausgeglichen werden können etwa der Verlust des Lebens oder einer wichtigen Funktionsfähig­ keit. Die diesen Beschädigungen korrespondierenden Güter sind basal. Wenn das Wohl des Schlechtestgestellten zu optimieren ist, dann muß es ein vorrangiges Ziel der Moral sein, solche Beschädi­ gungen des Wohls ganz zu vermeiden. Daraus ergeben sich für die Individuen zwei Arten von Pflichten - die Pflicht, einander solche Beschädigungen nicht zuzufügen und die Pflicht, zur Beseitigung bereits bestehender Schäden dieser Art beizutragen. - Es gibt bestimmte Arten von Interessen, die in der moralischen Abwägung nicht berücksichtigt werden können, weil sie dem Op­ timierungsprinzip entweder direkt oder indirekt widersprechen.

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Dazu gehören abweichende moralische Ideale, amoralische Inter­ essen und solche, die als >expensive tastes< zu beschreiben sind. Selbst unter Einbeziehung dieser Erleichterungen sind die dann ge­ nerierbaren moralischen Regeln noch nicht hinreichend präzise. Das gilt insbesondere für die positiven Pflichten. Wie weit geht die Pflicht, zur Vermeidung oder Beseitigung solcher elementarer Be­ schädigungen beizutragen? Das Prinzip der Optimierung des Wohls gibt darauf zunächst eine ebenso einfache wie radikale Antwort: Sol­ che Hilfeleistungen sind solange moralisch geboten, wie dadurch der Helfende nicht in eine schlechtere Lage gerät als der Empfänger der Hilfe. Diese prima facie überwältigende Pflicht wird in den verschie­ denen Handlungsbereichen jedoch durch weitere Gesichtspunkte be­ schränkt. Die Grenzen dieser Pflicht versuche ich in vier Anwen­ dungsgebieten genauer zu bestimmen (Kap. VI): - Welche Mittel muß eine Gesellschaft für die Bereitstellung medi­ zinischer Hilfeleistungen aufwenden? - Gibt es ein Recht der Individuen auf Eigentum an ihren Organen, auch wenn durch die Verpflanzung eines Organs das Leben eines anderen Individuums gerettet werden könnte? - Ist die Teilhabe an der Arbeitswelt ein so wichtiges Gut, daß es durch einen Rechtsanspruch geschützt werden muß? - Welche Rolle spielen nationale Grenzen bei der Begrenzung von positiven Pflichten? Das Resultat dieser Analysen ist, daß die Moral der Optimierung zu weitgehenden positiven Pflichten führt. Das macht es nötig, sich mit einer Form der Verpflichtung auseinanderzusetzen, die geeignet scheint, die Last der Pflichten zu verkleinern - mit den sog. supererogatorischen Pflichten. Diese Pflichten sind dadurch definiert, daß es den Individuen in gewissem Sinn freigestellt ist, ihnen nach­ zukommen. Eine Analyse dieses Freigestelltseins zeigt aber, daß sich die Freistellung bei supererogatorischen Handlungen nur auf deren Ausführung und nicht auf das Verpflichtetsein selbst beziehen kann. Die Nichterfüllung einer supererogatorischen Pflicht ist nicht mora­ lisch neutral, sondern ein Zeichen moralischer Unvollkommenheit. Darauf aufbauend untersuche ich, ob und aus welchen Gründen es supererogatorische Pflichten in der Moral der Optimierung geben kann. Auch jenseits der basalen Güter, kommt der Impuls der Opti­ mierungsmoral nicht schlagartig zum Erliegen. Auch wenn gar nie­ mand mehr unter nicht-kompensierbaren Schäden zu leiden hätte, ^

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Einleitung

bleibt die Frage, wie die übrigen Güter der Gesellschaft zu verteilen sind (Kap. VII). Angesichts der Vielfalt der nicht-basalen Interessen der Individuen könnte es ratsam erscheinen, sich mit einer Annähe­ rung an des moralische Ziel zufrieden zu geben und die verbleiben­ den Güter einfach gleich zu verteilen. Doch eine solche Gleichheit der Ressourcen wäre aus zwei Gründen moralisch zu unvollkommen: Die Existenz dieser Güter kann nicht einfach als gegeben unterstellt werden. Diese werden vielmehr zumeist durch menschliche Arbeit hervorgebracht. Der Charakter und die Intensität der Arbeit haben aber wiederum Auswirkungen auf das individuelle Wohl, die bei der Verteilung der Güter berücksichtigt und ggf. ausgeglichen werden müssen. Bei der Güterverteilung muß deshalb auf jeden Fall ein Aus­ gleichsprinzip zur Anwendung kommen. Doch ein solcher Ausgleich wird dem Ziel der Moral, der Optimierung des Wohls, noch nicht gerecht. Es ist nicht unplausibel, daß die Gesamtmenge der pro­ duzierten Güter von deren Verteilung abhängt: Die Zulässigkeit gro­ ßer Ungleichheiten könnte motivierend auf die Produktion von Gütern wirken und dadurch für alle vorteilhaft sein. Deshalb muß das Ausgleichsprinzip durch ein Maximierungsprinzip ergänzt wer­ den. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß die maximierenden Me­ chanismen nicht alle moralisch neutral sind. Die hier vertretene The­ se ist, daß der Marktmechanismus keineswegs die moralische Rechtfertigungskraft für Ungleichheiten hat, die ihm vielfach unter­ stellt wird. Das letzte Kapitel (Kap. VIII) untersucht, inwieweit die mora­ lische Verantwortlichkeit auf zukünftige Generationen ausgedehnt werden muß. In einen Vergleich mit der utilitaristischen Behandlung dieses Problems wird deutlich, daß die hier verteidigte Moral, die meisten der dort auftretenden Probleme oder Absurditäten vermei­ den kann. Eines der wichtigsten aus der utilitaristischen Perspektive auf zukünftige Generationen resultierenden Probleme ist die >repugnant conclusiom. Diese besagt, daß es zur Maximierung des Ge­ samtnutzens in der Welt durchaus moralisch geboten sein kann, mehr glückempfindende Wesen zu erzeugen. Deren Erzeugung wäre, und hier entsteht die Empörung, selbst dann geboten, wenn die ein­ zelnen Mitglieder der vergrößerten Menschheit immer unglückli­ cher werden, solange nur eben die Gesamt-Glückssumme noch zu­ nimmt. Die von den Utilitaristen entwickelten Strategien zur Vermeidung dieser Schlußfolgerung führen ihrerseits zu befremdli­ chen Resultaten: So kann ein negativer Utilitarismus, der nicht mehr 24

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den Nutzen maximieren, sondern nur noch das Leiden minimieren will, zwar die >repugnant conclusiom vermeiden, führt dafür aber zu einer Pflicht, die leidensfähigen Wesen aussterben zu lassen. Denn nur in der leeren Welt sind so wenig Leiden wie möglich vorhanden - nämlich gar keine. Die Moral der Opimierung kann diese beiden Extreme vermeiden. Sie verlangt nach solchen Regeln zu handeln, bei denen die schlechteste danach auftretende Position so gut wie möglich ist. Dadurch wird nur verboten, daß sich eine Generation zu Lasten ihrer Nachfolger besser stellt. Die leere Welt hat für diese Moral keine Attraktivität.

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Kapitel I:

Das Moralische als das Vorziehenswerte

Die Meinungen darüber, was moralisch richtig ist, gehen offenkun­ dig auseinander. Doch unabhängig von diesen inhaltlichen Differen­ zen werden die meisten den folgenden Charakterisierung der mora­ lischen Regeln zustimmen: • Die moralischen Regeln sind dazu da, den Individuen bei der Ver­ folgung ihrer sonstigen Ziele bestimmte Grenzen zu setzen. Sie sind ihrer Idee nach übergeordnete Regeln und mit dem Anspruch verbunden, das Verhalten von Menschen letztlich zu bestimmen. • Moralische Regeln sind mit einem universalen Geltungsanspruch verbunden. Sie sollen bestimmende Prinzipien für das Handeln aller Subjekte sein. Dann liegt folgender Schluß nahe: i. Die moralischen Regeln sollen übergeordnete und für jeden gültige Prinzipien sein. ii. Den letzten Horizont jeder praktischen Begründung bildet eine Konzeption des guten Lebens. iii. Die moralischen Regeln dürfen deshalb diesem Konzept des gu­ ten Lebens nicht widersprechen. Ansonsten wären sie nur eine skurrile Idee, es wäre irrational, ihnen zu folgen. iv. Also müssen sie mindestens ein notwendiger Bestandteil einer jeden Konzeption des guten Lebens sein. v. Dann muß man die moralischen Regeln finden können, indem man untersucht, worin das gute Leben für menschliche oder ver­ nunftbegabte Lebewesen besteht. Doch daraus ergibt sich schnell ein Dilemma, weil diese Forderung nur schwer vereinbar ist mit der gleichzeitig weit verbreiteten Auf­ fassung, daß es auf die Frage, was das gute Leben ist, nicht die eine richtige Antwort gibt. Allgemeine Zustimmung könnte man sicher für eine formale Bestimmung des guten Lebens erreichen. Etwa für die von Aristoteles gegeben Definition, daß das höchste Gut die Glückseligkeit sei und diese ein Zustand, in dem man nichts weiteres 26

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1. Das instrumentelle Vernunftmodell

begehre und dem kein weiteres Gut hinzugefügt werden könne.1 Doch eine Übereinstimmung in diesem Punkt besagt nicht viel. Denn sobald es darum geht, was nun konkret gegeben sein muß, um den Zustand der Glückseligkeit zu erreichen, werden die Individuuen ver­ schiedene Vorstellungen haben. Und hier, so die gängige Meinung, kann man auch keine Übereinstimmung erreichen, weil die konkrete Ausgestaltung der Vorstellung von Glückseligkeit eben von subjekti­ ven Bedingungen abhängt - von Interessen, Fähigkeiten, Gesell­ schaftszugehörigkeit, Sozialisation etc. Doch wenn das so ist, wie kann man dann sicher sein, daß es einen gemeinsamen Kern gibt, der das Moralische beinhaltet? In den Versuchen, einen solchen gemeinsamen Kern zu identifi­ zieren, spielt, der Natur des Menschen entsprechend, die Vernunft eine große Rolle. Die prominenten Theorien unterscheiden sich aber signifikant darin, welche Leistung sie der Vernunft jeweils zutrauen. Ich werde die diskutierten Modelle deshalb danach unterscheiden, welche Funktion oder Leistung sie der Vernunft jeweils zuschreiben.

1.1. Das instrumentelle Vernunftmodell

Dieses Modell geht davon aus, daß die Vernunft nur eine auf bereits vorhandene Interessen reflektierende Instanz ist. Eigene Ziele ver­ mag die Vernunft nicht aufzustellen. Vernünftig ist demzufolge ein Handeln dann, wenn es geeignet ist, die Interessen einer Person zu befriedigen. Daraus ergibt sich für die Definition von Gründen: Eine Person hat einen Grund, x zu tun, wenn x ein geeignetes Mittel ist, um eine ihrer Interessen zu befördern. Vernunft und Gründe sind hier auf die Interessen des jeweiligen Individuums bezogen. Daraus folgt allerdings nicht, daß das Handeln dieser Individuen nur auf das eigene Wohl bezogen sein kann. Ob dies der Fall ist, hängt eben von den Interessen, Neigungen und Gefühlen der Person ab. Jemand kann das Interesse haben, das Glück der Menschheit zu befördern oder von starken Liebesgefühlen für die Mitglieder seiner Familie geleitet sein. Für eine Moraltheorie, die zeigen will, daß jeder einen Grund hat, die moralischen Regeln zu befürworten, ist es allerdings nicht ratsam, von solchen Interessen oder Gefühlen auszugehen, die direkt das Wohlbefinden anderer zum Gegenstand haben, weil diese 1 Aristoteles, NE, 1097b14ff. ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

Interessen nicht notwendig von jedermann geteilt werden. Für eine solche Theorie ist es erfolgversprechender, von Interessen auszuge­ hen, von denen man mit größerer Sicherheit annehmen kann, daß jeder sie hat. Nur aus diesem Grund kommt den Interessen, die un­ mittelbar das Wohl des Agenten zum Gegenstand haben, eine größe­ re Bedeutung zu. Es ist nicht nur eine anthropologische Tatsache, daß die meisten ein Interesse an der Erhaltung ihrer Gesundheit oder ihrer Handlungsfähigkeit haben, diesen Interessen kommt auch eine logische Priorität zu: Auch wer sich für das Wohl der Menschheit engagiert, muß an der Erhaltung seiner Gesundheit interessiert sein, weil diese eine notwendige Voraussetzung zur Beförderung jenes an­ deren Interesses ist. Die dieser vorsichtigen Anwendung des instru­ mentellen Vernunftmodells entsprechende Moral ist der Kontraktualismus. Wenn jeder primär und unmittelbar an seinem Wohlergehen interessiert ist, dann kommen die anderen erst in einem zweiten Schritt in den Blick. Eine Verbindung, die deren Wohl berücksichtigt, muß eigens hergestellt werden, und das geschieht eben in einem Ver­ trag. 1.1.1. Buchanan und Gauthier Paradigmatisch für eine von diesen schwachen Voraussetzungen aus­ gehende Moraltheorie ist das von Buchanan entwickelte kontraktualistische Modell. Sein Plan in The Limits of Liberty ist es zu beschrei­ ben, »how >lawthe rights of propertyrules of behaviourrules of behaviournatürliches Gesetz< gibt, demzufolge alle Subjekte gleich sind und einander nicht das Leben, die Gesundheit und die Freiheit streitig machen dürfen.4 Doch die Existenz dieser ursprünglichen Rechte hat No­ zick nicht zu rechtfertigen versucht, und bei Locke basierten sie auf religiösen Annahmen. Von einer so starken Voraussetzung will Buchanan seine Theorie gerade frei halten. • Buchanan lehnt es ebenfalls ab, den Vertragsschluß als hypotheti­ schen Prozeß unter kontrafaktischen Bedingungen zu beschreiben. Er will ohne idealisierende Annahmen, wie sie z. B. den Rawls'schen Urzustand charakterisieren, auskommen.5 In diesem Rahmen vollzieht sich Buchanans Argumentation in neun Schritten: i. Die Vorschriften für das Zusammenleben von Menschen können nicht aus irgendwelchen höheren Prinzipen oder Werten abge­ leitet werden. Ein System von Rechten muß aus der realen Si­ tuation von Menschen abgeleitet werden, die ihre Interessen be­ friedigen wollen.6 ii. Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Präferenzen und Fähigkeiten. Sie leben zudem in verschiedenen Umwelten.7 iii. Aus diesen Unterschieden wird sich in einem vorrechtlichen Zu­ stand, in dem jeder mit allen ihm möglichen Mitteln seine Ziele verfolgt, eine natürliche Verteilung (natural distribution) der 3 Ebd. S. 117. 4 Vgl. Nozick, 1980, S. 25 und Locke, 1974, S. 6. Diese elementare Rücksicht führt dann auch zu den bekannten Einschränkungen bei der Überführung von Dingen in Eigentum: Von dem angeeigneten Gut muß genug und in gleicher Qualität für alle anderen zurückbleiben (vgl. Locke, 1974, S. 23 und Nozick, 1980, S. 165). 5 Buchanan, 1975, S. 175. 6 Ebd. S. ix, 54. 7 Ebd. S. 54 f. ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

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Güter ergeben. Der Zustand der natürlichen Verteilung ist da­ durch definiert, daß für die beteiligen Individuen alle weiteren Versuche, ihre Interessen umfassender zu befriedigen, keinen Nettogewinn mehr bringen, weil sie von den dazu erforderlichen Anstrengungen aufgezehrt werden.8 Infolge der natürlichen Ungleichhheiten, werden in diesem Gleichgewichtspunkt die Interessen der Subjekte unterschiedlich gut befriedigt sein. Gleichwohl ist es für alle Parteien rational, diese natürliche Ver­ teilung gegenseitig in einem Vertrag anzuerkennen. Der Vertrag beinhaltet, daß niemand fortan mehr Gewalt anwenden wird, um den Zustand zu seinen Gunsten zu verändern. Ein solcher Vertrag ist für alle vorteilhaft, weil niemand mehr Energien zur Verteidigung seiner Ressourcen aufbringen muß und diese stattdessen direkt in die Befriedigung weiterer Bedürfnisse investie­ ren kann.9 In diesem Vertrag (constitutive contract) werden die in der natürlichen Verteilung herausgebildeten Handlungsspielräume als Rechte etabliert. Rechte ergeben sich somit allererst aus dem Vertrag, sie basieren auf der Zustimmung aller.10 Diese Rechte schließen Besitz- und Freiheits- oder Menschenrechte ein. Zwischen diesen Rechten besteht kein kategorialer Unterschied.11 Infolge der vorvertraglichen Unterschiede werden durch den Vertragsschluß verschiedenen Individuen unterschiedliche Be­ sitz- und Menschenrechte zugesprochen werden.12 Für größere Gruppen wird der mit dem Vertragsschluß ange­ strebte Nutzen nur erreicht werden können, wenn eine sanktio­ nierende Instanz geschaffen wird, die die Einhaltung des Vertra­ ges weitestgehend sicherstellt. Dies ist der Ursprung des Staates. Die primäre Aufgabe des States besteht darin, die zuvor fest­ gelegten Rechte unparteiisch zu beschützen (protective state).13 Über den konstitutiven Kontrakt hinaus, wird es rational sein, postkonstitutionelle Verträge etwa zur Bereitstellung von

Ebd. S. 24, 56-58. Ebd. S. 25, 59. Ebd. S. 25, 87. Ebd. S. 10. Ebd. S. 25. Ebd. S. 65-68.

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1. Das instrumentelle Vernunftmodell

öffentlichen Gütern durch den Staat abzuschließen (productive state). Hierbei gilt die Einstimmigkeitshedingung: Es muß einmütig beschlossen werden, um welche Güter es dahei geht, wie deren Bereitstellung finanziert werden soll und an welchen Stellen ggf. Abweichungen von der Einstimmigkeitshedingung zulässig sind. So kann es insbesondere kein Recht der Mehrheit gehen, zusätzliche Güter in die Liste der >puhlic goods< auf­ zunehmen und durch Zwangsahgahen aller zu finanzieren.14 Die Stärke von Buchanans Ansatz besteht sicher darin, daß es im Punkt der >natürlichen Verteilung< tatsächlich für jeden einen Grund gibt, einen Vertrag zu schließen. Doch diese Form der Rationalität ist normativ wenig ergiebig. Eben weil Buchanan auf kontrafaktische egalitäre Rahmenbedingungen verzichtet, kann auch der daraus re­ sultierende Vertrag elementare rechtliche Ungleichheiten beinhal­ ten. Er räumt ein, daß seine Analyse relativistisch in dem Sinn ist, daß es danach je nach den Umständen eine große Variationsbreite hinsichtlich der vereinbarten individuellen Rechte geben kann. Auch eine Sklaverei könnte, wenn es für jeden vorteilhaft ist, einer solchen Regelung zuzustimmen, als Rechtssystem etabliert werden.15 In dieser radikalen Offenheit besteht das prima facie zutiefst Unbefriedigende des Ansatzes. Er scheint eine wesentliche Dimensi­ on des moralischen Bewußtseins zu ignorieren: Nach Buchanans Modell können sehr verschiedene Zustände als Rechtszustände durch einen Vertrag konstituiert werden. Aber es erscheint doch sehr zwei­ felhaft, ob alle diese Zustände auch gerecht sind. Und wenn doch, sind sie dann auch alle gleich gerecht? Die Forderung ist naheliegend, daß bei einem Kontrakt, der nicht nur Recht, sondern auch Gerech­ tigkeit produzieren soll, die Zustimmung ohne Zwang und Drohung erfolgen muß und die Individuen dabei gleich zu berücksichtigen 14 Ebd. S. 71f., 82-84. 15 Ebd. S. 34, 60, 87. Dieses Problem erscheint auch in der sehr ähnlichen Theorie von Otfried Höffe. Für ihn besteht die Rechtfertigung einer Rechtsordnung darin, daß der rechts- und staatsförmige Zwang dem ansonsten existierenden rechts- und staatsfreien Zwang überlegen ist (Höffe, 1987, S. 336). Höffe hält zwar gegen den Utilitarismus daran fest, daß das staatliche Zwangssystem für jeden als vorteilhaft erfahrbar sein muß. Aber er hält es für ausreichend, wenn nur jeder überhaupt profitiert, auch wenn die Vorteile für verschiedene Individuen unterschiedlich groß sind (ebd. S. 80). Wenn man dann, wie auch Höffe, von einem Naturzustand ausgeht, in dem jeder bis an die Grenzen seiner Macht mit allen Mitteln versucht, seine Interessen zu wahren (vgl. ebd. S. 293, 299), dann kann auch eine für alle vorteilhafte Regelung noch vielen moralischen Standards Hohn sprechen. ^

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sind.16 Doch solche Forderungen würde Buchanan als extern zurück­ weisen - sie ergehen sich nicht im Prozeß der natürlichen Interessen­ entwicklung rationaler Egoisten. Wenn üherhaupt, dann kann es in seiner Theorie nur einen formalen Begriff der Gerechtigkeit gehen: Gerecht ist alles, dem alle zugestimmt hahen. Eine Unterscheidung zwischen >Recht< und >gerecht< würde Bu­ chanan nur in einem sehr hegrenzten Sinn akzeptieren. Für ihn kann ein Rechtssystem lediglich unangepaßt (unadjusted) sein. Das ist im­ mer dann der Fall, wenn sich das positive Recht signifikant von dem natürlich-anarchistischen Gleichgewicht entfernt hat, das ständig als eine Art Korrektiv unter der Oherfläche der sozialen Ordnung exi­ stiert. Dann muß es zu Anpassungen im System des positiven Rechts kommen oder dieses System wird insgesamt erodieren.17 Natürlich ist auch Buchanan nicht verhorgen gehliehen, daß solche Anpas­ sungsprozesse von gesellschaftlichen Diskursen hegleitet werden, in denen anspruchsvollere Gerechtigkeitshegriffe verwendet werden. Aher vor dem Hintergrund seines generellen Wert-Agnostizismus gehören solche Forderungen nur zur >rhetoric of justicerichtiger< sind, als solche, die auf dem Mehrheitsprinzip beruhen. Auf dieser Unter­ scheidung basiert sogar das wesentliche Anliegen seines Buches. Der kritische Impuls seines Ansatzes ist gegen einen Wohlfahrtsstaat ge­ richtet, der zur Bereitstellung der entsprechenden Güter mehr und mehr in die Besitzrechte der Bürger eingreift. Diese Eingriffe stellen für Buchanan ein Unrecht dar, weil damit eine parlamentarische Mehrheit, ohne nach der Zustimmung aller zu fragen, gerade jene Rechte verletzt, zu deren Schutz die Regierung überhaupt nur einge­ setzt worden war. Aber in welchen Sinn sind Rechte, die auf all­ gemeiner Zustimmung beruhen, >richtiger< ? Buchanan könnte diese Wertung mit zwei Argumenten zu verteidigen versuchen: 1. Als rationale Egoisten errichten die Menschen soziale Ord­ nungen oder nehmen daran Teil einzig zu dem Zweck, ihre indi­ viduellen Ziele auf diese Weise besser zu erreichen. Die Regeln der Kooperation werden dabei als Rechte artikuliert. Solche Rechtsord­ nungen sind aber am ehesten dann stabil, wenn jeder ihrer Einf­ ührung zugestimmt hat. Nur dann, könnte man sagen, wird sich jeder wenigstens ansatzweise verpflichtet fühlen, sich an die Regeln zu halten.19 Durch solche Stabilität wird das Rechtssystem effektiver, die darin Lebenden können in den Grenzen des Systems mit mehr Aussicht auf Erfolg an der Erreichung ihrer privaten Ziele arbeiten. Ein auf universaler Zustimmung basierendes Rechtssystem ist also besser in dem Sinn, daß es den einzigen Zweck, den solche Systeme haben können, besser realisiert. - Doch bereits diese Antwort basiert auf einer Prämisse: Wer über besondere Drohpotentiale verfügt und bereit ist, Risiken einzugehen, muß an universaler Zustimmung nicht interessiert sein, wenn ein anderes Modell der Rechtskonstitu­ ierung ihm vorteilhafter erscheint. So könnten sich die Mächtigen darauf verständigen, die anderen fortan gemeinsam auszubeuten, ohne die Regeln dieser Ausbeutung den Unterworfenen zur Zustim­ mung vorzulegen. Diese würden den Regeln gegenüber dann zwar

19 Auf den Zusammenhang von Zustimmung und Verpflichtung hat auch Rousseau an zentraler Stelle hingewiesen. Bloße Macht kann für ihn schon deswegen kein Recht stiften, weil Macht keine Pflicht hervorbringen kann. Dem Räuber im Wald werde man seine Börse ggf. gezwungenermaßen aushändigen, aber man fühle sich keineswegs dazu verpflichtet (vgl. Rousseau, 1977, Buch I, Kap.3). ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

keine Verpflichtung verspüren, und das Fehlen dieser inneren Bin­ dung würde die Bereitschaft zu Regelverstößen mehren. Aber dieses Problem könnten die Mächtigen mit repressiven Methoden zu be­ grenzen versuchen. D. h. die natürliche Ungleichheit kann nicht nur Einfluß auf den Gehalt der vereinbarten Rechten haben, sie kann sich auch darauf auswirken, ob Rechte überhaupt durch Vereinbarungen konstituiert werden. Wenn sich die Relativität aber auch auf die Me­ thode der Rechtsgenerierung erstreckt, dann wird Buchanans Modell normativ völlig unergiebig. 2. Buchanan könnte zudem auf den individualistischen Charak­ ter seines Ansatzes verweisen und geltend machen, daß Rechte, die auf universeller Zustimmung basieren, richtiger sind, weil sie der individuellen Freiheit aller mehr Rechnung tragen: Wo es auf Zu­ stimmung eines jeden ankommt, wird dessen Perspektive offenbar ernster genommen, als etwa dort, wo jeder nur seine Stimme abge­ ben darf oder wo er einfach einem Beschluß unterworfen wird. Die Einmütigkeitsbedingung führte dann zu richtigeren Rechten, weil im Akt der Zustimmung die Freiheit eines jeden besser berücksichtigt wird.20 - Doch diese Argumentation würde über Buchanans schwa­ che Prämissen hinausgehen. Seine rationalen Protagonisten ver­ suchen ihre Interessenbefriedigung zu maximieren, sie sind nicht da­ rauf aus, die gleiche Freiheit für alle zu realisieren. Daß die Freiheit aller gleich zu berücksichtigen ist, ist schon ein moralisches Prinzip, das in Buchanans System allenfalls als Resultat einer Übereinkunft erscheinen kann, nicht als regulatives Prinzip bei deren Erzielung.21 Damit steckt der Ansatz in einem Dilemma: Entweder ist die Theorie ein rein empirische und handelt davon, wie eigeninteressier­ te Individuen Rechts- und Moralsysteme entwickeln können. Dann bietet sie sicher eine mögliche Rekonstruktion dieses Vorgangs, ist aber normativ unergiebig. Oder die Theorie soll normativ sein und davon handeln, wie Rechte entstehen sollen. Dazu müßte sie aber

20 Vgl. Buchanan, 1975, S. 2. 21 Peter Koller hat zudem darauf hingewiesen, daß es nicht einmal wahrscheinlich ist, daß im unsprünglichen, konstitutiven Kontrakt alle der Einmütigkeitsklausel zustim­ men. Denn dies würde denen, die in diesem Kontrakt besser abgeschnitten haben, ein Vetorecht gegen alle künftigen Veränderungen einräumen. Die schlechter Weggekom­ menen würden dagegen mit dem Eintritt in den Rechtszustand alle Möglichkeiten preis­ geben, an dieser für sie ungünstigen Verteilung noch mit gewaltsamen Mitteln etwas zu ändern (Koller, 1987, S. 231f.). 34

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1. Das instrumentelle Vernunftmodell

Voraussetzungen machen, über die sie ihren eigenen Prämissen zu­ folge nicht verfügen kann. Zudem ist Buchanans Ansatz mit einem für kontraktualistische Theorien typischen Problem konfrontiert: Selbst wenn es für eigen­ interessierte Individuen rational wäre, einen bestimmten Vertrag zu schließen, daraus folgt nicht, daß es rational ist, ihn auch einzuhal­ ten, wenn man hoffen kann, dafür nicht sanktioniert zu werden. Die­ ses klassische Problem kontraktualistischer Motivation hat David Gauthier auszuräumen versucht. Er unterscheidet einen >straightforward maximizer< (SM) von einem >constrained maximizer< (CM). Während ersterer nur den Anschein zu erwecken versucht, den Ver­ trag einzuhalten, ihn aber bricht, sobald das relativ gefahrlos und zu seinem Vorteil ist, hat der letztere eine Disposition zu fairem, regel­ getreuem Verhalten, solange er nur glauben kann, daß die meisten anderen sich ebenso verhalten.22 In fünf Schritten versucht Gauthier zu zeigen, das es rationaler ist, ein CM zu sein:23 i. Eine Gemeinschaft von CMs wird immer versuchen, die verbor­ genen SMs auszuschließen. ii. Nur eine Person, die wirklich disponiert ist, den Vertrag ein­ zuhalten, wird zur Teilnahme zugelassen werden und die Vorteile der Kooperation genießen können. iii. Es ist deshalb nötig das Kriterium der rationalen Entscheidung, wonach die Entscheidungen rational sind, die den Nutzen des Wählenden maximieren, auch auf die Entwicklung von Disposi­ tionen anzuwenden. iv. Eine Disposition ist demnach dann rational, wenn man von den dadurch beeinflußten Entscheidungen erwarten kann, daß sie den Nutzen des Wählenden maximieren. v. Da man nur mit einer Disposition zu fairem Handeln die Vorteile der Kooperation genießen kann, ist es rational, diese Disposition zu entwickeln.24 Doch auch diese Überlegung kann die motivationale Lücke in der kontraktualistischen Argumentation nicht schließen. Es ist natürlich richtig, daß die SMs versuchen werden die CMs auszuschließen. Sie werden sogar durch Erziehung sicherzustellen versuchen, daß jeder 22 Gauthier, 1986, S. 167-69. 23 Gauthier, 1986, S. 182f. 24 Eine spieltheoretische Argumentation Mackies führt zu demselben Resultat (Mackie, 1981, S. 144-51). ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

eine CM-Disposition erhält. Aber das kann für ein Individuum noch kein hinreichender Grund sein, sich selbst solch eine Disposition an­ zueignen, denn das Problem der verborgenen Abweichung taucht angesichts der Dispositionen wieder auf. Wenn es rational sein kann, den Vertrag in einzelnen Situationen zu brechen, dann kann es auch rational sein, eine SM-Disposition zu haben. Man muß nur ver­ suchen die Disposition vor den anderen ebenso zu verbergen wie man die Handlungen verbirgt. In beiden Hinsichten besteht ein Ent­ deckungsrisiko, aber es ist nicht irrational, Risiken zur Erreichung bestimmter Vorteile einzugehen. Das dem kontraktualistischen Ansatz zugrundeliegende Modell instrumenteller Vernunft ist also zur Begründung der Moral in zwei Hinsichten unzureichend: • Es ist nicht in der Lage, ein bestimmtes Moralsystem auszuzeich­ nen. Die rationalen Kontrakte können sehr verschiedene Inhalte haben. Darunter auch solche, die den moralischen Alltagsintuitio­ nen zuwiderlaufen. • Es ist nicht in der Lage, eine Motivation zur Einhaltung der mora­ lischen Regeln zu erzeugen. Amoralisches Handeln ist nach die­ sem Vernunftmodell nicht notwendig irrational.

I.2. Konstitutive Vernunftmodelle

Das instrumentelle Vernunftmodell ist dadurch charakterisiert, daß in ihm die Interessen der Subjekte als gegeben vorausgesetzt werden und deren Modifikation nur mit Rücksicht auf äußere Folgen erwo­ gen wird. Die nachfolgend diskutierten Modelle gehen darüber hin­ aus, indem sie - auf sehr verschiedene Weise - zu zeigen versuchen, daß die Vernunft selbst Handlungsziele aufstellen kann. Zu prüfen ist deshalb zuerst, ob diese Erweiterung des Vermögens der Vernunft plausibel ist und dann, ob die so erschlossenen Handlungsziele geeig­ net sind, eine moralische Lebensweise zu unterstützen. 1.2.1. Platon Platons in der Politeia unternommener Versuch, die Identität des gu­ ten und des gerechten Lebens zu erweisen, geht vom Scheitern des kontraktualistischen Ansatzes aus. Zwei Dialogteilnehmer machen Sokrates zu Beginn des zweiten Buches drastisch klar, daß eine ver­ 36

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2. Konstitutive Vernunftmodelle

tragstheoretische Rekonstruktion des Rechts und des Systems der moralischen Erwartungen für die Verteidigung der Identitätsthese nicht ausreicht. Denn von Natur, so der Einwand des Glaukon, sei des Unrechttun gut, das Unrechtleiden aber ein Übel. Allerdings sei das Unrechtleiden ein größeres Übel als das Unrechttun ein Gut. Dies habe dazu geführt, daß diejenigen, die nicht in der Lage gewesen seien, Unrecht zu tun und zugleich das Unrechtleiden zu vermeiden, einen Vertrag miteinander geschlossen hätten, einander kein Un­ recht mehr zu tun. Dies sei der Ursprung der Gesetze und des Ge­ rechten. Das Gerechte stelle somit eine Art Mitte dar zwischen dem größten Übel, nämlich Ungerechtigkeit zu erleiden, ohne sich rächen zu können, und dem größten Gut, nämlich Unrecht tun zu können, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Das Gerechte sei deshalb für die Mehrzahl der Schwachen wohl etwas Gutes, aber für einen wahr­ haften, durchsetzungsfähigen Mann sei es einfach irrational, sich an die Regeln der Gerechtigkeit zu halten.25 Die Pointe in der Argumentation des Glaukon besteht nicht in diesem Referat einer weitverbreiteten und schon zum Mythos ver­ dichteten Auffassung26, sondern darin, daß er Sokrates zugleich eines wichtigen Arguments zur Verteidigung des Wertes der Ge­ rechtigkeit beraubt: Es sei unzureichend, auf die üblen Folgen hin­ zuweisen, die mit ungerechtem Tun verbunden sein können - etwa auf den schlechten Ruf oder auf Strafen. Denn das seien nur äußere und daher wenigstens prinzipiell vermeidbare Schäden. Ein voll­ endet Ungerechter werde es verstehen, den Schein der Gerechtigkeit zu wahren und dadurch diese Übel zu vermeiden. Wenn Sokrates nicht nur beweisen wolle, daß man versuchen muß, als gerecht zu erscheinen, sondern auch, daß es gut sei, gerecht zu sein, dann müsse er die äußeren Folgen beiseite lassen. Er müsse dann sogar zeigen, daß ein als ungerecht verleumdeter, bestrafter und grausam mißhandelter Gerechter ein glückseligeres Leben führe als ein Un­ gerechter, der als gerecht gilt und alle Vorteile dieses guten Rufs genießt.27 Unter Absehung von den äußeren Folgen, so die Zusam­ menfassung durch Adeimantos, müsse eine zufriedenstellende Ver­ teidigung der gerechten Lebensweise zeigen, welche Kraft die Ge­ 25 Politeia, 358e-359b. 26 Der dazugehörige Mythos ist der des Gyges, der mithilfe eines Unsichtbarkeit ver­ leihenden Ringes ungestraft Unrecht tun kann (vgl. ebd. 359c-360c). 27 Ebd. 360e-362c. ^

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rechtigkeit in der Seele selbst hat, auch wenn dies Göttern und Men­ schen verborgen bleibt.28 Es ist fraglich, ob es für einen Verteidiger der gerechten Le­ bensführung notwendig ist, diese Herausforderung anzunehmen. Schließlich könnte wenigstens ein Teil des Werts einer solchen Le­ bensführung auf deren guten äußeren Konsequenzen beruhen. Um solche Güter mitzählen zu können, müßte Sokrates nur plausibel machen, daß sie erstens wichtig und die Gerechtigkeit zweitens ent­ weder eine notwendige und hinreichende oder wenigstens eine not­ wendige Bedingung zu deren Erreichung ist. Wenn etwa die Gerech­ tigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung zur Stärkung des Immunsystems wäre und nur dieses vor vielen Krankheiten schützten könnte, dann wäre es unsinnig, diesen Vorteil nicht bei der Verteidigung der gerechten Lebensweise zu berücksichtigen. We­ niger stark wäre eine Argumentation mit Gütern, zu deren Errei­ chung die Gerechtigkeit nur eine notwendige Bedingung darstellt. Das könnte z. B. ein nur durch Gerechtigkeit erreichbarer vertrauens­ voller Umgang mit anderen sein. Eine solche Verteidigung der Ge­ rechtigkeit hätte zugleich eine Schwäche. Denn wenn die Gerechtig­ keit nur eine notwendige Bedingung zur Erreichung der fraglichen Güter ist, dann müssen eben weitere Faktoren gegeben sein, damit das Gut auch realisiert wird. Im Fall des vertrauensvollen Umgangs muß es z. B. mindestens einen weiteren Gerechten geben, damit diese Beziehung aufgebaut werden kann. In einer Gruppe radikaler Egoi­ sten oder unter Bedingungen, die ein Überleben aller nicht mehr erlauben, wäre es dann eventuell nicht mehr gut, gerecht zu sein. Es fragt sich allerdings, ob ein Verteidiger der Gerechtigkeit viel preis­ gegeben hätte, wenn er das einräumt. Platon schenkt diesen notwendigen Differenzierungen zunächst keine Aufmerksamkeit. Er nimmt die Herausforderung einfach an. Seine Definition der Gerechtigkeit und der Nachweis, daß die Ge­ rechtigkeit ein Gut ist, vollziehen sich in sieben Schritten: i. Die menschliche Seele ist ein komplexes und von antagonisti­ schen Willensregungen gekennzeichnetes Gebilde. Der Haupt­ widerspruch ist der zwischen den Begierden und der Vernunft.29 28 Ebd. 366e. 29 Ebd. 437b-441b. Um die Teile der Seele zu unterscheiden, wendet Platon den Satz vom Widerspruch auf die Willensregungen an: Eines könne nicht zugleich und in derselben Hinsicht Ent38

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ii. Nur die Vernunft verfügt über Wissen und ist vorausschauend auf das Wohl der ganzen Seele bezogen. iii. Die eigentümliche Leistung oder Tüchtigkeit der Vernunft be­ steht deshalb darin zu herrschen, die der anderen Seelenteile be­ steht darin, den Anweisungen der Vernunft zu folgen.30 iv. Das gerechte Verhältnis der Seelenteile ist dann gegeben, wenn jeder Teil das Seinige tut, d. h. diejenige Funktion wahrnimmt, die er am besten zu verrichten in der Lage ist.31 v. Wenn jeder Seelenteil das Seinige tut, dann werden die Regun­ gen und Kräfte in der Seele in einem geordneten und harmo­ nischen Verhältnis zueinander stehen.32 vi. Die gerechten Handlungen sind diejenigen, die geeignet sind, diese Harmonie und Einheit hervorzubringen und zu erhalten.33 vii. Die Ungerechtigkeit stellt demgegenüber einen Zwiespalt der Seele dar, in dem irgendein nicht zur Herrschaft befähigter Teil versucht, diese auszuüben. Die Ungerechtigkeit ist eine Verkeh­ rung der in der Natur der Teile angelegten Ordnung und ein zu vermeidendes Übel.34 Diese Argumentation hat eine Stärke und zwei schwerwiegende Pro­ bleme: Die Stärke besteht darin, daß Platon von einem universalen Progegengesetztes tun, erleiden oder sein (Politeia, 436e). Wenn sich in einer menschlichen Seele also zur selben Zeit entgegengesetzte Willensregungen fänden, dann sei das ein hinreichendes Zeichen dafür, daß die Seele aus verschiedenen Teilen bestehe (ebd. 439b). Auf diese Weise gelingt es Platon, zwei Seelenteile zu unterscheiden: Den einen bilden die Begierden. Doch diese bestimmen unser Verhalten nicht notwendig. Ihnen gegenü­ ber steht die Vernunft, die uns erlaubt, über unsere Begierden nachzudenken und uns ggf. gegen sie zu entscheiden. Zwischen diesen Polen siedelt Platon noch einen dritten, schwerer zu charakterisierenden Seelenteil an - den Thymos. Dieser ist zumeist eng mit der Vernunft verbunden, aber phänomenal von ihr verschieden. Die Leistung der Ver­ nunft besteht in der Beurteilung der Begierden bzw. der von diesen implizierten Hand­ lungen, z.B. darin, von einer bestimmten Handlung zu sagen, daß sie verkehrt ist. Der Thymos gibt, wie Platons Beispiele zur Wirkungsweise dieses Seelenteils zeigen, diesem Urteil gleichsam eine emotionale Tönung. Mit seiner Hilfe können wir uns über unsere Begierden entrüsten und deren Kraft damit in einem gewissen Maß abschwächen. Der Thymos erfüllt gewissermaßen die Funktion einer Schaltstelle, an der die kognitiven Elemente in handlungswirksame Impulse übersetzt werden (vgl. dazu meine ausführli­ chere Analyse in Pfannkuche, 1988, S. 128ff). 30 Politeia, 441e. 31 Ebd. 441d,e. 32 Ebd. 443d. 33 Ebd. 443e. 34 Ebd. 444b-d. ^

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Wem menschlichen Lehens ausgeht, von dem heterogenen und oft auch antagonistischen Charakter unserer Willensregungen und spontanen Impulse und von der Tatsache, daß wir uns als Vernunft­ wesen zu diesen Impulsen verhalten können. Dieser Ahstand, den vernunfthegahte Lehewesen zu ihren Impulsen notwendig hahen, hat zwei wichtige Implikationen: Er eröffnet erstens den Raum für praktische Rationalität. Nur in dem durch diese Distanzierung auf­ gespannten Raum werden praktische, normative Sätze wie »Ich sollte nicht« oder »Du solltest« überhaupt möglich. Dieser Ahstand stellt zweitens zugleich ein Prohlem dar. Wer sich angesichts zweier ant­ agonistischer Bedürfnisse und Handlungsimpulse fragt »Was soll ich tun?«, der giht damit zu erkennen, daß er sich nicht als jemand ver­ stehen kann oder will, der dem Spiel der Impulse in ihm einfach zuschaut und ahwartet, his ein Impuls die anderen irgendwie ver­ drängt hat. Die Frage »Was soll ich tun?« setzt voraus, daß man sich selhst, das eigene Wollen nicht nur retrospektiv als Resultat solcher Verdrängungsprozesse hegreifen will, sondern daß man sich als je­ manden verstehen will, der in diesem Kräftespiel die entscheidende Rolle spielt, der die Entscheidungen selbst trifft. Mit dieser Frage sucht man nach einem Prinzip, das es erlauht, in solchen Fällen eine Entscheidung zu treffen. Ohne ein solches, die spontanen Impulse ühergreifendes und regulierendes Prinzip könnte sich ein Individu­ um nur als die Ansammlung von Impulsen verstehen. Erst die Auf­ findung eines solchen Prinzips stiftet eine die Situationen ühergreifende Einheit einer Person. Erst die Identifikation mit diesem Prinzip erlauht es einem vernunfthegahten Lehewesen, sein Tun als die Handlungen seiner Person zu verstehen. Insofern kann man sagen, daß die Herstellung dieser Einheit das hasale Prinzip der Vernunft ist, und daß deswegen jedes vernunfthegahte Lehewesen ein Interesse an der Herstellung dieser Einheit hahen muß.35 Doch damit heginnen die Prohleme. Das erste hesteht darin, daß Platon die Leistung der Vernunft zunächst nur sehr knapp charakte­ risiert. Die Vernunft ist auf die ganze Seele hezogen und sie hedenkt die Dinge im Voraus. Zudem soll sie weise sein, und diese Weisheit wird später hestimmt als die Erkenntnis dessen, was jedem Seelenteil 35 Dieser Zusammenhang zwichen Vernunft und Einheit hei Platon ist üherzeugend von Christine Korsgaard herausgearheitet worden (vgl. Korsgaard, 1998, S. 3-25). Die Prohleme, aus dieser Bezogenheit auf Einheit ein materiales, normatives Prinzip ahzuleiten, werden von Korsgaard allerdings weit unterschätzt. 40

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und der Gesamtheit der Teile nützlich ist.36 Aber wie sieht dieser Nutzen aus? Wenn man von dem vorausschauenden Charakter der Vernunft ausgeht, könnte man sagen, daß jedem Seelenteil oder jeder seelischen Regung das nützlich ist, was das jeweilige Bestreben erfüllt und auch dessen zukünftige Erfüllung nicht gefährdet. Aus­ gehend von der Bezogenheit der Vernunft auf das Ganze der Seele liegt es nahe zu sagen, daß der Nutzen in der ausgewogenen, schwere Frustrationen und Spannungen vermeidenden Befriedigung der Bedürfnisse besteht. Aber das sind sehr formale Bestimmungen. Dar­ aus folgt unmittelbar weder, daß es für jedes Individuum nur eine Möglichkeit gibt, diese Harmonie zu erreichen, noch folgt, daß es für alle Menschen nur einen Weg zu deren Realisierung gibt. Damit wird das nächste und schwerwiegendste Problem sichtbar: Platon charakterisiert die innerseelische Gerechtigkeit als eine har­ monische Zusammenstimmung der Seelenteile und nennt jene Handlungen gerecht, die diesen Zustand herbeiführen. Aber was hat die so definierte Gerechtigkeit mit jenem Handeln gemeinsam, das im intersubjektiven Verkehr als gerecht gilt? Platon sieht sehr wohl, das das eine vom anderen verschieden ist. Um die Kongruenz herzustel­ len, behauptet er einfach, daß der in seinem Sinn Gerechte sich auch solcher Taten wie Unterschlagung, Raub, Untreue und Ehebruch ent­ halten werde.37 Aber warum folgt das? Warum soll jemand seine see­ lische Harmonie nicht auch als Räuber oder gar als Tyrann herstellen können? Daß hier eine erhebliche Lücke klafft, ist von vielen Autoren beklagt worden.38 Es könnte ja sogar sein, daß gerade die intersubjek­ tive Gerechtigkeit eine Quelle erheblicher seelischer Disharmonie ist. Es wäre aber voreilig Platons Vorhaben, das gerechte Leben als gut zu erweisen, schon hier für gescheitert zu erklären. Platon selbst war der Meinung, daß man, um einzusehen, daß sich dies wirklich so verhält, weitere Überlegungen anstellen muß. Er hält es für nötig, sich mit den Haupttypen der menschlichen Schlechtigkeit auseinanderzusetzen.39 Um sein Beweisprogramm zu vollenden, müßte Platon zeigen, daß 1. die Grundformen intersubjektiver Ungerechtigkeit ein Übel auch für den Ausübenden darstellen, daß 36 37 38 39

Politeia 441e, 442c. Ebd. 442e-443b. EtwaKelsen,1964,S. 258;Vlastos,1981/S. 132;vgl.auchPfannkuche, 1988/S. 133ff. Politeia 445bc. ^ 41

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2. dieses Übel als ein Mangel an seelischer Harmonie verstehbar ist und der intersubjektiv Gerechte dementsprechend ein höheres Maß an seelischer Harmonie erreicht und daß 3. diese stärkere Harmonie die Übel kompensieren kann, die mit ge­ rechtem Verhalten verbunden sein können. Den Nachweis, daß sich dies so verhält, versucht Platon erst im ach­ ten und neunten Buch der Politeia zu führen. Seine Überlegung be­ ginnt damit, daß er der gerechten, harmonisch geordneten Seele, je­ ner in der jeder Seelenteil das Seinige tut, in einem systematischen Überblick die abweichenden Typen seelischer Konstitutionen ge­ genüberstellt. Diese Typen verkörpern basale den Menschen mögli­ che Zielsetzungen. Da ist zuerst der timokratisch gesonnene Mensch, in dem das Verlangen nach Ehre und Auszeichnung in kriegerischen Aktivitäten das vorherrschende Verlangen ist. Ihm folgt der Olig­ arch, der nach Reichtum strebt und um dessentwillen, die meisten seiner kostenträchtigen Bedürfnisse kontrolliert. Der demokratisch Gesonnene steht dagegen allen seinen Bedürfnissen gleich auf­ geschlossen gegenüber. Unter dem Leitwert der Freiheit gibt er je­ weils dem Bedürfnis nach, das sich eben als das Dringendste darstellt. Doch während die demokratisch Gesonnenen noch bereit waren, al­ len dieselbe Freiheit einzuräumen, ist der Tyrann entschlossen, die eigene Freiheit der der anderen überzuordnen und diese insgesamt seinem Willen zu unterwerfen. Es ist offenkundig, daß alle diese Charaktertypen die Regeln der intersubjektiven Gerechtigkeit verletzen können und oftmals auch werden. Ihr Handeln ist primär auf die Erreichung ihres jeweiligen Ziels gerichtet. Die Rücksicht auf das Wohl der anderen ist nur eine Funktion ihres dominanten Bestrebens. Wenn solche Rücksicht dem zuträglich ist, werden sie sie üben, wenn nicht, dann nicht. Platon müßte nun zeigen, inwiefern alle diese Charaktere hinsichtlich der seelischen Harmonie schlechter gestellt sind als derjenige, der die Regeln der intersubjektiven Gerechtigkeit beachtet. Und viele seiner Argumente sind tatsächlich auf diese Weise interpretierbar. Der fa­ cettenreichen Kritik Platons an den abweichenden Lebensweisen liegt ein zentrales Argument zugrunde: Dieses besagt, daß die Lebens­ maximen, die basalen Zielsetzungen aller dieser Lebensentwürfe nicht in der Lage sind, sich selbst zu erhalten.40 Sie müssen stets Anleihen bei einem anderen Prinzip machen, dem sie zugleich aber 40 Explizit wird dies nur für die Zerstörung der Oligarchie und der Demokratie aus­ 42

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ablehnend gegenüberstehen. Der Konflikt dieser Prinzipien erscheint zuerst als Zwiespalt in der Seele der jeweiligen Protagonisten. Die Unfähigkeit, die Begrenztheit des jeweiligen Lebensprinzips anzuer­ kennen, führt sodann zur Zerstörung der korrespondierenden Staats­ form. Im Fall der Timokraten stellt sich dies so dar, daß ihr zentrales Anliegen die Erringung von Ehre ist. Aber geehrt werden kann man nur für die Vollbringung außergewöhnlicher Leistungen, die von den Verehrenden auch als gut betrachtet werden. Der Widerspruch der Timokraten besteht dann darin, daß sie zwar geehrt werden wollen, die Ehre aber nur im Bereich der kriegerischen Leistungen suchen.41 Sie sind deshalb immer der Versuchung ausgesetzt, kriegerische Handlungen auch dort anzuzetteln, wo dies der Bevölkerung gar nicht dient. Zudem kann das System der Ehre nur solange funktio­ nieren, wie hervorragendes Verhalten auch wirklich zu Anerken­ nung und Ehre führt. Und dies wiederum setzt eine gewisse Gerech­ tigkeit voraus. Wo diese fehlt, werden die weniger Erfolgreichen immer versucht sein, die Erfolge anderer zu schmälern oder sie ihnen ganz streitig zu machen. Der Mangel an dieser Gerechtigkeit wird nach Platons Überzeugung schließlich den Übergang zu einem oligarchischen System erzwingen.42 Die Oligarchie ist durch das Streben nach Reichtum definiert. Diese Lebensform ist selbstzerstörerisch, weil das Streben nach Reichtum zu einer zunehmenden Konzentration desselben in weni­ gen Händen führen wird. Die ohnehin Armen und die aus der Klasse der Oligarchen Herausgefallenen bilden schließlich ein Umsturz­ potential, dem die wenigen Reichen nicht mehr standhalten können.43 Die Oligarchie könnte sich nur erhalten, indem die Oligarchen ihrem grundlegenden Bestreben Grenzen setzen. Je mehr sie dazu unfähig sind, desto schneller wird die Masse der Schlechtweggekom­ menen die Oligarchie durch eine Demokratie ersetzen. Die Demokratie charakterisiert Platon durch das Streben nach Freiheit. Diese Freiheit objektiviert sich einerseits im der Koexistenz der verschiedensten Lebensformen im öffentlichen Leben.44 Auf der gesprochen (Politeia 555b, 562b). Doch auch für die anderen Staats- und Seelenformen läßt sich dieses Prinzip als die Motor der Selbstzerstörung rekonstruieren. 41 Politeia 547e, 549a. 42 Ebd. 553a,b. 43 Ebd. 551d-552e, 555c,d. 44 Ebd. 557b-d. ^ 43

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seelischen Ebene entspricht dem ein quasi gleichberechtigter Um­ gang mit allen Begierden. Das Individuum überläßt sich der gerade dominanten Begierde.45 Doch das demokratische Miteinander kann nur solange funktionieren, solange alle die Freiheit der anderen als Grenze ihrer eigenen Freiheit berücksichtigen. Der Tyrann ist schließlich derjenige, der konsequent die Fesseln, die die Freiheit der anderen ihm auferlegt, sprengt. Er maximiert seine Freiheit, indem er alle anderen seiner Gewalt und seinen Lau­ nen unterwirft.46 Doch auch die zur Tyrannei vergrößerte Freiheit kann sich als Prinzip nicht allein erhalten. Denn der Tyrann wird nicht wirklich allein herrschen können. Er bedarf verläßlicher Hel­ fer.47 Diesen gegenüber wird sich der Tyrann aber anders verhalten müssen als den sonstigen Opfern seiner Willkürherrschaft. Er wird ihnen schmeicheln müssen48 und ihnen gegenüber jene Form von Gerechtigkeit zeigen müssen, von der schon im ersten Buch klar wur­ de, daß ohne sie auch eine Räuberbande nichts gemeinsam würde ausrichten können.49 An diesen Stellen ist der Tyrann also gezwun­ gen, seinen Drang nach unbeschränkter Freiheit zu zügeln. Je weni­ ger er dies vermag, desto schneller wird er seine Herrschaft und Frei­ heit verlieren. Die Frage ist, was Platon mit der Herausarbeitung der selbst­ zerstörerischen Kraft dieser Prinzipien für sein Vorhaben, das ge­ rechte Leben als das beste zu erweisen, gewonnen hat. Man kann ja zugeben, daß etwa das unbegrenzte Streben nach Reichtum oder Freiheit sich selbst zerstören wird, daß die so Strebenden, bestimmte Grenzen berücksichtigen müssen und daß das Streben und dessen notwendige Begrenzung einen gewissen psychischen Antagonismus, also eine Form von Disharmonie darstellt. Aber dieses Argument hat zwei Grenzen: Erstens sind die Grenzen, die beim Streben nach Freiheit oder Reichtum berücksichtigt werden müssen, um die Selbstzerstörung dieser Bestrebungen zu vermeiden, nicht notwendig mit den Regeln der intersubjektiven Gerechtigkeit identisch. Die Oligarchen könn­ ten versuchen, ihre Clique stabil zu halten und dabei weiterhin die

45 46 47 48 49 44

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

561b-e. 573a,b, 575a,d. 567d. 575e. 351c,d.

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Arbeitskraft Tausender für ihre Zwecke ausbeuten. Ein Tyrann könnte einsehen, daß er die Freiheit einiger anderer respektieren muß, aber das nötigt ihn nicht, allen die gleiche Freiheit wie sich selbst zu gewähren. Zur Vermeidung der Selbstzerstörung ist eine bestimmte Klugheit erforderlich, nicht Gerechtigkeit. Zweitens ist noch nicht klar, daß das von Klugheit und Voraus­ sicht gebändigte Streben nach diesen Gütern schlecht ist oder we­ nigstens schlechter als das Leben dessen, der die Regeln intersubjek­ tiver Gerechtigkeit berücksichtigt. Denn die Forderungen der Gerechtigkeit stellen ja ihrerseits Begrenzungen der spontanen Im­ pulse und Begierden einer Person dar. Auch ein Gerechter kann den Wunsch entwickeln, ein größeres Haus oder einen besseren Platz im Theater haben zu wollen. Viele Methoden, mit denen sich das errei­ chen ließe, sind ihm infolge seiner Gerechtigkeit verschlossen. Infol­ gedessen wird auch er von Frustration und Disharmonie nicht ver­ schont bleiben. Die Einheit, zu deren Herstellung die Vernunft uns auffordert, scheint somit gar nicht in Form einer vollständigen Kon­ fliktfreiheit realisierbar zu sein. Platon müßte nun zeigen, daß die Einheit des Gerechten wenig­ stens vollständiger ist als die der abweichenden Lebensformen. Es gibt zwei Stellen in Platons Analyse, die sich als Argument für diese These entwickeln lassen. Die erste findet sich in Platons Charakteri­ sierung der oligarchischen Selbstbeherrschung. Ihr Streben nach un­ begrenztem Reichtum würden diese nicht durch die Einsicht begren­ zen, daß eine solche Begrenzung besser ist. Sie würden ihr Bestreben auch nicht durch Vernunft zähmen, sondern nur aus Furcht für ihr übriges Eigentum würden sie auf bestimmte Formen der Bereiche­ rung verzichten.50 Die Unterscheidung ist zuerst schwer verständlich. Wenn jemand auf eine Handlung wegen ihrer schlechten Folgen für ihn verzichtet, dann scheint er doch gerade von Vernunft bewegt und beherrscht zu sein. Was für eine Vernunft hat Platon im Auge, wenn er solches Verhalten noch nicht als vernünftig bezeichnet? Das wird besser erkennbar, wenn man eine zweite Stelle hinzuzieht, die das Leben des Tyrannen beschreibt: Der Tyrann sei jemand, der unfähig sei, sich selbst zu beherrschen. Wenn er an die Macht gekommen sei, müsse er aber andere beherrschen. Er gleiche deshalb einem Kran­ ken, der gezwungen sei, sein Leben gleichwohl in einem körperlichen

50 Ebd. 554c,d. ^ 45

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Wettstreit zu führen.51 Der Sinn des Vergleichs scheint dieser zu sein: Ein Tyrann muß zuerst jemand sein, dem es wirklich schwer fällt, seine Begierden zu beschränken. Ansonsten wäre nicht verstehhar, woher die enorme Energie kommt, die man braucht, um eine tyrannische Position zu erobern. Dann aber muß er andere kontrol­ lieren. Und um das tun zu können, muß er Klugheit, Voraussicht und Rücksicht zeigen. All das erfordert aber ebenjene Selbstkontrolle, die ihm besonders verhaßt ist. Das Argument besagt also, daß dem Ty­ rannen die zu seinem Überleben notwendige Selbstbeherrschung be­ sonders schwer fallen wird. Aber was ist die Alternative? Das Gegenbild zu dieser krampf­ haften Selbstbeherrschung geben die in Platons Sinn Erzogenen ab. Ein wesentliches Ziel des in der Politeia entwickelten Erziehungspro­ gramms besteht darin, die Affekte der Zöglinge so weit wie möglich mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen.52 Den zur Gerechtigkeit Erzogenen wird die Beherrschung ihrer Begierden dann sehr viel leichter fallen. Manche Begierden werden sie ganz verloren und andere durch Gewöhnung abgeschwächt haben. Ihre seelische Disposition wird also tatsächlich harmonischer sein, als die eines Tyrannen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß in letzterem starke Impulse vorhanden sind, die er gleichwohl aus Sorge um sein zukünftiges Wohl immer wieder unterdrücken muß. Er­ schwerend kommt hinzu, daß es hier nicht vorstellbar erscheint, die Kontrolle dieser Impulse in Form einer Gewohnheit auszubilden und damit zu vereinfachen, weil es keine klare Regel dafür gibt, wann diese Impulse unterdrückt werden müssen. Die tyrannische Vor­ sichtsregel »Ich will meine Launen immer dann kontrollieren, wenn es gefährlich wäre sie auszuleben« ist kein Prinzip, das die Ausbil­ dung einer Gewohnheit erlaubte, weil es keine Regel dafür gibt, wel­ che Form des Egoismus in einer Situation zu gefährlich wäre. Damit wird Platons Kritik an der Selbstbeherrschung der Olig­ archen verständlich. Diese sind zwar in dem Sinn von der Vernunft geleitet, daß sie sich auf ihr Leben im Ganzen beziehen und entspre­ chend handeln, aber sind zugleich nicht von Vernunft geleitet, weil sie nichts unternehmen, um einige ihrer Begierden abzustreifen. Das Ziel der Vernunft besteht nicht nur in der Herstellung einer Einheit 51 Ebd. 579c,d. 52 Vgl. etwa die von Platon erwartete Auswirkung von Musik und Gymnasik (Politeia, Buch III). 46

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der Person in Form der Selbstbestimmung durch ein Prinzip. Die Vernunft fordert zugleich die Herstellung einer so weit wie möglich spannungsfreien affektiven Struktur, einer entsprechenden Disposi­ tion. Nicht der ist Besonnen, der nur unter großen Schmerzen auf eine Handlung verzichten kann, die seinen Zielen zuwiderläuft, son­ dern erst der, dem dies leicht fällt, weil die entgegengesetzten Impul­ se so weit wie möglich abgeschwächt wurden. Erst hiermit geht Pla­ ton über das instrumentelle Vernunftmodell hinaus. Es geht nicht länger darum, gegebene Bedürfnisse und Leidenschaften ausgewo­ gen zu befriedigen, sondern darum eine psychische Struktur herzu­ stellen, die dem von der Vernunft erzeugten Ideal der Einheit der Person so weit wie möglich entspricht. Anders als bei Gauthiers Ver­ teidigung der gerechten Disposition ist das entscheidende Argument nicht die Entdeckungsgefahr, sondern der zur Vermeidung einer Ent­ tarnung bzw. zur Verteidigung einer Vorherrschaft notwendige in­ nerseelische Aufwand. Doch auch diese Einbeziehung der affektiven Dimension reicht für die Ausweisung von Platons These bezüglich der Identität des guten und des gerechten Lebens nicht aus. Das grundsätzliche Pro­ blem des Harmoniearguments besteht darin, daß die angestrebte Harmonie selbst wieder als ein Gut unter anderen betrachtet werden kann. So könnten etwa die Mitglieder einer von Klugheit geleiteten und entsprechend eingeschränkten oligarchischen Clique einräumen, daß sie in einem gewissen Ausmaß unter dem Zwang zur Selbst­ beherrschung leiden. Doch andererseits würden sie, wenn sie sich plötzlich zu völliger Gerechtigkeit durchringen würden, so viele Vor­ teile verlieren, daß es ihnen alles in allem besser erscheinen kann, ungerecht und reich zu bleiben. Platons Argumentation ist sicher dort erfolgreich, wo die für ein verletzliches und auf Kooperation angewieseses Lebewesen stets notwendige Selbstbeherrschung je­ mandem extrem schwer fällt, einen Großteil seiner psychischen Energie verzehrt und diese Person zugleich von massiven Ängsten geplagt wird. All das mag auf den Tyrannen zutreffen. Aber diese Übel treten eben bei verschiedenen Lebensentwürfen in unterschied­ licher Stärke auf. Kann es nicht durchaus rational sein, bestimmte seelische Spannungen um anderer Vorteile willen in Kauf zu neh­ men? Platon würde vermutlich entgegnen, daß die eben skizzierten kontrollierten Oligarchen nicht die für sein Argument geeignete Testgruppe darstellen. Sicher würden Menschen, die jahrelang durch ^ 47

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die Ausbeutung anderer einen bestimmten Lebensstil pflegen konn­ ten, ihre Villen, Kunstschätze und vielleicht auch ihre Muße vermis­ sen und entsprechend leiden, wenn sie plötzlich das meiste davon in gerechter Weise mit anderen teilen würden. Aber dieses Leiden sei nicht notwendig, es trete nur auf, weil die Bedürfnisse der Reichen eben nicht auf die richtige Weise entwickelt worden seien. Sobald sie ihre Bedürfnisse ändern und den Prinzipien der Gerechtigkeit anpas­ sen würden, würden sie auch nicht mehr leiden und wären ohne see­ lische Verspannungen in der Lage, mit all denen zu kooperieren, die von denselben Prinzipen geleitet werden. Doch dieses Argument ist mit drei Problemen konfrontiert: 1. Es unterstellt, daß es für alle, deren Bedürfnisse der Gerech­ tigkeit zuwiderlaufen, möglich ist, ihre Antriebstruktur entspre­ chend zu ändern. Es ist nicht evident, daß alle dazu in der Lage sein werden. Doch ganz sicher wird es vielen, die nicht schon in dieser Hinsicht erzogen worden sind, sehr schwer fallen, sich selbst entspre­ chend zu ändern. Die mit der Selbst-Umerziehung verbundenen Mühen können eventuell größer sein, als die mit der schließlich er­ reichten Freiheit von Spannungen verbundene Zufriedenheit. 2. Es ist zudem fraglich, wie vollständig die von Platon favori­ sierte Harmonie überhaupt sein kann. Es scheint schwer vorstellbar, daß die Bedürfnisse selbst eines in Platons Sinn seelisch wohlgeord­ neten Menschen schlicht verschwinden, sobald er herausgefunden hat, daß ihre Befriedigung nur durch ungerechtes Handeln möglich ist. Das Bedürfnis eines Kunstliebhabers, eine Statue in seinem Gar­ ten aufzustellen, verschwindet normalerweise nicht einfach, wenn er feststellen muß, daß deren Anschaffung nur durch einen Betrug zu finanzieren wäre. Die Führungsrolle der Vernunft wird oft eben auch das sein, was zur Freundschaft mit sich nicht gut paßt - Herrschaft über die Begierden. Wenn der Kunstliebhaber unter dieser Herr­ schaft auf den Betrug verzichtet, wird aber eine Frustration zurück­ bleiben, deren Stärke von der Intensität seiner Kunstbegeisterung abhängig ist. Doch dann ist es möglich, daß die mit Gerechtigkeit verbundenen Enttäuschungen und Spannungen größer sind als die mit Ungerechtigkeit verbundenen. Und ganz sicher gibt es einige mit der Gerechtigkeit möglicherweise verbundene Leiden, von denen es nicht vorstellbar ist, daß der Gerechte sie durch eine Modifikation seiner Bedürfnisstruktur vermeiden kann. Dazu gehören Beschädi­ gungen der körperlichen Integrität und Freiheitsberaubungen. Es sind Umstände denkbar, in denen die Gerechtigkeit verlangen kann, 48

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solche Beschädigungen in kauf zu nehmen. Es erscheint recht leicht­ fertig zu sagen, daß es in allen solchen Situationen besser ist, der Gerechtigkeit treu zu bleiben. 3. Selbst wenn es rational wäre, unter allen Umständen jene Gerechtigkeitspflichten zu erfüllen, die die Unterlassung bestimm­ ter Handlungen verlangen, damit scheint das Spektrum der mora­ lisch geforderten Handlungen nicht erschöpft. Wie steht es mit den positiven Pflichten, etwa mit der, anderen in Not zu helfen? Dieses Problem ist von Platon vernachlässigt worden. Er scheint angenom­ men zu haben, daß die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden nur wenige positive Pflichten beinhalten, z. B. solche gegenüber Freun­ den und Familienmitgliedern. Solche positiven Pflichen erzwingen zumeist keine drastischen Beschneidungen der eigenen Interessen. Die Lage ändert sich dramatisch, sobald man annimmt, daß die Exi­ stenz solcher Pflichen nicht vom Grad der Vertrautheit mit den Notleidenden abhängt, sondern schlicht von der Tatsache, daß je­ mand leidet. Offenkundig ist ein viel größerer Verzicht auf Dinge und Tätigkeiten, die einem Freude bereiten könnten, nötig, sobald man versucht, solchen weitreichenden Pflichten nachzukommen. Umso unwahrscheinlicher wird es, daß man von einem solchen Le­ ben zeigen kann, daß es besser ist als alle weniger gerechten Lebens­ formen. Platons Ansatz scheint somit in einem Dilemma gefangen: - Er könnte entweder seine These, daß die gerechten Handlungen die sind, die Harmonie in der Seele erzeugen, als konstitutiv oder definierend verstehen. Dann wären einfach nur die Handlungen gerecht, die eine solche Harmonie herbeiführen oder wenigstens nicht gefährden. Wenn sich dann etwa zeigen sollte, daß die Hilfe für Menschen in Not beschwerlich und spannungserzeugend ist, dann wäre diese Hilfe eben keine Tugend, keine moralische Ver­ pflichtung. Aber offenkundig wäre mit einer solchen handstreich­ artigen Lösung nichts gewonnen. Die Erwartungen an gerechtes Verhalten lassen sich nicht wegdefinieren. Auch wenn diejenigen, die gar nicht erst versuchen, Notleidenden zu helfen, ein harmo­ nischeres Leben führen, das allein scheint noch kein ausreichendes Argument für die moralische Richtigkeit ihres Lebens zu sein. Und noch viel weniger würden die Opfer eines Tyrannen aufhören, des­ sen Verhalten ungerecht zu nennen, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß die tyrannische Lebensweise die größte Harmonie der Seele verwirklicht. Der Begriff der Gerechtigkeit erweist sich als ^ 49

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resistent gegenüber Versuchen, ihn den Implikationen einer Theo­ rie der Einheit der Person anzupasssen. - Platon könnte andererseits an den konventionellen Erwartungen an gerechtes Verhalten festhalten. Doch dann ist die von ihm ent­ wickelte Theorie des guten Lebens nicht in der Lage, das Gutsein solchen Verhaltens in allen Situationen zu beweisen.53 Zudem ist es unbefriedigend, einfach von einem in der jeweiligen Gesell­ schaft verbreiteten Kanon von moralischen Überzeugungen aus­ zugehen. Auch wenn etwa die Griechen die Existenz universaler positiver Pflichen verneint haben, dieses Faktum beweist nicht sei­ ne eigene Richtigkeit. 1.2.2.

Nagel

Das grundsätzliche Problem von Platons Argumentation besteht dar­ in, daß sie ihrer Struktur nach egozentisch ist. Er adressiert seine Argumente an Individuuen, die sich fragen, wie sie gut leben können, wie ihre seelische Beschaffenheit sein muß, um die Glückseligkeit zu erreichen. Diese Egozentik impliziert, wie deutlich geworden ist, kei­ neswegs eine rücksichtslose Einstellung gegenüber anderen. Alle sind auf Kooperation angewiesen und auch offene und nicht-instru­ mentalisierende Freundschaften haben für Platon einen hohen Stel­ lenwert. Gleichwohl, all dies sind Befindlichkeiten, an denen ein Individuum deshalb ein Interesse nimmt, weil es eben seine Befind­ lichkeiten sind. Auch die Vernunft ist bei Platon auf die Herstellung der Einheit der je eigenen Person bezogen. Diese Bezogenheit auf die eigene Person versucht Thomas Nagel zu überspringen. Für ihn ist die Vernunft gar nicht primär auf die eigenen Zustände bezogen, sondern auf Zustände. Zustände wie Schmerz werden von der Ver­ nunft als objektiv schlecht erkannt. Unabhängig davon, um wessen

53 Für die Ethik des Aristoteles hat Ursula Wolf gezeigt, daß man von den Tugenden der Tapferkeit und der Besonnenheit mit recht behaupten kann, daß sie notwendig für ein gutes Leben sind (Wolf, 1988, S. 67). Sie sind notwendig, weil sie ein Individuum befä­ higen, seine Ziele konsequent zu verfolgen. Doch in dem Sinn, wie die Tugenden zu einem guten Leben erforderlich sind, haben sie nicht notwendig einen moralischen Ge­ halt. Die eigentlich moralischen Tugenden wie Nächstenliebe oder Gerechtigkeit, erge­ ben sich dagegen weder aus der von Aristoteles für fundamental angesehenen MesotesStruktur, noch läßt sich zeigen, daß sie zu Führung eines guten Lebens unbedingt erforderlich sind (ebd. S. 73f.). 50

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Schmerz es sich handelt, fordert uns die Vernunft auf, solche Zu­ stände zu beenden. Nagel hat die beiden wesentlichen Komponenten seines An­ satzes bereits in seinem ersten Buch - The Possibility of Altruism herausgestellt: Es geht ihm erstens darum, eine Motivation zum ethischen Handeln freizulegen, die aus der Wahrheit der moralischen Behauptungen unmittelbar hervorgeht. Die Ethik soll nicht abhängig sein von Motiven, die auch ganz unabhängig von ethischen Kontex­ ten verstanden werden können, wie etwa die Furcht vor einem ge­ waltsamen Tod bei Hobbes. Die Ethik muß deshalb Entdeckungen über die menschliche Motivation liefern.54 Seine These ist dann zweitens, daß die moralische Motivation aus dem Verständnis unse­ rer selbst als lediglich einer Person unter anderen, ebenso realen Per­ sonen hervorgeht. Diesem Selbstverständnis können wir nicht ent­ kommen und deshalb sind wir notwendig empfänglich für moralische Ansprüche.55 Innerhalb dieses Rahmens hat Nagel seine Theorie in The View from Nowhere modifiziert und weiter ausgearbeitet. Diese spätere Argumentation läßt sich in vier Schritte gliedern: i. Als rationale Wesen haben wir die Fähigkeit, uns von außen zu sehen, von einem unpersönlichen Standort (impersonal standpoint).56 Von diesem Standpunkt aus, kann sich jeder nur als ei­ nen unter anderen sehen. ii. Aufgrund einer gemeinsamen Bewertungsfähigkeit (common evaluative faculty) können rationale Wesen auch jenseits ihrer partikularen Perspektive, eben von jenem unpersönlichen Stand­ punkt (impersonal standpoint) aus, noch Werturteile abgeben. Diese Werturteile sind dann objektiv und so erhalten wir objek­ tive Werte.57 Die Objektivität oder Realität der Werte bedeutet, daß Behauptungen über Werte und darüber, was zu tun Men­ schen einen Grund haben, unabhängig von ihren Überzeugungen und Neigungen (beliefs and inclinations) wahr und falsch sein können, daß es unabhängig von ihren Neigungen Gründe gibt, etwas zu tun oder zu lassen.58

54 55 56 57 58

Nagel, 1970, S. 13; 1986, S. 139. Nagel, 1970, S. 14. Nagel, 1986, S. 140. Ebd. S. 148. Ebd. S. 144. ^

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iii. Die objektive Schlechtigkeit von etwas liefert nicht nur jeder Per­ son einen Grund, dies für sich selbst zu vermeiden, sondern zu­ gleich einen personen-neutralen Grund, dies verhindern zu wol­ len, wo auch immer es auftritt.59 Neutrale Gründe sind solche, die keine wesentliche Bezugnahme auf eine spezifische Person ha­ ben, für die sie Gründe sind.60 iv. Die objektiven Werturteile liefern das wichtigste Element der Moraltheorie.61 Ich gehe die Thesen der Reihe nach durch. Zur ersten und zweiten These: Es ist zuerst sehr wichtig zu bestimmen, was genau diesen unpersön­ lichen Standpunkt definiert. Denn davon wird es letztlich abhängen, ob man es plausibel findet, daß von ihm aus die von Nagel angeführ­ ten Werturteile abgegeben werden können. Nagel gibt zuerst nur negative Bestimmungen: Wenn wir den subjektiven Standpunkt ver­ lassen, dann lassen wir unsere eigenen Wünsche Neigungen und die Werte und Gründe, die von da aus akzeptabel erscheinen, hinter uns.62 Dieser Schritt hat eine Parallele im theoretischen Verhältnis zur Welt: Auch hier kann man die eigene Position imaginativ verlas­ sen und sich selbst und alle anderen nur noch als Elemente einer Welt betrachten, in der Erfahrungen gemacht werden und Interaktionen stattfinden.63 Wenn es um die Realität von Fakten geht, müssen wir uns bemühen, einen distanzierten Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir, was uns nur so erscheint, korrigieren und die Realität erkennen können. Und ganz analog, so Nagel, müssen wir, wenn es um die Realität von Werten geht, von unseren Neigungen abstrahie­ ren und zu erkennen versuchen, was wir wirklich tun sollen.64 Aber auch wenn man diese mentalen Operationen für durch­ führbar hält, sie sind im Bereich des Wertens mit zwei Problemen verbunden: 1. Wenn man alle subjektiven Interessen abstreift, bleiben dann 59 Ebd.S. 158/9. 60 Ebd. S. 153. Nagels Beispiel für einen neutralen Grund ist »vermindert das Elend in der Weltargument of queerness< von Mackie. Danach wären objek­ tive Werte insofern absonderliche Entitäten, weil sie durch Vernunft erkennbar sein und zugleich die Fähigkeit haben müßten, uns zu motivieren. Solche Werte wären nicht vereinbar mit dem seit Hume vorherrschenden Verständnis von Vernunft, wonach diese eben allein nicht zu Handlungen motivieren kann, sondern dazu von anders­ woher ein Motiv braucht.66 Dieser Kritik versucht Nagel mit einer Präzisierung seiner These zu entgehen: »The view that values are real is not the view that values are real occult entities or properties, but that they are real values: that our claims about value 65 Ebd. S. 146. 66 Vgl. Mackie, 1981, S.46f. ^

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and about what people have reason to do may be true or false independently of our beliefs and inclinations.«67

Daß es solche realen oder auch objektiven Werte gibt, versucht Nagel an den Phänomenen Lust und Schmerz zu demonstrieren. Seine The­ se, daß Schmerz etwas objektiv Schlechtes ist, will er dementspre­ chend nicht als These über eine mysteriöse Qualität von Schmerzen verstanden wissen, sondern eben nur so, daß es für jeden, der die Welt objektiv sieht, einen Grund gibt, das Aufhören der Schmerzen zu wünschen. Wenn man starke Kopfschmerzen habe, dann erschie­ nen einem diese nicht nur unangenehm, sondern als »a bad thing. Not only do I dislike it, but I think I have a reason to get rid of it«.68 Zum Nachweis der objektiven Schlechtigkeit von Schmerz muß Nagel nun also einen Grund für die Vermeidung von Schmerzen namhaft machen, der unabhängig ist von jedermanns ohnehin beste­ hender Neigung, Schmerzen zu vermeiden. Um die Existenz eines solchen Grundes zu plausibilisieren, weist Nagel zuerst auf eine Kon­ sequenz hin, die nach seiner Überzeugung eintreten würde, wenn Lust und Schmerz keine objektiven Werte bzw. Unwerte wären. Man könne dann zwei Aussagen nicht mehr machen:69 1. Man könne nicht mehr sagen, daß man selbst einen Grund habe, Aspirin gegen starke Kopfschmerzen zu nehmen, wie immer man auch faktisch motiviert sei. 2. Aus der Außenperspektive könne man nicht mehr sagen, daß je­ mand allein wegen der Schmerzen einen Grund habe, seine Hand nicht auf eine heiße Herdplatte zu legen. Doch in beiden Fällen ist erstens nicht klar, wie sie genau beschaffen sind und deshalb auch nicht, was sie zur Stützung der These, daß wir Gründe haben, Schmerzen zu vermeiden, beitragen können. Beginnen wir mit dem ersten: Jemand hat Kopfschmerzen aber kein Motiv, Aspirin zu nehmen. Gleichwohl meint Nagel, daß für die Person ein Grund besteht, Aspirin zu nehmen. Doch warum soll das so sein? Wenn die Person z. B. weiß, daß sie eine Aspirin-Allergie hat oder der Theorie anhängt, daß man nicht immer gleich zum Medi­ zinschrank greifen soll, dann ist nicht erkennbar, welche Gründe sie gleichwohl haben könnte, Aspirin zu nehmen. Nagel müßte seine These also mindestens vorsichtiger formulieren. Ein von den fakti67 Nagel, 1986, S. 144. 68 Ebd. S. 145. 69 Ebd. S. 157. 54

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sehen Neigungen einer Person unabhängiger Grund zur Einnahme der Tabletten würde sieher dann bestehen, wenn die Person einerseits den Wunseh hat, ihre Sehmerzen sehnell loszuwerden und nur nieht weiß, daß Aspirin ein für sie geeignetes Mittel dazu ist. Aber die Existenz eines Grundes in diesem Fall kann Nagel nieht helfen, seine These zu plausibilisieren, daß wir unabhängig von unseren Neigun­ gen einen Grund haben, Sehmerz zu vermeiden. Denn dieser Grund ergab sieh nur unter der Voraussetzung, daß die Person sehon eine Aversion gegen Sehmerzen hat. Und dasselbe gilt für den zweiten Fall: Natürlieh hat jeder, der Sehmerzen vermeiden will, wenigstens eeteris paribus einen Grund, Handlungen zu unterlassen, die Sehmerzen herbeiführen - z.B. seine Hand nieht auf eine heiße Herdplatte zu legen. Doeh aueh hier bezieht sieh der Grund auf das Mittel, die fragliehe Handlung, und nieht auf das Sehmerzvermeidenwollen selbst. Unsere Abseheu vor Sehmerzen gibt uns gute Gründe, vieles zu vermeiden, was uns Sehmerzen bereitet. Aber dar­ aus folgt nieht, daß wir einen Grund haben, Sehmerzen zu vermei­ den - wir wollen das einfaeh unmittelbar. Doeh gerade einen solehen, von Neigungen unabhängigen Grund müßte Nagel herausarbeiten, um seine These von Lust und Sehmerz als objektiven (Un-)Werten auzuweisen. So ist es wohl kein Zufall, daß Nagel dieser Überlegung eine zweite, die zum selben Ziel führen soll, folgen läßt. In dieser verläuft die Argumentationsriehtung allerdings gerade umgekehrt: Er versueht zuerst zu zeigen, daß man aueh vom objektiven Standpunkt Lust und Sehmerz als gut bzw. sehleeht bezeiehnen würde. Und dieser Umstand soll dann ein Beleg für deren objektive (Un-)Werthaftigkeit sein. Zur Plausibilisierung des ersten Sehritts zeigt Nagel, daß eine rein funktionale Theorie des Sehmerzes, naeh der dieser niehts in sieh Sehleehtes ist, sondern nur die Funktion hat, uns vor unliebsamen Folgen zu warnen, unzureiehend ist. Sehmerz ist für uns aueh in sieh sehleeht. Aueh vom objektiven Standpunkt aus könne man sieh nieht enthalten, die unmittelbaren subjektiven Urteile über Lust und Sehmerz zu bekräftigen. So kommt man zu zugleieh subjektiven und objektiven Werturteilen über Lust und Sehmerz. Aus dieser Be­ stätigung unserer subjektiven Urteile aus der objektiven Perspektive zieht Nagel nun ein überrasehendes Fazit: »we have reason to seek/ avoid sensations we immediately and strongly like/dislike«.70 Das 70 Ebd. S. 157/8. ^

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Fazit ist überraschend, weil von Gründen in der Zurückweisung der funktionalen Theorie des Schmerzes bislang gar nicht die Rede war. Der Übergang wird nur verständlich auf dem Hintergrund von Na­ gels Voraussetzungen: Objektiven Werturteilen müssen auch objek­ tive Werte korrespondieren, und diese wiederum müssen per definitionem auf Gründen beruhen. Doch worin sollen diese Gründe bestehen? Der obigen Analyse zufolge kommt als Grund nur das in Frage, was aus der objektiven Perspektive über den Schmerz gesagt werden kann, eben daß er schlecht ist oder, wie Nagel wenig später sagt, etwas Schreckliches.71 Dementsprechend könnte nun jemand auf die Frage »Warum willst Du Schmerzen vermeiden?« antworten: »Weil der Schmerz so schrecklich, eine schlechte Sache ist.« Das Ver­ meidenwollen ergäbe sich so aus der Schmerzwahrnehmung und einer negativen Bewertung dieser Empfindung. Doch diese Rekonstruktion des Zusammenhangs von Schmerz und Wille über ein objektives Werturteil ist problematisch. Denn wenn es sich dabei um ein Werturteil handelt, dann müßte, selbst wenn sich in der negativen Bewertung alle einig sind, das entgegen­ gesetzte Urteil doch mindestens möglich sein. Und eben das ist nicht der Fall. Das wird deutlich, wenn man sich überlegt, wie man auf das entgegengesetzte Werturteil >Schmerz ist eine gute Sache< reagieren würde. Um Mißverständnisse auszuschließen, würde man wohl zu­ erst fragen, was der Vertreter dieser erstaunlichen These unter >eine gute Sache< versteht. Falls er antwortet »Etwas Erfreuliches, etwas, was ich gerne haben möchte«, wären wir soweit in Einklang mit ihm. D. h. zwischen dem Eine-gute-Sache-Sein und dem Erstrebt-Sein be­ steht ein analytischer Zusammenhang. Man kann nicht sagen »X ist eine gute Sache« und dann von X auch unter ceteris-paribus-Bedingungen lieber verschont bleiben wollen. Um zu prüfen, was er unter Schmerz versteht, würden wir ihn dann vielleicht in den Arm knei­ fen und fragen, was er fühlt. Und nun müßte er antworten: »Schmerz. Es war wunderbar. Bitte kneif mich noch einmal.« Jetzt wären wir perplex. Zuerst wären wir vielleicht bereit einzuräumen, daß er wirklich solche Gefühle gehabt hat, die wir mit Schmerz be­ zeichnen, daß er diese aber seltsamerweise mag. Doch dann würden wir uns fragen, was dieses Mögen bedeuten kann. Sicher kann je­ mand Schmerzen mögen. Etwa weil er denkt »Je mehr ich leide, desto mehr werde ich von Gott geliebt«. Doch wenn wir solche komplizier­ 71 Ebd. S. 160. 56

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ten Gründe einmal beiseitelassen, und nur nach den unmittelbaren körperlichen Reaktionen fragen, dann wird die Aussage »Ich fühle Schmerz. Es ist wunderbar. Ich möchte mehr davon.« unhaltbar. Denn wenn es sich so wunderbar anfühlt, wo steckt dann noch der Schmerz in der Empfindung? Wir würden stattdessen auf folgender Definition beharren: Wenn jemand etwas spürt und dies gut nennt und damit meint, daß er diese Empfindung als solche gern haben möchte, dann war es Lust, was er gefühlt hat. D. h. der Zusammen­ hang zwischen Lustempfindung, Etwas-als-gut-Bezeichnen und dem suchenden Verhalten ist, jedenfalls unter ceteris-paribus-Bedingungen, insgesamt ein analytischer. Wenn jemand den Satz >Schmerz ist eine gute Sache< äußert, dann gebraucht er deshalb einen der darin vorkommenden Begriffe auf falsche Weise. Und wenn der Satz >Schmerz ist eine gute Sache< analytisch falsch ist, dann ist es unsin­ nig seinen Gegen-Satz >Schmerz ist eine schlechte Sache< als ein ob­ jektives Werturteil zu bezeichnen, zu dessen Formulierung man ein wunschunabhängiges evaluatives Vermögen benötigt.72 Es handelt sich schlicht um ein analytisch wahres Urteil. Wir können das Urteil formulieren, aber das ist kein Beleg dafür, daß wir neigungsunabhän­ gige Gründe dafür haben, Schmerzen zu vermeiden. Schmerz und Vermeidungswunsch sind nicht über ein Werturteil verbunden, son­ dern unmittelbarer aneinander gekoppelt. Zwischen beidem ist kein Raum für ein Werturteil. Es gibt hier keine irgendwie neutrale Emp­ findung, die dann bewertet und erst danach abgelehnt wird. Der Schmerz produziert vielmehr unmittelbar und kausal das Bedürfnis, ihn zu vermeiden. Deshalb haben wir zwar notwendig das Bedürfnis, nicht aber einen Grund, Schmerzen zu vermeiden. Das Bedürfnis ist das Primäre und das Werturteil eine nachträgliche Konstruktion. Deshalb ist das auf dem unpersönlichen Standpunkt gefällte Urteil >Schmerz ist eine schlechte Sache< keine Beweis dafür, daß irgend jemand neigungsunabhängig einen Grund hat, seinen eigenen Schmerz abzustellen. Doch selbst wenn man bereit ist, die Schrecklichkeit des Schmer­ zes wenigstens in Anführungszeichen als >Grund< für dessen Vermei­ dung zu akzeptieren, wäre Nagels Beweisziel damit noch nicht er­ reicht. Denn was wäre mit der Möglichkeit, auf diesen Grund zu verweisen, für die ursprüngliche These geleistet, daß wir Aussagen über den Wert und darüber, was Personen einen Grund haben zu tun, 72 Ebd. S. 143,148. ^

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machen können, die unabhängig sind von den Meinungen und Nei­ gungen der Personen? Kann man jemandem nun andemonstrieren, daß er einen Grund hat, seine Schmerzen zu beenden, selbst wenn er seltsamerweise keine Neigung dazu hat? Ich sehe nicht, wie das ge­ hen soll. Zur dritten und vierten These: Man könnte die Frage, ob es nun einen Grund gibt, seine Schmerzen abzustellen, oder ob jedermann nur notwendig dieses Bedürfnis hat, als akademisch abtun, wenn Nagel von dieser Transformation nicht an bedeutenderer Stelle wiederum Gebrauch machen würde - näm­ lich beim Übergang zu seiner dritten These. Die Frage ist für ihn nun, ob jedermann lediglich einen personenbezogenen (agent-relative) Grund hat, seine eigenen Schmerzen zu lindern, oder ob jedermann auch einen neutralen (agent-neutral) Grund hat, Schmerzen gene­ rell, also auch die Schmerzen anderer, zu lindern.73 Seine These ist, daß es diesen neutralen Grund gibt. Zur Stützung dieser Überzeugung präsentiert Nagel eine be­ scheidenere Version seines schon in The Possibility of Altruism ent­ wickelten Dissoziationsarguments:74 Wenn jemand meint, daß es nur personenbezogene Gründe gibt, Schmerz zu vermeiden, dann könne er zwar sagen, er als Leidender habe »a reason to want an analgesic«, müsse zugleich aber einräumen, daß »there is no reason for him to have one, or for anyone else who happens to be around to give him one«.75 Doch diese Sichtweise soll zu einer Dissoziation führen, die in einer gespaltenen Haltung gegenüber den eigenen Leiden besteht: Als objektiver Beobachter könne man dann zwar sehen, daß da je­ mand oder gar man selbst einen Grund hat, das Aufhören des Schmerzes zu wünschen, aber man könne (als dieser Beobachter) keinen Grund sehen, warum der Schmerz aufhören soll. Hier wird zuerst deutlich, warum für Nagel die These wichtig ist, daß wir einen Grund haben, Schmerzen zu vermeiden. Wenn wir gegen Schmerzen nur eine Aversion hätten, so wie wir etwa eine Abneigung gegen Spinat haben können, dann wäre es gar nicht ver­ wunderlich, daß aus der objektiven Perspektive von beidem nichts übrigbleibt. Der Aufstieg zum unpersönlichen Standpunkt ist 73 Ebd.S. 158/9. 74 Vgl. Nagel, 1970, S. 107f. 75 Nagel, 1986, S. 160. 58

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schließlich gerade dadurch definiert, daß dahei alle Neigungen Zurückbleiben sollen. Aher wenn es einen Grund giht, Schmerzen zu vermeiden, und wenn dieser in der Erkenntnis von deren Schreck­ lichkeit besteht, dann könnte der objektive Beobachter ebenfalls über diesen Grund verfügen. Und genau dafür argumentiert Nagel: »But the pain ... is just as clearly hateful to the objective self as to the subjective individual. I know what it's like even when I contemplate myself from outside«.76 Auch wenn man den Schmerz nicht als den eigenen vorstellt, verliert er nichts von seiner Schrecklichkeit. »That is why it is natural to ascribe to it a value of its own.«77 Die Bewer­ tung des objektiven Beobachters bezieht sich also auf den Schmerz selbst, unabhängig davon, wer ihn hat. Nagel läßt ihn das Fazit zie­ hen: »This experience ought not to go on, whoever is having it.«78 Doch die Bedeutung dieses Fazits ist nicht klar. Was soll das >ought not to go on< darin heißen? Wenn es nur besagen soll >Jeder Schmerzen Leidende hat einen Grund, sie loswerden zu wollenDie Welt wäre ein besserer Ort, wenn es darin keine Schmerzen gäbeought< besagt, daß es für den objektiven Beobachter einen Grund gibt, etwas gegen Schmerzen zu tun, wo immer sie auftreten, hätte Nagel sein Ziel erreicht. Doch gerade das läßt sich nicht ableiten. Es ist zwar ein­ leuchtend, daß auch aus der objektiven Perspektive der Schmerz als eine schlechte Sache bezeichnet wird. Dazu gibt es, wie die obige Überlegung gezeigt hat, gar keine Alternative. Aber wie soll daraus ein Grund werden, etwas gegen Schmerzen, wo immer sie auftau­ chen, tun zu wollen? Das könnte nur dann folgen, wenn sich unsere Aversion gegen Schmerzen und unser schmerzvermeidendes Han­ deln allein aus der Erkenntnis ergäben, daß Schmerz eine schlechte Sache ist. Aber das stimmt eben nicht. Was uns dazu bringt, Schmer­ zen abstellen zu wollen, ist nicht allein die Erkenntnis von deren Schrecklichkeit (falls es die überhaupt gibt), sondern der Umstand, daß wir selbst Schmerzen haben. Der objektive Beobachter aber lei­

76 Ebd. S. 160. 77 Ebd. S. 160. 78 Ebd. S. 161. ^

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det keine Schmerzen, er weiß nur, was die von ihm beobachteten Subjekte davon halten. Für ihn gibt es deshalb gar keinen Grund, irgendetwas gegen Schmerzen zu tun. Somit wird es tatsächlich zu der von Nagel beschriebenen Dis­ soziation kommen: Jeder hat einen Grund (oder, wenn die obige Kri­ tik stimmt, nur das Bedürfnis), seine Schmerzen zu beenden, aber für den objektiven Beobachter gibt es keinen Grund, in die Welt ein­ zugreifen. Das mag uns gefallen oder auch nicht. Aber wenn es uns mißfällt, ist das leider kein Grund dagegen, daß es sich so verhält. Die Welt ist nicht unbedingt so, wie wir sie uns wünschen. Nagel hat sehr zu Recht daraufhingewiesen, daß einige unserer emotionalen Reaktionsformen schwerer erklärbar werden, sobald man leugnet, daß jeder allein wegen der Schrecklichkeit des Schmer­ zes einen Grund hat, diesen vermindern zu wollen, wo auch immer er auftritt. Das vielleicht wichtigste Beispiel ist das Übelnehmen (resentment): Beim Übelnehmen würde man es nicht nur nicht mögen, auf eine bestimmte Weise behandelt worden zu sein, sondern man denke, daß die eigene Not für den anderen einen Grund darstellt, nicht so zu handeln. Ein radikaler Egoist müsse dagegen bereit sein zuzugeben, daß es für jemanden, der ihn peinigt, keinen Grund gibt, davon abzulassen. Und das verlange schon ein ungewöhnliches Maß von Objektivität (detachment).79 Doch darum, die Dinge objektiv zu sehen, geht es ja gerade in der Philosophie. Das bloße Wissen, daß die Schmerzen eines anderen schrecklich sind, erzeugt jedenfalls keines­ wegs notwendig den Wunsch, diese zu lindern. Sadisten, Folter­ knechte und Gleichgültige sind Beweise für das traurige Gegenteil. Und auch daraus, daß der Übelnehmende meint, es müsse doch

79 Nagel, 1970, S. 83, 85. Ein anderer, von Nagel wiederholt bemühter Fall, ist der zwei­ er Krankenhauspatienten, die beide starke Schmerzen leiden. Einer von ihnen äußert die Hoffnung, daß beide die erforderlichen Schmerzmittel erhalten werden. Wie ist diese Haltung erklärbar? Wenn jeder nur Grund hat, seine eigenen Schmerzen zu vermin­ dern, warum sollte jemand dann wünschen, daß beide ein Mittel bekommen? Geschieht das nur, weil ihn das anhaltende Stöhnen des anderen stören würde? Diese Erklärung hält Nagel offenkundig für absurd. In Die Grenzen der Objektivität erklärt Nagel alle Modelle zur Erklärung dieser Haltung für verfehlt, die versuchen von den Interessen des Individuums auszugehen und sich von diesen nach außen, d. h. auf die Einbeziehung anderer hin, vorzuarbeiten. Solche Ableitungsversuche seien der wahren Natur der Si­ tuation klar zuwider. »Mein Grund dafür, zu wollen, die Schmerzen des Mannes neben mir mögen aufhören, ist allein der, daß sie schrecklich sind und ich das weiß« (Nagel, 1991, S. 58). 60

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Gründe für den anderen geben, ihn nicht so zu behandeln, folgt leider nicht, daß diese Gründe auch existieren.80 Doch selbst wenn man einmal zugesteht, daß Wesen mit der Fähigkeit, einen objektiven Standpunkt einzunehmen und von dort aus über Schmerz nachzudenken, wenigstens einen gewissen Grund haben, das Verschwinden des Schmerzes zu wollen, damit allein wäre noch nicht viel erreicht. Wenn Nagels Analyse richtig wäre, daß Lust und Schmerz neutrale Werte sind, uns also, wo immer sie auftau­ chen, Gründe für Handlungen liefern, dann würde sich das, was wir anderen schulden, entlang der Linien eines hedonistischen, neutralen Konsequentialismus ergeben.81 Eine solche Moral verlangt bekannt­ lich eine Menge von ihren Anhängern. Nagel ist Realist genug, um zu sehen, daß diese Forderungen in schmerzlichem Widerspruch zu unseren perönlichen Wünschen, Vorhaben und Bindungen geraten werden. Diesen Zielen entsprechen in Nagels Terminologie Gründe der Autonomie. Wie sind dann diese Gründe im Verhältnis zu den neutralen Gründen zu gewichten? Für Nagel ist das Problem nicht dadurch lösbar, daß wir eine dieser Arten von Gründen einfach preisgeben. Denn wir sehen die Welt notwendig sowohl von unserem je subjektiven wie vom objek­ tiven Standpunkt aus. Zu jeder Perspektive gehören Werte. Die sub­ jektive Perspektive führt zu einem Begriff des guten Lebens, die ob­ jektive zu dem des moralisch Richtigen. Wie sind diese Werte zu gewichten?

80 Eben weil diese Gründe nicht notwendig existieren, scheitert auch der Versuch Chri­ stine Korsgaards, im Anschluß an Wittgensteins Privatsprachenargument Handlungs­ gründe von vornherein als public reasons zu interpretieren, zu deren Natur es gehört, daß meine Gründe auch Gründe für andere sind (vgl. Korsgaard, 1996, S. 135-143). 81 Überraschenderweise meint Nagel jedoch, daß unsere Verpflichtungen gegenüber anderen durch zwei andere Arten von Gründen mitbestimmt werden: 1. Deontologische Gründe. Diese beziehen sich darauf, daß die jeweilige Person etwas tun oder nicht tun soll. Sie sind nicht so breit wie neutrale Gründe. Sie schreiben bei­ spielsweise nicht vor, daß man dafür sorgen soll, daß niemand mißhandelt wird, sondern nur, daß man selbst niemanden mißhandeln soll. 2. Gründe der Verpflichtung. Diese enthalten spezielle Verpflichtungen gegenüber uns nahestehenden Personen. Nagel ist der Auffassung, daß sich diese Gründe nicht aus konsequentialistischen Üb­ erlegungen ableiten lassen. Ich werde diese Komplikation innerhalb des Bereichs der Verpflichtungen hier nicht diskutieren. Für denjetzigen Zusammenhang ist es vor allem wichtig, das Verhältnis dieser Gründe insgesamt zu den ichbezogenen Wünschen zu bestimmen (Nagel, 1986, S. 165). ^

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Nagel führt zuerst die fünf möglichen Positionen für eine Ge­ wichtung auf:82 1. Das moralische Lehen ist durch das gute Lehen definiert. 2. Das gute Lehen ist durch das moralische Lehen definiert. 3. Das gute Lehen hat Vorrang vor dem moralischen. 4. Das moralische Lehen hat Vorrang vor dem guten. 5. Es giht keinen grundsätzlichen Vorrang einer der Seiten. Nagel möchte die vierte Position als die plausibelste verteidigen. Die erste Position sei falsch, weil die moralischen Forderungen ihren Ur­ sprung in den Ansprüchen anderer hahen und nicht darin, daß sie einen Beitrag zum eigenen guten Lehen leisten. Position zwei sei falsch, weil es für uns mehr Gutes und Schlechtes giht als das, was unmittelhar mit der Moral zusammenhängt. Gleichwohl kann man Nagels Position nicht als dualistisch charakterisieren. Das wird an seinem Umgang mit der dritten Position deutlich. Nagel weist Willams' These, daß eine konsequentialistische Moral das Individuum von seinen Vorhahen und Bindungen entfremdet entschieden zurück.83 Für Nagel reagieren die universalistischen Moralen natürlich auf etwas sehr Wichtiges in uns: »They are not imposed from out­ side, hut reflect our own disposition to view ourselves, and our need to accept ourselves, from outside«.84 Gerade ohne solche Selhstakzeptanz wäre der Mensch von seinem Lehen entfremdet. Und deshalh sei die dritte Position falsch. Auf der anderen Seite räumt Nagel ein, daß der unpersönliche Standpunkt nicht das Ganze unseres Lehens darstellt. Deshalh könne ein moralisches Lehen schlechter sein als ein unmoralisches: »Morality might provide overriding reasons, stemming from the interests of others, to choose a worse life, without that choice really making one's life hetter after all«.85 Doch dieser letzte Satz ist mit Nagels Ansatz nicht zu vereinharen. Denn wenn die moralischen Forderun­ gen einem Aspekt unseres Menschseins entspringen, wenn entspre­ chendes Handeln unseren Dispositionen und Bedürfnissen (need) entspricht, dann kann es nicht mehr im Widerspruch zu unserem guten Lehen stehen. Denn die Verwirklichung unserer Persönlichkeit wird allemal zu unserem guten Lehen gehören. Die Frage kann dann 82 83 84 85 62

Nagel, 1986, S. 195-97. Vgl. Williams, 1979, S. 80f. Ehd. S. 198. Ehd.

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nur noch die sein, oh es Gründe gibt, den einen Aspekt unserer Per­ sönlichkeit, dem anderen vorzuziehen.86 Die fünfte Position würde an dieser Stelle anerkennen, daß es für diese Gewichtung keinen objektiven Maßstah gibt, daß die Ent­ scheidung von subjektiven Dispositionen und Präferenzen abhängig bleibt. Doch gerade das möchte Nagel nicht sagen. Er lehnt die fünfte Position, nach der keine der beiden Lebensweisen einen grundsätz­ lichen Vorrang vor der anderen beanspruchen könnte, ab. Er hat die Hoffnung, »that the correct morality will always have the preponderance of reasons on its side, even though it needn't coincide with the good life«.87 Es sei zwar nicht jederzeit irrational, unmoralisch zu sein (das wäre die These der vierten Position), aber es sei niemals irrational, moralisch zu sein. Das Moralische sei immer wenigstens rational akzeptabel.88 Aber warum soll das so sein? Kann es nicht jemanden geben, in dem die Disposition, sich von außen zu sehen, im Vergleich zur egozentrischen Disposition nur schwach entwickelt ist? In welchen Sinn kann es für eine solche Person dann rational (oder auch nur möglich) sein, der moralischen Disposition den Vor­ rang zu geben? Um diese These zu plausiblisieren, stellt Nagel zunächst eine Überlegung an, die darauf zielt, die unpersönlichen Forderungen der Moral zu vermindern. Dadurch soll der Konflikt zwischen dem mora­ lischen und dem guten Leben von vornherein entschärft werden. Die Überlegung geht davon aus, daß gültige moralische Forderungen den Motivationskapazitäten der Adressaten angemessen sein müssen. Die unpersönliche Moral darf sich nicht bloß distanzieren, sie muß zugleich unseren Willen motivieren können. Demzufolge entwickelt die unpersönliche Moral ihre Dynamik in zwei Stufen:89 Auf der ersten Stufe versetzt man sich in den unpersönlichen Standpunkt. Von diesem Standpunkt aus ist die eigene Person, das 86 Wenn man das Problem nicht so beschreibt, dann steht man vor einem begrifflichen Problem: Angenommen das Moralische ist unabhängig vom Begriff des guten Lebens, und auf der anderen Seite stehen nun die Dinge, die mit unserem guten Leben zusam­ menhängen. Wie kann eine Entscheidung zwischen so fundamental verschiedenen Güterarten überhaupt noch konzeptualisiert werden? In welchen Begriffen, nach wel­ chen Kriterien soll sie erfolgen? Ich denke es gibt überhaupt keine begriffliche Alterna­ tive dazu, als zum Vergleichen und Gewichten beide Güterarten unter einem umfassen­ den Begriff des guten Lebens zusammenzuspannen. 87 Nagel, 1986, S. 199. 88 Ebd. S. 200. 89 Ebd. S. 201-3. ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

eigene Glück nicht wichtiger als das eines jeden anderen. Auf diese Weise entsteht der Konflikt zwischen den neutralen und den personenhezogenen Gründen. Auf der nächsten Stufe wird dasselhe Verfahren noch einmal angewandt - diesmal auf den Konflikt selhst. Es wird nun gefragt, welche Lösung des Konflikts vom unpersönlichen Standpunkt aus unterstützt werden kann. Und hier ergehen sich zwei Ermäßigungen der moralischen Forderungen: - Zuerst muß natürlich auch jeder Konsequentiahst zugestehen, daß solche moralischen Forderungen, die allgemein praktiziert das Le­ hen der Individuuen verschlechtern würden, nicht in den Kanon des Moralischen gehören können. - Doch Nagel meint, daß es eine darüher hinausgehende Ermäßi­ gung gehen wird, die sich aus einer Art Toleranz gegenüher der menschlichen Natur ergiht. Die menschliche Motivation sei von außen gesehen ehen komplex, die Integration der persönlichen und der unpersönlichen Motive könne nicht einfach in der Verahschiedung der ersteren hestehen. »The result is likely to he that at some threshold, hard to define, we will conclude that it is unreasonahle to expect people in general to sacrifice themselves and those to whom they have close personal ties to the general good.«90 Dieses Resultat ist aus zwei Gründen unhefriedigend: Erstens hedeutet die zweimalige Applikation der unpersönlichen Betrachtungsweise für Nagel nun nicht eine Art Anerkennung der Tatsache, daß wir schwache Geschöpfe sind, die den an sich festste­ henden moralischen Forderungen nicht immer gerecht werden. Im Gegenteil, weil diese zweite Überlegung vom unpersönlichen Stand­ punkt ausgehen soll, und weil dieser Standpunkt derjenige ist, der die moralischen Regeln generiert, wird nun das, was moralisch von uns gefordert ist, selhst durch diese Üherlegung modifiziert.91 Und damit wird zweitens die Suhstanz des moralisch Geforder­ ten suhjektiviert, dann Nagel entwickelt keine weiteren Kriterien mehr dafür, was vom unpersönlichen Standpunkt aus noch >reasonahle< ist und was nicht mehr. Es hleiht ungeklärt, was genau die Hal­ tung der »tolerance and realism ahout human nature« einschließt

90 Ehd. S. 202. Dieselhe Strategie zur Lösung des Konflikts wird von Nagel auch in Equality and Partiality verwendet (Nagel, 1991, S. 30f.). 91 Nagel, 1986. S. 202. 64

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3. Fazit

und was sie ausschließt.92 Es ist auch schwer vorstellbar, welche dritte Art von Gründen es noch geben könnte, mit denen man die ersten beiden Arten gewichten könnte. Damit bleiben die Individuen dazu verurteilt, aus undurchsichtigen Gründen je für sich eine Grenze zu ziehen. Die Substanz dessen, was jemand für moralisch einforderbar hält wird so zu einer Frage der subjektiven Entscheidung. Für eine Theorie der Moral ist das sicher kein zufriedenstellendes Resultat. Und solange solche Kriterien nicht angegeben werden, ist die These, daß es niemals irrational sein kann, den moralischen Forde­ rungen den Vorrang zu geben, auf triviale Weise wahr: Einerseits sollen wir zwar Gründe haben, jegliches Leiden zum Verschwinden bringen zu wollen. Doch andererseits gibt es keine Kriterien dafür, welches Gewicht diese Gründe für uns haben, was also überhaupt moralisch von jedem gefordert ist. Wenn das Ausmaß des moralisch Geforderten bereits von der je subjektiven Gewichtung der Disposi­ tionen abhängt, dann wird das Handeln nach den so bestimmten mo­ ralischen Forderungen in der Tat niemals irrational sein. Es spiegelt danneinfach die Natur der Individuen wieder. Wo die Standards zur Bestimmung des moralisch Geforderten selbst subjektiv sind, da ist es nicht einmal möglich, dagegen zu verstoßen. Wo immer jemand meint, daß die Grenze seiner Verpflichtung, den Schmerz in der Welt zu lindern, verläuft, da enden eben auch seine moralischen Pflichten. Für den Beweis der These, daß es niemals irrational ist, den mora­ lischen Forderungen den Vorrang einzuräumen, hat Nagel also einen hohen Preis zahlen müssen - eben die Subjektivierung des moralisch Geforderten selbst.

1.3. Fazit

In der Analyse der drei Positionen sollte das Grundproblem solcher Ansätze deutlich werden, die das moralisch Richtige als einen Teil dessen, was zu tun alle Menschen oder vernunftbegabten Lebewesen einen Grund haben, deutlich machen: Die Gründe, die dabei geltend gemacht werden können, sind entweder nicht Gründe für jeden oder sie führen, wenn sie das sind, nicht zur Moral. Das wurde besonders deutlich bei dem schwachen Vernunft­ begriff des kontraktualistischen Modells. Der Kontrakt wird nötig, 92 Ebd. S. 203. ^

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I. Das Moralische als das Vorziehenswerte

weil jeder von seinen Interessen ausgeht und diese zu befriedigen versucht. Doch auch wenn man einräumt, daß kontraktförmige Be­ ziehungen für jeden zur Beförderung seines Wohlergehens sinnvoll sind, die in diesem Sinn rationalen Kontrakte werden inhaltlich stark voneinander abweichen und können dabei sogar tiefverwurzelten moralischen Intuitionen zuwiderlaufen. Das stärkere, auf die Herstellung einer affektiven Einheit der Person bezogene Vernunftmodell Platons erlaubte es zwar, die je ge­ gebenen Interessen einer Kritik zu unterziehen. Doch es erschien überzogen, die Einheit der Person als vollständige Harmonie der See­ lenteile bzw. als Freundschaft mit sich vorzustellen. Repressive Züge im Sinn einer Herrschaft der Vernunft bleiben ein notwendiger Be­ standteil der Einheit einer Person. Zudem blieb das Programm der Herstellung der seelischen Einheit stets auf das überlegende Subjekt bezogen. Die anderen kamen nur sekundär in den Blick. Die Ablei­ tung universeller negativer Pflichten und der Umfang positiver Pflichten blieben nach diesem Modell unbestimmt, weil es keine ge­ nauen Kriterien dafür angeben konnte, wie weit man das Wohlerge­ hen der anderen für die Herstellung der eigenen seelischen Harmo­ nie berücksichtigen muß. Diese Konzentration auf das eigene Ich wurde bei Nagel durch­ brochen. Bei ihm war die Vernunft nicht mehr mit der Bewertung von Zuständen eines Subjekts befaßt, sondern mit der Bewertung von Zuständen schlechthin. Doch die Konzeption neutraler Gründe führte nur zur Reproduktion des Gegensatzes zwischen dem eigenen Wohl und dem aller anderen innerhalb des Subjektes selbst. Das In­ dividuum hat nun gleichursprüngliche Gründe für beides und muß eine Gewichtung dieser Gründe vornehmen. Und hier war nicht zu sehen, wie es überhaupt noch übergeordnete Gründe geben kann, die es erlauben, die je eigene Disposition für neutrale Gründe im Ver­ gleich zur Disposition für autonome Gründe objektiv zu gewichten. Auch dadurch wird der Anspruch moralischer Regeln auf universale Geltung untergraben. Allen drei Theorien steht es natürlich frei, ihren eigenen Zu­ gang zur Moral als konstitutiv zu verstehen. Moralisch richtig wäre dann eben das, was im Rahmen der jeweiligen Theorie als vernünf­ tiges Verhalten erscheinen kann. Doch dieser Weg erscheint nicht besonders attraktiv. Er würde die Substanz des moralisch Geforder­ ten selbst subjektivieren, weil dies nun von subjektiven Faktoren ab­ hängig wäre - von der Macht der Individuen (Buchanan), von der 66

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3. Fazit

Beschaffenheit ihrer Begierden (Platon) oder von der Stärke ihrer Dispositionen (Nagel). Wenn man den Anspruch der moralischen Forderungen auf Objektivität und Allgemeingültigkeit wahren will, scheint es deshalb vielversprechend, von den Handlungsgründen der Individuen vorerst abzusehen. Aber worauf kann man sich dann noch stützen? In gewissem Sinn nur noch auf die Moral selbst. Diese ist uns auf zweierlei Weise gegeben - ziemlich deutlich in unseren materialen moralischen In­ tuitionen und weniger deutlich in unseren Vorstellungen darüber, was das Wesen des Moralischen überhaupt ausmacht. In den folgen­ den Kapiteln werde ich untersuchen, ob und in welchem Sinn es ausgehend von diesen beiden Weisen der Gegebenheit - möglich ist, die Objektivität bestimmter Prinzipien zu begründen.

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Kapitel II:

Die Systematisierung von Intuitionen

Auch wenn sich die moralischen Prinzipien nicht als solche erweisen lassen, denen zu folgen jeder einen überragenden Grund hat, die Realität der entsprechenden Forderungen wird dadurch nicht auf­ gehoben. Mit moralischen Forderungen sind wir auf zwei Weisen immer schon vertraut. Sie begegnen uns als Forderungen unserer Mitmenschen und sind ein mehr oder weniger großer Teil unserer eigenen psychischen Konstitution. In beiden Hinsichten sind diese Forderungen etwas Gegebenes, das unser Handeln und Werten be­ einflußt.1 Diese Gegebenheit eröffnet die Möglichkeit für eine be­ scheidenere Form von Philosophie. Deren Hauptanliegen besteht nicht darin, die motivationale Kraft dieser Forderungen durch eine Ableitung irgendwie zu verstärken, sondern darin, diese Forderun­ gen zu analysieren und in ihnen ein organisierendes Prinzip freizule­ gen. Die objektive Gültigkeit des so gewonnenen Prinzips kann und soll dann nicht mehr besagen, als daß es wirklich das Prinzip dieser Forderungen ist.

1 Auch wenn diese Forderungen unser Handeln nicht bestimmen, so bedeutet deren Gegebenheit doch, daß wir einen bestimmten Preis zahlen müssen, wenn wir ihnen nicht Folge leisten. Hinsichtlich der äußeren Erwartungen müssen wir entweder in Kauf nehmen, daß unser Tun auf irgendeine Weise sanktioniert wird, oder wir müssen An­ strengungen unternehmen, um die Entdeckung unseres Tuns zu vermeiden. Bezogen auf die Forderungen, die schon Teil unserer Persönlichkeit sind, müssen wir bei deren Nichtbeachtung entweder mit einer Art von Unbehagen ^schlechtes Gewissenc) leben, oder wir müssen intellektuelle Anstrengungen unternehmen, um uns davon zu über­ zeugen, daß unser Handeln eine berechtigte Ausnahme darstellt. In beiden Fällen liefern die Forderungen uns also einen ceteris-paribus-Grund, ihnen in unserem Handeln zu entsprechen: Wenn wir unser jeweiliges Ziel auch ereichen könnten, ohne gegen die Forderungen zu verstoßen, dann wäre diese Handlunsgsweise für uns vorziehenswert. 68

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1. David Hume

11.1. David Hume

Der prototypische Vertreter einer solchen Theorie ist David Hume. Er geht davon aus, daß niemand die Wirklichkeit moralischer Unter­ scheidungen bestreiten kann. Niemand könne im Ernst behaupten, daß alle Charaktere oder Handlungsweisen in gleichem Maß An­ spruch hätten auf jedermanns Billigung.2 Da Schätzen und Verurtei­ len schlicht gegeben sind, meint Hume, sich auf die Frage beschrän­ ken zu können, ob der Ursprung solchen Verhaltens im Gefühl oder in der Vernunft liegt. Seine berühmte These ist, daß diese Werturtei­ le auf einem inneren Sinn oder Gefühl beruhen, die Vernunft aber nötig sei, um diesem Gefühl das rechte Objekt zu offenbaren.3 Dementsprechend besteht Humes Vorgehen dann darin, von der gegebenen Praxis des Schätzens und Verurteilens auszugehen und den Komplex geistiger Eigenschaften zu analysieren, die einen Men­ schen zum Gegenstand von Achtung und Zuneigung machen. Diese Gefühle sind einfach da, jeder kann sie in seinem Herzen entdecken. Für das Denken bleibt lediglich die Aufgabe, die den positiven und negativen Eigenschaften jeweils gemeinsamen Eigenschaften heraus­ zuarbeiten und so die Grundlage der Ethik zu gewinnen. Das Verfah­ ren ist empirisch und induktiv. Und das, so Hume, sei auch nur gut so, denn eben diesen Methoden verdanke die Naturwissenschaft ihre Erfolge.4 Die Suche nach dem Prinzip der moralischen Schätzung beinhaltet bei Hume zwei Elemente - die inhaltliche Bestimmung des Prinzips der Moral und die Bestimmung des Ursprungs solcher Urteile im Gefüge der Affekte. Seine Argumentation vollzieht sich in fünf Schritten: i. Von allen Menschen werden am meisten solche Eigenschaften anderer geschätzt, die aus innigem Mitempfinden entspringen etwa Wohltätigkeit, Güte und Freundschaft.5 ii. Der Grund dieser Schätzung besteht mindestens zum großen Teil in dem allgemeinen Nutzen, der aus solchen Handlungen entsteht.6 Durch solche Handlungen wird das Glück der mensch­ lichen Gemeinschaft gefördert.7 2 3 4 5 6 7

Hume, Ebd. S. Ebd. S. Ebd. S. Ebd. S. Ebd. S.

1972, S. 3. 7. 8f. 13. 16. 17. ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

iii. Auch die Schätzung der Gerechtigkeit basiert auf dem Nutzen, auf der Notwendigkeit dieser Tugend für den Bestand der Menschheit.8 iv. Das Lob der sozialen Tugenden ist also insgesamt auf ihre Nütz­ lichkeit für die Allgemeinheit zurückzuführen.9 iv. Unsere Schätzung gerechter Handlungen besteht auch dann fort, wenn unser Eigeninteresse dem Allgemeininteresse entgegen­ gesetzt ist. v. Die Schätzung der allgemein nützlichen Handlungen kann des­ halb nicht auf dem Eigeninteresse basieren, sondern muß auf einem irreduziblen, unmittelbar der Allgemeinheit geltenden Gefühl basieren. Dies ist das Gefühl der Menschlichkeit oder des Wohlwollens.10 Dieses induktiv-empirische Vorgehen ist allerdings mit zwei gravie­ renden Problemen belastet: 1. Was von den Menschen geschätzt wird, ist nicht auf ein Prin­ zip oder eine basale Eigenschaft reduzierbar. Das real Geschätzte ist vielmehr komplex und in manchen Hinsichten auch nicht mitein­ ander vereinbar. Geschätzt werden, wie auch Hume sieht, neben dem Wohlwollen z. B. auch Fleiß, Klugheit, Mut und Besonnenheit.11 Diese Eigenschaften sind aber moralisch neutral. Sie sind zunächst einmal nur ihrem Träger nützlich. Dieser kann sie offenkundig sogar so zu seinem Vorteil gebrauchen, daß er dabei gegen die moralischen Elemente des Geschätztwerdens verstößt. Wenn aber nicht alles Schätzen auf demselben Prinzip beruht, dann braucht Hume ein Kri­ terium, mit dem er die moralischen Elemente im Reich des Schätzens identifizieren kann. Hume könnte nun einfach sagen, daß die mora­ lische Schätzung von Handlungen und Personen eben die sei, bei der man auf den Nutzen für die Gemeinschaft verweist. Aber dann würde deutlich, daß sein Ansatz kein rein empirischer sein kann. Anstatt aus dem faktischen Schätzen das moralische Prinzip abzulei­ ten, hätte er dann ein relativ vages Moralprinzip vorausgesetzt und mit dessen Hilfe die moralischen Schätzungen identifiziert. Wenn Humes Analyse einen empirischen Charakter behalten soll, dann kann dieser nur darin bestehen, sich dem realen Schätzen 8 9 10 11 70

Ebd. S. 43. Ebd. S. 53. Ebd. S.61f. Ebd. S. 88.

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1. David Hume

der Menschen mit einem Kriterium zuzuwenden, das zwar die mora­ lischen Schätzungen ahzugrenzen vermag, zugleich aber unbestimmt genug ist, um die Frage, was das materiale Prinzip dieses Schätzens ist, nicht gleich mitzuentscheiden, sondern einen Raum für empiri­ sche Untersuchungen zu lassen. Einen in diesem Sinn eingeschränkt empirischen Ansatz entwickelt Hume am Ende der Untersuchung zu den Prinzipen der Moral. Hume behauptet nun unvermittelt, daß es einen Begriff der Moral gibt und daß zu diesem zwei Elemente ge­ hören:12 • Es gehe dabei um ein allen Menschen gemeinsames Gefühl, das ein und denselben Gegenstand der generellen Billigung empfiehlt. • Dieses Gefühl müsse zugleich so universell sein, daß es alle Men­ schen einschließt und ihr Tun zum Objekt der Billigung oder Miß­ billigung macht. Mit diesen beiden Kriterien könnte man dann die menschlichen Gefühle mustern, sehen ob ihnen überhaupt eines entspricht und dieses schließlich als das empirisch gefundene materiale Prinzip der Moral identifizieren. Ganz in diesem Sinn versucht Hume zu zeigen, daß nur das Gefühl der Menschenliebe diesen Kriterien genügt. Da­ bei scheint die erste Bedingung zunächst durch allzuviele Gefühle erfüllt zu werden. Denn die Selbstliebe und auch einige der damit verbundenen Gefühle, etwa Eitelkeit und Ehrgeiz, sind allen oder doch den meisten Menschen gemeinsam. Aber damit genügen sie noch nicht dem ersten Kriterium, weil sie nicht denselben Gegen­ stand der allgemeinen Billigung empfehlen. Der Ehrgeiz des einen, so Hume, ist nicht der des anderen und beide Formen des Ehrgeizes werden nicht durch dasselbe Objekt zufriedengestellt. Doch die Men­ schenliebe des einen sei dieselbe wie die des anderen und werde bei­ demal durch dasselbe Objekt befriedigt. Was die Einschließung aller angeht, so verhalten sich die selbstischen Affekte der Individuen dem größten Teil der Menschheit gegenüber völlig gleichgültig - eben all denen gegenüber, die mit dem Gegenstand des Affekts nichts zu tun haben. Dagegen erzeugt die Menschenliebe, eben weil sie per definitionem alle Menschen einschließt, auch gegenüber jedem Handeln, das sich auf das Wohl von Menschen auswirkt, ein Gefühl der Bil­ ligung oder Mißbilligung.13 Der empirische Anteil dieser Argumen­ tation besteht nicht in dem Nachweis, daß die Menschenliebe die 12 Ebd. S. 120. 13 Ebd. S. 121f. ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

Bedingungen erfüllt. Das folgt schon analytisch aus ihrem Begriff. Es bedarf aber empirischer Untersuchung, oh es dieses Gefühl über­ haupt gibt und oh es das einzige ist, das die Bedingungen erfüllt. Beide Fragen meint Hume mit >ja< beantworten zu können. Ich werde diesen empirischen Fragen nicht weiter nachgehen. Worauf es hier ankommt, ist nur das methodische Problem: Auch eine empirisch­ induktive Bestimmung des Prinzips der Moral ist nur möglich, wenn man von einem formalen Begriff der Moral ausgeht. 2. Für Hume sind also diejenigen Handlungen moralisch richtig, die geeignet sind, das Wohl der Menschheit zu befördern. Dieses Prinzip ist allerdings sehr unbestimmt. Es muß noch genauer geklärt werden, was der moralische Impuls, das Wohl der Menschheit zu mehren, eigentlich meint. Zielt der Impuls darauf, den Nutzen aller gleich weit zu entwickeln, oder darauf, den Gesamtnutzen zu maxi­ mieren, oder muß es darum gehen, bestimmte elementare Übel zu beseitigen, auch wenn das weder den Gesamtnutzen maximiert noch zur Gleichheit aller führt? Das Problem besteht darin, daß bei Hume die mit empirischen Fragen befaßte Vernunft keine Antwort auf die­ se Frage geben kann und das Gefühl der humanity nicht eindeutig auf eine dieser Alternativen bezogen ist. Hume verteidigt an vielen Stellen Prinzipien, die die Mehrung des Gesamtnutzens favorisie­ ren.14 Er ging offenbar davon aus, daß das Gefühl der humanity selbst bei allen Individuen eine klare und vor allem dieselbe Entscheidung zwischen diesen Alternativen liefert. Doch das ist eine Illusion. Der Streit in der Ethik geht vielfach gerade um eine Entscheidug zwi­ schen diesen Prinzipien. Was bei Hume fehlt, ist ein Instrumentari­ um zur Präzisierung der Bedeutung des moralischen Affekts.15

14 Vgl. etwa seine Überlegungen zur Gleichheit (Hume, 1972, S. 32f.). 15 Ein weiteres Problem hängt mit dem normativen Charakter moralischer Urteile zu­ sammen. Wir mißbilligen die schlechten Handlungen und sagen, daß niemand sie be­ gehen sollte. Doch eben dieses >sollte< scheint auf dem Boden der Hume'schen Theorie sinnlos zu werden, denn die Basis der moralischen Motivation besteht in dem von allen geteilen Gefühl der Humanität. Doch Hume räumt selbst ein, daß dieses Gefühl in den Individuen verschieden stark ausgeprägt ist (1972, S. 68f.). Wenn aber seiner Motiva­ tionstheorie zufolge, Gefühle und Leidenschaften das einzige sind, was uns zum Han­ deln motivieren kann, mit welchem Recht kann man dann z. B. sagen, daß jemand mehr Rücksicht zeigen sollte? Wenn die menschenfreundlichen Gefühle in seiner Brust schwach sind, gibt es keinen Grund für ihn, anders zu handeln. 72

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2. John Rawls

11.2. John Rawls

Die Präzisierung des moralischen Prinzips und die Verteidigung einer spezifischen Moral gegen andere Moralprinzipien ist das Hauptanliegen von John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Auch er geht von den gegebenen moralischen Urteilen aus. Eine Theorie der Moral sei zunächst ein Versuch, unsere moralische Fähigkeit zu be­ schreiben. Diese Fähigkeit erwerben wir im Lauf unserer Sozialisati­ on. Sie besteht darin, überhaupt etwas als gerecht oder ungerecht zu beurteilen, sowie in einer gewissen Bereitschaft, gemäß dieser Urtei­ le zu handeln. Eine Theorie der Moral sei aber nicht eine bloße Liste von einzelnen Urteilen oder Intuitionen, sondern versuche, eben die­ se Elemente in einem System von Grundsätzen zu ordnen.16 Wenn wir schließlich zu der Überzeugung kommen, daß eine solche Theo­ rie unsere Gedanken klärt und ordnet, und wenn sie zudem zur Ver­ ringerung von Meinungsverschiedenheiten beiträgt, dann habe die Theorie alles geleistet, was man vernünftigerweise von ihr verlangen könne.17 Damit muß auch an Rawls die Frage gestellt werden, wie er die Gefühle und Einstellungen identifiziert, die es in einer Theorie der Gerechtigkeit zu vereinheitlichen gilt. Rawls geht hier von einem funktionalen Vorbegriff der Gerechtigkeit aus: Eine Gesellschaft sei eine Kooperation zur Förderung des gegenseitigen Vorteils. Gleich­ wohl gebe es dabei immer Konflikte, wie die durch Zusammenarbeit erzeugten Güter zu verteilen sind. Die Grundsätze der sozialen Ge­ rechtigkeit, seien eben jene, die die Verteilung der Früchte und La­ sten, der Rechte und Pflichten in der Kooperation festlegen.18 Dieser Vorbegriff erfüllt die beiden Bedingungen, die an einen solchen Be­ griff gestellt werden müssen: Er ist bestimmt genug, um eine Aus­ wahl unter den Gefühlen und evaluativen Einstellungen treffen zu können. Und er ist vage genug, um nicht unmittelbar eine Lösung des Problems zu präjuduzieren.19 Den Kern des Rawls'schen Systematisierungsversuches bildet 16 Rawls, 1979, S. 66. 17 Ebd. S. 73. 18 Ebd. S. 20f. 19 Über diese anfängliche Charakterisierung des Gegenstands seiner Theorie ist Rawls später hinausgegangen. Aus dem funktionalen Vorbegriff lassen sich Rawls' zufolge fünf formale Bedingungen für Grundsätze der Gerechtigkeit ableiten (Rawls, 1979, S. 153-58): ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

die These, daß die Prinzipien der Gerechtigkeit - und damit minde­ stens der wichtigste Teil der moralischen Prinzipien - jene seien, die rationale Personen in einer Situation der Freiheit und Gleichheit als Regeln für ihr Zusammenleben in ihrem eigenen Interesse wählen würden.20 Die Rahmenbedingungen für diese Wahl faßt Rawls in der Idee eines Schleiers des Nichtwissens zusammen. Dessen wich­ tigste Komponenten sind:21 - Niemand kennt seine Klasse, seinen Platz in der Gesellschaft. - Niemand kennt die Einzelheiten seiner Vorstellung vom Guten, die Besonderheiten seiner Psyche, insbesondere nicht seine Ein­ stellung zum Risiko.22 - Niemand weiß um die besonderen Verhältnisse seiner Gesell­ schaft. - Niemand weiß, zu welcher Generation er gehört. Auf diese Weise werden die Wählenden zu Gleichen, der Urzustand ist ihnen gegenüber fair. Die moralische Entscheidung kann des­ wegen in eine rationale, eigeninteressierte Entscheidung transfor­ miert werden. Der moralische Charakter dieser Entscheidung besteht in ihrer Unparteilichkeit, die ihrerseits durch die Rahmenbedingun­ gen der Wahl gewährleistet wird.23 Rawls stellt zudem detaillierte Überlegungen dazu an, welche 1. Die Grundsätze dürfen keine Eigennamen enthalten, sie müssen allgemein sein. Sie dürfen sich weder auf Einzelmenschen noch auf Gruppen beziehen. 2. Die Grundsätze müssen unbeschränkt anwendbar sein. Die Befolgung des Grundsat­ zes durch jedermann, darf nicht zu dessen Selbstaufhebung führen. 3. Die Grundsätze müssen öffentlich sein. 4. Sie müssen konkurrierende Ansprüche in eine Rangordnung bringen können. 5. Sie müssen die letzten oder obersten Grundsätze für die Begründung von Ansprüchen sein. Die Bedingungen zwei bis vier ergeben sich in der Tat problemlos aus dem funktionalen Vorbegriff. Schwieriger ist es mit der ersten Bedingung. Auch eine Regel wie »Der König erhält den zehnten Teil aller produzierten Güter.« kann Teil eines Regelwerks sein, das die Verteilung in einer Gesellschaft festlegt. Eine solche Regelung würde keine der anderen Bedingungen verletzen. Ich werde dieses Problem hier nicht weiter verfol­ gen, weil Rawls erstaunlicherweise von diesen formalen Bedingungen weiter keinen Gebrauch macht. 20 Rawls, 1979, S. 28. 21 Ebd. S. 160. 22 Dazu gehört auch, daß die Wählenden ihre aufeinander bezogenen Gefühle nicht kennen, sie sind weder von Liebe noch von Haß oder Neid bewegt (vgl. ebd. S. 152, 167/8). 23 Ebd. S. 29, 217. 74

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2. John Rawls

Grundsätze in diesem Urzustand gewählt werden. Seine These ist, daß dies im Wesentlichen zwei Grundsätze sein werden:24 1. Jeder soll ein gleiches Recht auf das umfangreichste System von Grundfreiheiten haben, soweit diese Freiheiten mit der gleichen Freiheit für alle verträglich sind. 2. Wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur insoweit zulässig, als sie zu jedermanns Vorteil sind und hinsichtlich der Positionen faire Chancengleichheit besteht (Differenzprinzip). Die Auseinandersetzung mit Rawls wird dementsprechend einen methodischen Teil haben und einen, der sich auf den Gehalt der Grundsätze bezieht. A. Methodische Probleme Die methodisch wichtigste Frage an Rawls' Theorie ist: Warum müssen die Prinzipien der Gerechtigkeit ausgerechnet in einer so ge­ stalteten Ausgangssituation gesucht werden? In der Theorie der Ge­ rechtigkeit finden sich drei Argumentationsstränge zur Rechtferti­ gung dieser Situation: 1. Ein pragmatischer Grund. Erst der Schleier des Nichtwissens ermögliche, so Rawls, die einstim­ mige Annahme einer konkreten Gerechtigkeitsvorstellung. Ohne diese Wissensbeschränkung wären die Verhandlungen über mögliche Regeln zu komplex. Ohne den Schleier könnte man nur sagen, das Gerechte sei das, worauf man sich einigen würde. Mit dem Schleier dagegen erübrigen sich alle Verhandlungen. Infolge der Wissens­ beschränkung gibt es gar keine verschiedenen Subjekte mehr, die sich auf irgendetwas einigen müßten, sondern nur noch eine Art Rumpf­ Subjekt, das die Wahl stellvertretend für alle durchführen kann.25 Diese Sehnsucht nach konkreten Resultaten liest sich wie eine indi­ rekte Kritik an Habermas' These, daß nur jene Normen gültig seien, die im idealen Diskurs die Zustimmung aller finden. Nur dies zu sagen, scheint eben nicht besonders instruktiv. Allerdings ist hier Vorsicht angebracht. Das Bedürfnis, nur überhaupt eine konkrete Theorie zu haben, kann nicht alle Annahmen rechtfertigen. Es be­ steht dabei immer die Gefahr, zwar eine solche Theorie zu bekom­ men, sich dazu aber so weit von den realen Bedingungen der Proble­ 24 Ebd. S. 81, 93. 25 Ebd. S. 162-64. ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

me zu entfernen, daß die Theorie nicht mehr plausibel beanspruchen kann, eine Lösung für diese Probleme zu liefern. Wenn man etwa die in der Ursituation wählenden Individuen zu abstrakt faßt, sie zu weit von den Bedürfnissen und Eigenschaften realer Menschen entfernt, setzt man sich der Gefahr aus, daß die realen Individuen nicht mehr nachvollziehen können, warum die dort aufgestellten Grundsätze Lösungen für ihre Probleme sein sollen. Es ist zudem sicher keine zufriedenstellende Methode zur Überwindung einer moralischen Meinungsverschiedenheit, wenn man nur sagt, daß man eine Wahl­ situation zur Generierung moralischer Überzeugungen so konstruie­ ren kann, daß diese Meinungsverschiedenheit dann nicht mehr auf­ tritt. Das mag so sein, aber die Individuen würden dann sicher nach Gründen fragen, warum sie über die Moral gerade in einer solchen Wahlsituation nachdenken sollen. D. h. für die Akzeptanz einer Wahlsituation muß mehr sprechen, als daß sie nur zu einem ein­ mütigen Resultat führt. Dieser Forderung trägt Rawls' zweite Be­ gründungsstrategie Rechnung. 2. Heuristische Intuitionen. Ein zweiter Weg zum Schleier des Nichtwissens ergibt sich demnach daraus, daß uns einige Bedingungen für das Nachdenken über Ge­ rechtigkeitsgrundsätze als vernünftig und allgemein akzeptabel er­ scheinen werden. Das sollen sein:26 1. Niemand soll durch die gewählten Grundsätze aufgrund natür­ licher Güter oder durch soziale Umstände bevorteilt oder benach­ teiligt werden können. 2. Niemand soll Prinzipien auf seine eigenen Umstände zuschneiden können. 3. Bestimmte Neigungen und Vorstellungen vom Guten sollen die Wahl nicht beeinflussen können. 4. Die Individuen sind bei der Wahl der Grundsätze in dem Sinn gleich, daß jeder Grundsätze vorschlagen und Gründe für sie an­ führen kann. Auf diese Weise kann zum Beispiel vermieden werden, daß jemand, wohl wissend, daß er reich ist, Besteuerungsgrundsätze vorschlägt, die die Reichen begünstigen. Diese Einschränkungen führen, so Rawls, auf natürliche Weise zum Schleier des Nichtwissens. Der Schleier soll die Wirkung von Zufällen und Ungleichheiten beseiti­ 26 Ebd. S. 36. 76

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2. John Rawls

gen, die die Menschen dazu verführen, gesellschaftliche und natürli­ che Umstände zu ihrem Vorteil auszunutzen.27 Es ist einleuchtend, daß diese Ziele durch den Schleier des Nichtwissens realisiert werden können. Doch es hleiht unklar, in wel­ chem Sinn diese Bedingungen vernünftig sein sollen. Vielleicht ist mit >vernünftig< hier nicht mehr gemeint als allgemein akzeptaheh. Aber gerade diese allgemeine Akzeptanz ist nicht sehr wahrschein­ lich. Dies schon deshalh nicht, weil einige dieser Bedingungen viel zu unhestimmt formuliert sind, als daß eine allgemeine Akzeptanz der­ selben auch nur wahrscheinlich wäre. Was soll es etwa bedeuten, daß infolge der Grundsätze niemand infolge natürlicher Güter hevorteilt werden darf? Vermutlich werden attraktive Menschen durch den Grundsatz der freien Partnerwahl hevorteilt. Gleichwohl wird des­ halb kaum jemand vorschlagen wollen, das Prinzip der freien Part­ nerwahl durch irgendein Zuordnungssystem zu ersetzen. Ferner sol­ len bestimmte Neigungen und Vorstellungen vom eigenen Wohl keinen Einfluß auf die Formulierung der Grundsätze hahen. Doch andererseits sollen die Grundsätze ja gerade von eigeninteressierten Individuen befürwortet werden. Dazu müssen die natürlich ihre In­ teressen kennen. Mit welchem Recht kann man dann welche Inter­ essen von der Aufstellung der Grundsätze ausschließen? Rawls müßte seine Bedingungen also präzisieren, bevor er auch nur mit einiger Aussicht auf Erfolg hoffen kann, daß alle sie akzeptieren wer­ den. Doch auch nach solcher Präzisierung ist nicht wahrscheinlich, daß die Bedingungen von allen akzeptiert werden. So könnte Rawls die erste Bedingung dahingehend einschränken, daß Unterschiede hinsichtlich der Macht oder des Reichtums keine Rolle bei der Auf­ stellung von Grundsätzen spielen dürfen. Doch auch dem würden Theoretiker wie Buchanan, die die Stärke des Kontraktualismus ge­ rade in seinem Verzicht auf kontrafaktische Bedingungen sehen, si­ cher nicht zustimmen.28 Gerade im Vergleich mit solchen Theoretikern wird deutlich, daß bei Rawls' Bedingungen bereits moralische Überzeugungen im 27 Ebd. S. 159. 28 Auch Koller sieht es als fraglich an, ob sich sich der Schleier des Nichtwissens und die gegenseitige Desinteressiertheit der Subjekte als Elemente des Urzustandes aus einem Vorbegriff des moralischen Standpunkts ableiten lassen (Koller, 1987, S. 84-86). Zum Abschluß dieses Kapitels werde ich zu zeigen versuchen, daß sich ein Schleier, der etwas schwächer ist als der von Rawls favorisierte, durchaus mit Rekurs auf einen Begriff der Moral rechtfertigen läßt. ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

Hintergrund stehen und die angeführten Bedingungen nur deshalb und insoweit als vernünftig erscheinen, weil sie diesen Überzeugun­ gen entsprechen. Wenn man meint, die Situation des Nachdenkens über moralische Regeln so konstruieren zu müssen, daß dabei nie­ mand natürliche oder gesellschaftliche Umstände zu seinem Vorteil nutzen kann, dann meint man, daß es moralisch falsch ist, wenn dies möglich wäre. Das spricht Rawls an anderer Stelle auch klar aus: Ein Urzustand, der die Erreichung von Vorteilen aus solchen Gründen zuließe, wäre nicht fair gegenüber den moralischen Subjekten und dementsprechend wären die Übereinkünfte nicht gerecht.29 Aber mit dem Fairneß-Begriff kommt eine sehr massive inhaltliche mora­ lische Überzeugung ins Spiel, die erstens nicht von allen geteilt wer­ den wird und die Rawls Argumentation zirkulär werden läßt, weil die vorgeblich vernünftigen Argumentationsbedingungen bereits die moralischen Ideale enthalten, die daraus eigentlich erst abgeleitet werden sollen.30 Die heuristischen Intuitionen liefern also keine zu­ lässige Begründung für die Ausgestaltung des Urzustandes. 3. Wahrheit als Kohärenz. Dem Zirkularitätsvorwurf könnte Rawls entgehen, wenn er in den Begründungsdiskurs ein weiteres und unabhängiges Element ein­ bringen würde. Und eben dies versucht er in seinem dritten Begrün­ dungsmodell. Die entscheidende Stützung seines Urzustandsmodells ergibt sich aus einer Theorie des Überlegungsgleichgewichts, deren Herzstück ein kohärenztheoretisches Modell der Wahrheit ist. Die Rechtfertigung einer moralischen Überzeugung beinhaltet dem­ zufolge drei Ebenen:31 i. Man beginnt mit plausibel erscheinenden Urzustandsbedingun­ gen und stellt auf dieser Basis Grundsätze auf. Die Rechtferti­ gung der Grundsätze besteht auf der ersten Ebene darin, daß sie im Urzustand gewählt worden wären. ii. Auf dieser Ebene geht es um die Rechtfertigung der speziellen Ausgestaltung des Urzustandes. Zusätzlich zu den eben an­ 29 Ebd. S. 29. 30 Doch selbst wenn man die Fairneß-Forderung für plausibel hält, müßte Rawls noch zeigen, was man gewinnt, wenn man nicht direkt von dieser Vorstellung ausgeht, son­ dern mit einemWahlszenario arbeitet, dessen Rahmenbedingungen so eingerichtetwer­ den, daß dabei nur das gewünschte Resultat herauskommen kann (vgl. dazu Tugendhat, 1984, S. 23ff). 31 Rawls, 1979, S. 36-38. 78

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geführten Gründen führt Rawls nun ein weiteres Element in den Begründungsprozeß ein - unsere wohlüberlegten Gerechtig­ keitsvorstellungen. Darunter versteht er jene Urteile, die wir intuitiv und mit größter Überzeugung fällen. Diese Urteile fun­ gieren als vorläufige Fixpunkte, zu denen die gesuchte Gerechtig­ keitstheorie passen muß. Ein Urzustand ist demnach dann rich­ tig, wenn er zu Grundsätzen führt, mit denen die wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen verträglich sind. iii. Doch auch diese Vorstellungen sind für Rawls nicht über jeden Zweifel erhaben. Falls Diskrepanzen zwischen den wohlüberleg­ ten Urteilen und den gewählten Grundsäzen auftreten, dürfen entweder die Parameter des Urzustands oder die konkreten Ge­ rechtigkeitsvorstellungen modifiziert werden. So soll man hin und her gehen bis man zu einem kohärenten Ganzen, dem Über­ legungsgleichgewicht eben, kommt. Somit bleibt die Kohärenz das letzte und entscheidende Kriterium für die >Richtigkeit< einer Ausgestaltung des Urzustands. Mit der Anerkennung der Möglichkeit, daß es zu Widersprüchen innerhalb des moralischen Kosmos einer Person kommen kann, ver­ meidet Rawls die gravierendste Simplifikation des Hume'schen An­ satzes, demzufolge sich das Prinzip der Moral einfach induktiv aus den einzelnen Urteilen ergeben sollte. Das Induktionsmodell wird der Komplexität des moralischen Bewußtseins und Begründens nicht gerecht. Doch auch das Gleichgewichtsmodell hat eine entscheidende Schwäche: Es sagt nichts darüber aus, wovon es abhängt, ob man im Fall von Diskrepanzen etwas an seinen konkreten Überzeugungen oder an des Parametern des Urzustandes ändern soll. Wenn dies nicht eine Sache der subjektiven Entscheidung werden soll, dann müßte es höhere, überlegungsregulierende Prinzipen geben. Es ist fraglich, ob es solche gibt, und Rawls hat jedenfalls nicht versucht, solche frei­ zulegen. Doch solange man über solche Prinzipien nicht verfügt, bleibt es möglich, daß zwei Individuen zu jeweils kohärenten aber von einander verschiedenen Überlegungsgleichgewichten kommen. Dementsprechend muß Rawls die Frage, ob es nur ein einziges, wohl­ bestimmtes Überlegungsgleichgewicht gibt, offenlassen.32 Doch dies 32 Ebd. S. 69. Diese Unbestimmtheit hinsichtlich des Inhalts ist auch von Sinnott-Armstrong als eines der Hauptprobleme des Kohärentismus herausgestellt worden (SinnottArmstrong; 1996, S. 32). Für Rorty dagegen gilt es, diese Unbestimmtheit als eine Gren­ ze des moralischen und politischen Diskurses zu akzeptieren. Er schätzt an Rawls, daß ^

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entwertet den kohärenztheoretischen Wahrheitshegriff. Welchen Sinn hat es noch, ein System von moralischen Prinzipien wahr zu nennen, wenn ein anderer mithilfe desselhen Verfahrens zu ahweichenden Resultaten kommen kann? So ist es nicht üherraschend, daß Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit das Modell des Hin- und Hergehens nirgendwo anwendet. Er führt stattdessen ein deduktives Modell vor, das von den Urzustandshedingungen ausgeht und hei Gerechtigkeitsprinzipien endet. Das hesagt natürlich nicht, daß die Kohärenztheorie der Wahrheit falsch ist, es hesagt nur, daß dieses Modell von Rawls unzureichend angewandt und expliziert worden ist.33 B. Inhaltliche Probleme Auch wenn man von den methodischen Prohlemen der Rechtferti­ gung des Urzustandes einmal ahsieht und sich auf die von Rawls gegehene Charakterisierung desselhen einläßt, hleiht die Frage, oh dieser die Politik von Ansichten üher das Wesen und die Bestimmung des Menschen hahe trennen wollen (Rorty, 1988, S. 93). Wenn man einmal eingesehen hahe, daß hier keine metaphysischen Wahrheiten zu finden sind, werde man sich »immer mehr an den Gedanken gewöhnen, daß die Sozialpolitik keines weiteren Berechtigungsnachweises hedarf außer der gelungenen Einhürgerung unter Einzelpersonen, die feststellen, daß sie Erhen derselhen historischen Üherlieferungen sind und den gleichen Prohlemen gegenüherstehen. Dies wird eine Gesellschaft sein, die zum >Ende der Ideologiec aufruft und das reflexive Gleichgewicht als die einzige Methode gelten läßt, die zur Erörterung der Gesellschaftspolitik vonnöten sei.« (ehd. S. 94). - Doch dieses Konzept verharmlost die Prohlemsituation: Eine Gesellschaft ist keine homogene Erhengemeinschaft. Es ist deshalh wahrscheinlich, daß die Teilgruppen der Gesellschaft zu unterschiedlichen Üherlegungsgleichgewichten kommen. Zudem verstellt die von Rorty konstruierte Alter­ native - entweder man hat eine metaphysische Theorie vom Menschen oder man muß zu einer historischen und antiuniversalistischen Ethik- und Politikkonzeption stehen einen philosophischen Ausweg: Die mit dem kohärentistischen Wahrheitshegriff verhundene Unhestimmtheit kann man nicht nur durch eine stärkere Theorie üher das Wesen des Menschen üherwinden. Man kann hier durchaus mit schwachen Theorien arheiten, aher dafür die Theorie der moralischen Argumentation zu präzisieren ver­ suchen. 33 Sehr zu Recht hat Koller gegen Tugendhat und andere Kritiker des kohärentistischen Begründungsmodells (vgl. Tugendhat, 1984, S. 16 f.) daraufhingewiesen, daß man die­ ses nicht prohlemlos durch ein deduktives Modell ersetzen kann. Bei einem deduktiven Begründungsverfahren wird ein Prinzip an den Anfang gestellt und die moralischen Einzelüherzeugungen gelten nur als gerechtfertigt, wenn sie nicht in Widerspruch zu diesem Prinzip stehen. Aher das verfälscht die Weise, wie wir tatsächlich moralisch denken. Wenn ein Prinzip einigen unser >tiefenc oder auch wohlüherlegten moralischen Üherzeugungen widerspricht, dann heginnen wir durchaus an der Richtigkeit des Prin­ zips zu zweifeln (vgl. Koller, 1987, S. 80-82). 80

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darin notwendig die von Rawls favorisierten Gerechtigkeitsprinzi­ pien gewählt werden müssen. Ein Hauptanliegen von Rawls ist es, seine Grundsätze als dem Utilitarismus gegenüber vorziehenswert zu erweisen. Ich werde mich deshalb darauf beschränken zu über­ prüfen, ob diese Vorzüglichkeit sich erweisen läßt. Rawls sieht selbst, daß die Entscheidung für seine Grundsätze mit einem Problem ver­ bunden ist. Dieses ergibt sich daraus, daß sich die Wählenden unter Unwissenheit für eine Regelung ihrer Verhältnisse entscheiden müssen. Sie müssen nach einer Regelung suchen, die ihren Inter­ essen dient, wissen aber gleichzeitig nicht, welchen Platz in der Ge­ sellschaft sie unter der Herrschaft der fraglichen Regel einnehmen werden. Angenommen sie entscheiden sich für die Festlegung von Arbeitseinkommen nach dem Marktprinzip, dann wissen sie nicht, ob sie selbst zu den Vielverdienern oder zu den Schlechtweggekom­ menen zählen werden. Eben weil die Wählenden ihre Position nicht kennen, müssen sie sich zu allen möglichen Positionen verhalten, und das heißt sie müssen in ihrer Entscheidung mit Chancen und Risiken umgehen. Rawls These ist, daß die Individuen in dieser Si­ tuation nach dem Maximin-Prinzip verfahren werden: Sie werden sich für diejenige Regelung entscheiden, bei der das schlechtestmög­ liche Los noch so gut wie möglich ist. Sie werden deshalb ein Set von unverletzlichen Grundfreiheiten festlegen und wirtschaftliche Un­ gleichheiten nur zulassen, um die schlechteste ökonomische Position so gut wie möglich zu gestalten (Differenzprinzip).34 In dieser Wahl drückt sich offenkundig eine große Risikoscheu aus. Man will vor­ beugen für den schlechtestmöglichen Fall, der einen treffen könnte. Aber ist es rational oder zwingend, nach dem Maximin-Prinzip zu verfahren? Harsanyi hat darauf hingewiesen, daß wir nicht gene­ rell abgeneigt sind, Risiken einzugehen. Unser Verhältnis zum Risi­ ko sei nicht überall so, daß wir uns für den Weg entscheiden, bei dem die schlechteste Möglichkeit so gut wie möglich ausfällt. Nicht stets entscheiden wir unter Unsicherheit nach dem Maximin-Prinzip. Un­ ser Verhalten hängt entscheidend davon ab, was positiv und negativ auf dem Spiel steht und wie hoch die Wahrscheinlichkeit für das Ein­ treffen eines Übels ist. So halten wir es nicht für irrational, wenn jemand einen interessanteren Arbeitsplatz annimmt, den er nur mit dem Flugzeug rechtzeitig erreichen kann, obwohl hierbei die schlech­

34 Ebd. S. 177, 81. ^

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teste Möglichkeit, ein Absturz mit Todesfolge, übler ist als das Wei­ termachen in dem langweiligeren Job.35 Wenn das nicht irrational ist, warum sollte ein risikofreudiger Mensch sich im Urzustand dann nicht für ein System mit großen ökonomischen und sogar rechtlichen Ungleichheiten entscheiden und dabei hoffen, eine der wenigen, aber extrem gutgestellten Per­ sonen zu sein? Oder warum sollte er sich nicht für ein System ent­ scheiden, das versucht den Gesamt- oder den Durchschnittsnutzen zu maximieren, in der Hoffnung, dabei ein besseres Los als nach der Maximin-Regelung zu treffen. Von einer befriedigenden Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob es Rawls gelingt, seine Theorie als die bessere Alternative zum Utilitarismus zu präsentieren. Er räumt selbst ein, daß das Maximin-Prinzip nicht in jedem Fall die beste Regel für Entscheidungen unter Unsicherheit ist. Er meint aber, daß man im Urzustand nach ihr verfahren wird, weil in ihm drei spezielle Bedingungen gegeben sind: 1. Wenn man wissen könnte, mit welcher Wahrscheinlichkeit man in jeder der nach einer gewählten Regelung möglichen Positionen sein würde, dann könnte man den Nutzen einer jeden Position mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit multiplizieren und durch Addition aller so gewonnenen Werte den Gesamterwar­ tungswert einer Regelung bestimmen. Dann wäre es rational, sich im Urzustand für die Regelung mit dem höchsten Erwartungswert zu entscheiden. Doch die Unwissenheit im Urzustand konzipiert Rawls so, daß auch diese Wahrscheinlichkeitswerte nicht bekannt sind. 2. Wenn die schlechteste nach der Maximin-Regel mögliche Position schon ein zufriedenstellendes Leben garantiert, dann erscheint es

35 Harsanyi weist zudem darauf hin, daß die strikte Befolgung der Maximin-Regel auch zu moralisch fragwürdigen Resultaten führen würde: Angenommen es gibt in einer Gesellschaft noch frei verfügbare Ressourcen. Diese können nun entweder dazu ver­ wendet werden die Fähigkeiten von schwer Behinderten ein wenig zu verbessern - sie z.B. in die Lage versetzen, ihre Schuhe selbständig zuzubinden. Oder die Mittel können dazu verwendet werden, hochbegabten und motivierten Individuen eine mathematische Ausbildung zu ermöglichen. Nach dem Maximin-Prinzip müßten die Mittel zur Ver­ besserung der Lage der Schlechtestgestellten verwendet werden, also den Behinderten zugute kommen. Doch, so Harsanyis Einwand, der common sense würde in Überein­ stimmung mit dem Utilitarismus befürworten, daß die Mittel den Hochbegabten zugute kommen, weil auf diese Weise viel mehr Gutes bewirkt werden würde (Harsanyi, 1976, S. 41f.). 82

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nicht besonders verlockend, diese Position für die Möglichkeit ei­ ner Besserstellung zu riskieren. 3. Das utilitaristische Prinzip könnte im Zug der Maximierung des Gesamt- oder des Durchschnittsnutzens einigen Mitgliedern der Gesellschaft schwere Lasten auferlegen. Doch die Wählenden müssen sich für eine Regelung entscheiden, zu der sie auch in ih­ rem wirklichen Leben stehen können. Das wird sie motivieren, solche Belastungen zu vermeiden, die ihnen, wenn sie davon be­ troffen werden, unerträglich erscheinen.36 Die ersten beiden Antworten sind offenkundig nicht ausreichend, um zu begründen, daß die Entscheidung für Moralprinzipien nach dem Maximin-Prinzip erfolgen muß: - Die Unkenntnis hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitswerte ist ein ad-hoc Postulat, von dem zu zeigen wäre, wie es seinerseits ge­ rechtfertigt ist. Zudem ist die Ausschaltung dieses Wissens nicht einmal ausreichend. In Unkenntnis der Wahrscheinlichkeiten kann es allemal noch rational sein, nach der Laplaceschen Regel zu verfahren und allen Möglichkeiten dieselbe Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben. Auch damit wäre die Ermittlung eines Gesamt­ erwartungswertes möglich. Um dies auszuschließen, muß Rawls als eine zusätzliche Bedingung einführen, daß die Parteien im Ur­ zustand nur von Wahrscheinlichkeitsannahmen ausgehen, für die sie objektive Gründe haben.37 Doch damit hat er ein weiteres Ele­ ment eingefügt, das von vornherein nur dem einzigen Zweck zu dienen scheint, die utilitaristische Alternative auszuschließen. - Das zweite Argument macht eine Voraussetzung, die Rawls' eige­ nen Annahmen zufolge gar nicht möglich ist. Die Parteien sollen ja ihre speziellen Vorstellungen vom Guten gerade nicht kennen. Aber wenn sie die nicht kennen, wie soll es ihnen dann möglich sein abzuschätzen, wie wichtig ihnen die Dinge sein werden, die man über die Minimalposition hinaus gewinnen kann? Zur Stützung der These ist einzig das Argument der unannehmbaren Folgen geeignet. Rawls stellt hier zwei Konsequenzen als unakzepta­ bel heraus: a) Die gewählten Grundsätze sollen endgültig sein, d. h. sie wer­ den auch für die Nachkommen gelten. Selbst wenn jemand bereit sei, für sich ein hohes Risiko einzugehen, so werde er doch zögern, seine 36 Rawls, 1979, S. 179-81. 37 Ebd. S. 197. ^

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Nachkommen mit einem solchen zu belasten. Das Argument hat einen plausiblen Kern: Selbst ein Hochrisiko-Fan, der sich für eine Sklavenhaltergesellschaft in der Hoffnung entscheidet, nicht zu den Sklaven zu gehören, wird zumindest darüber nachdenken, wie er, falls er doch zu den Sklaven gehört, dann vor seinen Kindern recht­ fertigen kann, daß diese nun ebenfalls als Sklaven geboren werden mit den entsprechend trüben Aussichten. D. h. wenn man überhaupt Rücksicht auf seine Nachkommen nimmt, dann wird man davor zurückschrecken, Risiken einzugehen, bei denen die Nachkommen irreversibel mitgeschädigt werden können. Man wird darauf achten, daß die Nachkommen ihrerseits wenigstens die Chance haben, auch das bessere Los zu realisieren. Doch jenseits solcher gleichsam ze­ mentierenden Entscheidungen beginnt das Nachkommen-Argument zweischneidig zu werden. Angenommen es geht um die Entschei­ dung zwischen zwei Wirtschaftsordnungen. Die erste ist sehr regle­ mentiert, deshalb nicht besonders effizient, aber in ihr hat jeder ga­ rantiert einen Arbeitsplatz. Die zweite Ordnung ist weniger reglementiert, man kann darin bis zu drei Jahren arbeitslos sein, aber dafür ist die Produktivität etwas höher. Wenn dann die Arbeitslosig­ keit an Übel die infolge größerer Produktivität möglichen zusätz­ lichen Freuden überwiegt, dann muß man sich nach dem Maximin­ Prinzip für das reglementiertere System entscheiden. Aber hier wäre es nicht abwegig, wenn die Nachkommen darüber anders denken. Sie könnten meinen, daß man ein solches Risiko durchaus hätte einge­ hen sollen und könnten deshalb ihren Eltern gerade deren Risiko­ scheu vorwerfen. b) Ein freies Wesen habe, so Rawls, ein Interesse höchster Ord­ nung daran, seine Freiheit zu bewahren. Diese könne es nicht in der nach dem Nutzenprinzip möglichen überindividuellen Verrechnung aufs Spiel setzen, und deshalb werde es nach dem Maximin-Prinzip solche Prinzipien wählen, die diese Freiheit nicht gefährden.38 Die Orientierung am Nutzenprinzip wäre demnach nur für jemanden rational, der über eine Risikobereitschaft in allen Dingen verfügt. Und das ist sicher keine evidente Prämisse. Anders als Harsanyi meint, ist es also durchaus nicht rational geboten bei unparteiischen Abwägungen unter Unsicherheit, stets nach Regeln zu suchen, die den Durchschnittsnutzen maximieren.39 Doch andererseits kann 38 Ebd. S. 176. 39 Harsanyi, 1976, S. 45. Allerdings kann auch der Utilitarismus ein gewisses Maß von 84

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man nicht behaupten, daß die von Rawls beschriebene Risikoscheu rational ist.40 Vernünftig ist die von Rawls favorisierte Einstellung nur, wenn man bereits die von ihm angeführten Interessen höherer Ordnung hat. Aber eben das wird der Risikofreudige bestreiten. Rawls' Argument bleibt also eines ad hominem. Es besagt eigentlich: Als Menschen sind wir oder doch die allermeisten nun mal nicht so risikofreudig. Das ist nicht zwingend, aber mehr, so könnte sich Rawls verteidigen, kann man auch kaum erwarten. Jede interessen­ basierte Moraltheorie muß sich irgendwann auf die Interessen der Menschen, so wie sie nun mal sind, beziehen. Wenn niemand Angst davor hätte, ermordet zu werden, dann gäbe es in unserer Moral kein Tötungsverbot.41 Diese Erwiderung ist sicher berechtigt, aber sie macht zugleich klar, daß man in der Moraltheorie einen Problemtypus ernster neh­ Risikoscheu integrieren. Man könnte etwa sagen, daß das System mit dem größten Gesamtnutzen ein positives Recht auf Leben enthalten muß, weil ohne diese Garantie der Gesamtnutzen sofort so drastisch sinken würde, daß dies durch andere Vorteile nicht kompensiert werden kann. 40 In der englischen Ausgabe hatte Rawls sein Beweisziel noch sehr massiv formuliert: »Therefore, it is not an argument for the two principles of justice that they express a peculiarly conservative point of view about taking chances in the original position. What must be shown is that choosing as if one had such an aversion is rational given the unique features of that situation irrespective of any special attitudes toward risk.« (Rawls, 1971, S. 172). Diesen Nachweis meinte Rawls mit der Einführung der drei oben kritisierten Bedingungen geführt zu haben. In der deutschen Ausgabe ist das Beweisziel schon moderater formuliert: »Man muß zeigen, daß es angesichts der besonderen Ei­ genschaften dieser Situation für jedermann vernünftig ist, diesen Grundsätzen und nicht dem Nutzenprinzip zuzustimmen, wenn sich die Abneigung gegen Unsicherheit bezüglich der Sicherung seiner Grundinteressen im gewöhnlichen Rahmen hält.« (Rawls, 1979, S. 197). In dem von mir hervorgehobenen Satzteil, wird anerkannt, daß eine spezielle Abneigung gegen Unsicherheit - die sog. >gewöhnliche< - ein Rolle bei der Bevorzugung des Prinzips spielt. 41 Auch Tugendhat hat betont, daß aus dem ursprünglichen moralischen Impuls, alle gleich wichtig zu nehmen, keineswegs folgt, sich auf eine solche Gesamtsumme zu be­ ziehen (Tugendhat, 1993, S. 324). Es ist aber irreführend, wenn Tugendhat den Wider­ stand gegen die Maximierungsstrategie damit begründet, daß der Utilitarismus die Letztgegebenheit der Individuen und ihrer Rechte übersehen, somit vernachlässigt ha­ be, daß alle ein Recht darauf hätten, gleichmäßig berücksichtigt zu werden (ebd. S. 324, 327). Diese Argumentation ist zirkulär, denn Rechte ergeben sich, wie auch Tugendhat später einräumt, erst aus der unparteiischen Berücksichtigung von Interessen (ebd. S. 347, 349). Es gibt kein höherstufiges Proto-Recht auf die unparteiische Berücksichti­ gung selbst. Man muß deshalb zeigen, daß die utilitaristische Verrechnung aus der un­ parteiischen Perspektive nicht wünschenswert ist - etwa wegen des damit verbundenen Risikos. ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

men muß, den Rawls mit dem Urzustands-Modell vorschnell beiseite geschoben hat. Auch wenn es unzutreffend ist, daß alle jene generelle Risikobereitschaft haben, die zur Entscheidung für das Nutzenprin­ zip notwendig ist. Man muß doch damit rechnen, daß wenigstens einige so denken und noch weit mehr damit, daß es darüber, welche Risiken genau nun zu vermeiden sind, keinen Konsens geben wird. So ist es immerhin vorstellbar, daß eine Gruppe von Personen sich im Urzustand einmütig für die Einrichtung einer Sklaverei entscheidet und daß sich dann auch tatsächlich niemand moralisch mißhandelt fühlt, wenn ihn das Los des Sklaven trifft. Und es ist weitaus eher denkbar, daß jemand im Urzustand sich zwar hinsichtlich der Grund­ freiheiten für deren Gleichverteilung entscheidet, hinsichtlich der materiellen Güter aber eine Wirtschaftsform bevorzugt, die auf die Maximierung des Durchschnittsnutzens zielt.42 Daran zeigt sich, daß eine wesentliche Leistung, die Rawls von seiner Theorie erwartet, von dieser nicht erbracht werden kann. Sie ist an entscheidender Stelle gerade nicht in der Lage, moralische Meinungsverschiedenhei­ ten zu vermindern, weil es nicht möglich ist, eine bestimmte Einstel­ lung zum Risiko als die einzig rationale zu erweisen.

II.3. Fazit

Der Versuch, von den gegebenen moralischen Urteilen oder Intuitio­ nen auszugehen und ein Prinzip derselben freizulegen, ist also mit drei Schwierigkeiten verbunden: • Ein solches Prinzip kann nicht induktiv gefunden werden. Dazu ist schon das moralische Denken einer Person zu komplex und noch weniger wahrscheinlich ist es, ein gemeinsames und in diesem Sin­ ne objektives Prinzip der moralischen Wertungen aller Individuen zu finden. • Demgegenüber erweist sich ein kohärenztheoretisches Überle­ 42 Daß die Bevorzugung der Rawls'schen Prinzipien von einer recht speziellen Risiko­ scheu abhängt, ist auch von Koller kritisiert worden (Koller, 1996a, S. 379). Zudem ist offenkundig, daß es mindestens einige Bereiche oder Situationstypen geben wird, für die das utilitaristische Kalkül aus der unparteiischen Perspektive akzeptabel ist. Dazu zählen solche Fälle, wo die Alternative nur darin besteht, Übel von gleicher Art in verschiedenem Ausmaß zu verhindern. Wenn nach einem Erdbeben das Bergungsgerät knapp ist, dann ist es aus der unparteiischen Perspektive rational zu befürworten, daß es dort eingesetzt wird, wo es die meisten Verschütteten befreien kann. 86

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3. Fazit

gungsmodell als überlegen. Hier ergibt sich die Wahrheit eines Prinzips durch die gegenseitige Stützung mehrerer Erwägungen. Dieses Modell erlaubt es, einige der anfänglichen Intuitionen, um deren Systematisierung es in der Theorie geht, abzulehnen oder zu modifizieren. Doch auch ein Kohärenzmodell kann nur schwer ei­ ne objektive Gültigkeit von Prinzipien generieren, weil es sowohl denkbar wie wahrscheinlich ist, daß verschiedene Individuen ab­ weichende, aber je in sich kohärente Systeme moralischer Über­ zeugung entwickeln können. • Man kann ein von allen akzeptiertes und in diesem Sinne objekti­ ves Prinzip sicher dann finden, wenn man es in sehr allgemeinen Begriffen faßt. Etwa so, daß das Kriterium der moralischen Schät­ zung der öffentliche Nutzen oder das Wohl der Menschheit ist. Doch die so gewonnene Objektivität ist ohne Bedeutung. Man hält damit noch nichts in Händen, mit dem man eine der möglichen Ausdeutungen von >Wohl der Menschheit den anderen vorziehen könnte. Der Streit in der Ethik ist aber gerade einer um die Vorzü­ glichkeit einer dieser Auslegungen. Es ist deutlich geworden, daß eine jede Theorie, die von den mora­ lischen Intuitionen ausgehen will, einen Vorbegriff des Moralischen braucht, um ihre Basis-Intuitionen überhaupt identifizieren zu können. Dieser Vorbegriff muß zugleich bestimmt und vage sein: Er muß den Gegenstandsbereich der nachfolgenden Theorie bestimmen können, ohne den materialen Gehalt des Moralprinzips unmittelbar zu präjudizieren. Doch auch wenn der Vorbegriff das Prinzip nicht unmittelbar implizieren darf, es ist immer noch möglich, daß er ein solches mittelbar impliziert. Ich denke, daß sich die Schwächen der beiden untersuchten Theorien daraus ergeben, daß sie die Möglich­ keit der mittelbaren Implikation nicht ausgelotet haben. Sie haben mit ihrem jeweiligen Vorbegriff gleichsam nichts angefangen. Bei Hume gehörte zum Vorbegriff die Idee eines in dreifachem Sinn uni­ versalen Gefühls: Es sollte von allen Menschen geteilt werden, sich auf alle Menschen beziehen und von allen geschätzt werden können. Hume hat sich dann damit zufriedengegeben, daß das Gefühl der humanity diesen Bedingungen genügt, ohne zu untersuchen, ob die­ se Bedingungen noch ein Potential enthalten, die Bedeutung des Gefühls näher zu spezifizieren. Rawls ging von einem funktionalen Vorbegriff aus und hat sogar einige formale Bedingungen benannt, die sich für einen Begriff der Gerechtigkeit daraus ergeben. Doch all dies hat er erstaunlicherweise nicht benutzt, um sein wichtigstes me­ ^

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II. Die Systematisierung von Intuitionen

thodisches Problem, die Rechtfertigung seiner Spezifikation des Ur­ zustandes, zu lösen. Er hielt die formalen Bedingungen für zu viel­ fältig, um daraus etwas Bestimmtes ableiten zu können.43 Dabei ist sein Vorbegriff durchaus in der Lage, um wenigstens einen Teil des Schleiers des Nichtwissens zu rechtfertigen. Das könnte etwa so ge­ schehen: (1) In der Moral geht es demnach um allgemeine Regeln, die die Ansprüche der Menschen aneinander und an Institutionen regu­ lieren. (2) Durch solche Regeln werden die meisten der sozialen Positionen, die es in der Gesellschaft gibt, allererst konstituiert oder in ihrer Bedeutung festgelegt. Zwar kann man auch unabhängig von sol­ chen Regeln etwa die Position einer Mutter haben, aber was diese Position über den biologischen Tatbestand hinaus ausmacht, ist bereits eine Folge von sozialen Regeln. (3) Eine Rechtfertigung solcher Regeln muß auf die Interessen der Betroffenen bezug nehmen. (4) Dann dürfen in die Rechtfertigung solcher Regeln nicht Inter­ essen eingehen, die bereits voraussetzen, daß jemand eine der sozial konstituierten Positionen innehat. D. h. wenn es schon eine Rechtfertigung geben soll, dann muß diese radikal sein, sie muß sich auf alle Regeln und die dadurch definierten Positionen er­ strecken. So wäre es innerhalb einer moralischen Begründung eine unzulässige Verkürzung, wenn man nur fragen würde, wel­ ches Steuersystem für die Armen und die Reichen in einer Gesellschaft akzeptabel wäre. Diese Fragestellung wäre eine Ver­ kürzung, weil zuerst zu klären ist, ob man überhaupt gesell­ schaftliche Regeln in Kraft setzen will, die dazu führen, daß es Arme und Reiche gibt. Es ist diese in der moralischen Be­ gründung angelegte Radikalität, die eine an Interessen orientier­ te Moralbegründung davor schützt, zur Rechtfertigung >fauler< Kompromisse zu verkommen. Das hat eine wichtige Konsequenz: (5) Wenn man in einer moralischen Begründung davon absehen muß, daß man in einer bereits durch Regeln produzierten Situa­ tion ist, dann sind in einer moralischen Überlegung nur Argu­ mente verwertbar, die unabhängig von solcher Zugehörigkeit einleuchten können. Jemand oder auch alle können sagen »Ich möchte gern solche Regeln, die es erlauben, reich zu werden.« 43 Rawls, 1979, S. 153. 88

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3. Fazit

Aber niemand kann sagen »Ich bin reich und möchte es gern bleiben.«. Das heißt aber gerade: Man muß sich in der Argumen­ tation so verhalten, als wüßte man nicht, welches einmal die ei­ gene Position sein wird. Durch die Logik des moralischen Argumentierens wird also all das ausgeschlossen und gleichsam hinter einen Schleier des Nichtwissens verbannt, was schon von Regeln abhängt. Nicht ausgeschlossen wird hierdurch aber das Wissen um die eigenen Talente, Neigungen etc. Das Beispiel zeigt, daß im Begriff der Moral durchaus ein Potential zur mittelbaren Generierung eines Moralprinzips steckt. Im folgen­ den werde ich deshalb untersuchen, ob man nicht einen Begriff des Moralischen entwickeln kann, der es unter Umgehung der materia­ len Intuitionen erlaubt, ein Moralprinzip zu begründen.

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Kapitel III:

Der Begriff der Moral

III.1.

Zwei Grundprobleme einer formalen Analyse

Die bisherige Analyse hat gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Versuche konfrontiert sind, gleichsam unmittelbar zum moralisch Richtigen vorzustoßen. Dieses ließ sich weder als diejenige Hand­ lungsweise verstehen, für die es ausgehend von der Situation und der Verletzlichkeit des Menschen eine überragenden Grund gibt. Noch ließen sich aus der bi- oder multipolaren Struktur der Seele zwingende Gründe für ein Verhalten ableiten, das elementaren mo­ ralischen Normen genügt. Und auch aus der Fähigkeit des Menschen, sein Dasein zu reflektieren und von außen zu sehen ergaben sich solche Gründe nicht. Auch der schon bescheidenere Versuch, gleich innerhalb der moralischen Intuitionen anzusetzen und diese lediglich zu systematisieren, führte nicht zu einem hinreichend eindeutigen Resultat. Diese Enttäuschungen lassen es angeraten erscheinen, zwei Konsequenzen zu ziehen: 1. Man muß bei der Suche nach dem moralisch Richtigen zunächst davon absehen, ob und wie wir motiviert sind, entsprechend zu handeln. Man muß untersuchen, ob es nicht so etwas gibt wie eine Logik oder Disziplin des moralischen Denkens, deren interne Stan­ dards uns erlauben, wahre von falschen moralischen Überzeugun­ gen zu unterscheiden. 2. Diese Logik darf, wenn sie etwas leisten soll, nicht eine sein, die nur auf der Basis von schon vorausgesetzten materialen mora­ lischen Überzeugungen ansetzen kann. Die Leitbegriffe dieser Dis­ ziplin können nicht nur die Kohärenz oder die Hierarchisierung solcher Überzeugungen sein. Aber was bleibt als Ausgangspunkt für eine Moraltheorie übrig, wenn man von allem, was uns faktisch motiviert und von dem, was zu unseren moralischen Intuitionen gehört, absieht? Das kann nur 90

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1. Zwei Grundprobleme einer formalen Analyse

das sein, was man braucht, um das vorliegende Problem überhaupt verstehen zu können. Dazu gehört, daß man es in seiner Eigen­ tümlichkeit versteht, d. h. als Problem der Moral, unterschieden etwa von Problemen der Ästhetik oder der Klugheit. Und solche Hinter­ grundannahmen scheint es zu geben. Auch wenn zwei Menschen, ausgehend von ihren moralischen Intuitionen, etwa über die Bewer­ tung von Abtreibung streiten, sind sie sich doch darin einig, daß sie einen moralischen Disput führen. Diese Einigkeit wird ermöglicht durch einen von den Kontrahenten geteilten Begriff des Moralischen. Und damit wird für die Frage nach dem moralisch Richtigen eine neue Strategie erkennbar: Wenn es einen solchen Begriff des Mora­ lischen gibt, dann könnten moralische Urteile in dem Maß wahr sein, wie sie diesem Begriff entsprechen. Diese Strategie ist allerdings mit zwei Problemen verbunden: (1) Wie kann man ausmachen, was zum Begriff des Moralischen gehört, was den moralischen Standpunkt definiert? Welches sind die Einstellungen und Theorien, die unter diesem Begriffsschirm Platz haben müssen? Wie kann man überhaupt bestimmen, was zur Be­ deutung irgendeines Wortes gehört und was nicht? In vielen Fällen ist das einfach eine Frage der konventionellen Definition. Wenn je­ mand sagt, Kreise seien diejenigen geometrischen Gebilde, deren Kanten senkrecht aufeinander stehen und gleich lang sind, dann ist dies falsch, weil es von der Konvention, die in unserem Sprach­ gebrauch für >Kreis< etabliert ist, abweicht. Es spricht nichts dagegen, die Bedeutung von Kreis und Quadrat auszutauschen. Aber solange sie sind, wie sie sind, ist die abweichende Wortverwendung schlicht falsch. Auch beim Begriff des Moralischen kann man eine Begriffs­ bestimmung nicht anders beginnen als mit einer Analyse solcher Auseinandersetzungen oder Thesen, die unstreitig als moralische anerkannt sind, d. h. mit einer Analyse vorhandener Vorstellungen und des bestehenden Sprachgebrauchs. Doch dann ist das Ausgehen vom Sprachgebrauch mit einem von Singer beschriebenen Dilemma konfrontiert: Entweder be­ schreibt man die für moralisches Sprechen notwendigen Charakteri­ stika so, daß alle Moraltheorien darunterfallen. Dann hat man aber kein Kriterium mehr, um eine der Theorien zu bevorzugen. Oder man faßt die Charakteristika so, daß einige Theorien ausgeschlossen werden. Doch dann werden sich deren Anhänger mit dem Vorwurf wehren, daß die Liste oder das Verständnis der notwendigen Charak­ teristika zu eng gefaßt waren. Die Anhänger der ausgeschlossenen ^

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III. Der Begriff der Moral

Theorien werden behaupten, ihre Gegner hätten spezielle moralische Überzeugungen in die Definition des Moralischen hineingeschmuggelt-1 Das könnte in der Tat passieren. Aber ich denke, daß alle strei­ tenden Parteien ein Interesse haben, dieses zweite Horn des Dilem­ mas zu vermeiden. Dies deshalb, weil sie ansonsten aufhören würden, über etwas zu streiten. Wenn jemand behauptet, es sei die Bedeutung des moralischen Standpunkts, auf die Gebote Gottes zu achten, und ein anderer, es sei die Bedeutung dieses Standorts, nach der Maximierung des Gesamtnutzens zu streben, dann können sie nicht mehr um etwas streiten. Die jeweils andere Partei redet dann, eben weil sie die vorgebliche Bedeutung des moralischen Stand­ punkts verkennt, gar nicht mehr über Moral, sondern über irgend­ etwas anderes. Man würde so in einer terminologischen Immunisie­ rung enden. Wenn man dieses unerfreuliche Resultat vermeiden will, muß man zunächst einmal das erste Horn des Dilemmas anerkennen. Man muß in einem ersten Schritt einen weiten Begriff des Moralischen entwickeln, unter dessen Schirm alle Theorien Platz haben. Damit ist natürlich noch nichts für die Auszeichnung einer Theorie als rich­ tiger gewonnen. Dies kann erst in einem zweiten Schritt geschehen. Hier muß untersucht werden, welche Elemente die Theorien über jene Elemente, kraft derer sie moralische sind, hinaus aufnehmen, um sich in ihrer Spezifizität zu konstituieren. Der Diskurs über die Vorzüglichkeit einer Moraltheorie muß dann als Diskurs über die Vorziehbarkeit solcher Zusatzelemente geführt werden. (2) Wenn man von der tatsächlichen Sprachpraxis ausgeht, scheint die analysierende Theorie zu einer empirischen zu werden. Kann ihre Richtigkeit dann nur noch darin bestehen, daß sie den vorfindlichen Sprachgebrauch zutreffend beschreibt? Oder verfügt sie über Möglichkeiten, diese Sprachpraxis zu kritisieren? Auf denkbar radikale Weise ist dieses Problem von Alasdair MacIntyre inszeniert worden: Er imaginiert eine geistesgeschichtliche Katastrophe, in de­ ren Folge die Sprache der Moral in so große Unordnung gerät, daß alle nachfolgenden analytischen und phänomenologischen Bemüh­ ungen dazu verurteilt sind, diese Unordnung nurmehr zu beschrei­ ben und für die Sache selbst zu nehmen. Zu der vor der Katastrophe liegenden Wahrheit könnten solche Theorien aufgrund ihrer Verhaf1 Singer, 1994, S.28f. 92

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2. Die Charakteristika der moralischen Rede

tetheit am gegenwärtigen Sprachgebrauch aber nicht mehr zurück­ finden.2 Doch dieser Einwand ist überzogen, weil er ein falsches Bild davon hat, wie eine den Sprachgebrauch analysierende Theorie vor­ geht. Es ist ja nicht so, daß der analysierende Philosoph lediglich ein Modell entwickeln könnte, das die vorherrschenden Denkweisen sy­ stematisierend beschreibt. Stattdessen wird er in diesem Sprach­ gebrauch Unklarheiten, unplausible Hypothesen oder sogar Wider­ sprüche entdecken, die einer Systematisierung entgegenstehen. In diesen Fällen kann und muß seine Theorie Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Aber diese müssen stets so stark im bestehenden Sprachgebrauch und in den funktionalen Erwartungen an eine Moral verwurzelt sein, daß sie als Vorschläge zu deren Verbesserung akzep­ tabel bleiben. Wer die Vermittlung mit dem Bestehenden versäumt, wird sich schnell dem Vorwurf aussetzen, er rede über eine ganz an­ dere Sache. Eine Moraltheorie muß in ihrem begrifflichen Gerüst weitgehend konservativ bleiben. Dies schließt aber nicht aus, daß schon geringfügige begriffliche Erweiterungen zu Forderungen und zu einer Praxis führen können, die dem etablierten Verhalten radikal entgegengesetzt sind.

111.2.

Die Charakteristika der moralischen Rede

Welches sind im Rahmen dieser generellen Bedingungen die konkteteren Erwartungen, denen ein der Praxis des moralischen Redens entlehnter und brauchbarer Begriff des Moralischen genügen muß? Es ist offenkundig, daß es in moralischen Aussagen darum geht, daß wir irgendetwas tun oder nicht tun sollen. Zum Ausdruck solcher auf Verhaltenslenkung zielenden Absichten stehen zwei Wortgruppen zur Verfügung. Das sind die Gegensatzpaare >gut-schlecht< und >sollen/müssen-nicht dürfengutrichtig< oder >falsch< und >schlecht< formuliert, sondern oft auch in vorschreibenden Wendungen wie >das darf man nichtdu sollst< oder >wir müssengut< in moralischen Zusammenhängen: 1. Aussagen über das moralische Gutsein beziehen sich nicht auf Menschen in irgendwelchen speziellen Hinsichten oder Funktio­ nen (Architekt oder Giftmörder), sondern auf Menschen als Men­ schen.3 2. Wir können nicht aufhören, Menschen zu sein. Wenn man akzep­ tiert, daß eine Handlung moralisch gut ist, dann muß man deshalb auch akzeptieren, daß es gut wäre, wenn man selbst in ähnlichen Umständen so handelt. Wenn man zugibt, daß das Leben des Franz von Assisi moralisch besser ist als das eigene, dann muß man auch versuchen, dem Franz von Assisi ähnlicher zu werden. Man muß einen Imperativ an sich selbst richten. Es ist Hare natürlich nicht verborgen geblieben, daß der im zweiten Punkt postulierte Zusammenhang oft nicht besteht. Viele loben den heiligen Franziskus, ohne ihm wirklich nachzueifern. Doch gerade diesen Umstand nutzt Hare, um Konventionen von moralischen Ur­ teilen abzugrenzen. Er unterscheidet dazu zwei Verwendungsweisen von >sollen< : • >Sollen< kann zuerst so gebraucht werden, daß man damit lediglich über eine Konvention berichtet. Bei der konventionellen Verwen­ 3 Hare, 1983a, S. 177, 203. ^

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III. Der Begriff der Moral

dungsweise ist es möglich zu sagen »Du solltest schwarze Sachen tragen, aber zieh ruhig das blaue Kleid an«. Mit einer solchen Aus­ sage könnte man jemanden über das Bestehen einer Konvention informieren und gleichzeitig zu verstehen geben, daß man sich selbst von dieser nicht gebunden fühlt.4 • Doch daneben gibt es noch die Verwendungsweise in Werturteilen. Ein Werturteil definiert Hare dadurch, daß jemand der sagt >Ich sollte X tun< auch den Imperativ an sich richtet >Laß mich X tun«5 Einem Befehl kann man nach Hares vorangegangener Analyse aber nur dann aufrichtig zustimmen, wenn man ihn in der ent­ sprechenden Situation auch ausführt - vorausgesetzt man ist psy­ chisch und physisch dazu in der Lage.6 Es gehört somit per definitionem zur Natur eines Werturteils, daß der, der es abgibt, auch versuchen muß, so zu handeln, oder sich Vorwürfe machen muß, wenn er es nicht tut. Auf diesen Definitionen baut das entscheidende Argument auf: Mo­ ralische Urteile hätten die Funktion, unser Wählen und Handeln wirklich zu leiten. Und dieser Funktion können sie nur gerecht wer­ den, wenn sie als Werturteile verstanden werden. Für ein moralisches Urteil sei es deshalb konstitutiv, daß man mit der Zustimmung zu ihm auch einem Imperativ an sich selbst, so zu handeln, zustimmen muß. Wer diese Zustimmung nicht gebe, gebe damit zu erkennen, daß er das moralische Urteil mißverstanden haben muß. »Wir sind deshalb durchaus berechtigt zu sagen, daß der Imperativ aus dem moralischen Urteil logisch folgt«.7 Der Sinn dieser von Hare behaup­ teten Präskriptivität ist somit: Man hat ein moralisches Urteil wie >X ist richtig< oder >Ich sollte X tun< nur dann richtig verstanden und gibt es nur dann aufrichtig ab, wenn man entweder auch so handelt, oder im Fall abweichenden Handelns wenigstens Schuldgefühle ent­ wickelt. Doch diese These ist zugleich zu schwach und zu stark: • Sie ist zu schwach, weil sie Konventionen nicht von moralischen Urteilen abgrenzen kann. Bei konventionellen Urteilen, so Hares These, fühlen wir keine Verpflichtung entsprechend zu handeln, bei moralischen Urteilen dagegen schon. Doch damit macht er sich die Sache zu einfach. Seine Analyse solcher Urteile beschreibt nur 4 5 6 7 96

Hare, Hare, Hare, Hare,

1983a, 1983a, 1983a, 1983a,

S. 206. S. 211. S. 40; vgl. auch 1983b, S. 90, 96ff. S. 214f.

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2. Die Charakteristika der moralischen Rede

den Fall, daß jemand sich einer Konvention nicht zugehörig fühlt. Jemand kann die Aussage >Ich sollte heim Esssen nicht rülpsem aber auch als ein Werturteil hegreifen, d. h. einen entsprechenden Imperativ an sich selbst richten und Schuldgefühle hei der Verlet­ zung des Prinzips empfinden. Gleichwohl kann er einräumen, daß es sich hierbei nur um eine Konvention seines Stammes, vielleicht sogar nur seiner Familie handelt. Man kann auch Konventionen praktisch Folge leisten oder hei deren Verletzung Schuldgefühle entwickeln, ohne sie deshalb für moralische Regeln halten zu müssen. Das Kriterium >Präskriptivität< reicht allein also nicht aus, um moralische Normen von Konventionen zu unterscheiden. • Das Kriterium ist zugleich zu stark, denn wenn moralische Urteile in diesem Sinn präskriptiv wären, dann wäre es begrifflich unmög­ lich, daß jemand zwar ein moralisches Urteil aufrichtig äußert, im Handlungsfall aber davon völlig unbewegt bleibt. Wir alle wissen aber, so der Einwand David Brinks, daß es Menschen gibt, die zwar die Existenz moralischer Fakten (moral facts) anerkennen, aber gleichwohl unbewegt bleiben - die Amoralisten nämlich. Ein sol­ cher Amoralist, so müßte man Brinks These zuspitzen, bleibt un­ bewegt nicht etwa infolge von Willensschwäche, sondern weil er entweder gar keinen oder keinen überragenden Grund sieht, mo­ ralisch zu handeln. Und weil der Präskriptivismus die Existenz solcher Personen konzeptionell ausschließt, so die Folgerung, muß der Präskriptivismus falsch sein.8 Hare könnte sich hiergegen mit dem Argument verteidigen, daß die Amoralisten solche Sätze eben nicht aufrichtig äußern. Sie gäben damit gar nicht ihre eigenen moralischen Überzeugungen wieder, sondern berichteten nur über eine Konvention, über die moralischen Überzeugungen anderer. Doch das muß nicht so sein. Es sind mehre­ re Verfahren denkbar, wie jemand moralische Überzeugungen erwer­ ben kann, ohne daß diese ihm zugleich Handlungsgründe bieten müssen: - Jemand könnte die empirische Methode Humes anwenden: Er könnte jene charakterlichen Eigenschaften analysieren, aufgrund derer Menschen geschätzt werden und darin mittels Reflexion schließlich jene Prinzipien freilegen, die die Grundlage der mora­ lischen Schätzung bilden.9 Durch dieses analytische Unternehmen 8 Brink, 1989, S. 46. 9 Vgl. Hume, 1972, S.8f. ^

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wäre nicht präjudiziert, daß der Untersuchende seihst auf diese Weise geschätzt werden möchte. Er muß deshaih auch nicht not­ wendig entsprechende Imperative an sich richten und könnte gleichwohl hegründete moralische Überzeugungen hahen.10 - Ein Rationalist könnte den von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelten Denkweg nachvollziehen: Er könnte ein­ räumen, daß ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen nur denn als allgemeines Gesetz denken kann, wenn dieses nur der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthält. Er könnte weiter zugestehen, daß dieses Gesetz nur der kategorische Impera­ tiv sein kann und dieser zugleich das Sittengesetz ist.11 Auch mit dieser Erkenntnis des Sittengesetzes ist noch keine Handlungs­ motivation verhunden. Auch Kant wendet sich erst viel später dem seines Erachtens für die menschliche Vernunft unauflöslichen Prohlem zu, wie das Gesetz unmittelhar den Willen hestimmen könne.12 Die Lücke zwischen der Erkenntnis des Gesetzes und der Motivierung durch dieses schließt Kant mit der Idee eines ver­ nunftgewirkten Gefühls - der Achtung vor dem Gesetz.13 Man mag diese Erzeugung eines Gefühls für plausihel halten oder auch nicht, der entscheidende Punkt ist, daß die Erkenntnis des Sitten­ gesetzes auch für den Rationalisten logisch unahhängig von der Entstehung des motivierenden Gefühls ist. Hare würde hier vielleicht entgegnen, daß man es sich mit diesen Rekonstruktionen der moralischen Erkenntnis zu einfach macht. In vielen Fällen wird die Anerkennung von »X ist moralisch richtig.« implizieren »Es ist meine Pflicht, X zu tun«. Der Amoralist müßte dann erklären können, wie er einerseits anerkennen kann, eine Pflicht zu hahen, und gleichzeitig keinen Grund sehen kann, entspre­ chend zu handeln. Und eine solche Erklärung scheint aus hegrifflichen Gründen unmöglich, denn zur Bedeutung der Anerkennung einer Pflicht scheint zu gehören, daß man das Pflichtmäßige als allen anderen Neigungen ühergeordnet hetrachtet. Dann kann der Amoralist die Existenz von moralischen Fakten, zu denen ehen auch Pflich­ ten gehören, nicht wirklich anerkennen. Hare hat den Amoralisten 10 Vgl. dazu auch das dritte Buch des Traktatus: »Dies heiden Punkte sind aher offenhar durchaus verschieden. D.h. es ist etwas anderes, die Tugend erkennen, und etwas ande­ res, den Willen auf sie zu richten« (Hume, 1978, Bd. 2, S. 207). 11 KpV,A48,54. 12 KpV, A 128. 13 KpV, A. 130. 98

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2. Die Charakteristika der moralischen Rede

mit jemandem verglichen, der zwar das Wort Hexe kennt und be­ nutzt, aber gleichzeitig bestreitet, daß es Hexen gibt. Ebenso wie die­ se Person das Wort Hexe benutzt, verwendet der Amoralist das Wort Pflicht: Er benutzt es, verneint aber daß es Pflichten gibt.14 Brink hat sich mit dieser Verteidigung nicht auseinandergesetzt. Doch der Amoralist kann sich durchaus noch wehren. Um dem Vor­ wurf zu entgehen, er könne das Haben von Pflichten nicht in seine Perspektive integrieren, müßte er behaupten, daß seine Rede von der Anerkennung moralischer Fakten sich darauf beschränkt, daß mora­ lische Aussagen richtig und falsch sein können. Insofern könne es richtig sein, von jemandem zu sagen, er habe eine moralische Pflicht. Doch die Konstatierung dieser Pflicht sei nur eine Chiffre im mora­ lischen Sprachspiel. Und hier diene sie gerade dazu, das Verhältnis des Menschen zu den moralischen Forderungen zu beschreiben. Handlungen würden als Pflichten bezeichnet, gerade weil es für einen rationalen Egoisten nicht notwendig einen Grund oder ein Mo­ tiv gebe, dergleichen zu tun. Die Rede vom Haben einer Pflicht wäre in dieser Lesart keine ontologische These über die Verfaßtheit des Menschen. Dieses Ausweichmanöver des Amoralisten ist in der von Hare angewandten Untersuchungsmethode geradezu angelegt. Er ver­ sucht das Wesen der Moral durch eine Analyse der moralischen Spra­ che zu bestimmen. Hares These ist, daß es für die Verwendung der Wörter >gutrichtig< oder >sollen< eine spezielle Logik gibt, die auch für den moralischen Diskurs bestimmend ist. Diese logischen Eigen­ schaften sind Universalisierbarkeit und Präskriptivität. Sie sollen zu­ gleich für die Form jeder moralischen Begründung bestimmend sein.15 Doch eine Analyse der logischen Form moralischer Rede kann auch der Amoralist verstehen. Er weiß dann alles darüber, welchen Bedingungen moralische Urteile genügen müssen und wie sie be­ gründet werden. Und dieser Rechtfertigungsform kann er sich glei­ chermaßen hypothetisch bedienen. Der Amoralist könnte sagen: »Moralisch richtig sind nur solche Prinzipien, die ich als Prinzip meines Han­ delns und des Handelns aller anderen gutheißen könnte. Zu den Prinzipien, die ich in diesem Sinn gutheißen könnte, gehören sicher >Man soll nicht töten, stehlen etc.gut< in moralischen Sätzen eine lobende emotive Bedeutung. Solche Äußerungen stellen eine subtile Suggestion dar, die den Hörer dazu ermuntern soll, die entsprechende Einstellung einzunehmen (vgl. Stevenson, 1974, S. 128ff; Ayer, 1964, S. 108). Gegen die emotivistische Bedeutungstheorie moralischer Ausdrücke ist zu recht eingewandt worden, daß sie über die perlokutionäre Komponente solcher Äußerungen deren illokutionären Anteil vernachlässigt. Die illokutionäre Bedeutungs­ komponente verweist aber auf die Verwendungsregeln einer Sprachgemeinschaft. Und deshalb bleibt die Frage nach der Logik solcher Diskurse zulässig (zu dieser Kritik des Emotivismus vgl. Grewendorf, 1974, S. 15-19). 100

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2. Die Charakteristika der moralischen Rede

Gefühle notwendig gehört. Der Amoralist hat dagegen nur mora­ lische Überzeugungen, und für deren Existenz ist das Auftreten sol­ cher Gefühle keine notwendige Bedingung.18 Aber wie steht es umgekehrt? Kann man das Auftreten solcher Gefühle wenigstens als ein hinreichendes Kriterium für das Vorhan­ densein eines moralischen Selbstverständnisses ansehen? Wenn je­ mand Schuld oder Scham empfindet, so könnte man vermuten, dann sind die Überzeugungen, aus denen diese resultieren, in jedem Fall moralischer Natur. - Doch auch diese These läßt sich nicht aufrecht erhalten. Das wird deutlich bei Tugendhats Versuch, mit dem Auf­ treten von Schuld- oder Schamgefühlen zwischen Vernunftnormen und sozialen Normen zu unterscheiden. Unter Vernunftnormen ver­ steht Tugendhat solche, die eine Handlung als praktisch notwendig zur Erreichung eines Ziels darstellen.19 Soziale Normen sind für Tu­ gendhat dagegen dadurch definiert, daß es bei ihrer Verletzung eine soziale Sanktion gibt. Eine Subklasse der sozialen Normen stellen die moralischen Normen dar. Und für diese Normen gebe es, so Tu­ gendhat, noch einmal eine spezifische, innere Sanktion - eben das Schamgefühl.20 Doch die Schamgefühle reichen nicht aus, um bei Verletzung einer Regel diese als moralische zu qualifizieren. Wir entwicklen auch im außermoralischen Bereich Schamgefühle - etwa wenn wir eine Angelegenheit, die uns wichtig ist, schlecht ausführen. Wenn das Schamgefühl also in moralischen und außermora­ lischen Kontexten vorkommt, dann müßte man zwischen diesen Schamgefühlen irgendwie unterscheiden können, wenn deren Emp­ findung noch ein Kriterium für die Verletzung einer moralischen Regel dienen können soll. Wie kann man also unterscheiden, ob man eine moralische oder eine nicht-moralische Scham empfindet? Zur Ausgrenzung der Scham, die wir empfinden, wenn wir eine Sa­ che schlecht ausgeführt haben, hat Tugendhat folgendes Kriterium vorgeschlagen: Die moralische Scham ist von der außermoralischen dadurch zu unterscheiden, daß man bei unzureichendem Handeln im außermoralischen Fall von den anderen Kritik erfährt, daß diese sich 18 Allerdings wird sich der Amoralist auch nicht empören können, denn Empörung und Schuldgefühl gehören zusammen. Wir empören uns über solche Handlungen anderer, für die wir uns schuldig fühlen würden, wenn wir sie selbst begingen. Wer, wie der radikale Amoralist, keine Schuld empfindet, kann sich auch nicht empören. Er kann sich über das Verhalten anderer, wenn es seine Pläne durchkreuzt, nur ärgern. 19 Tugendhat, 1993, S. 42f. 20 Tugendhat, 1993, S. 46f., 59f. ^

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III. Der Begriff der Moral

im moralischen Fall aber über das Handeln empören.21 Damit könnte man dem, der seine moralischen von seinen nicht-moralischen Schamgefühlen unterscheiden will, nun als Kriterium an die Hand geben: Sieh zu, ob du dich, wenn andere so handeln, empörst oder ob du lediglich Kritik übst. Doch auch diese Charakterisierung der moralischen Scham ist mit zwei Problemem belastet: a) Durch die Korrelation von moralischer Scham und Empörung fal­ len die supererogatorischen Handlungen aus dem Gebiet des Mo­ ralischen heraus. Ich kann mich ggf. dafür schämen, einem ande­ ren keine Niere gespendet zu haben. Und diese Scham ist sicher eine moralische. Aber vermutlich wird sich niemand darüber empören, daß ich es nicht getan habe. Die Empörung der anderen ist also kein notwendiges Kriterium für das Vorhandensein mora­ lischer Scham. b) Die obige Unsicherheit hinsichtlich des Charakters der eigenen Schamgefühle, kehrt hinsichtlich der Empörung über die Hand­ lungen anderer wieder: Wie stelle ich, wenn die fragliche Hand­ lung anderer meine Interessen berührt, fest, daß es sich bei mei­ nem Gefühl um Empörung und nicht etwa um Wut über eine Verletzung meiner Interessen handelt? Es könnte daher erfolgversprechend erscheinen, das Schamgefühl als Kriterium aufzugeben und stattdessen das Schuldgefühl heranzuzie­ hen. Schuld, so könnte man sagen, ist immer ein moralisches Gefühl. Doch wie Wildt gezeigt hat, wäre auch das zu pauschal. Es gibt auch nichtmoralische Schuldgefühle - etwa dann, wenn man einen ande­ ren unbeabsichtigt und ohne Fahrlässigkeit geschädigt hat oder wenn eine moralisch richtige Entscheidung die Schädigung eines naheste­ henden Menschen zur Folge hat.22 Hierin zeigt sich das generelle Problem aller Versuche, das Mo­ ralische durch eine spezifische Emotion zu definieren. Je genauer man die möglichen Fälle mustert, desto mehr wird man genötigt, auf der Ebene der Gefühle zu differenzieren. Dies legt den Verdacht nahe, daß wir nicht an einer besonderen emotionalen Reaktion er­ kennen, daß wir moralisch urteilen, sondern, daß wir das Moralische irgendwie unabhängig erkennen und erst von daher unsere Emotio­ nen differenzieren. Schon die immer mögliche Frage, ob eine speziel­ 21 Tugendhat, 1993, S. 58f. 22 Wildt in Fink-Eitel, 1993, S. 205. 102

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le Emotion wirklich nur hei moralischen Fällen auftritt, setzt ja vor­ aus, daß man hereits anderswoher einen Begriff des Moralischen hat, anhand dessen man die Prüfung durchführt. Selhst wenn man die moralische Person durch das Auftreten hestimmter Gefühle charak­ terisiert, hraucht man einen von Gefühlen unahhängigen Moral­ hegriff, der uns sagt, daß es sich um moralische Gefühle handelt. Zu diesem Schritt sieht sich schließlich auch Tugendhat genötigt. Empö­ rung und Tadel heziehen sich für ihn auf die gemeinsame normative Basis. Empörung liegt dort vor, wo wir fordern, daß niemand sich so verhalten soll.23 Ganz dem analog definiert auch Strawson die mora­ lische Empörung als das verallgemeinerte Analogon des Ühelnehmens, das wir hei jeder Schädigung durch andere empfinden. Nur wenn man die eigene Verletzung zugleich als Verletzung eines all­ gemeingültigen Prinzips versteht, kann die darauffolgende Reaktion mit recht heanspruchen, eine moralische zu sein.24 Das Kriterium der Präskriptivität hzw. die dadurch implizierten Schuld- oder Schamgefühle im Fall ahweichenden Handelns ist also aus zwei Gründen unangemessen zur Charakterisierung des mora­ lischen Urteils: - Es wird den Amoralisten nicht gerecht. Man kann lediglich hehaupten, daß Menschen, die ein moralisches Selhstverständnis entwickelt hahen, eine Art an sie selhst adressierten Imperativ ver­ spüren werden, so zu handeln, wie sie es für moralisch richtig hal­ ten. Und nur diese werden auch die negativen reaktiven Gefühle entwickeln, wenn sie nicht so gehandelt hahen. - Auch hei Menschen mit einem moralischen Selhstverständnis reicht es nicht zur Identifizierung ihrer moralischen Urteile aus. Daß sie ein moralisches Urteil ahgehen, erkennen sie nicht an 23 Tugendhat, 1993, S. 58f. 24 Strawson in Pothast, 1978, S. 217f.; vgl. auch Hahermas, 1983, S. 58f. Noch einen Schritt weiter geht J. S. Mill. Für ihn sind die dem Gerechtigkeitshegriff korrespondie­ renden Gefühle der Zorn (resentment) und der Wunsch nach Vergeltung (retaliation). Diese Gefühle hahen aher an sich keinen sittlichen Gehalt, sie stellen sich üherall ein, wo uns etwas Unangenehmes widerfährt. Zu einem sittlichen Gefühl wird diese Bedürfnis nur, wenn es dort auftritt, wo ein Prinzip verletzt wird, das anderen genauso dienlich ist wie einem selhst. Mill definiert das Moralische also ehenfalls nicht üher ein hestimmtes Gefühl - der nicht-moralische Zorn fühlt sich nicht irgendwie anders an als der mora­ lische -, aher auch nicht nur durch die Bezugnahme auf den allgemeinen Geltungs­ anspruch, sondern unmittelhar durch die Bezugnahme auf ein materiales Prinzip (Mill, 1962, S. 306-308). Für die Bestimmung des Begriffs der Moral, kommt dieser letzte Schritt natürlich nicht in Frage. ^

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III. Der Begriff der Moral

dem Aufreten von Gefühlen wie Scham oder Empörung, sondern daran, daß sie für das Urteil eine allgemeine Geltung beanspru­ chen. Das weist auf das nächste Kriterium voraus. 2. Universalität Geradezu überwältigend ist der Chor derjenigen, die darin überein­ stimmen, daß moralische Urteile in irgendeinem Sinn universal sein müssen. Kant zufolge geht es in der Moral nicht nur um Regeln für Menschen, sondern um solche für alle vernünftigen Lebewesen.25 M. G. Singer behauptet, daß das Prinzip der Verallgemeinerung >Was für eine Person richtig ist, ist für jede Person mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen und unter ähnlichen Umständen richtig< - ein wesentlicher Teil der Bedeutung von Termini wie >richtig< oder >sollte< in ihrem spezifisch moralischen Sinn ist und jeder Begründung eines moralischen Urteils vorausgesetzt wird.26 Nahezu gleichlautend kommt auch Hare in seinen Analysen der Moralspra­ che zu dem Ergebnis, daß es zur Bedeutung der moralischen Wertwörter gehört, daß man sich mit ihnen auf eine universelle Re­ gel festlegt.27 Und ebenso sicher ist sich E. Tugendhat, daß eine mora­ lische Position nur derjenige vertritt, der von allen anderen fordert, dasselbe gut zu finden und auch entsprechend zu handeln.28 Wenn man diese Positionen näher untersucht, fällt allerdings schnell auf, daß das breite Einverständnis über den universalen Cha­ rakter moralischer Urteile keinesfalls eine substantielle Übereinstim­ mung ausdrückt. Hinter dem Etikett >Universalität< verbergen sich vielmehr gravierende Differenzen. Es handelt sich um verschiedene und vor allen verschieden massive Überzeugungen. Absteigend von 25 Kant, GMS, S. 389. 26 M. G. Singer, 1975, 25, 57. 27 Hare, 1983b, 45. 28 Tugendhat, 1993,13, 64; so auch Gert, 1983, S. 103. Insbesondere die letzte Charakterisierung führt wieder zu einem Problem mit der Ge­ stalt des Amoralisten. Dieser würde zwar ankennen müssen, daß mit den moralischen Urteilen ein allgemeiner Geltungsanspruch verbunden wird, aber er würde, weil er alle diese Forderungen für verkehrt hält, nicht ernsthaft verlangen können, daß sich alle so verhalten. Allenfalls aus strategischen Gründen könnte er das tun. Aber diese Haltung des Amoralisten ist kein Einwand gegen das Kriterium der Universalität. Auch der Amoralist muß ja zugeben, daß es zur Wirklichkeit derer, die ein moralisches Selbst­ verständnis haben, gehört, daß sie solche Verhaltenserwartungen haben. Die Frage ist nun, ob diese Verhaltenserwartung von so spezieller Struktur ist, daß sie zur Identifika­ tion des Moralischen ausreicht. 104

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der massivsten bis zur schwächsten lassen sich vier Thesen unter­ scheiden: 1. Wer ein moralisches Urteil abgibt, beruft sich dabei auf ein Prin­ zip, das für alle vernunftbegabten Lebewesen gilt (Kant). 2. Wer ein moralisches Urteil abgibt, muß fordern, daß andere die Sache ebenso beurteilen und ebenso handeln (Tugendhat). 3. Wer ein moralisches Urteil abgibt, muß bereit sein, sein Urteil im Sinn einer bestimmten Prozedur zu universalisieren (Hare).29 4. Wer ein moralisches Urteil abgibt, muß bereit sein, gleiche Fälle gleich zu beurteilen (Singer, Hare). Diese Differenzierung macht deutlich, daß die Thesen darüber, was die Universalität moralischer Urteile bedeutet, tief in die Moraltheo­ rien hineinreicht. Für die Frage nach dem Begriff der Moral bedeutet dies, daß man nach einer Bedeutung von Universalität suchen muß, die einerseits so schwach ist, um von den konkurrierenden Theorien anerkannt werden zu können, zugleich aber stark genug ist, um mo­ ralische Urteile von Konventionen und Ratschlägen unterscheidbar zu machen. Von dieser Vorgabe geleitet, wird schnell klar, daß die Kantische Idee der Universalität viel zu stark ist. Der Amoralist würde ja be­ streiten, daß die moralischen Prinzipien vernünftig sind. Allenfalls könnte er einräumen, daß es für Menschen mit einer bestimmten Disposition (die furchtsamen Schwachen etwa) vernünftig ist, ihr Leben nach solchen Prinzipien einrichten zu wollen. Am einfachsten läßt sich naturgemäß die schwächste These un­ termauern. Dies hat Hare getan. Er leitet die These daraus ab, daß die Begriffe >gut< und >richtig< nicht nur eine empfehlende, sondern auch 29 Für diese Universalisierung hat Mackie drei Bedeutungsebenen unterschieden: Auf der ersten Ebene wird für die Formulierung eines moralischen Urteils oder Prinzips nur die Verwendung von Eigennamen zurückgewiesen. Wenn man ein moralisches Prinzip akzeptiert, dann muß man es in einer allgemeinen Form akzeptieren. Auf der zweiten Ebene versetzt man sich unter Beibehaltung der eigenen Neigungen und Präferenzen in die Situation aller Betroffenen und überlegt, ob man das Prinzip aus jeder Position annehmen kann. Auf der dritten Ebene schließlich fragt man ebenso aus allen Positionen, ob man das Prinzip akzeptieren kann, abstrahiert dabei aber von seinen eigenen Neigungen und übernimmt die des Inhabers der jeweiligen Position. Auf dieser Ebene wird den Inter­ essen und Idealen aller Menschen dasselbe Gewicht beigemessen. Mackies These ist, daß allenfalls die ersten beiden Stufen zur Logik moralischen Den­ kens gehören. Moralisches Denken zwinge uns nicht dazu, allen Idealen und Wertun­ gen, die wir nicht teilen, das gleiche Gewicht beizumessen (Mackie, 1981, S. 104-23). ^

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III. Der Begriff der Moral

eine deskriptive Bedeutung haben. Wenn man einen Feuerlöscher gut nennt, dann tut man dies infolge bestimmter Eigenschaften, die er aufweist. Wenn aber die Bedeutung von >guter Feuerlöschen ein­ mal festliegt, dann muß man auch jeden Feuerlöscher, der diese Merkmale aufweist, als einen guten bezeichnen. Und analog verhält es sich mit >richtige Handlung< oder >guter Mensche Auch diese Prä­ dikate werden ihren Objekten aufgrund bestimmter Eigenschaften beigelegt. Das impliziert nicht, daß sich aus dem Auftreten bestimm­ ter Eigenschaften zwingend ergäbe, daß ein Mensch, der sie aufweist, gut genannt werden muß, daß also die Bedeutung von >gut< naturali­ stisch auf diese Eigenschaften reduzierbar wäre. Aber es impliziert, daß man, wenn man überhaupt einen Begriff von >gut< hat, nicht zugleich sagen kann »A ist ein guter Mensch« und »B gleicht A in allen (relevanten) Hinsichten, außer in der, daß er ein guter Mensch ist«. In einem weiteren Schritt zeigt Hare, daß das Wort >sollte< zur Empfehlung oder zum Vorschreiben solcher Handlungen verwendet wird, die in irgendeinem Sinn als gut bezeichnet werden. Deshalb überträgt sich der universale Charakter von Aussagen über das Gut­ sein auf die Soll-Sätze. Wer sagt »Ich sollte X tun, aber kein anderer sollte in einer relevant ähnlichen Lage X tun«, macht sich eines Miß­ brauchs des Wortes >sollte< schuldig.30 Moralische Urteile müssen also deshalb universal sein, weil allen Urteilen infolge des deskripti­ ven Gehalts der in ihnen vorkommenden Termini eine Universalität immanent ist: Gleiche Fälle müssen gleich beurteilt werden.31 Das Argument ist zwingend und so fundamental wie die Logik selbst. Aber gerade wegen seiner Fundamentalität ergibt sich hieraus nichts, was für moralische Urteile spezifisch wäre. Es gilt für alle Urteile und kann deshalb nichts dazu beitragen, moralische Urteile von anderen zu unterscheiden. Für die Frage nach dem Begriff des Moralischen ist diese Analyse unergiebig. Aber damit ist Hares Analyse der moralischen Verwendung von >gut< noch nicht erschöpft. Hare verweist, wie schon erwähnt, sehr zu recht darauf, daß sich Aussagen über das moralische Gutsein eines Menschen nicht auf Menschen in speziellen Hinsichten oder Funk­ tionen (Architekt oder Giftmörder), sondern auf Menschen als Men­ 30 Hare, 1983b, S. 25-47. 31 Wenn man zwei ähnliche Fälle abweichend beurteilt, dann muß man zugleich be­ haupten, daß zwischen ihnen ungeachtet ihrer Ähnlichkeit ein relevanter Unterschied besteht (vgl. M. G. Singer, 1975, S. 63). 106

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sehen beziehen. Wer moralisch geloht werde, werde als guter Mensch, als ein Mensch zum Naeheifern hingestellt.32 Leider hat Hare nicht genauer erklärt, was er mit >Menseh als Menseh< meint. An dieser Stelle führt die Untersuchung von Tugendhat weiter. Seine These ist, daß die moralische Verwendungsweise von >gut< nur als eine ausgezeichnete attributive verstanden werden kann: >Gut< be­ deutet in moralischen Kontexten sicher nicht gut »als Geiger oder Koch, sondern als Mensch oder als Mitglied der Gemeinschaft, als Sozialpartner hzw. Kooperationspartner«.33 Die moralischen Stan­ dards einer Gesellschaft sind demnach diejenigen, »die definieren, was es heißt, ein gutes kooperatives Wesen zu sein«.34 Der Rekurs auf den Begriff des guten Menschen ist für Tugendhat auch deshalb attraktiv, weil dieser »formal genug ist, um für verschiedene Moral­ konzepte offen zu sein«.35 Daraus läßt sich ableiten, daß moralische Urteile in einem be­ stimmten Sinn mit einem universalen Geltungsanspruch verbunden sein müssen: Wenn das in solchen Urteilen vorkommende >gut< nur noch so zu verstehen ist, daß es jemanden in seinem Menschsein und genauer in seinem Kooperationsverhalten qualifiziert, dann muß das Prädikat für alle Menschen bzw Kooperationspartner gelten. Mora­ lische Urteile sind Aussagen darüber, wie jeder Mensch ober minde­ stens alle, mit denen man kooperiert, handeln oder sein sollen. Mora­ lische Urteile beanspruchen also Universalität mindestens in dem Sinn, daß mit ihnen verlangt wird, daß sich alle, mit denen man ko­ operiert an ihnen orientieren. Es ist ein Vorteil dieses Verständnisses von Universalität, daß darin gar nichts über die Gründe, mit denen solche Forderungen gestützt werden, präjudiziert ist. Dieses Verständnis von Universali­ tät ist sogar mit der Überzeugung verträglich, daß sich solche Forde­ rungen gar nicht begründen lassen. Deshalb kann diese Charakteri­ 32 Hare 1983a, S. 177, 203. Diese Unterscheidung wurde auch von Platon bereits ge­ macht. Im ersten Buch der Politeia untersucht Platon u.a., worin die spezielle Tüchtig­ keit eines moralischen oder speziell eines gerechten Menschen besteht. Dabei wird deut­ lich, daß die schätzenswerte Qualität eines gerechten Menschen nicht darin besteht, irgendeine spezielle Kunst zu beherrschen. Denn alle diese Künste sind gleichsam mora­ lisch neutral. Sie können zum Nutzen und zum Schaden anderer Menschen angewandt werden (Politeia, 332d-334b). 33 Tugendhat, 1993, S. 56. 34 Ebd. S. 58. 35 Ebd. S. 56. ^

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III. Der Begriff der Moral

sierung auch nicht durch einen Amoralisten in Frage gestellt werden. Der Amoralist kann zwar bestreiten, daß es einen Grund gibt, sich so zu verhalten. Aber er kann nicht bestreiten, daß es zum Sinn mora­ lischer Urteile gehört zu fordern, daß sich alle so verhalten sollen. Wer meint, daß moralische Urteile gar nicht auf Verhaltenslenkung zielen, muß sich vorwerfen lassen, daß er nicht begriffen hat, worum es in der Moral überhaupt geht. Die bisher entwickelte Bedeutung des Universalitätskriteriums ist auch in der Hinsicht sehr schwach, daß sie gar nichts über einen Rollentausch, geschweige denn über dessen Form besagt. Doch be­ reits diese schwache Bedeutung von Universalität erfüllt die beiden eingangs formulierten Bedingungen: Sie kann sicher von allen Mo­ raltheorien akzeptiert werden und sie ist, wie sich gleich zeigen wird, geeignet Konventionen und Ratschläge ausgrenzen. A) Konventionen Auch Konventionen sind natürlich mit einem Geltungsanspruch ver­ bunden. Aber wenn jemand eine Regel als Konvention begreift, dann ist er bereit anzuerkennen, daß man den entsprechenden Handlungs­ bereich nicht unbedingt so regeln muß. Es ist ihm dann auch inner­ halb seiner Kooperationszusammenhänge akzeptabel, daß es Men­ schen gibt, die einer anderen Regel folgen. Wer der Regel >Alle Männer sollen bei Gottesdiensten einen Hut tragen< anhängt und diese als Konvention begreift, kann sich vorstellen, daß andere ihrem Gott auch ohne Kopfbedeckung dienen können. Das bedeutet nicht, daß die Anhänger einer Konvention, nur weil sie sehen, daß es sich um eine Konvention handelt, aufhören müßten, diese ernst zu neh­ men und zu befolgen. Konventionen sind etwas, mit dem man groß wird. Deshalb sind die entsprechenden Verhaltenserwartungen tief in uns verankert. Auch wenn man um den konventionellen Charakter einer Verhaltensweise weiß, kann man sehr wohl versuchen, sich von den Anhängern anderer Konventionen fern zu halten und auch sich selbst tadeln, wenn man die Konvention verletzt. Man wird aber nicht den Wunsch entwickeln, das Leben derer zu behindern, die, ohne uns zu behelligen, einer anderen Konvention folgen. Und das ist bei moralischen Meinungsverschiedenheiten oft anders. Das zeigt zugleich, daß Tugendhats Definition der moralischen Regeln als derjenigen, die festlegen, wer ein gutes Kooperations­ wesen ist, zu unscharf ist. Auch gemeinsames Essen ist ein soziales Unternehmen und für den Anhänger der Konvention, nicht zu 108

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rülpsen, ist der Rülpsende dabei ein denkbar schlechter Kooperati­ onspartner. Doch das nötigt niemanden, seine Tischsitten für mora­ lische Gebote zu halten. Entscheidend bleibt, wie man mit denen umgeht, die innerhalb der bestehenden Kooperationsgemeinschaft anderen Regeln folgen. Versucht man die anderen an ihrem Tun zu hindern oder hält man sich wenigstens für dazu berechtigt, handelt es sich um einen moralischen Anspruch, ist man bereit ihr Verhalten zu ertragen, dann ist es eine Konvention. B) Ratschläge Auch Ratschläge haben eine universale Dimension. Wenn man z. B. mit einem Freund über dessen Gesundheitsprobleme spricht und schließlich sagt »Es ist gut (oder >richtigDu solltest^, jetzt zum Arzt zu gehen«, heißt dies, daß es angesichts der Interessen des Freundes, angesichts seines Zustands und angesichts der Möglichkei­ ten der ärztlichen Kunst einfach rational wäre, einen Arzt aufzusu­ chen. Und das impliziert dann, daß es für jeden mit solchen Inter­ essen in solchen Umständen rational wäre, zum Arzt zu gehen. Ratschläge können sich zudem auf alle Menschen oder wenigestens auf alle Menschen in einer sehr breit gefaßten Situation beziehen. So ist es bei dem Rat, in der Jugend etwas fürs Leben zu lernen. Gleich­ wohl ist die mit Ratschlägen verbundene Form der Allgemeingültig­ keit von der moralischer Urteile verschieden. Das wird deutlich, so­ bald man wieder die Gültigkeitsbedingungen beider Klassen von Urteilen berücksichtigt. Ein Rat ist für den Beratenen genau dann richtig oder gültig, wenn er auf dessen manifeste oder begründet ver­ mutbare Interessen bezug nimmt, und dann von dem Vorschlag zeigt, daß dieser jenen noch am besten Rechnung trägt. Ein guter Ratschlag erfordert also den Aufweis, daß der Beratene auch ein Mo­ tiv hat, so zu handeln. Bei moralischen Urteilen ist das nicht notwen­ dig so. Aus der Einsicht in die Richtigkeit eines moralischen Urteils folgt, wenn die Kritik des vorigen Abschnitts am Präskriptivismus stichhaltig ist, nicht zwingend, daß jeder dann ein Motiv hat, so zu handeln. Doch die Gültigkeit der Regel >Du sollst Unschuldige nicht töten< wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß ein Entführer ggf. sehr gute Gründe dafür sieht, sein Opfer zu töten. 3. Der Anspruch auf Sanktion Mit dem Anspruch auf eine im obigen Sinn universale Geltung scheint schon analytisch verknüpft zu sein, daß diejenigen, die ab­ ^

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III. Der Begriff der Moral

weichend handeln, auf irgendeine Weise sanktioniert werden sollen. Diese Einstellung ist sicher für die meisten unmittelbar mit ihren moralischen Überzeugungen verbunden: Wenn man etwas für mora­ lisch falsch hält, dann möchte man auch, daß solches Handeln irgend­ wie sanktioniert wird. J. S. Mill hat diesen Anspruch sogar zum Zen­ trum seiner Definition des Moralischen gemacht. Mit jeder Art von Unrecht (any kind of wrong) sei die Vorstellung einer Strafsanktion verbunden. »We do not call anything wrong, unless we mean to imply that a person ought to be punished in some way or other for doing it; if not by law, by the opinion of his fellow creatures; if not by opinion, by the reproaches of his own conscience. This seems the real turning point of the distinction between morality and simple expediency.«36 Wenn Menschen dagegen andere Dinge, die wir auch schätzen und bewundern, nicht tun, dann werden sie dafür nicht von uns getadelt (blame), sondern allenfalls überzeugt und ermun­ tert (persuaded and exhorted), dergleichen zu tun.37 Eine Schwierigkeit für Mills Definition stellt aber wieder die Gestalt des Amoralisten dar. Dieser wird ja behaupten, daß ihm die Bedeutung von >wrong< durchaus bekannt sei, daß er solche Sanktio­ nen aber gleichwohl weder gegen sich selbst noch gegen andere befürwortet. Diesem Einwand kann Mill nur entgehen, wenn man wiederum zwischen dem Haben einer moralischen Überzeugung und dem Haben eines moralischen Selbstverständnisses unterschei­ det und den Geltungsbereich seiner These einschränkt. Sie kann nur für solche Individuen gelten, die ein moralisches Selbstverständnis haben. Ein solches Selbstverständnis kann dabei sehr schwach sein. Es muß nicht implizieren, daß man selbst jeweils ein zum mora­ lischen Handeln ausreichend starkes Motiv hat. Es muß im Gegen­ satz zur Haltung des Amoralisten aber mindestens implizieren, daß man wenigstens ein schwaches Motiv zu solchem Handeln verspürt und daß man die Existenz einer schwachen inneren Sanktion bei al­ len befürwortet. Eventuell wird man auch die Existenz einer äußeren Sanktion begrüßen. Im Rahmen dieser Einschränkung hat Mills Definition zwei Stärken: • Die erste besteht darin, daß sie für viele konkrete Moralen offen ist, weil sie weder auf bestimmte moralische Forderungen fest36 Mill, 1962, S. 303f. 37 Ebd. S. 304. 110

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gelegt ist, noch Aussagen darüber macht, aus welchen Gründen jemand meint, daß es diese Sanktionen bei bestimmtem Verhal­ tensweisen geben sollte. Es ist wichtig, dies als eine Stärke der Theorie zu begreifen. Die Frage danach, was überhaupt eine mora­ lische Regel oder ein moralisches Urteil ist, ist verschieden von der Frage, was eine richtige moralische Regel ist. Es ist deshalb kein berechtigter Einwand gegen Mills Definition, daß danach jemand die Regel >Du sollst nicht auf die Risse im Bürgersteig treten< als moralische Regel begreifen kann, wenn er meint, daß deren Ver­ letzung allgemein getadelt werden sollte.38 Auch für diese seltsam anmutende Regel können ein Individuum oder eine Gesellschaft plausible Gründe haben - etwa die Überzeugung, daß Risse in Gehwegen Lebensäußerungen eines Erdgottes sind, die man nicht mit Füßen treten darf. • Eine weitere Stärke dieser Definition besteht darin, daß sie auch supererogatorische Handlungen integrieren kann. Mills Definition schließt ein breites Spektrum von negativen Sanktionen ein. Auch wer meint, daß bestimmte Handlungen nicht äußerlich sanktio­ niert werden sollen, kann Mills Definition deshalb akzeptieren. Mill gibt selbst ein Beispiel für moralische Erwartungen, die nicht mit äußeren Sanktionsdrohungen verbunden sind. Für ihn hat nie­ mand einen Rechtsanspruch auf unsere Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit. Gleichwohl zählt er solches Tun zu unseren mora­ lischen Verpflichtungen (obligations of morality).39 Und seine De­ finition des Moralischen erlaubt dies, weil man es gegebenenfalls befürworten würde, daß diejenigen, die dergleichen nicht tun, durch Gewissensbisse sanktioniert werden. Zu prüfen bleibt, was die mit einem moralischen Selbstverständnis verbundene Unterstützung von Sanktionen hinsichtlich der Aus­ grenzung von Konventionen und Ratschlägen leistet. Bei den Konventionen gibt es auf den ersten Blick ein Problem. Denn die entscheidende Frage ist nun, ob man es befürworten würde, daß jemand für eine Handlungsweise mit Gewissensbissen oder äußeren Sanktionen bestraft wird. Und diese Befürwortung gibt es sicher auch hinsichtlich der Verletzung von Konventionen. Damit scheint diese ganze Praxis des Tadelns ins Gebiet der Moral fallen, 38 Wenn Gert diesen Einwand macht, zeigt dies, daß er die Frage nach dem Wesen des Moralischen mit der nach dem moralisch Richtigen verwechselt (Gert, 1983, S. 101). 39 Mill.1962,S305f. ^

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III. Der Begriff der Moral

und das widerspricht stark unserem Vorverständnis. Doch Mills Kri­ terium läßt sich so verteidigen: Für Konventionen ist es nach deren obiger Charakterisierung wichtig, daß man hei ihnen nicht meint, daß sich jeder in solchen Umständen so verhalten muß. Man mag selhst einer hestimmten Konvention entsprechend urteilen und emp­ finden, weil man mit ihr nun einmal groß geworden ist. Aber solange man sie noch als Konvention hegreift, wird man nicht meinen, daß jeder so empfinden und auferzogen werden sollte. Und das ist hei der Moral ehen anders. Ebenso wirksam ist Mills Definition der Moral hinsichtlich der Ausschließung von Ratschlägen. Bei solchen denken wir nicht, daß der, der sie mißachtet, hestraft werden sollte, sondern wir sind der Überzeugung, daß dies ganz unabhängig von unserem Willen ge­ schehen wird, einfach dadurch, daß der andere sein Ziel nicht errei­ chen wird. Hier gibt es keinen Wunsch nach Bestrafung. Wenn der Ratsuchende uns nahesteht, werden wir uns sogar freuen, wenn er infolge glücklicher Umstände sein Ziel erreicht, obwohl er unseren Rat mißachtet hat.40 4. Die Art der Begründung Dieser These zufolge ist ein moralisches Urteil an der Weise zu er­ kennen, auf die es begründet wird. P. Singer hat das Moralische ge­ radezu durch eine spezielle Begründungsform definiert. Er zeigt dazu im ersten Schritt, daß wir die Frage, ob ein Mensch nach moralischen Maßstäben lebt oder nicht, nicht einfach dadurch entscheiden können, daß wir prüfen ob er das tut, was wir für moralisch richtig halten. Es könnte sein, daß dieser Mensch zwar moralische Überzeu­ gungen hat, aber solche, die von unseren abweichen.41 Ob jemand nach moralischen Regeln lebt, werde erst daran erkennbar, daß er 40 Zudem können in Mills Definition auch die eudaimonistischen Theorien einen Platz finden. Diese sind zwar als generelle Ratschlags-Theorien zu charakterisieren, aber auch Eudaimonisten wollen nicht nur Ratschläge geben. Der eudaimonistische Ansatz führt zumeist nicht zur Aufhebung von Sanktionsdrohungen. Auch Platon hat seine Be­ schreibung des Idealstaates in der Politeia durch die Nomoi ergänzt und darin ein de­ tailliertes System von Strafbestimmungen entwickelt (vgl Nomoi; Buch IX—X). Der Unterschied besteht freilich darin, daß diese Sanktionen in eudaimoistischen Theorien nicht als Strafe, sondern als Besserungsmaßnahmen zum Wohle des Sanktionierten ver­ standen werden. Diese weitergehende These muß Mill nicht teilen. Sein Kriterium für das Vorliegen einer moralischen Überzeugung ist schon dann erfüllt, wenn solche Sank­ tionen überhaupt befürwortet werden. 41 Singer, 1994, S. 25. 112

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seine Lebensweise auf eine bestimmte Weise zu verteidigen versucht. Diese Verteidigung darf nicht allein in Begriffen des Eigeninteresses gegeben werden. Niemand wird es für eine moralische Rechtferti­ gung halten, wenn jemand die Ermordung seines Chefs nur damit begründet, daß er gern dessen Posten übernehmen wollte.42 Das kön­ ne deswegen nicht als moralische Begründung gelten, weil hier je­ mand seine eigenen Interessen denen der anderen einfach übergeord­ net hat. In ethischen Begründungen müssen wir aber über unsere Interessen, über den Gegensatz von >ich< und >du< hinausgehen und den Standpunkt eines unparteiischen Beobachters einnehmen, dem die Schicksale aller Handlungsbetroffenen gleich wichtig sind.43 Dies definiert für Singer den moralischen Standpunkt. Dem ist die Überlegung von Nicholas Rescher eng verwandt. Von moralischer Richtigkeit oder der absoluten Geltung moralischer Forderungen könne man nur so weit reden, als diese Forderungen sich aus dem Begriff des Moralischen ergeben. Diesen Begriff be­ stimmt er so: »Morality is by its very nature a functional enterprise cultivated by rational agents for the achievement of certain beneficial results: the protection and advancement of the real interests of people.«44 Deshalb könne eine Moral nicht an konkreten Ge- und Verboten identifiziert werden, sondern man müsse darüber hinaus­ gehen und fragen, warum solche Handlungen ge- oder verboten sei­ en. Und ausgehend von dem bereits feststehenden Begriff der Moral, ist hier nicht jede Begründung zulässig, »it has to be a rationale in terms of specifically moral values - one which proceeds with re­ ference to the inherent worth and dignity of our fellows ... to a consideration of their interest in our deliberation.«45 Auf diese Elemente rekurriert auch M. G. Singer in seiner Abgrenzung von moralischen und Klugheitsurteilen. Bei Klugheitsurteilen müsse man sich auf die Neigungen des Beratenen beziehen. Ein moralisches Urteil sei dage­ gen daran erkennbar, daß man bei dessen Begründung auf die Bedürfnisse anderer, bzw. auf deren Rechte verweist.46 Doch es führt zu weit, wenn man versucht, den Rekurs auf die Interessen anderer zum notwendigen Kriterium für das Vorliegen

42 43 44 45 46

Singer, 1994, S. 26. Singer, 1994, S. 28; so auch Hare, 1983, S. 113 und Harman, 1981, S. 174. Rescher, 1989, S. 6. Rescher, 1989, S. 7; vgl. auch S. 24. M. G. Singer, 1975, S. 258, vgl. auch S. 345. ^

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III. Der Begriff der Moral

einer moralischen Überzeugung zu machen. Denn dadurch wird man genötigt, Menschen, die ihre praktischen Überzeugungen mit Sätzen wie >Das hat der Ältestenrat beschlossem oder >So ist es Gottes Wille< begründen, abzusprechen, daß sie überhaupt eine Moral haben. Und auch wenn jemand seine moralische Überzeugung mit dem Argu­ ment >Das fände ich als allgemeines Gesetz akzeptabel< begründet, hätte er nach diesem Kriterium noch kein moralisches Urteil abge­ geben, denn auch dabei muß man nicht notwendig auf die Interessen anderer rekurrieren. Rescher ist auf der Basis seines Ansatzes kon­ sequent, wenn er alles Handeln, dessen Begründung nicht den Bezug zum besten Interesse aller Betroffenen herstellt, gar nicht als mora­ lische Handlung anerkennt. Und weil es möglich ist, daß die von ihm favorisierte Begründungsform in einer Gesellschaft gar nicht ver­ wendet wird, sei es für eine Gesellschaft auch möglich »to have no moral norms at all«.47 Das Problem dieser rigiden Ausgrenzung besteht darin, daß man mit der Favorisierung einer so spezifischen Begründungsstruk­ tur in der eingangs erwähnten fruchtlosen terminologischen Immu­ nisierung endet. Wer seine Geltungsansprüche nicht gerade so ver­ teidigt, erhebt dann eben gar keine moralischen Ansprüche mehr. Es gibt nichts, worüber man mit ihm noch streiten könnte. Die Rücksicht auf die Interessen der anderen ist ein weit verbreitetes und sicher ein hinreichendes, aber doch kein notwendiges Kriterium dafür, daß ein Urteil ein moralisches ist. Für die Aufstellung eines hinreichend breiten Begriffs der Moral ist das Kriterium der Gleich­ berücksichtigung aller deshalb nicht geeignet. Schwächer und besser vertretbar ist dagegen Hares These, daß die beiden von ihm verteidigten Charakteristika moralischen Den­ kens - Präskriptivität und Universalisierbarkeit - zugleich auch die einzigen Regeln für die Begründung eines moralischen Urteils sind. Diesen Bedingungen entsprechend muß man im moralischen Den­ ken nach einem Grundsatz suchen, den man als Regel für alle in den jeweiligen Umständen vorschreiben will und auf man sich auch selbst festlegen kann.48 Moralisch zu denken bedeutet: »Teste die mora­ lischen Grundsätze, die sich dir anbieten, indem du auf ihre Kon­ sequenzen schließt und dann nachsiehst, ob du diese akzeptieren

47 Rescher, 1989, S. 34. 48 Hare, 1983, S. 108. 114

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2. Die Charakteristika der moralischen Rede

kannst«.49 Jemand könnte seine moralische Überzeugung dann damit begründen, daß die fragliche Regel genau diesen Test bestanden hat. Darin ist nicht die Gleichberücksichtigung anderer enthalten, aber eine gewisse Unparteilichkeit. Diese ergibt sich aus dem universalen Charakter der moralischen Regeln: Wenn eine Regel universal gelten soll, dann muß man sich nicht nur vorstellen, nach der Regel zu han­ deln, sondern auch, danach behandelt zu werden. Doch es bleibt problematisch, selbst diese schwache Unpartei­ lichkeit zum notwendigen Kriterium für den moralischen Charakter einer Überzeugung und einer Begründung zu machen. Auch dies würde den Anhängern einer metaphysisch oder traditional gestütz­ ten Moral absprechen, überhaupt eine Moral zu haben. Die Anhän­ ger solcher Moralen, werden natürlich zugestehen, daß sie nach den Regeln ihrer Moral sowohl handeln wie auch behandelt werden sol­ len. Und sie werden diese zwei Seiten ihrer Moral auch akzeptieren. Aber gleichwohl werden sie in der Begründung ihrer moralischen Überzeugungen evtl. nicht darauf hinweisen, daß ihnen dieses Han­ deln und Behandeltwerden in unparteiischer Abwägung ihrer Inter­ essen akzeptabel erscheint. Für die Begründung ihrer Überzeugung ist vielmehr wichtig, daß es sich bei den Regeln um Gottes Gebote handelt. Und das reicht für sie, die sich als Kinder Gottes verstehen aus, um die Regeln zu akzeptieren. Wenn man diesen Menschen nicht, wie Rescher, absprechen will, überhaupt eine Moral zu haben, dann scheint es nicht möglich, das Haben einer moralischen Über­ zeugung an eine bestimmte Begründungsform zu binden. Wenn man die Überzeugungen solcher Menschen als moralische anerkennt, dann orientiert man sich dabei an weniger anspruchsvollen Kriterien - etwa an dem universalen Geltungsanspruch, den diese Menschen für ihre Regeln reklamieren, und an ihrer Bereitschaft, den Regeln auch selbst zu folgen. In diesem Dilemma halte ich es für angemes­ sener, zunächst von diesen schwächeren Kriterien auszugehen und anzuerkennen, daß auch religiös gestützte Überzeugungen mora­ lischen Charakter haben können. In einem zweiten Schritt kann man dann immer noch überlegen, ob nicht bestimmte Begründungs­ strategien mit diesem schwachen Begriff der Moral einfacher zu ver­ einbaren sind als andere. Dabei kann man geltend machen, daß die Abhängigkeit einer Moral etwa von religiösen Voraussetzungen ge-

49 Hare, 1983, S. 111. ^

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III. Der Begriff der Moral

rade das gefährdet, was zu ihrem Wesen gehört - der Anspruch auf universale Gültigkeit.50

III.3. Fazit

Es ergibt sich somit, daß zur Charakterisierung des Moralischen drei Kriterien nicht tauglich sind: - Die Definition des Moralischen über eine spezielle Emotion ist nicht durchführbar. Die Emotionen werden vielmehr nur dadurch zu moralischen, daß Sie an Regeln mit universalem Geltungs­ anspruch geknüpft sind. - Die Definition des Moralischen über eine spezielle Begründungs­ form ist unangemessen, weil dies zu massiven Ausgrenzungen führt und die Gefahr einer terminologischen Immunisierung in sich birgt. - Das Haben einer moralischen Überzeugung impliziert nicht not­ wendig, daß man einen Grund hat, entsprechend zu handeln. Das zeigt sich an der Gestalt des Amoralisten. Für einen umfassenden Begiff des Moralischen, der gleichwohl noch ausreicht, um moralische Urteile von Konventionen und Ratschlägen zu unterscheiden, sind drei schwache Kriterien ausreichend: - Moralische Urteile sind oder beziehen sich auf universale Prinzi­ pien einer gesellschaftlichen Praxis. Mit ihnen ist der Anspruch verbunden, daß alle - oder mindestens alle, mit denen man koope­ riert - so handeln müssen. Durch diese Forderung sind moralische Regeln von Konventionen unterschieden. - Für Individuen mit einem moralischen Selbstverständnis gehört zur Bedeutung dieses >Müssens< mindestens die Existenz einer schwachen inneren Sanktion sowie die Überzeugung, daß es diese Sanktion bei allen geben soll. Hierdurch sind Moralregeln von Ratschlägen unterschieden. Bei Ratschlägen meint man nicht, daß eine Sanktion, eine negative Konsequenz eintreten soll, sondern

50 Man kann zudem darauf Hinweisen, daß die Figur der unparteilichen Abwägung auch in vielen Religionen eine zentrale Rolle spielt. Die Frage >Wie würdest du es finden, wenn man dir so mitspielte< findet sich in den Reden des Buddha ebenso wie in der Goldenen Regel der Bergpredigt (vgl. Buddha, 1993, S. 40ff und Lukas Evangelium, VI, 31). 116

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3. Fazit

ist der Überzeugung, daß diese für den Beratenen einfach eintreten wird, wenn er dem Ratschlag nicht folgt. - Moralische Urteile müssen, um richtig zu sein, nicht notwendig zu Handlungsweisen führen, die das Wohl des moralischen Agenten fördern. Sie müssen auch nicht mit Bezug auf dessen Wohl be­ gründet werden. Auch darin sind moralische Urteile von Ratschlä­ gen verschieden. Ein Ratschlag ist nur richtig, wenn es für den Beratenen im Horizont seines Interesses an einem guten Leben ein Motiv zu dem entsprechenden Handeln gibt.

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Kapitel IV:

Vom Begriff zum Prinzip

Im letzten Kapitel ist ein schwacher Begriff der Moral entwickelt worden. Dieser Begriff muß den konkurrierenden moralischen Prin­ zipien gegenüber neutral sein. Wenn ein solcher Begriff gleichwohl für die Entwicklung einer spezifischen Moral hilfreich sein soll, kann dies nur auf zwei Wegen geschehen. Man kann zu zeigen versuchen, daß die im Moralbegriff enthaltenen Termini mittelbar den Weg zu einer speziellen Moral präjudizieren - etwa dadurch, daß ein adäqua­ tes Verständnis dieser Begriffe nur mit einem Moralprinzip verträg­ lich ist. Der Weg zu diesem Prinzip hätte dann die Gestalt der Freile­ gung analytischer Zusammenhänge. Oder man kann versuchen, über den Moralbegriff hinausgehende Elemente in die Theorie einzube­ ziehen. Wenn dieser Weg zum Erfolg führen soll, muß dabei gezeigt werden, daß diese Zusatzelemente in irgendeinem Sinn plausibler sind als andere. In diesem Kapitel werde ich vier Theorien daraufhin untersuchen, wie sie vom Begriff zu einem Prinzip der Moral gelan­ gen und wie plausibel die dabei herangezogenen Zusatztheoreme sind.

IV.1.

R. M. Hare

Die Ableitung einer speziellen, konkreten Moral aus dem Begriff der Moral hat in der Theorie Hares einen nahezu analytischen Charakter. Bei der Ableitung des Moralprinzips will Hare nicht auf inhaltliche moralische Intuitionen zurückzugreifen. Das Prinzip soll sich viel­ mehr daraus ergeben, daß wir eine Vorstellung davon haben, wie deontische Termini wie >müssen< und >sollen< zu verwenden sind. Diese Vorstellungen beziehen sich auf die logischen Eigenschaften der Wörter. So können wir intuitiv erkennen, daß jemand eine un­ zulässigen Gebrauch von >ought< macht, wenn er eine Handlung mit dem Satz empfiehlt »You ought, but I can conceive of another situa118

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1. R. M. Hare

tion, identical in all its properties to this one, except that the corresponding person ought not«.1 Solche Intuitionen nennt Hare lin­ guistische Intuitionen. Wir verfügen über sie schlicht dadurch, daß wir kompetente Sprecher unserer Sprache sind. Hares Übergang vom Begriff der Moral zu einem Prinzip der­ selben läßt sich dann in sieben Schritte gliedern: i. Moralische Urteile sind präskriptiv und universalisierbar.2 ii. Die Regeln des moralischen Urteilens bestimmen die Form der Begründung moralischer Regeln.3 iii. Für moralische Begründungen gibt es deshalb nur zwei Regeln: Wenn wir herausfinden wollen, was wir in einem konkreten Fall tun sollen, dann halten wir dabei nach einer Handlung Ausschau, »auf die wir uns selbst festlegen können (Präskriptivität), von der wir aber auch zugleich bereit sind, sie als Beispiel für einen Handlungsgrundsatz zu akzeptieren, der auch für andere in ähn­ lichen Umständen als Vorschrift zu gelten hat (Universalisierbarkeit).«4 Diese Überlegungen sind die, die wir angeben, wenn wir eine moralische Überzeugung begründen wollen. iv. Wenn man bereit ist, eine Regel als Handlungsgrundsatz für das Handeln anderer zu akzeptieren, dann muß man auch akzeptie­ ren können, nach der Regel behandelt zu werden.5 v. Um zu sehen, ob man dies akzeptieren kann, muß man sich in die Position des anderen versetzen und sich vorstellen, man hätte dessen Wünsche und Abneigungen.6 vi. In multilateralen Situationen müssen auf diese Weise die Interesen aller Betroffenen berücksichtigt werden.7 vii. Die richtige Methode der Berücksichtigung aller Interessen be­ steht darin, diese ihrer Stärke entsprechend zu befriedigen. Die Universalisierung verweist von sich aus auf ein Maximierungskalkül.8 Über den Begriff des Moralischen geht Hare also mit zwei substan­ tiellen Thesen hinaus: Er behauptet erstens, daß zum moralischen 1 2 3 4 5 6 7 8

Hare, Hare, Hare, Hare, Hare, Hare, Hare, Hare,

1981, S. 10. 1983a, Kap.9. 1983b, 108. 1983b, S. 108f. 1983b, S. 111. 1983,b S. 113, 133. 1983b, 137. 1992, 169. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

Denken ein spezieller Rollentausch gehört und zweitens, daß die Berücksichtigung der betroffenen Individuen nach dem Prinzip der Maximierung erfolgen muß. Ich werde beide Thesen getrennt unter­ suchen. 1V.1.1. Zur Vorm des Rollentausches Im vorigen Kapitel habe ich zu zeigen versucht, daß moralische Ur­ teile weder in dem Sinn präskriptiv sein müssen, daß der Urteilende ein überragendes Motiv hat, so zu handeln, noch in dem schwächeren Sinn, daß er überhaupt ein Motiv zu entsprechendem Handeln haben muß. Man könnte vermuten, daß allein durch die Bestreitung dieser Voraussetzungen Hares Argumentation gefährdet wird. Doch das ist erfreulicherweise nicht der Fall. Man kann die Annahmen über die Motivation fallen lassen und nur vom Kriterium der Universalisierbarkeit ausgehen. Dieses besagt, daß es beim moralischen Überlegen um universale Regeln einer gesellschaftlichen Praxis geht. Die in den Thesen (iii) und (iv) vorkommende Akzeptanz, kann dann zwar nicht mehr bedeuten, daß man in irgendeinem Sinn damit einverstanden ist, so behandelt zu werden. Aber das ist auch gar nicht nötig. Für moralisches Nachdenken genügt eine Art hypothetischer Akzeptanz von Regeln. Diese muß nicht mehr besagen, als daß jemand, der ge­ fragt wird, unter welchen universellen Regeln er von morgen an am ehesten würde leben wollen, dann eben diese bestimmten Regeln vorziehen wird. Auch um Regeln in diesem schwachen Sinn zu akzeptieren, ist es rational gefordert, die Wirkung dieser Regeln aus allen Perspekti­ ven zu bedenken, denn es ist möglich, daß man von der Regelung auf vielfache Weise betroffen wird. Wenn jemand etwa nur das allgemei­ ne Urteil abgibt, »Diebstahl soll mit dem Tode bestraft werden!« und dabei nicht bereit ist, über die Befindlichkeit von ertappten Dieben weiter nachzudenken, dann ist das irrational, weil es eine verengte Wahrnehmung der eigenen Lebenswirklichkeit darstellt. Man muß sich klar machen, daß mit der Einführung dieser Strafbestimmung die eigene Lebenswirklichkeit in mehreren Hinsichten verändert wird: Nicht nur wird dadurch die Wahrscheinlichkeit, bestohlen zu werden, vermindert. Man muß nun auch berücksichtigen, daß man selbst so bestraft werden wird, wenn man einmal der Versuchung erliegen sollte, etwas zu stehlen. Es könnte auch sein, daß man in eine Notlage gerät, aus der man sich nur durch einen Diebstahl befreien 120

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kann. Man muß damit rechnen, als Unschuldiger verurteilt zu wer­ den. Zudem werden sich gesuchte Diehe - wohl wissend, daß sie nichts mehr zu verlieren hahen - oft in rücksichtslose Killer verwan­ deln. Die Auswirkung all dieser Umstände auf das eigene Wohl kann man nicht einfach ignorieren. Es ist also rational hei der Befürwor­ tung einer Regel üher sich selhst als Regelhetroffenen aus allen Per­ spektiven nachzudenken. Die Schritte (i) his (vi) der ohigen Argu­ mentation lassen sich also auch ohne die Annahme einer stärkeren Präskriptivität rechtfertigen. Die Prohleme heginnen, und das ganz unahhängig von Annah­ men üher Präskriptivität, mit Schritt (v). Schon mit Schritt (iv) ist ein heschränker Rollentausch verhunden. Dessen Umfang ist hestimmt durch den Zweck, zu dem er angestellt wird. Für das Nachdenken üher Regeln, unter denen - per hypothesis - ich und alle anderen zu lehen hahen werden, ist es nur erforderlich, daß ich mich in solche Positionen hineinversetze, die potentiell meine eigenen sein können. Ein solcher Rollentausch hleiht aher hinter dem in (v) verlangten weit zurück. Der heschränkte Rollentausch kann z. B. nicht verhin­ dern, daß großgewachsene Weiße Regeln für den Umgang mit Kleinwüchsigen und Schwarzen hefürworten, die sie nicht hegrüßen würden, wenn sie selhst davon hetroffen werden könnten. Hare war sich dieses Prohlems hewußt. Aher er hestreitet, daß es für des Prozeß der moralischen Begründung wesentlich ist, oh die Gefahr, ein Opfer der hefürworteten Regeln zu werden, real existiert. Man müsse hereit sein, sich auch hypothetisch mit dem Fall ausein­ anderzusetzen und das erfordere, die Neigungen aller Regelhetroffenen so zu heachten, als oh es die eigenen wären. Erst dies lasse »aus klugem Berechnen um des eigenen Vorteils willen echtes moralisches Überlegen werden«.9 In dieser Forderung sind zwei Erweiterungen enthalten: - Man muß auch die Konsequenzen einer Regel, von denen man selhst nicht hetroffen werden kann, in die Ahwägung einheziehen (transprohahilistischer Rollentausch). Man muß eine Regel auch auch unter Einheziehung dieser Möglichkeiten noch hefürworten können. - Es genügt nicht, sich nur zu fragen, was man ausgehend von den eigenen Neigungen sagen würde, wenn man von den möglichen Konsequenzen der Regel hetroffen wird (schwacher Rollentausch). 9 Hare, 1983, S. 113. ^

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Man muß vielmehr die Neigungen der Regelhetroffenen, wie sie sie hahen, herücksichtigen (starker Rollentausch).10 Erstaunlicherweise hat Hare für die erste dieser hedeutenden Erwei­ terungen gar nicht und für die zweite nur pragmatisch argumentiert. So liegt der Verdacht nahe, daß sie sich nicht mehr aus der Logik des moralischen Sprachspiels ergehen, sondern hereits eine materiale moralische Überzeugung zum Ausdruck hringen. Etwa die, daß es zum moralischen Denken gehört, den Interessen aller anderen glei­ ches Gewicht zu gehen.11 Das kann man natürlich meinen, aher dann wäre es hesser, dies als eine materiale moralische Intuition an den Anfang zu stellen und nicht hinter sprachlichen Analysen zu verhergen. Man könnte versuchen, die erste Erweiterung zu rechtfertigen, indem man die methodische Strenge des Hare'schen Programms lokkert. Hare wollte nur von linguistischen Intuitionen ausgehen, die jeder kompetente Sprecher einer Sprache teilen muß, und die Beru­ fung auf materiale moralische Intuitionen gerade vermeiden. Haupt­ sächlich hat er dahei von der logischen Eigenschaft von Urteilen, glei­ che Fälle mit demselben Prädikat helegen zu müssen, Gehrauch gemacht. Aher zwischen dieser sehr formalen linguistischen Intuiti­ on und einer konkreten Intuition etwa zur Ahtreihung liegen noch mehrere Ehenen. Zwischen diesen Enden den moralischen Denkens liegen z. B. Argumente vom Typus der Goldenen Regel. Doch hereits mit der Frage »Wie fändest du diese Behandlung, wenn du an seiner Stelle wärest?« wird der Vertreter einer moralischen These genötigt, sich auch in solche Situationen hineinzuversetzen, in die er gar nicht geraten kann. Ein Weißer kann so gefragt werden, wie er es fände, wenn er als Schwarzer von hestimmten Schulen ausgeschlossen wäre. Doch angenommen jemand würde diese Frage einfach als irrele­ vant für moralisches Üherlegen zurückweisen. Würde er dann nur eine andere Moral vertreten, oder würde er damit zu erkennen ge­ hen, daß er kein kompetenter Sprecher der Sprache ist? An diesem Beispiel wird erkennhar, daß die Grenze, was ein notwendiger Be­ standteil eines Sprachspiels und Sprachverstehens ist, nicht so klar gezogen werden kann. Für Hares Theorie wäre es jedoch nicht ruinös, wenn man einige dieser >mittleren< Intuitionen zu den linguistischen 10 Vgl dazu Hare, 1983, S. 133. 11 So auch J.-C. Wolf, 1983, S. 101f. 122

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Intuitionen zählen würde. Denn Hares Hauptargument gegen eine Ethik, die von materialen moralischen Intuitionen ausgehen will, war, daß dieses Verfahren sehr schnell zu einem Relativismus führt, weil dahei unterschiedliche Intuitionen an den Anfang gestellt wer­ den können. Diese Gefahr ist hei der Einheziehung des Reziprokitätsarguments gemäß der Goldenen Regel nicht so groß, denn einerseits ist diese Argumentform noch keine konkrete moralische Regel und außerdem sind in der moralischen Praxis Argumente des GoldeneRegel-Typus weit verhreitet und weithin anerkannt.12 Prohlematischer ist die Rechtfertigung der zweiten Erweite­ rung. Selhst wenn man den Rollentausch unter Einheziehung der hypothetischen Fälle als konstitutiv für moralisches Denken akzep­ tiert, muß man sich dahei so weit in die Rolle aller Regelhetroffenen hineinversetzen, daß man deren Perspektive vollständig übernimmt? Mackie hat darauf hingewiesen, daß zu dieser Perspektive auch Ge­ schmäcker, Wertvorstellungen und Ideale der Individuen gehören. Und in alledem können sich die Individuen stark voneinander unter­ scheiden. Es käme deshalh, so Mackies Argument gegen diese Erwei­ terung, einer Selhstverleugnung gleich, wenn die Moral verlangen würde, alle Wertungen und Ideale gleich ernst zu nehmen.13 Diese Selhstverleugnung, so Mackies stillschweigende Voraussetzung, ver­ langt zuviel von uns. Doch die Situation ist nicht so eindeutig. Denn die Einstellung der Alltagsmoral zu der Forderung, den anderen mit seinen Bedürf­ nissen ernst zu nehmen, ist nicht so eindeutig negativ, wie Mackie es darstellt. Auch für dieses Alltagsdenken ist erkennhar, daß das Mo­ dell des schwachen Rollentausches in vielen Fällen versagt. Mackie sieht selhst, daß es nicht hefriedigend wäre, wenn man einen Ahstinenzler, der ein generelles Alkoholverhot einführen möchte, nur fragen darf, wie er selhst es denn fände, wenn ihm der Verzehr von Alkohol verhoten würde.14 Klarerweise wird er nichts dagegen hahen. Und ehensowenig kann man sich damit hegnügen, wenn jemand, der Homosexuelle verahscheuungswürdig findet, und deren Sexualver­ 12 Auch Mackie kommt trotz aller Kritik an Hare schließlich zu dem Resultat, daß es sich hei Argumenten des Goldene-Regel-Typus »um eine traditionell anerkannte und üherzeugende moralische Argumentationsfigur [handelt], die jedoch hislang nicht ein­ deutig in die Bedeutung moralischer Ausdrücke Eingang gefunden hat« (Mackie, 1981, S. 122). 13 Mackie, 1981, S. 121. 14 Mackie, 1981, S. 113. ^

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halten verbieten will, nur zu versichern braucht, daß er selbst mit diesem Verbot gut leben könnte. An solchen Stellen weist die All­ tagsmoral über den einfachen Rollentausch hinaus und ist durchaus geneigt, auch die abweichenden Bedürfnisse der anderen ernst zu nehmen. Zudem verwischt Mackies Argument, daß ein Ernstnehmen aller Ideale der anderern zur Selbstverleugnung führen müsse, zwei Formen der Achtung. Man kann die Ideale anderer in dem Sinn ach­ ten, daß man bereit ist, sie in der Konkurrenz der heterogenen Ideale gleich zu berücksichtigen. Doch diese Berücksichtigung ist damit ver­ träglich, daß man manche dieser Ideale für völlig aberwitzig hält und mit ihren Vertetern nicht mehr als unbedingt nötig zu tun haben möchte. Als Fazit ergibt sich: Die Aufforderungen zum transprobabili­ stisch schwachen und starken Rollentausch sind aus der Logik der Moralsprache nicht zwingend ableitbar. Die Aufforderung zum transprobabilistisch schwachen Rollentausch ist in moralischen Dis­ kursen weit verbreitet. Der starke Rollentausch ist in dieser Praxis immerhin an einigen Stellen anerkannt. Er ist unvermeidlich, sobald man einräumt, daß es im moralischen Denken nur um die Rücksicht auf die Interessen anderer gehen kann. 1V.1.2. Der Übergang zum Utilitarismus Doch selbst wenn man Hares Argumentation so weit folgt, bzw. be­ reit ist, die dazu notwendigen zusätzlichen Prämissen zu überneh­ men, mit der Integration des starken Rollentausches in die Form des moralischen Denkens ist ein weiteres Problem verbunden. Dies wird an einem der Fälle deutlich, die Hare selbst diskutiert: Gegeben sind zwei Personen, von denen die eine (A) ein Fan von Trompetenmusik ist, wogegen die andere (B) gern Kammermusik hört.15 Infolge aku­ stischer Beeinträchtigung kommt es zwischen beiden zu einem Kon­ flikt. Hier sei es nicht ausreichend, wenn man A nur fragt, ob er die universale Regel befürworten kann, daß jemand ruhig Trompete spielen kann, auch wenn nebenan jemand Kammermusik hört. Denn A könnte, wenn er sich nur vorstellt, selbst in der Position des Kam­ mermusik Hörenden zu sein, als Trompetenfan der er ist, immer noch befürworten, daß dann ruhig jemand Trompete spielen soll. Dieses Resultat hält Hare für unbefriedigend. Um es zu vermeiden, 15 Hare, 1983b, S. 133. 124

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führt er die Forderung ein, daß sich A so in die Rolle des Kammer­ musik Hörenden versetzen muß, daß er dahei auch dessen Präferenz für Kammermusik ühernimmt. Dann könne er die ohige Regel nicht mehr universalisieren. Das ist sicher richtig, nur leider gilt ehen auch das Umgekehrte: Wenn B sich in die Position und die Präferenzen von A hineinver­ setzt, dann kann er seine ursprüngliche Regel, daß niemand Trompe­ te spielen soll, wenn nehenan jemand Kammermusik hört, auch nicht mehr universalisieren. Die Situation hat sich strukturell also nicht verändert. Ausgehend von ihren Präferenzen, erlauhte der Rollen­ tausch heiden, ihre Regel zu universalisieren. Bei Übernahme der Präferenzen des jeweils anderen ist es für heide nicht mehr möglich, ihre Regel zu universalisieren. Im ersten Fall hätten die Parteien darüher nachdenken müssen, wie sie mit universalisierharen aher konfligierenden Regeln umgehen sollen. Im zweiten Fall müssen sie eine Strategie entwickeln, um üherhaupt zu einer universalisierharen Regelung zu kommen. Wenn man meint, daß zum moralischen Den­ ken ein starker Rollentausch gehört, dann muß man auch eine Stra­ tegie für den Umgang mit solchen Patt-Situationen anhieten können. Diese Strategie entwickelt Hare in der Behandlung eines struk­ turell scheinhar ähnlichen Prohlems. Warum, so fragt sich Hare nun, sollte sich ein Dieh vor seinem Richter nicht so verteidigen: >Sie an meiner Stelle würden würden ja auch nicht ins Gefängnis geschickt werden wollen. Wie können Sie also ihre Vorschrift, Diehe ins Ge­ fängnis zu stecken, universalisieren?< Wenn die Vorschrift aher nicht universalisiert werden kann, dann kann es auch keine moralische Vorschrift sein, und Diehe könnten somit nicht mit moralischem An­ spruch hestraft werden.16 Damit ist das Prohlem offenkundig. Wenn Universalisierung hedeuten soll »Ich würde es - in welcher Position ich auch immer sein mag - mögen, dem Prinzip entsprechend zu handeln und hehandelt zu werden«, dann wäre gar kein Prinzip universalisierhar, weil vermutlich kein Krimineller es mögen wird, he­ straft zu werden. In diesen Fall würde das angehliche Moralprinzip die Moral aufhehen, weil kein Urteil diesen Test üherstehen würde. Um diese Hürde zu nehmen, hat Hare die Bedeutung von Universalisierung radikal geändert. Er läßt den Richter antworten, daß in dem Fall, daß es sich nur um den Dieh und ihn handeln würde, sein 16 Hare, 1983h, S. 135/6. Auf dieses Prohlem der Goldenen Regel hat hereits Kant in der Grundlegung hingewiesen (GMS, S. 430). ^

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Urteil in der Tat kein moralisches sein könnte. Das Problem habe aber eine multilaterale Dimension, und als Richter habe er die Auf­ gabe, die Konsequenzen seiner Entscheidung für die ganze Gesell­ schaft zu bedenken. Und in Anbetracht der generellen Unsicherheit, die sich aus der Nichtbestrafung von Dieben ergeben würde, falle es ihm schon leichter, sein Urteil zu universalisieren.17 Dieser Wandel ist dramatisch, weil es nun nicht mehr länger notwendig ist, daß der Kriminelle selbst mit seiner Bestrafung einverstanden ist, sondern nun ist nur noch seine Abneigung dagegen zu registrieren und gegen die Konsequenzen für die Wünsche aller anderen zu gewichten. Universalisierung heißt nun so etwas wie >Die allgemeinen Konsequen­ zen dieser Regelung sind besser als die jeder möglichen anderem. Mit diesem einzigen Schritt ist Hare, wie er selbst sagt, bei einer Form des Akt-Utilitarismus angelangt.18 Das ist natürlich eine enorm starke These. Wenn moralische Urteile universalisierbar sein müssen, und wenn Hares Idee von Universalisierung die einzig konsequente ist, dann würde es zu einer analytischen Wahrheit, daß moralisches Denken utilitaristisch sein muß. Doch klarerweise gibt es Alternativen. Dazu muß man zuerst bemerken, daß Hare das ihm ihm zur Verfügung stehende Testver­ fahren für moralische Regeln in der Dieb-Richter-Konstellation gar nicht adäquat anwendet. Bei Hares Lösung kann der Richter sein Tun nur rechtfertigen, indem er auf die Konsequenzen für die Gesamt­ gesellschaft verweist. Wenn es sich nur um zwei Personen handelt, so räumt Hare ein, ließe sich die Bestrafung des Diebes nicht rechtferti­ gen. Doch wenn das so wäre, dann könnte sich der Richter in dem Fall, daß er mit dem Dieb auf eine unbewohnte Insel verschlagen worden wäre, gegen einen Diebstahl gar nicht mit moralischen Gründen wehren. Das ist nicht nur intuitiv unplausibel, es folgt auch nicht aus der Logik des moralischen Denkens. Dieser zufolge muß es darum gehen, Handlungsregeln zu finden, die man aus allen Positio­ nen akzeptieren kann. Die primäre Frage, die sich auch die zwei ein­ zigen Einwohner einer Insel stellen müßten, ist dabei, ob man be­ stimmte Formen der Aneignung, bestimmte Freiheiten etc. und die diesen entsprechenden Rücksichten im Rollentausch-Testverfahren gutheißen könnte. Für dieses Testverfahren ist es unerheblich, ob 17 Hare, 1983b, S. 137. 18 Hare, 1981, S. 42/3. 126

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von der Handlung nur ein anderer oder potentiell Zehntausende be­ troffen sind. Wenn dann beide irgendeine Form von Eigentum akzep­ tiert haben, dann ist die Regel moralisch gültig. Jemand, der gegen eine solche Regel verstößt, kann sich nicht mit mit dem Argument moralisch über seine Bestrafung beschweren, daß niemand gern be­ straft werden würde. Denn daß die Übertretung der moralischen Re­ geln auf irgendeine Weise sanktioniert wird, gehört mit zum Sinn des Nachdenkens über moralische Regeln.19 Insofern ist ein Überg­ ang zum Utilitarismus an dieser Stelle nicht notwendig und unbe­ gründet. Hare hat den Zusammenhang zwischen einem Rollentausch, bei dem die Präferenzen der anderen übernommen werden, und der utilitarischen Verrechnung derselben in seinem späteren Werk Mora­ lisches Denken aber noch mit einem weiteren Argument zu unter­ mauern versucht. Wenn man, so seine These, darüber nachdenkt, wie andere aus ihrer Perspektive in einer Situation behandelt werden möchten, dann eignet man sich gewissermaßen deren Präferenzen und Erwartungen in dieser Situation an. Die können von meinen eigenen Präferenzen natürlich stark abweichen. Doch durch diese imaginative Identifikation hat sich der interpersonelle Konflikt in einen intrapersonellen verwandelt. Man kann nun seine eigenen und die erworbenen Präferenzen miteinander vergleichen. Bei der Lösung solcher intrapersoneller Konflikte folgen wir, so Hare, der Methode der Maximierung von Wunschbefriedigung. Diese Metho­ de hat zudem den Vorteil, daß jeder, der alle beteiligten Wünsche hinreichend in seiner Seele repräsentiert hat, zu demselben Resultat kommen wird. Das Resultat dieser Methode ist also universalisierbar.

19 Man muß in einem zweiten Schritt aus der unparteiischen Perspektive auch über die mit einer Regel konkret zu verknüpfenden Sanktionen nachdenken. Dazu muß man sich nun vorstellen, selbst - sei es zu recht oder gar zu unrecht - der fraglichen Strafe unter­ worfen zu werden. Dabei sind die von der Einführung der Strafe erhofften Vorteile (Abschreckung, Sicherung vor Wiederholung, Besserung) gegen deren Schrecklichkeit abzuwägen. Das Resultat solchen Abwägens wird höchstwahrscheinlich sein, daß man zwar nicht mehr korrigierbare oder grausame Strafen (Handabhacken, Arbeitslager, Tötung etc.) ablehnen wird, nicht aber das Strafen insgesamt. Man kann also die Ein­ führung von Strafen im Rollentausch-Verfahren gutheißen, ohne deshalb gleich uti­ litaristisch denken zu müssen. Im Gegenteil: Selbst wenn es so wäre, daß durch die Einführung einer grausamen Strafe die Abschreckungswirkung und dadurch der Ge­ samtnutzen steigen, wäre das aus der unparteiischen Perspektive kein zwingender Grund, diese Strafe im Rollentausch-Verfahren vorzuziehen. ^

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Hare sieht deshalb keinen Grund mehr, warum man die moralische Frage nicht nach diesem Verfahren entscheiden sollte.20 Doch es gibt sogar einen starken Grund gegen diese Strategie. Die Maximierung der Befriedigung wäre eine brauchbare Strategie, wenn jemand sich fragt, ob er, ausgehend von seinen Interessen, eine vorgeschlagene Moralregel aus allen für ihn wahrscheinlichen Posi­ tionen heraus akzeptieren kann. Hier gibt es gar keine andere Mög­ lichkeit, als die Vor- und Nachteile der Regel gegeneinander auf­ zurechnen und mit denen von anderen Regeln zu vergleichen. Schon bei diesen Vergleichen werden Risikoabwägungen eine Rolle spielen. Wenn man etwa meint, daß der Verzehr von Alkohol erlaubt sein soll, setzt man sich damit dem zusätzlichen Risiko aus, von be­ trunkenen und unkontrollierten Personen geschädigt zu werden. Wichtig ist aber, daß bei dieser Form der Abwägung die Vor- und Nachteile innerhalb des Erlebisraumes eines Individuums auftreten. Wer mit der Erlaubnis von Alkoholkonsum das Risiko eingeht, ein Opfer von Betrunkenen werden zu können, bekommt auch etwas dafür - eben die Möglichkeit, selbst zu trinken, wenn ihm danach ist. Aber diese Situation ändert sich radikal, sobald man sich darauf einläßt, die Präferenzen aller gleichberechtigt in einen universalen Verrechnungsprozeß einzuspeisen: Die Unparteilichkeit verlangt nun, daß man alle bei einer vorgeschlagenen Regelung möglichen Positionen gemäß der Innenperspektive der Betroffenen gleich wich­ tig nimmt und die auftretenden Frustrationen und Glückszustände miteinander verrechnet. Sodann muß man zu allen alternativen Re­ gelungen die resultierenden Zufriedenheitswerte zu bestimmen ver­ suchen. Die moralisch richtige Lösung wäre dann die mit der größten Zufriedenheitssumme. Doch mit dieser Strategie, einmal voraus­ gesetzt, daß solche Berechnungen überhaupt durchführbar wären, ist ein ganz anders strukturiertes Risiko verbunden. Denn nach die­ ser Entscheidungsregel wäre es möglich, daß bei der Regelung mit dem größten Gesamtnutzen die darin vorkommenden schlechtesten Positionen sehr elend sind, jedenfalls elender als die schlechtesten Positionen unter einer anderen Regelung mit geringerem Gesamt­ oder Durchschnittsnutzen. D. h. es ist durchaus wahrscheinlich, daß manchen Mitgliedern der Gemeinschaft Frustrationen zugemutet werden, für die diese keine Entschädigung erfahren. Nur wenn man

20 Hare, 1992, S. 169f. 128

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eine entsprechend hohe Risikohereitschaft hat, ist es rational, über Regeln nach dem Nutzenmaximierungsprinzip zu entscheiden. Aber mit welchem Recht kann von einer solchen Einstellung ausgehen? Warum nicht von der eines Risikoscheuen, der nach der bestmöglichen schlechtesten Position sucht (Maximin), oder von der des Risikofreudigsten, der nach der bestmöglichen Position über­ haupt sucht (Maximax)? In dieser Situation kann man zwei Wege einschlagen: - Man kann behaupten, daß für Menschen eine dieser Einstellungen zum Risiko normal oder vernünftig ist. Aber dann ist man wieder mit den Problemen konfrontiert, die schon anläßlich von Rawls' Abgrenzung gegen den Utilitarismus diskutiert wurden: Eine Ein­ stellung zum Risiko läßt sich nicht an sich als vernünftig erweisen, sondern die Vernünftigkeit einer Einstellung bleibt von vorgängi­ gen Interessen abhängig. - Man kann das Nutzenprinzip aber auch verteidigen, indem man zwar einräumt, daß diesem eine bestimmte Einstellung zum Risi­ ko korrespondiert, aber gleichzeitig behauptet, nach diesem Prin­ zip nicht wegen dieser Einstellung zu verfahren, sondern nur, weil man unparteiisch Nutzen stiften wollte. Und das sei es doch schließlich, was die Moral von uns verlangt.21 - Doch woher weiß man, daß die Moral dies von uns verlangt? Das ergibt sich weder aus dem Begriff der Moral, noch aus der Idee der Unparteilichkeit. Man muß vielmehr sehen, daß in dieser Intuition eine seltsame Form der Unparteilichkeit zum Tragen kommt. Das Wohl eines jeden wird zwar formal und innerhalb des Verrechnungsprozesses gleich wichtig genommen, aber nicht im Resultat. Für das Leben von Menschen ist aber das Resultat wichtig. So kann jemand, des­ sen Wohl im Zuge der transpersonalen Verrechnung weitgehend geopfert wurde, mit gutem Recht sagen, daß in der resultierenden Ordnung sein Wohl nicht gleich berücksichtigt wird. Für ihn ist es kein Trost, das große Glück derer zu sehen, durch welches die Ord­ nung den größten Durchschnitts- oder Gesamtnutzen erzielt. Die­ ses Problem läßt sich auch nicht dadurch lösen, daß man die Per­ sonen mit einem Altruismus beliebiger Größe ausstattet. Denn wie soll der Altruismus der Bessergestellten es ertragen können, daß andere so viel schlechter dran sind? In Hares Strategie zur Lösung des Problems der divergierenden Neigungen ist also wie­ 21 So etwa Harsanyi, 1976, S. 47f. ^

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der der alte utilitaristische Fehler enthalten - sie vernachlässigt die Getrenntheit der Individuen.22 Diesem Fehler ist überraschenderweise auch Peter Singer erlegen, obwohl er ein klares Bewußtsein der Gefahr hatte, eigene materiale ethische Überzeugungen in den Begriff des Ethischen hinein­ zuschmuggeln. Sein Argument vollzieht sich in drei Schritten: - Im ersten Schritt macht Singer klar, daß man ein moralisches Ur­ teil nicht an seinem materialen Gehalt, sondern erst an der Art erkennen kann, wie es begründet wird. - Zweitens muß diese Begründung von einer bestimmten Art sein. Sie kann nicht ausschließlich in Begriffen des Eigeninteresses ge­ geben werden, sondern muß von einem überindividuellen, univer­ salen Standpunkt aus akzeptabel sein. Wenn jemand einen ande­ ren ermordet und als Begründung nur angibt, er habe sich den Besitz den Ermordeten aneignen wollen, wird dies niemand auch nur für den Versuch einer moralischen Rechtfertigung halten. - Der dritte, entscheidende, Schritt besteht in der These, daß uns der erforderliche universale Charakter moralischer Urteile mit einem 22 So auch Williams, 1985, S. 88. Es scheint mir, daß Hare die Orientierung am Gesamt­ nutzen und die Methode der imaginativen Identifikation schließlich deswegen favori­ siert hat, weil er meinte, nur so mit dem Problem des Fanatikers umgehen zu können. Hare beschäftigt sich mehrfach mit der Gestalt eines Nazis, der dem Ideal anhängt, daß die Erde von Juden befreit werden muß. Solange das moralische Denken nur erfordert, daß sich der Nazi unter Beibehaltung seines Ideals in die Position eines Juden versetzt, ist nicht auszuschließen, daß er selbst dann bei seinem Ideal bleibt und akzeptiert, daß auch er selbst, wenn er ein Jude ist, in die Gaskammer geschickt wird. Daß der Nazi seine Vorstellung »Alle Juden sollen vergast werden!« nicht als moralische Regel aufrechter­ halten kann, bleibt dann von der wahrscheinlichen, aber kontingenten Tatsache abhän­ gig, daß er sich als Jude nicht selbst in die Gaskammer wird schicken wollen (Hare, 1983b, S. 192). Die Methode der imaginativen Identifikation scheint hier eine zuver­ lässigere Absicherung gegen unerwünschte Resultate zu bieten. Wenn sich der Nazi vollständig in die Rolle seines Opfers hineinversetzt, dann wird er dabei zuverlässig die Abneigung dagegen erwerben, vergast zu werden. Doch dieser Gewinn kann in Kom­ bination mit dem Gesamtnutzen-Prinzip wieder verloren gehen. Wenn die Nazis nur zahlreich genug sind, wird ihre Abneigung gegen Juden trotz der durch die Identifika­ tion hineinkommenden entgegengesetzten Impulse in der Gesamtsumme noch die be­ stimmende Größe bleiben. Es ist zudem nicht einmal nötig, so weitreichende Thesen über die Struktur moralischen Denkens einzuführen, nur um ein Resultat auszuschließen, gegen das die Intuition so deutlich spricht. Eine harmlosere und für diesen Fall völlig ausreichende Forderung ist die, daß die in ein Moralurteil eingehenden außermoralischen Prämissen rational und empirisch zutreffend sind. Schon diesen Test würde die nazistische Judenverdammung nicht überstehen. 130

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überzeugenden Grund versieht, das utilitaristische Moralprinzip zu akzeptieren. Dieser Grund ist: Wenn man bei einer moralischen Überlegung nicht nur auf seine eigenen Interessen Bezug nehmen darf, sondern die Interessen aller von einer Handlung Betroffenen gleich berücksichtigen muß, dann kann man nur jene Handlungs­ weise gutheißen, von der es am wahrscheinlichsten ist, daß sie die Interessen der Betroffenen maximiert. Singers These ist, daß man sich, wenn man moralisch denken will, nicht weigern kann, diesen zum Utilitarismus führenden Schritt zu tun. Andere Moralen mögen noch weitere Schritte tun, aber damit haben sie die schwie­ rige Beweispflicht für die Notwendigkeit dieser Schritte. Der Uti­ litarismus soll sich dagegen methodisch als eine Art von Minimal­ Moral empfehlen.23 Doch klarerweise kann man sich weigern, diesen letzten Schritt zu machen, ohne deshalb gleich aufzuhören, moralisch zu denken. Wie sich bereits gezeigt hat, folgt es nicht zwingend aus der Logik der Moralsprache, daß dabei alle Interessen gleich berücksichtigt werden müssen. Doch selbst wenn man sich zu diesem Schritt entschlösse, wäre es wegen der damit verbundenen Risiken dann nicht rational geboten, alle Befriedigungen und Frustrationen zu einer Gesamt­ summe zu verrechnen. Zwar hat der Utilitarismus einige wirksame Argumente entwickelt, um die Schädigung einiger zur Steigerung des Gesamtnutzens zu verhindern. Etwa das Prinzip der öffentlichen Vertretbarkeit von Maximen und das Prinzip des sinkenden Grenz­ nutzens.24 Das Instrumentalisierungsproblem mag damit für die mei­ sten realen Kontexte aus der Welt sein, theoretisch bleibt es virulent. Es bleibt wenigstens prinzipiell möglich, daß selbst unter Berücksich­ tigung der genannten Prinzipien, eine vorsätzlich durchgeführte Schädigung Unschuldiger zu einem größeren Gesamtnutzen führen kann. Und warum soll es rational sein, sich dieser Gefahr überhaupt auszusetzen? Ich denke deshalb, daß aus der unparteiischen Perspektive die Aufgabe, jeden entsprechend seiner Präferenzen gleich wichtig zu nehmen, nur in Ausnahmefällen entsprechend dem Maximierungs­ modell interpretiert werden wird. Die Diskussion hat gezeigt, daß es diesem Impuls mehr entspricht, nach Regeln zu suchen, die das Wohl

23 Singer, 1984, S. 18-25. 24 Ebd. S. 36. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

eines jeden gleich weit fördern und erst innerhalb dieser Vorgabe natürlich so weit wie möglich.

IV.2.

J. Habermas

In seinen Überlegungen zur Moralbegründung geht Habermas auf den Begriff der Moral nur in einem knappen, propädeutischen Kapi­ tel ein, in dem er sich einer Analyse von P. F. Strawson anschließt. Strawson unterscheidet darin das moralische Übelnehmen vom rein egozentrischen dadurch, daß ersteres einen unpersönlichen oder stellvertretenden Charakter habe. Im moralischen Übelnehmen for­ dern wir nicht nur ein bestimmtes Maß an Rücksicht uns selbst ge­ genüber ein, sondern wir fordern dies allen Menschen gegenüber. Dieser unpersönliche Charakter der Haltung gebe ihr das Recht auf die Bestimmung >moralischU< auch so argumentieren: (1) Mit normativen Aussagen werden Geltungs- und Wahrheits­ ansprüche verbunden. (2) Wahrheit ist nur als qualifizierter Konsens analysierbar. Eine These ist wahr, wenn sie unter bestimmten Bedingungen die Zu­ stimmung aller findet. (3) In praktischen Belangen ist dasjenige, dem man dabei zustimmt, die Auswirkung der allgemeinen Befolgung einer Norm auf die eigenen Interessen. (4) Gültig kann eine Norm deshalb nur dann sein, wenn die Folgen ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessen jedes einzelnen von allen akzeptiert werden. Und das ist gerade >UU< bereits analytisch aus der An­ wendung der von Habermas zugrundegelegten Wahrheitstheorie auf praktische Sätze. Das Problem des transzendentalpragmatischen An­ satzes besteht demzufolge nicht in der Ableitung von >U< als Moral­ prinzip. 2. Das eigentliche Problem besteht darin, daß selbst mit der An­ erkennung von >U< nicht klar ist, wie die Zustimmung aller zu ein und derselben Regel möglich sein soll. Wie kann es sein, daß die Auswirkungen einer Regel auf die Interessen eines jeden von allen Regelbetroffenen akzeptiert werden? Um was für eine Akzeptanz handelt es sich dabei? In der ursprünglichen Formulierung von >U< hatte Habermas die Zusatzbedingung aufgenommen, daß eine Regel allgemein akzep­ tiert und allen anderen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen wird.38 So könnte man sagen: >Akzeptanz< bedeutet, daß die Regel allen als besser erscheint, als jede mögliche Alternative. Doch das ist eine 37 Malowitz 1996, S. 595. 38 Habermas, 1996a, S. 74/5. 136

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2. J. Habermas

schwer erfüllbare Forderung, denn normalerweise kann sich jeder stets eine Regel vorstellen, die ihn selbst oder die Angehörigen einer Gruppe, zu der er gehört, besser stellt. Die Forderung wäre nur unter zwei Bedingungen erfüllbar: a) Die Zustimmung hat einen zufälligen Charakter. So könnte eine Gruppe der Gesellschaft ein Leben in Armut als notwendige Vor­ aussetzung für ein gutes Leben nach ihrem irdischen Tod ansehen. Und eine andere, mehr an irdischen Gütern orientierte Gruppe der Gesellschaft könnte dann von deren Arbeitskraft profitieren. Doch solche Ergänzungen sind eben sehr unwahrscheinlich, und es wäre nicht sehr befriedigend, eine Ethik von dem Eintreten solcher zu­ fälliger Übereinstimmungen abhängig zu machen. b) Es gibt eine für alle einsichtige Theorie des außermoralisch Guten und deren Werte werden durch Geltung einer bestimmten Regel für alle optimal erfüllt. Doch auch das ist nicht eben wahrschein­ lich. Selbst wenn es eine von allen geteilte Theorie des Guten gäbe, es bleibt immer noch sehr wahrscheinlich, daß die darin heraus­ gestellten Werte durch verschiedene Regeln für verschiedene Gruppen jeweils optimal verwirklicht werden könnten. Selbst wenn alle der Überzeugung wären, daß Gesundheit der höchste Wert ist, allein dadurch wäre der Streit, wer Zugang zu welchen medizinischen Leistungen haben soll, noch nicht geschlichtet. So­ lange in der Theorie des Guten Güter enthalten sind, deren Wert durch eine ungleiche Verteilung nicht geschmälert wird, kann es keine Zustimmung zu einer Regel in dem Sinn geben, daß sich alle dabei maximal zufriedengestellt fühlen. Vermutlich um hier weiterzukommen, hat Habermas in der späteren Fassung von >U< hinzugefügt, daß die Norm in ihrer Auswirkung auf die eigenen Interessen von jedem zwanglos akzeptiert werden soll.39 Zwar hat Habermas die Einführung der Begriffs der Zwanglosigkeit nicht weiter begründet, aber sie läßt sich durchaus rechtfertigen. Die­ se Idee hat ihren guten Sinn im Bereich des Theoretischen. Wenn man sich von einer physikalischen Theorie oder einem mathemati­ schen Beweis überzeugen läßt, dann kann dies zwar geradezu zwin­ genden Charakter haben, aber man kann es nicht als Zwang im Sinn einer nur erzwungenen Zustimmung bezeichnen, weil es eben die eigene Vernunft ist, die dabei ihre Zustimmung gibt. Die Frage ist dann aber, was eine Akzeptanz im Bereich des Praktischen zwanglos 39 Ebd. S. 103. ^

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macht. Sicher kann man sagen »Jemand akzeptiert eine Norm dann zwanglos, wenn er sich gar keine bessere vorstellen kann«. Aber das führt auf das obige Problem zurück: Mit dieser Definition von Zwanglosigkeit wird jeder nur solche Normen zwanglos akzeptieren, die ihn besonders gut stellen, d. h. man würde sich nicht auf eine gemeinsame Norm verständigen können. Es liegt nahe, nun vorzu­ schlagen, daß eine zwanglose Akzeptanz genau dann vorliegt, wenn eine Norm für alle Betroffenen gleich gut ist. Dies entspricht zwei­ fellos auch Habermas' Intention und Intuition. Ohne diesen Überg­ ang eigens zu thematisieren, interpretiert er >U< als eine Regel, die Einverständnis immer dann erlaubt, wenn Materien im gleichmäßi­ gen Interesse der Betroffenen geregelt werden, oder auch direkt als eine Regel, die besagt, daß nur solche Normen gültig sind, die für jeden Betroffenen gleichermaßen gut sind.40 Da nur eine oder nur wenige Normen für alle gleich gut sein können, wäre mit dieser Form der Zustimmung ziemlich eindeutig ein gemeinsames Resultat des Diskurses bestimmt. Doch nun liegt ein anderer Einwand nahe: Wenn die Betroffe­ nen ihre Zustimmung gerade dann als zwanglos empfinden, wenn mit der Norm alle gleich gut gestellt werden und sonst von erzwun­ gener Zustimmung reden würden, dann scheinen sie sich mit dieser Unterscheidung bereits an einem moralischen Maßstab zu orientie­ ren - etwa daran, daß das Wohl eines jeden gleich wichtig genommen zu werden verdient. Eine Norm wäre dann zwar immer noch deswe­ gen moralisch gültig, weil alle ihr zwanglos zustimmen, aber die Zwanglosigkeit der Zustimmung wäre ihrerseits nur durch die Ori­ entierung an bereits vorausgesetzten moralischen Normen möglich geworden.41 Das Kriterium der zwanglosen Zustimmung beinhaltete somit eine petitio principii, es wäre zirkulär. Doch gegen diesen Vorwurf könnte sich Habermas verteidigen. Ihm ging es ja darum zu erklären, wie der mit moralischen Aussagen erhobene Wahrheitsanspruch zu verstehen und wie er einzulösen ist. Wahrheit ist seiner Analyse gemäß nur als qualifizierte Zustimmung verstehbar, und ein Charakteristikum dieser Zustimmung ist, daß sie zwanglos erfolgen muß. Habermas könnte zunächst einfach auf das 40 Ebd. S. 76, 78. 41 Dasselbe Argument hat Tugendhat gegen das Kriterium der Zustimmung überhaupt erhoben (Tugendhat, 1993, S. 196/7). Den Aspekt der Zwanglosigkeit der Zustimmung hat er allerdings vernachlässigt. 138

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Faktum verweisen, daß wir die Zustimmung zu einer Regelung als zwanglos empfinden, wenn wir den Eindruck haben, daß dabei die Partner gleich berücksichtigt werden. Und eben deshalb könne nur eine Regelung, die im gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen ist, einen Wahrheitsanspruch erheben. Der Zirkularitätsvorwurf würde dann besagen, daß sich dieses Gefühl der Zwanglosigkeit nur deshalb einstellen kann, weil die Zustimmenden schon eine entsprechende moralische Erziehung durchlaufen haben. Das mag auch so sein, aber es gibt unabhängig von der Erzie­ hung auch einen logischen Grund, weshalb man die Zustimmung zu egalitären Regeln nicht als erzwungen begreifen kann. Dieser Grund besteht schlicht darin, daß man von einer erzwungenen Zustimmung sinnvoll nur reden kann, wenn man einen Zwingenden von einem Gezwungenen unterscheiden kann. Und eben das ist bei einer ega­ litären Regelung nicht möglich. Jeder mag ursprünglich nur jenen Normen zwanglos zustimmen, die ihn so gut wie möglich stellen und allen anderen nur das Nötigste zukommen lassen. Jedes Zurück­ bleiben hinter dieser Maximalposition mag man als Zwang begrei­ fen. Entscheidend ist, daß bei einer Regelung, die gleich gut für alle ist, jeder im selben Ausmaß Zwingender wie Gezwungener ist. Und eben weil in dieser Hinsicht dann alle gleich sind, macht es keinen Sinn mehr, die eigene Zustimmung zu einer solchen Regel als er­ zwungen zu begreifen. Ebensogut könnte man sagen, daß man sie den anderen aufgezwungen hat. Auf diese Weise ließe sich ein Mo­ ralprinzip >U*< rechtfertigen: U*: Eine Norm kann nur dann Wahrheit beanspruchen oder zwang­ lose Zustimmung erfahren, wenn die Folgen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessen eines jeden ergeben, für jeden gleich gut sind. In dieser Verteidigung bekäme die Präsuppositionsanalyse allerdings eine andere, in einer Hinsicht reduzierte Bedeutung. Sie wäre nicht länger eine Analyse der pragmatischen Voraussetzungen einer jeden Argumentation, sondern spezifischer eine Analyse der Bedingungen praktischen Argumentierens. Der Apel'sche Fundamentalismus, der meinte, seine Resultate dadurch besonders stark machen zu können, daß er sie als Voraussetzungen allen Argumentierens aufweist, wäre preiszugeben.42 Mit solchem Fundamentalismus wird man den spezi­ 42 Apel, 1988, S. 405. Habermas hat diesen Fundamentalismus ebenfalls als verstärkend aufnehmen wollen (vgl. Habermas, 1996a, S. 95). ^

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fischen Erfordernissen normativen Argumentierens nicht gerecht. Es führt weiter, wenn man es als die Aufgabe der Präsuppositionsanalyse begreift, diejenigen Voraussetzungen einer Redeweise und der ihr entsprechenden Praxis zu bestimmen, die man machen muß, wenn diese spezifische Praxis möglich sein soll. Die Akzeptanz von >U< oder >U*< hat eine wichtige Konsequenz. Da Wahrheit den qualifizierten Konsens aller erfordert, müssen zwei Verfahren zur Aufstellung von Normen als unzureichend abgelehnt werden: - Es genügt nicht, daß ein einzelner prüft, ob er das Inkrafttreten einer Norm wollen kann. - Und es ist ebenfalls unzureichend, daß jeder in einer bestimmten Situation eine bestimmte Norm wollen würde. Beides ist unzureichend, weil dabei entweder nur aus der Perspektive eines Individuums oder von einem speziellen Standort aus über die Norm nachgedacht wird. Der Universalisierungsgrundsatz erfordert aber eine Zustimmung aller Regelbetroffenen und damit eine Zu­ stimmung aller aus allen Positionen. Diese Über- oder Unparteilich­ keit will Habermas in einer ersten Näherung mit einem universellen Rollentausch gewährleisten, in dem jeder Betroffene bei der Inter­ essenabwägung die Perspektive aller andern einnehmen muß. Der Zweck eines solchen Rollentausches besteht darin, die Interessen, Prioritäten und Beurteilungen der anderen und damit die Vorausset­ zungen für deren Zustimmung, wirklich in dem Prozeß der Normen­ findung zur Geltung zu bringen. Deshalb werden, um diese Prioritä­ ten der anderen in Erfahrung zu bringen, über den imaginativen Rollentausch hinaus oft auch reale Dialoge nötig sein. Die Findung der konkreten moralischen Normen kann deshalb nicht dem stellver­ tretenden Monolog eines Experten für Moral überlassen werden.43

IV.3.

I. Kant

Kant hat nicht methodisch darauf reflektiert, ob alles Nachdenken über Moral von einem Begriff des Moralischen ausgehen muß. Er ist einfach so verfahren. Am Ende des zweiten Abschnitts der Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten faßt Kant seine bisherigen Über­ legungen so zusammen: 43 Habermas, 1996a, S. 75-77, 104. 140

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3. I. Kant

»Wir zeigten nur durch Entwickelung des einmal im Schwange gehenden Be­ griffs der Sittlichkeit, daß eine Autonomie des Willens demselben unver­ meidlicherweise anhänge oder vielmehr zum Grunde liege. Wer die Sittlich­ keit für etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Prinzip derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also, ebenso wie der erste, bloß analytisch.«44

Ganz dem entsprechend hatte Kant schon zum Ende des ersten Ab­ schnitts geschrieben, er sei nun von der »moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt"45. Im folgenden wird es um die Analyse der Schritte gehen, die Kant zu der Zuversicht geführt haben, das richtige Prinzip der Moral ein für allemal gefunden zu haben. Das Problem der Motivation zum mora­ lischen Handeln soll dabei so weit wie möglich ausgeklammert blei­ ben. Es wird sich allerdings nicht vollkommen ausklammern lassen, weil Kant seinen Zugang zum Prinzip der Moral erstaunlicherweise gerade über die Motivation zum moralischen Handeln sucht. Kants Charakterisierung seines Vorgehens wirkt auf den ersten Blick verblüffend. Denn wenn der Ausgangspunkt seiner Analyse ein >im Schwange gehender Begriff< wäre, dann erhielte seine Unter­ suchung einen empirischen Charakter. Sie wäre dann die Analyse einer sozialen Praxis dergestalt, daß die Leit- oder Grundbegriffe die­ ser Praxis dabei ans Licht gebracht werden. Eine solche Analyse wäre genau dann wahr, wenn sie die vorgefundene Praxis erstens vollstän­ dig beschreibt und wenn zweitens die darin vorgeschlagenen begriff­ lichen Implikationen zwingend sind. Ein solches Verfahren steht aber in Widerspruch zu Kants zahllosen Beteuerungen, daß man diese Begriffe und das Prinzip der Sittlichkeit nicht aus der Erfahrung, ja nicht einmal aus irgendwelchen Bedingungen der menschlichen Na­ tur herleiten dürfe, sondern sie völlig a priori aus reiner praktischer Vernunft und als gültig für alle vernünftigen Lebewesen ableiten müsse.46 In diesem Dilemma gibt es zwei Wege der Kantinterpretati­ on, denen zugleich zwei Thesen über die Möglichkeiten einer moral­ philosophischen Analyse entsprechen: 1. Man kann die Idee einer Deduktion a priori aufgeben und ver­ suchen, die Moralphilosophie als Analyse der zentralen Begriffe einer sozialen Praxis zu entwickeln. Dies tut Kant im ersten Ab­ 44 GMS, S. 445, vgl. auch S. 440. 45 GMS, S. 403. 46 GMS, S. 406-408, 442. ^

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schnitt der Grundlegung mit den Begriffen des guten Willens und der Pflicht. 2. Man kann an der Idee einer irgendwie tiefergehenden Deduktion festhalten. Auch diese Strategie wird von Kant verfolgt - aller­ dings erst im zweiten Abschnitt derselben Schrift. Dort kündigt er an, man müsse »das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an bis dahin, wo aus ihm der Be­ griff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen.«47 Es ist, obwohl es bei Kant darauf hinausläuft, nicht klar, daß beide Methoden zu demselben Resultat führen werden. Ich werde sie des­ halb getrennt untersuchen.48 IV.3.1. Das Kriterium der Selbstaufhebung Kant beginnt den ersten Abschnitt der Grundlegung mit der berühmten These, daß nichts in der Welt ohne Einschränkung für gut gehalten werden könne, als allein der gute Wille. Auf den ersten Blick scheint die These falsch zu sein. Einen mindestens ebenso gro­ ßen Anspruch auf das Prädikat >ohne Einschränkung gut< scheint doch die Glückseligkeit erheben zu können. Kant hat diese Möglich­ keit jedoch nicht einfach übersehen. Daß er sie ausschließt, liegt an seinem Verständnis dieses Prädikats. Es ist auffällig, daß Kant zur Erläuterung seiner These weder dieses Prädikat noch die Bedeutung von >guter Wille< erklärt. Wie er beides versteht, wird erst aus den Beispielen klar, mit denen er seine These illustriert. Danach verdie­ nen das Prädikat >ohne Einschränkung gut< weder die Talente des Geistes (Verstand, Witz), noch die Glücksgaben (Reichtum, Gesund­ heit) und auch nicht die von der Antike als Tugend geschätzte Selbst­ beherrschung. Der Grund ist in allen drei Fällen der gleiche - all dies kann auch »böse oder schädlich werden«, es bedarf der Aufsicht durch den guten Willen, um »allgemein-zweckmäßig« zu sein.49 Die allgemeine Zweckmäßigkeit ist somit das Kriterium für die Anwen­ dung des Prädikats >ohne Einschränkung gutallgemein-zweckmäßig< meint, aber es wird klar, daß dies nicht notwendig etwas mit der Glückseligkeit eines Menschen zu tun hat: Auch ohne guten Willen, also ohne Bezugnahme auf das allge­ mein Zweckmäßige kann man sich, so Kant, »eines ununterbroche­ nen Wohlergehens« erfreuen.50 Wenn man von der Glückseligkeit also nicht ohne weiteres behaupten kann, daß sie allgemein-zweck­ mäßig sei, dann kann man ihr, so wie Kant seine Begriffe implizit definiert hat, auch das Prädikat >ohne Einschränkung gut< nicht bei­ legen. Es liegt gleichfalls schon in der Bedeutung der Begriffe, daß der gute Wille dieses Prädikat verdient. Zu zeigen bleibt nur noch, daß man es nur ihm beilegen kann. Doch Kant wendet sich diesem Desiderat seiner These nicht di­ rekt zu. Er untersucht stattdessen, was dasjenige ist, was einen guten Willen gut macht. Die Güte des guten Willens wird nicht gemindert, wenn dieser, trotz Aufbietung aller der Person verfügbaren Mittel, sein Ziel nicht erreicht. Der gute Wille wird durch sein Wollen selbst gut, nicht durch den Erfolg oder Mißerfolg der daraus folgenden Handlungen. Zwar ist in alledem nicht von Moral und moralischer Schätzung die Rede gewesen, aber spätestens die folgenden Seiten machen dann klar, daß es genau darum geht. Das allgemein Zweckmäßige ist hier Kants Chiffre für das moralisch Richtige. Die Eingangsthese besagt dann, daß nichts moralisch gut genannt werden kann, als nur der gute Wille. Harald Köhl hat dies zu recht als die gesinnungsethische Grundthese bezeichnet: Das, was an einer Handlung moralisch beur­ teilt wird, ist der Wille des Handelnden, genauer dessen Handlungsabsicht.51 Nachdem nun klar ist, was der Gegenstand der moralischen Schätzung oder Verurteilung ist, nämlich der Wille der jeweiligen Person, klärt Kant die Bedingung solchen Schätzens oder Verurteilens weiter auf. Dazu wendet er sich einem zweiten Grundbegriff des moralischen Alltagsverständnisses zu - dem Begriff der Pflicht. Kants These ist, daß eine Handlung erst dann »echten moralischen Wert« hat, wenn sie »lediglich aus Pflicht« getan wird.52 Zwei For­ men der Motivation sind dagegen als moralisch wertlos auszuschlie­ ßen: 50 GMS, S. 393. 51 Köhl, 1990, S. 11. 52 GMS, S. 398. ^

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1. Selbst eine moralisch richtige Handlung bleibt dann moralisch wertlos, wenn sie nur als Mittel zu einem anderen Zweck aus­ geführt wird. Hierhin gehört die ehrliche Bedienung durch den Krämer, der es sich dadurch lediglich nicht mit seiner Kundschaft verderben möchte.53 2. Auch wenn eine moralisch richtige Handlung nur aus einer unmit­ telbaren Neigung zu dieser Handlung heraus begangen wird, fehlt ihr noch der moralische Wert. Kants Beispiel für solches Handeln ist die aus Sympathie entspringende Hilfsbereitschaft angesichts des Leidens anderer. Der wahre Wert des Charakters zeige sich erst dort, wo jemand ohne alle Neigung, eben aus Pflicht, hilft.54 Auch mit diesen beiden Thesen ist noch nichts darüber gesagt, durch welchen Inhalt ein Wille gut wird, sondern nur etwas darüber, wie der Wille auf diesen Inhalt bezogen sein muß. Dabei ist der erste Punkt unstrittig. Wer das moralische Verhalten nur als Mittel zur Erreichung außermoralischer Zwecke einsetzt, würde sich nicht mehr moralisch verhalten, wenn er seine Zwecke auch anders errei­ chen könnte. Sein Wollen ist damit nur zufällig und indirekt auf das moralisch Richtige bezogen. Moralisches Handeln erfordert dagegen, daß man auf das Moralische als einen Endzweck bezogen ist und daß dieser Endzweck mindestens im Rahmen der konkreten Handlung als der höchste angesehen wird. Ungleich strittiger ist das zweite Ausschlußkriterium. Warum, so könnte man fragen, soll das Handeln dessen, der aus Mitempfin­ den anderen hilft, ohne moralischen Wert sein? Ist nicht dieses Mit­ empfinden selbst gerade der Musterfall einer moralischen Gesin­ nung? Zu seiner Verteidigung würde Kant diese Kritiker vermutlich fragen, woher denn ihr moralisches Basisgefühl, die Achtung für an­ dere oder das Mitempfinden mit anderen, stammt. Kant war sicher der Auffassung, daß diese nichts anderes antworten könnten, als daß solche Gefühle oder Neigungen eben in der Natur des Menschen angelegt seinen, geradeso wie die Furcht vor Schmerzen oder vor dem Tod. Und damit stehen die Vertreter dieser Position vor einem schwierigen Problem. Denn schon diese letzten Gefühle können ver­ schiedene Menschen verschieden stark haben und manche mögen von der Furcht vor dem Tod sogar völlig frei sein. Wenn also die moralische Haltung vom Vorhandensein bestimmter Gefühle ab­ 53 GMS, S. 397. 54 GMS, S. 398. 144

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hängt, dann gibt es für diejenigen, denen diese Gefühle fehlen, gar keinen Grund mehr, sich entsprechend zu verhalten. Nun könnten die Vertreter einer solchen Position dies einfach einräumen und zugestehen, daß hier eben die Grenze moralischer Motivation verlaufe. Doch dem steht eine zentrale Intuition des all­ täglichen moralischen Denkens entgegen: Die moralischen Handlun­ gen sollen geboten und von jedermann verlangt werden können. Die­ se Überzeugung bildet auch für Kant den fraglosen Hintergrund seiner Analyse. Schon in der Vorrede weist er darauf hin, »daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse«.55 Wenn die Ba­ sis solchen Handelns jedoch ein Gefühl ist, das beliebig schwach sein oder auch ganz fehlen kann, dann wäre es nur dann sinnvoll solche Handlungen als notwendig für jedes vernünftige Wesen zu behaup­ ten, wenn man das Vorhandensein des motivierenden Gefühls for­ dern kann. Das scheint bei >normalen< Gefühlen aber unmöglich zu sein. »Liebe als Neigung«, so Kants Argument, »kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht, selbst wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt«.56 Die Neigungen scheiden für Kant also deshalb als Grundlage für den moralischen Wert des Handelns aus, weil die mo­ ralischen Forderungen auch unabhängig von solchen Neigungen ge­ stellt werden können müssen.57 Dies besagt nicht, daß Kant das mo­ ralische Handeln vollkommen von Gefühlen lösen wollte. Das wäre in der Tat ein motivationstheoretisches Problem. Aber es deutet schon an, daß Kant, wenn er das moralische Handeln an ein Gefühl bindet, dies nur ein solches Gefühl sein kann, von dem sich zeigen läßt, daß es jedermann notwendig haben muß. Damit ergibt sich, daß der formale Kern des alltäglichen mora­ lischen Bewußtseins aus drei Elementen besteht: 1. Die moralische Schätzung bezieht sich auf den Willen des Sub­ jekts. Auf den Handlungserfolg kommt es dabei nicht an. 2. Eine moralisch richtige Handlung hat keinen moralischen Wert, wenn sie nur als Mittel zur Erreichung außermoralischer Zwecke

55 GMS, S. 389. 56 GMS, S. 399. 57 Es ist erstaunlich, daß Tugendhat dieses Argument der Einforderbarkeit, bei Kant selbst übersehen hat, und meint es unter dem Begriff der Verbindlichkeit durch einen Kant wohlgesonnenen Dritten ins Spiel bringen zu müssen (Tugendhat, 1993, 115). ^

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durchgeführt wird. Das Moralische muß als ein eigenständiger Endzweck angestreht werden. 3. Die moralischen Handlungen können von jedermann eingefordert werden. Die Motivation zu solchen Handlungen kann deshalh nicht auf individuellen Neigungen, nicht auf Gefühlen hasieren, die man hahen oder auch nicht hahen kann. Die Chiffre für solches neigungsunahhängige Handeln heißt Handeln aus Pflicht. Üher den Gehalt des Moralischen ist damit allerdings noch nichts gesagt. Diesem Thema wendet sich Kant mit einer These zu, die er als zweiten Satz hezeichnet: »eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Ahsicht welche, dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie heschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ah, sondern hloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens ge­ schehen ist.«58

Der Satz scheint in krassem Widerspruch zu der hisherigen Interpre­ tation zu stehen, wonach der moralische Wert des Handelns gerade von der Ahsicht ahhängt. Dieser Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man realisiert, daß Kant an dieser Stelle mit Ahsicht den kon­ kreten Zweck einer Handlung meint - etwa, jemandem etwas zu ge­ hen oder zu nehmen. Und aus so heschriehenen Ahsichten läßt sich, wie die hisherigen Üherlegungen hereits gezeigt hahen, der mora­ lische Wert der Handlung nicht erkennen. Man müßte dazu wissen, warum jemand jemandem etwas gehen oder nehmen will.59 Und das heißt ehen, sich am Prinzip seines Wollens zu orientieren. Nach dem Prinzip des Willens oder nach der Maxime einer Person zu fragen, muß dann heißen, üher den je konkreten Zweck hinauszufragen nach dem Ursprung dieses Wollens, also nach dem letzten Zweck, um dessentwillen die konkrete Handlung durchgeführt wird. Soweit ist mit diesem zweiten Satz nichts Neues gesagt. Doch daraus, daß der moralische Wert eines Willens nicht aus der Ausrich­ tung auf solche konkreten Zwecke erkannt werden kann, zieht Kant eine verhlüffende Konsequenz: Der moralische Wert des Willens könne nur noch »im Prinzip des Willens, unangesehen der Zwecke, die durch solche Handlung hewirkt werden können«, hestehen, dem

58 GMS, S. 399 f. 59 So auch Köhl, 1990,13. 146

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Willen sei nunmehr »alles materielle Prinzip entzogen worden« und er müsse deshalb »durch das formelle Prinzip des Wollens überhaupt bestimmt werden«.60 Erst einmal ist unklar, was dieses formelle Prinzip des Wollens, von Kant dann auch >Gesetz< genannt, sein soll. Kant erläutert dies erst zwei Seiten später. Nachdem klar geworden ist, daß moralisches Handeln nicht auf Neigungen basieren darf, stellt sich Kant die Frage, was für die Bestimmung des Willens noch übrig bleibt, wenn man von allen Neigungen absieht. Seine These ist, daß nun nur noch »die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt... dem Wil­ len zum Prinzip dienen« kann:61 »ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden«.62

Das ist eine zunächst überraschende Folgerung. Denn daraus, daß man von der Verfolgung bestimmter materialer Zwecke nicht auf den moralischen Wert des Wollens schließen kann, folgt nicht, daß man sich für die Feststellung des moralischen Werts eines Wollens nun gar nicht mehr an materialen Zwecken orientieren darf. Natürlich bleibt es stets wichtig, daß jemand einen solchen Zweck dann selbstzwecklich verfolgt. Aber warum soll es nicht materiale Zwecke geben, an deren selbstzwecklicher Verfolgung durch jeman­ den man den moralischen Wert seines Handelns erkennen kann? Diese Möglichkeit ist sogar sehr naheliegend. Denn wie soll ein Wille anders gut werden können als dadurch, daß er sich auf Ziele richtet, die zuvor ihrerseits als moralisch gut erkennbar wurden? So könnte etwa ein Utilitarist behaupten, der moralisch richtige Zustand der Welt sei der, in der das Leiden so weit wie möglich vermindert sei, und wenn jemandes Wollen selbstzwecklich auf die Herbeiführung dieses Zustands bezogen sei, dann sei das ein sicheres Indiz für den moralischen Wert dieses Wollens.63 60 GMS, S. 400. 61 GMS, S. 402. 62 GMS, S. 402. 63 Tugendhat hat zu recht darauf hingewiesen, daß diese Möglichkeit durch Kants ur­ sprüngliche Annahme, daß nur der gute Wille unbedingt gut sei, ausgeschlossen wird. Denn wenn es solche moralisch guten Ziele gäbe, dann wäre eben auch etwas anderes als der gute Wille unbedingt gut (Tugendhat, 1993, S. 124). Aber ich bezweifle, daß man Kant einen Gefallen tut, wenn man ihn auf diese Weise verteidigt. Denn man kann nicht einfach von Kants Anfangsthese ausgehen, sondern muß zuerst nach den Gründen fra­ gen, aus denen heraus Kant den guten Willen als Gegenstand der moralischen Schät­ ^

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Doch gegen diese Möglichkeit könnte sich Kant verteidigen, in­ dem er die Anhänger einer materialen Ethik fragt, woher sie wissen, daß diejenigen Handlungen oder Weltzustände, die von ihnen als moralisch richtig hingestellt werden, wirklich die moralisch richtigen sind. Offenkundig setzen solche Behauptungen ein besonderes Er­ kenntnisvermögen voraus. Ein Beispiel für solche Erkenntnis ist die Theorie Thomas Nagels, nach der wir erkennen können, daß Schmerz eine schlechte Sache ist und daß uns dies einen Grund gibt, etwas gegen Schmerzen zu tun, wo immer diese auch Vorkommen mögen.64 Die Existenz eines solchen Erkenntnisvermögens ist aber sehr zweifelhaft, und in Kants System der Erkenntnisvermögen hätte es keinen Platz. Kant könnte sich deshalb so verteidigen, daß seine Theorie, die den moralischen Wert des Wollens allein und direkt von der Form dieses Wollens, und genauer von seiner Eignung zu einer allgemeinen Gesetzgebung, abhängig machen will, eine weniger vor­ aussetzungsreiche Theorie darstellt. Denn zur Begründung seines Prinzips benötigt Kant nur zwei Theoreme: - Er kann erstens auf jenes Element des moralischen Alltagsverstan­ des zurückgreifen, das er bereits herausgearbeitet hat: Es gehört zum Wesen einer moralischen Forderung, daß diese allgemeine Geltung beansprucht. - Und zweitens kann er auf das rein logische Erfordernis hinweisen, daß ein Prinzip, um allgemeine Geltung beanspruchen und damit ein Gesetz sein zu können, wenigstens ohne Widerspruch möglich sein muß. Hierauf hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft auch explizit hingewiesen. Er demonstriert dort, daß die Erhebung der Maxime Jedermann darf ein Depositum, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann< zum Gesetz zur Aufhebung der ge­ sellschaftlichen Einrichtung des Depositums, sofern dieses auf Treu und Glauben basiert, führen wird. Also gilt als Grundbedin­ gung für ein praktisches Gesetz: »Ein praktisches Gesetz ... muß sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren; dies ist ein iden-

zung herausgestellt hat. Kants Argument war hier nur, daß es der moralischen Güte eines Wollens oder einer Person nicht abträglich ist, wenn sie - trotz aller Bemühung den von ihr intendierten Zustand nicht herbeiführen kann. Das schließt aber nicht aus, daß auch noch anderes, etwa das Intendierte, ein Gegenstand moralischer Schätzung werden kann. Deshalb wäre Kant gut beraten, seine Ausgangsthese vorsichtiger zu for­ mulieren . 64 Nagel, 1986, 158-61. 148

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3. I. Kant

tischer Satz und also für sich klar«.65 Untauglich sind alle Maxi­ men, die sich als Gesetz »selbst aufreihen« würden.66 Schon auf dem Boden einer einer so schwachen Theorie ergibt sich diese Schlußfolgerung: (1) In der Moral geht es um Regeln, die allgemeine Gültigkeit bean­ spruchen. Es geht um Gesetze. (2) Als Gesetz ist etwas nur tauglich, wenn seine allgemeine Befol­ gung dieses nicht selbst aufreibt. (3) Also handelt nur der moralisch, dessen Maximen jederzeit zu­ gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich sind. Ganz dem entsprechend gibt Kant dem kategorischen Imperativ et­ was später in der Grunglegung auch diese Form: Handle nur so, »daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne«.67

Man kann es als ein Indiz dafür ansehen, daß Kant selbst diese For­ mel als die am besten begründete angesehen hat, daß er diese in der mehr formalen Ableitung in der Kritik der praktischen Vernunft als erste präsentiert. Dort heißt das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann«.68

Bereits mit diesen elementaren Schritten werden alle die Hand­ lungsweisen als unmoralisch erkennbar, die nur möglich sind, wenn die gegenteilige Handlungsweise als etablierte Praxis vorausgesetzt wird: Man kann lügenhafte Versprechen nur dann mit einiger Ausicht auf Erfolg abgeben, wenn einem Versprechen normalerweise Glauben geschenkt wird. Man kann nur dann stehlen in der Ab­ sicht, etwas von seiner Beute zu haben, wenn man erwarten kann, daß die anderen das Eigentum respektieren. Was damit als unmora­ lisch ausgeschlossen werden kann, ist das Schmarotzen an einer Praxis. Um so mehr fällt nun auf, daß Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung mit einer anderen Gesetzesformel arbeitet, eben mit der, die uns auffordert zu bedenken, ob man auch »wollen könne«, 65 66 67 68

KpV, A 49. KpV, A 50. GMS, S. 434. KpV, A 54. ^

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daß die eigene Maxime ein allgemeines Gesetz wird.69 Im weiteren Verlauf der Grundlegung wird deutlich werden, daß dieser Zusatz alles andere ist als eine unbedeutende sprachliche Modifikation. Die­ ser Zusatz wird es Kant erlauben, das Potential seiner Ethik erheblich zu erweitern. Doch davon ist am Ende des ersten Abschnitts noch nichts zu spüren. Die Bedeutung, die Kant dem Nicht-wollen­ Können im ersten Abschnitt gibt, stellt keine Erweiterung des Krite­ riums der zu vermeidenden Selbstaufhebung dar. Das wird an dem von Kant zur Illustration seines Prinzips herangezogenen Beispiel klar. Er diskutiert den Fall des lügenhaften Versprechens, das nur mit der Absicht abgegeben wird, sich aus einer Verlegenheit zu ret­ ten. Wenn man sich hier frage, ob man damit zufrieden sein könne, daß diese Maxime ein allgemeines Gesetz wird, dann werde man merken, daß man »ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Ver­ sprechen geben«, eben weil solchen Beteuerungen dann niemand mehr Glauben schenken würde.70 Ohne diesen Glauben bricht die Institution des Versprechens aber zusammen. Das Beispiel macht klar, was die Bedeutung des Nicht-wollen-Könnens ist: Man kann eine Maxime demnach genau dann nicht als Gesetz wollen, wenn ihre Gültigkeit als Gesetz die Erreichung des Zweckes, den man mit ihr als Maxime verfolgt, unmöglich macht. Die Maxime würde sich, so Kants prägnante Kurzformel, zum Gesetz gemacht, selbst zer­ stören.71 In diesen Grenzen ist Kants Fazit zum Ende des ersten Ab­ schnitts, er sei nun »in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt«, durchaus ak­ zeptabel.72 69 GMS, S. 402. 70 GMS, S. 403. 71 GMS, S. 403. 72 Umso rätselhafter ist allerdings, wie dieses Prinzip des Wollens eine reale Motivati­ onskraft haben soll. Der Verdacht, daß nach der Ausschaltung aller Neigungen gar nichts Motivierendes übrigbleibt, liegt mehr als nahe. Diesem Verdacht tritt Kant mit einer dritten These entgegen, die er als Folgerung aus dem Bisherigen begreift: »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (GMS, S. 400). Es ist merkwürdig, daß Kant diesen Satz als eine Folgerung begreift, denn sein Gehalt besteht darin, den Pflichtbegriff, der in dem bisherigen Ausführungen bereits vorkam, näher zu erläutern. Zudem kommen in der Erläuterung zwei bislang unbekannte Be­ griffe vor - Gesetz und Achtung -, die ihrerseits der Erläuterung bedürftig sind. Dies ist relativ einfach mit dem Begriff des Gesetzes. Dieser steht einfach für jenes formelle Prinzip der Wollens, das Kant im vorigen Absatz eingeführt hatte. Schwieriger ist es 150

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1V.3.2. Glückseligkeit und Rollentausch Nachdem Kant schon im ersten Abschnitt der Grundlegung das Prin­ zip der Moral meint gefunden zu haben, könnte man vermuten, daß hiermit die Moralphilosophie ihr Ziel erreicht hat. Es stellt sich die mit der Achtung. Diese begreift Kant als ein Gefühl, aber er unterscheidet sie von den gewöhnlichen Gefühlen dann so, daß sie nicht ein von außen empfangenes, sondern ein »durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl« sei (GMS, S. 401 Fußnote). Alles moralische Interesse bestehe lediglich in dieser Achtung für das Gesetz, also für das Prinzip des moralisch Richtigen. Mit der Einführung dieses Gefühls ist den Anhängern einer Hume'schen Motivationstheorie - no action without passion - erst einmal der Wind aus den Segeln genommen: Auch Kant erkennt die Notwendigkeit eines Gefühls für die Handlungsmotivation an, aber er besteht darauf, daß das moralische Gefühl einen genuin eigenen Ursprung in der Vernunft hat und sich auch auf eine Hervorbrin­ gung der Vernunft bezieht. Die Erzeugung dieses Gefühls durch die Vernunft würde zugleich auch sicherstellen, daß es nicht wie andere Gefühle, etwa wie Mitleid, dasein oder auch fehlen kann, sondern als vernunfterzeugt muß es sich notwendig bei jedem vernunftbegabten Lebewesen finden. Dadurch wird garantiert, daß jedes solche Wesen wenigstens empfänglich für die moralischen Forderungen ist. Kants Konstruktion des moralischen Gefühls wäre dann mindestens funktional fruchtbar, weil sie plausibel ma­ chen kann, wie wir von jedermann verlangen können, er solle bestimmte Dinge tun oder auch nicht tun, und daß wir von solchen Forderungen auch dann nicht ablassen, wenn der Aufgeforderte uns versichert, er verspüre aber keine Neigung dazu. Der Ursprung des moralischen Gefühls der Achtung in der Vernunft könnte den spezi­ fischen Charakter einer moralischen Abweichung immerhin besser erklären als die >normalec Gefühlstheorie. In deren Rahmen wäre eine Abweichung vom moralisch Richti­ gen nur Resultat eines Konflikts zwischen gleichartigen Gefühlen, etwa zwischen Mitleid und der Furcht vor dem Tod. In solchen Konflikten kann man sich aber schließ­ lich auf die Seite des stärkeren Gefühls stellen. Wenn man sich so auf die Seite der Furcht gestellt hat, dann hat danach der Satz >Du hättest aber helfen sollenc keinen Sinn mehr. Ebensowenig wie im umgekehrten Fall der Satz >Du hättest aber der Furcht Rech­ nung tragen sollenc. Für das Moralische scheint es dagegen charakteristisch, daß selbst nach einer Entscheidung dagegen, die moralische Sollensforderung noch einen Sinn hat. Man könnte nun behaupten, daß der Grund dieser eigentümlichen Resistenz gerade darin liegt, daß das moralische Sollen seinen Ursprung in der Vernunft hat und uns deshalb so lange nicht in Ruhe läßt, wie wir nur überhaupt vernunftbegabte Lebewesen sind. Das Mitleid mit anderen mögen wir uns abgewöhnen können, nicht aber das Be­ troffenwerden durch jenes »einzige Faktum der reinen Vernunft«, als das Kant den moralischen Imperativ schließlich begreift (KpV, A56). Für die Kritik bleiben hier zwei Ansatzpunkte: Man kann diese Erzeugung eines Gefühls durch die Vernunft erstens mysteriös finden und sich zweitens fragen, warum sich die­ ses Gefühl unbedingt auf das moralische Gesetz selbst beziehen soll und nicht direkt auf die anderen Menschen. Mit der zweiten Frage würde man als Alternative zur formalen Ethik eine unmittelbar materiale Ethik favorisieren. Auf das Hauptproblem einer sol­ chen materialen Ethik mit konkreten Zweckvorgaben habe ich oben bereits hingewie­ sen. Da es mir hier nur um Kants Überlegungen zum Prinzip der Moral geht, werde ich ^

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Frage, warum es den zweiten Abschnitt der Grundlegungsschrift überhaupt gibt. Kant selbst gibt hierfür diesen Grund an: Weil der Mensch so stark von Neigungen und Bedürfnissen beeinflußt sei, habe er einen »Hang, wider jene strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit ... und Strenge, in Zweifel zu zie­ hen«.73 Deshalb werde »die gemeine Menschenvernunft nicht durch irgendein Bedürfnis der Speku­ lation ..., sondern selbst aus praktischen Gründen angetrieben, ... einen Schritt ins Feld einer praktischen Philosophie zu tun, um daselbst, wegen der Quelle ihres Prinzips und richtigen Bestimmung desselben ... deutliche Anweisung zu bekommen«.74

Der praktischen Philosophie werden darin zwei Aufgaben zugewie­ sen: Die Auffindung einer Quelle und die genauere Bestimmung des Prinzips. Von diesen Aufgaben werde ich hier, wo es um die Ablei­ tung von Prinzipien geht, nur die Überlegungen zum zweiten Thema weiter verfolgen. Denn mit der Suche nach der Quelle will Kant das Problem der Motivation zum moralischen Handeln lösen.75 Diese die Frage, ob sich das motivational sicher notwendige moralische Gefühl unmittelbar aus der Vernunft ergeben kann, nicht weiter verfolgen. 73 GMS, S. 405. 74 GMS, S. 405. 75 Das wird auf den ersten Seiten des zweiten Abschnitts deutlich. Zwar sei der Begriff der Pflicht bisher aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen worden, doch das impliziere keinesfalls, daß es sich dabei um einen Erfahrungsbegriff handle. Im Gegenteil, die Erfahrung könne uns gar keinen Fall geben, in dem wir sicher sagen können, jemand habe aus Pflicht gehandelt. Hier könne man immer vermuten, daß ein egoistisches Motiv mitgespielt habe. Deshalb sei es, wenn die Idee der Plicht nicht gänzlich der Kritik verfallen solle, nötig zu zeigen, daß die Idee der »Pflicht über­ haupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestim­ menden Vernunft liegt« (GMS, S. 408). Die Überlegung mutet zunächst überzogen radikal an. Selbst wenn man einräumt, daß man in der Erfahrung in der Tat kein Beispiel für ein Handeln aus Pflicht sicher aus­ machen kann, daraus folgt nicht gleich, daß sich die Idee der Pflicht auflöst, wenn man sie nicht in einer den Willen a priori bestimmenden Vernunft aufheben kann. Ein weni­ ger anspruchvoller Ausweg scheint der zu sein, daß man zwar einräumt, in der Erfah­ rung kein solches Beispiel sicher identifizieren zu könnnen, daß der Pflichtbegriff aber gleichwohl ein empirischer Begriff insofern sei, als er eine zentrale Idee einer vorfindlichen sozialen Praxis ist. Diese Antwort wäre im Rahmen des ersten Abschnitts, in dem es um die Analyse des alltäglichen moralischen Denkens ging, auch ausreichend gewe­ sen. Doch diese Erklärung wäre nicht letztlich befriedigend. Denn im Zentrum der empirisch vorfindlichen Pflichtidee steht eben, daß eine Handlung allererst dann moralischen Wert hat, wenn sie nicht aus offenkundiger oder auch verborgener Eigenliebe heraus 152

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Überlegungen werden über den Begriff der Autonomie schließlich zur Konzeption einer spezifischen Freiheit führen. Diese Lösung mag man plausibel finden oder auch nicht, sie trägt in jedem Fall nichts zur näheren inhaltlichen Bestimmung des Moralprinzips bei, sondern setzt diese bereits voraus. Die inhaltliche Ausgestaltung des Moralprinzips vollzieht sich auf eine schwer durchschaubare Weise. Zunächst versucht Kant, sein Prinzip von allen empirischen Wurzeln zu lösen. Es soll weder aus der Bestimmung der menschlichen Natur, einem moralischen Gefühl noch aus Vorstellungen von Vollkommenheit oder Glückseligkeit ab­ geleitet werden. All dies sei ungeeignet, weil es nicht in der Lage sei, einen Begriff der unnachlaßlichen Pflicht hervorzubringen.76 Stattdessen will Kant nun das »praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an bis dahin, wo aus ihm der Be­ griff der Pflicht entspringt, verfolgen«.77 Dieser Gedankengang führt über die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Im­ perativen zu einer leicht veränderten Formulierung des Moralprin­ zips: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.78

Doch weitaus auffälliger als diese kleine Veränderung des Wortlautes sind die Anwendungen, die Kant jetzt von diesem Prinzip macht. Er unterscheidet nun vollkommene Pflichten, die keine Ausnahme ge­ statten, von unvollkommenen oder verdienstlichen, bei denen dies erlaubt sein kann. Der hier wichtige Punkt ist dabei jedoch nicht diese Unterscheidung selbst, sondern die Idee, daß der kategorische Impe­ rativ als ein zweistufiges Prüfungsverfahren für Maximen angewen­ det werden kann. Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob eine Maxime überhaupt als Naturgesetz gedacht werden kann. Sei dies nicht der Fall, korrespondiere dem eine vollkommene oder unnachlaßliche erfolgt, sondern eben erst dann, wenn sie um ihrer selbst willen getan wird. Es ist diese Selbstzwecklichkeit des moralischen Handelns, die das alltägliche Moralbewußtsein zwar enthält, die aber nur schwer erklärbar ist. Wie soll es denn möglich sein, daß jemand seine Selbstliebe hintanstellt? Gibt es überhaupt eine davon unabhängige moti­ vationsmächtige Kraft in der menschlichen Seele? Eben dieses in dem alltäglichen Mo­ ralbewußtsein notwendig enthaltene Problem will Kant mit der Bestimmung der Quelle des Prinzips lösen. 76 GMS, S. 408, 410. 77 GMS, S. 412. 78 GMS, S. 421. ^

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Pflicht, nicht nach dieser Maxime zu handeln. Doch auch wenn eine Maxime ohne Selhstaufhehung als Naturgesetz möglich sei, müsse noch geprüft werden, oh man sie als ein solches wollen könne. Sei dies nicht der Fall, entspreche dem eine verdienstliche Pflicht, nicht so zu handeln.79 Kants wichtigstes Beispiel hierfür ist die Pflicht zur Hilfe für Menschen in Not. Die moralische Überlegung sieht hier so aus: Zuerst muß man einräumen, daß das Menschengeschlecht auch ohne diese Pflicht zur Hilfe hestehen kann. Das heißt, die Erlauhnis, die Leiden anderer zu ignorieren, heht sich nicht selhst dadurch auf, daß danach die Träger dieser Erlauhnis aussterhen werden. Die Ver­ weigerung der Hilfe ist keine Verhaltensweise, die nur erfolgreich sein kann, solange andere Hilfe leisten. Insofern ist diese Gleich­ gültigkeit als Naturgesetz möglich. Gleichwohl könne man aher nicht wollen, daß sie ein allgemeines Gesetz wird, weil ein Wille, der dieses heschlösse, »sich selhst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauhen würde«.80 Die Gleichgültigkeit gegenüher fremdem Leiden ist also deshalh nicht als allgemeines Gesetz möglich, weil man, wie Kant annimmt, als Leidender notwendig wollen wird, daß einem geholfen wird.81 Indem Kant so argumentiert, macht er zu­ gleich deutlich, wie er das Wollen-Können jetzt versteht. Das Test­ verfahren dafür, oh ich etwas wollen kann, hesteht darin, sich zu­ gleich zu üherlegen, wie man üher eine Handlungsweise als Ausühender und als Erleidender denken würde. Mit der Implemen­ tierung dieses Rollentausches in die moralische Üherlegung wird de­ ren Reichweite erhehlich erweitert. Ohne dies würde man nur üher ein sehr hegrenztes Argumentationspotential verfügen. Man könnte nur dort moralischen Einspruch erhehen, wo jemand sich einer Ver­ haltensweise hedient, die nur deshalh erfolgreich sein kann, weil er damit an einer Praxis schmarotzt, die dieser entgegengesetzt ist - wie 79 GMS, S. 421, 424. 80 GMS, S. 423. 81 Diese Annahme ist nicht so zwingend wahr, wie Kant dies anscheinend annimmt. Notwendig ist nur, daß der Leidende den Wunsch verspüren wird und es hegrüßen würde, wenn sein Leiden aufhört. Daraus folgt aher nicht, daß er alle Weisen, auf die sein Leiden heendet werden könnte, gutheißt. So könnte der Stolz einem Menschen verhieten, fremde Hilfe anzunehmen. Kant könnte seine These, daß Leidende notwen­ dig Hilfe wollen werden, evtl. mit dem Argument verteidigen, daß die entgegenstehen­ den Impulse ihrerseits Ahkömmlinge einer falsch verstandenen Moralität sind und deshalh in einer rationalen Moral nicht einfach als gegehen vorausgesetzt werden dürfen. Aher auch das ist nicht notwendig so. Die stolze Lehensweise kann auch als außermora­ lisches Ideal verstanden werden. 154

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etwa im Fall des lügenhaften Versprechens. Mit der erweiterten Aus­ legung des Wollen-Könnens kann man jemanden auch dann kritisie­ ren, wenn man ihm zeigen kann, daß er nicht so behandelt werden möchte, wie er andere behandelt. Damit stellt sich die Frage, wie Kant diesen Rollentausch und die notwendig dazu gehörende Bezugnahme auf Neigungen und Abnei­ gungen rechtfertigen kann. Kant stehen hier zwei Wege offen: Er könnte erstens einfach darauf verweisen, daß in der alltäglichen mo­ ralischen Praxis so überlegt und argumentiert wird. Für sein Vor­ gehen im ersten Abschnitt wäre das ein erlaubter und auch völlig ausreichender Hinweis. Im Rahmen der tiefer angelegten Deduktion des zweiten Abschnitts ist es mit einem solchen Hinweis auf die Em­ pirie natürlich nicht getan. Hier müßte Kant eine Ableitung aus den Bestimmungsregeln des praktischen Vernunftvermögens bieten. Ich werde deshalb untersuchen, ob die Überlegungen, die zu der ge­ ringfügig modifizierten Fassung des Moralprinzips geführt haben, zugleich einen Grund für dessen neue Auslegung liefern. Kants Ar­ gumentation bis dahin besteht aus sieben Schritten: i. Ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. Dieses Vermögen heißt Wille oder praktische Vernunft.82 ii. Das, was von der Vernunft als gut erkannt worden ist, bestimmt den Willen eines auch von Neigungen bestimmten Wesens aber nicht notwendig. iii. In einem solchen Wesen erscheint das von der Vernunft als gut Erkannte als Imperativ.83 iv. Ein Imperativ ist hypothetisch, wenn er eine Handlung als not­ wendiges Mittel zu etwas anderem, als gut für etwas darstellt. v. Ein Imperativ ist kategorisch, wenn er eine Handlung ohne Be­ zugnahme auf einen anderen Zweck als für sich selbst notwendig, als gut an sich darstellt.84 vi. Es gibt nur einen kategorischen Imperativ. vii. Aus diesem Imperativ können alle Imperativen der Pflicht abge­ leitet werden.85 Schon der erste Schritt bedarf der Erläuterung: Was bedeutet es, nach 82 83 84 85

GMS, GMS, GMS, GMS,

S. S. S. S.

412. 413. 414. 421. ^

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der Vorstellung von Gesetzen zu handeln? Nach den Beispielen, die Kant für (hypothetische) Imperative der Klugheit gibt, handelt es sich bei den Gesetzen um Naturgesetze oder um solche der Mathe­ matik. Man könnte hier auch soziale Regeln etwa über den Abschluß eines Vertrages oder die Einreichung einer Klage hinzufügen. In all diesen Gebieten gibt es Gesetze der Form >Wenn a, dann bDa ich b will, muß ich a tunSpiele Klavier!< ist für den, der das ohnehin gern tut, ein überflüssiger Befehl. Er will das ein­ fach. Und umgekehrt ist der Satz auch für den unsinnig, der nicht gern Klavier spielt. Er wird dann fragen, warum er das tun soll, und jede mögliche Antwort wird auf irgendwelche Zwecke, die der Fra­ 86 Vgl Tugendhat, 1993, S. 132f. 87 GMS, S. 412. 156

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gende bereits hat, rekurrieren müssen. Und damit verliert der Satz seinen kategorischen Charakter. Auf der Basis der bis hierin von Kant analysierten Vernunftleistungen erweist sich die Idee eines kategori­ schen Imperativs als sinnwidrig. Die einzigen Beispiele, die Kant mit einiger Berechtigung für den so definierten kategorischen Imperativ anführen kann, sind in der Tat die Gebote der Sittlichkeit: Der Impe­ rativ >Du sollst nicht lügenhaft versprechem meint nicht, daß man solches besser nicht tut, wenn man auch weiterhin als vertrau­ enswürdig gelten will.88 Solches Tun wird vielmehr als in sich schlecht verboten. Doch nach wie vor ist unklar, wie solche Verbote möglich und zu verstehen sind. Doch dieses Problem klammert Kant vorerst aus. Zunächst will er die Formel des kategorischen Imperativs bestimmen. Er bean­ sprucht den Inhalt des Kategorischen aus der bloßen Idee eines kate­ gorischen Imperativs ableiten zu können. Die Formel des kategori­ schen Imperativs gewinnt Kant schließlich mit folgendem Argument: »Denke ich mir ... einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die All­ gemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Hand­ lung gemäß sein soll«.89

Tugendhat hat diese Ableitung mit dem Argument kritisiert, daß, selbst wenn man die Idee eines unbedingten Imperativs überhaupt für sinnvoll hält, daraus nicht folgt, daß für dessen Inhalt dann nur die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrigbleibt. Es könnte ebensogut mehrere solcher Imperative mit konkreten Inhalten ge­ ben. Insbesondere für eine Tugendethik sei dies charakteristisch.90 Doch gegen diese Möglichkeit hat Kant argumentiert. Denn in den klassischen Tugendethiken zielen die Tugenden und die diesen korre­ spondierenden Handlungsanweisungen oder Imperative ja auf die Herstellung und Sicherung der Glückseligkeit.91 Aber solche Impera­ tive würde Kant als hypothetische verstehen, weil in ihnen eine Handlung nicht schlechthin, sondern eben nur als Mittel zur Errei­

88 89 90 91

GMS, S. 419. GMS, S. 420f. Tugendhat, 1993, S. 136. Vgl. etwa Aristoteles, NE, 1102a ff. ^

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chung der Glückseligkeit geboten wird.92 Zudem sei »der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff«, daß man daraus keine allgemeingültigen Gesetze ableiten könne.93 Wir könnten nicht si­ cher wissen, was uns wahrhaft glücklich machen wird, und deshalb seien die Imperative der Klugheit (etwa: Wenn du glückselig werden willst, übe dich in Besonnenheit) streng genommen nicht einmal Im­ perative, sondern nur Anratungen.94 Man kann darüber streiten, ob man über den Begriff und die Wege zur Glückseligkeit nicht mehr sagen kann, als Kant für möglich hielt. Aber wenn man Kants eigent­ lich sehr moderne Skepsis in dieser Sache teilt, dann muß man zuge­ ben, daß aus dem Glückseligkeitsbegriff keine Imperative, geschwei­ ge denn kategorische abgeleitet werden können. Und damit gewinnt Kants Überlegung an Stringenz. Wenn alles, was mit Glückseligkeit zu tun hat, für die Etablierung eines katego­ rischen Imperativs ausscheidet, dann ist damit alles ausgeschlossen, was uns normalerweise zum Handeln bewegt. Dann bleibt für das Kategorische nicht mehr übrig als die Idee eines unbedingten und allgemein gültigen Gesetzes. Wenn man weiterhin annimmt, daß al­ les Handeln als Handeln nach einer Maxime begriffen und beschrie­ ben werden kann, dann ergibt sich aus dem Wenigen, was Kant in Händen bleibt, immerhin diese Charakterisierung eines kategori­ schen Imperativs: Ein kategorischer Imprativ kann nur der sein, der eine Handlungsweise ge­ bietet, deren Maxime als allgemeines Gesetz wenigstens tauglich ist.

Das ist freilich selbst noch kein Imperativ, aber man kann daraus nun problemlos einen Imperativ bilden, der dieser Bedingung genügt. Dieser müßte lauten: Handle nur nach solchen Maximen, die ein allgemeines Gesetz sein können.

Diese Aufforderung ist offenkundig kategorisch. Und sie ist als all­ gemeines Gesetz tauglich. Wenn alle nur nach solchen Maximen handeln, die ihrerseits ein allgemeines Gesetz sein können, kann dies nicht zu einer Selbstaufhebung dieser Praxis führen. Wie schon erwähnt, gibt Kant an dieser Stelle dem kategori­ schen Imperativ zwar nicht diese Form, sondern wählt die Formel, 92 GMS, S. 416. 93 GMS, S. 418. 94 GMS, S. 418. 158

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die das Wollen-Können beinhaltet. Doch dadurch allein wird die Gültigkeit seiner Ableitung nicht gefährdet, denn in der schwachen Auslegung besagt dieses Wollen-Können nach der obigen Analyse ja erst einmal nicht mehr, als daß eine Maxime sich als Gesetz nicht selbst aufheben dürfe. So weit ist Kants Ableitung also korrekt. Zu untersuchen bleibt, ob die zu diesem Resultat führenden Überlegun­ gen zugleich die weitergehende Auslegung des Wollen-Könnens, also die Einschließung eines Rollentausches rechtfertigen können. Einer Antwort kommt man näher, wenn man sich zunächst fragt, was Kant für sein Vorhaben, den Begriff der Pflicht aus einer Analyse des praktischen Vernunftvermögens abzuleiten, mit alledem gewonnen hat. Er wollte ja das praktische Vernunftvermögen bis zu dem Punkt analysieren, wo daraus der Begriff der Pflicht »ent­ springt«.95 Was dann folgte war eine Untersuchung der Struktur von Imperativen, die in der Konstruktion der Idee eines kategori­ schen Imperativs endete. Es ist ebenso auffällig wie erstaunlich, daß in dieser Analyse der Begriff der Pflicht gar nicht vorkommt. Doch ohne den Schritt zum Pflicht-Begriff hat die Analyse ihr Ziel nicht erreicht und hängt gleichsam in der Luft. Man könnte sich dann fra­ gen, was sie überhaupt mit Moral zu tun haben soll. Diesen Zusam­ menhang stellt Kant erst nach der Ableitung der Formel des katego­ rischen Imperativs mit einer weiteren Versicherung her: »Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden können, so werden wir ... anzeigen können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff sagen wolle«.96

Doch dieser Wenn-Satz ist eine für Kant höchst verfängliche Formu­ lierung. Es reicht für ihn ja nicht aus zu sagen, der kategorische Im­ perativ sei deshalb das einzige Prinzip unserer Pflichten, weil sich alle schon irgendwie gegebenen Imperative der Pflicht daraus ableiten lassen. Denn dann bliebe die Wahrheit seiner Analyse wieder abhän­ gig von dem faktisch ausgebildeten Moralbewußtsein. Wenn der Be­ weisanspruch des zweiten Abschnitts weiter gehen soll, dann muß Kant vielmehr behaupten, daß etwas nur deshalb unsere Pflicht ist, weil es aus dem kategorischen Imperativ folgt. Mit einem solchen Anspruch ist natürlich ein großes Problem verbunden: Wie soll Kant mit jemandem umgehen, der behauptet es gebe eine Pflicht, die sich 95 GMS, S. 412. 96 GMS, S. 421. ^

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nicht aus diesem Prinzip ahleiten läßt - etwa die Pflicht, keinen Fisch zu essen. Ist diese Pflicht dann ein Indiz dafür, daß der kategorische Imperativ nicht das Prinzip aller Pflichten ist? Oder zeigt die Nichtahleitharkeit des Verhots, Fisch zu essen, daß dies gar keine Pflicht ist? Mit welchem Recht kann man eine dieser Möglichkeiten vorzie­ hen? Was könnte Kant zur Verteidigung seiner Position sagen? Ich denke, auch hier ist die erfolgversprechendste Verteidi­ gungsstrategie für Kant die zu zeigen, daß sein Prinzip auf den schwächstmöglichen Voraussetzungen hasiert. In der Interpretation des ersten Ahschnitts ist hereits deutlich geworden, daß sich die Gesetzes-Formel des kategorischen Imperativs mit sehr schwachen Voraussetzungen verteidigen läßt. Zusätzlich kann Kant nun darauf verweisen, daß sich aus dem Begriff der Glückseligkeit keine katego­ rischen Imperative ahleiten lassen. Damit sind die Möglichkeiten des Vertreters des Fisch-Eßverhots, dieses als ein für jeden gültiges Prin­ zip zu hegründen, schon sehr eingeschränkt. Es ist nicht unwahr­ scheinlich, daß Kant zeigen kann, daß die Befürworter des Fisch-Eßverhots weitere Voraussetzungen machen müssen, die nicht ehenso unahweishar und für jeden einleuchtend sind wie die von ihm ge­ machten. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die Befürworter des Verhots auf spezielle Ahneigungen oder umstrittene medizinische Theorien zurückgreifen würden. Doch auch wenn Kant die Möglichkeit einer konkreten und zu­ gleich allgemein akzeptierten Theorie der Glückseligkeit hezweifelt, der hloße Umstand, daß sich die Suhjekte der Moral notwendig auf ihre Glückseligkeit heziehen, giht ihm die Möglichkeit, den Rollen­ tausch als ein notwendiges Element in das moralische Denken zu implementieren. Aufhauend auf den Überlegungen zur Glückselig­ keit könnte Kant dies jetzt so rechtfertigen: (1) Im Sinn der Basisformel ist eine Maxime dann nicht als allgemei­ nes Gesetz tauglich, wenn sie als Gesetz die mit der Maxime verhundene Ahsicht verteiteln würde. (2) Alle vernünftigen Wesen hahen notwendig die »Ahsicht auf Glückseligkeit«.97 Die Glückseligkeit ist die letzte mit allen kon­ kreten Zielen verhundene Ahsicht. (3) Also ist eine Maxime dann nicht als Gesetz tauglich, wenn sie als ein solches die Ahsicht auf Glückseligkeit der danach Handelnden vereiteln würde. 97 GMS, S. 415. 160

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(4) Eine Maxime ist umso mehr als allgemeines Gesetz tauglich, je weniger sie als Gesetz aller Handelnden das Streben aller davon Betroffenen nach Glückseligkeit beeinträchtigt bzw. je mehr es dieses befördert. (5) Um herauszufinden, wie weit die Förderung oder Beeinträchti­ gung der eigenen Glückseligkeit geht, muß man überlegen wie es wäre, unter dem Gesetz zu leben, d. h. wie es wäre, wenn man dem Gesetz entsprechend sowohl handelt wie auch behandelt wird. (6) Dazu muß man sich vorstellen, mit seinen Neigungen in den entsprechenden Positionen zu sein. D. h. man muß einen schwa­ chen Rollentausch vornehmen und nach einer Regel suchen, die nach Abwägung der in den möglichen Positionen damit verbun­ denen Vor- und Nachteile am ehesten akzeptabel erscheint. (7) Um herauszufinden, wie sich ein Gesetz auf die Glückseligkeit aller auswirkt, muß man sich in die Position der anderen so hin­ einversetzen, daß man deren Neigungen übernimmt. D. h. man muß zu einem starken Rollentausch bereit sein und die Vor- und Nachteile der Regel aus der Perspektive der anderen abwägen. Die Bezogenheit der Individuen auf ihre Glückseligkeit rechtfertigt also die Aufnahme des Wollen-Könnens in das Prinzip der Moral auch in dem Sinn, daß moralisches Nachdenken eine Bereitschaft zum schwachen und starken Rollentausch erfordert. Auf dieser Not­ wendigkeit eines starken Rollentausches basiert Kants Kritik an der negativen Form der Goldenen Regel. Die Regel »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu« bleibe eben darin hinter dem kategorischen Imperativ zurück, daß erstere nicht ausrei­ che, die Liebespflichten gegen andere zu begründen. Wer auf die For­ derung verzichtet, daß andere ihm helfen sollen, der könnte sich mit der Goldenen Regel auch davon dispensieren, anderen zu helfen. Und eben das hält Kant für unzulässig. Er insistiert auf der Zustimmung des anderen, also darauf, die Interessen zu berücksichtigen, die der andere wirklich hat.98 98 GMS, S. 430, Fußnote. Die Einbeziehung der notwendigen Bezogenheit der Individu­ en auf ihre Glückseligkeit in die Gesetzesformel impliziert natürlich nicht, daß mora­ lisches Handeln jederzeit die Glückseligkeit des Handelnden mehren können muß. Die­ se Erwartung ist weder sinnvoll, noch entspricht sie Kants Vorstellungen. Das Kriterium verlangt nur, daß ein Gesetz, wenn es wirklich ein Gesetz aller Handelnden wäre, d.h. wenn es von allen befolgt würde, der Glückseligkeit der Betroffenen nicht abträglich sein darf. Eine Maxime wird deshalb nicht dadurch als Gesetz untauglich, daß jemand, ^

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IV.3.3. Gesetzestauglichkeit und Selbstzwecklichkeit Bis hierhin konnte also gezeigt werden, daß ein starker Rollentausch und die dem entsprechende stärkere Auslegung des Wollen-Könnens notwendige Konsequenzen des Kantischen Ansatzes sind. Doch mit der Implementierung dieser Unparteilichkeit in die Theorie steht auch Kant vor den schon aus der Hare-Diskussion bekannten Proble­ men: 1. Wenn jedes Individuum unter Durchführung eines schwachen Rollentausches nach der für seine Glückseligkeit optimalen Regel sucht, werden die Individuen infolge ihrer abweichenden Präferen­ zen und Positionen verschiedene Regeln befürworten. 2. Wenn alle im starken Rollentausch die abweichenden Präferenzen aller anderen berücksichtigen, dann ist nicht klar, was eine Lösung der moralischen Aufgabe darstellt. Ist eine Regel als Gesetz schon dann gerechtfertigt, wenn alle ihrer Glückseligkeit wenigstens ein wenig näher kommen, oder nur wenn alle gleich große Vorteile davon haben oder erst dann, wenn die Summe der Vorteile mög­ lichst groß ist? Kant hat sich mit diesen Problemen nicht explizit auseinander­ gesetzt, aber er hat gleichwohl ein Argument entwickelt, das helfen kann, sie zu überwinden. Dieses Argument ist allerdings in eine Überlegung eingebettet, die in Kants Selbstverständnis einem ganz anderen Zweck dienen soll. Ich werde deshalb versuchen müssen, das Argument aus dieser Zielsetzung herauszulösen. Zu Beginn dieser neu ansetzenden Überlegung faßt Kant erst einmal zusammen, was er glaubt, bisher geleistet zu haben: Es sei gezeigt worden, daß die Idee der Pflicht nur in einem kategorischen Imperativ ausgedrückt werden könne, und es sei der Inhalt des Kategorischen Imperativs bestimmt worden. Es sei aber noch nicht bewiesen worden, »daß der­ gleichen Imperativ wirklich stattfinde«.99 Die Frage ist nun, ob es denn ein notwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen sei, »ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von de­ nen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen die­ nen sollen«.100 Mit der Frage nach der Wirklichkeit des kategorischen der ihm folgt, durch das abweichende, unmoralische Handeln anderer in seiner Glückse­ ligkeit beeinträchtigt wird. 99 GMS, S. 425. 100 GMS, S. 426. 162

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Imperativs, beginnt Kant nach dem zu suchen, was uns motivieren könnte, nach diesem Imperativ auch zu handeln. Innerhalb von Kants Programmatik ist es besonders schwer diese Frage zu beantworten, denn Kant meint nicht nur, das Prinzip der Moral, sondern auch die Relevanz desselben für unseren Willen aus reiner Vernunft ableiten zu müssen. Alle Motivationsquellen, die auf eine Naturanlage der Menschheit oder auf bestimmte Gefühle zurückgehen, hält er für ungeeignet, weil sich daraus keine strenge Notwendigkeit ergeben könne.101 Aber worauf kann man sonst noch verweisen? Die Freilegung eines in seinen Augen tieferen Grundes beginnt Kant mit einer vor dem Hintergrund seiner bisherigen Überlegungen erstaunlichen Unterscheidung: Alle Zwecke des Handelns, die sich aus dem Be­ gehrungsvermögen ergeben, haben eben deshalb nur einen relativen Wert. Doch daneben, so deutet Kant nun an, könne es auch noch objektive Zwecke geben, solche die nicht auf Triebfedern beruhen, sondern auf Bewegungsgründen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten. Ein solcher Zweck sei dann ein absoluter Wert oder ein Zweck an sich, und nur in ihm könne der Grund eines kategorischen Imperativs liegen.102 Damit hängt nun alles an der Idee des Bewe­ gungsgrundes. Nur wenn man zeigen kann, daß es solche für alle vernünftigen Wesen geltenden Gründe gibt, ist die Rede von einem absoluten Wert, einem Zweck an sich sinnvoll. Doch erstaunlicherweise versucht Kant nun nicht, solche Grün­ de freizulegen, sondern stellt unvermittelt die These auf, daß der Mensch und jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst exi­ stiert und nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für einen anderen Willen.103 Die These wirkt sehr massiv, ist aber gleichwohl nur schwer zu verstehen und zu überprüfen, weil Kant ihre Bedeu­ tung nicht erklärt hat. Was heißt es, als Zweck an sich zu existieren? Der obigen These zufolge müßte dies auf Gründe verweisen. Aber was sollen diese Gründe sein und wofür sollen sie Gründe sein? Soll die These besagen, daß jeder einen Grund hat, sein eigenes Dasein als einen Wert zu betrachten? Oder soll sie besagen, daß jeder einen Grund hat, das Dasein aller vernünftigen Wesen als einen Wert zu betrachten? 101 GMS, S. 425 f. 102 GMS, S. 427/8. 103 GMS, S. 428. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

Erst der weitere Verlauf der Argumentation schafft hier mehr Klarheit. Dahei arbeitet Kant zunächst mit einer offenkundig schwä­ cheren Bedeutung von Zweck an sich: Jeder Mensch stelle sich sein Dasein als Zweck an sich vor, dies sei ein subjektives Prinzip mensch­ licher Handlungen.104 Doch wenn es sich hierbei nur um ein subjek­ tives Prinzip handeln soll, dann muß dies ein Verständnis von Zweck an sich sein, das verschieden ist von den oben eingeführten objekti­ ven Bewegungsgründen. Es ist deshalb naheliegend, das Existiertals-Zweck-an-sich in einem schwachen Sinn zuerst so zu verstehen, daß jeder sein eigenes Leben als einen Endzweck seines Wollens be­ greift.105 Dann bedarf es allerdings eines weiteren Schrittes, um die­ ses subjektive Prinzip, diesen subjektiven Zweck in einen objektiven zu transformieren. Und dieser Schritt wird von Kant auch explizit vollzogen: Jeder stelle sich sein Dasein als Zweck an sich vor. Da aber auch jeder andere sich selbst notwendig so sieht, sei dies zugleich ein objektives Prinzip.106 Weil aber objektive Zwecke definitionsgemäß Gründe für alle vernünftigen Wesen darstellen, ergibt sich nun ein praktischer Imperativ, in dessen Zentrum die Selbstzwecklichkeit eines jeden steht: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«107

Doch in dieser Ableitung steckt offenkundig ein Fehler: Allein dar­ aus, daß ich mich als Zweck an sich begreife und auch weiß, daß jeder andere es ebenso macht, ergibt sich für mich kein Grund, alle als Zwecke an sich zu behandeln.108 Warum soll ich sie nicht nur als Mittel für meine Zwecke gebrauchen? Einen Grund, dies nicht zu tun, hätte ich nur dann, wenn die von Kant ebenfalls aufgestellte stärkere These wahr wäre, daß bei vernünftigen Wesen »ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)«.109 Aber daß wir über eine Vernunft verfügen, die uns solche (moralischen) 104 105 106 107 108 109 164

GMS, S. 429. So auch Tugendhat, 1993, S. 143. GMS, S. 429. GMS, S. 429. So Williams, 1985, S. 61, 69 und Tugendhat, 1993, S. 142 f. GMS, S. 428.

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3. I. Kant

Fakten erkennen läßt ist innerhalb von Kants Erkenntnistheorie und wohl auch jenseits davon nicht plausibel zu machen. Tugendhat hält die Zuschreibung der Eigenschaft >existiert als Zweck an sich< inso­ fern sie besagen soll, daß da etwas »von absolutem Werte"110 exi­ stiert, denn auch für eine irreführende Ontologisierung.111 Soweit ist die Kritik sicher berechtigt. Sie ist aber nur dann an­ gebracht, wenn man Kants Überlegung so versteht, daß er mit dem Hinweis auf das Existieren als Zweck an sich, die Subjekte zu einem entsprechend rücksichtsvollen Handeln habe motivieren wollen. Das kann in der Tat nicht gelingen. Ich denke aber, daß Kants Überlegung gerade dann weiter führt, wenn man die Absicht aufgibt, damit etwas für die Ausbildung einer Handlungsmotivation leisten zu wollen. Man kann Kants These zur Selbstzwecklichkeit der Subjekte auch lesen als einen Hinweis auf etwas, das berücksichtigt werden muß, wenn man ein allgemeines Gesetz für das Handeln aufstellen will. Der Zusammenhang zwischen Gesetzestauglichkeit und Selbst­ zwecklichkeit läßt sich dann so rekonstruieren: (1) In der basalen Fassung des kategorischen Imperativs fordert die­ ser, nur nach Prinzipien zu handeln, die als allgemeines Gesetz tauglich sind. (2) Etwas ist aber nicht als allgemeines Gesetz tauglich, wenn es ein Handeln zuläßt oder vorschreibt, das die Individuen nicht in dem, was sie notwendig sind, berücksichtigt. (3) Die Individuen sind aber notwendig je auf ihr gutes Leben bezo­ gen, sie begreifen sich je als Zweck-an-sich. Solange ein Subjekt nur überhaupt handelt, muß es dabei von Zwecken, die seine sind, geleitet werden.112 (4) Für ein Subjekt kann also nur das Gesetz seines Handelns wer­ den, was mindestens diesem Subjekt erlaubt, als Zweck an sich zu existieren. (5) Da das Gesetz per definitionem aber eines für alle Subjekte sein soll, muß bei seiner universalen Anwendung gewährleistet sein, daß alle als Zweck an sich existieren können. (6) Gerade das verlangt aber die Zweck-Formel des kategorischen

110 GMS, S. 428. 111 Tugendhat, 1993, S. 145. 112 Das schließt nicht aus, daß jemand sich etwa als Werkzeug Gottes begreift. Aber bevor er dann entsprechend handeln kann, muß er Gottes Absichten zu den seinen gemacht haben. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

Imperativs. Deshalb ist die Zweck-Formel eine korrekte Explika­ tion der Gesetzesformel.113 Diese Argumentation ist so weit nicht von der verschieden, in deren Zentrum die Bezogenheit der Subjekte auf ihre Glückseligkeit stand. Die Wendung >existiert als Zweck an sich< drückt diesen Sachverhalt nur in einer neuen Terminologie aus. Doch über diesen Zusammen­ hang geht Kant weit hinaus, wenn er zu bestimmen versucht, was es bedeutet, jemanden als Zweck an sich zu behandeln. Wie müssen das moralische Gesetz und diejenigen, die nach ihm handeln, der Tatsa­ che Rechnung tragen, daß diejenigen, für die es gelten soll, als Zweck an sich existieren? Kant hat bisher nur eine negative Erklärung ge­ geben: Der andere darf nicht ausschließlich als ein Mittel zum belie­ bigen Gebrauche eines anderen Willens angesehen werden, sondern müsse auch als Zweck an sich behandelt werden. Doch die Forderung, daß man jemanden nur überhaupt als Zweck an sich behandelt, ist schnell erfüllt. Auch der Sklavenhalter respektiert in gewissem Sinn seine Sklaven als Zwecke an sich, als Subjekte, die auf ihr Wohl be­ zogen sind. Denn nur weil auch die Sklaven noch auf ihr eigenes Wohl bezogen sind, muß und kann der Sklavenhalter mit Drohungen und Versprechungen arbeiten, um sie in seinen Dienst zu zwingen. Solange man Menschen zu Handlungen motivieren will, muß man auf ihre Ziele bezug nehmen, also insoweit mit ihnen als Zwecken an sich umgehen. Erst wenn man ihre Ziele nur durchkreuzt oder ihr Leben zerstört, behandelt man sie gar nicht mehr als Zweck an sich. Doch diese elementare Anerkennung der Selbstzwecklichkeit al­ ler kann nicht die Grundlage der moralischen Einstellung ausmachen und ist erkennbar nicht das, was Kant gemeint hat. In der Anwen­ dung der Zweck-Formel auf seine Standardbeispiele gibt Kant zwei weitere wichtige Hinweise, wie er die Formel >Zweck an sich< ver­ steht: 1. Wer lügenhaft etwas verspricht, behandelt den anderen als bloßes Mittel, denn dieser könne »unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen«.114 Die Behandlung des anderen als Zweck an sich erfordert demnach, daß ich dessen Zustimmung zu meinem

113 Auch diese Ableitung zeigt nicht, daß es für jeden zwingende Gründe gibt, sein Handeln an diesem Gesetz auszurichten. Aber sie zeigt, daß jede Maxime, die zu einer Zerstörung der Selbstzwecklichkeit einiger Subjekte führt, nicht als Gesetz für diese möglich und tauglich ist. 114 GMS, S. 430. 166

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Handeln bzw. meiner Handlungsmaxime erlange oder erlangen können muß. 2. Wer anderen zwar nichts vorsätzlich entzieht, sich aber weigert, ihnen in der Not zu helfen, der stimme mit der Menschheit als Zweck an sich nur negativ und nicht positiv überein. Die Zwecke eines Subjekts, das als Zweck an sich selbst existiert, müssen aber, »wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch soviel möglich meine Zwecke sein«.115 Es ist äußerst erstaunlich, daß Kant für diese entscheidenden und weitreichenden Auslegungen dessen, was es heißt, jemanden als Zweck an sich zu achten, nicht weiter argumentiert. Er führt sie wie selbstverständlich einfach an. Aber wie lassen sich diese Auslegun­ gen begründen? Lassen sie sich aus dem Begriff der Moral oder dem der Selbstzwecklichkeit ableiten? Ad 1: Die Forderung nach der Zustimmung des anderen er­ scheint auf den ersten Blick unproblematisch. Wenn es um die Berücksichtigung der Selbstzwecklichkeit des anderen geht, dann scheint man dem doch Genüge zu tun, wenn man nach der Zustim­ mung des anderen zu einer Handlungsweise fragt. - Doch die Bedeu­ tung dieses Kriteriums ist infolge derselben Probleme, die schon bei Hare und Habermas deutlich geworden sind, nach wie vor unklar. Nicht jede Zustimmung wird ausreichen, um die moralische Richtig­ keit dessen, dem da zugestimmt wird, zu erweisen. Und auch wenn man die Zustimmung als Akzeptanz einer Regel nach einem starken oder schwachen Rollentausch versteht, bleibt unklar, wie das zu

115 GMS, S. 430. Wenn Kant hier im Plural von den Zwecken des anderen spricht, dann sind damit offenkundig solche Zwecke gemeint, die mit der Glückseligkeit des anderen zusammenhängen. Die Achtung des anderen als Zweck an sich, erschöpft sich für Kant also nicht darin, ihn nur in seiner Autonomie, als vernünftiges und zu moralischer Voll­ kommenheit fähiges Wesen zu achten. Gleichwohl hat Paton zu Recht herausgearbeitet, daß dasjenige, was für Kant primär ein objektiver Zweck ist oder absoluten Wert hat, eben diese moralische Vollkommenheit oder der gute Wille selbst ist (Paton, 1962, S. 203-7). Daraus folgt für Kant allerdings nicht, daß man einen anderen dann beliebig schlecht behandeln kann, weil das ja seinen guten Willen nicht direkt beschädigt. Kant war Realist genug, um zu sehen, daß zwischen beidem ein enger Zusammenhang be­ steht. In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten führt er aus, daß die Erhaltung der eigenen Glückseligkeit eine abgeleitete Pflicht ist, weil deren Vernachlässigung uns leicht in Versuchung führt, unsere Pflicht zu übertreten (MdS, A17,18). Dieser Zusam­ menhang gilt dann natürlich auch für die Rücksicht auf die sittliche Vollkommenheit des anderen. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

einem von allen akzeptiertem Resultat führen soll. Wenn alle nur überlegen, welcher Regel sie im Verfahren des schwachen Rollentau­ sches zustimmen können, dann wird man kaum eine Regel finden, der alle zustimmen, denn ihren Fähigkeiten und Neigungen entspre­ chend werden die Individuen verschiedene Regeln bevorzugen. Und bei einem starken Rollentausch ist nach wie vor unklar, wie die im Rollentausch erworbenen Neigungen verarbeitet werden sollen. Ad 2: Problematischer erscheint dagegen die Forderung, daß man sich die Zwecke der anderen so weit wie möglich zu eigen zu machen soll. Denn wenn man diese extreme Forderung ernst nimmt, dann scheint das prima facie zu verlangen, ein Leben völliger Hinga­ be an die anderen zu führen. Warum soll das notwendig zum Prinzip der Moral gehören? Kant hat hierfür nur ein knappes und unklares Argument gegeben: Es wäre »nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, soviel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch soviel möglich meine Zwecke sein.«116 Menschheit als Zweck an sich selbst,

Die im zweiten Satz angesprochene Vorstellung scheint die der >Menschheit als Zweck an sich< zu sein. Diese Vorstellung soll nun eine Wirkung auf das vorstellende Subjekt dergestalt ausüben, daß es sich die Zwecke der anderen so weit wie möglich zu eigen macht. Doch das ist ein schwer nachvollziehbarer Prozeß. Zuerst ist nicht klar, was die Bedeutung der These ist, daß die Menschheit als Zweck an sich existiert. Das Prädikat >existiert als Zweck an sich< wurde bisher nur auf Subjekte angewandt und meinte dann, daß diese ihr eigenes Dasein als einen Endzweck begreifen. Die Menschheit als Gattung ist aber kein Subjekt. Dieses Problem könnte ausgeräumt werden, wenn man Menschheit hier nicht als Gattung versteht, son­ dern im Sinn von Menschlichkeit oder Menschentum.117 Die These würde dann nur wiederum besagen, daß Menschen oder Subjekte als Zwecke an sich existieren. Und damit wäre das Argument wieder der obigen Kritik ausgesetzt: Allein daraus, daß jemand oder etwas als

116 GMS, S. 430. 117 Kant verwendet den Terminus Menschheit mindestens auch in dieser Bedeutung, etwa wenn er von der »Ansehung der Menschheit in unserem Subjekt« spricht (GMS, S. 430). 168

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Zweck an sich existiert, ergibt sich für mich kein Grund, es oder ihn als einen solchen zu behandeln. Vielleicht nahm Kant wirklich an, daß es einen motivbildenden Prozeß gibt, der allein von der Wahrnehmung der selbstzwecklichen Existenz von etwas ausgeht. Da ich die Motivationsfrage hier aber insgesamt nicht behandeln will, werde ich das Argument lediglich so weit aufgreifen, wie es eine Bedeutung für die interne Logik des moralischen Denkens hat. Ein Zusammenhang zwischen der Selbstzwecklichkeit der Subjekte und der weitgehenden Übernahme von deren Zwecken in der moralischen Überlegung läßt sich plausibilisieren, wenn man die folgenden Zusammenhänge berücksichtigt: • Ein Moralsystem verlangt von seinen Mitgliedern, daß sie sich bei der Verfolgung ihrer Ziele in gewissen Hinsichten freiwillig ein­ schränken. Doch wenn jemand freiwillig auf ein Element seiner Glückseligkeit verzichten soll, dann muß er dabei zumindest hof­ fen, etwas ebenso Wichtiges oder gar Wichtigeres zu gewinnen. Die von einem Regelsystem angebotenen Kompensationen für ge­ wisse Verhaltensbeschränkungen sind die klassischen Sicherhei­ ten, Freiräume und Förderungen. Wenn jemand von einem ande­ ren oder einem Regelsystem gezwungen wird, ein Element seiner Glückseligkeit preiszugeben, ohne dafür entschädigt zu werden, dann wird er als ein Mittel gebraucht. • Im alltäglichen Leben gebrauchen wir einander in vielen Hinsich­ ten als Mittel. Wenn man ein Taxi benutzt, gebraucht man dabei den Fahrer als ein Mittel zur Erreichung des eigenen Ziels. Aber man benutzt ihn nicht ausschließlich als Mittel. Er leistet seinen Dienst freiwillig und erzielt dadurch ein Einkommen, das ihm hilft, seine Lebensziele zu erreichen. Es ist oben bereits deutlich geworden, daß wir einander in verschiedenen Graden als Mittel und als Zweck behandeln können: Wenn 1000 Menschen in einer Fabrik zusammen ein Produkt erzeugen, und einige der Arbeiten­ den erzielen ein Jahreseinkommen von einer Million und die übri­ gen lediglich 50.000 DM, dann benutzen die Besserverdienenden die Schlechterverdienenden offenbar in einem größeren Ausmaß als Mittel zur Steigerung ihres Wohlbefindens, als wenn alle in etwa gleich viel verdienen würden. • Daraus läßt sich ein Begriff der vermeidbaren Instrumentalisie­ rung generieren: Die Regeln einer Gesellschaft sind dann in vermeidbarem Ausmaß instrumentalisierend, wenn ^

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- ihre Anwendung dazu führt, daß ein Teil der Gesellschaft auf einem Wohlhefindensniveau W1 leben muß, und wenn - ein anderer Satz von Regeln möglich ist, der dazu führen würde, daß jeder auf einem Wohlhefindensniveau leben kann, das höher ist als Wx. Damit läßt sich die Bedeutung der Selhstzwecklichkeit der Subjekte für die Tauglichkeit einer Regel als allgemeines Gesetz so präzisieren: (1) Ein Gesetz für den Willen vernunftbegabter Subjekte muß deren Selhstzwecklichkeit Rechnung tragen. Es muß diese als Zwecke an sich bestehen lassen. (2) Eine Regel ist umso mehr als Gesetz tauglich je mehr es der Selbstzwecklichkeit der Subjekte Rechnung trägt. (3) Eine Regel trägt der Selbstzwecklichkeit der Subjekte dann am besten Rechnung, wenn es zu keiner vermeidbaren Instrumenta­ lisierung führt. (4) Eine Instrumentalisierung ist vermeidbar, wenn das ihr zugrun­ deliegende Regelsystem eine Person nötigt, auf einem Wohl­ befindensniveau zu leben, dessen Niedrigkeit in einem anderen Regelsystem gänzlich vermeidbar wäre. (5) Die Regel ist am besten als Gesetz tauglich, bei deren Befolgung das danach mögliche niedrigste Wohlbefindensniveau so hoch wie möglich ist. Entscheidend in dieser Überlegung ist die Orientierung am individu­ ellen Wohl, d. h. an der individuellen Balance von Einschränkungen und Kompensationen, die durch eine Regelung hervorgerufen wer­ den. Das moralische Denken verlangt die Suche nach Regeln, die er­ stens dazu beitragen das Wohl eines jeden Individuums zu maximie­ ren und die zweitens gleichzeitig nicht ein Individuum vermeidbar für ein anderes instrumentalisieren. Wenn es in der Moral auf den Schutz der Selbstzwecklichkeit der Individuen ankommt, dann führt dies notwendig dazu, nach Regeln zu suchen, bei deren allgemeiner Befolgung das Minimum der nach diesen Regeln möglichen indivi­ duellen Wohls so hoch wie möglich ist. Hierin besteht der wesentli­ che Fortschritt der Orientierung an Selbstzwecklichkeit gegenüber der Orientierung an der Tatsache, daß sich die Individuen notwendig auf ihre Glückseligkeit beziehen. Aus dem Streben nach Glückselig­ keit ließ sich nicht eindeutig eine Lösung für den Fall ableiten, daß diese Bestrebungen konfligieren. Bei der Orientierung an Selbstzwecklichkeit folgt dagegen, daß es auf die Optimierung der schlech­ testen Position ankommt. In jedem Regelsystem, in dem das nied­ 170

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rigste Niveau von Wohlbefinden geringer ist, als es in in einem alter­ nativen System sein könnte, können die auf diesem Niveau Leben­ den geltend machen, für jemanden oder etwas instrumentalisiert zu werden.118 In diesem Sinn ist Kants Forderung, daß man sich die Zwecke der anderen soviel wie möglich zu eigen machen müsse, eine Folge der Selbstzwecklichkeit der Individuen. Der hier verwendete Begriff der vermeidbaren Instrumentali­ sierung hat eine weitreichende Konsequenz, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen kann. Das Kriterium für die Vermeidbar­ keit einer Instrumentalisierung ist, ob es möglich ist, das Bestehen des gegebenen niedrigsten Wohlbefindensniveaus insgesamt zu ver­ meiden. Das Kriterium fragt nicht danach, wie es dazu gekommen ist, daß einige Individuen auf diesem Niveau leben müssen. Das Kriteri­ um ist deshalb indifferent gegenüber der Frage, ob dieser Zustand von der Person, die gerade überlegt, was zu tun richtig ist, erzeugt wurde. Für das Kriterium kommt es nicht einmal darauf an, daß der Zustand überhaupt durch Handeln hervorgebracht wurde. Aus­ schlaggebend ist allein die Frage, ob der Zustand nun durch Hand­ lungen verbessert werden kann. Wenn es für einen Handelnden oder eine Gruppe von Handelnden möglich ist, das Wohlbefindensniveau der Schlechtgestellten zu heben, ohne dadurch jemand anderes auf oder unter deren Niveau herabzudrücken, dann ist es dem obigen Syllogismus zufolge moralisch gefordert, das zu tun. Dieser Begriff der Instrumentalisierung wird offenbar auch von Kant geteilt. Seine Behandlung das Beispiels der Hilfeleistung in

118 In einem Beispiel könnte das so aussehen: Angenommen es gibt vier Individuen (I1-I4) und R steht jeweils für ein Set von Regeln, denen entsprechend die Einschränkungen und Vorteile unter den Individuen verteilt oder indirekt verursacht werden. Unter jedem Regel-Set wird jedes Individuum ein bestimmtes Wohlbefindensniveau erreichen. Die Höhe des Wohlbefindensniveaus der vier Individuen, sofern das von den Regeln abhängt, wird hier in Klammern angeben. Das Wohl ist umso höher, je größer die Zahl ist. Der Gleichheitsregel (Rg) möge dann enstprechen: Rg(5,5,5,5). Den Regeln, die zum maximalen Gesamtwohl führen, bilden das Regelsystem RGwMax- Ihnen könnte der Verteilungszustand RGwMax(3,5,7,8) korre­ spondieren. Das Gesamtwohl beträgt hier 23 und ist damit höher als das bei Gleichver­ teilung auftretende Gesamtwohl von 20. Gleichwohl kann das erste Individuum (Ii) darauf hinweisen, daß das ihm zugemutete Wohlbefindensniveau angehoben werden kann, ohne daß das Wohl eines anderen Individuums auf sein jetziges Niveau gesenkt werden müßte. Der Regelsatz RGwMax ist deswegen moralisch verkehrt, weil dabei Ii in höherem Maß als Mittel gebraucht wird, als das nötig wäre. Es wird für das Glück von I2-4 in vermeidbarer Weise instrumentalisiert.

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einer Notlage zeigt, ist es für ihn nicht ausschlaggebend ist, oh ein Zustand niedrigen Wohlbefindens von dem Handelnden oder über­ haupt durch Handeln hervorgehracht worden ist. Entscheidend ist, daß die Notlage besteht und daß es jetzt von einem Handelnden ahhängt, oh sie weiterhesteht. In dieser Pflicht zu Hilfeleistung ist eine negative Verantwort­ lichkeit impliziert - man instrumentalisiert andere schon dann, wenn man ihr Elend nicht mindert, ohwohl man das könnte. Und das scheint zunächst in Widerspruch zu dem Prinzip der zu vermeiden­ den Instrumentalisierung zu stehen. Denn mit gewissem Recht könnte der zur Hilfe Verpflichtete sagen, daß er durch die Hilfelei­ stung gar nichts gewinnt, daß seine Selhstzwecklichkeit vielmehr verletzt wird, indem er zur Hehung des Wohls eines anderen instru­ mentalisiert wird. Doch der Einwand greift aus drei Gründen zu kurz: - Erstens gehört zur Selhstwecklichkeit der Individuen ja auch deren Strehen nach Glückseligkeit. In diesem Strehen und damit in der Aktualisierung ihrer Selhstzwecklichkeit werden die Individuen aher umso intensiver hehindert, je mehr sie hinter jenem Maxi­ mum an Wohlhefinden119, das zur Idee der Glückseligkeit gehört, zurückhleihen. - Zweitens erfordert das moralische Denken einen Rollentausch. Es erfordert, daß man üher die nach einer Regel möglichen Beein­ trächtigungen der Glückseligkeit unparteiisch nachdenkt. Und aus der unparteiischen Perspektive ist evident, daß die mögliche Beein­ trächtigung der Glückseligkeit hei Bestehen einer Pflicht zur Hilfe weniger gravierend ist, als sie sein könnte, wenn diese Pflicht nicht hesteht und jeder seinem Schicksal ausgeliefert hleiht: Wenn es eine Pflicht zur Hilfeleistung in Notfällen giht, dann muß man damit rechnen, einen Teil seiner Zeit oder seines Besitzes für an­ dere opfern zu müssen. Bei Nichthestehen dieser Pflicht kann man dies alles zwar hehalten, aher man muß damit rechnen, seine Ge­ sundheit oder gar das Lehen zu verlieren, falls man in eine ent­ sprechende Notlage gerät. Für die Hilfe in Notfällen ergiht sich, daß eine Hilfeleistung dann und so weit gehoten ist, wie dadurch das Wohlhefinden des Gehenden nicht auf ein niedrigeres Niveau sinkt als das des Empfangenden im Fall der Unterlassung. - Und drittens gewinnt in einem System, in dem alle ihr Handeln an der Optimierung des niedrigsten Wohlhefindensniveaus ausrich119 Vgl. GMS, S. 418. 172

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ten, jeder etwas. Auch derjenige, der glücklich genug ist, der Hilfe anderer nie zu bedürfen, gewinnt das beruhigende Gefühl, daß ihm geholfen werden wird, wenn er der Hilfe bedarf.120 Es sollte deutlich geworden sein, daß Kant die entscheidenen Ände­ rungen in der Auslegung seines Moralprinzips eher implizit voll­ zieht als eigens thematisiert und direkt zu begründen versucht. Gleichwohl finden sich in seinen Analysen Argumente, die diese Änderungen rechtfertigen können. Im Zuge dieser Überlegungen ist deutlich geworden, daß zum moralischen Überlegen ein schwa­ cher und ein starker Rollentausch gehörten. Letzterer verlangt nicht nur, daß ich mich mit meinen Interessen in die Position der anderen hineinversetze, sondern ich muß mir, um die Selbstzwecklichkeit der anderen ernst zu nehmen, die Interessen der anderen, die diese wirklich haben, zu eigen machen. Es ist deshalb verkehrt, Kant eine solipsistische Stellvertreter-Theorie der moralischen Entscheidung zu unterstellen.121 Die Rücksicht auf die Selbstzwecklichkeit ver­ langt zweitens auch, daß man die Perspektive aller betroffenen ver­ nunftbegabten Lebewesen ernst nimmt. Diese existieren alle als Zweck an sich, und ein Gesetz für den Willen eines jeden muß sie alle in dieser Eigenschaft gleich berücksichtigen. Regeln, die diese Rücksicht auf eine bestimmte Gruppe einschränken wollen, sind deshalb nicht als Gesetze tauglich. Die Rücksicht auf die Selbstzwecklichkeit gibt schließlich zugleich eine Regel für den Umgang mit den konfligierenden Selbstzwecklichkeiten. In diesem Konflikt ist das niedrigste Niveau von Wohlbefinden zu optimieren bzw. das Ausmaß der in jedem realen Leben unvermeidlichen Frustrationen zu minimieren.

120 Es ist natürlich keineswegs sicher, daß alle die moralischen Regeln befolgen werden, und daß man in der Not tatsächlich Hilfe finden wird. Aber das ist für die moralische Überlegung nicht relevant. In ihr geht es darum, wie sich die hypothetische allgemeine Befolgung der Regeln auf die Selbstzwecklichkeit der Individuen auswirkt. 121 So etwa Habermas, 1991, S. 155/6 und 1983, S. 77. Kants These, daß alle Menschen als Zweck an sich existieren, d. h. ihr Leben als einen Endzweck begreifen, schließt nicht aus, daß Menschen ihr Leben, wie man sagt, in den Dienst einer >höheren< Sache stellen - das kann die Wahrheit, die Ehre Gottes oder der Ruhm des Vaterlandes sein. Jemand kann sein Leben solchen Zwecken weihen, aber er muß es dann selbst tun. Die These von der Endzwecklichkeit des je eigenen Lebens besagt nur, daß es für das Selbstver­ ständnis eines vernünftigen Wesens nicht zufriedenstellend ist, wenn jemand etwa be­ hauptet »Du wurdest nur zur höheren Ehre deines Vaterlandes geboren und darfst des­ halb auch beliebig dafür instrumentalisiert werden«. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

Zusammenfassend läßt sich sein Übergang von den basalen An­ forderungen an ein Gesetz bis zum Prinzip der Minimierung so re­ konstruieren: (1) In der Moral geht es um Regeln, die allgemeine Gültigkeit bean­ spruchen. Es geht um Gesetze. (2) Ein Gesetz für den Willen aller vernünftigen Lebewesen muß wenigstens als allgemeines Gesetz tauglich sein. Es darf als Ge­ setz nicht den mit allen Handlungen verfolgten Zweck vereiteln. (3) Alle vernunftbegabten Lebewesen streben notwendig nach Glückseligkeit. (4) Das verlangt, daß man beim Nachdenken über Gesetze die Bezogenheit aller auf ihre Glückseligkeit gleich wichtig nehmen muß. Die Berücksichtigung der anderen in ihrem Anderssein erfordert einen starken, universalen Rollentausch. (5) Vernunfbegabte Lebewesen sind auf ihr Leben als einen End­ zweck bezogen, sie begreifen sich als Zweck an sich. (6) Ein Gesetz für den Willen solcher Wesen muß dieser Selbstzwecklichkeit Rechnung tragen. (7) Eine Regel ist umso mehr als Gesetz tauglich, je weniger intensiv sie als allgemeines Gesetz die Selbstzwecklichkeit der Subjekte beeinträchtigt. (8) Die geringstmögliche Beschädigung der Selbstzwecklichkeit wird durch Regeln gewährleistet, bei denen, das unter ihnen geringst­ mögliche Niveau von Wohlbefinden so hoch wie möglich ist.

IV.4.

E. Tugendhat

Den Grundkonflikt in der heutigen Debatte über Moral sieht Ernst Tugendhat nicht in der Auseinandersetzung zwischen Egoisten und Moralisten, sondern in der der zwischen des verschiedenen Moral­ konzepten. In einem ersten Schritt müsse man deshalb klären, was allen diesen Konzepten gemeinsam ist, was sie überhaupt zu Moral­ konzepten macht. Erst dann könne man überlegen, ob eines der kon­ kreten Moralmodelle sich aus dem allgemeinen Konzept der Moral plausibler ergibt als die anderen. Tugendhats Ansatz kann man als Verteidigung des Kantischen Moralprinzips mit bescheideneren Mit­ teln begreifen. Seine Argumentation läßt sich zunächst in neun Schritte gliedern:

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4. E. Tugendhat

i.

ii.

iii.

iv. v.

vi.

vii. viii.

122 123 124 125 126 127 128 129 130

Zur moralischen Haltung gehört eine intersuhjektive Forde­ rungsstruktur mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit.122 Dies findet seinen grammatischen Niederschlag darin, daß hei moralischen Urteilen die Wörter >muss, gut, soll< ahsolut, d. h. nicht relativ zu den Ahsichten einer Person verwendet wer­ den.123 Dieser ahsolute Geltungsanspruch ist aher nicht rational einlöshar. Mit Hume und gegen Kant ist Tugendhat der Überzeugung, daß sich etwas als >gut< oder >vorziehenswert< immer nur relativ zu einem schon gegehenen Wollen hegründen läßt.124 Die ahsolute Verwendungsweise von >gut< kann deshalh nur noch als eine ausgezeichnete attrihutive verstanden werden. Mit ihr wird ein Mensch nicht in einer speziellen Funktion (Arzt, Vater) positiv hewertet, sondern >gut< meint hier: >gut als Mensch oder als Sozialpartner^125 Für die Definition des Mora­ lischen folgt so: Die moral. Standards einer Gesellschaft sind die, die definieren, was es heißt, ein gutes, kooperatives Wesen zu sein.126 Motivierend sind diese Standards nur für den, der sie in seine Identität aufgenommen und dementsprechend ein Gewissen entwickelt hat.127 Der moralische Sinn von >gut< kann deshalh nicht mehr einer sein, der von allen anerkannt werden muß, sondern nur einer, der von allen anerkannt werden könnte.128 Was von allen als gut anerkannt werden könnte, ist nur noch die Moral der universellen Achtung, die sich an der Zweck-Formel des kategorischen Imperativs orientiert: Instrumentalisiere niemanden!129 Das >ich< und >du< in den kantischen Formeln meint niemanden Speziellen, sondern jeden Beliehigen, jedes vernünftige Wesen. Die plausihlen moralischen Regeln sind diejenigen, die aus der Perspektive eines Beliehigen wünschenswert sind.130 Damit läßt

Tugendhat, 1993, S. 14, 64. Ehd. S. 36 f. Ehd. S. 44, 51. Ehd. S. 56. Ehd. S. 58. Ehd. S. 60. Ehd. S. 80. Ehd. S. 80. Ehd. S. 83-85. ^

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IV. Vom Begriff zum Prinzip

sich der Begriff des guten Kooperationswesen konkreter bestim­ men: ix. Ein gutes Kooperationswesen ist derjenige, der die gesellschaft­ lichen Regeln beachtet, die aus der Perspektive eines Beliebigen wünschenswert sind. Im Rahmen der Überlegungen zum Begriff des Moralischen ist be­ reits deutlich geworden, daß die Definition der moralischen Stan­ dards durch den Begriff des guten Kooperationswesens zu einem Pro­ blem führt. Dies besteht darin, daß nicht alles, was zu einem guten Kooperationswesen gehört, in den Bereich der Moral fallen muß Konventionen etwa gehören nicht dazu. Doch wenn man hinzu­ nimmt, daß die moralischen unter den Kooperationsregeln die sind, für die strikte Geltung beansprucht wird, dann ist Tugendhats Defi­ nition des Moralischen in (iv) ein geeigneter Ausgangspunkt für die Bestimmung des >richtigen< moralischen Prinzips. Tugendhat redet allerdings nicht von Richtigkeit, sondern von Plausibilität und schwächt damit den Geltungsanspruch seiner These ab. Er ist nicht der Meinung, daß das Kantische Prinzip der Nichtinstrumentalisie­ rung analytisch aus dem Konzept des guten Kooperationswesens folgt. Diese Folgerung sei lediglich besonders naheliegend.131. Was also macht sein Moralprinzip (viii) plausibel? Die Rekonstruktion des Übergangs vom Begriff des Moralischen zum plausiblen Moralprinzip ist mit drei Problemen konfrontiert: (1) Zuerst fällt auf, daß in Tugendhats Argumentation etwas fehlt. Das Konzept des Guten soll keines mehr sein, dem alle zustim­ men müssen, sondern nur eines, das von allen anerkannt werden könnte. Die Formulierung verleitet geradezu zu der Nachfrage: Könnte, wenn was ...? Tugendhat hat diese fehlende Bedingung an keiner Stelle explizit nachgeliefert. Doch solange diese Bedin­ gung nicht präzisiert ist, ist nur schwer zu untersuchen, ob der naheliegendste Gegenstand der Anerkennung gerade die Zweck­ Formel ist. (2) Erschwerend kommt hinzu, daß nicht klar ist, was man mit der Akzeptanz derselben eigentlich anerkannt hätte. Für die Aner­ kennung von These (vi) müßte zuvor geklärt werden, was es denn bedeutet, jemanden nur als Mittel und gar nicht als Zweck zu behandeln. Und für die Anerkennung von (viii) müßte man

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4. E. Tugendhat

wissen, worin die Perspektive des Beliebigen eigentlich besteht. Was gehört zu ihr, und was ist davon ausgeschlossen? (3) Schließlich ist nicht klar, um was für eine Art von Anerkennung es sich dabei handeln soll. Soll die Anerkennung beinhalten, daß ich gute Gründe habe, entsprechend zu handeln oder meint die Anerkennung nur, daß man etwas als Lösung für eine speziell konstruierte Aufgabe ansieht (Etwa: >Wenn man das und das be­ ansprucht, dann muß man auch ...gut< aus, »das, wenn man überhaupt ein moralisches Bewußtsein haben will, übrigbleibt, wenn alle transzen­ denten Prämissen entfallen sind und man gleichwohl am Begriff des Guten und allem, was damit zusammenhängt, festhalten will«.132 In dieser These sind drei Bedingungen enthalten, deren Bedeu­ tung geklärt werden muß, bevor die Plausibilität der These und der in ihr empfohlenen Moral beurteilt werden kann: 1. Inwiefern drückt sich in der Zweck-Formel ein Verständnis von >gut< aus? - Was Tugendhat hier meint, ist vermutlich nur, daß man den Imperativ der Zweck-Formel auch in einen Satz transfor­ mieren kann, in dem das Prädikat >gut< vorkommt. Dieser Satz könnte etwa lauten: >Es ist gut, niemanden zu instrumentalisierengut< und >schlecht< könnten deshalb im absoluten, d. h. nicht-personenbezogenen und nicht-instru­ mentellen Sinn auf dem Boden des Kontraktualismus nicht sinn­ voll abgegeben werden. Die nicht-instrumentelle Verwendung dieser Begriffe ist nach Tugendhats Analyse aber gerade konstitu­ tiv für eine Moral. Der Kontraktualismus sei deshalb nur eine Quasi-Moral.137 Das Festhalten an einem Begriff des absolut Gu­ ten, die Entwicklung eines Gewissens und die Empfänglichkeit für die entsprechenden Affekte machen für Tugendhat zusammen also das aus, was notwendig ist, um überhaupt ein moralisches Bewußt­ sein zu haben. Ich denke, daß die diese Thesen zum moralischen Bewußtsein und der Verzicht auf transzendente Prämissen gerade den Inhalt jener Wenn-Bedingung ausmachen, auf die die Wendung >anerkannt wer135 Ebd. S. 73. 136 Ebd. S. 75. 137 Ebd. S. 76. 178

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Walter Pfannkuche

https://doi.org/10.5771/9783495997505 .

4. E. Tugendhat

den könnte< der These (v) nur verweist, ohne das Vorausgesetzte an­ zugehen. Tugendhats Argument ließe sich dann so rekonstruieren: (1) Zu einem moralischen Bewußtsein gehört konstitutiv die ahsolut verstandene Verwendung von >gut< und >sollen