Die Menschenwürde des Grundgesetzes auf dem Prüfstand: Rechtlich-ethische Entscheidungen für Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis [1 ed.] 9783428548910, 9783428148912

Für eine möglichst wahre Klärung aller Potentiale der Menschenwürde werden nicht nur ihre rechtlichen Gehalte in konsequ

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Die Menschenwürde des Grundgesetzes auf dem Prüfstand: Rechtlich-ethische Entscheidungen für Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis [1 ed.]
 9783428548910, 9783428148912

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Das Recht der inneren und äußeren Sicherheit

Band 5

Die Menschenwürde des Grundgesetzes auf dem Prüfstand Rechtlich-ethische Entscheidungen für Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis

Von

Pascal Basten

Duncker & Humblot · Berlin

PASCAL BASTEN

Die Menschenwürde des Grundgesetzes auf dem Prüfstand

Das Recht der inneren und äußeren Sicherheit Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Markus Thiel, Köln

Band 5

Die Menschenwürde des Grundgesetzes auf dem Prüfstand Rechtlich-ethische Entscheidungen für Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis

Von

Pascal Basten

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2199-3475 ISBN 978-3-428-14891-2 (Print) ISBN 978-3-428-54891-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84891-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Y después de todo: Für meine Familie und Freunde

Inhaltsverzeichnis 1. Teil

Thematische und methodische Grundlagen 

17

A. Thematische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Untersuchungsfragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Methodik, Zweck und Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Zweck und Nutzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Teil

Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte 

34

A. Natur, Verhältnis und Nutzen von Ethik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Zum Sinn einer ideengeschichtlichen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II. Griechische Philosophie: Aristoteles – und die Würdigkeit als Poten­tial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Römische Philosophie: Cicero – und die kosmischen Pflichten . . . . . . 44 IV. Christentum: Theophilos, Gregor von Nyssa, Laktanz, Augustinus, Manetti, Thomas von Aquin – und die Beziehung zum Göttlichen . . . 45 V. Im Zeitalter der Renaissance: Pico della Mirandola – und die Verehrung des unbestimmten Potentials . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 VI. Im Zeitalter der Aufklärung: Kant – das Ding und der Zweck an sich . 50 1. Kants Würdebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Kantische Imperative  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Kritische Analyse der kantischen Kritikstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VII. Deutscher Idealismus nach Kant und Materialismus: Schiller, Fichte, Hegel, Marx – und die Dialektik von Sein und Bewusstsein . . . . . . . . 57 C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität – Synthese der Ideen­ geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

8 Inhaltsverzeichnis 3. Teil

Rechtsdogmatische Grundlagen 

67

A. Zu Berechtigung und Gegenstand der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 B. Zum allgemeinen normativ-strukturellen Umfeldder Menschenwürde . . . . . 68 C. Allgemeine Auslegungspotentialezur grundgesetzlichen Menschenwürde . . 69 D. Zur Relevanz der Gewalten im deutschen Rechtsstaatbeim Menschen­ würdediskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4. Teil

Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels 

76

A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Zur Geschichte der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 II. Zur bisherigen Rechtssprechungspraxis im sicherheitspolizeilichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 C. Systematischer Auslegungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Ethische Muster im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 II. Einzelne konkrete Hauptansätze zur Bestimmung der Menschenwürde . 118 III. Die Sinnfrage: Teleologischer Befund zur aktuellen Situation der rechtlichen Bewältigung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde: Vorschlag eines generellen Verständnisses der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes . . . . 128 5. Teil

Rechtlich-ethische Entscheidungen von Fällen der polizeilichen Praxis 

147

A. Zur Auswahl der polizeipraktischen Fälle mit Menschenwürderelevanz . . . . 147 B. Beschreibung der menschenwürderelevanten Entscheidungssituationen . . . . 149 C. Die Subsumtion der Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Zur Menschenwürde in Dreieckskonstellationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Gesetzliches Rechtsfeld der Entführungs- und Zeitbombenfälle sowie der schweren Menschenhandelsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Körperlicher Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Geistiger Zwang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Zum Folterbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Inhaltsverzeichnis9 III. Zur Rhetorik vom Dammbruch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV. Rechtswirkung des Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 V. Differenzierungen, Delegationen und Diffusion zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 VI. Recht und staatliche Schutzpflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6. Teil

Würde, Wahrheit und Wesentliches  

189

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Abkürzungsverzeichnis a.

articulus (lat. – zu Deutsch: Artikel) – Untereinheit in der Summa theologica des Thomas von Aquin.

AA

Akademieausgabe (des Werks Immanuel Kants)

a. A.

andere Auffassung

a. a. O.

am angegebenen Ort

Abg. Abgeordneter Abs. Absatz Abs.-Nr. Absatz-Nummer AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AGG

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

Anm. Anmerkung(en) AöR

Archiv für öffentliches Recht

APR

Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Art. Artikel Artt.

Artikel (Plural)

AVR

Archiv des Völkerrechts

BeamtStG Beamtenstatusgesetz Bd. Band Beschl. Beschluss BGHZ

Bundesgerichtshof in Zivilsachen (amtliche Entscheidungssammlung)

bspw. beispielsweise BVerfGE

Bundesverfassungsgerichtsentscheidung sammlung)

BVerfGK

Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

BVerwGE Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung sammlung) BvR

(amtliche

Entscheidungs-

Entscheidungs-

Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht

bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise DDR

(amtliche

Deutsche(n) Demokratische(n) Republik

Abkürzungsverzeichnis11 ders. derselbe d. h.

das heißt

Dig. Digesten DÖV

Die öffentliche Verwaltung

Dr. Doktor DVBl.

Deutsche Verwaltungsblätter

ECHR

European Court of Human Rights

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

etc.

et cetera

EU

Europäische Union

EUGRCh

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

f. folgende(r) FAZ

Frankfurter Allgemeine – Zeitung für Deutschland

ff.

folgende (mehr als die nächstfolgende Seite; entsprechend der im Lateinischen üblichen Verdoppelung des Anfangsbuchstabens bei Abkürzung eines Plurals)

Fn. Fußnote gem. gemäß GewArch Gewerbearchiv ggf. gegebenenfalls HessVGH

Hessischer Verwaltungsgerichtshof

HFR

Humboldt Forum Recht

h. M.

herrschende Meinung

i. e.

id est (Latein  – zu Deutsch: das ist / das heißt)

IM Innenministerium IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

IPwskR

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

i. V. m.

in Verbindung mit

JÖR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JM Justizministerium JR

Juristische Rundschau

JS

Juristische Schulung

Js Justizsache JZ JuristenZeitung

12 Abkürzungsverzeichnis KA

Kanonistische Abteilung

KG Kammergericht Lat. Lateinisch LG Landgericht Ls. Leitsatz LuftSiG Luftsicherheitsgesetz MBl. Ministerialblatt m. E.

meines Erachtens

MMW

Münchener Medizinische Wochenschrift

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr. Nummer NRW Nordrhein-Westfalen NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OLG Oberlandesgericht PolG Polizeigesetz Polit.

Politika (griechisch, zu Deutsch: Politik) – Werk des Aristoteles

PrOVGE

Preußisches Oberverwaltungsgerichts-Entscheidung

q.

quaestio (lat. – zu Deutsch: Frage) Untereinheit in der Summa theologica des Thomas von Aquin

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RdErl. Runderlass RGBl. Reichsgesetzblatt RGSt

Reichsgericht in Strafsachen

RiStBV

Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren

Rn. Randnummer RR Rechtsprechungsreport Rz. Randzeichen S. Seite SJZ

Süddeutsche Juristen-Zeitung (1946–1950; Nachfolge 1950 durch JZ)

sog. sogenannte(n) Sp. Spalte StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung St. Rspr.

Ständige Rechtsprechung

Abkürzungsverzeichnis13 StR

Aktenzeichen einer Strafsache beim BGH

StV Strafverfahrensrecht Ü. Übersetzung u. a.

unter anderem / unter anderen

u. dgl. m.

und dergleichen mehr

UK

United Kingdom

UN

United Nations

Urt. Urteil US

United States

usw.

und so weiter

v. vom v. Chr.

vor Christus

VE

Verdeckte(r) Ermittler

VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche VP Vertrauensperson(en) WRV

Weimarer Reichsverfassung

z. B.

zum Beispiel

ZfHF

Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung

ZPO Zivilprozessordnung ZRG

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind elende Alchimisten! Georg Büchner, Dantons Tod L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête. Blaise Pascal, Pensées Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! Friedrich Schiller, Die Künstler Der Mensch ist frei … er hat selbst für alles aufzukommen: für seinen Glauben, seinen Unglauben, seine Liebe, seine Vernunft. Der Mensch trägt selbst die Kosten für alles, und darum ist er – frei! … Der Mensch – ist die Wahrheit! Was heißt überhaupt „Mensch“? Das bist nicht du, und nicht ich bin’s, und nicht sie sind es … nein! Sondern du, ich, sie, der alte Luka, Napoleon, Muhammed … alle miteinander sind es! […] Verstanden! Das ist – etwas ganz Großes! Das ist etwas, worin alle Anfänge stecken und alle Enden … Alles im Menschen, alles für den Menschen. Nur der Mensch allein existiert, alles übrige – ist das Werk seiner Hände und seines Gehirns! Der M – ensch! Einfach großartig! So erhaben klingt das! M – men – nsch! Man soll den Menschen respektieren! Nicht bemitleiden … nicht durch Mitleid erniedrigen soll man ihn … sondern respektieren! Maxim Gorki, Nachtasyl

1. Teil

Thematische und methodische Grundlagen A. Thematische Einführung I. Einleitung Konstellation: das Zusammentreffen von Himmelskörpern – ein Thema in zweier Disziplinen: Astronomie und Astrologie, zwischen zwei Welten des Fürwahrhaltens wandernd, darin die Fixsterne dem Betrachter von der Erde aus Haltepunkte bietend, mit seinen Bezugsystemen das gesamte Bild des Koordinatensystems zu erschauen, die Verwinkelungen und Verwicklungen von Sternen und Planeten zu begreifen, in ihren Verhältnissen zueinander das Anziehende und das Abstoßende scheidend, vielleicht alles hin auf einen Punkt zu vereinigen.1 Die Menschenwürde auf den Prüfstand zu stellen für Konstellationen der polizeilichen Praxis kann nicht nur um sie selbst kreisen. Von mehreren Erkenntnisstandorten aus werden vielerlei Sphären in ihrem Gravitationsfeld erfasst. Philosophie, Juristerei und auch Theologie werden sich um Staat, Person, Rechte und richtige, rechtsstaatliche Methodik bemühen müssen. Unterzieht man sich nicht dieser Mühewaltung, kann man wohl ein bisschen in schönen Worten kramen und wird interesseloses Wohlgefallen am Abglanz der Menschenwürde erlangen können. Doch droht sodann bei praktischer Befragung nach Funktion und Nutzen der Menschenwürde die Klage des „aber ach! ein Schauspiel nur!“. Und spätestens vor weiteren praktischen Konstellationen rechtlich-ethischer Entscheidung wird man dastehen so klug als wie zuvor. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so lautet der erste Satz des ersten Absatzes im ersten Artikel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Konzepte der Menschenwürde und die mit ihnen verbundenen Gedanken haben eine lange Geschichte aufzuweisen, die weit – wenn auch teilweise avant la lettre – bis zu philosophischen Klassikern aus vorchristlicher Zeit1  Vgl. Flammarion, L’atmosphère, S. 163: Ein Missionar erzählt, dass er den Punkt gefunden hat, wo der Himmel und die Erde sich berühren.

18

1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

rechnung zurückweist. Sie sind facettenreich; sie wirken wie Prismen, durch welche Mentalitäten, Ideologien, Psychologien unter der Perspektive von Ethik, Religion und Recht reflektieren.2 Diametral entgegengesetzt zur langen Wirkungsgeschichte des Wortes von der Menschenwürde erfolgte seine Rechtskodifizierung sehr langsam und eine nennenswerte Verrechtlichung fand erst im 20. Jahrhundert statt, in Deutschland erstmals an zentraler Stelle mit dem Grundgesetz. Zuvor war im rechtlich kodifizierten Kontext programmatisch und eher en passant von einem menschenwürdigen Dasein als Ziel der Ordnung des Wirtschaftslebens nur in Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.08.1919 die Rede. Entsprechend fand diese Erwähnung in praxi keine entscheidende Beachtung. Ganz anders der Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: Ab der erstmalig ausdrücklichen rechtlichen Inthronisierung der Menschenwürde mit Inkrafttreten des Grundgesetzes avancierte sie zum auch außerhalb der Rechtswissenschaften landläufig prominentesten, populärsten Rechtsbegriff der deutschen Verfassung und wird bis heute entsprechend häufig als Argument in öffentlichen Auseinandersetzungen, aber auch sogar im privaten, zwischenmenschlichen Bereich in Anspruch genommen. Diese Wirkungsgeschichte des Menschenwürdebegriffs mit dem Ergebnis eines exponentiellen Popularitätsschubs erst in unserer heutigen Zeit der Weltgeschichte wird als gegeben vorausgesetzt; sie kann als feststehend konstatiert werden und ist erster Grund für die Wichtigkeit einer Prüfung ihrer Bedeutung in heutigen konkreten Fällen. Indes hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Zäsur stattgefunden: Wie nie zuvor seit seiner rechtlichen Fixierung in der bundesrepublikanischen Verfassung ist der Menschenwürdesatz des Grundgesetzes von Anbeginn des neuen dritten Jahrtausends sowohl in öffentliche Diskussion als auch in die wissenschaftliche Disputation geraten. Er ist nicht mehr unumstritten; ja, er ist auch ganz offiziell umstrittener denn je geworden, er sieht sich wachsender Kritik gegenüber, er durchlebt eine Krisis; Inhalt und Funktion bedürfen je nach Ansicht in Auseinandersetzungen über seine Relevanz für konkrete Rechtsfälle entweder mehr der Klarstellung oder mehr der Verteidigung. Anlass für die Erosion einer konsensualen Abhandlung des Menschenwürdetopos außerhalb der Sicherheitspolitik waren einerseits biomedizinische Entwicklungen der im Zuge der Gentechnik forcierten Embryonen- und Zellforschung und andererseits palliativmedizinische Konfrontationen mit Fragen der durch medizintechnischen Fortschritt immer mehr expandierten 2  Vgl. zur historischen Forschung als Nachforschung der Mentalitäts- und Ideologiegeschichte: Sellin, Einführung in die Geschichtswissenschaft, S. 154–169.



A. Thematische Einführung19

Lebensverlängerung und der Möglichkeiten von Sterbehilfe. In den sicherheitspolitischen Gesprächen der Gesellschaft fand der ganz überwiegend einvernehmlich geführte Diskurs in seiner Einvernehmlichkeit ein endgültiges Ende durch realiter aufgekommene Grenzfälle von deliktischen Angriffen gegen Menschen durch Täter, die dazu über den Angriff hinausgehende Ziele gegen die Rechtsordnung zu erreichen trachteten – wie etwa in Fällen von Entführungen und Tötungen gesellschaftlicher Exponenten, Erpressungen staatlicher Institutionen und ganz generell terroristischen Bedrohungen. Hatten vor Beginn des neuen Jahrtausends alle diskursiven Behandlungen und Abhandlungen auch solcher Fälle in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft noch den Anschein des gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Konsenses für sich und der Menschenwürdesatz eine absolut konsentierte Selbstverständlichkeit, so sind Absolutheit und Gewissheit desto mehr in Auflösung begriffen, je häufiger reale Fälle konkrete Entscheidungen forderten. Die spätestens seitdem intensiv bemerkbare, babylonische Begriffsverwirrung über Menschenwürdesätze zur Lösung von konkreten Realfällen ist der zweite Grund und Anlass für diese Arbeit. Der dritte Grund ist in der überragenden Bedeutung und Wirkmächtigkeit und insoweit zumindest unbestrittenen Polizeiarbeit zu finden: So wie das Wort von der Menschenwürde die populärste Chiffre für die Bewertung des Verhältnisses von Staat und Bürger geworden ist, so ist das, was seit jeher unter dem materiellen, mit Zwangsgewalt assoziierten Polizeibegriff3 firmiert, die prominenteste staatliche Institution als politischste aller Verwaltungen, an deren Organverhalten das Verhältnis von Staat und Bürger besonders augenfällig wird und weshalb die Polizei als exponierteste Vertre­ terin des staatlichen Gewaltmonopols besonders sensibel beäugt und von gesellschaftlichen Kontrollinstanzen bewacht wird. Die staatlich-gesellschaftliche Beurteilung des dem Bürger im Staat als letzte Grenze Zumutbaren in der polizeilichen Behandlung geschieht in den öffentlichen Diskursen wiederum insbesondere unter Heranziehung des Menschenwürdesatzes. Die diskutierten Fälle der sicherpolizeilichen Praxis sind allen voran solche lebensrettender Aussageerzwingung, in ihrem Gefolge der gezielte polizeiliche Todessschuss und der lebensrettende Flugzeugabschuss mit tatunbeteiligten Passagieren an Bord, also allesamt Dreieckskonstellationen von Staat-Täter-Opfer. Dahinter steht auch ganz allgemein die Frage nach den Grenzen staatlicher Investigationsmethoden zur Bekämpfung der aggressiven Schwerkriminalität. Diese Fallkonstellationen sind aus einer eher theo3  Zum Polizeibegriff seit der umfassenden aristotelischen Staatszwecklehre über die „Polizei“ aus dem Begriff der Politeia (Werk des Platon): Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, S. 26 ff.; zur Entwicklungsgeschichte des Polizeibegriffs von der Antike bis ins 19. Jhd.: Nitschke, ZfHF 19 (1992), S. 1.

20

1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

retisch-abstrakten Betrachtungsweise herausgetreten und näher an die staatlich-gesellschaftliche Lebenswirklichkeit herangekommen. Durch tatsächlich stattgefundene, auf derartige Fälle hinweisende oder sie als möglich ankündigende Lebenssachverhalte sind die Fälle konkreter, realer, erlebter geworden. Sie sind heutzutage mehr als zu vielen anderen, früheren bundesrepublikanischen Grundgesetzzeiten in die Vorstellungswelt und Diskussionen größerer rechtswissenschaftlicher, moralphilosophischer, gesellschaft­ licher Kreise gelangt. Diese Fälle sind Anlass für die vorliegende Arbeit, die Menschenwürdesätze4 auf den Prüfstand zu stellen, nach allen Seiten und aus allen Perspektiven zu konturieren. Dies einerseits für alle ohnehin eindeutigen Fälle und vor allem eingedenk der Tatsache, dass ethische Theorien und moralische Sätze, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik ohne Ernstfall schwache bis untaugliche sind.5 Damit sind diese Fälle und ihre Bewältigung zugleich letztgültiges Kriterium für die Bewährung bestimmter Lesarten des Art. 1 des Grundgesetzes. II. Forschungsstand Es gab Zeiten, da wurde die Menschenwürde entsprechend ihrer landläufigen Popularität lebenspraktisch oft bemüht. Doch dies geschah ohne dogmatische wie weltliche Schmerzen. In Lehrbüchern herrschte die Rede von der „Folter“ als allgemeines Beispiel für schlechthin unter allen Umständen unzulässige Verhaltensweisen staatlicher Organe – oft ohne jede weitere rechtsethische wie rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem Menschenwürdesatz und ohne weitere Kommentierung.6 Mittlerweile sind Einschläge von menschenwürderelevanten Fällen langsam, aber immer näher an die rechtswissenschaftlichen und moralphilosophischen Debattierzirkel gerückt, was mehrere Katalysatoren haben mag: Zum einen die verstärkte 4  Zu weiteren zahlreichen Versuchen einer Konkretisierung des Menschenwürdebegriffs durch verschiedene Zeitläufte und aus unterschiedlichen Perspektiven: Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 28. 5  Vgl. zum Kriterium des Ernstfalls als Prüfstein: Heidegger, Sein und Zeit, § 3, wonach das Niveau einer Wissenschaft sich daraus bestimmt, wie weit sie in einer Krisis ihrer Begriffe fähig ist. 6  Nicht aus einem Lehrbuch, sondern aus der erweiterten Fassung eines am 24.11.1982 vor der Berliner Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrags: Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 46: „Die grundrechtlichen Schutzpflichten, die dem Staat zugunsten des Opfers obliegen, können niemals Eingriffe rechtfertigen, die mit den Status-negativus-Grundrechten des Adressaten schlechthin unvereinbar sind: etwa ungesetzliche Festnahme oder körperliche oder seelische Misshandlung. Die Folter bleibt für die Polizei und Justiz auch dann verboten, wenn sie das einzige Mittel wäre, um ein Menschenleben zu retten.“



A. Thematische Einführung21

Koinzidenz von realen, tatsächlich sehr differierenden Fällen7, zum anderen ihre massenhaftere Verbreitung in der Welt durch immer mehr und größer gewordene Medien, in ihrem Gefolge vielleicht tatsächlich vorhandene, medial vermittelte oder produzierte Mehrheitsvorstellungen, die sich auf vielen Kanälen zur Stellungnahme veranlasst sehen. 11. September (2001), Frankfurter Kindesentführung (27.09.–01.10.2002), Moskauer Theater (23.10.–26.10.2002), Renegade (z. B. Frankfurter Bankenviertel, 05.01.2003), Abu Ghuraib (2003), Madrid (11.03.2004), London (07.07.2005), Kölner Kofferbomben (31.07.2006), Sauerland-Gruppe (2007), Mumbai (26.11. 2008), Charlie Hebdo / Paris (07.01.–09.01. / 13.11.2015), zur Debattenkultur auch: Dreier (Januar bis 18. April 2008)8, usw. mögen als Chiffren für die Anker und Facetten der Debattenkultur genügen. Darüber hinaus sollte man unter anderem dieses historische Teilwissen zur rechtsethischen Diskussionsentwicklung eben auch präsent haben, wenn man die Anzahl und dogmatische Tiefe der rechtswissenschaftlichen Aussagen zum Thema auslegt.9 Auch verlieren durch die Häufung der zu diskutierenden Fälle Argumente an Glaubhaftigkeit, die Fälle seien irreal.10 Diese Arbeit geht mit ihrem zu Beginn beschriebenen historischen, mentalitätsgeschichtlichen Befund einer bundesrepublikanischen Zäsur zu Beginn des 21. Jahrhunderts davon aus, dass Publikationen davor und danach bezüglich ihres je verschiedenen diskursiven Entstehungskontexts anders zu werten sind, nämlich jene mit einer widerleglichen Vermutung abstrakt-generalisierender-deduzierender Theorie jedenfalls bezüglich der neu ins Bewusstsein getretenen Fälle und von Vorstellungen anderer Phänomene und diese mit einer widerleglichen Vermu7  Zur öffentlichen Bewertung zeitlich koinzidierender, tatsächlich differierender Fälle auch: Jerouschek, JuS 2005, S. 296, wonach der Polizeivizepräsident Daschner wegen der Gleichzeitigkeit der gerichtlichen Verhandlung seines Falls 2004 und der öffentlichen Verhandlung der Vorkommnisse von Abu Ghuraib einfach „Pech“ gehabt habe. 8  Anlässlich Dreier, GG-Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 133, worin nur zu Bedenken gegeben wurde, dass in Fällen wie den in dieser Arbeit zum Anlass genommenen die Rechtsfigur rechtfertigender Pflichtenkollision nicht von vornherein ausgeschlossen werden könnte. 9  Zum historischen Wissen auch gehörend das frühere Ansprechen von sog. „ticking-bomb“-Szenarien bei: Albrecht, Der Staat – Idee und Wirklichkeit, S. 172 ff., 1976; und bei: Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, S. 1–27, 1993, Publikation eines an der Heidelberger Universität im Jahre 1992 gehaltenen Vortrags. 10  So noch: Schlink, HFR 4/2004, S. 50, Rn. 21 ff.; dagegen z. B. Schmidt, Grundrechte, Rn. 233: Fälle wie der 11. September 2001, Madrid 2004, London 2005, oder der Frankfurter Entführungsfall Jakob von Metzler oder der Fall der Entführung von Matthias Hinze und dessen Sterben in einem Erdloch im September 1997 bewiesen den Realitätsgehalt. Schmutzige Bomben aus den Zeitbombenbeispielsfällen seien relativ einfach herzustellen, was ihre Verwendung nicht unwahrscheinlicher mache.

22

1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

tung tieferen Bewusstseins für die in den neu erkannten Fällen konkret aufgekommenen und zu entscheidenden Probleme. Das Grundgesetz und sein Menschenwürdeartikel entstanden in der zweiten Hälfte eines Dezen­ niums nationalsozialistischer Gewalt- und Willkürherrschaft gleichsam ex negativo zu dieser; der neue, anhaltende Streit um die Menschenwürde entfachte im darauffolgenden, neuen Millennium anlässlich von Fällen, in denen eben nicht der Staat zunächst alleiniger Täter war, sondern er diesmal vor der Frage stand, was seine Organe gegen kriminelle Menschen im Staat ausrichten dürften und was sie zu unterlassen hätten. Beide im Hintergrund der Interpretationen herrschenden Hauptmotivmuster sind mit Respekt zu würdigen und möglichst so zu vereinigen, wie es der zunächst in dieser wissenschaftlichen Untersuchung auszuarbeitende Wahrheitsbegriff menschenmöglich macht. Würde diese Arbeit nicht wenigstens im Ansatz diese Annahmen zugrundelegen, wäre sie bei der Quellenkritik inkonsequent in der Berücksichtigung mentalitäts- und ideologiegeschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse. In der Publikationsfrequenz manifestiert sich der allgemein erkannte Forschungsbedarf zu Fällen, in denen die Menschenwürde als relevant angesehen wird. Also besteht wohlbemerkt von veröffentlichten Aussagen über Menschenwürdebegriffe kein Mangel.11 Uneinigkeit und ungezählte differierende Ansätze bestehen sowohl in den Schwerpunktsetzungen einzelner Publikationen zu den Quellen und Inhalten des modernen Menschenwürdebegriffs als auch über die rechtsdogmatische Einordnung des Menschenwürdeartikels des Grundgesetzes.12 Für den polizeilichen Bereich sind zwar die bestimmte Menschenwürdeaussagen als fraglich erscheinend lassenden Fälle diskutiert worden, aber weder ist dies zusammenhängend in einer alle Fälle und ethische wie rechtliche Aspekte zusammenführenden Abhandlung noch mit konsistenten Folgerungen für ein übergreifendes Menschenwürdeverständnis geschehen, das flächendeckend mit polizeiinternen und außerpolizeilichen Fällen belastbar ist. Zu konstatieren bleibt der auch von den Anhängern eines absoluten Verständnisses der unantastbaren Menschenwürde nicht mehr bestrittene Ausgangsbefund für diese Arbeit, dass das Verständnis der Menschenwürde des Grundgesetzes als absolut, also im wahrsten Wortsinn uneingeschränkt jegli11  Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, zählte allein für die Jahre 2006 bis 2009 im Abschnitt „Grund- und Menschenrechte“ der Karlsruher Juristischen Bibliographie zum Begriff der Menschenwürde 135 Publikationen, zum Begriff der Folter 48. 12  Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 131, konstatieren, dass „inzwischen (fast) alles“ be- und umstritten ist, einschließlich der überkommenen Kategorien der Grundrechtsdogmatik.



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik23

chen Falles vollkommen unantastbar, vermehrt Widerspruch erfahren hat13; die Anhänger einer Relativierung des Verständnisses des Menschenwürdesatzes im Grundgesetzes halten angesichts der in der Polizeipraxis aufgetretenen Fälle das Konzept absolut unantastbarer Menschenwürde selbst für widersprüchlich. Wertvolle Schritte hin zu einem konsolidierten Menschenwürdekonzept würden darin bestehen, Widersprüche aufzudecken, ihre Gründe zu kennen und Elemente sich widersprechender Theorien womöglich zu einem sinnhaft übergeordneten Konzept wieder zusammenzuführen.

B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik I. Untersuchungsfragestellungen Leitende Untersuchungsfragestellung soll sein, mit welchen rechtlichethischen Entscheidungen die Fälle polizeilicher Praxis angesichts des Menschenwürdeartikels des Grundgesetzes zu beurteilen, zu bewältigen und zu lösen sind. Daraus ergeben sich insbesondere folgende leitende Untersuchungsfragestellungen: • Welche Rolle spielen Recht und Ethik füreinander und in welchem Verhältnis stehen sie bei dem Menschenwürdeartikel des Grundgesetzes? • Welche ideengeschichtlichen Gehalte impliziert die Menschenwürde? • Welche rechtsdogmatischen Funktionen hat der Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes? • Wie ist die Menschenwürde des Grundgesetzes angesichts der Fälle polizeilicher Praxis zu verstehen? • Wie sind die Fälle polizeilicher Praxis angesichts des Menschenwürdeartikels des Grundgesetzes zu beurteilen und zu lösen? Zur finalen Beantwortung der vorigen Frage sind unter anderen folgende Unterthemen zu behandeln: • • • •

Das gesetzliche Rechtsfeld der Grenzfälle polizeilicher Praxis Der „Folter“-Begriff Das Dammbruchargument Die Positionen von Tugendethik, Deontologie und Konsequentialismus im Zusammenhang mit dem Verständnis der Menschenwürde des Grundgesetzes

13  Vgl. den rechtstatsächlichen Befund von Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, in: FAZ v. 03.09.2003, Nr. 204, S. 33.

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1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

• Die vermittelnden Differenzierungsansätze zwischen Verfassungsrecht und Strafrecht • Der Rechtsstaatsbegriff • Die staatliche Schutzpflicht • Bisherige Rechtsanwendungspraxis und rechtstheoretischer Ausblick Als Ergebnisse dieser Arbeit sollen anhand der Ideengeschichte, der rechtsdogmatischen Auslegung und der Exemplifizierung anhand polizeipraktischer Fälle Bilanzen der bisherigen Rechtspraxis gezogen, ein Ausblick und ein Vorschlag für das zukünftige Verständnis und die Anwendung des Menschenwürdesatzes in Verbindung mit den jeweiligen Rechtsfeldern gegeben werden. II. Methodik, Zweck und Nutzen 1. Methodik Um die Menschenwürde des Grundgesetzes auf den Prüfstand in den Fällen polizeilicher Praxis zu stellen, muss eine Bestandsaufnahme der Implikationen des Menschenwürdesatzes durchgeführt werden. Dies wird erreicht erstens durch Rekapitulation und Nachvollzug prägender ideengeschichtlicher Quellen und Strömungen, zweitens durch eine Zusammenschau möglicher rechtswissenschaftlicher Auslegungsansätze. Die Beiträge, in denen die den Menschenwürdesatz als fraglich erscheinend lassenden Fälle aus dem polizeipraktischen Bereich diskutiert wurden, werden im Sinne einer Zusammenführung für eine Bestandsaufnahme und einer Prüfung der Belastbarkeit von Menschenwürdevorstellungen und im Ergebnis für eine rechtmäßige Lesart des Grundgesetzes berücksichtigt. So besteht diese Arbeit aus einem überwiegend abstrakten, notwendig grundlegenden ersten Teil und einem auf die entscheidenden Fälle konkretisierten Ergebnisteil, der sich der im ersten Teil gewonnenen Erkenntnisse bedienen und sie mitsamt dem einfachen Recht zu Ergebnissen als Lösungen der polizeirelevanten Fälle verarbeiten wird. Im ersten Teil werden die Voraussetzungen für ein erkenntnistheoretisch möglichst wahrheitsgemäßes Menschenwürdeverständnis gelegt. Im zweiten Teil wird zu sehen sein, inwieweit die im ersten Teil gewonnenen Erkenntnisse für die Lösung der umstrittenen Fälle in Verbindung mit dem einfachen Recht aus der polizeilichen Praxis fruchtbar zu machen sind. Der Grundlagenteil ist erstens durch die Standards wissenschaftlich-methodischer Vorgehensweise und zweitens durch die trotz kurzer Verrecht­ lichungsperiode lange und voraussetzungsreiche Ideengeschichte der Men-



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik25

schenwürde bedingt. Es wird Aufgabe dieser Arbeit sein, zu überprüfen, inwieweit an die voraussetzungsreiche Geschichte des Menschenwürdewortes und der Menschenwürdebegriffe sich konkrete Folgen für die heutige rechtsstaatliche Praxis polizeilicher Arbeit knüpfen. Dass das Wort von der Menschenwürde die meiste Zeit ihres Gebrauchs keinen Eingang in Rechtskodifikationen fand, indiziert schon seine grundlegendere, philosophische Dimension und führt zu der Notwendigkeit, vor einer finalen rechtsdogmatischen Lösungsfindung das Vorliegen und den Umfang etwaiger ethischer Implikationen aus der Ideengeschichte herauszudestillieren und auf ihre Verwertungsfähigkeit zu prüfen, um sie im zweiten Teil gegebenenfalls zu verwerten. Erst nach einer ersten Bestandsaufnahme des ideengeschicht­ lichen ethischen Gehalts werden die rechtsdogmatischen Funktionspoten­tiale des Menschenwürdesatzes dargestellt. Diese werden ermittelt über eine Analyse der rechtswissenschaftlich diskutierten Auslegungsmethoden und Verständnismöglichkeiten gerade in Bezug auf die in der juridischen Praxis besonders behandelte Menschenwürde. Am Ende des ersten Teils soll eine erste abstrakte, allgemeingültige Begriffsbestimmung der Menschenwürde für einen rechtsethisch praktischen Gebrauch für alle Fälle stehen und damit auch für die hier den Anlass bietenden Fälle polizeilicher Praxis. Nach der Grundlegung des ersten Teils werden alle darin gewonnenen Erkenntnisse konkretisiert auf die darzustellenden Fälle mitsamt dem einfachen Recht angewendet. Dabei werden viele der bisher vertretenen und nach dem im Laufe dieser Untersuchung gewonnenen, also weiterhin möglichen Argumente aus den verschiedenen Diskursen konkret auf die diskutierten Fälle angewendet sowie in teils erstmaliger Kombination mit dem einfachen Recht in eine Entscheidung überführt. Damit finden auch die in den Debatten vorfindlichen, ethischen Denkmuster der Tugendethik, der Deontologie und des Konsequentialismus Berücksichtigung. Immer wiederkehrende Argumente changieren zwischen den juristischen Teildisziplinen von Verfassungs- und Strafrecht und kreisen um den Folterbegriff, die Erwartung von Dammbrüchen und die Reichweite von staatlichen Schutzpflichten. Sie werden in die konkreten Falldiskussionen an den jeweils entscheidungserheblichen Stellen eingebracht und mit dem während der Arbeit gewonnenen Erkenntnissen einer genaueren argumentativen Analyse unterzogen. 2. Zweck und Nutzen Dem methodischen Vorgehen liegen grundlegende, auch für den normativen Bereich geltende, wissenschafts- und erkenntnistheoretische Annahmen zugrunde, die an ihrem Erkenntnisgegenstand bewusst und explizit gemacht werden müssen:

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1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

Wissenschaft wird angesehen als jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form ausgehend von Aussage- und sonstigen Kenntnisbeständen und mit Methodik nach allgemeingültigen, gehaltvollen Wahrheiten forscht und ihre dabei gewonnenen Erkenntnisse anhand objektiver Kriterien für grundsätzlich jedermann intersubjektiv empirisch nachprüfbar lehrt.14 Jeder wissenschaftlich erstrebte Erkenntnisprozess hat mit skeptizistischen (Ab-)Gründen15 und den aus ihnen verbleibenden Möglichkeiten der Ableitung von oder der Hinleitung zu Erkenntnissen sich auseinanderzusetzen und diese Möglichkeiten für die praktische Wirksamkeit der Ergebnisse im wissenschaftlich-gesellschaftlichen Diskurs auszuschöpfen. Die in den Diskursen16 erfolgende offizielle Beanspruchung17 der Wahrheit als obersten Erkenntnisziels der Wissenschaft ersieht die vorliegende Arbeit pragmatisch18 als nicht redundant19. Sie versteht Wahrheit in hier ausreichender, approximativer, möglichst verträglicher Zusammenlesung von wissenschaftshistorisch praktisch bedeutsamen Wahrheitstheorien als die Korrespondenz zwischen subjektiven Tatsachenbildern20 und einem betrachteten Objekt21 in einem auch sonst kohärenten22 Kontext23 mit prakti14  Statt aller – hier verträglich zusammengeführten – wissenschaftstheoretischen Lesarten vgl. nur aus der Praxis der Rechtswissenschaft: BVerfGE 35, 79, 113 (Hochschulurteil). 15  Zum hier durch das Ansprechen von Tropen der Skepsis offenzulegenden epistemologischen Problem jeder wissenschaftlichen Arbeit und zu den für einen Grad praktischer Gewissheit am besten brauchbaren antiskeptizistischen Ansätzen, grundlegend: Sextus Empiricus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis; vgl. dazu auch für die Moderne weiterführend und deutschsprachiger Provenienz: Albert, Traktat über kritische Vernunft. 16  Zum philosophischen Hintergrund der Diskurse siehe die Auswahl aus Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert bei: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien. 17  Habermas, Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach, Wirklichkeit und Reflexion, S. 218. 18  Vgl. Peirce, Popular Science Monthly, 12, 1877, S. 1–15; ders.: Collected Papers V, Abschnitt 375, Anm. 2. 19  So aber die Redundanztheorie seit Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 100. Band, 1892, S. 34, darin das gewählte Beispiel: „Man kann ja geradezu sagen: ‚Der Gedanke, daß 5 eine Primzahl ist, ist wahr‘. Wenn man aber genauer zusieht, so bemerkt man, daß damit eigentlich nicht mehr gesagt ist, als in dem einfachen Satz ‚5 ist eine Primzahl‘.“ 20  Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung), Nr. 2.1. 21  Thomas von Aquin, Summa theologica, I (prima pars), q. 21 a. 2 „adaequatio intellectus ad rem“, „adaequatio rei ad intellectum“; ders.: Quaestiones disputate de veritate, q. 1 a.1: „adaequatio rei et intellectus“. 22  Rescher, The Coherence Theory of Truth. 23  Der neue Realismus spricht von Sinnfeldern, vgl. Gabriel, Der neue Realismus.



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik27

scher Wirkung. Das Adäquationsverhältnis dieser kohärenten Korrespondenz kommt in Eigenschaften von Sätzen zum Ausdruck24, die Aussagen enthalten, und beweist sich praktisch in der Wirklichkeit durch Widerspiegelung, Wirkung, Bemächtigung25 in, durch und über solche Sätze.26 Die Stimmigkeit und Stärke des Ausdrucks, also die Widerspruchsfreiheit und Überzeugungskraft der Aussagen im jeweiligen Kontext inklusive der in Bezug genommenen realen Erscheinungen, also hier der polizeipraktischen Fallkonstellationen, bestimmt ganz wesentlich das faktische Bild der Adäqua­ tion. Insofern ist Wahrheit jedenfalls in der diesseitigen, menschlichen Welt in einer Art normativen Kraft des Faktischen relativ, weil abhängig von den Erkenntnismöglichkeiten und von den jeweiligen Lebenssachverhalten. Sie entsteht in Beziehung zu Paradigmen27 und Perspektiven28. Unabhängig von der Frage, ob Wahrheit erst durch den Menschen konstituiert wird, wird Wahrheit jedenfalls in der diesseitigen sozialen Welt vom Menschen durch Interpretation und Symbole wahrgenommen.29 Menschliche Erkenntnis und Umweltbedingungen wirken wechselbezüglich aufeinander ein. Der trotz unsicherer, interpretatorischer, perspektivischer und relationaler Bedingungen Wahrheit nennbare Erkenntniszustand unterscheidet sich von bloßen Meinungen durch die vom Äußernden weitgehend unabhängige, weitreichend schlüssige Nachprüfbarkeit im Hinblick auf bestimmte, gehaltvolle Ergebnisse anhand anerkannter Methoden. Die Ethik und die Jurisprudenz sind in dieser Welt auf Beurteilungen und Entscheidungen realer Sachverhalte angelegte, praxisbezogene Wissenschaften. Die praktische Welt ist alles, was der Fall ist30; der Fall ist das Beste24  Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: Studia Philosophica Commentarii Societatis philosophicae Polonorum, Bd. I, S. 268. 25  Marx, Thesen über Feuerbach, 2. These. 26  Neben ethisch-moralischen Erwägungen erweist sich das Ausgerichtetbleiben am Erkenntnisziel der Wahrheit auch in Bezug zur profanen Rechtspraxis als berechtigt, vgl. BVerfG, 2 BvR 1750/12 vom 12.12.2012, wonach das Interesse an der Wahrheit zu den richterlichen Amtspflichten zählt und das Zeigen fehlenden Interesses an der Wahrheit auch trotz des Beibringungsgrundsatzes im Zivilprozess die Besorgnis der Befangenheit begründen und den Anspruch auf den gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 I 2 GG verletzen kann. 27  Zu den Entwicklungen von theoretischen Strukturen und Wahrheiten Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, und zu dem darin gelegten wissenschaftshistorischen und -philosophischen Modell von epistemologischen Normalzuständen, Krisen, Paradigmen, Revolutionen: Chalmers, Wege der Wissenschaft, S. 87–106. 28  Vgl. den Perspektivismus bei: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 365, Nr. 12. 29  Vgl. Blumer, Symbolischer Interaktionismus – Wissenschaft der Interpretation, ebenda insbesondere 3. Aufsatz. 30  Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung), Nr. 1.

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1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

hen von Sachverhalten31 und Sachverhalte sind logisch bearbeitbare Verbindungen von Gegenständen, Sachen und Dingen.32 Alle Elemente des Erkenntnisprozesses machen das holistisch33 Ganze und dienen erst vollkommen der Approximation an das oberste Erkenntnisziel der Wahrheit, dem möglichst gegenstandsadäquaten Erkennen zwecks praktischem Fortschritt in diesseitigen menschlichen Dingen. Das Verfahren zur Verwirklichung dieses Ziels ist das der zumindest probabilistischen Verifizierung oder Falsifikation. Verifizierung ist der Nachweis der Wahrheit einer Aussage; spiegelbildlich dazu Falsifikation der Nachweis der Falschheit einer Aussage. Aussagen sind in Sätzen enthalten. Die Falsifikation erfolgt durch den Nachweis von Widersprüchen innerhalb eines Systems oder zu grundlegenden Axiomen des Systems; ihr logisches Ergebnis ist die Falschheit der Aussage. Der Nachweis erfolgt im System der formalen Logik durch strenge Beweisführung; in der allgemeinen wissenschaftlichen Praxis – auch der des Rechts und der Ethik – kann der vorläufige Nachweis ebenfalls durch Bestätigung der Aussage mittels deren plausibler Einfügung in Form eines Satzes in ein Aussagen- und Argumentationssystem erfolgen. Das holistische und immer auch hermeneutisch34 zu verstehende Ganze des Aussagensystems aus Rechtssätzen, Rechtsaussagesätzen und Fallbeschreibungen hat eine zwingende logische Grundkomponente: Eine Hypothese und ein System an Hypothesen – etwa einer rechtswissenschaftlichen oder ethischen Disziplin – sind falsifizierbar genau dann, wenn es eine endliche und konsistente Menge an Beobachtungssätzen – etwa aus einem empirischen Bereich staatlich-polizeilichen Verhaltens – gibt, aus denen die 31  Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung), Nr. 2. 32  Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung), Nr. 2.01. 33  Bezeichnung nach: Smuts, Holism and Evolution. Holistisches Denken selbst schon vertreten seit den Vorsokratikern der ionischen Naturphilosophie und als tragendes Motiv und Argument angelegt bei: Platon, Parmenides, 157c–e; ders.: Theaitetos, 207a; für die Moderne erkenntnistheoretisch aufgegangen in der sog. ­ Duhem-Quine-These, vgl. Quine, The Philosophical Review 60 (1951): S. 20–43, mit Kritik des erkenntnistheoretischen Reduktionismus und Kritik der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Sätzen. 34  Vom Griechischen ἑρμηνεύειν, hermeneuein: übersetzen, erklären, deuten, interpretieren, vgl. Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 412; Schmidt/Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  309 f., m. w. N.; Hügli/ Lübcke/Bafandi, Philosophielexikon, 385 f., m. w. N.; zur hermeneutischen Methode: Balzer, Die Wissenschaft und ihre Methoden, S. 299–312; grundlegend zur Hermeneutik allgemein: Gadamer, Wahrheit und Methode; für die Fachwissenschaft des Rechts: Seiffert, Hermeneutik – Die Lehre von der Interpretation in den Fachwissenschaften, S. 17–34.



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik29

Negation von Hypothese oder Hypothesensystem logisch folgt; umgekehrt sind eine Hypothese und ein System verifizierbar genau dann, wenn es eine endliche und konsistente Menge an Beobachtungssätzen – etwa aus einem empirischen Bereich staatlich-polizeilichen Verhaltens – gibt, aus der das Hypothesensystem oder die Hypothese logisch folgt; das Hypothesensystem ist zumindest bestätigbar respektive schwächbar genau dann, wenn es eine endliche und konsistente Menge von Beobachtungssätzen gibt, welche die Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität des Hypothesensystems erhöht respektive erniedrigt.35 Eine ethische oder eine rechtswissenschaftliche Disziplin bildet den systematischen, heuristischen Rahmen für sowohl Deduzierungen aus Sollenssätzen hin zu Aussagen über Sollenssätze angesichts konkret-individueller Lebenssachverhalte aus einer Erfahrungssatzmenge als auch für induktive Einführungen von Aussagesätzen aus empirischen Lebenssachverhalten einer Erfahrungssatzmenge in das disziplinäre System. Erfahrungssätze enthalten Aussagen des Erfahrungswissens über eine Mehrzahl gleichartiger Wahrnehmungen von demjenigen, was immer oder mit großer Wahrscheinlichkeit geschieht. Struktur und Eigenschaft der Erfahrungssätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf alle Gegenstände eines Bereiches oder eine ausreichend große Anzahl von Gegenständen eines Bereiches beziehen.36 Die Erfahrungssatzmenge bezieht ihren Gehalt aus den in dieser Einleitung angesprochenen Fallkonstellationen des realen Gegenstandsbereichs staatlich-polizeilicher Tätigkeit. Die neu und verstärkt ins Bewusstsein getretenen Fallkonstellationen polizeilicher Praxis müssen mit adäquaten Aussagen in den ethischen und rechtlichen Disziplinen und deren Aussagesystemen verarbeitet werden. Die Verarbeitung muss derart erfolgen, dass die Fallkonstellationen adäquat beschrieben sind und die Aussagen über die in diesen Fallkonstellationen relevanten Sollenssätze sowie die übrigen Aussagesätze der disziplinären Aussagesysteme sich wechselseitig plausibel fügen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit des Wahrheitsgehaltes der im Laufe dieser Arbeit gewonnenen Menschenwürdekonzeption signifikant erhöht. Die rechtlichen und ethischen Systemelemente und die aus den Lebenssachverhalten gewonnenen Aussagen fungieren also wechselseitig als Verifikatoren oder Falsifikatoren. Von Einzelfällen der Vergangenheit auf eine allgemeine Regel für die Zukunft zu schließen ist logisch nicht zulässig.37 Schurz, Wissenschaftstheorie, S. 98. Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 344. 37  Im Hinblick auf die wissenschaftstheoretischen Arbeiten paradigmatisch für das Falsifikationsprinzip der Moderne: Popper, Logik der Forschung, Abschnitte 1 und 6.; der Gedanke ist freilich früher im wissenschaftlichen Diskurs vorhanden: 35  Vgl.

36  Herberger/Simon,

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1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

Doch der Einzelfall wird gebraucht, um ihn auf Relevanz für eine Aussage oder ein Aussagensystem zu untersuchen und um Aussage oder Aussagesystem auf ihre Funktionen und Wirkungsweisen zu untersuchen, auch auf den aufgetretenen Einzelfall Anwendung zu finden, ihn verarbeiten zu können. So ist Stärke, also paradigmatische Überzeugungskraft einer Aussage oder eines Aussagensystems etwa einer ethischen oder rechtlichen Disziplin durchaus positiv zu konstatieren, wenn es möglichst viele Einzelfälle aus einer Erfahrungssatzmenge einheitlich zu verarbeiten vermag, ohne dass gleich aufgrund eines einzelnen Falles das ganze System überfragt und somit – wie neuerdings beim grundgesetzlichen Menschenwürdeartikel – infragegestellt ist. Die Aufnahmekapazität von Aussagesystemen ist Kristallisationspunkt für die Fähigkeit, nach ihrer Verarbeitung Fallentscheidungen für wahr halten zu können. Schwach müssen demzufolge Aussagen oder Aussagesysteme – wie etwa solche zur Menschenwürde – jedenfalls dann erscheinen, wenn sie sogar mit Fällen aus einem grundsätzlich affinen Lebensbereich – wie dem staatlich-polizeilichen – fremdeln. Jedenfalls ist nach beiden Nachweisrichtungen von Verifizierung und Falsifikation, nach beiden Denkrichtungen von Deduktion und Induktion von überragender Bedeutung die prinzipielle quantitative Abfragbarkeit und generelle kohärente Verarbeitungsfähigkeit des Systems auf alle im ethisch und rechtlich zu steuernden Lebensbereich in Erfahrungssätzen auftretenden Lebenssachverhalte. Weiterhin wird angenommen, dass isoliert betriebene Induktion keine stabile Wissenserweiterung auf gesetzesartige Aussagen erwirken kann, weshalb kein Anspruch erhoben werden kann, durch die induktiven Elemente der Arbeit allein inhaltlich allgemeingültige Aussagesätze zu erreichen.38 Wohl aber können induktive Einspeisungen aus ethisch-rechtlich relevanten Lebensbereichen ins Aussagensystem hinein dessen Suffizienz für die Gesamtheit potentieller Lebenssachverhalte testen. Als Ergebnis des Inputs kann das Attest stehen, dass die Wahrscheinlichkeit der Aussagenwahrheit eine signifikante Erhöhung erfahren hat. Die Wahrscheinlichkeit ist der größte wissenschaftlich-rationale Indikator für den Grad von Wahrheitsgemäßheit. vgl. z. B. Weismann, Über die Berechtigung der Darwin’schen Theorie. Leipzig 1868, S. 14 f.: „lässt sich eine wissenschaftliche Hypothese zwar niemals erweisen, wohl aber, wenn sie falsch ist, widerlegen, und es fragt sich deshalb, ob nicht Thatsachen beigebracht werden können, welche mit einer der beiden Hypothesen in unauflöslichem Widerspruch stehen und somit dieselbe zu Fall bringen.“; Poppers Asymmetriethese, wonach Gesetzeshypothesen nicht verifizierbar, aber falsifizierbar sind, im Vergleich mit anderen Sätzen auf strikte raumzeitlich unbeschränkte empirische Allhypothesen reduzierend: Schurz, Wissenschaftstheorie, S. 98. 38  Hume, A Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur), I, 3, 6.



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik31

Im Ergebnis kann sich also eine Aussage, ein Aussagensystem, oder eben auch oder gerade damit ein Menschenwürdesatz mit einem ganz bestimmten Aussagegehalt induktiv bewähren. Aus dem als wahrscheinlich wahrheitsgemäß angesehenen Aussagensystem können wiederum für die Zukunft weitere Aussagen deduziert werden. Diese Aussagen weisen aufgrund ihrer Ableitung aus dem probabilistisch wahrheitsgemäßen Aussagensystem eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Wahrheit. Diese Arbeit geht also aus von der Annahme, dass die Güte rechtlicher und ethischer Sätze sich nicht unbedingt in ihrer einfachen Abstraktheit und stringenten Begrifflichkeit beweist.39 Sondern die Sätze müssen umgekehrt in Abgleich mit den konkret drängenden Fällen in einem deduktiv-induktiven Gegenstromverfahren falsifiziert respektive verifiziert werden. Mithin kann sich eine nach wissenschaftlicher Methodik bestimmte Lesart des Menschenwürdesatzes, die es auch angesichts der polizeipraktischen Fallkonstellationen wahrscheinlicher macht, stimmige und überzeugende Aussagen zu generieren, als wahrheitsgemäßer oder – profaner formuliert – als rational-realistischer erweisen. Es wird zum Beispiel zu sehen sein, welche Funktion die Menschenwürde in der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes übernimmt und ob der Menschenwürdesatz im Aussagensystem wahrscheinlicher absolut zu verstehen ist oder wahrscheinlicher einer Abwägung mit anderen Aussagen bedarf, um als wahrheitsgemäß zu gelten. Das Aussagensystem ist in dieser Arbeit wissenschaftlich interdisziplinär angereichert aus den Disziplinen von Recht und Ethik. Ideengeschichte und Auslegung fördern notwendig Ansätze ethischer und rechtswissenschaftlicher Provenienz zutage. Das Arbeitsziel einer ergebnisorientierten Zusammenführung für eine rechtspraktische und ethisch vertretbare Anwendung des Art. 1 GG fordert ihre interdisziplinäre Verarbeitung hin zu einem einheitlichen und auch für die Fälle polizeilicher Praxis vertretbaren Verständnis. Die interdisziplinär-methodologische Kombination trägt zur Triangulation zwischen mehreren Methoden („between-method“ statt „within-method“) im Arbeitsprozess bei.40 Hier erfährt der Umstand, dass während der Untersuchung aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geschöpft wird und verschiedene Sichtweisen Anwendung finden (Theorien-Triangulation), seine methodologische Entsprechung. Die von Anfang an und durchgehend verfolgte komplementäre Zusammenschau von Recht einerseits und Ethik andererseits erhöht die Plausibilität der dabei gewonnenen Ergebnisse im mindestens probabilistischen Sinne einer Erhöhung des Wahrscheinlichkeitsgrades ihrer Wahrheit.41 Begriffsschemata Davidson, Wahrheit und Interpretation, S. 261–282. Flick, Qualitative Sozialforschung, S. 218, 519. 41  Schurz, Wissenschaftstheorie, S. 28. 39  Gegen 40  Vgl.

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1. Teil: Thematische und methodische Grundlagen

Ideengeschichte und Auslegung aus Ethik und Recht müssen vereint erörtert werden, weil sonst das Wort von der Menschenwürde in Inhalt und Gebrauch nicht geklärt werden kann. Denn während das Wort längst ausgesprochen respektive aufgeschrieben ist, ist die mit ihm verbundene Vorstellung noch lange nicht offengelegt. Weil Worte nur die Sprachzeichen sind für die Vermittlung einer Vorstellung, die erst den Begriff macht von dem, was ein Wort bedeutet.42 Begriffen ist also etwas erst, wenn der Bedeutungsinhalt feststeht. Subsumiert jemand einem Wort bestimmte Vorstellungsinhalte, bestimmte Merkmale, so hat er sich einen Begriff gemacht. Hat sich jemand einen Begriff gemacht, so hat er etwas begriffen, so hat er eine bestimmte Bedeutung beigemessen. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass Menschen und Disziplinen aneinandervorbeireden, sich missverstehen, Dinge ihnen etwas Unterschiedliches und Verschiedenes bedeuten können. Das Nichtbewusstmachen dieser Differenz von Worten und Begriffen verschärft bei den Diskutanten und Disputationen das Problem, wenn nicht begriffen wird, warum die andere Seite sie partout nicht verstehen will. Es kann das Anfangssymptom des Missverständnisses oder des Missverstehens bis hin zu weiteren Unterstellungen steigern. Grundsätzlich und für theoretische Zwecke kann jedermann zur Beschreibung der Realität Begriffe beliebig definieren.43 Diese Arbeit will nicht Begrifflichkeiten aufgesessen sein, die vorzeitig den Verstand mit den Mitteln der Sprache verhexen.44 Deshalb soll sie nicht bei Worten stehen bleiben und sich nicht mit einer Art Begriffsjurisprudenz begnügen, sondern möglichst das ganze Interpretationsrepertoire abschöpfen.45 Bisher wurden die entscheidenden Fälle der polizeilichen Praxis unter dem Topos der Menschenwürde oft in einem Atemzuge genannt, miteinander vermengt und vorschnell gleich bewertet, gelöst und beurteilt. Das Zusammenführen der Fälle und ihr gemeinsames Verhandeln sub specie Menschenwürde in dieser Arbeit fördert das Verständnis für Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen ihnen. Diesem geförderten Verständnis entspringen entsprechend differenziertere Folgerungen für die staatsorganschaftlichen Verhaltensweisen. Interessant wird zu sehen sein, wie es sich auf das Verständnis der Menschenwürde auswirkt, wenn man Fälle einbezieht, die keine körperliche Einwirkung oder deren Ankündigung auf Menschen voraussetzen, sondern Fragen der staatlich-polizeilichen Auf42  Instruktiv zu Begriffsworten und Begriffsvorstellungen: Orthbandt, Geschichte der grossen Philosophen und des philosophischen Denkens, S. 431 f. 43  Puppe, Schule des juristischen Denkens, S. 30 f. 44  In Anlehnung an: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 109. 45  Vgl. Digesten, 1, 2, 2, 12: […] „quod sine scripto in sola prudentium interpretatione consistit.“



B. Untersuchungsfragestellungen und Methodik33

klärung und Information oder ihres Unterlassens, mithin der Täuschung oder Lüge46, also solche aus der zunächst gar nicht körperlichen, sondern rein geistig-seelischen Sphäre zum Gegenstand haben. Was wesentlich gleich ist, muss durch Vergleich von mindestens zwei Lebenssachverhalten und deren Abgleich auf einen signifikanten Bezugspunkt (tertium comparationis) als gemeinsamen, vergleichstauglichen Oberbegriff (genus proximum) herausgefunden werden. Lebenssachverhalte können Personen, Personengruppen, Situationen und Umstände sein. Rechtstechnisch werden also zwei Tatbestände zum Vergleich herangezogen, auf genügende Ähnlichkeit abgeglichen und bei genügender Ähnlichkeit wird eine identische Rechtsfolge gesetzt. Wenn sich in dieser Arbeit herausstellt, dass unter dem Topos der Menschenwürde gleich zu behandelnde Fälle ungleich behandelt werden, dann ist dies ein Indikator für die Inadäquatheit von Menschenwürdeverständnissen, die zu einer solchen unzusammenhängenden, unterschiedlichen Verarbeitung geführt haben. Die in dieser Arbeit vorzunehmenden Fallbeschreibungen auch in tatsächlicher Hinsicht dienen also auch dazu, die Propria gerade für ihre Bearbeitung unter einem einheitlichen Menschenwürdeverständnis möglichst augenfällig, synoptisch herauszuarbeiten. Dies entspricht in aristotelischer und scholastischer Logiktradition dem kanonischen Grundsatz „definitio fit per genus proximum et differentiam specificam“.47 Wiederum fungieren zu vergleichende und nicht unbedingt gleichzusetzende Fälle mit ähnlichen oder gleichen genera proxima und differentia specifica gewissermaßen als Vergleichs- und Kontrollgruppen in Bezug auf Fragen nach den rechtsethischen Folgen staatlicher Maßnahmen. Schon dieser von den Menschenwürdeideen und Einzelfällen ausgehende vergleichende Überblick verbreitert die Wissensbasis für die rechtsstaatliche Ausrichtung der Polizeiarbeit und für die interne und externe Beurteilung polizeilicher Maßnahmen.

46  Vgl. mit einem ersten, schwerpunktmäßig deskriptiven Ausschnitt zum Phänomenbereich der staatlichen Lüge zu Repressionszwecken: Schroeder, Der Staat als Lügner, S. 151–153. 47  Vgl. Aristoteles, Topik, Erstes Buch.

2. Teil

Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte A. Natur, Verhältnis und Nutzen von Ethik und Recht Bevor man eine Aussage darüber treffen kann, was die Menschenwürde des Grundgesetzes bedeutet und was Art. 1 des Grundgesetzes in bestimmten Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis bewirken kann, muss man die Frage nach den Antwortmöglichkeiten stellen. Die Antwortmöglichkeiten ergeben sich aus dem Angebot, dass die wissenschaftlichen Disziplinen von Recht und Ethik bereitzustellen vermögen. Diese beiden Disziplinen sind wie keine anderen sonst auf die Erlangung von Erkenntnissen gerichtet über das, was man tun soll. Ethik als wissenschaftliche Disziplin verfügt potentiell über den größten Gesamtbestand an Aussagen und Verfahren zwecks Gewinnung von Antwortmöglichkeiten zur Frage, was man tun soll. Ethik ist die Wissenschaft von der Moral. Sie ist ein Teilgebiet der Philosophie. Philosophische Disziplinen beschäftigen sich mit Gründen, Wesen, Werten und Zwecken des Seienden und des Nichtseienden. Da sich die philosophische Disziplin der Ethik mit Moral beschäftigt, ist ein für sie verwendeter Name der der Moralphilosophie. Moralen sind Normensysteme für menschliches Verhalten mit Anspruch auf Gültigkeit.48 Recht ist jede staatlich-gesellschaftlich-institutionell verankerte Ordnung von Sollenssätzen und Sollensaussagesätzen mit durch Zwangspotential verdeutlichtem Verbindlichkeitsanspruch, wobei sowohl Sollenssätze als auch Sollensaussagesätze eben nicht in besonders extremer Art Unrecht ausdrücken dürfen, andernfalls sie kein Recht mehr sein können, auch wenn sie in Gesetzesform gegossen wären. Recht ist das potentiell förmlich und zwangsweise durchsetzbare Normensystem einer menschlichen Organisation, das sich aus dem Gesamt der vollständig vorliegenden Gesetze ergeben kann und dabei keine Schlussfolgerungen extremen Unrechts zulässt.49 48  Zu den begrifflichen Unterscheidungen von Ethik, Moral und Ethos: Hübner, Philosophische Ethik, S. 11 ff.; ders., a. a. O., S. 13, schreibt von unbedingter Gültigkeit. 49  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 201: „nicht extrem ungerecht“; Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105, 107, mit Zusammendenken von materialer Gerechtigkeit und formaler Gleichheitsgerechtigkeit: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin



A. Natur, Verhältnis und Nutzen von Ethik und Recht35

Was die Disziplinen von Jurisprudenz und Ethik zu Wissenschaften machen kann, ist das intersubjektiv nachprüfbare Untersuchen und Vermitteln von Sollenssätzen und Sollensaussagesätzen anhand eines anerkannten Wissensbestandes und tradierter Methoden, um mit den durch sie generierten, wahren Aussagen zu einem vertretbaren, widerspruchsfreien Ergebnis zwecks regelnder Entscheidung realer Sachverhalte zu gelangen. Rechtswissenschaft als Geisteswissenschaft kann mithin aus normativen, empirischen und analytischen Quellen schöpfen.50 Um aus den verteilt, ja oft verstreut und manchesmal sogar versteckt liegenden Quellen schöpfen zu können, hat sich die Rechtswissenschaft in die Rechtswissenschaften aufgeteilt, in viele verschiedene Disziplinen unterteilt und sich somit funktional differenziert.51 Grundlegende Wissensbestände des Rechts liegen in Teildisziplinen von Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik. Die disziplinäre Aufspaltung ist nicht Selbstzweck, sondern ihr Sinn liegt in der durch sie erfolgenden Arbeitseinteilung zur Bewältigung des gesamten Wissensstoffes und ihr Grund liegt mitunter im Interesse einer anderen Herangehensweise und Perspektivverschiebung zur Bearbeitung des Rechtsstoffes. Die Einteilung der unterschiedlichen Teildisziplinen kann wie folgt vorgenommen werden: Den Überbau einer Wissenschaftstheorie des Rechts bildet die Rechtstheorie. Rechtstheorie ist Rechtsdogmatik auf Metaebene. zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. […] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“; Radbruchsche Formel teilweise ausdrücklich verwendet in: BVerfGE 95, 96, 134; BGHSt 39, 1, 16; BGHSt 40, 241, 244; ähnlich auch schon: Reichel, Gesetz und Richterspruch, S. 142: „Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewußt abzuweichen dann, wenn jene Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, daß durch Einhaltung derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Außerachtsetzung.“; richtungsweisend bis weit über die Scholastik, aber einseitig für die inhaltliche Gerechtigkeit zu weitgehend: Augustinus, De liberio arbitrio, Bd. I, 5, S. 11, der unter Außerachtlassung einer Abwägung mit formalen Gerechtigkeitsgesichtspunkten rechtssicherer und befriedender Verfahrensgestaltung und der faktischen Wirkung von Gesetzesbeständen jedes „ungerechte“ Gesetz als überhaupt „kein Gesetz“ ansieht. 50  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, Rn. 331. 51  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 60.

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

Während nämlich Rechtsdogmatik schwerpunktmäßig die Anwendung des Rechts selbst mit ihrem internen Methodenrepertoire zum Gegenstand hat, analysiert Rechtstheorie Entstehen, Entwicklung und Wirkung der Rechtsanwendungs- und wirkungsregeln als solche und konzipiert diese.52 Sie bedient sich dabei weiterer Grundlagenfächer: Die Staatslehre gleichsam als Philosophie des Staates befasst sich mit Begründung, Wesen und Werten von allen möglichen Staatsformen. Zentraler Begriff der Staatslehre ist der der Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens.53 Die Rechtssoziologie untersucht das Recht als soziale Wirklichkeit und seine Wirkung in ihr. Die Rechtsökonomik erklärt und bewertet die Verursachung und Wirkung von Recht insonderheit im menschlichen Verhalten anhand von ökonomischen Verhaltens- und Bewertungsmodellen.54 Dass es unterschiedliche soziale Wirklichkeiten und Rechtswirklichkeiten in der Welt gibt, nimmt die Rechtsvergleichung zum Anlass, Ähnlichkeit, Verschiedenheit und gegenseitige Beeinflussung verschiedener Rechtsordnungen zu untersuchen.55 Rechtsgeschichte befasst sich wie die allgemeine Geschichtswissenschaft mit der Historie des Rechts, nur natürlicherweise aus juristischer Perspektive und schwerpunktmäßig speziell unter rechtwissenschaftlichen Fragestellungen. Weiter zum Grund reichen kann die Rechtsphilosophie als die Lehre von Grund, Wesen, Werten und Zwecken des Rechts. In ihr wird am ehesten die rechtlichen Entscheidungen zugrundeliegende Ethik zu verorten sein. Ethik und Rechtswissenschaften interagieren hier am sichtbarsten miteinander und können am deutlichsten das Postulat der Interdisziplinarität erfüllen.56 Interdisziplinarität meint wegen der Eigenrationalität der Wissenschaften zunächst einmal eine solche der Mittel, nicht der Ergebnisse oder gar der Handlungskonsequenzen; sie darf aber auch nicht nur im Ergebnis auf die Teildisziplinen einer Wissenschaft beschränkt bleiben, sondern muss für juristische Ergebnisse auch ausdrücklich rechtsdogmatisch Verwendung finden können. Praktisch tut sie das bereits, sonst drohte die Rechtsdogmatik, die sich hauptsächlich mit der ergebnisorientierten Anwendung, Ausschöpfung und Weiterentwicklung der rechtsintern zur Verfügung stehenden Regeln beschäftigt, zirkelartig zu verkümmern. Aussagen aus den Grundlagenfächern und aus Wissenschaftsdisziplinen mit verwandten Themenstel52  Rüthers/Fischer/Birk, 53  Hesse,

Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 23. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,

Rn. 17. 54  Aaken/Schmid-Lübbert, Beiträge zur ökonomischen Theorie im öffentlichen Recht. 55  Rabel, RabelsZ 1927, S. 5, 7. 56  Zur „Zwitterstellung“ von Rechtsethik als Teil der Rechtsphilosophie und umgekehrt zur Zwitterstellung der rechtsdogmatischen Methodenlehre: Pfordten, Rechts­ethik, S. 21 ff. und S. 28 f., m. w. N. zur Diskussion.



A. Natur, Verhältnis und Nutzen von Ethik und Recht37

lungen wie denen der Ethik können zu rechtsdogmatischen Rechtsaussagen werden und die relevanten Rechtssätze in einer Disziplin zusammenfassen. Erst das rechtswissenschaftliche Konglomerat aus allen Teildisziplinen ergibt das ganze Bild für bestimmte Lebenssachverhalte im Sinne des in dieser Arbeit vertretenen Wahrheitsbegriffs. Die sich aus der Arbeitsteilung ergebende Herausforderung der scientific community besteht darin, im Spannungsfeld von funktionaler Differenzierung und gemeinsamer Suche nach möglichst vollständiger Wahrheit letztere nicht aus den Augen zu verlieren. Und so ist das Ideal isolierter Wissenschaftsmodelle zur Beobachtung von einzelnen Daten und aus ihnen erfolgender rein-linearer Deduzierung für das oberste Erkenntnisziel der Wahrheit vor allem in Bezug auf einzelne Hypothesen als zu reduktionistisch abgelehnt und in der Moderne wieder zugunsten eines holistischen57 Bildes von der besseren Erkenn- und Verstehbarkeit der Welt mittels eines kohärenten Theoriekontextes erweitert worden. Dies geschah im Einklang mit der Losung, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und vice versa die Elemente eines Gegenstandsbereiches erst aus der wechselseitigen – logisch gewendet: deduktiv-induktiven – Beziehung zueinander als wahr ­ wirken und erkennbar sind.58 Das objektiv-logische Motiv wird insbesondere für Geisteswissenschaften wie denen von den Rechten und der Ethik ergänzt durch ein intersubjektiv-hermeneutisches, in welchem mehr das Verstehen der (Rechts-)Texte mitsamt ihren Kontexten durch deren interpretative Übersetzung betont wird. Die Interpretation von Texten und Sätzen wie denen über die Menschwürde ist ein solches hermeneutisches Verfahren. Hermeneutik59 ist eine allgemeine Aufgabe und Arbeitsmethode von Geisteswissenschaften.60 Sie wird zum Auffinden und zum Verstehen eines zu betrachtenden Gegenstandes verwendet und findet sich beispielsweise in der Philosophie, in der Bibelexegese der Theologie, in der Philologie, in den Literatur- und Sozialwissenschaften, in der geschichtswissenschaftlichen Quellenuntersuchung und eben in den Rechtswissenschaften. In den Rechtswissenschaften findet die Hermeneutik ihr Hauptfeld in der klassischen juristischen Auslegung. Hermeneutik erweitert die Auslegung um ihre zwinnach: Smuts, Holism and Evolution. Denken selbst schon vertreten seit den Vorsokratikern der ionischen Naturphilosophie und als tragendes Motiv und Argument angelegt bei: Platon, Parmenides, 157c–e; ders.: Theaitetos, 207a; für die Moderne erkenntnistheoretisch aufgegangen in der sog. Duhem-Quine-These, vgl. Quine, The Philosophical Review 60 (1951): S. 20–43, mit Kritik des erkenntnistheoretischen Reduktionismus und Kritik der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Sätzen. 59  Vom Griechischen ἑρμηνεύειν, hermeneuein: übersetzen, erklären, deuten, interpretieren, vgl. Anm. in Fn. 34. 60  Vgl. Anm. in Fn. 34. 57  Bezeichnung 58  Holistisches

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

gende Grundbedingung für Wissenschaftlichkeit, nämlich logisch und widerspruchsfrei sein zu müssen. Alle philosophisch-ethischen und juristischen Auslegungsansätze des Erkenntnisprozesses machen das holistisch Ganze und dienen erst vollkommen der Approximation an das oberste Erkenntnisziel der Wahrheit, dem möglichst gegenstandsadäquaten Erkennen zwecks wissenschaftlich-praktischem Fortschritt. Seit Anbeginn seiner in der Neuzeit erfolgten, humanistischen und institutionellen Inthronisierung hat Recht als Wissenschaft61 mit intradisziplinären Auseinandersetzungen um das richtige Selbstverständnis, mit interdisziplinären Fragen nach Aufnahme anderer und neuerer Erkenntnisse und mit disziplinexternen Herausforderungen der Anerkennung zu kämpfen. Recht selbst ist ein soziales Verhaltenssystem und bleibt von sozialen Tatsachen62, Wertungen, Politik seit jeher umkämpft. Denn ihre Inhalte, die Dogmatik, die Methoden, das Recht der Disziplin selbst und ihre Struktur, die systematisch innere Ordnung und rechtliche Rahmenverfassung und letztlich auch die staatlich-gesellschaftliche Verfasstheit sind ineinander verwoben, bedingen und beeinflussen sich beständig gegenseitig zwischen rechtswissenschaftlicher und sonstiger realer Welt. In dieser Welt des Rechts sind Entscheidungen der Gegenstand, Wirkungskreis und Zielpunkt der Rechtsarbeit. In allen Arbeitsbereichen von Rechtslehrern, Gesetzgebern wie sonstigen Rechtsanwendern – von denen jeder am Rechtsvermittlungs-, Rechtssetzungs- und sonstigen Rechtsanwendungsprozess, also insgesamt am Rechtsverwirklichungsprozess teilnimmt – macht die realistische Beantwortung von Rechtsfragen das eigentliche Endprodukt der Arbeit aus und bildet den Richtwert gelungener Rechtsdogmatik – mag sie fallunabhängig auch noch so allgemein abgehandelt sein. In der eigenrationalen Rechtsrealität prävaliert das äußerlich herrschende und durchsetzbare Recht im jeweiligen Beurteilungszeitpunkt praktisch entscheidungswirksam über die ethischen Ergebnisse etwaig individualistischerer, pluralistischerer Moralen verschiedener sozialer Subsysteme eben ohne eine solche allgemeine Verbindlichkeit des Rechts.63 Ethisch vertretbare Moral, die in der staatlichen Gesellschaft allgemein durchsetzbar herrscht, tut dies bereits als Recht. Aus diesem Grunde ist vorliegende Arbeit auf die Erbringung eines juristischen Ergebnisses gerichtet, mit den Mitteln von Ethik und Rechtswissenschaften. Denn 61  Zur Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit: Schröder, Recht als Wissenschaft. 62  In Anlehnung an die Definition der fait social bei: Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 114. 63  Abgrenzungsmerkmale von Legalität und Moralität, von äußerlichem Recht und innerlicher Moral als Konstitutionen des modernen Rechtsstaats mit Überschuss an Moralen über das positive Pflichten-Recht bei: Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S.  59 ff.



A. Natur, Verhältnis und Nutzen von Ethik und Recht39

es bleiben die sozialen Tatsachen des Rechts64 ebenfalls wandelbar und das Recht ist durch ethisch-moralische Einwirkungen beeinflussbar. Recht ist nicht ethisches Minimum65, muss aber entgegen einem puren Rechtspositivismus, um als solches und nicht nur bloße Machtsatzung zu sein, ethische Minima enthalten. Ethik kann theoretisch ohne Recht auskommen, Recht begrifflich schon nicht ohne Ethik. Recht und Ethik stehen beide in einem sich wechselseitig regulierenden Rückkopplungsverhältnis.66 Das ethische Ideal des Rechts ist das der individuellen und der gemeinwohlorientierten Gerechtigkeit67, die in rechtsstaatlichen Methodenfragen durch ausgleichende, absolute Gleichheit für alle gleichermaßen und in inhaltlichen Rechtsgewährungen durch jedem das Seine austeilende, relative Gleichheit konkretisiert werden kann.68 Recht und Ethik haben beide das Ziel einer guten und gerechten Ordnung.69 Recht ist zumindest teilweise immer geordnete70 Ethik, also die Anordnung von durchsetzbaren Sollenssätzen. Die Ethik des personifizierten Rechts, die iustitia, ist das abwägende, gleichmäßige Vorgehen ohne Ansehen der Person. Allegorisch hält sie ihre Moral mit dem Schwert hoch. Tatsächlich lebt Recht von und mit der paradoxen Essenz einer von Gewaltpotentialen fundierten Friedensordnung.71 64  Bezeichnung gerade speziell des Rechts als soziale Tatsache bei Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 2. 65  Vgl. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, S. 45: „Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum.“ 66  Allerdings kann das Recht ebenfalls auf Ethik und Moral einwirken, vgl. Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S. 57, 72 f. 67  Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, S. 22 f. 68  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch; modern-aktuelle Überlegungen mit philosophischer Grundlegung in: Hoerster, Was ist eine gerechte Gesellschaft? 69  Vgl. Digesten 1, 1, 1: „Ius est ars boni et aequi.“, zu Deutsch: „Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten.“ 70  Schmitt, Politische Theologie, S. 19: „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muss hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat.“ 71  Mit Blick auf die bereits erwähnte Umkämpftheit des Rechts: Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 30, dort heißt es u. a.: „Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu der Kampf. Solange das Recht sich auf den Angriff von seiten des Unrechts gefaßt halten muss – und dies wird dauern, solange die Welt steht – wird ihm der Kampf nicht erspart bleiben. Das Leben des Rechts ist ein Kampf – ein Kampf der Völker, der Staatsmacht, der Stände und Individuen. Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder wichtige Rechtssatz hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, sowohl das Recht eines Volkes wie das eines einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus. […] Man merkt es unserer Theorie nur zu deutlich an, dass sie sich mehr mit der Wage als mit dem Schwert der Gerechtigkeit zu beschäftigen hat; […] daß er ihr das Recht weniger von seiner realistischen Seite als Machtbegriff, als vielmehr von seiner logischen Seite als System abstrakter Rechtssätze vor Augen führt […]“;

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

Ethik hat tendenziell mehr Moral zum Gegenstand als es das Recht hat. Die Abgrenzung von Moral und Recht erfolgt durch die Differenzierung von Innen und Außen, von subjektiver Innerlichkeit und äußeren Verhältnissen, von innerem und äußerem Gesetz, von innerer Pflicht und äußerem Zwang, von individuellem Glauben und äußerer Gesetzgebung, innerer Vergewisserung und gemeinschaftlichen Gewährleistungen, von eigenen Meinungen und anderem Müssen, von forum internum und forum externum. Insofern hat Moral als Gegenstand der Ethik eine überschießende Innentendenz gegenüber dem Recht aufzuweisen – und zurückzuhalten. Recht als Regel, Moral als Fundus regulativer Ideen. In nicht-totalitären Moral- wie Rechtssystemen wird das jeweilige Residuum und Refugium von Moral und Recht jeweils berücksichtigt und regelmäßig respektiert, um ein Funktionieren der jeweiligen Teilsysteme zu gewähren und zu gewährleisten.72 Vice versa besteht im demokratisch-pluralistischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes freilich kein klinisch total gesäubertes Verhältnis, etwa derart, dass Moral das Rechtssystem in jeder Beziehung unberührt lassen würde. Vorkonstitutionelle und damit vorrechtliche, moralische Gehalte sind gerade in der Menschenwürde des Grundgesetzes nicht zuletzt aufgrund seiner Besonderheit extrem langer Vorrechtlichkeit nolens volens enthalten.73 Diese Gehalte und die Versuche ihrer Interpretation sind bei einer Untersuchung der rechtlich-ethischen Entscheidungskonsequenzen einzubeziehen – zunächst ungeachtet des Ergebnisses ihrer positiven Entscheidungsrelevanz für das Recht. Für die Gerechtigkeitsarbeit in jedem neuen konkreten Fall hält das Rechtssystem Verweise auf das „Sittengesetz“ in Art. 2 I GG, Einbruchstellen in Gestalt von Generalklauseln74 wie denen der „guten Sitten“75, denen Schmitt, Politische Theologie, S. 1: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“; ein zum Grundsätzlichen der Rede Jherings größtmöglich kontrastierendes Beispiel heutigen Alltags und Beweis gegen die Abgehobenheit und für die rechtspraktische Relevanz der Wendung vom „Kampf ums Recht“: AG Emmendingen, Urt. v. 08.07.2014 – 6 A 3/13: Besondere Bedeutung für die Qualifikation einer Äußerung (hier im Rahmen eines ordnungswidrigkeitenrechtlichen Bußgeldverfahrens) als nichtbeleidigende Meinungsäußerung, dass sie im „Kampf ums Recht“ getätigt worden ist; vgl. auch – allerdings einseitig auf die religiösen Grundlagen und das Religionssystem kaprizierend – Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Der Staat ist nicht nur passiver Nutznießer gesellschaft­ licher Grundlagen, hat bzgl. aller ihn tragenden Systemelemente eben auch Macht, diese aktiv zu gestalten, dazu: Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S. 29 f. 72  Zur „überragenden“ neuzeitlichen Errungenschaft der Entflechtung von Moralität und Legalität: Kreß, Ethik der Rechtsordnung; S. 60, 62–67. 73  Dreier, R., Recht und Moral, S. 193. 74  Zu den Generalklauseln speziell im öffentlichen Recht: Wissmann, Generalklauseln – Verwaltungsbefugnisse zwischen Gesetzmäßigkeit und offenen Normen. 75  Etwa § 138 I BGB.



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde41

von „Treu und Glauben“76, und generelle Konzepte wie die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ sowie eben die Menschenwürde bereit, um offen zu sein für rechtsethische Vorstellungen und ihre juristische Verwirklichung durch Auslegung des positiven Gesetzestexts.77 Unabhängig von dieser Gesetzestechnik der Generalklauseln und generellen Konzepte liegen Sollenssätze und Sollensaussagesätze jeder Recht zu nennenden Entscheidung zugrunde, allerdings vor allem letztere zumeist weder ausdrücklich bedacht, geschweige denn ausgesprochen. Dieses sich rechtstechnisch und pragmatisch gerierende Beurteilungsverfahren führt bei der Menschenwürde wie gesehen für konkrete neuartige Fälle nicht mehr weiter. Es gibt den Sollenssatz im Wortlaut, dass sie nicht angetastet werden darf, aber dieser führt bisher nicht zu einem staatlich-gesellschaftlich-institutionellen Konsens in sämtlichen Fällen polizeilicher Praxis. Und gerade die Menschenwürde hat eine voraussetzungsvolle Ideengeschichte mit historisch jungen Rechtsfolgen. Deshalb wird hiermit ab jetzt das Feld von ethischen und juristischen Prämissen des Menschenwürdesatzes eröffnet, um vollständigere Erkenntnis darüber zu erlangen, was er in Fällen polizeilicher Praxis bedeuten und wie er auf die polizeilich-juristische Entscheidungsfindung konkret einwirken kann.

B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde I. Zum Sinn einer ideengeschichtlichen Betrachtung In dieser Arbeit eine Ideengeschichte der Menschenwürde chronologisch zu referieren hieße, ihre Grenzen zu sprengen und ihr Ziel zu verfehlen. Denn diese Arbeit ist nicht auf ein historisches Chronistenprogramm angelegt und will gerade nur die Menschenwürdenorm des Grundgesetzes auf ihre Sinnpotentiale für rechtlich-ethische Entscheidungsprogramme der polizeilichen Sicherheitsbehörden beleuchten. Deshalb werden hier vielmehr die Anschauungen, geistesgeschichtlichen Strömungen und großen Leitlinien sowie motivationalen Hintergründe der Menschenwürdeidee aus der Vielstimmigkeit der Jahrtausende von Philosophie, Religion und Recht eben nicht allumfassend chronologisch, sondern logisch herausdestilliert und dabei werden auch einzelne Vertreter von freilich in den verschiedenen Zeitläuften vermehrt aufgetretenen Vorstellungen über einen spezifischen Eigenwert des Menschen exemplarisch-paradigmatisch genannt. Diese Arbeit will nicht l’histoire pour l’histoire betreiben, sondern geht von der Annahme aus, dass die Ideenge76  Etwa

§ 242 BGB. den von ihm sogenannten „Schleusenbegriffen“: Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, S. 28 f. 77  Zu

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

schichte zu kennen, dabei helfen kann, argumentative Anleihen aus der Geschichte im heutigen Menschenwürdediskurs besser bewerten und alle Bedeutungsdimensionen des Menschenwürdebegriffs kenntlich zu machen. Vielleicht hilft sie auch bei der Beantwortung der Frage, ob bestimmte Anleihen oder Bezugnahmen im heutigen Diskurs überhaupt gerechtfertigt sind, und wenn ja, in welcher Art und welchem Ausmaß. Der Gehalt, der sich aus der Erörterung der Ideengeschichte ergeben hat, wird als begriffliches Wissen mit in die weitere, rechtsdogmatische Prüfung genommen. In der Geschichte der Menschenwürdeideen wurden die unterschiedlichsten Gedanken in verschiedener Art und Weise gebraucht: deskriptiv und präskriptiv, positiv und ex negativo, definitorisch und paraphrasierend, als faktisches Sein und als Wertzuschreibung, ontologisch und phänomenologisch, als Wesensmerkmal und als Gestaltungsauftrag, als unverlierbare Mitgift und als veränderbares Verdienst, als äußerliches Beschreibungskriterium und als innere Wertzuschreibung, als conditio sine qua non und als Leerformel, absolut und relativ, unverzichtbar und vernachlässigbar. Dass bis heute in Deutschland, geschweige denn im europäischen Rechtsraum, ja erst recht global-international keine gemeinschaftliche Einigkeit über auch nur eine dieser Kategorien gefunden wurde, zeigt, wie prekär in Wirklichkeit eine Berufung auf Menschenwürde ist. Gleichwohl wurde und wird die Idee der Menschenwürde ohne Unterlass angeführt. Keine nützliche Alternative stellt es dar, nun auf Ideengeschichte wegen der Eigenrationalität des Rechts gänzlich zu verzichten oder jeden Nachvollzug der Ideengeschichte als pauschale Einverleibung und fragwürdige Nähe78 von Entferntem, als metaphysischen Begründungsbrei79, als gleichzeitige Verwendung des Ungleichartigen anzuzweifeln. Das verfehlt den Sinn der Ideengeschichte: Dieser besteht ja eben nicht darin, zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte identisch wiederzugeben. Das Tendenziöse zur absoluten Bestimmtheit liefe auf die Wahrheit des Gleichnisses von Landkartenerstellungen hinaus, die den Entwurf einer möglichst genauen Karte zum Ziel hatten, bis schließlich mit dem erreichten Maßstab eins-zu-eins nichts mehr erkennbar war. Das vielleicht literarisch80 anmutende Gleichnis hat eine dezidiert wissenschaftlich-methodologische81 Seite. Der Sinn von Ideengeschichte 78  So passiere Ideengeschichte zuweilen laut: Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 2. 79  Bei Hofmann, AöR 1993, S. 358 f. 80  Literarische Verbreitung des Gleichnisses und des dahinter stehenden allgemeinen Gedankens von Erkenntnisbildung und praktischer Weltaneignung durch Lewis Carroll, in: Sylvie and Bruno Concluded; Louis Borges, in: El hacedor; Umberto Eco, in: Diario minimo; Michael Ende, in: Momo. 81  Als Bonini-Paradox benannt, bzgl. des Problems beim Beschreiben, Konstruieren oder Simulieren komplexer Systeme und des dabei auftretenden Ergebnisspekt-



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde43

liegt gerade darin, nach Feststellung etwaiger Eigentümlichkeiten Gemeinsames, Gewinnbringendes aus heutiger Perspektive nutzbringend zu betonen – mitunter der Natur von Pointierung gemäß, sogar deutlicher, als es im jeweiligen Zeitalter Anklang fand – und in niemals ganz auszuschließender hermeneutischer Vorgehensweise mit dem aktuellen Kenntnisstand zu spiegeln, ggf. weiterzuentwickeln. Hat diese offene Herangehensweise eine Arbeit mit ideengeschichtlichem Abschnitt nicht zur Devise und nicht zum Programm, verschließt sie sich vor dem auch juristischen Reichtum82 der Geschichte für unsere heutige Zeit und verbleibt in zeitlicher und interdisziplinärer Isolation. Letztlich kann das endgültige Erkenntnisinteresse einer ideengeschichtlichen Betrachtung also nicht sein, was Menschenwürde da und dort in zweieinhalbtausend Jahre alles sonst noch war und gewesen sein könnte, sondern nur sinnvollerweise, was sie für uns heute alles aufgrund ihrer Geschichte bedeuten kann. Auf letzteres, sinnvolles Erkenntnisinteresse Antworten auszugeben, hat nicht zuletzt die hermeneutisch-interpretative Arbeit zur Aufgabe. Über irgendetwas Spezifisches oder einen eigenen Wert am Menschen und seine Rolle in der Welt sowie zum gesamten Universum haben Menschen schon immer nachgedacht und einige Gedanken sind bis heute in Aufzeichnungen erhalten.83 Das Spezifische oder ein eigener Wert stehen dabei wohlbemerkt nicht unbedingt im Verhältnis der Identität, sondern auch dem der Alternativität oder Komplementarität oder Ergänzung. Jedenfalls stellt sich mit beidem immer die zugrundeliegende Frage, was der Mensch ist, hat oder sein und tun kann. Die geistigen Strömungen fließen bis in die heutige Zeit vor allem anderen aus und in Auseinandersetzung mit den drei großen geistesgeschichtlichen Quellen unserer hiesigen Kultur, nämlich der des alten Griechenlands, der des alten Römischen Reiches und der christlich-jüdischen Welt. Im Vordergrund der ideengeschichtlichen Betrachtung sollen diejenigen Werke stehen, in denen das Wort Würde explizit vorkommt, nicht alle möglichen anderen, bei denen man aus heutiger Sicht und bestimmter Perspektive passende Ansätze zur Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdesatzes rekonstruieren zu können meint, ohne dass diese Werke selbst von Würde sprechen. Wo ausnahmsweise wegen ständiger Zitierung im heutigen Menschenwürdediskurs ein Werk angesprochen wird, in dem ausdrücklich nicht von Würde gesprochen wird, wird dies hier noch einmal klargestellt und eingeordnet. rums von Identität und Differenz, Simplizität und Kompliziertheit, Verständlichkeit und Unverständlichkeit, Nutzen und Nutzlosigkeit von Modell und System. 82  Robbers, Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 1, Rn. 11. 83  Instruktive Zusammenstellung bei: Wetz, Texte zur Menschenwürde.

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

II. Griechische Philosophie: Aristoteles – und die Würdigkeit als Potential Eine der ersten ausdrücklichen Benutzungen und Bestimmungen des Wortes „Würdigkeit“ findet sich in deutschen Übersetzungen84 des Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik die Einteilungsgründe für die Bewertung der Beschaffenheit eines Menschen einesteils im dianoëtischen Intellekt und andernteils im ethischen Willen sieht, diejenigen Arten geistiger Verfassung aber, die der Hochachtung würdig seien, gleichsam deskriptiv als Trefflichkeiten und bewertend als Vorzüge bezeichnet.85 Nach Aristoteles kommt unsere Hochachtung auch dem wissenschaftlich Gebildeten erst auf Grund seiner ethischen Verfassung zu.86 Die Grundlage bildet für ihn der Satz, dass die wertvolle Beschaffenheit im ethischen Sinne diejenige ist, die gegenüber der Lust und Unlust das richtigste Verhalten tätig innezuhalten vermag.87 Anschließend verknüpft Aristoteles die Würdigkeit mit den zwei größten Idealen des Rechts, mit der distributiven Gerechtigkeit als proportionale Gleichheit88, die jedem nach Verhältnis der Würdigkeit zuteile. Wichtig für das Verständnis der Würdigkeit als Potential ist Aristoteles Differenzierung in seinem Werk zwischen Disposition (hexis) und Betätigung (energeia), denn eine Disposition könne vorhanden sein, ohne ein gutes Ergebnis (agathon ti) hervorzubringen; und so erlangten die guten und edlen Dinge (kala k’agatha) diejenigen, die richtig handeln.89 Da auch aus den Tätigkeiten die Dispositionen entstünden, müssten wir den ausgeübten Tätigkeiten eine bestimmte Qualität zusprechen, die wiederum den Unterschieden der verschiedenen menschlichen Dispositionen entspreche.90 III. Römische Philosophie: Cicero – und die kosmischen Pflichten Aus der Welt des römischen Reiches ist erstmals der Zusammenhang menschlicher Würde und Pflichten des Menschen seit der ersten deutschen, in Augsburg erschienenen Übersetzung von Ciceros Werk 1488 über pflicht84  Dieser Arbeit werden zum Ausgleich der immensen Schwierigkeiten adäquater Übersetzung der aristotelischen Termini zwei verschiedene deutsche Übersetzungen zugrundegelegt; zuordenbar an den sowohl im Literaturverzeichnis als auch im Fußnotenapparat durchgängig verwendeten Bezeichnungen „1. Ü“ und „2. Ü.“ 85  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Ü., I. Teil, 1, S. 24. 86  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Ü., I. Teil, 1, S. 25. 87  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Ü., I. Teil, 1, S. 29. 88  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2. Ü., 5. Buch, 6. Kapitel. 89  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2. Ü., 1099a. 90  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2. Ü., 1103b.



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde45

gemäßes Handeln und dem darin benutzten Wort dignitas überliefert. Nach Cicero übertrifft die Natur des Menschen durch dessen denkenden und lernenden Geist alle Tiere.91 Aus dieser Feststellung ergeben sich für Cicero die Bewertung körperlichen Vergnügens als nicht genug würdig und die Pflicht zu dessen Verschmähung und Zurückweisung.92 Aufgrund der überlegenen Stellung und Würde des menschlichen Wesens sei es schändlich, sich verzärtelt und weichlich in Genusssucht treiben zu lassen, jedoch sei es ehrenhaft, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu leben.93 Unverkennbar übernimmt Cicero hier Gedanken der in der stoá pikileh (buntbemalte Halle) auf der athenischen Agora um 300 v. Chr. entstandenen philosophischen Schule über eine nach göttlichem Prinzip vernünftige, organische Ordnung (lógos) der Welt (kósmos), in und nach welcher der Mensch gemäß leben muss, um sein Menschsein vollkommen zu verwirklichen. Cicero unterscheidet zwischen zwei von der Natur dem Menschen gegebenen Rollen, nämlich einer gemeinsamen, durch Vernunft und Vorzug vor den Tieren verliehenen und einer individuellen, wozu Cicero auch eine in der Erscheinung von einigen Menschen liegende Würde zählt.94 Es ergibt sich bei Cicero das Gesamtbild einer ambivalenten und graduellen Würde als naturgegebene Mitgift des Menschen, die ihn zwar über andere Tierwesen erhebt, aus der aber im zwischenmenschlichen Verkehr Pflichten resultieren und einer Würde durch Leistungsfähigkeit und Überwindungskraft, aus der Unterschiede zwischen den Menschen erwachsen. IV. Christentum: Theophilos, Gregor von Nyssa, Laktanz, Augustinus, Manetti, Thomas von Aquin – und die Beziehung zum Göttlichen Als christlich-jüdische Urquelle für die religiöse Tradierung eines spezifischen, ihn über alle anderen Lebewesen auf der Erde erhebenden Eigenwerts des Menschen dient eine Anfangspassage aus der Bibel, in der Gott mit der Aufforderung zitiert wird, Menschen nach seinem Bilde zu machen, die sodann herrschen über die Tiere.95 Die Bibel enthält über das spezifisch Menschliche – nämlich nur das in irgendeiner Beziehung zu Gott ihm Ähn91  Cicero, De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Liber Buch, 105. 92  Cicero, De officiis –Vom pflichtgemäßen Handeln, Liber Buch, 106: „dignam hominis“. 93  Cicero, De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Liber Buch, 106: „excellentia et dignitatis“. 94  Cicero, De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Liber Buch, 107: „[…] itemque in formis aliis dignitatem inesse […]. 95  Bibel, 1. Buch Mose (Genesis), 1, 26–28.

primus – Erstes primus – Erstes primus – Erstes primus – Erstes

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liche – in ihren sämtlichen Übersetzungen zumal immer ohne Verwendung des Wortes Würde keine eindeutigen Schlussfolgerungen aus dieser Gott­ ebenbildlichkeit. Darum waren weitere normative Implikationen den nachfolgenden Interpretationen unterschiedlichster imago-dei-Lehren überlassen. Überliefert als eine erste ausdrückliche Deutung der sich in der gottebenbildlichen Schöpfung des Menschen offenbarenden, so bezeichneten Würde ist die Interpretation von Theophilos von Antiochien im zweiten Buch an Autolykos. Mehr als ein gottwürdiges Werk der Schöpfung des Menschen folgert Theophilos aber auch nicht.96 Bei Gregor von Nyssa finden sich erstmals christlich-religiöse Andeutungen über die königliche Würde des Menschen aufgrund der Selbständigkeit seiner Seele und der Betätigung königlicher Tugend und Gerechtigkeit gemäß göttlichem Urbild.97 In Ansehung des Bibelzitats ist es über die Jahrhunderte bis heute eine Aufgabe der christlichen Religionen geblieben, die Freiheit des Menschen als Beweis seines oft Würde genannten, erhabenen Eigenwerts mit der Möglichkeit zum Bösen, seine Pflicht zu einem gottgefälligen Leben und die Frage nach Sanktionen und der Rolle und Rechtfertigung Gottes angesichts des menschlichen Leids in der Welt zusammenzudenken. Dieses Leitmotiv der Theodizee98 ist bei der Interpretation der Texte mit religiösem Hintergrund immer mitzuberücksichtigen. Laktanz, von dem auch Erörterungen des Theodizeeproblems überliefert sind99, verknüpft die sich nach ihm gleichfalls in der körperlichen Vorzüglichkeit vor allen anderen Geschöpfen zeigende Würde mit der Rechtsgleichheit und dem höchsten Gut der Gerechtigkeit, die beide von Gott dem Menschen möglich gemacht seien; der Mensch hat aber bei Laktanz auch die Möglichkeit, seiner eigenen Würde das Geringere vorzuziehen, indem er seinem niedrigen Menschenwerk den Vorzug vor dem göttlichen gibt.100 Auch bei Augustinus ist deutlich das Motiv der Rechtfertigung Gottes leitend, wenn er zwar einen freien Willen und die Sünden beim Menschen konstatieren muss, aber ausdrücklich festgestellt haben wissen will, dass ihr Erschaffer aufs höchste zu rühmen sei, nicht nur weil er die Sünder an den ihnen gebührenden Platz in der Rangordnung der Natur stelle, sondern auch, weil sie trotz ihres Sündigens in keiner Weise von ihrer reinen Körperlichkeit an seelischer Würde überragt 96  Theophilos,

Zweites Buch an Autolykos, 18, S. 48. von Nyssa, De opificio hominis – Abhandlung über die Ausstattung des Menschen, 4. 98  Terminologie der Theodizee erstmals bei: Leibniz, Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. 99  Laktanz, De ira dei – Vom Zorne Gottes; Laktanz, Epitione divinarum institutionum Auszug aus den göttlichen Unterweisungen, 24, dort einleitend: „Man wird einwenden: Warum läßt denn der wahre Gott diese Dinge geschehen?“ 100  Laktanz, Epitone divinarum institutionum 20, 29. 97  Gregor



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde47

würden.101 Auch Gianozzo Manetti beeilt sich in der Rechtfertigung der Welt und Gottes und beider Lobpreisung, indem er die menschlichen Phänomene derart aufspaltet, dass der Mensch nicht zu allen Niedrigkeiten, Schwächen und Störungen aufgrund seines von Gott geschaffenen Wesens kam, sondern durch den Sündenfall.102 Bei keinem anderen christlichen Autor wird die Konsequenz eines Sündenfalls deutlicher gezogen als durch Thomas von Aquin, wenn dieser schreibt, dass durch die Sünde der Mensch von der Ordnung der Vernunft abweicht und so abfällt von der menschlichen Würde.103 Gewöhnlich sei der Mensch gemäß der Würde von Natur frei und selber Zweck seiner Handlungen; doch durch die Sünde werde er Knecht wie die Tiere, und über ihn könne angeordnet werden, soweit dies anderen nützlich ist.104 Obgleich es deshalb an und für sich ein Übel sei, einen Menschen zu töten, so könne es doch etwas Gutes sein, einen Verbrecher zu töten, wie es etwas Gutes sei, ein Tier zu töten.105 Denn „schlimmer ist ein schlechter Mensch wie ein Tier und mehr Schaden verursacht er,“ zitiert er Aristoteles 1. Polit. 2.106 Nach Thomas bemisst sich im Spannungsfeld der idealen Rechtsgüter von Gleichheit und Gerechtigkeit die Gleichheit der austeilenden Gerechtigkeit nach der jeweiligen Würdigkeit der Person (secundum proportionem ad dignitates personarum).107 Bei allen genannten christlichen Autoren wird die Würde von Gott abgeleitet, zugleich um die eben nichtgöttliche Fehlbarkeit des Menschen gewusst, seine weltliche Stellung, seine Gottesnähe von der Ausschöpfung seines Würdepotentials abhängig gemacht. Thomas legt die entscheidenden Grundsteine für ein zwischen Selbstweck und Zweckmittel unterscheidendes Denken, das bei Kant seine populärste begriffliche Verdichtung erfahren wird. Beim Aquinaten wird damit aber von der kantischen Lesart bedeutungsverschieden einmal die vertikale Beziehung des Schöpfergottes zu seinen vernünftigen Lebewesen mit dignitas bezeichnet, als esse propter se ipsum und zu seinen nichtvernünftigen Wesen mit utilitas als esse propter 101  Augustinus, De libero arbitrio libri tres, liber III, Liberum arbitrium bonum est medium, 5, 12, „Deus semper est laudandus“. 102  Manetti, De dignitate et excellentia hominis – Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, Drittes und Viertes Buch, S. 98–120. 103  Thomas von Aquin, Summa theologica, II – II (Secunda pars, secundae partis), q. 64 a. 2 ad 3. 104  Thomas von Aquin, Summa theologica, II – II (Secunda pars, secundae partis), q. 64 a. 2 ad 3. 105  Thomas von Aquin, Summa theologica, II – II (Secunda pars, secundae partis), q. 64 a. 2 ad 3. 106  Thomas von Aquin, Summa theologica, II – II (Secunda pars, secundae partis), q. 64 a. 2 ad 3. 107  Thomas von Aquin, Summa theologica, II – II (Secunda pars, secundae partis), q. 63, 1 und ad 1.

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aliud. Zum zweiten wird die vita contemplativa als dignior, als würdiger bewertet denn die vita activa und die vita activa als utilior, nützlicher denn die vita contemplativa. Damit steht das thomistische dignitas immer für das selbstbezügliche Gute und das thomistische utilitas immer für das Gute in Bezug auf anderes.108 V. Im Zeitalter der Renaissance: Pico della Mirandola – und die Verehrung des unbestimmten Potentials Weniger rechtfertigende Lobpreisung eines Gottes als motivationale Eloge auf den Menschen ist Pico della Mirandolas überlieferte Schrift „Über die Würde des Menschen“. Diesen Titel hatte sie in der Editio princeps 1496 noch nicht und auch im gesamten Text findet sich kein einziges Mal das Wort von der Menschenwürde. Den posthum verliehenen Namen erhielt sie anlässlich einer gedruckten Marginalie „Hominis dignitas“ anfangs der schlicht „Oratio“ geheißenen Editio princeps: „De hominis dignitate“.109 Pico bezeichnet Gott als den besten Bildhauer und den Menschen als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, in den Mittelpunkt der Welt gestellt. Er lässt Gott selbst zum Menschen sprechen: „,Keinen bestimmten Platz habe ich Dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen Willen, dem ich Dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.‘“110

Diese determinationslose Perspektiv- und Machtverschiebung hin zum Menschen als „plastes et fictor“ ist u. a. wohl wegen des den konsequenz108  Ausführlich hergeleitet bei: Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 128–133. 109  Gönna, Nachwort, in: Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, S. 107 f. 110  Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, S. 7–9.



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reichen Inhalt enthusiastisch-euphemistisch camouflierenden Tons der Schrift und primärer Popularität ihres Deckblatttitels abgesehen von der Würdethematik in ihrer eigentlichen Stoßrichtung unerkannt revolutionär in Bezug auf die Beliebigkeit menschlicher Daseinsweisen geblieben. Immerhin ahnte die Kirche wohl, dass bei Pico ganz der Selbstzweckgedanke des in der Mitte der Welt unfestgestellt um sich kreisenden Menschen sogar vorrangig vor der religiösen Autorität Platz greifen könnte, als sie Dispu­ tationsverbote gegen Pico veranlasste. Die picosche Beschreibung des menschlichen Spezifikums befindet sich ungeachtet ihrer vorrangigen Rezeption in den Menschenwürdedebatten tatsächlich in einer daraufhin einsetzenden Denktradition etwa mit Blaise Pascal, Friedrich Nietzsche, JeanPaul Sartre oder auch Johann Gottfried Herder und Arnold Gehlen. Sie alle schreiben jeweils für die nachfolgenden Jahrhunderte mit unterschiedlichen Sätzen fort, dass der Mensch nicht auf eine bestimmte Essenz von einer externen Macht festgelegt sei, sondern in existentiell immerzu prekärer, relativ zum Tier instinktarmer, nichtidentischer Beziehung zu sich selbst steht. Mit dieser Alleinstellung und daraus entstehender Wahlfreiheit müsse der daseiende Mensch sich in seinem jeweiligen Sosein entwerfen. Pascal sagt, der Mensch sei weder Engel noch Tier111, Nietzsche spricht vom noch nicht festgestellten Tier112, Sartre sieht im Menschen nichts anderes, als wozu er sich selbst macht113, Herder und Gehlen gehen vom Menschen als einem im Vergleich zum Tier mängelbehafteten Wesen aus114. Die daraus resultierende volle und alleinige Verantwortung für die Realisierung aller Möglichkeiten wird bei Pico noch als übergroßes Glück gefeiert.115 Blaise Pascal macht bereits der horror vacui, das Schweigen der unendlichen Räume, schaudern.116 Nietzsche sieht wie bei jeder anderen Tierart einen Überschuss von Missratenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden – und die gelungenen Fälle beim Menschen als spärliche Ausnahme.117 Würde bleibt bei ihm eines der „schönen Verführungs- und Beruhigungsworte“.118 Sartre sieht sich gezwungen, aus den Grundbedingungen von Angst und Verlassenheit des Menschen gegen ein pessimistisches Missverstehen des Existenzialismus die positive Volte hin zum Opti111  Pascal,

Pensées, Section VI, 358. Jenseits von Gut und Böse, S. 81, Nr. 62. 113  Sartre, L’existentialisme est un humanisme. 114  Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache; Gehlen, Der Mensch. 115  Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, S. 9. 116  Pascal, Pensées, Section III, 206: „Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.“ 117  Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 81, Nr. 62. 118  Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 9, Nr. 117. 112  Nietzsche,

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mismus und Humanismus zu propagieren119. Auch Pascals Paradoxie ist perfekt, wenn er ohne Rekurs auf Gottebenbildlichkeit und Potentialität die Größe und Würde des Menschen gerade im Denken und Erkennen seiner Schwächlichkeit und seines Elends erblickt.120 Herder und Gehlen sehen in der instinktmäßigen Schwäche des Menschen die Voraussetzung für seine sprachliche und kulturinstitutionenschaffende Kraft. VI. Im Zeitalter der Aufklärung: Kant – das Ding und der Zweck an sich 1. Kants Würdebegriff Bei Immanuel Kant sind zwar auch Freiheit und selbstreflexive Entwurfsfähigkeit zentrale Motive, aber in einem nach Grund, Art und Ausrichtung völlig anderen Bezugssystem mit ganz bestimmter Begrifflichkeit und handlungsleitender Autorität: Kant setzt den freien Willen als Grund der menschlichen Würde121, so wie er auch Gott und die Unsterblichkeit der Seele als Setzungen der Vernunft vornimmt. Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.122 Freiheit im Sinne von Autonomie, also Selbstgesetzgebung, liegt nur dann vor, wenn Wesen mit gutem Willen dem moralischen Gesetz, dem Sittengesetz, folgen können.123 Wille sei das Vermögen, nach Vorstellung der Gesetze, also nach Prinzipien zu handeln und nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von Neigungen als praktisch notwendig erkennt.124 Dieses Vermögen, dieses Potential macht das Gute des Willens. Die Befolgung des Sittengesetzes mit gutem Willen ist Voraussetzung für die Würdigkeit, glücklich zu sein.125 Gut ist der Wille dann, wenn er Handlungen präferiert, die nicht nur aus Neigung oder Absicht, sondern aus Achtung vor und aus Pflicht nach dem moralischen Gesetz geschehen.126 Pflicht sei die Notwendigkeit einer Hand119  Sartre,

L’existentialisme est un humanisme. Pensées, Section VI, 346 f. 121  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 434, 436; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 36. 122  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 436. 123  Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 33. 124  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 412. 125  Kant, AA III, Kritik der reinen Vernunft, Kapitel 126, als Antwort auf die zweite von insgesamt drei Fragen der Vernunft: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ Später heißt es, die Beantwortung der drei – erkenntnistheoretischen, ethischen und religionsphilosophischen – Fragen münde in eine vierte: „Was ist der Mensch?“, vgl.: Kant, AA VII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 126  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393 ff.; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 139, 213. 120  Pascal,



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lung aus Achtung für das Gesetz.127 Der menschliche Wille kann als Mittler zwischen reiner praktischer Erkenntnis a priori, vor aller Erfahrung, und praktischem Handlungsvollzug a posteriori, nach der Erfahrung, angesehen werden. Unter sittlichen Gesetzen ist ein guter Wille erst ein freier Wille.128 Erst dann hätten Handlungen echten moralischen Wert. An die Unterscheidung von Bedingungslosigkeit, Freiheit, Selbstgesetzlichkeit einerseits und Begierde, Neigung, Zweckhaftigkeit andererseits knüpft Kant seinen Würdebegriff und die der Stoa entlehnte Differenzierung von Preis und Würde. Kant schreibt von einem Reich der Zwecke, in dem alles entweder seinen Preis habe, wenn an dessen Stelle auch etwas anderes gesetzt werden könne, oder eine Würde habe, wenn es kein Äquivalent verstatte.129 Für jede vernünftige Natur sei Autonomie der Grund ihrer Würde. Ausdrücklich verknüpft Kant den möglichen Willen zur Selbstgesetzgebung, die Fähigkeit zur Sittlichkeit und den kategorischen Imperativ in der Selbstzweckformel nur mit der „Menschheit“, was bei Kant nach heutiger Lesart eher das Menschsein ist,130 und zwar das in das Individuum als reiner homo noumenon131 projizierte.132 Bezüglich der konkreten Person stellt sich Kant eine gewisse Erhabenheit und moralische Würdigkeit explizit nur vor bei derjenigen Person, die ihre Pflichten erfüllt und für sich gesetzgebend tätig wird. Nicht Neigung, nur die Achtung für das Gesetz sei die Triebfeder, die einer Handlung einen moralischen Wert geben könne.133 Für Kant erhebt das Ichbewusstsein des Menschen ihn in Rang und Würde über die als Sachen zu betrachtenden, vernunftlosen Tiere und verschafft ihm Personalität.134 Dies hat ihm den Vorwurf des Speziesismus eingetragen, so wie man ihn allerdings gegen jede Haltung zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies erheben kann.135 In seiner Philosophie der Metaphysik der Sitten folgert Kant als Tugendlehre später, dass ein jeder Mensch rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen habe, und wechselseitig er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden sei.136 Kant erörtert in den Metaphysischen An127  Kant,

AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 400. AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 447. 129  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 434. 130  Hübner, Philosophische Ethik, S. 199. 131  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 239. 132  Vgl. Pfordten, S.  505 f. 133  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 398 f.; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 105 f., 144, 213. 134  Kant, AA VII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 1. 135  Vgl. Singer, Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, S. 35. 136  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 462. 128  Kant,

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fangsgründen der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten die inneren, individuell zu setzenden, subjektiven Maßstäbe menschlicher Moral. Dagegen behandelt er in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten die äußeren Beziehungen des Rechts unter der Notwendigkeit, auch die Interessen anderer zu berücksichtigen. Danach ist Recht eine jede Handlung, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.137 2. Kantische Imperative In der kantischen Konzeption der Setzungen reiner Vernunft bestimmt sich der moralische Wert einer Handlung a priori frei von den praktischen Grenzen der Erfahrung und der Erscheinungen. Er bestimmt sich nicht nach bestimmten Inhalten in Relation zu bestimmten realen Verhältnissen. Vielmehr wird der Wert einer Handlung über ein formales Verfahren ermittelt. In diesem Verfahren wird die Handlung daraufhin geprüft, ob sie sich nach Maximen richtet, die Inhalt eines Gesetzes sein können. Die Existenz der Eigenschaft einer Maxime, Inhalt eines Gesetzes sein zu können, beurteilt sich nach der Frage, ob die Maxime universalisierbar ist, also konstant für alle und unter allen Umständen Gültigkeit haben kann.138 Maximen nennt Kant subjektive Grundsätze des Handelns.139 Die Maxime ist Inhalt des kategorischen Imperativs. Dieser Imperativ ist das universalisierbare Gesetz als objektives Prinzip und als Grundsatz, nach dem ein vernünftiges Wesen handeln soll. Kategorisch und eben nicht hypothetisch ist der Imperativ, weil er rein und unabhängig von empirischen Neigungen und Absichten, also Motivationen oder Zielsetzungen ist. Der allgemeine kategorische Imperativ in einer Universalisierungsformel lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“140 Maxime hatte Kant definiert als subjektiven Grundsatz, als subjektives Prinzip des Wollens – im Gegensatz zum objektiven Prinzip als praktischem Gesetz, was auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen 137  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 230. 138  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 420; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 48 f., S. 55. 139  Kant, AA IV, Kritik der reinen Vernunft, S. 840; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 20. 140  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 30: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde53

hätte.141 Der kategorische Imperativ zur Behandlung des Menschen in einer Selbstzweckformel lautet bei Kant: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“142 Wohlgemerkt unterscheidet Kant zwischen Menschheit und Person, lässt erkennen, dass in der äußeren Erscheinung jeder Person das Menschsein an sich liegt, und dass beider, der Person und des Menschseins Vorhandensein, vom sich zu Mittel und Zweck verhaltendem Subjekt nur immer zeitgleich mindestens zweifach, gewissermaßen intersubjektiv begriffen werden kann. Abgesehen von seiner erfahrungslosen Herleitung und davon, dass der kategorische Imperativ mit seiner Frage, ob eine Handlung für allezeit und jedermann als Gesetz gelten könne, enthält er de facto doch eine Art Nützlichkeits- und Folgenperspektive. Er taugt mit seinem rigorosen Formalismus zwar als Prüfinstanz unter dem Aspekt der Gesetzestauglichkeit des konkreten Maximeninhalts von bereits en détail bekannten Handlungen. Doch schweigt er zu Fragen, was überhaupt sein oder getan werden soll. Er tut sich in den Augen vieler schwer damit, je nach Detaillierung der zu prüfenden Fälle nicht in prozedural beliebig gerechtfertigte Ergebnisse zu verfallen; also je nach Konstruktion der Fälle in den konstruierten Ausnahmefällen adäquate Ausnahmen mit Gesetzescharakter zuzulassen.143 Schließlich erscheint es so, dass jeder Gedankengang unter dem Dach des kategorischen Imperativs das beweisen kann, was er voraussetzt und sich immer – je nachdem wie eng oder weit der zu prüfende Fall gezogen und verallgemeinert wird – sich ein Gesetz formulieren ließe. Kant selbst hat die ethischen Ergebnisse anhand von Alltagsbeispielen, u. a. der Lüge, exemplifiziert: Die Pflicht, immer die Wahrheit zu sagen – auch gegenüber dem Mörder, der nach dem Auffindeort seines potentiellen Opfers fragt – bestehe, weil die Lüge nicht als allgemeines Gesetz gedacht werden könne, seien die mit ihr verbundenen Absichten noch so gut gemeint. Denn selbst wenn die Absichten edel, hilfreich und gut gemeint seien, würde die Lüge bei allgemeiner Gesetzesgeltung nicht mehr entsprechende Wirkung entfalten können, da jeder jeden jederzeit belügen dürfte oder sogar müsste und so ohnehin keiner mehr glaubte, was gesagt würde. Die Lüge verlöre ihre reale Grundlage in der Welt, die zumindest partielle Ehrlichkeit und den Glauben an sie, sodass niemand mehr unter keinen Umständen lügen könnte. Das Gesetz pro jederzeitiger Lügeerlaubnis oder cum Lügepflicht gegenüber jedermann wäre logisch-faktisch unmöglich. 141  Kant,

AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 400. AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 143  Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 317; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 261. 142  Kant,

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Und: Der Belogene würde ohne Zustimmungsmöglichkeit als bloßes Mittel eingesetzt.144 3. Kritische Analyse der kantischen Kritikstruktur Die Reinheit des guten Willens, der zu moralisch würdiger Behandlung der im Personenbegriff enthaltenen Menschheit führen kann, hat ihre Grundlage in der Erkenntnistheorie Kants, wonach jedes Ding, das dem Menschen mit praktischer Vernunft empirisch erscheint, auch mit reiner Vernunft an sich selbst gedacht werden kann. So kann man bei Kant das Menschsein denken als Menschsein, wie es uns realiter erscheint, also als homo phanomenon und theoretisch als Menschsein an sich, also als homo noumenon. Der homo phaenomenon existiert in der unserer Sinnlichkeit und unserem Verstand erkenntnismäßig zugänglichen kausalgesetzlichen Welt und der homo noumenon entstammt als erkenntnistheoretisches Ding an sich einer Welt der uns nicht voll erkennbaren, nur mittels reiner Vernunft und ihrer Begriffe denkbaren Dinge.145 In Gestalt des homo noumenon wird der Mensch nicht kausaldeterminiert-sensibel, sondern nur unempirisch-intelligibel als freies Wesen mit gutem Willen gedacht.146 Durch die menschliche Vernunft kann beim homo phaenomenon analog zum Ding in der Erscheinung der gute freie Wille des Menschen in seinen äußeren Erscheinungsformen durch den Menschen gar nicht sicher erkannt, wohl aber beim homo noumenon als Ding an sich selbst vorausgesetzt werden. Diese VorausSetzung des Dings an sich ist eine Art ens realissimum der kantischen Philosophie und entsprechend Angriffspunkt der Kritik gewesen, sinngemäß etwa als reine Fiktion oder schlichtes Surrogat für die Gottesidee innerhalb einer kantischen Moraltheologie147 und damit als logische Krücke, argumentative Schaumschlägerei, sprachliche Verführung.148 Die Rochade liegt darin, dass Kant in seiner Philosophie die Inhalte der bisherigen epistemologi144  Kant,

AA VIII, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen. AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 451–453, 456–458; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 10 Anmerkungen; S. 72, 169–171, 174 ff. 146  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 453; Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 84, 187; Kant, AA, III, Kritik der reinen Vernunft, S. 569. 147  Schopenhauer, Kritik der kantischen Philosophie, S. 627, 717 ff., bei grundsätzlicher Anerkennung des Werkes Kants als das „vollendete Meisterstück eines wahrhaft großen Geistes“, ebenda, S. 599. 148  Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, I, 1: „Wunder-Ursprung“; Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 13: Das Ding an sich als „Wechselbalg“; Nietzsche, Der Antichrist, 11: Tugend, Pflicht, und das Gute an sich als „Hirngespinste“, in denen sich das „Königsberger Christentum“ ausdrücke; 145  Kant,



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde55

schen Glaubensarten und „Philodoxie“149 als zwar die menschliche Vernunft belästigend, durch ihr Vermögen aber nicht vollständig beantwortbar150 und damit ihre Bezeugungen als haltlos darstellte, gleichzeitig aber durch die Setzungen der von ihm postulierten reinen Vernunft Glaubensfragen nach der Unsterblichkeit der Seele, Gott und der Willensfreiheit als unabweisbar beantwortete. Durch das gleichzeitige Darlegen von Nichtbeantwortbarkeit und Unabweisbarkeit legte er die Berechtigung einer Beantwortung durch die reine Vernunft nahe. Ausgehend von den Antinomien der reinen Vernunft151 konnte er dann weitere Konzeptionen von Moral und menschlicher Würde bauen. Er selbst hat die metaphysische Pointe seiner Dogmatik selbst beschrieben, indem er eingestand, das Wissen aufheben zu müssen, um zum Glauben Platz zu bekommen.152 Freiheit, Gott und unsterbliche Seele nicht als reale Dinge in der Erscheinungen Welt, aber als regulative Ideen. Positiv gewendet ermöglicht die nichtempirische Perspektive auf den als homo noumenon gedachten Menschen, ihm in jedem Entwicklungsstadium den Status eines Rechtssubjektes zuzusprechen. Der Mensch als Würdeträger durch sein wesensmäßiges Potential zu moralisch gutem Handeln in freier Selbstgesetzgebung. Mit dieser prinzipiellen Würde qua Autonomiepoten­ tialität ist jedes vernünftige Wesen ab Zeugung Würdeträger, eine Person mit Rechtsfähigkeit, also mit Fähigkeit zum rechtlich Guten, ergo mit Rechtssubjektivität.153 Kant steht selbst dazu, dass es sich bei der Verleihung von Würde und personaler Rechtssubjektivität um praktische Ideen handelt, die er allerdings für unabweisbar und notwendig erachtet. Es handelt sich ausweislich des Werks und der Aussagen seines Autors um nicht mehr und nicht weniger als Axiome. Auch wenn aufgrund der Verteilung und schwerpunktmäßigen Verortung dieser praktischen Ideen in Kants Morallehre sie in Kants Rechtslehre ursprünglich keinen zentralen Stellenwert eingenommen haben154, so unterliegen sie jedenfalls als Ideen einer wirkmächtigen Geschichte bis ins Recht hinein. Die Kritiken an der auf einem Ding an sich aufbauenden Moral-Konstruktion und an der metaphysischen Würde- und Zwecklehre mit speziesistischer Erhebung über die Tiere hat keiner prägnanter verbunden als Schopenhauer, Nietzsche, Ecce homo, Der Fall Wagner, Nr. 3, über Kant et alii: „Falschmünzer“ und „Schleiermacher“. 149  Kant, AA III, Kritik der reinen Vernunft, S. 22. 150  Kant, AA IV, Kritik der reinen Vernunft, S. 7. 151  Kant, AA III, Kritik der reinen Vernunft, S. 281–382 („Transzentendale Dialektik“). 152  Kant, AA III, Kritik der reinen Vernunft, S. 18. 153  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, S. 280 f. 154  Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, S. 17; Lohmann, Menschenwürde als „Basis“ von Menschenrechten, S. 185.

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der nach eigener Bekundung Kant grundsätzlich als einen der größten Denker aller Zeiten anerkannte. Schopenhauer schrieb über die Folgen des von Kant benutzten Ausdrucks der Würde als „das Shiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck ‚Würde des Menschen‘ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde“.155 Und über das Ding an sich schrieb Schopenhauer: „Er aber schleicht durch seine wunderlichen Definitionen zu dem Satz: ‚Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst.‘ Allein ich muß geradezu sagen, daß, ‚als Zweck an sich selbst existieren‘ ein Ungedanke, eine Contradictio in adjecto ist. Zweck sein bedeutet gewollt werden. Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen, dessen Zweck, d. h., wie gesagt, dessen direktes Motiv er ist. Nur in dieser Relation hat der Begriff Zweck einen Sinn, und verliert diesen, sobald er aus ihr herausgegriffen wird. Diese ihm wesentliche Relation schließt aber alles ‚An sich‘ aus. ‚Zweck an sich‘ ist gerade wie ‚Freund an sich‘ – Feind an sich,– Oheim an sich,– Nord oder Ost an sich,– Oben oder Unten an sich,– u. dgl. m. Im Grunde aber hat es mit dem ‚Zweck an sich‘ die gleiche Bewandtnis wie mit dem ‚absoluten Soll‘: beiden liegt heimlich, sogar unbewußt, der selbe Gedanke als Bedingung zum Grunde: der theologische. – Nicht besser steht es mit dem ‚absoluten Werth‘, der solchem angeblichen, aber undenkbaren Zweck an sich zukommen soll. Denn auch diesen muß ich, ohne Gnade als Contradictio in adjecto stempeln. Jeder Werth ist eine Vergleichungsgröße, und sogar steht er nothwendig in doppelter Relation: denn erstlich ist er relativ, indem er für Jemanden ist, und zweitens ist er komparativ, indem er im Vergleich mit etwas Anderem, wonach er geschätzt wird, ist. Außer diesen zwei Relationen gesetzt, verliert der Begriff Werth allen Sinn und Bedeutung. Dies ist zu klar, um noch einer weiteren Auseinandersetzung zu bedürfen. – Wie nun jene zwei Definitionen die Logik beleidigen, so beleidigt die ächte Moral der Satz (S. 65, R. 56), daß die vernunftlosen Wesen (also die Thiere) Sachen wären und daher auch bloß als Mittel, die nicht zugleich Zweck sind, behandelt werden dürften. In Uebereinstimmung hiermit wird, in den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre‘, §. 16., ausdrücklich gesagt: ‚Der Mensch kann keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben als bloß gegen den Menschen‘, und dann heißt es, §. 17.: ‚Die grausame Behandlung der Thiere ist der Pflicht des Menschen gegen sich selbst entgegen: weil sie das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abstumpft, wodurch eine der Moralität im Verhältniß zu andern Menschen sehr diensame, natürliche Anlage geschwächt wird.‘ – Also bloß zur Uebung soll man mit Thieren Mitleid haben, und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Uebung des Mitleids mit Menschen. Ich finde, mit dem ganzen nicht-islamisierten Asien, solche Sätze empörend und abscheulich. Zugleich zeigt sich hier abermals, wie gänzlich diese philosophische Moral, die, wie gezeigt, nur eine verkleidete theologische ist, eigentlich von der biblischen abhängt.“156 155  Schopenhauer, 156  Schopenhauer,

Über das Fundament der Moral, § 8. Über den Willen in der Natur. 163 f.



B. Ideengeschichtliche Implikationen der Menschenwürde57

In der Kritik stellt sich der Sockel der kantischen Moralphilosophie in Form des Dings an sich als logisches Surrogat des religiös Einen, des Göttlichen, dar. Das von Kant verwendete stoische Referenzmaterial mit der Koppelung von Freiheit, Gutheit, Würde an die Befolgung des Sittengesetzes aus Pflicht und die differierende Wortwahl Kants bezüglich der Begriffe Mensch, Person, Menschheit, Menschsein sowie seine Unterscheidung in den späteren Schlussfolgerungen von Rechts- und Tugendlehre lassen Interpretationsspielraum. Er könnte genutzt werden für das Erblicken einer Ambivalenz, ja sogar einer Dualität des kantischen Würdebegriffs, einer Gradualität von Potentialität und Konkretion je nach rein gedachter Gesetzgebungs- und Willensfähigkeit im Menschsein des Einzelnen als homo noumenon einerseits und andererseits praktisch als in der konkreten Handlung erscheinendem Willen des jeweiligen Menschen als homo phaenomenon. Letzteres betrifft den Menschen als Person der realen Rechtswelt. Diese realistische Lesart Kants mit der Unterscheidung von innerer und äußerer Freiheit157 und daraus folgend einem inneren und äußeren Würdeverständnis entspricht dann auch der nichttotalitären, demokratisch-pluralistischen Differenzierung von moralischen und rechtlichen Würdebegriffen, bei Kant geschieden in Rechtslehre und Tugendlehre. VII. Deutscher Idealismus nach Kant und Materialismus: Schiller, Fichte, Hegel, Marx – und die Dialektik von Sein und Bewusstsein Durch Kant motiviert zu einer Überwindung der Dualismen von Vernunft und Sinnlichkeit sowie Pflicht und Neigung findet sich beim viel weniger als Philosophen denn als Dichter beachteten Friedrich Schiller das Wort von der Würde gleichsam als Gegenbegriff zum triebhaften Willen, über den der Geist sich als Gebieter gerieren muss, um Würde auszudrücken.158 Schon der bloße Wille erhebe den Menschen über die Tierheit; der moralische erhebe ihn zur Gottheit.159 So wie Anmut der Ausdruck einer schönen Seele sei, sei Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung.160 In ihr legitimiere sich das Subjekt selber als eine selbständige Kraft, wenn es das Sinnliche dem Sittlichen unterordne. Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft sei Geistesfreiheit, und Würde hieße ihr Ausdruck erst in der Erscheinung.161 Der Einsatz der Würde ist nicht für allezeit gleichermadazu selbst Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 214, 380, 396, 406. Über Anmut und Würde, S. 476. 159  Schiller, Über Anmut und Würde, S. 470. 160  Schiller, Über Anmut und Würde, S. 469. 161  Schiller, Über Anmut und Würde, S. 474. 157  Vgl.

158  Schiller,

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

ßen erforderlich, sondern nur, wenn gegen den Naturtrieb Widerstand zu leisten ist, was einen Einsatz der Würde lächerlich mache, wo kein Widerstand vonnöten ist, und verächtlich mache, wo keine andere Gewalt bekämpft werden sollte.162 Auch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel konstituiert sich Würde nicht durch bloße Potentialität und Unmittelbarkeit des menschlichen Willens, sondern durch Bildung und Formung von Substan­ tiellem durch den Willen.163 Hegel ist es nicht so sehr expressis verbis um die Würde, dafür umso mehr um den Begriff der Person zu tun. Für ihn ist die persönliche Freiheit des Menschen Prinzip der Pflicht und des Rechts. Im Recht wird der Mensch äußerlich als Person anerkannt. Für Hegel ist das Rechtsgebot: Sei eine Person und respektiere die anderen als Person.164 Marx, der Hegels Idealismus mit seinem dialektischen Materialismus „vom Kopf auf die Füße stellen“ wollte, postulierte gemäß seiner Prämisse, dass nicht das Bewusstsein, sondern das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme165, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist166. Dass unabhängig von der Würdedefinition diese sich erst in den äußeren Umständen realisieren kann, gewissermaßen Würde als gestaltbare Größe, ist ein Gedanke, der schon beim Idealisten Schiller ganz materialistisch in einem Epigramm zur Würde des Menschen zu finden war: „Nichts mehr davon  – ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu / wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von / selbst.“167 Nach Marx ist das menschliche Wesen kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, vielmehr „in seiner Wirklichkeit“ sei es „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“168. Für Marx ist die Geschichte der Menschheit immer vom Standpunkt aller Menschen zu erzählen, und solange es eine Klasse von entfremdeten Menschen gibt, ist jeder Mensch – auch der „aufs Denken spezialisierte Philosoph“ selbst „eine abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen.“169 Dies kann als ein dem Denken Fichtes verwandter Gedanke in materialistischem Gewand mit praktischer Gebärde gedeutet werden. Nach Fichte wird der Mensch ein Mensch nur unter Menschen, und der Begriff des Menschen ist gar nicht der Begriff eines Einzel162  Schiller,

Über Anmut und Würde, S. 477. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 300 f. 164  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 36. 165  Marx, Kritik der politischen Ökonomie, S. 9. 166  Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 615. 167  Schiller, Würde des Menschen, in: Sämtliche Werke, Band 1: Gedichte, S. 248. 168  Marx, Thesen über Feuerbach, S. 5 ff. 169  Marx, Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt, S. 572. 163  Hegel,



C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität59

nen, denn ein solcher sei undenkbar, sondern der einer Gattung.170 Außerdem könne das endliche Vernunftwesen nicht noch andere Vernunftwesen annehmen, ohne sich selbst zu setzen, als mit den anderen in einem Rechtsverhältnis.171 Fichte war Idealist in Auseinandersetzung mit Kant, kann aber – u. a. mit seiner These eines Ich, der Antithese des anderen Ichs und der Synthese des Rechtsverhältnisses – auch als einer der ersten Dialektiker im modernen philosophischen Sinne bezeichnet werden.172 In der Epoche des 19. Jahrhunderts mit Idealismus und Materialismus erfährt der Gegensatz von Innen und Außen, von Selbst- und Fremdgesetzgebung, von Persönlichkeit und den Verhältnissen, von Sein und Bewusstsein seine kraftvollste Verdichtung, wie überhaupt im 19. Jahrhundert revolutionäre Triebkräfte in allen geistigen, materiellen und politischen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einen gewaltigen Schub an Progressionspotential erlangen. Politisch-rechtlich soll gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsprechend der Ablösung des Idealismus durch den Materialismus die soziale Frage, katalysiert durch Bevölkerungsexplosion und Industrialisierung173, in der Gestaltung der Verhältnisse entscheidend werden.

C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität – Synthese der Ideengeschichte Es ergeben sich von Anbeginn der Aufzeichnungen in der Ideengeschichte, in der das Wort von der Würde zumindest irgendwo einmal expressis verbis auftaucht, im Spektrum von kontingenten und konstanten Würdebegriffen mutatis mutandis grundlegende Gemeinsamkeiten und es kommen auch bestimmte Dinge nirgendwo real in Reinkultur vor: Sowohl bei antiken, vorchristlichen, also den griechischen und römischen Klassikern, als auch bei den religiösen Autoren gibt es Würdebegriffe, die zweigeteilt sind zwischen Amts-, Ansehens- und Rangwürde einerseits und Geistes- und Wesenswürde andererseits, und die mehreben erscheinen zwischen Kontinui­ tät und Kontingenz. Wo Würde beschrieben wird, ist sie generelles, universalistisches Konzept und relativ mindestens in Beziehung oder Verhältnis zu etwas gedacht, etwa anderen Kreaturen oder Gott. Einmal ist Quell der Würde das den Menschen in der Naturordnung über alle anderen Lebewesen grundsätzlich erhebende, nämlich sein geistiges Potential. Würde be170  Fichte, Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Corollaria zu § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 39. 171  Fichte, Grundlage des Naturrrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Corollaria zu § 4, Dritter Lehrsatz, S. 41. 172  Helferich, Geschichte der Philosophie, S. 269. 173  Stegmann, Soziale Frage, in: Staats-Lexikon, Band 4, S. 1232.

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

zeichnet so das spezifisch menschliche, ihn von anderen Wesen abgrenzende, meist mit der Wertung als höchstem Wert der Schöpfung oder der Natur verbunden, also einen Eigenwert des Menschen. In der christlichen Lehre dient dieses Konzept der singulären Erhabenheit zudem als Beleg der Gutheit Gottes. Nach beiden Quellen ist zwar nicht bereits mit dem Eigenwert an sich eine ethische Forderung an den Menschen verbunden, aber bei beiden Quellen enthält das mit dem Eigenwert mitgegebene Potential an Würde Pflichtpotentiale, würdegemäß zu leben, entweder nach der natürlichen Ordnung der Dinge oder nach den Geboten Gottes.174 Dazu sind eigene Selbstdisziplin, Selbstüberwindung und Achtung, Ansehen und angemessenes Verhalten in den Augen der jeweils Anderen vonnöten. Die Beziehung zu Anderen außerhalb des Menschen an sich insinuiert bereits eine Intersubjektivität des Würdebegriffs. Die Selbst- und Fremdverpflichtung ist vonnöten, weil mit dem Würdequell der geistigen Kraft und einer wegen des geistigen Würdepotentials vertikal nach oben anzustrebenden Würdigkeit zugleich die Möglichkeit menschlicher Schwäche, des Abstiegs und der Verirrung besteht. Mit diesem Potential zum Negativen als unentrinnbarem Spiegelbild des menschlichen Größenpotentials ist Würde insbesondere in der christlichen Lehre nie nur frohe Botschaft, sondern auch Problem bei der Behandlung des Menschen, eindrücklich zu besehen etwa bei Augustinus und noch einmal existentiell beim protestantischen Luther.175 In der christlich-realistischen Auffassung vom anfälligen Menschen und seiner Würde liegt der tiefe Grund für die christlich-ideengeschichtliche Entwicklung in der Auseinandersetzung mit den Menschenrechten und in ihr wird auf tiefem Grund die jederzeitige ideologische Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten sichtbar: Die christliche Lehre war in den allermeisten Fällen realistisch genug, trotz der Verehrung der spezifisch menschlichen Natur durch das imago dei gegen eine Vergöttlichung des Menschen zu agitieren. Die in ihren Augen zu befürchtende Hybris mit falscher Umkehrung der Mensch-Gott-Beziehung in der Überhöhung des Menschen durch die Verabsolutierung seiner Würde in den Menschenrechten hinderte sie in weiten Teilen lange daran, diese vollumfänglich anzuerkennen.176 Der Würdebegriff wird bis ins heutige Alltagsverständnis hinein 174  Es bleiben also heteronomische Konzepte, zum einen als kosmonomisch oder ontonomisch und zum anderen als theonomisch, so luzide kategorisierend: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 129. 175  Schaede, Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, S. 31, 35 f. 176  Vgl. Jaber, Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürdegarantien, S. 105 ff.; vgl. für eine Priorisierung der Gottesliebe vor der Nächstenliebe einer modernen Theologie noch stellvertretend: Barth, Kirchliche Dogmatik, S. 445 ff., 453.



C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität61

sich nie der im Christentum problematisierten Ambivalenz einer gnädigen, aber verpflichtenden Gabe Gottes177 entzogen und einen selbstverpflichtenden Anteil am Würdestatus beibehalten haben. Bei Kant wird das geistige Potential als Quell der Menschenwürde bleiben. Wiewohl auch bei Kant Gott neben der Seele und dem freien Willen weiterhin gerechtfertigt wird, entspricht dem geistigen Konstrukt des Dings an sich das subjektive Prinzip jeder vernünftigen Natur, als Zweck an sich selbst zu existieren. Der Selbstzweckgedanke wird zum objektiven Prinzip der Vernunft, woraus für jeden Menschen logisch alle Gesetze des Willens abzuleiten und worauf sie auszurichten sind, um nicht in Widerspruch zur begrifflichen Ordnung zu geraten.178 Bis zur Tugendlehre Kants – aber auch nur bis zu dieser – bemisst sich die richtige Realisation der Würde an den – gottgefälligen oder güterorientierten – Taten des Menschen. Diese wiederum sind Gradmesser für den Würdegrad und damit der Stellung des einzelnen in der Seinshierarchie, der gottgegebenen oder gesellschaftlichen Ordnung. Diese seine Stellung positiv wie negativ zu beeinflussen, hat der Mensch freiverantwortlich in der Hand. Er wird von keinem klassischen Autor – wenn auch nicht so radikal wie von Pico – völlig determiniert behandelt, was zur Folge hat, dass er auch zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Gottebenbildlichkeitslehre kann im Zusammenhang mit der menschlichen Wahlfreiheit und der Fähigkeit zur Setzung guter und böser Zwecke gedacht werden durch das „eritis sicut deus scientes bonum et malum“179, bei Thomas von Aquin als liberium arbitrium und potentia.180 So schreibt etwa der Aquinat abgrenzend zur Interpretation des menschlichen Seins als imago dei über das menschliche Sein als ad imaginem und bewertet die menschliche Willensfreiheit bloß als Möglichkeit, sich nach dem Sündenfall Gott wieder anzunähern, im Gegensatz dazu nur der Sohn Gottes diesem ebenbildlich sei.181 Und für Kant ist der Mensch im System der Natur, der homo phaenomenon, ein Wesen von geringer Bedeutung und hat in der diesmal ganz unspezisistischen Sicht des Königsberger Philosophen einen mit den Tieren gemeinsamen Wert182. Der Rest steht auf und fällt mit der kantischen Konstruktion des Dings an sich. 177  Kondylis, Würde (II.–VIII.), in: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, S. 648. 178  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 436. 179  Bibel, 1. Buch Mose (Genesis), 3, 5 und 3, 22. 180  Thomas von Aquin, Summa theologica, I – I, q. 83 a. 4. 181  Thomas von Aquin, Summa theologica, I – I, q. 35 a. 2 ad 3. 182  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 434.

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

Manchesmal sind sich ergebende Konsequenzen der Würderealisation in Gestalt von Gratifikationen und Sanktionen – am schärfsten beim Aquinaten – klar ausgesprochen, manchmal muss man den moralischen und religiö­ sen Kontext zugrundelegen, aus dem sich bestimmte diesseitige oder jenseitige Behandlungen des Würdeträgers ergeben können. Bei würdegemäßem Verhalten winken seit Cicero Ansehen und Rang, seit Aristoteles bereits allgemein Würdigkeit zu Höherem. Zumeist liegt die wirkliche Tendenz der religiösen und klassischen Lehren eben nicht darin, den Menschen heilig zu sprechen, sondern seinen Schöpfer gegen Kritik zu immunisieren oder die Ordnung der Dinge zu harmonisieren. Sogar noch bei Kant ist ein Haupt­ impetus gegen das erkenntnisbeschränkte Universum eine harmonische Begriffsanordnung für die menschliche Vernunft bis zum Ding an sich. Der Epoche des Deutschen Idealismus nach Kant mit Schiller, Fichte, Hegel, Marx, die im Materialismus abermals umgedreht wird, ist immer auch als Reaktion auf die sogenannte kopernikanische Wende des Immanuel Kant zu verstehen, die den zur Zeit Kants kritischer Phase vorherrschenden Gegensatz von Empirismus und Rationalismus zu überwinden suchte. Immer weist die Menschenwürde statische und dynamische Elemente auf. Die doppelte Dichotomie der realen Menschenwürdekonzepte bestimmt bis heute nicht nur in religiösen Kreisen183 das doppelte Dilemma des grundgesetzlichen Menschenwürdesatzes: Menschenwürde einerseits unantastbar, andererseits veränderbar? Menschenwürde einerseits als gemeinschaftlicher Auftrag zur Achtung freien Willens, andererseits als individuelle Pflicht des Würdeträgers zu bestimmten Willensbetätigungen? Es muss wohl schon jede Menschenwürdekonzeption mit dieser Zweiheit eines Würdebegriffs in ihrer siamesischen Janusköpfigkeit zerreißen, denkt man sie allein moralisch oder rein rechtlich mit konkreten Ethik- oder Rechtspflichten starr und totalitär zu Ende als zugleich vorhanden und gleichzeitig niemals veränderbar, als göttlich und menschlich. Menschenwürde als starres Konzept von Wesensmerkmal und Gestaltungsauftrag184 zugleich würde sowohl ihre guten Gründe als auch ihre notwendigen Konsequenzen mit einem Schlag in Widersprüchlichkeiten aufheben. Den gordischen Knoten zu zerschlagen, könnte heißen, Würde nicht identisch als Ding an sich, sondern wenigstens auch different zu denken, Potentialität des Menschseins im Menschen unverbrüchlich zu sehen und Realität des Menschseins in der Person anzuerkennen. Eine inhärente Würde müsste im Äußeren ausgestaltet werden. 183  Insbesondere für deren evangelische Theologen: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 130. 184  Dieses Begriffspaar durchgängig zur Handhabbarmachung von Menschenwürdekonzepten verwendend, mit der richtigen Feststellung, dass nur der Gedanke des Gestaltungsauftrags wirklich die gesamte abendländische Geschichte durchzieht: Wetz, Illusion Menschenwürde?, S. 46.



C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität63

Für die Vereinheitlichung des Göttlichen und des Menschlichen, des absoluten Ideals an sich und der relativen Realität, bedurfte es christologischer Lösungen wie der seit dem Konzil von Chalkedon dogmatisierten hypostatischen Union, welche das Göttliche und das Menschliche in Christus geschieden, aber im Personenbegriff vereint untergebracht dachte.185 Die Differenzierung der verschiedenen Aspekte des Menschseins wird von allen hier dargestellten Würdewortführern der Menschheitsgeschichte darum auch in der Person nicht deterministisch-defätistisch gedacht, sondern im allseitigen, intersubjektiven Bewusstsein der Veränderlichkeit und der Verantwortlichkeit aller Menschen. Demnach sind zwar der Quell und die Pflicht der Würde des Menschlichen als Grundlage der intersubjektiven Annäherung an den Menschen und als Achtung jedes Menschen als Person mit Rechten und Pflichten nicht verhandelbar und insoweit absolut geschützt. Aber jeder Mensch ist bei allen, sowohl den religiösen, den begrifflich-transzendentalen, den idealistischen und den materialistischen Philosophen qua seiner Vernunft gezwungen, sich zu seinem Würdepotential zu verhalten – nicht unbedingt es bestmöglich zu nutzen. Doch er bleibt verantwortlich und verantwortbar für die Realisierung dieses Menschheitspotentials in sich und gegenüber den anderen. Diese Verantwortlichkeit ist eine gegenüber den ethischen Postulaten auf kleinere gemeinsame Nenner minimierte Konstante der äußeren Rechtswelt. So behält Recht moralische Minima und transformiert das Menschenmög­ liche in die praktische Rechtswelt. Nimmt man alle Klassiker beim Wort, findet man einschließlich Kant denn auch niemanden, der nicht zumindest für die äußere Rechtswelt der konkreten Erscheinungen durchgängig konsequent ein starres, totalitäres Menschenwürdeverständnis ohne Ansehen eben der Person und individueller Personalität und ohne Berücksichtigung der Umstände durch sein Gesamtwerk vertritt. Nach Kant werden der äußeren Person ihre Handlungen zugerechnet, weil die innere Persönlichkeit als nach freiem Willen handeln könnend geachtet wird.186 Die philosophische Sphäre ist die des Menschseins und der persönlichen Potentialität, die Rechtssphäre die der äußeren Person, womit zwischen Potentialität und Realität des Menschseins unterschieden und vermittelt werden kann. Darin scheint eine Unterscheidung von Moral als absoluter Richtschnur, als Prinzip des Handelns und von Recht als relativem Regelsystem auf. Die Berücksichtigung des grundsätzlichen Verhältnisses von Ethik und Recht wird – wie in dieser Arbeit bei der Darstellung eben dieses Verhältnisses bereits aufgezeigt – als unbabdingbare Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit angesehen. Sie ist gekennzeichnet durch das Verschaffen angemessener 185  Zur derartigen Entwicklung des Personenbegriffs: Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 120, m. w. N. 186  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 329.

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

Freiheitsräume und Potential sichernder Unterschiedlichkeit von Moral und Recht, von menschlichem Innen und Außen, von subjektiver Innerlichkeit und äußeren Verhältnissen, von innerem und äußerem Gesetz, von innerer Pflicht und äußerem Zwang, von individuellem Glauben und äußerer Gesetzgebung, innerer Vergewisserung und gemeinschaftlichen Gewährleistungen, von eigenen Meinungen und anderem Müssen, von forum internum und forum externum. Beide Sollsysteme sind zu trennen, keines geringzuschätzen und zu vernachlässigen, beides in ihrer überragenden Funktionalität für jede zwischenmenschliche Gemeinschaft zu würdigen, zu verwerten, untereinander auszutauschen und in politisch-gesellschaftlichen Prozessen auszugleichen. Moralität und Legalität, Recht als Regel, Moral als Fundus regulativer, prinzipieller Ideen. Der Zweck ist das Funktionieren der jeweiligen Sollsysteme und – auf die Menschenwürde gewendet – gerade der Schutz der inneren Willensfreiheit und des geistigen Potentials vor totaler Ausleuchtung, Bewertung, verrechtlichter Verfügbarmachung und Konsequentialisierung in Form von Gratifizierung und Sanktionierung. Im Topos der Menschenwürde kumulieren beide Bewertungssysteme des Menschseins. Auch die kantische Moralphilosophie mit der weitverzweigten Architektur ihres großen Begriffsgebäudes bewegt sich speziell im Würdebegriff weit mehr auf einer Linie mit den ideengeschichtlichen Implikationen der nichtchristlichen und christlichen Autoren, als es vielleicht der kategorische Imperativ in populärer Lesart vermuten lässt. In seiner Universalisierungsformel kann der kategorische Imperativ material verschiedentlich ausgefüllt werden und in seiner Zweckformel beschränkt er sich denn auch darauf, das Menschsein in Unterscheidung zu jeder Person nicht nur ausschließlich als Mittel, sondern wenigstens auch als Zweck zu behandeln. Die Person ist „Subject einer moralisch-praktischen Vernunft“.187 Kant – trotz kategorischen Imperativs als formales Kriterium einer tugendhaften Welt ein Befürworter der Todesstrafe für die Rechtswelt188 – verwendet den Topos der Würde in seiner Rechtslehre exakt einmal.189 Diese Einmaligkeit steht bezeichnenderweise ganz im Gegensatz zur überproportionalen Benutzung des Begriffs in der kantischen Tugendlehre. Es bleibt eines der großen Verdienste und das gemessen an den zu ihrer Entstehungszeit vorherrschenden Denk- und Glaubenstraditionen wahrhaft kopernikanisch-revolutionäre der Kantischen Philosophie, dass man in ihr die Setzungen der reinen Vernunft a priori und die Setzungen der praktischen Vernunft a posteriori zu erkennen und für die Welten von Innen und Außen voneinander zu scheiden vermag. 187  Kant,

AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 434 f. AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 331 ff. 189  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, S. 329. 188  Kant,



C. Geistig-materiales Potential und Intersubjektivität65

Es werden in der Ideengeschichte zwar mal mehr, mal weniger Bilder einer (menschen)natur- oder gottgegebenen Größe des Menschen gezeichnet, die unveränderlich oder zumindest unverlierbar ist. Soweit ersichtlich hat aber kein Autor der abendländischen Geistesgeschichte für die gesellschaftlichen Konsequenzen der Rechtswelt die in vielen Interpretationen aufscheinende, doppelte Dichotomie der Menschenwürde totalitär zusammengedacht und regelhaft durchgehalten. Vielmehr fanden für die recht­ lichen Bewertungen Abstufungen nach Ansehen oder Rang sowie weltlichen oder jenseitigen Sanktionen statt und jedenfalls eine jederzeitige Ausrichtung an einem anzustrebenden und zu erreichenden Prinzipiellen als Quell und Endziel menschlichen Strebens.190 Dabei werden durchaus verschiedene menschliche Zustände an Zielerreichungsgraden mit realistisch-gnädiger, aufs Äußerliche beschränkter Gebärde akzeptiert und angemessen behandelt. Nur ein besonders krasses Abfallen aus einer kosmischen, göttlichen oder ethisch-begrifflichen Ordnung wird mitunter mit einem Abfall vom Gött­ lichen, Ausstoß aus dem Gemeinschaftlichen oder einer Abtötung der menschlichen Existenz als Strafe bedacht. Würde wird in der gesamten Ideengeschichte de facto und de iure auch als eine im Menschen angelegte, aber genauso gestaltbare Größe gedacht. Gestaltung geschieht und wird mit zunehmendem Fortschritt gefordert in Form der Veränderung der äußeren Verhältnisse, welche je nach rechtlicher und faktischer Ausformung die Entfaltung des menschlichen Potentials erweitern helfen und hemmen können. Sie sind ein für das menschliche Auge weithin sichtbarer Gradmesser, Katalysator und Prüfstein für die Verwirklichung von prinzipiell postulierten Freiheitsräumen und Gleichberechtigungen in menschlichen Gemeinschaften. Schon Kant unterscheidet in seiner in juristischen Zirkeln meistzitierten Zweckformel des kategorischen Imperativs zwischen Menschheit und Person, lässt erkennen, dass in der äußeren Erscheinung jeder Person das Menschsein an sich liegt, und dass beider, der Person und des Menschseins Vorhandensein, vom sich zu Mittel und Zweck verhaltendem Subjekt nur immer zeitgleich mindestens zweifach, gewissermaßen intersubjektiv begriffen werden kann. Mit einer in dieser Arbeit vorgenommenen Verbindung von idealistischen und materialistischen Ideengehalten, in personam besonders eindrücklich bei Fichte und Marx postuliert, erfahren in den äußeren Verhältnissen des Rechts die These des Ich und die Antithese des Nicht-Ich, des Ich des Anderen ihre intersubjektive 190  Hier bietet sich bei der Potentialität des Strebens die Assoziation an zu: Goethe, Faust, Prolog im Himmel, Vers 317, und die dortige Feststellung „des Herrn“, der sogar selbst konzessioniert: „Es irrt der Mensch solang’ er strebt.“ Und der Herr behauptet a. a. O., Vers 328 f., vor Mephistopheles die unbedingte Ausrichtung auf das Prinzip des Guten: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange/  ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“

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2. Teil: Philosophische Grundlagen der Geistesgeschichte

Synthese. Das Ich kann nicht gedacht werden ohne eigene Vorstellung von der Identität und Potentialität des Alter ego, die Menschheit nicht ohne Einbezug jedes Menschen in die Rechtsgemeinschaft. Schlussfolgerung der Vernunft a priori ist, dass die Achtung des Menschen zur Selbstachtung immer wechselseitig symmetrisch erfolgen muss. Was alle in dieser ideengeschichtlichen Untersuchung betrachteten Denker seit Aristoteles᾽ hexis und energeia eint, ist die Überzeugung, dass der Mensch großes Potential hat – zu Gutem und zu Schlechtem, und dass er – solange dieses menschliche Potential gedacht werden kann – dieses Potential als spezifischer Eigenwert des Menschseins in allen Menschen und von allen Menschen als Personen an sich zu achten und zu schützen ist.

3. Teil

Rechtsdogmatische Grundlagen A. Zu Berechtigung und Gegenstand der Rechtsdogmatik Die nach der geschilderten Ideengeschichte einsetzende Verrechtlichung des Wortes der Menschenwürde eröffnet das juristische Feld der Rechtsdogmatik. Rechtsdogmatik behandelt das Wissenschaftliche des Rechts par excellence; sie ist Rechtswissenschaft im engeren Sinne.191 Rechtsdogmatik ist die Lehre und Praxis von der folgerichtigen Anwendung des Rechts zur Erlangung von gültigen, entscheidungsfördernden Rechtssätzen und Rechtsaussagen für Rechtsnormen.192 In vollständiger Rechtsdogmatik bedingen und begünstigen sich Logik und System, Topik193 und Rhetorik einander194, allesamt Techniken der Wahrheitsfindung, die in den beiden Wissenschaftsdisziplinen von Recht und Ethik faktisch Verwendung erfahren. Vollständige Rechtsdogmatik kann durch Herstellung einer rechtssystematischen Verknüpfung der in den Disziplinen zusammenhängenden Normen das Recht lehrreicher machen und umsetzbarer gestalten.195 Ganz dem Sujet und Ansatz dieser Arbeit über die Menschenwürde als Dreh- und Angelpunkt von Fallkonstellationen der Polizeipraxis adäquat, kulminieren in der Rechtsdogmatik entscheidend die Werte, die Empirie und sonstige Einflüsse aus anderen Teildisziplinen als rechtstechnische Antwort lege artis auf die Frage, wie und zu welchem Ende wir eigentlich Rechtswissenschaft mit dem Arbeitsgegenstand des verfügbaren Rechtsnormbestandes betreiben sollen. Zur 191  Rehbinder,

Rechtssoziologie, S. 1–7. umstrittenen – Begriff der Rechtsnorm: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie – mit Juristischer Methodenlehre, § 4. 193  Aus dem Altgriechischen tópos: Ort, Platz, Stelle; im Lateinischen: locus communis: Gemeinplatz, allerdings nicht in einem abwertenden Sinne, sondern im Sinne eines umfassenden, auffindbaren Platzes für die Allgemeinheit, vgl. Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 298 f. Aristoteles, Topik I 1, 100b18 ff.; Viehweg, Topik und Jurisprudenz; Struck, Topische Jurisprudenz. Zur Topik als Technik des „per omnes locos tractare“: Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 14 I: „Für sie haben die Alten das Bild gebraucht, dass man gleichsam Tür für Tür abklopfte, ob sich etwas herauslocken lasse.“ 194  Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, S. 148 f. 195  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 321. 192  Zum –

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3. Teil: Rechtsdogmatische Grundlagen

Beantwortung der juristischen Gretchenfrage, wie es eine Arbeit gleich der vorliegenden mit der Dogmatik hält, seien wesentliche begriffliche Grundlagen vor der eigentlichen dogmatischen Arbeit gelegt. Im Verlauf der Arbeit können diese Grundlagen nützliche Hilfe für die Einordnung der Rechtssätze und Rechtsaussagesätze zur Menschenwürde sein.

B. Zum allgemeinen normativ-strukturellen Umfeld der Menschenwürde Rechtsnormen entspringen unmittelbar den Rechtsquellen und mittelbar den Rechtserkenntnisquellen. Zu den Rechtserkenntnisquellen können auch alle Quellen anderer Disziplinen wie der Ethik zählen. Rechtssätze sind alle Sprachzeichen, -symbole und -laute mit rechtlich-regelndem Inhalt, aus denen sich Sollensaussagen196 herleiten lassen.197 In Ethik und Recht enthalten Regelungen immer mindestens ein Gebot, ein Verbot oder eine Erlaubnis, ohne imperativische Form haben zu müssen, wobei meist Gebot, Verbot oder eine Erlaubnis in der Rechtsnorm als Rechtssatz positiv ausgesprochen oder ausgeschrieben sind oder sich zumindest immer als logische Kehrseite aus dem Rechtssatz konkludent ergeben können.198 Rechtsaussagesätze enthalten nicht die Rechtsnormen selbst, sondern haben diese zum Gegenstand. Rechtsaussagesätze sollen also alle die Sätze sein, die Aussagen über das Recht treffen, ohne selbst Rechtsnorm zu sein.199 Idealtypisch werden Rechtssätze in Rechtsregeln und Rechtsprinzipien unterteilt: Rechtsregeln beinhalten Rechtsfolgeanordnungen und werden unter Beachtung von Anwendungsregeln bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen mit ihren Rechtsfolgen definitiv angewendet oder nicht angewendet.200 Rechtsprinzipien beinhalten ideale Zielvorstellungen und werden unter Beachtung von tatsächlichen Gegebenheiten und durch Abwägung mit anderen Rechtsprinzipien möglichst optimal angewendet.201

196  Zippelius,

Juristische Methodenlehre, § 1, I. Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4, Rn. 4, „Form und Inhalt sind zu unterscheiden. Durch die Rechtsquellen entstehen der Form nach Rechtssätze und dem Inhalt nach Rechtsnormen. […] Die Rechtssätze entsprechen den Rechtsquellen. […] Form und Inhalt bedingen sich.“ 198  Schwacke, Juristische Methodik, S. 3. 199  Jestaedt, Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, S. 45, m. w. N. 200  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 201  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 197  Maurer,



C. Allgemeine Auslegungspotentiale69

C. Allgemeine Auslegungspotentiale zur grundgesetzlichen Menschenwürde Auch die Rechtsdogmatik will nicht Begrifflichkeiten aufgesessen sein, die vorzeitig den Verstand mit den Mitteln der Sprache verhexen.202 Deshalb soll sie nicht bei den in den Rechtssätzen enthaltenen Worten stehen bleiben und sich nicht mit einer Art Begriffsjurisprudenz begnügen, sondern möglichst das ganze Interpretationsrepertoire aller Disziplinen abschöpfen.203 In anderen Rechtsgebieten gibt es gar ein ausdrückliches Verbot der reinen Buchstabeninterpretation204, im öffentlichen Recht, von welchem die Verrechtlichung des Menschenwürdetopos ausging und für das die §§ 133, 157 BGB entsprechend gelten205, wurde es bereits beachtet206. Tradierte, bekannteste und anerkannteste Technik der den Erkenntnisgegenstand möglichst vollständig und kategorial einkreisenden Rechtserkenntnis ist die juristische Methodenlehre. Sie hat als Kanon der Auslegung die Auslegungsansätze nach dem Wortlaut, der Systematik, dem Sinn und Zweck und der Historie der Rechtssätze zum Inhalt.207 Die Auslegung vollzieht sich nach beiden Seiten des Gesetzes und des Lebenssachverhalts208, also logisch auf beiden Satzebenen der juristischen Grundtechnik der Subsumtion.209 Während des gesamten Subsumtionsvorganges wird das Aus­ legungsergebnis ständig überprüft und erforderlichenfalls angepasst. Die Subsumtion ist eine Annäherung und wechselseitige Vergleichung von Lebenssachverhalt und Rechtsnorm mit einem schlussfolgernden, Konklusion genannten Ergebnis.210 Bei der Subsumtion handelt es sich um ein generell anerkanntes, auch in der Ethik angewandtes Denkmodell der formalen LoAnlehnung an: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 109. Anm. in Fn. 45. 204  Palandt/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, § 133, Rn. 1, 14. 205  Palandt/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, § 133, Rn. 4. 206  BVerwG, NVwZ 1984, 518. 207  Grundlegend: Savigny, System des heutigen römischen Rechts, § 33, dort mit ausdrücklicher Nennung von grammatischer, logischer, historischer, systematischer Auslegung. 208  Vgl. zum „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt: Engisch, Logische Studien zur Gesetzes-Anwendung, S. 13 ff. 209  Vom Lateinischen subsumere, subsum (esse), zu Deutsch: unterlegen, darunter sein; aber auch metaphorisch und damit auf das interpretative Element in der Subsumtion bereits etymologisch hinweisend: dahinter sein, -stecken, versteckt sein, verborgen sein, nahe sein, in der Nähe sein, bevorstehen, vorhanden sein, siehe: Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 490. 210  Vom Lateinischen conclusio, zu Deutsch: Folgerung, im Sinne von logischem Vernunftschluss, auch Abschluss, Abrundung, Ende, sogar: Einschließung, siehe: Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 106. 202  In

203  Vgl.

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3. Teil: Rechtsdogmatische Grundlagen

gik, dem Syllogistischen Schlussverfahren. Wenn das syllogistische Schlussverfahren in der Rechtswissenschaft geschieht, nennt man es auch Justiz­ syllogismus. Die Syllogistik ist die Theorie der gültigen Schlusssätze (Konklusionen) aus Vordersätzen (Prämissen). Ein gültiger Schluss heißt deshalb gültig, weil er in einem logisch richtigen, formgültigen Schlussverfahren zustandegekommen ist. Ein gültiger Schluss bedeutet nicht zugleich Wahrheit des Schlusses, sondern Wahrheit der Konklusion, wenn die Prämissen wahr sind. Die Wahrheit der Prämissen kann sich erst aus ihren Axiomen, Grund- und Metaregeln ergeben211, sofern die Prämissen nicht selbst schon Axiome darstellen. Solche Grund- und Metaregeln und die etwaige Funktion einer Prämisse des deutschen Rechts – und hier schließt sich der Kreis – sind gerade für die vorliegende Frage nach der richtigen Anwendung des grundgesetzlichen Menschenwürdesatzes wegen seiner voraussetzungsreichen Ideengeschichte interdisziplinär zu gewinnen und zu bedenken. Grundsätzlich ergibt sich die Reihenfolge der Anwendung der Auslegungsansätze und die Gewichtung der durch die jeweiligen Ansätze generierten Teilergebnisse der Auslegung problemorientiert und bedarfsgerecht aus dem jeweiligen Einzelfall, der der jeweils auszulegenden Norm subsumiert werden soll.212 Das Verhältnis der untrennbar verbundenen Auslegungsansätze ist das eines sich schneidender Kreise, innerhalb deren sie sich dominoeffektartig wechselseitig befruchten: Die Wortlautauslegung wird auch grammatische oder grammatikalische Auslegung genannt. Grammatik bezeichnet die über ein einzelnes Wort hinausgehende systematische Sprachanalyse. Damit ist der Name der Wortlautauslegung zunächst trennschärfer gegenüber den anderen Auslegungselementen und konzentriert sich mehr auf das einzelne Wort. Dann ist die Bezeichnung als grammatische oder grammatikalische Auslegung wieder wegweisender, weil sie auf die Implikationen eines Wortes im Wechselspiel mit der gesamten Rechtsordnung hinweist, ein Umstand, der sich in dem Satz äußert, dass wer ein Gesetzeswort auslege, sogleich die ganze Rechtsordnung auslege213. Kein Wort ist aus sich heraus eindeutig und kein Wort ist ohne weitere Auslegung verstehbar.214 Der Wortlaut ist zwar das zuerst sichtbare, das überhaupt erst zur Auslegung auffordernde, doch steht er nicht allein, sondern in einem Normzusammenhang. Die Kontextabhängigkeit der Wortbedeutung zwingt

211  Schurz,

Wissenschaftstheorie, S. 85. Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 177. 213  Vgl. das Zitat bei: Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 24 f. 214  Beispiele für die Mehrdeutigkeit von Wörtern bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 165. 212  Horn,



C. Allgemeine Auslegungspotentiale71

schon zur Betrachtung des ganzen interdisziplinären Auslegungskontexts.215 Der Normzusammenhang in Gestalt des engeren Wortumfelds ist erster Anhaltspunkt für den systematischen Auslegungsansatz. Die systematische Auslegung vervollständigt sich zu einem gesetzlichen und gar rechtlichen Sinnzusammenhang. Der Sinnzusammenhang ist Teil des ganzen Telos einer Norm. In der gesamten Rechtshistorie kann man nach Situationen, Zuständen und Entwicklungen vor der Norm, während ihrer Genese, nach dieser und bis zum heutigen Tage recherchieren, welche (Willens-)Kräfte inwieweit und vor dem historischen Hintergrund welcher Problemstellungen zur Normentwicklung beigetragen haben. Die historische Auslegung kann als heuristische Klammer oder integrativer oder auch – wie hier durch die ideen­geschichtliche Erörterung – interdisziplinärer Bestandteil der drei übrigen Auslegungsmittel zu einem nochmals veränderten oder im Ergebnis gefestigten Verstehen des Wortlauts, der entstandenen Systematik und letztlich dem übergeordneten Sinn und Zweck beitragen. Nach alledem ergibt sich aus dem Wortlaut der Gesetzesnorm und ihrem „Sinnzusammenhang“ der zum Ausdruck kommende „objektivierte“ Wille des Gesetzgebers.216 In dieser Kurzformel ist „Sinnzusammenhang“ als eine Begriffsverbindung für die systematische und die teleologische Auslegung zu verstehen. Dass der Gesetzgeberwille „zum Ausdruck kommen“ muss, ist wiederum Referenz an die Wortlautauslegung. Der Wille des Gesetzgebers ist deshalb „objektiviert“, weil etwaig aus der Gesetzgebungsgeschichte und den Materialien zu entnehmende Willensäußerungen von am Gesetzgebungsverfahren Beteiligter eben durch die anderen Methoden verobjektiviert werden. Dass eine solche Verobjektivierung stattfinden muss, ist Ausdruck der Einsicht, dass es im komplexen politischen Gesetzesentstehungsprozess den einzigen, unumstößlichen, eindeutigen Willen des einen Gesetzgebers als Personeneinheit ohne weiteres gar nicht geben kann. Für eine vergegenwärtigte Auslegung durch Verobjektivierung der Meinungen und Willen vergangener am Gesetz Beteiligter streitet auch die staatsrechtstheoretische Grundannahme, dass immer die aktuelle, legitime Autorität ein Gesetz nach ihren Vorstellungen fortbestehen oder vergehen zu lassen vermag.217 Nach einer Äußerung des Bundesverfassungsgerichts soll im Zweifel diejenige Auslegung – gemeint muss das Auslegungsergebnis sein, nicht die Methode oder ein Mittel einer Methode – gewählt werden, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnormen am stärksten entfaltet.218 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 137–142. BVerfGE 1, 299 (Wohnungsbauförderung). 217  Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 4 III, mit Bezug auf Hobbes, Leviathan, Kapitel 26. 218  BVerfGE 6, 55, 72 (Steuersplitting). 215  Vgl. 216  Vgl.

72

3. Teil: Rechtsdogmatische Grundlagen

Auch formuliert das BVerfG, dass eine Norm verfassungsgemäß ist und verfassungskonform ausgelegt werden muss, wenn sie mehrere „Auslegungen“ zulässt, die „teils“ zu einem verfassungswidrigen, „teils“ zu einem verfassungsgemäßen „Ergebnis“ führt.219 Dies zum Anlass und Element einer fünften Auslegungskategorie von verfassungskonformer Auslegung zu nehmen, griffe zu hoch und wäre redundant. Denn Verfassungskonformität mit grundrechtsadäquater und anderen Wirkungen – denn ein Grundrecht oder eine Rechtsnorm ist längst nicht die ganze Verfassung! – kann insbesondere durch die dafür prädestinierte systematische Auslegung jederzeit hergestellt werden.220

D. Zur Relevanz der Gewalten im deutschen Rechtsstaat beim Menschenwürdediskurs Eine Untersuchung zur Menschenwürde muss die zum Topos ergangene Rechtsprechung als einen der wichtigsten Diskursbeiträge immer adäquat gewichten und verarbeiten. Die Beantwortungen zu Verfassungsfragen – wie die der an erster Stelle stehende der Menschenwürde – sind teilweise durch die legislative Macht wechselwirkend auf juristische Lehre und Justizpraxis verteilt: So binden nach § 31 I BVerfGG die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Nach Art. 94 II 1 GG einfachgesetzlich erlassenem § 31 II BVerfGG haben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts teilweise Gesetzeskraft. Gemäß § 31 II 1 BVerfGG haben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft auch in den Fällen der §§ 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 BVerfGG. Nach § 31 II 2 BVerfGG haben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft, wenn es anlässlich Verfassungsbeschwerden im Sinne des § 13 Nr. 8a BVerfGG ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Die Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ist ein Faktor von Rechts­ sicherheit und damit des Rechtsstaatsprinzips.221 Aus dem Postulat der Rechtssicherheit muss die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit von Akten der 219  BVerfGE 64, 229, 242 (Verfassungswidrigkeit der Privilegierung öffentlichrechtlicher Sparkassen bei der Grundbucheinsicht). 220  Schwacke, Juristische Methodik mit Technik der Fallbearbeitung, S. 118; Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, S. 213. 221  BVerfGE 7, 194, 196 (Verfassungsmäßigkeit des § 26 V EStG 1957). Das Rechtsstaatsprinzip als Leitidee des Grundgesetzes ergibt sich aus einer Zusammenschau von Art. 20 III (Bindung der geteilten Gewalten), Art. 1 III (Grundrechtsbindung der Staatsgewalten), Art. 19 IV (Rechtsschutzgarantie), Art. 28 I 1 GG (Homogenitätsprinzip).



D. Zur Relevanz der Gewalten im deutschen Rechtsstaat73

öffentlichen Gewalt folgen.222 Bindungswirkung nach § 31 I BVerfGG meint jedenfalls materielle Rechtskraftwirkung des jeweiligen Tenors223 – nach in seiner Rechtsprechungsgeschichte überwiegender Meinung des BVerfG selbst auch der jeweilig tragenden, also für die Entscheidung maßgeblichen Entscheidungsgründe224 im Umfang des jeweiligen Entscheidungsgegenstandes. Stattgebende Kammerentscheidungen können wegen § 93c I BVerfGG interpretativ für in den Senatsentscheidungen geklärte Rechtsfragen herangezogen, aber selbst nicht rechtsinnovativ wirken. Gesetzeskraft nach § 31 II BVerfGG meint subjektive Rechtskraftwirkung inter omnes, also für und gegen alle der deutschen Rechtshoheit Unterworfenen – dies in Rechtskrafterweiterung und im Gegensatz zu den normalen subjektiven Grenzen materieller Rechtskraft aller anderen Gerichtsentscheidungen inter partes, also zwischen den am Verfahren Beteiligten.225 Nach vom BVerfG aktuell geäußerter Meinung besitzt Gesetzeskraft gemäß § 31 II BVerfGG lediglich die im Entscheidungstenor enthaltene Feststellung der Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes, wohingegen die Entscheidungsgründe nur der Auslegung des Tenors dienen können.226 Die Folgewirkungen einer Diskurspräformation durch die Übernahme gerichtlicher Falllösungen einer sich nicht funktionsgemäß selbstbeschränkenden Rechtsprechung227 ohne begriffliche, formale und materielle Andockung an bewährte, vereinheitlichte Dogmatik sollen hier mit dem Wort vom Gerichtspositivismus auf den Punkt gebracht sein.228 Im Wort vom Gerichtspositivismus sind das Schlechteste einer gemessen an wissenschaftlichen Gütekriterien zu sehr ungeprüften Rechtsprechungsrezeption und des Solipsismus einer disziplinär „reinen Rechtslehre“229 verschmelzt. Eine die Rechtsprechung rezipierende Arbeit zum Thema Menschenwürde sollte deutlich machen, welche Anteile der Judikate dem Ableitbaren, Logi222  BVerfGE

15, 313, 319 (Rückwirkend begünstigende Steuervorschrift). 104, 151, 197 (NATO-Konzept); BVerfGE 128, 326, 364 (EGMR Sicherungsverwahrung). 224  BVerfGE 1, 14, 37 (Südweststaat); BVerfGE 40, 88, 93  f. (Führerschein); BVerfGE 112, 268, 277 (Kinderbetreuungskosten); BVerfGE 104, 151, 197 (NATOKonzept) mit Beschränkung auf die „streitgegenständliche Frage“. 225  Sachs, Verfassungsprozessrecht, Teil 3, C. 226  BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 27.06.2014 – 2 BvR 429/12 (Vereinbarkeit des Verbots der Veröffentlichung von Anklageschriften vor der Hauptverhandlung gem. § 353d Nr. 3 StGB mit dem GG) = BVerfG, NJW 2014, 2777. 227  Vgl. für die bundesverfassungsgerichtliche Dimension: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht. 228  In Anlehnung an: Schlink, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff. 229  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960). 223  BVerfGE

74

3. Teil: Rechtsdogmatische Grundlagen

schen, Prinzipiellen, rational Nachvollziehbaren, Regelhaften gehören und inwieweit vermeintlich bessere Erfahrung, Ergebniskorrektur, Praktikabilität, Rechtsgefühl, Wertung Methode hat. Wenn nämlich Gehalt und Bedeutung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels nicht hinreichend geklärt sind, so kann sich Art. 1 GG als beliebig einsetzbare Sollbruchstelle der Gewaltenteilung zugunsten der Judikatur durch deren jeweilige Wertsetzungen in den Menschenwürdebegriff hinein verschieben.230 Darüber hinaus können die ermittelten Linien der Rechtsprechung rechtsdogmatische Grundlagenfunktion für deren weitere Verarbeitung in den polizeipraktischen Fällen haben. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers frei von einem übermäßigen Hineinregieren einer anderen Staatsgewalt ist ein Faktor der Gewaltenteilung und damit des Rechtsstaatsprinzips. Dagegen würde von einer Staatsgewalt jedenfalls dann verstoßen, wenn sie im Kernbereich einer anderen Gewalt schwerwiegend oder mehrmals eigenmächtig aktiv wird. Unter dem Vorbehalt der Verfassungsbindung des parlamentarischen Gesetzgebers und der Voraussetzung irgendwelcher tauglicher neuer Erwägungen besteht für die Legislative grundsätzlich kein Normwiederholungsverbot, sodass die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG und die Rechtskraft normverwerfender verfassungsgerichtlicher Entscheidungen den Gesetzgeber nicht hindern, eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Neuregelung zu beschließen.231 Nach der sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG soll u. a. eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig sein, durch welche die in Art. 1 GG niedergelegten „Grundsätze berührt“ werden. Ein in der Wortwahl sehr zurückhaltender Rechtssatz, der von Grundsätzen und Berührung spricht, und der eingedenk der Eigenschaft jedes herrschenden Rechts als einer von Gewaltpotentialen fundierten Friedensordnung von einem neuen verfassunggebenden Gesetzgeber232 mit einem Federstrich samt der Grundsätze getilgt werden könnte. Überdies ist es herrschende Rechtspraxis, den Art. 79 III GG als eng auszulegende Ausnahmevorschrift auszulegen, die den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht hindert, die positivrechtlichen Ausprägungen dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.233 230  Hoerster,

JS 1983, S. 93–96. 77, 84, 103 (Arbeitnehmerüberlassung); vgl. die Möglichkeit eines Normwiederholungsverbotes bei verwaltungsgerichtlicher Nichtigerklärung einer untergesetzlichen Norm nach: BVerfGE 69, 112, 115 (Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle); a. A. der Zweite Senat in älterer Rspr. von BVerfGE 1, 14, 37 (Südweststaat) und BVerfGE 69, 112, 115 (Gesetzlicher Richter). 232  Unterscheidung von pouvoir constitué und pouvoir constituant bei: Sieyès, Que’est-ce que le tiers état?. 233  BVerfGE 84, 90, 120  f. (Bodenreform I); BVerfGE 94, 49, 102 f. (Sichere Drittstaaten). 231  BVerfGE



D. Zur Relevanz der Gewalten im deutschen Rechtsstaat75

Innerhalb der bestehenden Verfassungsordnung kann die bundesverfassungsgerichtliche Bindungswirkung hier insbesondere für den zu erörternden Teil über die Grundrechtsrelevanz und der systematischen Stellung der Menschenwürde nicht ohne Auswirkung auf die Rechtserkenntnisquellen bleiben, die vornehmlich die Provenienz ausgewerteter BVerfG-Rechtsprechung haben und die Auseinandersetzung mit ihnen suchen müssen.234 Insoweit – und nur insoweit und nur durch Erlass des Gesetzgebers in Gestalt des § 31 BVerfGG – haben die Judikate über ihre Rechtserkenntnisquelleneigenschaft hinausgehende qualitative Anteile als Rechtsquellen und entfalten beschränkte Bindungskraft.235 Rechtsfaktisch ist das Verfassungsrecht wie kein anderes Recht in Deutschland zu hohen Anteilen mit case law ausgestattet, also zu einem Fallrecht geworden.236 Für die Rechtsprechung und Exekutive ergibt sich wiederum das Gebot im Rechtsstaat, in den Grenzen eines ordnungsgemäßen Gebrauchs der tradierten Auslegungsmethoden zu verbleiben237, um nicht in Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen zu geraten und dann unzulässig, weil gegen den rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatz verstoßend, in die Rechte des demokratisch legitimierten Gesetzgebers einzugreifen238. Somit bleiben die tradierten Auslegungskategorien entscheidender Maßstab für die dogmatische Bewältigung des Menschenwürdeartikels.

234  Zur Methodik des Umgangs mit Präjudizien und des Fallvergleichs: Michael/ Morlok, Grundrechte, Rn. 29. 235  Vgl. Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, S. 116–147. 236  Von einer Charaktertendenz hin zum „case law“ ausgehend: Ipsen, Staats­ recht II – Grundrechte, Rn. 1. 237  BVerfGE 119, 247, 274 (Antragslose Teilzeitbeschäftigung und hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums). 238  BVerfGE 112, 164, 183 (Sozialversicherungsbeiträge des Kindes).

4. Teil

Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz Die historisch-genetische Auslegung recherchiert in Anknüpfung an die Ideengeschichte im weiteren Sinne für das aktuelle Verstehen der Norm deren bisherige juristische Geschichte wie Vorgeschichte inklusive früherer Regelungen und die dabei vorhandenen Willen der jeweiligen Gesetzgeber (historisch), außerdem den Willen des Gesetzgebers und die Problemstellungen zur Zeit der Entstehung der Norm (genetisch). Quellen für die historisch-genetische Auslegung können sein frühere Gesetze, Gesetzesbegründungen, Gesetzesentstehungsdokumente wie Beratungs- und Sitzungsprotokolle, Gesetzesentwürfe, allgemeine Quellen des Zeitgeschehens wie Zeitungen. I. Zur Geschichte der Verrechtlichung Vor dem kurzen 20. Jahrhundert239 ist Menschenwürde nirgendwo auf der Welt Gesetz gewesen. Auch in den schriftlichen Ausführungen der Rechtsgelehrten findet das Wort keine Verwendung. Die Ideengeschichte der Menschenwürde und erst Recht die Wort- und Begriffsgeschichte ist eben die allermeiste Zeit des Menschengeschlechts eine nichtjuristische geblieben. Selbst so juristisch gebildete Gelehrte wie Samuel von Pufendorf im 17. Jahrhundert, die sich quasi interdisziplinär mit der Natur des Menschen und dem damit in ihren Augen erkennbaren Naturrecht beschäftigten, taten dies in ihren das äußere Recht darstellenden Texten ohne Transformation des Terminus der Menschenwürde in ein Rechtsinstitut als Bestandteil eines Rechts- oder Rechtsaussagesatzes. Für Pufendorf gingen Worte wie Ansehen, Achtung und Würde im Gleichbehandlungsgebot auf. Das Gleichbehandlungsgebot folgte für ihn wiederum aus der prinzipiellen natürlichen Gleichheit aller Menschen und wurde im synallagmatischen Reziprozitätsverhältnis der aufeinander angewiesenen Menschen verstanden; die Würde 239  Wendung bei: Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.



A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz77

jedoch wurde nach Pufendorf nur dort „genommen“, wo die Verteilungsgerechtigkeit verletzt ward.240 In der vorkonstitutionellen Zeit der Menschenwürdegeschichte taucht der Topos an prominentester verfassungshistorischer Stelle auf, und zwar in der Paulskirchenversammlung am 28.03.1849, für die als 25. Antrag ein solcher des Abgeordneten Dr. Mohr aus Oberingelheim protokolliert ist, der unter § 1 als den „Zweck einer jeden politisch verbundenen Gesellschaft“ namentlich „das Glück aller ihrer Glieder“ festgeschrieben haben wissen wollte und unter § 2 die Formulierung wünschte: „Um dieses Glück zu sichern, muß die Gesellschaft einem Jeden verbürgen, ein der Würde und dem Wesen des Menschen entsprechendes Daseyn“. Dazu zählte der Antragsteller Sicherheit der Person, Freiheit, Widerstand gegen Unterdrückung, die Entwicklung der Anlagen und Fähigkeiten, sowie die Mittel, „sich auf eine leichte Weise ein solches Auskommen zu verschaffen, welches dem Menschen nicht nur die Bedürfnisse des Lebens, sondern auch eine des Menschen würdige Stellung in der Gesellschaft sichert“.241 Der Antrag wurde abgelehnt. Der Antrag des Abgeordneten Dr. Mohr bleibt aber Zeugnis des geschichtlich die längste Zeit herrschenden Verständnisses der Würde, das auch während der juristisch-gesetzlichen Geburtswehen an der Wiege stand: Würde und Wesen waren durchaus getrennter Formulierung wert; es hatten wie schon bei Pufendorf die materiellen Mittel nach den höchsten recht­ lichen Idealen – zu denen nicht die Menschenwürde sui generis rechnete – gleich und gerecht verteilt zu werden, dass ein Jeder nicht nur die natürlichen Bedürfnisse des Lebens befriedigen, sondern auch eine „würdige Stellung“ in der Gesellschaft einnehmen konnte. Würde wurde mehr äußerlich, utilitaristisch von anderen höchsten Gütern des Glücks und makro­ politisch wie ökonomisch von der „einheitlich verbundenen“ Gesellschaft her gedacht, nicht rein losgelöst als innerliches, unverlierbares Sein vom Individuum her. Dieses Paradigma des Würdedenkens korrespondierte responsiv mit der historischen sozialen Frage in Deutschland über seine gesamte, langsame juristisch-politische Karriere im Deutschen Reich. Mit der Weimarer Republik des Deutschen Reiches fand das Wort 1919 als Adjektiv mit attributiver Verwendung erstmals Eingang in einen staatlich geprägten Rechts- und Gesetzestext, nämlich den der Verfassung des Deutschen Reiches der nach dem Ort der Verfassungsberatungen sogenann240  Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, S. 78–81. 241  Haßler, Verhandlungen der Deutschen Verfassunggebenden Reichsversammlung zu Frankfurt am Main. Zusammenstellung der verschiedenen Anträge, die Grundrechte des deutschen Volkes betreffend. 28.03.1849, Bd.: 6, S. 4 f.

78

4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

ten Weimarer Verfassung, erlassen am 11.08.1919, in Kraft getreten am 14.08.1919. An der Verfassungsperipherie im mit „Das Wirtschaftsleben“ überschriebenen fünften und letzten Abschnitt des Zweiten und letzten Hauptteils hieß es in Art. 151 Satz 1 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“242 Dieser Satz war gleichsam das positivkodifizierte Destillat der bis dahin wenigen ausdrücklichen juristischen Verbindungen mit dem Topos der Menschenwürde. Auch in den auf die Weimarer Reichsverfassung folgenden Verfassungsinkorporationen der Menschenwürde in Art. 6 der Verfassung des faschistischen Portugals 1933 und in die Präambel der Verfassung des republikanischen Irlands 1937 wurde die Menschenwürde durch Gewährung eines materiellen Minimums und durch die Förderung des Gemeinwohls als zu gewährleisten angesehen. Würde als wohlfahrtsstaatliche Idee.243 Als erster internationaler Vertrag nimmt die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, in Kraft seit 24. Oktober 1945, das Wort Würde in den Text ihrer Präambel auf, in dem „Glauben an die Grundrechte des Menschen“, „an Würde und Wert der menschlichen Person“. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 schreibt in ihrer Präambel von der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“ als „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Art. 1 AEMR konstatiert: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Art. 22 und Art. 23 Nr. 3 AEMR schreiben die wohlfahrtsstaatliche Prägung des Menschenwürdebegriffes sogar nach 1945 weiterhin fest. Protokolliert sind auch die bis zur Erwähnung der Würde verwickelten, realpolitischen, öfter von Differenzen in Meinungen und Ideenhorizonten geprägten Debatten bis zur Deklarierung der beiden ersten internationalen Rechtsdokumente.244 Auffällig an beiden Dokumenten ist auch die sprachliche Separierung von Würde einerseits und Grund- oder Menschenrechten andererseits. Diese sprachlichen Konstrukte und grammatikalischen Verortungen der Würde wurden in den Präambeln des Internationalen Pakts über 242  RGBl.

1919, 1383. für die Vorkriegsverfassungen des 20. Jahrhunderts auch: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 10. 244  Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 10–28. 243  So



A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz79

bürgerliche und politische Rechte245 vom 16. Dezember 1966, in Kraft seit 23. März 1976 und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte246 vom 16. Dezember 1966, in Kraft seit 03. Januar 1976, beibehalten. Auffällig ist ebenfalls das Auskommen ohne einen Würdebegriff in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, in Kraft getreten am 3. September 1953. Laut Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 07. Dezember 2000, in Kraft seit 01. Dezember 2009, gründet sich die Union „auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“. Nach Art. 1 ­EUGRCh ist die Würde des Menschen unantastbar und zu achten und zu schützen. Damit entspricht die EUGRCh mit Ausnahme der wörtlichen Inanspruchnahme aller staatlichen Gewalt im Wortlaut dem Art. 1 I GG. Dazu passt entwicklungsgeschichtlich, dass Roman Herzog, Mitherausgeber und -verfasser des Grundgesetz-Standardgroßkommentars „Maunz / Dürig / Herzog / Scholz“, Bundesverfassungsrichter von 1983 bis 1994, ab 1987 als dessen Präsident, siebter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 1994 bis 1999, den alleinigen Vorsitz im Europäischen Konvent zur Aus­ arbeitung des Entwurfs der EUGRCh innehatte. Alle allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die internationalen Verträge, die die Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, müssen in eine Untersuchung des grundgesetzlichen Menschenwürdesatzes einbezogen werden, da sie über Artt. 59 II, 25 GG in der deutschen Rechtsnormhierarchie in den Rang von Bundesrecht gelangen und zur Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht hinzugezogen werden können. Bis zum eigentlich als Provisorium eines geteilten Deutschlands vorgesehenen, mittlerweile als Verfassung bewährten Grundgesetz kamen sämtliche historischen Klassiker an Rechtsdeklarationen wie etwa die englische „Bill of rights“, die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die französische „Déclaration des droits du l’homme et du citoyen“ ohne Bezug auf die Menschenwürde aus. Als eine der entscheidenden Triebfedern während der Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland247 vom 23.05.1949 gilt die Errichtung eines Gegenentwurfs zur nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft von 1933 bis 1945 und rechtswirksamer Schranken zur 245  IPbpR,

BGBl. 1973 II, S. 1533 f. BGBl. 1973 II, S. 1569. 247  BGBl. 1949, 1. 246  IPwskR,

80

4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Verhinderung einer Wiederholung solchen Unrechts. Nicht der Staat sollte erster Grund und Endzweck sein, sondern der Mensch im Mittelpunkt stehen.248 Zu dieser ersten Orientierungs- und letzten Ausrichtungsidee passt wiederum die Präambel der EUGRCh, wonach die Union „den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns“ stellt. Außer dieser vor- und gegenstaatlichen, teilweise naturrechtlich geprägten Motivation gab es während der gesamten Entstehungszeit des Grundgesetzes keinen gemeinsamen Begriff von der Menschenwürde.249 Berühmt ist die Einordnung des grundgesetz­ lichen Menschenwürdesatzes durch Theodor Heuss geworden, des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, wonach die Menschenwürde als „nichtinterpretierte These“ in das Grundgesetz gehöre und diese moralische Grundlage des Staates selbst nicht einer „moralischen Überprüfung“ unterzogen werden müsste.250 Eingedenk dieses Heussschen Diktums nahm der Parlamentarische Rat Art. 1 GG in seiner in Kraft getretenen und heute in Kraft befindlichen Fassung an.251 Weitere nationale, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zeitlich kurz vorausgehende oder nachfolgende Verfassungen beschränkten sich auf Nennung der Menschenwürde an nicht so prominenten Stellen wie das Grundgesetz und abermals mit eher wohlfahrtsstaatlich ausgerichtetem Impetus.252 Auch in der nach Inkrafttreten des Grundgesetzes einsetzenden juristischen Besprechung wurde dem Art. 1 I GG eine ethische Provenienz und moralische Orientierung sowie die Eigenschaft einer geistigen Staatsgrundlage attestiert, jedoch keine unmittelbare Rechts- oder Grundrechtsqualität.253 Die sukzessive normative Spezialisierung des Menschenwürdeartikels durch die juristische Interpretation sollte erst in einer zweiten Phase der 248  Vgl.

Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1951, S. 49. Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 74, 77: „Formelkompro-

249  Tiedemann,

miss“.

250  Abg. Heuss in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 23.09.1948, in: Wernicke/Booms, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band5/I, S. 72; Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1951, S. 49. 251  Vgl. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1951, S. 53. 252  Vgl. etwa Verfassung Italiens: Art. 36, 41 vom 27.12.1947; Verfassung der DDR vom 07.10.1949 und vom 06.04.1968. 253  Mit Zweifeln bezüglich des Rechtscharakters schon: Mangoldt, AöR 1949, S. 273; Apelt, NJW 1949, S. 481 f.; Jerusalem, SJZ 1950, Sp. 1–8; Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 26: „unklare Textierung“; gegen die Grundrechtsqualität schon: Dürig, AöR 81 (1956), S. 117, 119, 122; Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (1958), Art. 1 I, Rn. 4; grundrechtliche Qualitäten erst allmählich zugeschrieben seit: Nipperdey, Die Grundrechte, S. 1, 11 ff.



A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz81

Rezeption einsetzen, die zunehmend von naturrechtlichen Tendenzen und Zweckgedanken beherrscht wurde und deshalb insbesondere in der teleologischen Auslegung erörtert wird. II. Zur bisherigen Rechtssprechungspraxis im sicherheitspolizeilichen Bereich Die Judikate der jüngeren Vergangenheit, deren Argumente den Menschenwürdediskurs bis heute mitprägen und deren zugrundeliegende Lebenssachverhalte selbst diskursprägend wurden, gehören in die Auslegung des Menschenwürdebegriffs einbezogen. Als historisches Faktum und als rechtspraktisch wirksam gewordene Argumentationsbestandteile des Menschenwürdediskurses beanspruchen Urteile wie Lebenssachverhalte im Sinne der umfassenden verständigen Würdigung aller Umstände Relevanz für die Auslegung. Den immer wieder in Bezug genommenen, einstweilen rechtspraktisch gewordenen Meilensteinen des Menschenwürdediskurses sei vorangeschickt ein kurzzeitig unter dem zentralen Argument der Menschenwürde intensiver diskutierter Fall. Er war dazu genuin sicherheits-, nicht ordnungspolizeilicher Natur. Doch hat er nicht die hier für eine Begrenzung des Fall- und Urteilsstoffes angelegten Kriterien der Aktualität respektive Permanenz noch einer überdauernden Exemplarität im Menschenwürdediskurs. Deshalb wird er nicht im später folgenden, konkreten Fallbearbeitungsteil dieser Untersuchung weiter vertieft. Der Fall handelt von der Verabreichung von Brechmitteln bei Drogendealern oder Drogenkurieren, damit diese die in Plastikverpackungen zum Versteck verschluckten und ihre Gesundheit gefährdenden Betäubungsmittel wieder durch Erbrechen ausscheiden. Während das BVerfG keinen menschenwürderelevanten Verstoß erkennen konnte254, hat der EuGH einen Verstoß gegen Artt. 3, 8 EMRK entdeckt255.256 In der polizeilichen Praxis wurde während der rechtlichen Diskussion schwerpunktmäßig dazu übergegangen, den Verdächtigen in jedem Fall festzuhalten und seine Defäkation wie seine Exkremente permanent zu überwachen, währenddessen der gesundheitsgefährliche Zustand für den oft in einer Armuts- oder Zwangslage zum Drogenkurier verpflichteten Verdächtigen länger andauert. Nach den Ergebnissen dieser Arbeit bleibt es rechtsdogmatisch selbstverständlich dabei, dass ein unverhältnismäßiger Eingriff beim Einsatz von Brechmitteln, auch ohne Würde254  BVerfGK,

NStZ 2000, 96. NJW 2006, 3117. 256  OLG Frankfurt, NJW 1997, 1647 f. sah den Adressaten „funktionalisiert und nur mehr dem Zweck des Hervorwürgens unterworfen“; a. A. OLG Bremen, NStZ – RR 2000, 270 und KG, JR 2001, 162 f. 255  EGMR,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

verletzung des Brechmitteleinsatzes an sich, eine Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG bedeuten kann.257 Zwar durchaus relevant für die Menschenwürdethematik, aber nicht sicherheits-, sondern ordnungspolizeilich als fallleitendes Argument von Gerichten verwendet wurde die Menschenwürde zur Beurteilung von Laser­ drome-Spielen258, Peep-Shows259, Zwergenweitwurf260, Sozialbedarfen261, zur Bemessung zumutbarer Aufenthaltsflächen262, und sogar bei Fällen, die eingedenk der eigentlich postulierten, allgemeinen Anerkennung eines Inflationsschutzes für die Menschenwürde indiskutabel erscheinen.263 Sage und schreibe 16 Entscheidungen von Ober- und obersten Gerichten in Deutschland und Europa gab es anlässlich des Frankfurter Entführungsfalls aus dem Jahre 2002. Hauptthemen waren Beweisverwertungsverbote, strafrechtliche Verurteilungen des Entführers und der Polizisten, Prozesskostenhilfe für den Täter 257  Im Ergebnis genauso: Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, in: ­Epping/Hillgruber, Grundgesetz  – Kommentar, S. 16. Rn. 42. 258  BVerwGE 115, 189, 198 ff. (Laserdrome); diese Rspr. für mit EU-Recht vereinbar erklärend: EuGH, Urt. v. 14.10.2004  – C  – 36/02. 259  BVerwGE 64, 274, 279 f. (Peepshow); BVerwGE 84, 314. 260  VG Neustadt, NVwZ 1993, 98. 261  Dazu Neumann, NVwZ 1995, S. 426–432, a. a. O., S. 429: „Die Menschenwürde muß für die Gewährung oder Versagung aller möglichen Bedarfsgegenstände herhalten. Die Bratpfanne gehört zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens, die Kaffeemaschine nicht.“ 262  Zur Grundfläche von Gefängniszellengrößen: OLG Hamm, Beschluss vom 13.06.2008,  – 11 W 86/07  –; OLG Frankfurt, Beschluss vom 21.02.2005,  – Ws 1342/04  –; zu Geldentschädigung, Übergangsfristen und Würdigung der Gesamtumstände (wie 5,25 Quadratmeter, Einschlusszeiten und räumlich nicht abgetrennter Toilette in einer Einzelzelle): BVerfG, Kammerbeschluss v. 14.07.2015 – 1 BvR 1127/14. 263  Vgl. Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, S. 237: Die „extreme Vagheit“ der Menschenwürde machten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, „welche die Menschenwürde heranziehen, gegenüber einer Modifizierung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber praktisch immun und haben eine Inflation des Menschenwürdearguments in der Rechtsprechung der Gerichte provoziert; weitere Beispiele dazu außer die Urteile zu Peepshow, Zwergenweitwurf und Laserdrome könnten hinzugefügt werden, „manche haben sogar geradezu lächerlichen Charakter.“; Dreier, H., Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, S. 40, spricht auch schon von „geradezu lächerlich anmutenden Fallkonstellationen“. Gemeint sind Fälle von Gerichtsprozessen um Menschenwürdeverletzungen etwa in VG Frankfurt, DVBl. 1966, 383; HessVGH, DÖV 1968, 356; BVerwGE 31, 236 (Drei Instanzen zur automatisierten amtlichen Namensschreibung mit oe statt ö); des Weiteren: BVerfGE 2, 292 (Pflicht zur Beibringung von Speisenbelegen); BVerfGE 26, 14 (Pflicht zum Tragen einer Rechtsanwaltsrobe).



A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz83

und Entschädigung des Entführers sowie die Einordnung der Zwangsandrohung als Folter oder unmenschliche Behandlung. Im Ergebnis führte die Zwangsandrohung zur strafprozessualen Unverwertbarkeit der dadurch erlangten Aussage, aber nicht zu einer Fernwirkung für alle darüber hinaus erlangten Beweismittel.264 Der Entführungstäter wurde wegen Mordes und erpresserischen Menschraubes zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt.265 Der vom Entführer und Mörder eingelegten Revision wurde wegen offensichtlicher Unbegründetheit im Sinne des § 349 II StPO nicht stattgegeben.266 Seine Verfassungsbeschwerde bzgl. des Beweisverwertungsverbotes wurde nach § 93a BVerfGG verworfen.267 Wiederaufnahmeanträgen wurde nicht stattgegeben, weil das Urteil nicht auf der Verletzung der Artt. 3, 6 EMRK beruhte im Sinne des § 359 Nr. 6 ­StPO.268 Nachdem der EGMR zwischenzeitlich die Zulässigkeit einer Individualverfassungsbeschwerde bzgl. Artt. 3, 6 EMRK anerkannt hatte269, wurde einer Verfassungsbeschwerde wegen des Nichtgewährens von Prozesskostenhilfe im Sinne des § 114 ZPO270 wegen Artt. 3, 20 GG als begründet stattgegeben271. Der Polizeivizepräsident wurde wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat und der Vernehmungsbeamte wegen Nötigung in einem einfachen Fall verurteilt.272 Es wurde gegen beide die mildestmögliche Strafe, nämlich eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB ausgesprochen. Das Gericht setzte eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 120 Euro (insgesamt 10.800 Euro) gegen den Polizeivizepräsidenten und eine von 60 Tagessätzen zu je 60 Euro (insgesamt 3.600 Euro) gegen den Vernehmungsbeamten fest, verwarnte beide und setzte eine Bewährungszeit von einem Jahr an. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung verzichteten auf Rechtsmittel gegen das Urteil, so dass es nach Verkündung rechtskräftig wurde. 2008 entschied der EGMR, dass ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorgelegen habe, nicht jedoch gegen Art. 3 EMRK und ein Beweisverwertungs264  LG

Frankfurt, Urt. v. 28.07.2003  – 22 Ks 2/03 3490 Js 230118/02. Frankfurt, Urt. v. 28.07.2003  – 22 Ks 2/03 3490 Js 230118/02. 266  BGH, Beschl. v. 21.  Mai 2004  – 2 StR 35/04. 267  BVerfG, Beschl. v. 14.12.2004  – 2 BvR 1249/04. 268  LG Darmstadt, Beschl. v. 09.11.2011 – 1032 Js 60705/10; OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.06.2012 – 1 Ws 3/12. 269  EGMR, Urt. v. 10.04.2007  – 22978/05. 270  LG Frankfurt/Main, 28.08.2006  – 4 O 521/05; LG Frankfurt/Main, 28.08.2006  – 4 O 521/05. 271  BVerfG, Urt. v. 19.02.2008 – 1 BvR 1807/07. 272  LG Frankfurt/Main, Urt. v. 20.12.2004  – 27 KLs 7570 Js 203814/03. 265  LG

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

verbot nur angenommen werden könne bei unmittelbaren Verstößen gegen Art. 3 EMRK, außerdem der Täter mittlerweile seinen Opferstatus verloren habe, weil Deutschland einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anerkannt habe.273 2010 entschied die mit 17 Richtern besetzte Große Kammer des EGMR mit 11 zu 6 Stimmen – 6 Stimmen einerseits für Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots, andererseits gegen die Opfereigenschaft beim Täter –, dass der Entführer und Mörder doch noch weiterhin Opfer i. S. des Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden) sei. Dies insbesondere wegen der geringen Strafen, der zwischenzeitlich erfolgten Beförderung des Polizei­ vizepräsidenten und des immer noch andauernden Amtshaftungsprozesses. Es habe sich aber nicht um Folter gehandelt, sondern um unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK. Allgemein läge ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK nur vor bei unmittelbar gegen Art. 3 EMRK erlangten Beweisen. Ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK läge zwar auch bei mittelbar aus einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK erlangten Beweisen vor, aber bzgl. des Urteils nur dann, wenn die durch das Urteil ausgesprochene Strafe isoliert kausal aufgrund der Beweisgewinnung zustande kam.274 2011 erhielt der Täter durch das LG Frankfurt am Main wegen Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 GG und wegen Verletzung des Verbots unmenschlicher Behandlung aus Art. 3 EMRK eine Geldentschädigung von 3.000 Euro zuzüglich Zinsen zugesprochen.275 In der Folge scheiterten noch zwei Anträge des Täters auf Wiederaufnahme des Strafprozesses wegen Verneinung der Kausalität von Verstößen gegen Artt. 3, 6 EMRK nach § 359 Nr. 6 StPO276 und eine Berufung des Landes Hessen gegen das Geld­ entschädigungsurteil wegen § 308 ZPO, §§ 253 II, 194 BGB277. Im Endurteil vom 01.06.2010 ordnete der EGMR den Frankfurter Entführungsfall wie folgt ein: „Hinsichtlich der Dauer der beanstandeten Handlung stellt der Gerichtshof fest, dass die Vernehmung unter Androhung von Misshandlung etwa 10 Minuten dauerte.“278 Und weiter: „Wird der Fall des Beschwerdeführers den Fällen gegenübergestellt, in denen der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung das Vorliegen von Folter festgestellt hat, so gelangt er zu der Auffassung, dass die beim Beschwerdeführer angewandte Vernehmungsmethode unter den Umständen seines Falls zwar schwerwiegend genug war, um eine nach Art. 3 verbotene unmenschliche Behandlung 273  EGMR,

Urt. v. 30.06.2008 – 22978/05. Urt. v. 01.06.2010 – 22978/05. 275  LG Frankfurt/Main, 04.08.2011  – 4 O 521/05. 276  LG Darmstadt, Urt. v. 09.11.2011 – 1032 Js 60705/10; OLG Frankfurt, Urt. v. 29.06.2012 – 1 Ws 3/12. 277  OLG Frankfurt, 10.10.2012 – 1 U 201/11. 278  EGMR, Urt. v. 01.06.2010 – 22978/05, Rn. 102. 274  EGMR,



A. Historisch-genetischer Auslegungsansatz85

darzustellen, sie aber nicht das Maß an Grausamkeit hatte, um die Schwelle zur Folter zu erreichen.“279 Der EGMR äußert in einem obiter dictum zum Fall apodiktisch, dass von einem Verbot der „Folter“ nicht einmal abgewichen werden dürfe „im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht“, denn die „philosophische Grundlage, die den absoluten Charakter des in Art. 3 verankerten Rechts untermauert, gestattet keine Ausnahmen, Rechtfertigungen oder Interessenabwägungen, und zwar ungeachtet des Verhaltens der betreffenden Person und der Art der in Rede stehenden Straftat.“280 Anlässlich des Parallelproblems der Renegade-Fälle heißt es im thematischen Zusammenhang dazu an anderer Stelle, der Staat der Menschenwürde dürfe sich nicht aufgeben, nicht kapitulieren vor Angriffen auf die Menschenwürde, und das auch noch im Namen der Menschenwürde; es könne nicht sein, dass die „grundlegenden Verfassungsprinzipien der westlichen Zivilisation, die bekanntlich nicht in diskursiven Prozessen und widerstandslos implementiert wurden, sondern in zahlreichen blutigen Kämpfen zäh errungen und immer wieder verteidigt werden mussten“, bei der ersten direkten Negation zum Titel werden, nicht für ihre Achtung und Würde kämpfen zu müssen.281 Der vom BVerfG am 15.02.2006 als mit dem GG für unvereinbar und nichtig erklärte § 14 III LuftSiG normierte die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug als nur dann zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. Es ist möglich, dass das BVerfG auch fast jeden deutlicheren und konkreteren Gesetzestext mit dem Argument der Unwägbarkeit menschlichen Lebens als bloßen Rechnungsposten kassiert hätte. Wie zum Beispiel einen solchen Gesetzestext, der eben bestimmte Sinkflug- oder Zielflugbewegungen des Luftfahrzeugs beschreibt, bei denen eine Abkehr von dem Absturz oder ein Ausweichen vor dem Ziel auch angesichts des bisherigen Flugverhaltens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist und ein mildestmögliches Einwirken die einzige Maßnahme ist, um den sicheren Tod zu verhindern. Den sicheren Tod von auf einem abgegrenzten Areal massenweise befindlichen Menschen und Staatsbürgern – wie bei vollbesetzten Bürohäusern, Freizeitparks, Gerichtsgebäuden, Veranstaltungshallen, Kindergärten, Plenarsälen, Schulen, Stadien, Universitäten, Wohnhäusern. Es bleibt möglich, dass eine Kassa­ 279  EGMR,

Urt. v. 01.06.2010 – 22978/05, Rn. 108. Urt. v. 01.06.2010 – 22978/05. 281  Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, S. 26 f. 280  EGMR,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

tion nebst Hinweis auf die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines auch bei staatlichem Unterlassen eintretenden Todes der tatunbeteiligten Passagiere erfolgt wäre. Selbst das BVerfG hat sich nicht in ähnlicher Art wie der EuGH geäußert und den Flugzeugabschuss auch mit unschuldigen Personen an Bord nicht ausgeschlossen zum Zwecke der Rettung des Gemeinwesens und der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung282: „Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen […], führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solche solidarische Einstandspflicht entnommen werden kann. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.“

Des Weiteren hat das BVerfG die Menschenwürderelevanz des Abschusses von Flugzeugen mit tatunbeteiligten Personen an Bord ausdrücklich nur bezüglich gesetzlicher Ermächtigungen283 und für Normallagen284 besprochen. Zur Thematik heißt es an einer weiteren Literaturstelle mit einer angesichts der neuen realen Fälle reifenden Erkenntnis: „Allerdings darf man sich von der Aufstellung ‚absoluter‘ Gerechtigkeitsgebote kein Allheilmittel gegen die Gefahren und Nöte der Abwägung verschiedener gegenläufiger Gerechtigkeitsargumente versprechen. Es gibt immer wieder Situationen, in denen auch ein sehr hochrangiges ethisches Gebot auf den Prüfstand zu stellen ist, ob es immanente Begrenzungen aufweist oder Ausnahmen wegen zwingender anderer Gerechtigkeitsgebote erleiden muss. […] Rechtsphilosophisch (und wohl auch rechtlich) ist m. E. von Bedeutung, dass das Folterverbot den Schutz der Menschenwürde (von Verhafteten) bezweckt, im Fall aber der Schutz der Menschenwürde des Opfers (durch aktive polizeiliche Gefahrenabwehr) Vorrang haben musste. Nicht wenige Verfassungsrechtler zögern freilich, dieses Argument zu akzeptieren.“285

Noch ist diese Erkenntnis nicht überall gereift.

282  BVerfGE

115, 118, 159 (Luftsicherheitsgesetz). 115, 118, 157 (Luftsicherheitsgesetz). 284  BVerfGE 115, 118, 159 (Luftsicherheitsgesetz). 285  Horn, Einführung in Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 420d. 283  BVerfGE



B. Wortlautauslegung87

B. Wortlautauslegung Sprache fungiert nicht nur als des Juristen Werkzeug und Werkstoff286, sondern funktioniert auch als der Wirkstoff des Rechts. Der Wortlautauslegungsansatz ist der Ausgang der Interpretation des geschriebenen Rechts anhand des Wortlauts im Gesetzestext, die fragt, was ein Wort für den konkreten Fall bedeuten und was für Rechtsfolgen es auslösen soll. Quellen, aus denen man die entscheidende Wortbedeutung gewinnen kann, sind: Lexika, korrekter grammatikalischer Gebrauch, Alltagsgebrauch, juristischer Gebrauch, insbesondere bei genuin juristischen Begriffen, oder Legaldefinitionen. Für das Wort der Menschenwürde existieren keine Legaldefinition und ein bunter Blumenstrauß an juristischen Begriffen und Benutzungen der Menschenwürde. Menschenwürde ist ein Nomen, das kein bestimmtes, abgrenzbares, körperliches Objekt der Außenwelt bezeichnet, sondern allein schlüssig die Aussage enthält, dass dem Menschen Würde zukommt.287 Die Eigennamen­ eigenschaft macht ihn zu einem Ausdruck über diese Aussage, dass dem Menschen Würde zukommt. Wegen der Nichtgegenständlichkeit des Aussageobjektes Würde kann man Aussagen zu ihr in je bestimmter Benutzung der Bezeichnungen metasprachliche und metaphysische, also jedenfalls vorrechtliche Bezüge attestieren. Der ganze Art. 1 I 1 GG enthält in Reinkultur – anders als alle anderen Sätze des Art. 1 GG – eine explizite Aussage im formal-logischen Sinne, bei welcher spätestens seit Aristoteles’ bekanntem Bivalenzprinzip und Satz vom ausgeschlossenen Dritten die Frage jedenfalls formallogisch sinnvoll gestellt werden kann, ob sie wahr oder falsch ist.288 Dieses formallogische Kriterium ist bei den meisten Rechtssätzen, die Sollensgebote zum Gegenstand haben und damit dem Bereich der Ethik zuzurechnen sind, umstrittener. Beispielsweise beinhaltet Art. 1 I 2 GG einen Sollenssatz mit einem Sollensgebot in Reinkultur. Der Streit über die Wahrheitsfähigkeit und damit die Aussagequalität von Normen entscheidet sich durch die epistemologische Position, die eingenommen wird und die man wie folgt zuordnen kann: Die Positionen des Kognitivismus nehmen die Existenz moralischer Wahrheit an und schließen daraus die Möglichkeit moralischer Erkenntnis, entweder als realistischer Kognitivismus mit der Annahme, dass es Normen wirklich objektiv an sich gibt oder als konstruktivistischer Kognitivismus mit der Annahme, dass Normen objektiv nachvollziehbar konstruiert werden. Die Positionen des Nonkognitivismus verneinen die Existenz moralischer Wahrheit und demzufolge auch 286  Thiel,

Recht und Sprache, in: Krüper, Grundlagen des Rechts, S. 238 f. Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 225. 288  Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 107. 287  Tiedemann,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

die Möglichkeit moralischer Erkenntnis, entweder als subjektivistischer Nonkognitivismus, welcher Normen als individuelle Einstellungen bewertet oder als kollektivistischer Nonkognitivismus, der Normen als kollektive Usancen bewertet.289 In logischer Tradition werden Aussagen in analytische und synthetische unterteilt.290 Art. 1 I 1 GG enthält keine analytische Aussage im engeren Sinn, weil man sich zu der Aussage affirmativ oder negierend verhalten kann und sie also nicht schon aufgrund ihrer prinzipiell-logischen Anordnung wahr ist. Das wäre sie, wenn sie hieße: „Die Würde des Menschen ist unantastbar oder antastbar.“ Diese Aussage hat der verfassungsgebende Gesetzgeber offensichtlich nicht gewollt. Eine analytische Aussage im weiteren Sinn enthielte Art. 1 I 1 GG, wenn ihre Bedeutung im Kontext des Aussagensystems festgelegt wäre. Die Aussage kann also durch Bedeutungsfestlegung zu einer analytischen Aussage aufrücken. Eine synthetische Aussage ist sie, wenn ihre Wahrheit auch von empirischen Gründen abhängt. Es gilt erst einmal eine – widerlegliche – Vermutung, dass der Gesetzgeber keine unwahren Aussagen machen will. Der Wille des Gesetzgebers ist bei der juristischen Auslegung zu berücksichtigen wie die Grundlagen der Logik. Außerdem ist zu konzedieren, dass es, vom Alltagssprachgebrauch als solche bezeichnete, „entwürdigende“ oder „würdelose“ oder „unwürdige“ Verhaltensweisen und Zustände im Geltungsbereich des Grundgesetzes empirisch gibt. Somit bleiben zwei Möglichkeiten für die logische Bewältigung des Satzes: Entweder ist seine Bedeutung geklärt oder – als inklusives Oder – er meint mit Würde etwas Empirisches, dass als Würde nicht antastbar ist. Geht man nonkognitivistisch davon aus, dass Würde ein nicht objektiv erkennbares Sein bezeichnet, also empirisch zumindest zweifelhaft und epistemologisch unmöglich ist, dann reduziert sich die Möglichkeit logischer Bewältigung der Aussage des Art. 1 I 1 GG auf die erstgenannte Alternative: Die Bedeutung von Art. 1 I 1 GG muss geklärt werden. Die Konzentration auf diese Alternative der Bedeutungsfestlegung ist nach allen Ansichten die sicherste und sowieso eine juristische Aufgabe, desgleichen eine Aufgabe jeder Wissenschaft, auch jeder normativen. Wenn man Art. 1 I 1 GG als analytischen Satz verwenden will – und sei es nur im Kontext mit Art. 1 I 2 GG –, muss man die festgelegte Bedeutung explizit machen. Schließlich ist die logische Lösung, Art. 1 I 1 GG durch Bedeutungsfestlegung als analytischen Satz im weiteren Sinne zu verwenden, die dem in dieser Arbeit explizierten, vor dem Hintergrund von Perspektiven und Paradigmen plausibel und probabilistisch approximativen Wahrheitsbegriff adäquateste, weil sie kognitivistische und nonkognitivistische Positionen bei: Hübner, Philosophische Ethik, S. 54. wie hier: Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 107.

289  Einteilung 290  Dazu



B. Wortlautauslegung89

gleichermaßen integriert und keine von beiden unnötig exkludiert. Auch der Nonkognitivismus ist eine paradigmatische Perspektive. Ebenfalls und eben ganz im Sinne des hier dargelegten und vertretenen Wahrheitsbegriffs der größtmöglichen Plausibilität soll jedoch das synthetischen Sätzen eignende Kriterium der Empirie für die weitere Arbeit am Würdebegriff nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Wahrheitsfähigkeit auf beiden Satz­ebenen würde nach hier vertretener Wahrheitsauffassung den Wahrheitsgehalt der Menschenwürdekonzeption insgesamt erhöhen. Wenn allerdings Art. 1 I 1 GG auch als synthetischer Satz wahr sein soll, dann muss Würde nach jetzt schon feststehendem Ergebnis etwas sein, was sich den rein äußerlich möglichen Würdeantastungen empirisch entzieht. Denn Menschenwürde wird angetastet. Davon ist auch der Gesetzgeber e contrario Art. 1 I 2 GG ausgegangen. Das Grundgesetz sollte nicht mit einer Unwahrheit beginnen. Mit Empirie kann an dieser Stelle nur die physiologische Wahrnehmung der äußeren Umwelt durch die fünf menschlichen Sinnesorgane gemeint sein. Würde man den Empiriebegriff an dieser Stelle der Definition von analytischen und synthetischen Aussagen weiter verstehen und rein geistig-psychologische, nicht direkt durch die Sinnesorgane eindeutig erkennbare und direkt messbare Erscheinungen dazuzählen, dann verlöre das Empiriekriterium an dieser Stelle der Definition die ihm zugewiesene Relevanz. So aber weist die vorgenommene Distinktion von analytischen und synthetischen Aussagen schon in eine entscheidende Richtung: Art. 1 I 1 GG mit seiner Aussage, dass die Menschenwürde unantastbar ist, kann mit Menschenwürde jedenfalls auch etwas begrifflich feststehendes sein, was der Empirie entzogen ist. Das erinnert an das Bekenntnis des Augustinus, dass er wisse, was die Zeit sei, und dass er es nicht wisse, wenn er es jemandem auf dessen Frage erklären wolle.291 Das deutsche Wort Würde ist etymologisch mit dem Adjektiv „wert“ verwandt, und dieses Adjektiv gehört wahrscheinlich zu der Wortgruppe „werden“. Etwas, das im Werden begriffen war, war ursprünglich etwas, dass gegen etwas gewendet, gekehrt, gedreht war. Mithin bedeutete Wert einen Gegenwert.292 Ein Gegenwert im Gegensatz zu etwas anderem Seienden. Alle diese Wörter gehören zu der Wortgruppe um das deutsche Wort „Wurm“.293 Das alles auf dieses Wort Wurm zurückgeht, wird in etymologischen Ansätzen zum Thema Menschenwürde meist nicht erwähnt. Gerade der etymologische Bedeutungsgehalt dieses würdeaffinen Urworts von Kriechtieren wie jenem des biblischen Schlangenmotivs ist aufschlussreich: Es hat seine Wurzel im indogermanischen Wort uer, was so viel heißt wie 291  Augustinus,

Bekenntnisse, XI, 14. Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, S. 924. 293  Duden, Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, S. 923. 292  Duden,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

„drehen, biegen, winden, flechten“, und den Wurm zum „Sichwindenden“ macht.294 Auch die Wortgruppen um die Wörter „Werk“ und „Verwirrung“ gehören dazu.295 Das erinnert an folgende Ideen: Dass es einen spezifischen Eigenwert gibt – eingedenk Schopenhauers Kritik am kantischen Ding an sich immer in Relation zu etwas anderem –, dass es ein nietzscheanisches Nichtfestgestelltsein und eine Imperfektion gibt, im Sinne des „krummem Holze“ bei Kant, „als woraus der Mensch gemacht“ sei und folglich „nichts ganz Gerades gezimmert werden“ könne296, dass es schöpferisches Entwicklungspotential wie bei Pico della Mirandola gibt, dass die Entwicklung zu Entartung, Schlechterstellung oder Verbesserung, Veredelung oder ambivalent im Pascalschen Sinne verlaufen kann. Um im etymologischen Bild zu bleiben, kann dieser Eigenwert als Gegenwert zu anderen Realitäten gesetzt werden. Dazu passt, dass das Wort der Würdigkeit seit alters mit dem Wort des Axioms verbunden ist297, das einen grundlegenden Satz, mit einer nicht weiter zu beweisenden, also gesetzten Aussage bezeichnet. Doch Würde kurzschlüssig durch das Wort Wert und die mit ihm verbundene positive Konnotation zu ersetzen, ist zu einseitig. In dem grundgesetzlichen Satz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, kann höchstens sprachanalytisch eine implizite Bewertung gesehen werden. Dieser Satz könnte höchstens später nach vollständig erfolgter Auslegung im rechtlichen Kontext als Sollensnorm interpretiert werden. Aber allein nach etymologisch einseitiger Interpretation kann nicht zur Suggestion eines geläufigeren Wertes dieser Wert als Surrogat der Würde vorgesetzt werden, um etwas spezifisches am Menschsein oder sogar das es allein spezifizierende zu präsentieren, das unantastbar sein soll. Wenn dann im nächsten Schluss die Ersetzung des Wortes Würde über den Wert des freien Willens weitergetrieben würde, dieser freie Wille frei definiert und insbesondere mit Begriffen von Authentizität und Identität aufgefüllt würde, dann ist die Ersetzung perfekt.298 Warum, so muss man fragen, steht dann nicht einfach in Art. 1 I 1 GG: „Der freie Wille des Menschen ist unantastbar“? Und man möchte 294  Duden,

Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, S. 935. Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, S. 935. 296  Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 41. 297  Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 1. 298  Vgl. aber signifikant kontrastierend zur ansonsten dargebotenen Sorgfalt: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 227 f., 244 ff., 256 ff.; ähnliche logische Sprünge sind ebenfalls zu bestaunen bei: Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 55–66, der darin auf wenigen Seiten von der Rechtsprechungspraxis ausgehend über den meistzitierten Kant zur Kurzformel gelangt, die Menschenwürde garantiere „ein Recht auf Anerkennung der freien selbstverantwortlichen Persönlichkeit“ und direkt anschließend kürzer definiert: „Art. 1 Abs. 1 GG garantiert das Recht auf ein Ernstnehmen der Person.“ 295  Duden,



B. Wortlautauslegung91

lieber sicherheitshalber antworten: Weil er, der sich – mitsamt der Authentizität und Personalität – an freien Willensbetätigungen in der Rechtswelt noch sichtbarer messen lassen kann, bereits in Art. 2 I GG und anderen Bestimmungen, die Willensbetätigungen erfassen – wie etwa der Glaubensund Gewissensfreiheit in Art. 4 GG –, mitgeregelt ist, und weil er zumindest alleine mit Art. 1 I 1 GG nicht gemeint war. Das Wort Mensch kann jeden einzelnen Menschen an und für sich meinen, die Menschen-Gattung oder das Menschsein.299 Dem reinen Wortlaut am nächsten steht die Interpretation einer Würdezuschreibung an den „Menschen“ generell, als Gattungswesen gemeint. Das deckt sich mit einem Vergleich zu den persönlich-individuelleren Formulierungen („jeder“) in den nachfolgenden Grundrechtsartikeln. Erste logische Schlussfolgerung aus dieser Wortlautauslegung ist, dass auch jeder einzelne Fall eines Menschen wegen seines Menschseins begrifflich unter den grundgesetzlichen Menschenwürdesatz subsumiert werden kann, also jedenfalls jeder einzelne Mensch, weil selbst letztlich jeder einzelne Mensch zur Gattung des Menschen zählt. Weil jedenfalls jeder einzelne Mensch und damit alle Menschen von Art. 1 I 1 GG gemeint sind, handelt es sich um eine Allaussage.300 Dies wiederum kann nahelegen, die Gattung und das Menschsein vor allem anderen – im Zweifelsfall auch vor dem einzelnen – zu achten und zu schützen.301 Art. 1 I 1 GG spielt quasi mit dem Gedanken, dass man den einzelnen Menschen nicht ohne weitere Menschen denken kann, dass jeder Mensch durch die Bewertung anderer Menschen auch seinen Wert als Mensch bemisst, dass wer anderen grundlegende Status abspräche, dies auch logischerweise für sich tun müsste, um nicht in einen heillosen Widerspruch zu geraten, vice versa, dass man sich einen Begriff der Menschheit in jedem Menschen macht.302 Das findet ideengeschichtliche Anklänge an die notwendige Intersubjektivität vernunftbegabter Wesen und an den unempirisch gedachten homo noumenon bei Immanuel Kant. Der dialektische Gehalt des Menschenbegriffs des Grundgesetzes findet sich ideengeschichtlich schon wieder bei Marx und Fichte. Wie gesehen ist für Marx die Geschichte der Menschheit immer vom Standpunkt aller Menschen zu erzählen, 299  Bayertz,

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1995 (81), S. 480. Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 107. 301  Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 226. 302  Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Corollaria zu § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 39, wonach der Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird, und der Begriff des Menschen gar nicht der Begriff eines Einzelnen sei, denn ein solcher sei undenkbar, sondern der einer Gattung; ders., a. a. O., § 4, Dritter Lehrsatz, S. 41, wonach das endliche Vernunftwesen nicht noch andere Vernunftwesen annehmen kann, ohne sich selbst zu setzen, als mit den anderen in einem Rechtsverhältnis stehend. 300  Bußmann,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

und solange es eine Klasse von entfremdeten Menschen gibt, sei jeder Mensch – auch der „aufs Denken spezialisierte Philosoph“ selbst „eine abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen.“303 Ein dem Denken Fichtes verwandter Gedanke in materialistischem Gewand, aus dem die Intersubjektivität als Grundlage der Synthese des Menschenwürdebegriffs hergeleitet werden kann. Nach Fichte wird der Mensch ein Mensch nur unter Menschen, und der Begriff des Menschen ist gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher sei undenkbar, sondern der einer Gattung.304 Außerdem könne das endliche Vernunftwesen nicht noch andere Vernunftwesen annehmen, ohne sich selbst zu setzen, als mit den anderen in einem Rechtsverhältnis.305 Art. 1 I 1 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist eine indikativische Fassung. Der Menschenwürdesatz steht nicht in der für einen Sollenssatz typischeren, imperativ eingängigeren Form eines Ge- oder Verbots. Was soll er aussagen? Zu sagen, dass der Satz, dass die Menschenwürde unantastbar ist, der Erfahrung widerspricht, dass sie immer wieder angetastet wird, ist zu voreilig, wenn man noch nicht geklärt hat, was die Menschenwürde ist und was die Antastung von Menschenwürde bedeutet.306 Dass die Menschenwürde faktisch nicht angetastet werden kann und deshalb mit dieser Erkenntnis die Verfassung mit nachfolgendem Inhalt verfertigt wurde? Diese unumwundenste Interpretation nach Wortlaut und indikativischer Fassung stünde mit dem grundgesetzlichen Menschenwürdesatz seiner Form nach am ehesten im Einklang. Sie entspräche etwa einem gottgegebenen oder naturrechtlichen Verständnis oder einem Axiom. Nach diesem Axiom ist die Menschenwürde als Wesensmerkmal unverlierbar, ja wirklich unveränderbar jedem Menschen eigen. Nach ihm ergäben sich wegen Unveränderbarkeit und grundlegendem Gehalt der Menschenwürde alle justiziablen Grundrechte aus ihr erst.307 Oder es handelte sich bei diesem Axiom um einen präambelhaften Programmcharakter ohne jegliche weiteren rechtlichen Schlussfolgerungen. Die Interpretationen einer reinen Feststellung, dass die Menschenwürde faktisch nicht angetastet werden kann, führten zu der Erkenntnis, dass es mit der Feststellung der Unantastbarkeit der Menschenwürde sein Bewen303  Marx,

Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt, S. 572. Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Corollaria zu § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 39. 305  Fichte, Grundlage des Naturrrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Corollaria zu § 4, Dritter Lehrsatz, S. 41. 306  So aber Isensee, Würde des Menschen, S. 6, Rn. 4. 307  Zur letztgenannten und sobenannten Ensembletheorie: Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, S. 1653 ff. 304  Fichte,



B. Wortlautauslegung93

den hätte und nur noch die nachfolgenden Grundrechte der Verfassung juristisch durchzusetzen und zu verwirklichen seien. In diesem Sinne kann auch Art. 1 II GG gelesen werden, wonach sich das Deutsche Volk „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt, und Art. 1 III GG, nach dem „die nachfolgenden Grundrechte“ Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Menschenwürde als Gestaltungsauftrag erübrigte sich entgegen der herrschenden Ideengeschichte. Dieses Ergebnis konfligiert nicht nur mit der historisch herrschenden und langlebigsten Ideengeschichte, sondern auch mit der Logik des Wortlauts von Art. 1 I 2 GG, wonach die Achtung und der Schutz der Menschenwürde Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sind. Zwar kann logischerweise festgeschrieben sein, dass eine unverlierbare Menschenwürde aktiv zu achten wäre, aber eines Schutzes bedürfte eine faktisch unantastbare Menschenwürde nicht. Umgekehrt könnte eine Menschenwürde, die faktisch komplett unantastbar wäre, nicht nur nicht verlustig gehen, sondern auch nicht im Geringsten verändert, also auch nicht gestaltet werden. Da ein menschlich-manuelles Einwirken auf ein metaphysisches Objekt wie das der Menschenwürde empirisch direkt nicht möglich zu sein scheint, ist eine Vermittlung über real ersichtliche, fassbare Objekte der Außenwelt vonnöten. Diese reine Wortlautauslegung der Gestaltbarkeit der Würde über die äußeren Verhältnisse steht im Einklang mit der chronologisch primären reinrechtlich-ideengeschichtlichen Tradition der Würde als wohlfahrtsstaatliche Idee. Das Dilemma kann man auflösen, indem man den Eigenwert des Menschen als Axiom der Rechtsordnung setzt, und sowohl Achtung als auch Schutz dieses Eigenwerts als Prinzip aller ihm nachfolgenden Rechte und Handlungen im Staate sieht. Der Eigenwert soll also nicht negiert werden, wiewohl Wissen und Erfahrung lehren, dass der Mensch nicht immer seinem Eigenwert gemäß behandelt wird. Deshalb – so die mit allen Wortlauten logisch harmonisierbare Lesart – muss das Axiom eines Eigenwerts des Menschen für den Menschen in allen dem Prinzip nachfolgenden Rechten und Rechtshandlungen äußerlich verwirklicht werden. Die Würde wäre dann erster, gesetzter Grund der Rechtsstatus der Menschen und letzte Prüfungsinstanz allen intersubjektiven Handelns. Das Grundgesetz geht vielleicht selbst nicht unbedingt von einer gänzlich verlierbaren, aber von einer veränderlichen Menschenwürde, also auch zu schützenden Menschenwürde aus. Es suggeriert wie andere Rechtsnormen auch308 durch die indikativische Fassung moralische Stärke und bringt damit besonders deutlich den imperativen Gehalt des Rechtssatzes 308  Grimm,

Die Würde des Menschen ist unantastbar, S. 10.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

zum Ausdruck309. Der Indikativ als apodiktischste Form des Imperativs.310 Die Unantastbarkeitsformel als präskriptive311 Sollensaussage der praktischen Vernunft mit der theoretisch-empirischen Grundlage des Menschseins. Die als solche im Verlauf dieser Untersuchung hermeneutisch hervorgehobene, historisch herrschende und langlebigste, ambivalente Idee der Menschenwürde als durchaus immer vorhandene, jedoch auch graduell gestaltbare Größe ist also im Grundgesetztext erhalten geblieben. Insofern kann die Menschenwürde angetastet werden, solange Antasten möglichst nahe am Wortlaut empirisch als menschlich-manuelles Einwirken, als Gestalten von fassbaren, äußeren Verhältnissen, verstanden wird. Die äußerlichen Verhaltensweisen, welche durch die dem Menschenwürdeartikel nachfolgenden Grundrechte rechtlich beschrieben werden, können dann von Achtung und Schutz der Menschenwürde oder Nichtachtung und Schutzlosstellung zeugen. Wenn schon das Wort „unantastbar“ von Art. 1 I 2 GG isoliert nur als „unverletzlich“ verstanden werden würde, würde diese Interpretation insbesondere angesichts der Verwendungen der Worte „verletzt“ in Art. 2 I GG, „unverletzlich“ in Art. 2 II 2, Art. 4 I GG, Art. 10 I, Art. 13 I GG den Boden der Wortlautauslegung auch über jeden Begriffshof312 verlassen. Sie würde sofort mannigfaltige, mehrebene Schlussfolgerungen bezüglich der dann entstehenden Disharmonie von indikativischer Fassung, Weite und Rechtscharakter des Menschenwürdesatzes zur Plausibilisierung nach sich ziehen müssen. Diese Schlussfolgerungen werden eben durch eine erste Auslegung möglichst nah am Wortlaut wie hier vermieden. In diesem Zusammenhang wird für den ersten Auslegungsansatz am Wortlaut unter Erinnerung der in dieser Arbeit bereits dargelegten Grundannahmen der wissenschaftstheoretische Grundsatz der lex parsimoniae methodologisch zusätzlich zu Grunde gelegt. Nach diesem Grundsatz ist von mehreren möglichen Erklärungen diejenige mit den potentiell wenigsten Hypothesennotwendigkeiten und 309  Löhrer, Menschliche Würde, S. 18; Isensee, AöR 2006, S. 173  f.; Starck, Art. 1, Menschenwürde, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 1, Rn. 33. 310  Isensee, Würde des Menschen, S. 6, Rn. 4. 311  Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 128: „Das folgt zum einen schon daraus, daß Rechtstexte per definitionem nur normative Aussagen treffen können; zudem erwachsen Sinn und Bedeutung des Art. 1 I GG gerade aus der Tatsache mannigfacher ‚Antastung‘ der Menschenwürde.“ 312  Terminologie von Begriffskern und Begriffshof geprägt von: Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 173: „Wir haben einen Vorstellungskern, den nächstliegenden Wortsinn, und einen Vorstellungshof, der allmählich in wortfremde Vorstellungen führt. Die Βedeutung läßt sich dann mit einem Monde vergleichen, der in dunstigen Wolken sich mit einem Hofe umgibt.“



B. Wortlautauslegung95

Variablen anzuwenden, solange nicht eine andere plausibler oder wahrheitsgemäßer erscheint.313 Wegen der sich mit den ideengeschichtlichen Gehalten des Menschenwürdebegriffs ergebenden Spannungsverhältnisse spiegeln sich am für das Grundgesetz gewählten, generellen Wortlaut des Art. 1 I 1 GG – „Die Würde des Menschen“ – und seiner Indikativfassung – „ist unantastbar“ – gut die Widersprüche und ihre Ausbalancierungen wider. Ausbalancierungen, wie sie seit Entstehung des Grundgesetzes – als Reaktion auf den Kollektivismus, aus Angst vor einer Magna charta des reinen Individualismus314 im Spektrum von Individualismus, Personalismus, Kollektivismus315 – versucht werden: Der grundgesetzliche Menschenwürdesatz als fordernde Wertaussage über eine im Menschsein vorhandene, aber auch noch im Äußerlichen des Personenverkehrs zu verwirklichende, zu verschaffende, zu vertiefende Seinsgegebenheit. Abstrakt gedacht als gleiche Möglichkeit eines jeden in seiner Eigenheit freien Menschen, dessen Menschsein in staatlich-gesellschaftlicher Gemeinschaft unter Gleichen mit gleich abstrakter Freiheit erst noch konkret rechtlich realisiert werden muss.316 Unantastbarkeit suggeriert schon im Wortlaut die Nichtergreifbarkeit, Nichteingreifbarkeit, Nichtwegnehmbarkeit, und auch die Nichtwägbarkeit.317 Die Würde des Menschen ist zwar unantastbar, aber der Anspruch auf Achtung und Schutz dieser Würde kann durch Nichtachtung und Schutzlosstellung verletzt werden. Die Achtung und der Schutz können in der Realisation der Grundrechte zum Ausdruck kommen, so wie Nichtbeachtung und Schutzlosstellung sich in der Verhinderung der Grundrechtsausübung zeigen können. Die Binnensemantik von Art. 1 I 1 GG und Art. 1 I 2 GG verweist schon darauf, dass die Menschenwürde als etwas in der Rechtsordnung immer immanentes da sein muss, dass durch Achtung und Schutz oder durch Nichtachtung und Schutzlosstellung rechtswidrig behandelt werden kann. 313  Erstmals in Form des „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“ überliefert bei: Clauberg, Logica vetus et nova, S. 291 f., dieses Effizienzprinzip ist auch bekannt als Ockhams Skalpell. 314  Dürig, JR 7, 1952, S. 261. 315  Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, S. 669, 671. 316  Vgl. Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 f. 125–132, allerdings unter logisch-systematischer Sichtweise auf Art. 2 I GG falscher Wortwahl von „Person und Persönlichkeit“ im Kontext von Art. 1 GG, denn dort ist eben anders als bei Art. 2 I GG vom „Menschen“ die Rede. Dieses Wort kann zeitlich-existentiell einen weiteren Begriffsgehalt aufweisen als das der Person und der Persönlichkeit. 317  Vgl. auch den Wortlaut von Art. 19 II GG: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Geht man gemäß dem Sinn der getrennten Analyse von Rechtssätzen weiter nach der puren Semantik als der Lehre von den sprachlichen Zeichen und ihrer Beziehung, so ist der weitere Wortlaut und die Anordnung der Sprachzeichen des Art. 1 GG sehr klar und möglichst unmissverständlich: Gerade weil die Menschenwürde gemäß Art. 1 I 1 GG „unantastbar ist“, bekennt sich das Deutsche Volk laut Art. 1 II GG „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Die Menschenwürde als kausaler Grund der Menschenrechte. Art. 1 I 2 GG schreibt zur Menschenwürde vor: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Satz steht in der klassischen, idealtypischen, imperativen Form von präskriptiven Rechtsnormen.318 Rechtsnormen sind Sollenssätze und meistens als Konditionalprogramm konzipiert. Die konditionale Programmierung in Tatbestand und Rechtsfolge ist ein Merkmal von Befugnisnormen.319 Spätestens in Zusammenlesung mit Art. 1 I 1 GG wird Art. 1 I 2 GG zu einer vollständigen Aussage in imperativischer Form einer echten präskriptiven Rechtsnorm.320 Dieser Rechtsnorm kann die finale Aussage entnommen werden, dass die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist, und in Zusammenlesung mit Art. 1 I 1 GG kann ihr das Konditionalprogranmm entnommen werden, dass, wann immer es zu einem Antasten der Menschenwürde kommt oder kommen kann, diese genau dann zu achten und zu schützen ist. Der Tatbestand der Menschenwürde führt zur Verpflichtung der Achtung und ihres Schutzes. Die konditionale Verpflichtung auf Achtung und Schutz bedeutet zugleich die Befugnis zur achtungsvollen Einbeziehung der Menschenwürde in die Rechtsgestaltung und zum Schutz der Menschenwürde. Art. 1 I GG konstituiert also in Art, Form und Inhalt eines Rechtssatzes mit Rechtsnormativität finale und konditionale Rechtsgestaltung. 318  Zum Begriff der Rechtsnorm: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie – mit Juristischer Methodenlehre, § 4. 319  Dietlein/Burgi/Hellermann, Öffentliches Recht in NRW, Rn. 46. 320  Für den Rechtsnormcharakter auch: Dürig/Maunz, Grundgesetz (1958), Art. 1, Rn. 4; Stern, Staatsrecht III/1, der a. a. O., S. 26 vom „Rechtssatzcharakter“ schreibt und indirekt, a. a. O., S. 27, über die Zustimmung zur Auslegung als „subjektives Recht“ Rechtsnormcharakter annimmt; Kunig, Art. 1. Würde des Menschen, Grundrechtsbindung, Rn. 18, der das Argument einer Konkretisierungsbedürftigkeit des Rechtsbegriffs der Menschenwürde nicht gelten lässt mit richtigem Verweis der Konkretisierungsbedürftigkeit auch zahlreicher anderer Rechtsbegriffe und „manchen anderen Grundrechts“, a. a. O., S. 69, Fn. 111: „Z. B. Art. 2 Abs. 1 – Bestimmung des Persönlichkeitsbegriffs“; Isensee, Würde des Menschen, S. 22 f., Rn. 25 mit dem rechtsdogmatischen Ergebnis: „Mithin teilt die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG, ungeachtet ihrer hervorgehobenen Stellung, das rechtliche Los aller Verfassungsnormen und ihrer Interpretation.“; Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 44.



C. Systematischer Auslegungsansatz97

Nachdem Art. 1 I 2 GG statuiert hat, dass die Menschenwürde zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, lautet Art. 1 III GG: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Die Menschenwürde als Vorausgeschicktes, buchstäblich also als Prämisse vor den andersartigen Grundrechten, als Voraussetzung für die Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte und mit der Konklusion, dass diese Grundrechte unmittelbar geltendes Recht sind. Dem kann auch die Überschrift des I. Abschnitts des Grundgesetzes „Die Grundrechte“ nichts entgegensetzen321, denn sie ordnet, wie für Über-Schriften üblich, eben nur den hier soeben erhaltenen Befund einheitlich unter einem Titel thematisch zu und dieser derart überschriebene erste Abschnitt enthält sowieso nicht nur Grundrechte.322 Mit der Menschenwürde als objektive Prämisse subjektiver Rechte deckt sich ein im Grundgesetz vorhandenes Zeichen linguistischer Ähnlichkeit, das auf Wesensverwandtschaft hindeutet: Art. 1 I 1 GG spricht von Unantastbarkeit. Das Unantastbarkeitsbild wird nur noch ein einziges Mal im Grundgesetz bemüht, und zwar in Art. 19 II GG, wo statuiert wird, dass in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden „darf“. Dass Art. 19 II GG kein subjektives Abwehrgrundrecht enthält, ist allgemeine Meinung.323 Die weitere Prüfung des systematischen Verhältnisses von Art. 1 GG und Art. 19 II GG bleibt der systematischen Auslegung vorbehalten.

C. Systematischer Auslegungsansatz Die systematische Auslegung ermittelt den Inhalt eines Wortes oder eine Satzes oder einer ganzen Norm über die Stellung und einen Vergleich mit anderen Normen im Gesamtzusammenhang des Satzes, der Norm, eines Gesetzesabschnitts, des Gesetzes oder der ganzen Rechtsordnung. Die Frage nach der systematischen Stellung des Art. 1 GG lässt sich auf die Diskussionen um die Absolutheit oder Abwägungsfähigkeit eben mit anderen Rechtsnormen fokussieren. Um die Diskussion zu charakterisieren und diese Charakterisierung wiederum zu konzentrieren, lässt sie sich entlang der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickeln. Zudem erweist sich die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Menschenwürde als prägend und typisch zugleich für den herrschenden macht z. B. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 107. Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 397. 323  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 102. 321  Das

322  Enders,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Diskurs und ist nicht zuletzt wegen der im allgemeinen dogmatischen Teil dieser Arbeit aufgezeigten Bindungswirkung der verfassungsgericht­ lichen Rechtsprechung besonders zu beachten und adäquat im Sinne des an diese Arbeit angelegten Wahrheitsbegriffs zu verarbeiten. Das Bundesverfassungsgericht geht in offizieller Rhetorik und herrschender Lesart von einer Abwägungsfestigkeit der grundgesetzlichen Menschenwürde aus. Eingriffe seien „schlechthin verboten“.324 Danach findet auch eine Abwägung etwa nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „nicht statt“.325 Besieht man den Kontext der Rechtssprechungsformeln genauer, gerät das Absolute allerdings in Relativierung und das Abwägungsfeste der Sache nach ins Wanken: Das Bundesverfassungsgericht schreibt selbst ständig in seine Entscheidungen zur Menschenwürde, dass sich „nicht ein für allemal abschließend“ entscheiden lässt, was die Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, für das staatliche Handeln „konkret bedeutet“326, und dass eine Verletzung der Menschenwürde „nur in Ansehung des konkreten Falles“ oder „mit Blick auf die spezifische Situation“327 festgestellt oder konkretisiert werden kann. Dies eröffnet die erste Möglichkeit zur Abwägung eben je nach dem und von Fall zu Fall. Zu Verwischungen von Konturen kommt es auch durch die verfassungsgerichtliche Rhetorik vom „Menschenwürdegehalt“ in den Grundrechten und durch die damit einhergehende Konstruktion von neuen Grundrechtsbegriffen. So das prominenteste Beispiel des nicht im Grundgesetz benannten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das vom Bundesverfassungsgericht in Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG verortet wird. Denn die Frage nach dem Anteil der angeblich absoluten und unwägbaren Menschenwürde an dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht neben dem unbestritten einschränkbaren Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Grenzziehung zwischen beiden könnte wiederum nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls beantwortet werden und damit nur auf dem Wege einer Abwägung328, die konsequenterweise zur Abgrenzung zwischen den zusammengezwungenen Artikelgehalten führen müsste. Beides bleibt regelmäßig aus. Im Gegenteil werden in die gerichtlichen Entscheidungsbegründungen auf Abwägungserfordernisse hindeutende Formulierungen von sogar „überwiegenden“ oder 324  Ständige

Formel seit BVerfGE 30, 1, 26 (Abhörurteil). schon in: BVerfGE 34, 238, 245 (Tonband). 326  Ständig, schon seit BVerfGE 45, 187, 229 (Lebenslange Freiheitsstrafe). 327  BVerfGE 115, 118, 153 (LuftSiG). 328  Dreier, H., Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, S. 40. 325  Ständig,



C. Systematischer Auslegungsansatz99

„schwerwiegenden Interessen“ aufgenommen.329 Das Erfordernis einer fallweisen Abwägung entfiele auch dann nicht, wenn man den Menschenwürdegehalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts klinisch scharf anhand der Drei-Sphären-Theorie und der dann den Menschenwürdegehalt bildenden Intimsphäre330 heraustrennen könnte. Denn das Bundesverfassungsgericht bestimmt die Intimsphäre beim von ihm so benannten Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht aus sich heraus mit definitiven Grenzen, sondern unter Berücksichtigung der dann erst die Grenze ziehenden Umstände.331 Zumal alle Gründe aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst für die Konstruktion des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als ein echtes Kombinationsgrundrecht mit einer kompletten Vermischung von Menschenwürde und Allgemeiner Handlungsfreiheit streiten. Denn in allen drei Sphären erkennt das Bundesverfassungsgericht gerade durch den Menschenwürdegehalt auf einen erhöhten Grundrechtsschutz gegenüber der Allgemeinen Handlungsfreiheit.332 Dessen Funktion entfiele somit bei quasirevidierender, artifizieller Aufspaltung des zum Zwecke des Grundrechtsschutzes erst richterrechtlich eingeführten Verbundgrundrechts.333 Außerdem beschränkt sich der Menschenwürdegehalt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf eine menschliche Intimsphäre, sondern wird mit weiteren Grundrechten zur argumentativen Verstärkung des Schutzes spezieller Grundrechte bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen.334 Das geschieht genauso bei Art. 13 GG, indem das Bundesverfassungsgericht dem Wohnungsgrundrecht Menschenwürdegehalt und einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuspricht, zu welchem die Möglichkeit gehöre, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen, und von dessen Schutz auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität umfasst 329  Vgl. BVerfGE 34, 238, 46 (Tonband) und BVerfGE 109, 279, 303 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“): „überwiegende“ (!) Interessen; BVerfGE 80367, 373 f.: schwerwiegende Interessen auf die Widersprüchlichkeit derartiger Formulierungen weist hin: Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 20. 330  Drei-Sphären-Theorie mit Intimsphäre, Privatsphäre und Sozialsphäre auf Grundlage von: BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes): „letzter unantastbarer Bereich mensch­ licher Freiheit“. 331  Das ist dem Bundesverfassungsgericht schon früh aus den eigenen Reihen von vier dissentierenden Verfassungsrichtern zum Vorwurf gemacht worden in: BVerfGE 80, 367, 382 f. (Tagebuch). 332  Vgl. BVerfGE 54, 148, 153 f. (Eppler). 333  Vgl. Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 18. 334  Z. B.: BVerfGE 109, 279 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“).

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

seien.335 Denn dort führt das Bundesverfassungsgericht einerseits aus, dass ein Sachverhalt dann dem unantastbaren Kernbereich zuzuordnen sei, wenn er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters ist, und die Zuordnung „auch“ davon abhinge, in welcher Art und Intensität er „aus sich heraus“ die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt, und schreibt in gleichem Atemzuge, dass „maßgebend“ die „Besonderheiten des jeweiligen Falles“ seien.336 Als Grund für diese Verstärkungsverschmelzung kann aufgrund systematischer Stellung und Wortlaut des Art. 19 II GG in Ansehung insbesondere zu Art. 1 GG und Art. 79 III GG, historischer und teleologischer Relevanz von Art. 1 GG und Art. 19 II GG nicht eine Identität von Menschenwürde und Wesensgehalt nach Art. 19 II GG behauptet werden337, zumal das Bundesverfassungsgericht diese nie selbst behauptet. Das passt zur allgemeinen Ratlosigkeit über die dogmatisch relevante Einordnung und Fruchtbarmachung des Art. 19 II GG. Diese besteht in der Frage, ob Art. 19 II GG die restlose Entziehung eines Grundrechtskerns im Einzelfall verbietet oder ob er nur verhindern will, dass der Wesenskern des Grundrechts als solcher, z. B. durch praktischen Wegfall der im Grundgesetz verankerten, der Allgemeinheit gegebenen Garantie angetastet wird.338 Die Wesensgehaltsgarantie birgt ein grundrechtliches Problem, das in allen Fällen relevant wird, in denen das Rechtsgut eines Grundrechtsträgers in seiner Substanz gelöscht wird. Die vollständige Auslöschung geschieht beim polizeilichen Todesschuss oder sub specie Art. 14 I GG bei der Zerstörung von Sachen oder Tötung von Tieren in ähnlicher dogmatischer Intensität. Das Problem kann sich freilich bei allen Grundrechten stellen und ist eines der Hauptprobleme zusammen mit der vom Grundgesetz gleichfalls unantastbar genannten Menschenwürde, wenn man diese ausschließlich als subjektives, absolutes Abwehrrecht auffasste. Spätestens beim polizeilichen Schusswaffengebrauch, der das Leben des Schussadressaten endgültig beendet und ohne Rest unwiederbringlich auslöscht, wird Art. 19 II GG für polizeipraktische Fälle verarbeitungswürdig grundrechtsrelevant. Angesichts dieser Wirkung kann der Wortlaut des Art. 19 II GG nicht auf ein einzelnes, konkret-individuell vorhandenes Grundrecht gemünzt sein. Vielmehr kann er nur abstrakt-generell dahingehend verstanden werden, dass ein Grundrecht des Grundgesetzes durch die Gesamtheit staatlicher Maßnahmen nicht für jeden 335  BVerfG, Urteil vom 03.  März 2004  – 1 BvR 2378/98, Rz.  120 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 336  BVerfG, Urteil vom 03.  März 2004  – 1 BvR 2378/98, Rz.  123 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 337  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Staatsrecht II – Grundrechte, § 6, Rn. 320. 338  So die Frage in: BVerfGE 2, 266, 285 (Notaufnahme).



C. Systematischer Auslegungsansatz101

Fall und für alle Grundrechtsträger unwirksam gemacht wird.339 Art. 19 II GG leistet damit für alle Grundrechte das, was Art. 1 GG für die überkommenen Rechtsprinzipien der „unverletzlichen und unveräußerlichen“ Menschenrechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ leistet. Das kann zu einer Teilidentität von Wesensgehalt und Menschenwürdegehalt in Fällen der vom Grundgesetz genannten Menschenrechte führen. Diese Auslegung steht zudem in logisch-systematischer Einheit mit der Verfassung und den in ihr enthaltenen grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates, die in einem konkret-individuellen Einzelfall derart aktiviert werden können müssen, dass sie zum legitimen Schutz des einen Grundrechtsträgers die Position eines anderen Grundrechtsträgers verhältnismäßig beeinträchtigen.340 Die Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung kann auch noch in einer völligen Beseitigung des wesentlichen Kerngehaltes in einen einzelnen Fall stehen, insbesondere wenn – wie in der Situation vor einem rechtmäßigen polizeilichen Todesschuss – das eine Leben rechtswidrig bedroht wird. Letztgenannte Möglichkeit zeigt, dass eine die Verhältnismäßigkeit und den Wesensgehalt ineinssetzende Auslegung wie gesehen nicht nur systematisch sowie teleologisch fehlgeht, sondern zudem ahistorisch agiert, indem sie den genetischen Unterschied zwischen der längeren verfassungsgerichtlichen Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der verfassungsgebenden Setzung des Wortlauts von Art. 19 II GG ignoriert. Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeit sind strikt zu trennen. Jener ist objektiv-absolut, diese relativ-einzelfallbezogen zu bestimmen. Diese dogmatische Lesart des Art. 19 II GG geht in dem hier vertretenen, unlösbare Widersprüche vermeidenden, allgemeinen Satz auf, dass es immerzu geltende absolute, subjektive Rechte angesichts der Rechte anderer im Staate nicht geben kann. Als Gipfel der menschenwürderelevanten Rhetorik behauptet das Bundesverfassungsgericht selbst ab und zu, dass im Grundrecht auf Leben neben dem ohnehin durch Art. 19 II GG vorhandenen Wesensgehalt „Menschenwürdegehalt“ stecke, also ein Gehalt der laut Art. 1 I 1 GG „unantastbaren“ Menschenwürde. Fragt man nach, was dieser Menschenwürdegehalt außer der Funktion als Verstärkerargument für einen juristischen Mehrwert neben der Absolutheit eines subjektiven Menschenwürderechts erbringt, kann man – zumal in juristisch zu entscheidenden Situationen – keine folgerichtige Antwort erhalten. Letztlich muss eine Auffassung des Menschenwürdeartikels als spezielles, subjektives und unwägbar höchstrangiges Grundrecht in systematischer Auseinandersetzung mit dem Recht auf Leben aus Art. 2 339  BVerfGE

61, 82, 113 (Sasbach). 61, 82, 113 (Sasbach) spricht von einem „Störungsabwehranspruch, den die Rechtsordnung zum Schutz eines Grundrechts einräumt“. 340  BVerfGE

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

II 1 GG scheitern, will man nicht nur die Gattung Mensch durch Art. 1 GG geachtet und geschützt ansehen, sondern auch den einzelnen Menschen. Denn für den Menschen ist Leben vielleicht nicht immer gleich Würde, und vielleicht nicht in jedem Fall hinreichende, aber immer notwendige Bedingung seines Würdestatus.341 Außerdem kann die Opferung von Menschenleben mittels Abwägung des allgemein anerkannt abwägbaren Lebensgrundrechts mit einem abwägungsfest konstruierten Menschenwürdegrundrecht nicht ohne logischen Bruch gedacht werden. Mit ganz herrschender Anerkennung grundsätzlicher Zulässigkeit gezielter staatlicher Todesschüsse ist die entscheidungsbegründende Verbindung von einem vorgeblich grundrechtlich unwägbaren Menschenwürdegehalt und einem einschränkbaren Lebensgrundrecht auch nicht mehr durch einen in das Lebensgrundrecht hineingelegten Menschenwürdegehalt zu retten, sondern von Anbeginn eine logische Mesalliance zu nennen, wenn sie von der Menschenwürdenorm als Grundrechtsnorm und nicht als Auslegungsprinzip ausgeht. Es wird weiter – im Gegensatz zur prinzipiellen Behandlung der Menschenwürde auch offiziell von der ganz h. M. anerkannt – gezielte polizeiliche Todesschüsse aufgrund von Auslegung trotz des in das Lebensgrundrecht hineingelegten Menschenwürdegehaltes geben, der ja spätestens mit der Tötung völlig im Lebensgrundrecht vernichtet würde. Folglich kann man Menschenwürdegehalt richtigerweise den Umstand nennen, dass die Realisation erheblicher Bestandteile der dem Art. 1 GG nachfolgenden Grundrechte von der Prämisse der Menschenwürde leben und in ihrem Geiste auszulegen sind. Menschenwürde und Menschenwürdegehalt können nicht vollidentisch sein mit anderen Grundrechtsgehalten wegen Art. 19 II GG.342 Menschenwürde als Verstärkerargument in den historisch anerkannten Grund- und Menschenrechten und also auch im Lebensgrundrecht ist überflüssig und verstößt wegen ihrer Widersprüchlichkeit gegen die logischen Gesetze des Denkens und der Erfahrung343: Einerseits soll sie unantastbar sein, andererseits kann in das Recht auf Leben wegen des Wortlauts des Art. 2 II 3 GG selbstverständlich verfassungsrechtlich eingegriffen wer341  Zudem gegen eine zeitliche Priorisierung der Würde ab Verschmelzung von Ei- und Samenzelle vor dem angeblichen Beginn des Lebensschutzes ab der Nidation: Heun, JZ 2002, 518 f. 342  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 114. 343  Zu der Anforderung einer Ausrichtung der juristischen Auslegung an den Gesetzen des Denkens und der Erfahrung: BGHSt 10, 208 (Beweiswürdigung). Für die Gesetze des Denkens und der Erfahrung bei der Feststellung von Tatsachen: BGHSt 6, 70, 72 (Blutgruppengutachten); für die Gesetze des Denkens und der Erfahrung bei der Beweiswürdigung: BVerfG, Beschl. v. 27.06.1994  – 2 BvR 1269/94 (Feststellung der absoluten Fahruntüchtigkeit bei 1,1 Promille Blutalkoholgehalt) = BVerfG, NJW 1995, 125 f.



C. Systematischer Auslegungsansatz103

den.344 Aus der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG oder aus dem Rechtsstaatsprinzip wurden nach und nach mehrere Rechte immer in Verbindung mit Art. 1 I GG entwickelt. Hier wie überall ersetzt das Wort Menschenwürde ein Stück weit die juristische Argumentation. Hier wie überall war der grundrechtliche Rekurs auf Art. 1 GG dogmatisch unnötig, denn die Rechte waren immer schon in Art. 2 I GG oder etwa im Art. 13 GG inhaltlich voll angelegt. Die Eigenart von Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht ist eine systematische Funktion, nichts weiter, nicht mehr und nicht weniger und ohne wertende Implikationen. Hier wie überall bei allen anderen Auffangnormen wie etwa den Generalklauseln hat die systematische, – im Bedarfsfall Rechte rettende – Auffangfunktion keinerlei Indizwirkung für die Qualität der Rechtsnorm und ihre inhaltliche Potenz. Das gegenüber vielen Auffangnormen zu beobachtende Misstrauen hat wohl zur richterlichen Meinung beigetragen, das Freiheitsrecht des Art. 2 I GG durch Art. 1 GG stärken zu müssen. Demgegenüber könnten alle von der Menschenwürde gemeinten Verletzungen seelischer und körperlicher Identität und Integrität – wie die genannten Klassiker von wirklichen Ächtungen, Brandmarkungen, Erniedrigungen, Folterungen, Verfolgungen – von den Grundrechten rechtlich genügend präzise erfasst werden. Ähnlich widersprüchlich ist die in der Literatur vorfindliche Auslegung des Menschenwürdeartikels als Demütigungs- und Erniedrigungsverbot345, wenn es als ausschließlich grundrechtlich absolut gedacht wird. Denn dann wird die auch von Diskursteilnehmern ohne Erniedrigungstheorie vertretene Auffassung von einer grundrechtlichen, regelhaften Vorrangigkeit der Menschenwürde vor dem Lebensschutz besonders kurios, wenn man für die Achtung und den Schutz vor bloßer Erniedrigung Menschen töten dürfte. Als Folge der grundrechtlichen Menschenwürdegehalt-Rhetorik von Rechtsprechungspraxis und Literatur, die faktisch die Menschenwürde als Grundrecht und Prinzip, als absolut und abwägbar zugleich behandeln will, tritt Entwertung der Menschenwürde ein. Dies ist selbst dann der Fall, wenn es sich ausschließlich um einen Wert und kein eigenständiges Grundrecht wie die anderen speziell benannten Rechte handeln würde.346 344  Zum Widerspruch in den Judikaten auch: Roggan/Kutscha, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, S. 41: „Diese scheinbar so selbstverständlichen Feststellungen stehen allerdings in einem gewissen Gegensatz zum normativen Befund.“ 345  Hörnle, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2008, S. 41–61; Margalit, Politik der Würde; Neuhäuser, Humiliation: The Collective Dimension; Pollmann, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 04/2005, S. 611–619; Stoecker, Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung; Schaber, Studia Philosophica 65/2004, S. 93–106. 346  Tiedemann, DÖV 2009, S. 607.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Wohl aber spricht auch wegen der moralischen Stärkung von Grundrechten durch den Topos des Menschenwürdegehalts viel für eine Funktion der Menschenwürde als obersten, alles fundierenden Wert der Verfassung, quasi als Auslegungs- und Gewichtungsmaxime. Viel spricht gegen die Funktion eines ansonsten aus den oben genannten systematischen Gründen dann dysfunktionalen Grundrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat sich einer ausdrücklichen, klaren, dogmatisch konturierenden Kategorisierung, Strukturierung und Abgrenzung des Art. 1 GG zu den nachfolgenden Grundrechten bis heute wohlweislich entzogen.347 Im Gegenteil unterlaufen ihm sogar Formulierungen, die eine offene Abwägung der Menschenwürde darstellen. So, wenn es beispielsweise sogar im Leitsatz und in den Entscheidungsgründen „mit Blick auf die Gemeinschaftsgebundenheit“348 bezüglich einem der schwerwiegendsten Eingriffe lebenslanger Freiheitsentziehung gegen einen einzelnen Menschen in klarster Verhältnismäßigkeitsterminologie schreibt, dass die Menschenwürde auch durch eine langdauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten „notwendig“349 ist. Oder wenn das Bundesverfassungsgericht trotz offizieller Schutzbereichsdefini­ tion der Menschenwürde aus sich heraus umfassende Abwägungsüberlegun347  Das BVerfG hält auch im Hinblick auf Art. 93 I Nr. 4a GG und § 13 Nr. 8a BVerfGG die Verfassungsbeschwerde bezüglich der Menschenwürde offen, vgl. auch: BVerfGE 1, 332, 343, 348; BVerfGE 12, 113, 125; BVerfGE 15, 283, 286; BVerfGE 28, 151, 163; BVerfGE 45, 187, 227 ff.; BVerfGE 61, 126, 137; BVerfGE 109, 13, 149 f.; BVerfGE 117, 71, 89 ff.; Vgl. mit als Beleg angeführten Stellen zur bundesverfassungsgerichtlichen Einordnung der Menschenwürde des Art. 1 GG als Grundrecht mit spezifischem Schutzbereich: Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 167 ff.; vgl. auch BVerfGE 125, 175, 222 (Hartz IV), wo sich anlässlich einer im Einklang mit einem konstanten ideengeschichtlichen Gehalt wiederum wohlfahrtsstaatlichen, die äußeren Existenzminima absichernden Rechtsprechung der Satz findet: „Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Wirkung.“ Dieser Satz ist in der Weise fehlinter­ pretiert worden, dass darin eine ausdrückliche Stellungnahme des BVerfG zur Grundrechtsqualität der Menschenwürdenorm gesehen wurde, vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 132, was aber in Ansehung des ganzen Urteilkontexts nicht verfängt, denn das BVerfG schreibt ebenda von einem eigenständigen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstärkt diese Konstruktion lediglich in gewohnter Manier durch rhetorischen Rekurs auf einen Ursprung in Art. 1 I GG und auf den Menschenwürdegehalt; zu BVerfGE 1, 97, 99, 104 (Hinterbliebenenrente) schreiben Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 132, Fn. 5 selbst, dass das BVerfG dort Art. 1 I GG „terminologisch unbefangen“ als Grundrecht „behandelt“. 348  BVerfGE 109, 133, 151 (Langfristige Sicherungsverwahrung). 349  BVerfGE 109, 133, Ls. 1 (Langfristige Sicherungsverwahrung).



C. Systematischer Auslegungsansatz105

gen für eine letztendliche Verneinung einer Menschenwürdeverletzung anstellt.350 Das Bundesverfassungsgericht judiziert derart, als ob es selbst einer von ihm gleichwohl festgestellten Absolutheit und Abwägungsfestigkeit eines Grundrechts Menschenwürde im grundgesetzlichen System der Grundrechte keinen Glauben schenken könne. Dogmatisch könnte diese herrschende Rechtspraxis zu retten sein durch die Übertragung einer ihr zugrundeliegenden Vorstellung regelhafter und prinzipienhafter Auslegung und Anwendung von Normen, wie sie in der rechtsdogmatischen Grundlegung dieser Arbeit angedeutet wurde. Übertragen auf die Problematik der Anwendung der Menschenwürdenorm bedeutet dies: Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung fasst die Menschenwürdenorm regelmäßig als Prinzip auf, das bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechtsnormen hilft und regelmäßig eben wegen ihrer prinzipiellen Funktion und ihres Verhältnisses zu den speziellen Grundrechten nicht fallentscheidende Norm sein muss. Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit der grundsätzlichen verfassungsgesetzgeberischen Entscheidung, welche die Menschenwürde als Grundlage der Verfassung und Fundierung der Grund- und Menschenrechte verstanden hat. Damit hat der Verfassungsgesetzgeber die Menschenwürde als Rahmen, als Ausgangs-, Orientierungsund Endpunkt jeglicher Rechtsanwendung eingesetzt, aber nicht als regelmäßig fallentscheidende Normregel, die immer für alles ausdrücklich zur Anwendung kommen soll. Menschenwürde als Quell, Ufer und Mündungsziel, die alle übrigen Rechtsnormen als das Binnengewässer der Rechtsordnung vor wegreißenden Strömungen bewahrt. Wird Menschenwürde verletzt, brechen der Staudamm der Rechtsordnung und damit die Rechtsordnung am Ort der Verletzung mit der Menschenwürde in sich zusammen. Menschenwürde als archimedischer Punkt des Rechts. Das Prinzip Menschenwürde steht immer im Hintergrund bereit, zur Regel zu werden. Sie ist äußerste Grenze und Endzweck der Rechtsanwendung, ohne in den regelmäßig rechtsstaatlichen Fällen ständig als entscheidendes Argument zur ausdrücklichen Anwendung zu kommen. Nach der Anwendungspraxis von Verfassungsgesetzgeber und Rechtsprechung muss die Menschenwürdenorm regelmäßig in der Masse der rechtsstaatlichen Alltagsfälle als den einzelnen Fall entscheidende Rechtsnorm nicht ausdrücklich regelhaft für die Entscheidungsbegründung angewendet werden. 350  BVerfGE 47, 239, 247 f. (Zwangsweiser Haarschnitt): Kein „Verstoß gegen die Menschenwürde“ […] „sofern dem nicht besondere Umstände des Einzelfalles entgegenstehen“ […], „auch bei Eingriffen“ […] „von verhältnismäßig geringer Intensität“ […], die vorliegenden Eingriffe „dienen […] unmittelbar der rechtsstaatlich gebotenen Aufklärung von Straftaten“ […]. „Der Beschuldigte muss sie deshalb im Interesse überwiegender Belange des Gemeinwohls hinnehmen.“

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Denn es vermögen schon andere für diese Fälle bestehende Verfassungsprinzipien wie die hergebrachten Grund- und Menschenrechte und insbesondere normenkonkurrenzmäßig speziellere Rechtsregeln wie die einfachen Gesetze den Fall vorrangig zu lösen. Während der Ausschöpfung aller anderen speziellen Gesetzes- und Grundrechtsregeln wird das Prinzip der Menschenwürde im Hintergrund immer wachsam mitberücksichtigt. So herrscht bei jeder Fallbearbeitung eine prinzipielle Aufmerksamkeit für das Prinzip Menschenwürde und eine Sensibilität für Menschenwürdeverletzungen. Doch muss die Menschenwürde regelmäßig nur da als Auslegungsprinzip oder entscheidende Rechtsnorm ausdrücklich angesprochen werden, wo nach Ausschöpfung der speziellen Gesetzes- und Grundrechtsregeln das Gesamtbild des zu entscheidenden Falles eine Antastung speziell der Würde und nicht schon schwerpunktmäßig eine Verletzung anderer, überkommener Verfassungsrechte vermuten lässt. Wenn die Menschenwürde im zu entscheidenden Fall thematisch nicht nur Rahmen, sondern Dreh- und Angelpunkt des Falles ist, etwa weil ein Verhalten an den „Intimbereich“ oder einen „unantastbaren Kernbereich“ der Persönlichkeitsentfaltung rührt, dann muss die Menschenwürde nicht nur als fallleitendes Prinzip, sondern auch als fallentscheidende Regel von der Rechtsanwendung ausdrücklich aktiviert werden. Dann ist sie nicht etwa nur Auslegungsrichtschnur, sondern kann sie entscheidendes Argument werden. Die dann im konkreten Fall auszusprechende Vermutung einer Menschenwürdeverletzung indiziert diese zwar, beweist sie aber noch nicht. Die widerlegliche Vermutung einer Menschenwürdeverletzung durch das fragliche, menschenwürdenahe Verhalten muss noch falsifiziert oder verifiziert werden. Dies geschieht durch Auslegung und Anwendung der Grundrechte unter ausdrücklicher Anwendung des Prinzips der Menschenwürde als Regel. Das Prinzip Menschenwürde kann also in der Auslegung der Grund- und Menschenrechte erlaubende oder verbietende, regelhafte Wirkung entfalten. In einer mit den Menschenwürdegehalten ausdrücklich erfolgenden, konkreten Abwägung aller Umstände des Einzelfalls und Auslegung der Grundrechte wird das Prinzip der Menschenwürde regelhaft realisiert.351 Menschenwürde also als Prinzip des Verfas351  Die dogmatische Bewältigung durch Unterscheidung von Regel- und Prinzipieneben ähnlich vornehmend: Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 281; Isensee, Würde des Menschen, S. 63, Fn. 304, dort deskriptiv zum hier gefundenen Ergebnis, mit der anlässlich Alexy, Theorie der Grundrechte angestellten, nach hier vertretener Auffassung treffenden Überlegung, dass die Präferenzrelation des Prinzips zu anderen Prinzipien entscheidet über den Inhalt der Regel, mit der hier vorgenommenen Einschränkung, dass die Prinzipien nicht gegenläufig sein müssen; ders., a. a. O., S. 86, Rn. 132, mit der Beschreibung des richtigen Gedankens, wonach sich Würde in Rechtsgütern wie Leben, Freiheit etc. inkarniert, mit der hier vorgenommenen Einschränkung, dass Würde und Rechtsgut nicht jeweils identisch sein müssen.



C. Systematischer Auslegungsansatz107

sungsgesetzgebers, das regelmäßig als Auslegungsgewicht im Hintergrund der speziellen (Grund-)Rechtsanwendung steht und ausnahmsweise einen Fall als Regel entscheiden kann. Menschenwürde entscheidet einen Fall als Regel, wenn sich im konkreten Einzelfall das Prinzip Menschenwürde durch die Umstände des Einzelfalls so stark in ihm verdichtet, dass die Rechtsnorm­ anwendung durch die gesamte Hierarchie der Rechtsordnung, die vom Prinzip der Menschenwürde ausgeht, wieder zu ihr zurückkehrt und sich in ihr als fallentscheidende Frage zuspitzt. Regel ist: Menschenwürde als Prinzip, das zur Regel werden kann. Wieder judiziert das Bundesverfassungsgericht faktisch schon in aller Deutlichkeit im Einklang mit allen dogmatischen Implikationen so, wie hier soeben rekonstruiert, wenn es schreibt, dass die Menschenwürde „Wurzel“ der Grundrechte sei, und „mit keinem Grundrecht abwägungsfähig“, und dass es besonderer Begründung bedürfe, „wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt“.352 Der Gedanke, dass die Menschenwürde zunächst Rahmen, also verfassungsrechtlicher Ausgangs-, Orientierungs- und Endpunkt jeder Fallentscheidung ist, und nicht eine spezielle subjektive Abwehrrechtsregel353, als Antwort auf die Frage, warum und zu welchem Zweck Rechts-Staatlichkeit besteht, ist auch ein dogmatisch passender Ansatzpunkt bei dem Versuch, den Begriff des Menschenwürdegehaltes zu verstehen und abermals dogmatisch besser zu bewältigen. Verständnis wird erhöht, Bewältigung besser erreicht, wenn die Schutzbereiche nicht vermengt werden, wie es in der verfassungsgerichtlichen Vergangenheit etwa durch Kreation des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts geschehen ist. Menschenwürde ist Grund und Endzweck der Staatlichkeit, erster Verfassungswert, leitendes Prinzip, letztinstanzliche Prüfebene, aber absolut nicht nötig, um die hergebrachten, absolut wesentlichen Grundrechte jeder rechtsstaatlichen Verfassung wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Gleichheit, Meinungsfreiheit, Eigentum überhaupt, et cetera in deren gewichtigen Gehalten oder gar rhetorisch zu verstärken.354 In einer bestimmten Art und Weise aber des Eingriffs in diese Grundrechte kann zugleich ein Verstoß gegen die sie fundierende Menschenwürde des Grundgesetzes als Rechtsprinzip liegen. Genauso wie gegen das Prinzip auch sonst durch völlige Nichtachtung und Schutzlosstellung des Menschen verstoßen werden könnte, so dass diese 352  BVerfGE 353  Gleiches

93, 266, 293 (Aufkleber „Soldaten sind Mörder“). dogmatisches Ergebnis bei: Isensee, Würde des Menschen, S. 102,

Rn. 160. 354  Gleiches Ergebnis schon bei: Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AÖR (81) 1956.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Nichtachtung und Schutzlosstellung in die Auslegung der nachfolgenden Grundrechte Eingang finden muss und ausnahmsweise regelhaft fallentscheidende Wirkung entfalten kann. Das damit in dieser Arbeit gewonnene Bild von Art. 1 I GG als Quelle, Ufer, und Mündungsziel, gewissermaßen als immer stehender Fixstern, als ständig präsentes Prinzip, dass über eine Auslegung355 systematisch bis zur regelhaft fallentscheidenden Rechtsnorm gelangen kann, ist in Begründung, Funktion und Zweck nicht zu verwechseln mit den diversen Meinungen zu den Figuren der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte und der sogenannten objektiven Wertordnung der Verfassung: Diese Figuren haben im Rahmen dieser systematischen Auslegung eher als negatives Beispiel für Begriffsbildung zu gelten, die bei ihrer Beibehaltung die dahinter stehende Dogmatik in den Schatten stellt.356 Mittelbare Drittwirkung wird oft als Gegensatzwendung zur unmittelbaren Wirkung der Grundrechte benutzt. Letztere soll nach herrschender Redensart die außer in den Fällen von Art. 9 III 2 GG, Art. 20 IV GG, Art. 38 I 1 GG i. V. m. Art. 48 II GG angeblich in aller Regelmäßigkeit nicht vorkommende direkte Wirkung der Grundrechte insbesondere zwischen Privatrechtssubjekten als solchen bezeichnen. Vordergründig soll die mittelbare Drittwirkung den Rechtsanwendungsprozess betiteln, bei dem alle staatlichen Stellen die Grundrechte als verobjektivierte Werteordnung zu beachten haben, die auf alle Bereiche des Rechts ausstrahlt und bei jeder staatlichen Rechtsanwendung einfacher Gesetze, insbesondere durch die Einbruchstellen der Generalklauseln und bei unbestimmten Rechtsbegriffen, für die Belange des Bürgers, an den sich die Grundrechte dann nicht direkt wenden sollen, Berücksichtigung findet. Danach sollen Grundrechte also neben den unbestreitbaren subjektiven Gewährleistungsgehalten für das Individuum und sein Verhältnis zum Staat einen objektiven Gewährleistungsgehalt als Richtlinie für das Verhalten des Staates haben; der objektive Gehalt gewährleiste eine Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt357 und auch in das Privatrecht vornehmlich über die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe in den §§ 138, 242, 307, 826 BGB als Einbruchstellen ausstrahlt und dort zumindest mittelbare Drittwirkung zwischen den 355  Insoweit richtig: Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, in: Epping/ Hillgruber, Grundgesetz – Kommentar, S. 6, Rn. 1, wenn er schreibt, dass Art. 1 Abs. 1 zu den tragenden Konstitutionsprinzipien gehört, „die auch alle anderen Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich die Auslegung der Grundrechte, beherrschen“. 356  Vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 292, wonach es sich bei dem objektiv-rechtlichen Gehalt um einen Nebelbegriff handelt. 357  BVerfGE 7, 198 (Lüth).



C. Systematischer Auslegungsansatz109

Privaten entfaltet358. Die Rechtsanwendung geht sogar in praxi nach systematischen Konkurrenz- und Schutzaspekten ohne Diskussion einer Drittwirkungsproblematik vor. So zum Beispiel an prominenter Stelle unter dem Banner des Schutzes des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wo die Rechtsprechung die Rechtsfolge der Geldentschädigung bei Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Verhältnis von Privatrechtssubjekten trotz des ausdrücklich entgegenstehenden, aber niederrangigen § 253 I BGB unmittelbar aus Artt. 2 I, 1 I GG herleitet.359 Bei Lichte besehen ist denn auch der wahre Hintergrund der Grundrechtewirkungsproblematik zum einen die Normkonkurrenz und zum anderen die Auslegung von grundrechtlichen Rechtsnormen als Ganzes. Die Normkonkurrenz von verfassungsrechtlichen Grundrechtsnormen ist ein genuin systematisches Thema unter dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung, und unter den Regeln des Regel- / Ausnahme-Verhältnisses von allgemeinen zu spezielleren Normen sowie von höherrangigen zu niederrangigen Normen. Dabei ist dann klar, dass einfache Gesetze und deren Anwendung nicht dem Grundgesetz widersprechen dürfen und dass bei Fehlen einer erschöpfenden einfachgesetzlichen Regelung diese durch eine Anwendung des Grundgesetzes ergänzt werden kann. Das gilt insbesondere für die Menschenwürde, für die in Art. 1 I 2 GG ausdrücklich statuiert ist, dass sie zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Die Richtigkeit des hier entwickelten prinzipiellen Regel-AusnahmeVerhältnisses der Menschenwürdenorm zu den ihr nachfolgenden Grundrechten bei ihrer juristischen Anwendung zeigt sich bei einer im Sinne dieser Arbeit auf Adäquation und Plausibilität hin zu befragenden logischen Einfügung in das Rechts- und Normenkonkurrenzsystem und dessen Kontrastierung mit der Gegenauffassung von der grundgesetzlichen Menschenwürde als einem unantastbaren, absoluten Recht mit subjektivem Abwehrcharakter. Ein als unantastbar und absolut einseitig gedachtes Menschenwürderecht müsste das allseitig anerkannte und angewendete Normkonkurrenzsystem und Stufenverhältnis mit einem jederzeit-allseitlich-absoluten 358  Zur – auch verfassungsrechtlichen – Einordnung des Privatrechts in die Gesamtrechtsordnung: Basten, Privatrecht in der polizeilichen Praxis, S. 25 ff. 359  St. Rspr. seit folgender Entwicklung: BGHZ 13, 334 (Leserbrief), mit erstmaliger ausdrücklicher Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; BGHZ 26, 349 (Herrenreiter), mit erstmaliger Zuerkennung einer Geldentschädigung wegen des immateriellen Schadens durch die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; BGHZ 35, 363 (Ginsengwurzel), mit erstmaliger Schwerpunktsetzung bei der Menschenwürde in der Begründung; BVerfGE 34, 269 (Soraya), mit verfassungsgerichtlicher Erklärung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der richterrechtlich entwickelten APR-Konstruktion.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Geltungsanspruch aushebeln.360 Denn bei Richtigkeit der Auffassung eines speziellen, absoluten und unwägbaren Würdegrundrechts oder bei Richtigkeit der nur ausnahmsweisen Anerkennung eines Schutzbereiches innerhalb eines Würdegrundrechts – würde es immer zu auf der Ebene des Art. 1 I GG zu entscheidenden Würde-Würde-Kollisionsfällen kommen. Damit würde die Rechtsordnung, wie sie allseitig verstanden und angewendet wird, sich selbst im Würdebegriff aufheben.361 Nun ist die vollständige Auslegung von Grundrechten in all ihren Wirkungsdimensionen eine Systemauslegung insofern und durch sie der Rechtskern ihrer Figur am besten erklärlich, als dass ein vollständiges Grundrechtsverständnis seine Grundlagen auch im staatstheoretischen Systemverständnis hat. Dieses hat richtigerweise von einem Staat auszugehen als einem arbeitsteiligen Zusammenschluss von Menschen, in dem diese ständig und wechselbezüglich durch Abwehrrechte begrenzt interagieren, und in welchem die kontrollierten Staatsorgane Schutz, Teilhabe und Mitwirkung gewährleisten. Diese systemische Konstruktion hat ihre gesetzlichen Grundlagen und eben gesetzlichen Grundrechte im höchstrangigen Gesetz, der Verfassung. Neben der umstrittenen Figur der objektiv-rechtlichen Herleitung kann man die sogenannte mittelbare Drittwirkung von Grundrechten auch als Element der subjektiv-rechtlichen Schutzdimension der Grundrechte begreifen.362 Subjektiv sollen Grundrechte Abwehr gegen den Staat gewährleisten, und Leistung, Teilhabe und Schutz durch den Staat sowie Mitwirkung im Staat.363 Alle Grundrechtsdimensionen haben wie alle Verfassungswerte und wie bereits bei der Menschenwürde gezeigt auch eine Prinzipienfunktion und können allgemein ohne Ansehen des konkreten Falles nur prinzipiell zueinander gedacht werden und nicht in einem absolut strikten, ausschließlich regelhaften Rangverhältnis stehen. Davon zu unterscheiden ist das Verhältnis von Rechten in einem als umfassend bekannt gedachten Fall, wo das Verhältnis der beteiligten Rechte sofort als strikt regelhaft geklärt anzusehen wäre. Das gilt wiederum auch für die in Art. 1 I 2 GG ausdrücklich angesprochenen Abwehr- sowie Leistungs- und Schutzfunktionen der Menschenwürde. Die Menschenwürde des Grundgesetzes schafft jedenfalls über Art. 1 I 2 GG durch die dort expressis verbis ver360  Enders,

Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 105, m. w. N. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 95. 362  So Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 198. 363  Diese Status (lat. für Zustände) des Einzelnen gegenüber dem Staat bereits 1892 und 1902 beschrieben in seiner Statuslehre von Jellinek, System der subjektivöffentlichen Rechte; Begriffe des status negativus (für Abwehrzustand), status positivus (für Leistungs-, Teilhabe- und Schutzzustand und status activus (für Mitwirkungszustand) übernommen von: Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Staatsrecht II – Grundrechte, § 4. 361  Vgl.



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck111

schafften Achtungs- und Schutzverpflichtungen und bei Nichtvorhandensein einer niederrangigen spezialgesetzlichen, würdeverwirklichenden Rechtsnorm fundamentales Recht für einzelne Fälle.364 Es bleibt aber jedenfalls als systematisches Ergebnis festzuhalten: Der Schutz des Prinzips der Menschenwürde wird durch die Gewährleistung der Grundrechte realisiert.365 Menschenwürde ist das absolute, unwägbare Recht auf Rechte und ihre Realisation schlechthin, Grund, Kriterium und Zweck des Rechts, aber nicht subjektives Abwehrrecht.366 Die grundgesetzliche Menschenwürde ist absolutes Prinzip des Rechts, das aber regelmäßig nicht regelhafte Anwendung finden soll, sondern als Auslegungsprinzip in den Grundrechten. Die Menschenwürdenorm des Grundgesetzes fungiert als Normanwendungsregel mit dem Auslegungsprinzip der Menschenwürde.367 Sie vereint die zuzuordnenden Rechtspositionen zur Rechtsordnung.368

D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck I. Ethische Muster im Recht Die für die Auslegung nach dem Sinn und Zweck gleichfalls verwendete Bezeichnung der Teleologie wurde im deutschen Sprachraum das erste Mal im 18. Jahrhundert verwendet, dort in lateinischer Sprache und in naturphilosophischem Zusammenhang, und zwar zur Bezeichnung desjenigen Teils der Naturphilosophie, der die Zwecke der Dinge erläutert.369 Die mit der Bezeichnung verbundene Vorstellung von transzendenten oder immanenten Zweckursachen ist freilich schon längerlebig. Die heutzutage angewendete teleologische Auslegung fragt danach, welchen Sinn und Zweck – auch im 364  Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 39, wonach zwischen Grundrechtsnorm und Grundrecht unterschieden werden und nicht aus jeder Grundrechtsnorm ein Grundrecht folgen müsse, jedoch ders., ebenda, S. 289, eine Vermutung für die subjektive Dimension von Grundrechtsnormen hegt. Für die hier zu entscheidenden Fallkonstellationen polizeilicher Praxis als Staatspraxis genügt das Ergebnis, dass das Grundgesetz jedenfalls als Grundgesetznorm eine Pflicht auch der Exekutive statuiert, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. An dieser Stelle bedarf es keiner Entscheidung, ob daraus etwa ein Grundrecht, ein sonstiges Recht oder ein Rechtsreflex zugunsten des Würdeträgers resultiert. 365  Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 148  f., 172; Gröschner, Menschenwürde als Sepulkralkultur, S. 46; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 499. 366  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 503. 367  Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 126. 368  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 136 f. 369  Nämlich als „Teleologia“ bei: Wolff, Philosophia rationalis, S. 38, § 85.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

weitesten Sinne unter idealen Gerechtigkeitsgesichtspunkten – eine Norm in einer bestimmten Situation am besten erfüllen kann und soll. In die teleologische Auslegung mischen sich zwei Fragen nach dem Doppelgrund des Seins eines Rechtstextes, nämlich die Frage nach dem Warum und die Frage nach dem Wozu, vereint in der Frage nach der Zweckursache. Mit dem teleologischen Auslegungsansatz wird danach gefragt, ob ein bestimmtes Auslegungsergebnis sich noch innerhalb der gesetzgeberischen Vorstellung des Souveräns als gerechte Lösung des realen Falles bewegt, mithin noch ihrem „Wesen“ nach „Sinn“ ergibt. Im Rahmen der Auslegungskategorien ist für den Abschluss der rechtsdogmatischen Betrachtung noch die finale Frage zu stellen, welchen Inhalt die grundgesetzliche Würde ihrem Wesen und Sinn nach haben kann, und welchem Zweck sie dienen soll. Das kann durch ein hypothetisches Vordenken von aufgrund der Normanwendung eintretenden Realereignissen oder durch Beobachtung und Auswertung von tatsächlich schon eingetretenen Wirkungen aufgrund bestimmter Normauslegung und -anwendung geschehen. Mit dieser Art der teleologischen Auslegung als Folgenabschätzung oder Einbeziehung realer Folgen in den Vergleich mit Vorstellungen von Rechtssetzern und Rechtsanwendern halten wissenschaftliche Charakteristika von Hypothesen und Empirie, Erklärungen und Voraussagen und interdisziplinäres Wissen, insbesondere das Ethische, Einzug in die Jurisprudenz.370 Abzulehnen ist eine Auffassung, welche die Teleologie nicht als Auslegungsmittel, sondern als Auslegungsziel begreift.371 Auslegungsziel ist nämlich nicht die Ermittlung des Normzwecks, sondern die Ermittlung einer rechtlichen Aussage. Für die endgültige Erlangung der Aussage über ein generelles, den Fallkonstellationen polizeilicher Praxis zu Grunde zu legendes Verständnis der grundgesetzlichen Menschenwürde und ihre abschließende Verarbeitung in die Fallkonstellationen der polizeilichen Praxis sollen also an der Stelle des ganz im Sinne dieser Arbeit interdisziplinärsten Auslegungsansatzes die ethischen Erkenntnisse und rechtlichen Überlegungen zusammengeführt werden. Durch die so verstandene und ja auch teleologisch heißende Auslegung ist ein metaethischer Einfluss für das Recht vorgegeben: eben der der Teleologie372 als eine Klasse von ethischen Denkmustern. Diese Denkmuster 370  Vgl. 371  So

Lübbe-Wolff, Expropriation der Jurisprudenz?, S. 284 f., 287, 289 f. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre,

Rn.  726 f. 372  Vom (Alt-)Griechischen τέλος – télos: Zweck, Ziel, Ende, und λόγος – lógos: Lehre, letzteres wiederum in Verbindung mit dem griechischen „legein“, „sammeln, lesen, zählen“, und noch viel weiterem Bedeutungsspektrum, dass allerdings auch die hier und vielfach andernorts verwendete Lesart abdeckt, vgl. zu télos: Horn/



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck113

kaprizieren sich bei der moralischen Bewertung von Handlungen schwerpunktmäßig darauf, welche äußerlichen Konsequenzen die Handlungen haben und ob diese Konsequenzen mindestens ein erstrebenswertes Gut repräsentieren bzw. realisieren. Deshalb wird die Klasse der teleologischen Theorien auch Konsequentialismus genannt wird. Des Weiteren werden ethische Theorien nach dem gängigsten Klassifikationsmodell einmal mehr der Tugendethik oder aretaischen373 Ethik, einmal mehr der Deontologie374 oder Pflichtethik zugewiesen. Trotz des Vorhandenseins aller ethischen Muster im Recht kann der Auslegungsansatz teleologisch deshalb heißen, weil es sich um eine Bewertung der realen Ausgangssituationen und der Folgen der Anwendung von Rechtsregeln sowie um einen wertenden Vergleich von Ausgangssituation und Folgen mit dem Zweck des angewendeten Rechts handelt, und es zuletzt darum geht, was dem ethischen Wesen des Rechts gemäß ist. Im teleologischen Auslegungsansatz können sich Ethik und Recht noch einmal interdisziplinär entscheidend verbinden. In dieser Arbeit werden im Folgenden überwiegend die Namen Tugend­ ethik und Pflichtethik und Konsequenzethik verwendet, weil sie mit diesen Titeln den jeweils wesentlichen Gegenstand ihres Hauptaugenmerks bezeichnen. Die Tugendethik bewertet Verhalten maßgeblich nach der inneren Motivation, die Pflichtethik maßgeblich nach der Tauglichkeit eines Verhaltens, eine bestimmte, moralisch gute Regel zu erfüllen. Die Konsequenzethik beurteilt ein Verhalten schwerpunktmäßig nach den durch das Verhalten verursachten äußeren Folgen. Der Utilitarismus ist verbreitetste Variante der Konsequenzethik. Er zielt auf die Maximierung des Gesamtnutzens, einmal durch einen Akt-Utilitarismus, der das moralische Urteil über ein Verhalten danach fällt, ob es „selbst als einzelner Akt einen maximalen Gesamtnutzen erzielt“, zum anderen durch einen Regel-Utilitarismus, der das moralische Urteil über ein Verhalten danach fällt, ob eine „Regel bei allgemeiner Befolgung einen maximalen Gesamtnutzen erzielen würde“.375 Innerhalb der ethischen Denkmuster gibt es zwei weitere, verschiedene und Rapp, Wörterbuch der antiken Philosophie, S. 427–429; und vgl. zu lógos: Horn/ Rapp/Opsomer, Wörterbuch der antiken Philosophie, S. 254–261. 373  Vom (Alt-)Griechischen ἀρετή – aretḗ: Vortrefflichkeit (einer Sache), Tüchtigkeit (einer Person), heutzutage im Deutschen sinnhaft übersetzt als Tugend; vgl. Ziegler/Sontheimer/Dörrie, Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike, Erster Band, S.  530 f., m. w. N.; Prechtl/Burkard, Metzler Lexikon Philosophie, S. 42 f. 374  Zusammensetzung aus dem griechischen δέον  – déon: das Erforderliche, das Nötige, die Pflicht, und dem griechischen „lógos“, „Lehre“, zu déon vgl. Gessmann/ Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, S. 156; zu lógos vgl. Anm. zu lógos in Fn. 372; das hier in Bezug genommene tò déon ist nicht zu verwechseln mit der deontischen Logik, vgl. zu letzterer: Kutschera, Logik der Normen, Werte und Entscheidungen. 375  Beide Zitate im Satz aus: Hübner, Philosophische Ethik, S. 215.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

unterschiedliche Begründungsansätze für ethisch-moralische Bewertungen, die je nach Anhängerschaft unterschiedliche Auswirkungen auf jede rechtlich-ethische Entscheidung haben können. Es sind dies die Begründungsansätze einerseits der Akteur-Relativität und andererseits der Akteur-Neutralität. Jene werden meist mit der Pflichtethik, diese mit der Konsequenzethik verbunden.376 Die akteur-relativen Begründungen setzen in ihrem ethischmoralischen Urteil bei den einzelnen, konkret betroffenen Personen des zu entscheidenden Falles an; die akteur-neutralen Begründungen beziehen sich in ihrem ethisch-moralischen Urteil auf alle Menschen in ihrer Gesamtheit. Die damit einhergehende Distinktion der Fallentscheidung verdeutlicht sich an der zugespitzten Frage, die in einem klassischen Beispiel konkret formuliert etwa lautet, ob es moralisch gut ist, einen Unschuldigen zu töten, wenn man nur dadurch mehr Menschen vor dem sicheren Tod bewahren kann; und die abstrakt lautet, ob man in bestehende Rechte eines Anderen eingreifen kann, um die Rechtsverletzung von mehreren Anderen abzuwehren.377 Nach den akteur-relativen Ansätzen ist der einzelne Betroffene im Blick zu behalten und nicht für etwas anderes zu opfern. Nach akteur-neutralen Perspektiven können Belange einer Gesamtheit nicht grenzenlos für einen Einzelnen geopfert werden. Es ist hier keine Frage, dass man von beiden Ansätzen mit in bereits lange und intensiv geführten Disputationen verwendeten, intuitiv plausibel erscheinenden Argumenten zumindest prinzipiell zuerst oder letztlich ausgehen könnte. Die Frage in dieser Arbeit ist nur, was die ethischen Denkmuster für die Menschenwürde im Recht bedeuten – oder anders gewendet: was die Menschenwürde des Grundgesetzes für die Verwendung ethischer Denkmuster bedeutet. Diese Schwerpunktcharakterisierungen der ethischen Denkmuster nach Tugendethik, Pflichtethik, Konsequenzethik sowie nach Akteur-Relativität und Akteur-Neutralität sind der kleinste gemeinsame Nenner, unter denen man die zahlreichen Variationen von Ethiken firmieren lassen kann. Die wesentlichen Charakterbeschreibungen der ethischen Denkmuster reichen hier aus, weil es in dieser Arbeit nicht um eine Auseinandersetzung mit sämtlichen Detailmeinungen innerhalb der ethischen Denkmuster geht, sondern im Folgenden um deren Fruchtbarmachung für das Sezieren der Struktur des Rechts und das Reflektieren rechtlicher Erkenntnis, mithin für einen klareren, distinguierten Blick bei der Fallbearbeitung und -entscheidung. 376  So erscheint es auch nicht als Zufall, dass die Charakterisierung der AkteurRelativität ausging von: Nozick, Anarchy, State and Utopia, S. 26–53: „Moral Constraints and the State“, der damit 1974 mit einer libertären Antwort aufwartete auf den 1971 erschienenen Konsequentialismus in der Variante des Utilitarismus bei: Rawls, A Theory of Justice. 377  Sinngemäß gleiches Beispiel bei: Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 257.



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck115

Auch den Rechtswissenschaften sind alle drei Maßstäbe von aretaischen, deontologischen und konsequentialistischen Ethikmodellen zur Beurteilung von Situationen und Verhalten vertraut. Die zur Verfügung stehenden ethischen Entscheidungsmuster zur Schaffung und Ausgestaltung von Recht, also etwa für die gesetzgeberischen und exekutiven Maßnahmen, dürfen nicht mit der ethischen Struktur des Rechts selbst verwechselt werden, so wie Rechte und Güter, Interessen und Rechtsgüter nicht verwechselt werden dürfen. Beides passiert immer wieder, wenn einerseits Juristen vorgeworfen wird, dass sie ihre Entscheidungen an Art und Ausmaß der Betroffenheit von Gütern ausrichten, obwohl doch das Recht eine deontologische „Tiefenstruktur“ aufweise.378 Und es passiert, wenn andererseits von Juristen die Begrifflichkeiten von Gütern, Interessen, Rechten, Rechtsgütern manches Mal dem Anschein nach wahllos durcheinander verwendet werden, insbesondere wenn die juristische Abwägung beschrieben wird. Richtigerweise wird in dieser Arbeit folgendes Begriffsverständnis zugrunde gelegt: Einzelne subjektive Rechte sind Ansprüche, Berechtigungen des Einzelnen. (Rechts-)Güter sind objektiv erreichbare Realzustände. Interessen sind die subjektiven Begehren nach Gütern. Rechtsverwirklichung dient der Erlangung von Gütern, an denen Interesse besteht, – nicht andersherum. Richtigerweise kann Abwägung nur den Erkenntnisprozess in Bezug auf die Zuordnung von erkanntermaßen aufeinandertreffenden Rechten und die vergleichende Bewertung der durch die jeweilige Rechtsverwirklichung auftretenden Realzustände, also aller Konsequenzen, oder noch allgemeiner aller Umstände des Falles bezeichnen. Insofern ist die juristische Entscheidungsfindung bei der Erkenntnis der Entscheidungsgrundlagen konsequentialistisch ausgelegt. Doch ist das Erkenntnismedium der Jurisprudenz, das Recht selbst, notwendig von regelhafter, deontologischer Natur. Denn auch richtig ist, dass ein einzelnes Recht – zumindest nach erkannter Setzung – unabwägbar besteht und auf Verwirklichung angelegt ist, nicht erst durch Abwägung mit anderen „Rechten, Rechtsgütern und Interessen“ in verhältnismäßiger Art und angemessenem Ausmaß hergestellt, verkleinert oder vergrößert werden muss, geschwächt oder gestärkt werden kann, andernfalls wäre es kein Recht und gäbe es überhaupt gar keine durch die Legislative gesetzte Berechtigung für den Einzelnen im Staate. Das hieße dann in Umkehrung des Regel-Ausnahmeverhältnisses, die jeweils bestehenden Freiheitssphären des jeweiligen Rechtssubjektes von vornherein zu negieren und äußerlich freiheitliche Verhaltensweisen des Individuums lediglich durch gnädige Beurteilung der Anwender gesetzten Rechts zu gestatten. Je unbestimmter die Rechtssphären, desto weniger rechtsstaatlich das objektive Recht, denn ein fundamentales Prinzip von Rechtsstaatlichkeit ist die 378  So:

Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 49.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

Vorhersehbarkeit von Verhaltenskonsequenzen aufgrund hinreichend bestimmter Regeln. Deshalb kann ein Recht entweder nur bestehen oder nicht bestehen, aber nicht ein bestehendes Recht durch ein anderes an seiner Ausübung gehindert werden, weil ein Abwägungsvorgang ergäbe, dass es hinter einem anderen Recht zurückzustehen habe.379 Die durch Normkonkurrenzregeln geprägte Normenhierachie der Rechtsordnung ist auch kein funktionales Äquivalent eines Abwägungsvorganges, sondern eher methodische Regel zur Frage, mit welchen Normen welche bestehenden Rechte zu realisieren sind. Als relevante Beispiele für die Fälle der polizeilichen Praxis mögen das weltweit anerkannteste Kapitaldelikt gegen den Menschen, eines der weltweit anerkanntesten vornehmsten Rechte und die erste Verfassungsnorm dienen: Mord bleibt Mord, Notwehr bleibt Notwehr, Würde bleibt Würde. Notwehr ist bereits das die Freiheitssphäre sichernde Recht und – entgegen ihrer Relevanz im dreigliedrigen strafrechtlichen Prüfungsaufbau erst auf der zweiten Stufe der Rechtswidrigkeit eines zuvor auf der ersten Stufe als tatbestandsmäßig erkannten Verhaltens – zu keiner logischen Sekunde ein Eingriff in ein anderes Recht; der Angreifer ist nicht zugleich Opfer, das Opfer ist nicht auch noch Angreifer, sowenig wie dementsprechend der Würdeverletzer bei einer Zurückverweisung in seine Schranken Würdeverletzter sein kann.380 Heuristische Erkenntnisprogramme der Juristen wie das verfassungsrechtliche Modell praktischer Konkordanz381 oder das strafrechtliche Modell des dreigliedrigen Prüfungsaufbaus können das Missverständnis einer Vermischung der Freiheitssphären suggerieren, wohingegen rechts­ tatsächlich die Freiheit des einen nur bis zur Freiheitssphäre des anderen reichen kann.382 Der als Abwägung bezeichnete Vorgang kann richtigerweise nur ein Vorgang der Erkenntnis über bestehende Entitäten des Rechts, also einzelner Rechte sowie der durch das objektive Recht geregelten Interessen und Güter der Außenwelt sein. Damit stimmt zwar, dass das bestehende Recht an sich deontologischen Charakter hat. Doch ist der Vorwurf eines der deontologischen Regelstruktur des Rechts an sich angeblich entgegenstehenden juristischen Dezisionismus oder juristisch einseitig betriebenen ethischen Konsequentialismus an den Juristen verfehlt, denn es ist geradezu die Aufgabe der analytisch-empirisch-praktischen Rechtswissenschaft und des Juristen, die Auswirkungen der Setzung und Anwendung des Rechts 379  Rothhaar,

Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 48. Ausnahmsloses Verbot der Folter?, S. 93. 381  Grundlegend: Hubmann, AcP 155 (1956), S. 126; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. 382  Der richtige Gedanke einer falschen Suggestion heuristischer Rechtsmodelle auf den substantiellen Erkenntnisgegenstand bei: Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 52 f., 79. 380  Wolbert,



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck117

auf die Realität, auf Güter und Interessen für jeden Fall neu zu bedenken und zu berücksichtigen. Sogar sind der Jurisprudenz aretaische Aspekte der Tugendethik nicht fremd, wenn sie gesetzlich erklärt auf Absicht, Wille und Vorstellung383, Beweggründe und Gesinnung384 achtet.385 So wie die Entscheidungsgegenstände heuristisch cum grano salis durch Zuordnung, Abwägung, Verteilung erkannt werden müssen, sind sie gleichwohl als substantiell schon entschieden konzipiert. Mit der in dieser Arbeit bereits erbrachten Ermittlung der historisch-verfassungsgesetzgeberischen Erklärung, dass der Staat um des Menschen willen da sein soll, und nicht der Mensch um des Staates willen, und der grammatikalischen Auslegung, dass mit dem in Art. 1 I 1 GG genannten Menschen zumindest auch jeder einzelne Mensch gemeint sein muss, ist das ethische Paradigma des Art. 1 I 1 GG und damit die teleologische Funktion des Menschenwürdeartikels vorgezeichnet. Er ist nicht nur wie bereits in der systematischen Auslegung erwiesen das Axiom der Grundrechte und insofern Auslegungsgewicht für diese, sondern auch das Prinzip der deontologischen Struktur des Rechts und des akteur-relativen Ansatzes für die einzelnen Rechte. Denn laut dem sowohl aus der Ideengeschichte als auch aus der bisherigen Auslegung gewonnenen Gehalt des Menschenwürdebegriffs kann kein einziger Mensch in seinem Eigenwert missachtet werden. Zusammen mit der axiomatischen, prinzipiellen Stellung der Menschenwürdenorm bildet sie die deontologische, akteur-relative Erst- und Letztbegründung für rechtliche Fallentscheidungen. Daraus folgt im Ergebnis zunächst 383  Vgl.

§ 15, 22 StGB. § 46 StGB. 385  Dabei können natürlich auch juristische Fehlleistungen der Rechtserkenntnis produziert werden, wie in dem besonders stark – wenn auch ironischerweise aus heftigen intuitiven Zweckerwägungen heraus – von aretaischen Aspekten bestimmten Urteil des Reichsgerichts im sog. Badewannenfall in: RGSt 74, 84. In diesem Fall hatte eine Frau das Neugeborene ihrer Schwester vorsätzlich ohne Willens- oder Schuldmängel ertränkt. Das Reichsgericht hob die Verurteilung der unmittelbar Handelnden durch das LG wegen Mordes auf und legte im Rahmen der Zurückverweisung eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord oder Totschlag nahe, mit der Begründung, dass die Handelnde nicht als Täterin im Sinne des StGB angesehen werden könne, da sie nicht aus Eigeninteresse und mit Täterwillen (animus auctoris), sondern aus Mitgefühl und Beihilfewillen (animus socii) gegenüber ihrer Schwester handelte, weil ja laut Feststellung des LG bei der Schwester „das größere Interesse an der Beseitigung des Kindes vorhanden gewesen sei, da ja die Vorwürfe ihres Vaters und die öffentliche Mißachtung als uneheliche Mutter gerade sie hätten treffen müssen“. Paradigmengeschichtlich ist interessant, dass dieses einzelfallmotivierte Urteil nach zwischenzeitlicher Aufgabe der subjektiven Tätertheorie durch den BGH und Wiedereinführung im Stachinskij-Fall BGHSt 18, 87 (mit der Wendung „Täter ist, wer die Tat als eigene will“) bis heute in Definitionen und Theorien zur strafrechtlichen Täter- und Teilnahmelehre als mitbestimmendes Definiens fungiert. 384  Vgl.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

einmal nicht mehr und nicht weniger, als dass die Rechte eines einzelnen in keinem Fall missachtet werden dürfen, auch wenn mit dieser Missachtung ein höherer Gesamtnutzen für alle Menschen als ohne eine Missachtung erzielt werden könnte. Das ist die grundsätzliche, ethisch-paradigmatische Teleologie des Art. 1 I GG. II. Einzelne konkrete Hauptansätze zur Bestimmung der Menschenwürde Der für die Auslegung nach der Zweckursache einer Rechtsnorm verwendete Titel der Teleologie trifft im Fall der Menschenwürde auch für die weitere Auslegung angesichts mannigfaltiger Definitionsversuche. Denn diese werden insonderheit in Anlehnung an Zweckgedanken versucht: So existiert als populärster Versuch einer Definition der Menschenwürde die sog. Objektformel eben in Anlehnung an die Zweckformel des Kategorischen Imperativs. Nach klassischer und als allgemeiner Ansatz rechtspraktisch herrschend angewandter386, sogenannter Objektformel387 liegt ein Eingriff in die Menschenwürde vor bei prinzipieller, genereller Infragestellung der Subjektqualität, bei einer Behandlung als Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen schon kraft seines Menschseins zukommt.388 Die Objektformel erinnert an das Instrumentalisierungsverbot Immanuel Kants, der vor aller konkreten Erfahrung mit einem einzelnen Menschen davon ausging, dass das Menschsein selbst einen Wert hat, und dass der Mensch von einem Menschen nicht bloß als Mittel benutzt werden darf, sondern jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden muss und darin seine Würde besteht.389 Von der Objektformel ist Verhalten realistischerweise nur dann erfasst, wenn es den Menschen ausschließlich nur als Mittel ansieht und gebraucht.390 Andernfalls würde jedes einen anderen Menschen in seiner sozialen Rolle benutzendes Alltagsverhalten einen Würdeverstoß bedeuten391. Denn der Mensch wird je386  BVerfGE 9, 89, 95; 27, 1, 6; 28, 386, 391; 45, 187, 228; 50, 166, 175; 50, 205, 215; 57, 250, 275; 72, 105, 116; 87, 209, 228; 109, 133, 149 f.; 115, 118, 153; 117, 71, 89. 387  Wintrich, BayVBl. 3, S. 137  ff.; Dürig, AöR (81) 1956, 117, 127; Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar (1958), Art. 1 I, Rn. 28. 388  Vgl. BVerfGE 30, 1, 26 (Abhörurteil); BVerfGE 109, 279, 312 f. (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 389  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten – Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 38; dass der Mensch „immer Zweck an sich selbst bleiben“ müsse, wurde übernommen etwa von: BVerfGE 45, 187, 228 (Lebenslange Freiheitsstrafe). 390  Neumann, Menschenwürde als Menschenbürde, S. 47. 391  Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118, S. 360.



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck119

den Tag für bestimmte Zwecke benutzt392 und ist immer auch Objekt der Verhältnisse. Andererseits fielen bei wörtlicher Anwendung der Objektformel trotz ihrer Weite ohne artifiziell überbrückende Konstruktionen selbst extreme Menschenrechtsverletzungen aus dem Anwendungsbereich eines als Grundrecht verstandenen Art. 1 GG, wie etwa solche um der Schädigung selbst willen oder aus reiner Lust an ihr393 ohne weitere Mittel-Zweckgedanken, und der radikale Völkermord ohne erkennbar weiteren Zweck als den Selbstzweck, Völkerscharen zu morden.394 Die Einsicht, dass die Objektformel eben keine Leistung in der Art einer mathematischen Formel zur schematischen Lösung von menschenwürderelevanten Fällen erbringt, zwingt den mit ihr zwecks Herleitung spezieller grundrechtlicher Rechtsfolgen aus Art. 1 GG operierenden Rechtsanwender dann doch wieder zu menschenbildabhängigen Wertungen zur Beurteilung einzelner Fälle. Damit aber kommt es – leider meist unbemerkt – faktisch zu einer völligen Defunktionalisierung der Menschenwürdenorm, weil in Wirklichkeit die Entscheidung zu keinem Anteil mehr aus ihr gewonnen wird, sondern aus außerhalb von Art. 1 GG liegenden Bewertungsmaßstäben, seien sie nun ethischer oder rechtlicher Provenienz.395 Paradoxerweise wird der Menschenwürdesatz zur Entscheidungslegitimierung rhetorisch instrumentalisiert; die Inhalte hingegen werden aus anderen Rechtsnormen oder ethischen Grundsätzen gewonnen396, und man muss davon ausgehen, 392  Vgl. nur das profane Beispiel der Benutzung des Taxifahrers durch den Fahrgast, damit dieser von A nach B gelange, bei: Hoerster, JuS 1983, S. 93; BVerfG, Urteil vom 03.  März 2004  – 1 BvR 2378/98, Rz.  117 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“): „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen hat.“ 393  Birnbacher, Annäherungen an das Instrumentalisierungsverbot, S. 17. 394  Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, S. 141 ff. 395  In diesen Zusammenhang fällt konkret gegen Begriff und Tabu der Menschenwürde die Kritik von: Amelung, JR 2012, S. 19, dass der Menschenwürdebegriff mit gewissem Vorstellungsinhalt tautologische Elemente habe, als Passepartout herhalte für subjektive Wertungen aller Art, und dem bisherigen Konzept der Menschenwürde jeglicher horizontale Bezug fehle, denn es treffe keine Aussage zu der Beziehung eines „würdigen“ Menschen zu einem gleichgearteten Wesen, und die sog. Objektformel würde, ernst genommen, schon die (Wieder-)Einführung einer Wehrpflicht kaum überstehen. 396  Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, S. 18, wonach mit der Objektformel etwa in Fällen, in denen ein Dritter durch einfache Gewalt gezwungen wird, Eigentum zur Rettung eines Menschenlebens einzusetzen, die Verletzung der Menschenwürde nunmehr nicht mehr gleichbedeutend mit der Instrumentalisierung eines Menschen gedacht werden kann, sondern mit der ethisch illegitimen Instrumentalisierung, weil wohl nicht jede Instrumentalisierung illegitim ist. „Das aber hat zur Folge: Das Menschenwürdeprinzip bietet für sich genommen gar keinen Maßstab

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

dass dann wegen mangelnder Bestimmtheit eines Tatbestandes Menschenwürde durch diese mit einem Rechtsstaat unverträgliche, aus anderen Gründen als der Zweckformel nachträglich wertende Entscheidungspraxis die Entscheidungstätigkeit der Gerichte selbst strukturiert, aber nicht das normative Strukturproblem des Art. 1 GG gelöst wird397. Das alles ist für einen Rechtsstaat kontraproduktiv. Der Rechtsstaat zeichnet sich nämlich u. a. durch eine aus hinreichender Bestimmbarkeit seiner Normsetzungen resultierende Vorhersehbarkeit von Verhaltenskonsequenzen aus. Das aus Art. 20 III GG sehr vermittelt über Rechtsstaatsprinzip, Gesetzmäßigkeitsprinzip und Vorbehalt des Gesetzes abgeleitete, sog. Bestimmtheitsgebot konkretisiert den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes dahingehend, dass der Gesetzgeber alles Wesentliche nicht nur selbst oder auf ihn selbst rückführbar, sondern dies auch bestimmt genug regeln muss. Das sog. Bestimmtheitsgebot besagt, dass der Gesetzgeber Anlass, Gegenstand, Inhalt, Zweck und Ausmaß von Eingriffen hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzuschreiben hat398. Es soll sicherstellen, dass der demokratisch legitimierte Parlamentsgesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtseingriffe und deren Reichweite selbst ausdrücklich in Gesetzestexten trifft, dass der Bürger sich bei Bestimmtheit und Klarheit der Gesetzesnormen auf staatliches Verhalten einstellen kann, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können.399 Das Fazit über die Auffassung der Objektformel als Formel für ein spezielles Recht aus einer Art Grundrechtstatbestand des Art. 1 GG kann für Fallentscheidungen nur in der Art einer Auflösung ihrer Begrifflichkeit ausfallen: Die Objektformel ist weder objektiv, noch ist sie Formel. Demgegenüber kann sie mit prinzipieller Lesart noch für einen begrifflichen Ansatz zur prinzipienhaften Auslegung des Art. 1 GG durchaus taugen und bleibt insofern für den weiteren Gang der Untersuchung als relevant aufmehr für legitimes Verhalten, sondern setzt für seine Anwendung ein normatives Werturteil darüber, was legitim ist, voraus.“; Herzberg, JZ 2005, S. 323, zeigt, dass die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Wahrheit selbst einfachgesetzliche Kriterien wie im Fall der Sicherungsverwahrungsentscheidung den § 67 III StGB heranzieht, um im Ergebnis eine Menschenwürdeverletzung wertend abzulehnen, und er schließt, a. a. O., S. 324: „Ein demütigender Eingriff verletzt die Menschenwürde, wenn das Recht ihn nicht legitimiert oder ihn zwar legitimiert, aber die Gestattung unverhältnismäßig ist.“ 397  Krawietz, Gewährt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Würde?, S. 285. 398  Frühe Rechtsprechung bei: BVerfGE 8, 274, 325 (Preisgesetz). 399  BVerfGE 120, 378, 407 (Automatisierte Kennzeichenerfassung).



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck121

rechterhalten. Denn positiv gewendet erweist sich die Objektformel ja als negative Verbotsvariante des Gebots, die Subjektqualität des Menschen im Rechtsverkehr zu achten und zu schützen. Um ein kontraintuitives Bild der Rechtsrelevanz alltäglicher Würdeverstöße zu vermeiden und um gleichzeitig keine Würdeverletzungen durch eine Objektformel auszuschließen, werden als weiterer Versuch zur Bestimmung der Menschenwürde Verletzungsvorgänge beispielhaft genannt, die nach dem Zweck des Würdeartikels immer einschlägig sein sollen. Die Herleitung einer Menschenwürdeverletzung vom Verletzungsvorgang her400 wurde vorgeschlagen aus der Vermutung heraus, dass Menschenwürde sich gar nicht abstrakt bestimmen lasse, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles.401 Es werden ohne nähere positive Definition beispielhaft genannt: Brandmarkung, Diffamierung, Diskriminierung, Entrechtung, Erniedrigung, Folter, Genozid, grausame Behandlung, grausame Bestrafung und Ächtung, Misshandlung, Sippenhaft, Verfolgung, Vertreibung, Versklavung, Zwangssterilisierung.402 Diese nicht fest definierten Begrifflichkeiten beispielhafter Verletzungsvorgänge bieten geradezu das Gegenbild von Instrumentalisierungen, erscheinen sie doch eher als Modalitäten eines Ausschlusses aus der Rechtsgemeinschaft, die von der Nichtanerkennung einer gleichwertigen Rechtsträgereigenschaft, also der Rechtssubjektivität des von den Maßnahmen Betroffenen zeugt. Insoweit haben diese Verletzungsvorgänge gar nicht mehr eine Instrumentalisierung eines Rechtssubjektes innerhalb einer Rechtsordnung zum Thema. Anders als an sich neutrale oder legitime Instrumentalisierungen haben die Begrifflichkeiten der Verletzungsvorgänge allesamt hochgradig illegitime Konnotationen. Wann diese wiederum positiv vorliegen, und ob darüber hinaus bei Vorliegen jedes einzelnen Beispiels immer eine Würdeverletzung vorliegt, ist nicht geklärt.403 So werden beispielsweise die Begrifflichkeiten „Diffamierung“ und „Diskriminierung“ in anderen verfassungs- und privatrechtlichen Kontexten ohne Erwähnung der Menschenwürde verwendet, die Diffamierung im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit, um Formalbeleidigungen von Werturteilen abzugrenzen404, und die Diskriminierung auch sogar als „positive“, um den Ausgleich von in der Vergangenheit angeblich erlittenen Nachteilen zu rechtfertigen405. Dass allerdings alle genannten Verlet400  Wendung 401  Badura,

teil).

402  Schütze,

seit: Maunz/Dürig, Grundgesetz (1958), Art. 1 Rn. 28. JZ 1964, S. 337; übernommen von BVerfGE 30, 1, 25 f. (Abhörur-

Embryonale Humanstammzellen, S. 224. ernüchternde Bilanz bei: Dederer, JöR 2009, S. 106. 404  Ständige Rechtsprechung, vgl. nur: BVerfG, Beschluss vom 28. Juli 2014 – 1  BvR 482/13, m. w. N. 405  Vgl. Art. 3 GG und § 5 AGG. 403  Deshalb

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

zungsvorgänge, die mit allgemeiner intuitiver Zustimmung eine Antastung der Menschenwürde beschreiben, eher als Modalitäten eines Ausschlusses aus der Rechtsgemeinschaft erscheinen, die von der Nichtanerkennung einer gleichwertigen Rechtsträgereigenschaft des von den Maßnahmen Betroffenen zeugt, ist zusammen mit der Positivierung der rechtspraktisch und ideengeschichtlich in Rekonstruktion Kants herrschenden Objektformel ein weiteres Anzeichen dafür, dass der Menschenwürdeartikel des Grundgesetzes auf prinzipielle Achtung und Schutz der Rechtssubjektivität jedes Menschen geht. Das deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie sagt, dass der Menschenwürdeartikel jede Behandlung des Menschen „schlechthin“ verbiete, die seine „Subjektqualität“, seinen „Status als Rechtssubjekt“, „grundsätzlich“ in Frage stellt,406 indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines „Personseins“ zukommt.407 Dem Sinn nach wird die Menschenwürde des Grundgesetzes insbesondere definiert in den sogenannten Ensembletheorien408, die den Oberbegriff der Menschenwürde in enumerativ aufgezählten Menschenrechten verwirklicht sehen. Dabei kehren immer wieder die gleichen Motive von Minima an Freiheit, Gleichheit, geistig-seelisch-körperlicher Integrität und materiellen Lebensbedingungen wieder.409 Diese Minima sollen die Mindestbedingungen für die wechselseitige Anerkennung der Individuen in einer staatlich verfassten Rechtsgemeinschaft sein. Dem Zweck nach ist dieses Ergebnis eines Gehalts ethischen Minimums im Recht identisch mit dem in dieser Arbeit herausgearbeiteten Verhältnis von Ethik und Recht nach heutigem rechtsstaat­ lichen Standard mit den intuitiv einleuchtenden Würdeverletzungsmodi von Ausschlüssen aus der Rechtsgemeinschaft. Das Ergebnis von menschenwürderelevanten Minima in den Grund- und Menschenrechten als Voraussetzung wechselseitiger Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte ist des Weiteren vereinbar mit dem Gehalt der auch vom Bundesverfassungsgericht vertretenen, positiv gewendeten Objektformel. Denn diese besagt ja, dass die Subjektqualität, der Status als Rechtssubjekt und die Achtung des Werts des Menschen kraft dessen Personseins das Gebot des Art. 1 GG ist. 406  BVerfGE 30, 1, 26 (Abhörurteil); BVerfGE 87, 209, 228 (Tanz der Teufel); BVerfGE 96, 375, 399 (Kind als Schaden); BVerfGE 115115, 118, 153 (Luftsicherheitsgesetz). 407  BVerfGE 30, 1, 26 (Abhörurteil); BVerfGE 109, 279, 312 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 408  Zur Ensembletheorie: Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, S. 1653 ff. 409  Aufzählung schon bei: Podlech, Art. 1 Abs. 1, Rn. 1–82; Aufzählungen auch bei: Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik Band 7 1999, S. 148–153; und Aufzählung bei: Birnbacher, Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?, S. 255 f.



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck123

Die Frage, welchen juridisch positiven, eigenständigen Sinn dann der Menschenwürdeartikel des Grundgesetzes speziell über die gesondert genannten Grundrechte hinaus zu erfüllen vermag, versuchen die Theorien pointierter zu beantworten, welche die Menschenwürde als spezielles Recht auf Nichtdemütigung410 ansehen, oder als spezielles Recht auf Schaffung aller notwendigen Bedingungen und Gewährung aller notwendigen Güter für ein menschenwürdiges Leben.411 Soweit man damit den Art. 1 GG entsprechend der schon gewonnenen, systematischen Auslegungsergebnisse dieser Arbeit nicht immer zu einem subjektiven Abwehrrecht auflädt, müssen alle diese Erläuterungsversuche quasi vom speziellen Verletzungsvorgang der Demütigung nicht isoliert im Ausschließlichkeitsverhältnis zur prinzipiellen Funktion des Menschenwürdeartikels als Rechtssubjektivitätsgewährleistung gedacht werden. Damit kann die Versagung sprichwörtlich menschenwürdiger Umstände, die in den Grundrechten juristisch-materiell fassbar werden, in einen menschenwürdewidrig demütigenden Zustand führen. Überhaupt kann ein Ansatz, der – bei aller berechtigten, auch zwangsweisen – Behandlung eines einzelnen Menschen die Nichtdemütigung gleichsam als letztes deontologisches Gebot unwägbar gelten lässt, hohe Plausibilität beanspruchen. Die Plausibilität von Nichtdemütigungsschranken der Menschenwürde liegt teleologisch erstens in einem dann hinzugewonnenen eigenständigen Sinngehalt eines vor und neben den tradierten Menschenrechten existierenden Prinzips Menschenwürde. Des Weiteren in der mittels des Demütigungs-, Erniedrigungs- oder Ohnmachtsmotivs erhaltenen Indizkraft zu Menschenwürdeverstößen und des zusätzlichen Erkenntnisanhalts, wann ein Menschenwürdeverstoß zu besorgen ist. Außerdem fügt sich das Demütigungs-, Erniedrigungs- und Ohnmachtsmotiv vor den historisch beherrschenden, insonderheit grundgesetzaktuell deutschgeschichtlichen Hintergrund. Dazu findet es eingängige Übereinstimmungen im alltagssprachlichen wie literarischen Verständnis.412 Überall da also, wo über einen in einem Fall beteiligten Menschen hinweggesehen, hinweggegangen, er ohne jede Beachtung seiner Belange und ohne Ansehen seiner Person bloß abgearbeitet, abgeurteilt, er aufgrund willkürlich bestimmter Kriterien in ihm nicht gerecht werdende Rollen eindimensional einkategorisiert, eingeengt, 410  Hörnle, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2008, S. 41–61; Margalit, Politik der Würde; Neuhäuser, Humiliation: The Collective Dimension; Pollmann, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 04/2005, S. 611–619; Stoecker, Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung; Schaber, Studia Philosophica 65/2004, S. 93–106. 411  Nussbaum, Human Dignity and Political Entitlements. 412  Vgl. die aktuelle Publikation des Philosophen und Romanciers Bieri, Eine Art zu leben – Über die Vielfalt menschlicher Würde, in welcher er ausgehend vom ab S. 34 f. entwickelten Ohnmachts- und Demütigungsmotiv den Würdebegriff in allen möglichen Lebensformen beleuchtet.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

verdrängt, in allem nicht ernstgenommen, lächerlich respektive verächtlich gemacht wird, da ist seine Menschenwürde angegriffen. Insoweit kann davon gesprochen werden, dass der gegen einen demütigenden, erniedrigenden, ohnmächtig stellenden Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft absolut stehende Art. 1 GG durch die ihm nachfolgenden Grundrechte konkretisiert und spezialisiert wird413, wobei die grundrechtsnormative Wirkung sich erst im jeweiligen Grundrecht über das Prinzip der Menschenwürde entfaltet. III. Die Sinnfrage: Teleologischer Befund zur aktuellen Situation der rechtlichen Bewältigung der Menschenwürde Die Menschwürde wurde sehr oft als Argument bemüht. Als „schlechthin“ unwägbares, spezielles Recht hat sie nicht mehr flächendeckend überzeugen können. Hat man sie für existentielle Lagen befragt, war die Antwort zu oft bloßes Tabu414 und der Rest dogmatisches Schweigen trotz eigentlich einschlägigen, speziellen, historisch bewährten Grundrechten. In zunehmendem Maße wird deutlich, dass die Menschenwürde da, wo sie rechtsdogmatisch keinen grundlegenden Schaden anrichten kann, in ihrer jetzigen, durch die Rechtspraxis angelegten argumentativ-rhetorischen Ausrichtung, einen schönen argumentativen Schein zu verleihen vermag, aber da, wo es auf rechtsdogmatische Regeln zur rechtlichen Entscheidungsfindung ankommt, sie den klaren Blick für einen rechtssicheren Lösungsweg jedes Mal aufs Neue zu verstellen droht.415 Sowohl als rechtliches Nullum ohne jegliche Rechtsnormativität als auch als spezielles Grundrecht mit subjektivem Abwehranspruch ggf. vor allen anderen Grundrechten wie dem Leben stiftet der Topos der Menschenwürde zwar Einigkeit im diskursiven Bereich des Ungefähren, aber mit zunehmender, fallweiser Konkretisierung proportional steigende Verwirrung und Verärgerung ob dieser Dissonanz.416 413  So – allerdings als Grundrecht verstanden –: Hofmann, Art. 1, Menschenwürde, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, S. 131, Rn. 8. 414  Vgl. Poscher, JZ 2004, S. 756 ff.; ders., Menschenwürde als Tabu, S. 75 ff. 415  Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 52, konstatiert einen „Konsens auf hoher Abstraktionsebene, der bei der Applikation auf konkrete Sachverhalte rasch zerbricht.“; die allgemeine literarische Zerissenheit etwa bei – auch schon nur allgemein abgehandelten – Fällen lebensrettender Aussageerzwingung zeigt sich statt vieler exemplarisch bei Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar zu Art. 1, wo Fälle lebensrettender Aussageerzwingung in 43. Lieferung 2004 der Peripherie, Stand 2006 nach eigenen Angaben des Autors keiner befriedigenden Lösung, eher einer Berücksichtigung hochrangiger Rechtsgüter bei den Rechtsfolgen zugänglich und in der 55. Lieferung 2009 dem Würdekern zuordenbar sind. 416  Zum Befund der Trivialisierung und Inflationierung durch einen scheinbaren „Allesproblemlöser“ Art. 1 GG auch: Dreier, H., Art. 1 I Rn. 47 ff., dort, a. a. O.,



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck125

Spätestens in den im rechtshistorischen Auslegungsabschnitt dieser Arbeit angesprochenen und im Folgenden noch näher zu erörternden Konfliktfällen reicht wegen der aktuellen Unsicherheit der momentan durch die Rechtspraxis – wie im systematischen Abschnitt dogmatisch aufgeklärt nur in offizieller Rhetorik – generierte argumentative Gehalt der Menschenwürde als absolut unwägbares, spezielles Tabugrundrecht im status negativus eigentlich nicht mal mehr an die Qualitätsstandards von Gewohnheitsrecht heran. Denn es ermangelt ihr in kritischen Fällen als spezielles Entscheidungsgrundrecht bei beachtlichen Teilen der Rechtsgemeinschaft an den für Gewohnheitsrecht konstitutiven Merkmalen von Überzeugungskraft und Gefolgschaft.417 Es ergibt sich eher das Bild von Beliebigkeit, ideologischer Immunisierung, Ungenauigkeit, Unlogik, Vagheit, Wertewillkür – allesamt einer Rechtsdogmatik diametral entgegengesetzte Alarmzeichen für das Recht. Kein Rechtsbegriff steht gemessen an seiner Bedeutung insgeheim so im Ruf, populistisch-problematisch wie problematisierend zu sein – und so wenig wirklich problemlösend in den Fällen mit echten Problemen. Alle Erklärungsansätze und Extremtendenzen hin zu speziell-subjektivem Abwehrrecht oder zu trotz Verfassungstext weiterhin der Menschenwürde eignender Vorrechtlichkeit konnten diesen Missstand fehlender Fallentscheidungssicherheit nicht beheben. Das muss dazu zwingen, im Sinne des Wahrheitsbegriffs durch Aussagenintegration, im Wege eines integrativen Ansatzes die Aussagen zum Menschenwürdebegriff je nach Verarbeitungsfähigkeit in einem fallweisen Aussagensystem zu integrieren auf einen gemeinsamen Nenner in der Mitte zwischen den sich berührenden Extremen. Mit der Menschenwürde alleine als absolutes, spezielles subjektives Abwehrrecht wird eine logische Sackgasse beschritten in der Art einer petitio principii. Und für den, der daran festhält, erscheint kein Ausweg und kein wirkliches, willkürfreies Recht in umfassender Auslegung und Abwägung zu machen sein. Selbst das Selbstverständliche, das man juristisch mühelos aus den speziellen Grundrechten zu heben vermag, scheint manchesmal durch die Menschenwürde mit undifferenzierten, willkürhaften Wertungen zugeschüttet. Um genug normative Stärke aus Art. 1 I GG selbst zu erhalRn. 49, sieht er eine „ärgerliche Erscheinungsform der Expansion des Menschenwürdebezugs“ etwa in Fällen klagender Bürger weit unterhalb der „Reaktionsschwelle“ des Art. 1 Abs. 1. Wenn mit Reaktionsschwelle die in dieser Arbeit ausgebreitete systematische gemeint ist, ab der erst das Prinzip der Menschenwürde regelmäßig und regelhaft als fallentscheidendes Auslegungsgewicht oder fallentscheidende Rechtsnorm tragend zum Zuge kommt, dann wird dies dogmatisch durch das Bild der Reaktionsschwelle treffend veranschaulicht. 417  Vgl. das Ergebnis von Unentschiedenheit mit sogar leichter Mehrheit für lebensrettende Aussageerzwingung in der Rhetorikanalyse öffentlicher Diskursbeiträge anlässlich des Frankfurter Entführungsfalls bei: Herbst, Lebensrettende Aussage­ erzwingung, S. 34.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

ten, hat man die Menschenwürde als Grundrecht ansehen wollen.418 Dies in Ermangelung methodischer Begründungsansätze, weil es einfach positivrechtlich so sein müsse, und nicht sein könne, was nicht sein darf.419 Und dies trotz des Wortlautes in Art. 1 III GG über „die nachfolgenden Grundrechte“, trotz der systematischen Stellung der Menschenwürde als programmatischer, wenn auch präskriptiver Einleitungsartikel sowie ungeachtet der kurzen Geschichte der Menschenwürde als verrechtlichter Begriff ohne Genealogie zu allen lange vor ihm international existierenden Menschenrechten420, schließlich trotz teleologischer Bedenken, dass der Tabubegriff des Art. 1 GG alleine historische Zustände wie unter Hitler auch nicht verhindert hätte. Die Wirkung dieses falschen Verstehens von Art. 1 GG ist das Gegenteil von Rechtssicherheit. Es ist sogar ein Katalysator von verfassungsverletzender Gewaltenmachtverschiebung von der Legislative auf die Judikative, welche die Menschenwürde als deus ex machina jederzeit für und gegen gesetzgeberische Akte einsetzen kann.421 Andererseits ignorierte man mit der Menschenwürde als rechtliches Nullum ohne rechtsnormative Wirkung ignorierte man jegliches Indiz für den Rechtsnormcharakter, angefangen bei der Autorität des verfassungsgebenden Gesetzgebers, mit dem 418  Seit Nipperdey, Die Grundrechte, S. 11 f.; gegen den Rechtscharakter schon: Apelt, NJW 1949, S. 481 f.; gegen die Grundrechtsqualität schon: Dürig, AöR 81 (1956), S. 117, 119, 122; Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (1958), Art. 1 I, Rn. 4. 419  Exemplarisch Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte, S. 49, dort zunächst unverhohlen: „Denn der Anwendung klassischer Auslegungsmethoden auf diesen Verfassungsartikel verweigert man offenkundig die Gefolgschaft.“ Und Enders, ebenda: „Einer derart hehren […] Maßgabe mit nüchterner Methodengenauigkeit begegnen zu wollen, erscheint sachfremd und kleinlich. Denn der juristischmethodisch beschränkten Betrachtung offenbart Art. 1 GG allzu wenig rechtsnormativen Gehalt“; dann noch weiter Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte, S. 51: „Der mit Art. 1 GG […] vorstaatliche Anspruch des Menschen auf rechtliche Behandlung löst sich aber nach der gängigen Interpretation des Art. 1 GG von den Fesseln des Verfassungstextes. Er definiert nicht mehr nur den Endzweck, dem alle staatliche Gewalt (als Mittel) zu dienen hat […]. Die Fundamentalbestimmung verlangt vielmehr ob ihrer Grundlegungsfunktion nach höchster Wirksamkeit. Und das augenscheinlich effektivste Mittel zur lückenlosen Verwirklichung des allgemeinen Rechtsanspruchs des Menschen scheint dieser selbst zu bieten – wenn man ihn nur als Rechtssatz zu fassen versteht. Die ‚Würde des Menschen‘ wird darum als oberster Wert und objektives, die Verfassungsordnung im Sinne eines Rechtsgeltungsgrundes konstituierendes Prinzip des positiven Verfassungsrechts begriffen. […] Art. 1 Abs. 1 Satz 1 statuiert daher nach herrschender Auffassung einen Rechtssatz, der dem Menschen ein subjektives öffentliches Grund-Recht auf Würde garantiert.“; ähnlich exemplarisch für die „Verteidigung des Absoluten“ durch das Absolute: Bernstorff, JZ 2013, S. 905–915. 420  Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, S. 37. 421  Vgl. Anm. in Fn. 261–263.



D. Auslegung nach dem Sinn und Zweck127

festen Willen, dass so etwas wie die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft nie wieder passieren darf, quasi für die Ewigkeit durch Art. 79 III GG untermauert, weitergehend über den sehr imperativen Wortlaut, bis hin zur menschen- und grundrechtskonstituierenden, kausalen Wirkung der Menschenwürde des Grundgesetzes gemäß ihrer systematischen und logisch-grammatikalischen Stellung. Nach hochgerechnet also fast einem ganzen Menschenleben der positivrechtlichen Normierung der Menschenwürde ist Bilanz zu ziehen, dass eine teleologische Überinterpretation der Begrifflichkeit der Menschenwürde stattgefunden hat422 – und es auch Anzeichen für eine Art allergischen Ausschlag durch Desillusionierung in die Gegenrichtung der Unterinterpretation gibt: Auch eine teleologische Unterinterpretation in gleicher, nur umgekehrter Vorgehensweise in der Art, dass dem positiv an höchster verfassungsrechtlicher Stelle gesetzten Recht die Rechtsnormativität überhaupt aberkannt werden soll, hat stattgefunden. Die Unterinterpretation und Aberkennung von Rechtsnormativität erfolgte teilweise mit offenem Eingestehen methodischer Schwierigkeiten bei der dogmatischen Fruchtbarmachung der Menschenwürdenorm für die konkrete Fallentscheidung und einer Delega­ tion der Fallentscheidung an den Gesetzgeber423. Das aber wird erstens der Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers zur positivrechtlichen Normierung der Menschenwürde nicht gerecht und zweitens gerade nicht der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung und der damit einhergehenden, ethisch dezidierten Verteilung des Konsequentialismus der Legislative und der deontologischen Verantwortung von Exekutive und Judikative. Die Fallentscheider und damit Rechtsanwender haben sich jedoch fortwährend den heuristischen Schwierigkeiten zur Aufdeckung der deontologischen Struktur der Rechte zu stellen. Sowohl die entwertende Inflation der Menschenwürde als Tabubegriff als auch die Deflation der Menschenwürde als rechtliches Nullum ist eine Fehlentwicklung, die es zu korrigieren gilt, um die angemessene, volle normativ422  Enders,

Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 377 ff. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 399, der dort leider die von ihm vorher den Überinterpreten zum Vorwurf gemachte teleologische Argumentationsart mit Federstrichen nur unter umgekehrten Auspizien übernimmt und alle Erkenntnis sogar bezüglich Art. 1 I 2 GG ungeachtet seines sehr verpflichtenden Wortlauts ausschließlich an die „politischen Entscheidungen“ delegiert sehen will; mit diesem nichtjuristischen Ergebnis auch: Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 403, 448, 475. Diese Art ist der Grund dafür, warum Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 90, – den bei Enders erscheinenden „Widerspruch“ einer Aberkennung positiver Rechtsnormativität bei einem obersten Konstitutionsprinzip sehend – angesichts Enders Habilitationsschrift mit dem Kriterium der „juristischen Dogmatik“ und in Abgleich mit dem Bild eines „seriösen Juristen“ seinem Werk das Bild von „Hilflosigkeit“ und „Ratlosigkeit“ attestiert. 423  Vgl.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

dogmatische Kraft aus den Rechten der Verfassung sich klarer entfalten zu lassen, damit die Ethik von der Menschenwürde faktisch eine ehrlichere und wirkungsvollere Existenz haben kann. Der Satz von der Menschenwürde sollte besser im Geiste des historischen verfassunggebenden Gesetzgebers als höchste Staatsfundamentalnorm ausgelegt werden. Jedes staatliche Verhalten könnte dann teleologisch daraufhin überprüft werden, ob es auf die Prämisse zurückzuführen ist, dass der Staat für den Menschen, nicht der Mensch für den Staat da ist.424

E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde: Vorschlag eines generellen Verständnisses der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes Es steht der Befund, dass alle modernen rechtlichen Theorien für sich betrachtet bisher keinen durchschlagenden Erfolg hatten, eine einzige, allumfassend suffiziente Menschenwürdebestimmung für juristische Zwecke zu entwickeln. Das muss bei jedem weiteren Versuch der Menschenwürdebestimmung für fallentscheidende Zwecke zu denken geben. Weitere Versuche dürfen sich nicht darin ergehen, isoliert von jeglicher Interdisziplinarität und ignorant in Bezug auf die Bemühungen anderer kluger Köpfe mit ihren jeweils guten Ideen vorzugehen. Nach alledem kann das Verfahren zur Lösung des Menschenwürdeproblems nur noch in einer interdisziplinären Integration der Aussagen mit möglichst plausibler Schnittmenge bestehen. Dies folgt zuallererst aus der Annahme des in dieser Arbeit vor dem Hintergrund von Perspektiven und Paradigmen durch Plausibilität und Probabilismus annäherungsweise angenommenen Wahrheitsbegriffs. Er ist der Gegenbegriff zu einem elitären Wahrheitsanspruch mit dem andere Ideen nicht würdigenden, weltanschaulichen Dünkel, Räder nicht einfach nur besser, sondern neu erfinden zu können. Für das Verfahren der möglichst maximalen und verträglichen Aussagenintegration aus einem möglichst großen Aussagenbestand sind insbesondere die im Verlauf dieser Arbeit aufeinander ausgerichteten und miteinander verschränkten Disziplinen von Ethik und Recht relevant. Die Perspektiven sollten nicht in schieren Ausschließlichkeitsverhältnissen positioniert werden, sondern im Verbund mit der langen vorrechtlichen Ideengeschichte einer wechselseitigen Ergänzung zugeführt 424  So Art. 1 I des Herrenchiemseer Entwurfs des Grundgesetzes „für einen Bund deutscher Länder“: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Darauf folgte erst Art. 2 I: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 129

und auf den gemeinsamen Nenner gebracht werden.425 Dies erhöht eingedenk des im Rahmen dieser Arbeit methodisch entwickelten Wahrheitsbegriffs die Plausibilität und womöglich auch die Akzeptanz und Anschlussfähigkeit einer Menschenwürdekonzeption für heutige Diskurse. Bevor alle Erkenntnisse aus den allgemeinen Grundlegungen, der Ideengeschichte und der Rechtsdogmatik gleichnamig gemacht, gleichsam auf einen Begriff gebracht werden, seien diese hier zur gleichzeitigen Memorierung nur stichwortartig wiederholt: wechselseitiges Rückkoppelungsverhältnis von Moral und Recht im Inneren und Außen; Menschenwürde als etwas in jedem Menschen Seiendes und sich äußerlich anhand von Amt, Ansehen, Rang, Verhalten, Verhältnissen Zeigendes; Intersubjektivität von Selbstachtung und Achtung des Anderen; der Mensch an sich mit allem Potential zu auch guter Selbstgesetzgebung in freiem Willen; Herleitung durch Autorität und Gesetze der Vernunft; Bindung, Streben und Gestaltung des menschlichen Potentials zu moralischen und rechtlichen Geboten im Inneren und zu Umwelt und Verhältnissen im Außen; im Inneren das Ich des Menschen, die Persönlichkeit; die Person des Menschen als sich mit den anderen Menschen in der Rechtsgemeinschaft verhaltendes Wesen; Staat als moderne Form der Rechtsgemeinschaft mit unterschiedlichen Rechtfertigungen der Staatlichkeit; Rechtsnormativität der Achtungs- und Schutzverpflichtung; rechtspraktische Behandlung der Menschenwürde mit Taburhetorik als Prinzip, das fallweise als Regel einzusetzen ist; systemisch-logische Unmöglichkeit, die grundgesetzliche Menschenwürde als unantastbar im Sinne von absolut und unabwägbar und als spezielle Abwehrregel rechtsfaktisch zugleich durchzusetzen; entsprechende Praxis führt zur Entwertung von Art. 1 GG; deontologisches, akteur-relatives Prinzip für die Rechte, Konsequentialismus bei der Rechtsheuristik, tugendethische Elemente bei der rechtlichen Bewertung; Bestimmungsansätze für die grundgesetzliche Menschenwürde über die Subjektqualität des Menschen, über Ohnmachts-, Demütigungs- und Ausschlussmotive, über Darstellungsleistungen und Kommunikationsprozesse, seit Verrechtlichung der Menschenwürde keine allein durch sich selbst für Fallentscheidungen überzeugende Konzeption; juristische Resignationen durch teleologische Über- oder Unterinterpretation der grundgesetzlichen Menschenwürde. Sodann können schon einmal eingedenk der Dualitäten von Moral und Recht, Innen und Außen, Menschsein und Mensch, Persönlichkeit und Per425  Gegen ein „Verhältnis strikter Alternativität“ von negativen wie positiven Bestimmungsversuchen zur Menschenwürde auch: Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 60, der daraufhin, a. a. O., in drei kurzen Rn. 61, 62, 63 „Einigkeit in bezug auf einen Kernbereich von […] Grundaussagen“ ausmacht, nämlich die „Menschenwürdenorm“ als „egalitäres Prinzip“, einen „Ausdruck“, einen „liberalen Grundsatz“, und eine „Garantie“ aus dem „Menschenwürdesatz“ als „soziale Komponente“.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

son, Potential und Realität, Prinzip und Regel, deontologischer Rechtestruktur und konsequentialistischer Heuristik als Nenner die verschiedenen, mal mehr im Inneren, mal mehr im Äußeren liegenden Tendenzen der allgemeinen Menschenwürdeverständnisse gleichnamig gemacht werden. Würde wird einerseits als mitgegebener Eigenwert des Menschen schlechthin426 mit der Folge eines Achtungsanspruchs umschrieben, andererseits als sozialer Anspruch auf Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit angesehen,427 sodass Würde erst konstituiert werden müsse,428 auch durch Schaffung und Erhaltung realer sozialer Verhältnisse. Somit kann jedenfalls der soziale Wertanspruch, der dem Menschen einerseits kraft seines gesellschaftlichen Personenseins, und der Achtungsanspruch, der ihm gerade wegen seines natürlichen Menschseins zukommt, als würdekonstituierend aufgefasst werden, was letztlich dazu führt, dass jedenfalls potentiell jeder einen zu berücksichtigenden Eigenwert schon immer und immer noch besitzt, ohne Rücksicht auf seine sonstigen Eigenschaften außer der des Menschseins, seine Leistungen, seinen sozialen Status429. Zur Verwirklichung dieses dem Menschen laut normativer Setzung430 des Verfassungsgesetzgebers durch das Grundgesetz zuzuerkennenden Wertes bedarf es faktisch gestaltender Maßnahmen und Prozesse zur Konstitutionierung der Würdebedingungen für den Menschen in der Gesellschaft. Das jedem Menschen eigentümliche Menschsein ist Grundlage für die unwiderlegbare Vermutung für das von jedem Menschen achtens- und schützenswerte gute Potential in jedem Menschen, qua innerer Selbstgesetzgebung zum Guten hin sich in die äußeren Verhältnisse zu schicken. Der in seiner Würde geachtete und geschützte Mensch ist Person im äußeren Recht. Das Potential moralisch gelingender Ausentwicklung des inneren Selbst macht seine Persönlichkeit.431 426  Nipperdey,

Die Würde des Menschen, S. 1. Grundrechte als Institution, S. 53 ff., 60 f.; juristische Anknüpfung an Luhmannsche systemtheoretische Ansätze bei: Lampe, Gleichheitssatz und Menschenwürde; Ladeur/Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat. 428  Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68. 429  BVerfGE 87, 209, 228 („Tanz der Teufel“). 430  Enders, Art. 1. Menschenwürde, Grundrechtsbindung, in: Stern/Becker: Grundrechte-Kommentar. S. 101 Rn. 26, beschreibt die staatstheoretische und die rechtstechnische Seite des Vorganges der Menschenwürdeverrechtlichung treffend als „verfassungsrechtlichen Anerkennungsakt“ bzgl. der Selbstgesetzgebungsfähigkeit des Menschen durch Inkrafttreten des Grundgesetzes. 431  Vgl. Wintrich, FS Laforet, S. 227, 231 f., wonach die Würde des Menschen darin gründet, dass er seiner seinsmäßigen Anlage nach Person ist; Dürig, JR 1952, S. 259, 261, wonach Würde haben Persönlichkeit sein heißt; BVerfGE 12, 1, 4 (Glaubensabwerbung). 427  Luhmann,



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 131

Mit Menschenwürde kann der innere Eigenwert und die äußere Wertschätzung eines Menschen unter Menschen als Person gemeint werden, der aus dem unwiderlegbar präsumtiven Potential des Menschseins in jedem menschlichen Lebewesen entsteht, sich selbstreflexiv und freiverantwortlich zu sich selbst und anderen durch willentlich gute Selbstgesetzgebung auch gut zu verhalten. Mit diesem inneren Eigenwert und der äußeren Selbst- und Fremdwertschätzung, die beide aus der immer als realisierbar zu vermutenden Möglichkeit des Menschseins in jedem menschlichen Lebewesens entspringen, sich auch gut zu verhalten, ist jeder einzelne Mensch als grundsätzlich gleichberechtigtes Mitglied jeder menschlichen Gemeinschaft anzuerkennen. Die Nichtanerkennung nur eines mit dem menschlichen Potential zu a­utonom gutem Handeln versehenen, also vernunftbegabten Wesens als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft gleicher Wesen setzt jedes nichtanerkennende gleiche Wesen sogleich in Widerspruch zu sich selbst, der Logik seiner Vernunft im aufklärerischen Sinne, verneint seinen Eigenwert und lehnt seine Wertschätzung ab. Der Nichtachtende untergräbt seine psychologischen wie materiellen Lebensgrundlagen und Überlebensbedingungen als gesellschaftliches Zwangsmitglied auf Lebenszeit. Er leugnet sein Angewiesensein auf das Menschliche im jeweils anderen Menschen. Der Mensch muss logischerweise, um nicht selbst die logische Grundlage seines menschlichen Vernunft- und Freiheitspotentials und seiner Stellung als gleichberechtigtes Rechtssubjekt zu verlieren, diese Grundlage des Menschseins auch bei allen anderen anerkennen.432 Jetzt verbindet sich mit der Integration zu einem generellen Menschenwürdeverständnis methodische Form und begrifflicher, materieller Inhalt433: Die logische Intersubjek432  Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, § 4, Dritter Lehrsatz, S. 44, wonach das Verhältnis freier Wesen notwendig auf die Weise bestimmt ist, dass die Erkenntnis des einen Individuums vom anderen dadurch bedingt ist, dass es das andere als ein freies behandelt, was heiße, dass es seine Freiheit beschränkt durch den Begriff der Freiheit des anderen; das Verhältnis freier Wesen zueinander sei das eines der Wechselwirkung von Intelligenz und Freiheit. 433  Mit der Verbindung von Form und Inhalt, Methode und Erkenntnisziel wird ausgegangen von dem bis heute seit Aristoteles durch die gesamte Geistesgeschichte in changierenden Chiffren gehenden Leitmotiv des Hylemorphismus, i. e. der zwei Prinzipien allen Werdens als Entstehen und Verändern von stofflicher Materie (hýlē) und Form (morphḗ), spätestens mit der Übertragung des Dualismus auf den Monismus der rein geistigen Welt durch den Neuplatonismus überführt in einen universellen Hylemorphismus mit eigenständiger, gleichwohl ohne Form unbestimmter, intelligibler Materie. Sowohl im Aristotelismus als auch im Neuplatonismus wird die – aristotelisch nur mögliche und neuplatonisch nichtseiende – Materie erst durch die Form gestaltet respektive durch den Geist hervorgebracht, erst beides ergibt den Gegenstand (synholon), vgl. Aristoteles, Metaphysik (τὰ μετὰ τὰ φυσικά  – ta meta

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

tivität dient der methodisch folgerichtigen Herleitung des Würdebegriffs, der materiellen Rechtssubjektivität des Einzelnen durch die widerspruchsfreie Selbstgesetzgebung der Vernunft. Die konsequentialistische Ethik und Rechtsheuristik der Intersubjektivität produziert mit den Mitteln des menschenwürdekonstitutiven Vernunftpotentials des Menschseins die deontologische Rechtssubjektivität. Mit ihrer prinzipiellen, akteur-relativen Deontologie kultiviert sie Rechtsstaatlichkeit durch wissenschaftlich-methodische Hemmung herrschaftlicher Gewaltpotentiale der Willkür.434 Konsequentialistisch wird festgestellt, dass eine Negation der Rechtssubjektivität in nur einem einzigen Menschen die Folge haben kann, dass der Negierende durch sich selbst aus der Rechtsgemeinschaft ausgestoßen wird, und damit die gesamte Rechtsordnung bricht, das Gemeinwesen stirbt, der Staat schwach wird – dies zuerst immer in geistiger Hinsicht. Konsequenz muss die deontologische Unbedingtheit der Rechte zum Schutz vor materieller Zersetzung des Achtung und Schutz gewährleistenden Gemeinwesens sein. Um die logische Abhängigkeit des Menschen, des Menschseins und der Menschlichkeit als Grundlage des Rechts anzuerkennen, braucht es also keinen schwächeren und durch Majoritäten utilitaristisch ausbeutbaren, fiktiven Kontraktualismus, keinen Gott oder eine ähnliche fremde, außerhalb des Menschen vorgesetzte Autorität, um die überlebensnotwendige Wichtigkeit und die für jeden Menschen überlebenswichtige Natürlichkeit des Rechts zu begründen. Achtet und schützt der Einzelne nicht diese natürlich-notwendige Rechtsgrundlage der Menschenwürde bei anderen, so erniedrigt er sein Menschsein jedenfalls psychologisch-physisch-empirisch und ethisch-moralisch in sich selbst. Die Erniedrigung stellt also auch die Folge der Nichtachtung und Schutzlosstellung dar, ist nicht nur ein Modus der Verletzung der Würde. Die Erniedrigung ist viel grundlegender und spricht das Wertsein des Menschseins und die Rechtssubjektivität des Subjekts als Grundlagen einer rechtlich verfassten Menschengemeinschaft ab. Ausgangs-, Orientierungsund Endpunkt der Menschengemeinschaft ist Achtung und Schutz aller ta physika), insb. Bücher VII, VIII, IX (Ζ, Η, Θ), zu Akt und Potenz VIII 1, 1042a27f.; VIII 6, 1045a23–33; b17–19, der Akt (lateinisch actus, griechisch ἐνέργεια, energeia; synonym entelecheia) ist seit Aristoteles die Realisierung der Potenz der Materie; vgl. auch: Lukrez, De rerum natura – Über die Natur der Dinge, III. Lehrsatz „Nur zwei Prinzipien“; Plotin, Enneaden, insb. 4. Enneade; Goethe, Natur und Kunst, 1800; Lorenz, Die Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaft­ licher Erkenntnis, in: Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, 6, S. 162; Zusammenfassung zu Herkunft, Inhalt und Bezeichnung der vielfach zu entdeckenden Idee des Hylemorphismus etwa bei: Gessmann/Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, S. 330. 434  Vgl. zu dieser Aufgabe von Standards einer Methodik im demokratischen Rechtsstaat: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 152, S. 177.



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 133

Menschen und der jeweils anderen Menschen durch jeden um seiner selbst willen, ist die Würde jedes menschlichen Lebewesens. Wird Würde verletzt, wird die eigene Lebensgrundlage einer ausreichenden Existenzform vom Würdeverletzer mit Füßen getreten. Er schadet potentiell sich selbst, weil er durch den logischen Widerspruch zwischen der eigenen Selbstdarstellung und der Behandlung seiner eigenen Gattung im anderen Menschen die Grundlage seiner Rechtsstellung, seines sozialen Respekts, seiner Fähigkeit, mit Menschenrechten ausgestattet zu sein, logisch ad absurdum führt. Er kann sich für sein widersprüchliches Verhalten auf kein höheres Prinzip als das der Würde des Menschen berufen. Er muss also, um selbst von sich und anderen als Rechtssubjekt ohne Widerspruch der individuellen Freiheitssphären ernstgenommen, respektiert und wertgeschätzt zu werden, das ihm eigene Menschsein und die Grundbedingungen seiner Verwirklichung auch in jedem anderen Menschen anerkennen.435 Damit ist das Postulat des Menschenwürdeartikels keine bloße, tatsachen­ kluge, utopische oder konsequentialistische Vertragstheorie à la Rousseau436 oder like Rawls437 oder nur realpolitische Anerkennung der faktischen Rechtssetzungsmacht des verfassunggebenden Gesetzgebers, sondern erste Rechtsprämisse der praktischen Vernunft. Seit Kant und mit der hier vertretenen wissenschaftlichen Teleologie der Widerspruchsfreiheit ist die Herleitung der unbedingten Pflicht zu Achtung und Schutz der prinzipiellen Rechtssubjektivität eines jeden Menschen für jeden Menschen auch ohne fremde Autorität qua Vernunft möglich. Mit einer in dieser Arbeit vorgenommenen Verbindung von Idealismus und Materialismus finden in den äußeren Verhältnissen des Rechts die These des Ich und die Antithese des Nicht-Ich, des Ich des Anderen ihre intersubjektive Synthese. Das Ich kann nicht gedacht werden ohne eigene Vorstellung von der Identität und Potentialität des Alter ego. Schlussfolgerung der Vernunft a priori ist, dass die Achtung des Menschen zur Selbstachtung immer wechselseitig symmetrisch erfolgen muss. Bei Nichtachtung oder Schutzlosstellung eines Menschen als gleichberechtigtes Subjekt in der Rechtsgemeinschaft wird die Grundlage der Rechtssubjektivität, der Fähigkeit, Menschenrechte zu haben, durch logische Friktion in jedem an der Nichtachtung oder Schutzlosstellung beteiligten Menschen verraten. Damit wird die Grundlage einer würdigen, rechtsgemeinschaftlichen Existenz, von der und durch die Menschen nur ihrem Menschsein gemäß leben können, erniedrigt, gedemütigt, ohnmächtig geRothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 236. Théorie du contrat social bei: Rousseau, Du Contract Social; Ou Principes Du Droit Politique. 437  Vgl. Social contract theory bei: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit. 435  Vgl. 436  Vgl.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

stellt. Die Demütigung des Menschen findet statt, wenn ihm die Minima einer Rechtsgemeinschaft versagt werden, wenn er Ausschlusshandlungen von dieser erfährt. Die grundgesetzliche Menschenwürde ist funktionell rechtsgemeinschaftskonstituierendes – fiktives oder naturrechtliches oder menschenerdachtes oder gottseitig gegebenes – erstes Moment der Rechtsordnung. Dieses Moment ist für das Grundgesetz „darum“ der kausale Grund für das staatliche Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Die Menschenwürde wird in den Menschenrechten verwirklicht – und mit deren Missachtung verletzt. Menschenwürde ist logische prima causa438 und sozialpsychologischempirisches primum movens des Rechts sowie causa finalis von Staatlichkeit. Durch die Logik der Vernunft wird die Menschenwürde als Axiom a priori gesetzt, wohl wissend, dass es nicht nur einen rein mit Rechtssubjektivität a priori zu denkenden Menschen, sondern gleichfalls einen erfahrungsgemäß existierenden und in seinen jeweiligen Rechten und Pflichten a posteriori zu erkennenden Menschen gibt, der mit Pflichten gegenüber den anderen a priori mit Rechtssubjektivität ausgestatteten Menschen existiert. Das Aposteriori ist dann gemeinsame Sache der Grundrechte, die im Lichte des Axioms anzuwenden sind. Das Axiom wird unterstützt durch die empirisch-psychologischen Tatsachen von Erscheinungen des Mitgefühls, von biochemischen Prozessen der Spiegelneuronen439, oder von zumeist in Äußerungen der Allgemeinheit erkennbaren Einstellungen und allzeitlichen Aufzeichnungen und Traditionen nach Bedeutungsgehalten der Goldenen Regel440.441 Seit der Teleologie des Aristoteles gilt es im anthropologischen Grundbegriff des zoon politikon als wesensmäßiges Sein des Menschen überhaupt.442 Diese Teleologie ist empirisch unabweisbar, und sollte sie 438  Vgl. sinnbildlich zur prima causa die ranghöchste Karte Nr. 50 der von einem heute unbekannten Menschen in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, etwa 1465 erstellten, „Mantegna Tarocchi“ genannten Kupferstichsammlung. 439  Rizzolatti/Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. 440  Vgl. Bibel, Buch Tobit/Tobias, 4, 15; Matthäus 7, 12; Lukas 6, 31; 3. Buch Mose, 19, 18. 441  Viele weitere Nachweise von Ergebnissen empirischer Forschungen auf dem Gebiet der Sozialpsychologie bei: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 274. 442  Aristoteles, Politika, I, 2; III, 6; dem widerstreitet für den hier geprägten Menschenwürdebegriff auch nicht – die über die Jahrtausende der Ideenrezeption weitaus unpopulärere – teleologische Bestimmung des Menschen durch: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1162a, wo er den Menschen – in einem spezifischen Themenkreis „Freundschaft in der Familie“ – von Natur aus „mehr“ als ein Paar bildendes (syn-



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 135

doch für einen einzelnen Menschen nicht aufgenommen oder unterbrochen werden, so degenerierte er notwendig.443 Die unabweisbare Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit444 des Individuums schafft einen wechselseitigen, grundlegend symmetrischen Verantwortungszusammenhang der Moral, empirisch notwendig durch das Angewiesensein und das Verwiesensein auf Mitmenschen mit und ab dem Zeitpunkt des eigenen Lebensbeginns. Diese Prämisse moralischer Verantwortung und der jederzeit möglichen Inanspruchnahme innerhalb des Verantwortungszusammenhangs verschafft die höchste Plausibilität für die Annahme eines potentiell freien Willens. Denn würde kein freier Wille angenommen, könnte niemals moralische Verantwortungszuweisung stattfinden.445 Dieses Ergebnis widerspräche fundamental der Empirie der Menschheitsgeschichte und jedes gesellschaftlichen Systems, in denen permanent Verantwortungszurechnungen vorgenommen worden sind und mitsamt Gratifikationen oder Sanktionen vorgenommen werden. Als synthetischer Satz alleine könnten Aussagen des Inhalts, dass dem Menschen Würde zukommt und dass diese unantastbar ist, allerdings als zu schwach angesehen werden, weil durch nur einen gegenteiligen Fall „entwürdigenden“, „würdelosen“, oder „unwürdigen“ Verhaltens in den Augen eines Anderen falsifiziert. Jedoch hinter die soeben empirisch erwiesene und durch die Vernunft gesetzte Logik kann keiner zurückgehen, ohne nachweisbar und vorwerfbar gegen deren Gesetze zu verstoßen, selbst wenn er es wollte. So wie Recht ethische Minima enthalten muss, muss die Ethik logische Minima enthalten. Wenn der Mensch gegen das Menschsein im anderen verstößt, verstößt er gegen das minimal durch den spezifischen Eigenwert des aus dem Verantwortungszusammenhang hergeleiteten, freien Vernunftpotentials definierte Menschsein mit der Folge auch guter (Selbst-) Gesetzgebung in sich. Das erste ethische Minimum im Rechte ist, dass ein jeder rechtsfähig wie man selbst sein muss, damit Rechtsgemeinschaft sein kann. Im Menschenwürdebegriff für das Grundgesetz werden die drei wahrdiastikon) denn als ein Staaten bildendes (politikon) Lebewesen ansieht. Denn nach Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1161b liegt „jede Form der Freundschaft“ bereits „in der Gemeinschaft“. Und für das intersubjektive Bewusstsein des Menschen genügt ja bereits die Dyade, sollte sie selbst nach hier nicht vertretener Auffassung eine Art Vorform von Gemeinschaft sein. 443  Vgl. auch die eingängige Geschichte des Kasper Hauser, die in Medizin, Psychologie und Verhaltensbiologie Eponym wurde für das sog. Kasper-Hauser-Syndrom, des Hospitalismus durch zumindest temporäre Deprivation, bspw. statt vieler: Nau/Cabanis, MMW, Bd. 108 (17), S. 929–931. 444  Im Sinne der Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen auch schon argumentierend: BVerfGE 4, 7, 15 (Investitionshilfe). 445  Inwagen, How to Think about the Problem of Free Will, in: Journal of Ethics 12 (2008), S. 327 f.; ders., An Essay on Free will, S. 16, 75.

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heitsfähigsten Minima der ethisch-rechtlichen Ideengeschichte integriert: Das spezifische Menschsein mit Eigenwert in jedem Menschen; der Eigenwert in dem aus dem Verantwortungszusammenhang hergeleiteten Potential der freien Vernunft mit dem Ich-Bewusstsein vom jeweils Anderen und der generellen Möglichkeit des reziproken Gebens auch guter, allgemeiner Gesetze durch die Vernunft. Dieses Menschenwürdeverständnis ist nicht angreifbar mit den Vorwürfen erstens: es handele sich nicht um wahrheitsfähige Aussagen, zweitens: es handele sich um einen Sein-Sollens-Fehlschluss, also in beiden Fällen nicht um Logik, oder drittens: dass der Grundgedanke mit dem Gedanken, man wolle ja gar nicht dazugehören, von jedem Einzelnen ausgehebelt werden könnte.446 Denn erstens ist nach dem in dieser Arbeit dargelegten, sich vor dem Hintergrund von immer bereits bestehenden Paradigmen und Perspektiven an eine objektive Wahrheit durch Plausibilität und Probabilismus annähernden Wahrheitsbegriff Wahrheit stets ein Stück weit kontingent, zudem die Bedeutung des Menschenwürdebegriffs ja gerade auf ein Minimum festgelegt. Zweitens trägt die Logik durch Festlegen der Bedeutung des Menschenwürdebegriffs bereits autark in der ethisch-rechtlichen Sollenssphäre, womit die Gesetze der Logik innerhalb der Gesetze kohärent bleiben. Damit müssen alle sonst mit dem Topos des naturalistischen Fehlschlusses implizierten, umstrittenen Fragen hier nicht weiter vertieft werden. Drittens verstößt im Gegenteil derjenige, der dieser Konstruktionslogik des Rechts mit seinem synthetischen Zusammenhang entkommen will, gegen den Sein-Sollens-Fehlschluss, denn er kann zwar äußern, nicht dazuzugehören, jedoch gehört er eben durch das faktische Moment existierender Verantwortungs-konstellationen immer dazu.447 Zudem: würde er all der faktischen Folgen gewahr, die eine völlige Missachtung seiner grundsätzlichen Rechtsstellung zeitigen würde, so wünschte er sich alles wieder zurück.448 Dieses Menschenwürdeverständnis erscheint als das Minimum an gemein446  Vgl. dazu auch: Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 430, dortige Fn. anlässlich der Erläuterung seiner Zweckformel: „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, usw.“ 447  Vgl. Marx, Grundrechte – keine kollektiven Intuitionen, sondern Grundlegungsbedingungen der Generierung eines Rechtssystems, S. 89–91. 448  Marx, Grundrechte – keine kollektiven Intuitionen, sondern Grundlegungsbedingungen der Generierung eines Rechtssystems, S. 84.



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 137

samer, gegenseitiger, konstantester Moral, die Menschen allseitig, allzeitlich akzeptieren können, ja sogar müssen, und das Maximum an Moral, das Recht als geschriebenes Recht zu Anfang positivieren kann. Der Mensch hat Subjektstatus als selbstzweckhaftes Rechtssubjekt. Das Potential zur freien Selbstgesetzgebung gleich jedermann weist ihn als verantwortlichen Urheber seiner Handlungen aus und kann ihn neben seiner Rechtsträgerschaft dementsprechend zum Adressaten von Pflichten machen.449 Nicht ein Staat an sich kann der letzte Zweck des rechtmäßigen Handelns sein, denn das wäre sinn-entleerend und kontrafaktisch zum Telos des Menschen. Doch ist jedem einzelnen Menschen eingängig, dass der Mensch Endzweck sein kann. So kann jedes staatliche und individuelle Verhalten anhand der Fundamentalnorm des Menschenwürdeartikels überprüft werden, ob es auf die Prämisse zurückzuführen ist, dass etwas für den Menschen im Staate und als gleichberechtigtes Staatsmitglied gemacht wird, nicht ein Mensch für etwas verbraucht wird, ohne im Verhalten seine mit Rechten und Pflichten ausgestattete Rechtssubjektivität zu respektieren.450 Würde kann die Bezeichnung sein für den Wert von Wesen, der aus ihrer Eigenheit resultiert, sich frei und selbstreflexiv selbst Gesetze geben zu können. Diese Eigenheit kann als höchster Eigenwert aufgefasst werden und als Grund, jedes derart begabte Wesen zu achten und zu schützen. Das gilt auch für die Vorstellung eines bereits vollkommen degenerierten mensch­ lichen Wesens, bei dem empirisch kein Potential an freiverantwortlicher Gesetzgebung durch Vernunft und kein Ich-Bewusstsein auszumachen ist, denn das Potential ist – im Einklang mit der Ideengeschichte und dem in Art. 1 GG semantisch enthaltenen Artbegriff – bereits mit dem im Lebewesen empirisch erkennbaren Menschsein an sich unwiderleglich anzunehmen.451 Man achtet und schützt seine Potentialität eingedenk der Möglichkeit eigener Degeneration damit im wechselseitigen Anerkennungsverhältnis selbst gleich mit. Das hat zum Ergebnis, dass der Mensch während seiner gesamten Existenz im Recht als personale Kontinuität aufgefasst werden kann. Der Begriffsgehalt der Menschenwürde muss als Axiom einer Rechtsgemeinschaft gesetzt werden, somit als ein nicht hintergehbares und nicht 449  Enders, Art. 1. Menschenwürde, Grundrechtsbindung, S. 101  f., Rn. 26, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar. 450  So Art. 1 I des Herrenchiemseer Entwurfs des Grundgesetzes „für einen Bund deutscher Länder“: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Darauf folgte erst Art. 2 I: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“ 451  Luf, Der Grund für den Schutz der Menschenwürde, S. 48, m. w. N.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

auflösbares Prinzip jeder menschlichen Rechtsgemeinschaft. Die Nichtanerkennung als Wesen mit dem jederzeitigen Potential, als anerkanntes Mitglied der menschlichen Rechtsgemeinschaft, auch reflektiert und freiverantwortlich sich gut zu verhalten oder sich gut verhalten zu haben, und damit die Nichtanerkennung eines Freiheitsraumes als Chance, sein Menschsein wie alle anderen Rechtssubjekte größtmöglich zu verwirklichen, verstößt gegen das Rechtsprinzip der Menschenwürde. Die größtmögliche Beachtung und größtmöglicher Schutz der Freiheitssphäre, gewissermaßen der deontologisch gezogenen Würdezone jedes einzelnen Akteurs, ist der Zweck von Staatlichkeit.452 Die äußeren Verhältnisse der Staatlichkeit werden durch das Recht geregelt. Axiom des Rechts ist das logische Verhältnis von Vernunftwesen zueinander, das geistige Aufeinanderbezogensein und Aufeinanderangewiesensein der Subjekte. Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen und Gesetze, nach denen die Willen und Würdezonen der Subjekte zu in Gemeinschaft größtmöglicher Freiheit in den äußeren Verhaltensweisen aller artmäßig vernunftbegabten Wesen vereinigt werden.453 Die Anerkennung oder Nichtanerkennung als grundsätzlich gleich-berechtigtes Mitglied einer mensch­ lichen Gemeinschaft kann zum Ausdruck kommen in der Gewährung oder Versagung von Rechtsausübungen, die conditio sine qua non der Teilnahme an einer menschlichen Gemeinschaft sind, wie das Recht auf Leben; das Recht, tun und lassen zu können, was man möchte (freie Entfaltung der Persönlichkeit), solange nicht andere in diesem Recht ein-geschränkt oder generell geschädigt werden; das Recht auf Gleichbehandlung in gleichen Fällen. Die Nichtanerkennung als grundsätzlich gleichberechtigtes Mitglied menschlicher Gemeinschaft kann darüber hinaus in Verhaltensweisen gegenüber einem Menschen zum Ausdruck kommen, die ihm oder anderen zeigen, dass er nicht als gleichberechtigtes Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft angesehen wird, sondern bloß als Mittel zu mit ihm in keiner Beziehung stehenden Zwecken gebraucht werden kann; dass über ihn verfügt werden kann, wie über eine Sache; dass er ohnmächtig ist oder ohne jegliches Teilhaberecht, egal, wie er sich verhält. So kann als menschenwürderelevanter Unterfall von Ungleich-behandlung und als Unterfall einer unbedingten Nichtteilhabe in einer Gemeinschaft mit dem Rechtsinstitut des Privateigentums ein Verstoß gegen den Gedanken der Menschenwürde darin bestehen, dem einzelnen Menschen jegliche Rechtsfähigkeit zur Innehabung von Eigentum zu versagen.454 Gleichfalls kann in der Versagung von 452  Vgl. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Religion I, S. 227, wonach das Staatsgesetz das Gesetz der Freiheit ist, und die Persönlichkeit, die Menschenwürde voraussetzt. 453  Vgl. Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, S. 230. 454  Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 305.



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 139

Bildungschancen und der damit verursachten Zugangssperre zu Gesellschaften ein Würdeverstoß liegen.455 Unverhältnismäßige Behandlungen eines Menschen gegen einen anderen, die nicht aus exzeptioneller Unachtsamkeit resultieren, sondern aus der Willkür heraus, als Selbstzweck seine eigene Macht zu demonstrieren oder Belustigung ohne Teilhabe des behandelten Menschen zu erreichen, können ebenfalls als Fallgruppe der Ungleichbehandlung oder der Instrumentalisierung die Menschenwürde missachten, und je nach Modus der Machtdemonstration auch durch eine sachähnliche, dingliche Behandlung des Menschen. Die so verstandene Menschenwürde des Grundgesetzes kann nicht nur eine überlebenswichtige intersubjektive Funktion für den Menschen sondern methodisch und substantiell für Staatlichkeit überhaupt erfüllen, welche wiederum Grundlagen für menschliche Lebensbedingungen in den verschiedenen sozialen Subsystemen verschafft.456 Darin wird die überragende, fixsternartige Konstellation der grundgesetzlichen Menschenwürdenorm im deutschen, säkularisierten, weltanschaulich neutralen Rechtsstaat deutlich. Die Rechtsstaatlichkeit und weltanschauliche Neutralität des Staates als bestmögliche Chance zur Verwirklichung der Menschenrechte und ethisch-religiösen Freiheitsräume ist Stärke und Schwäche zugleich, die tragische Gefahr des modernen Staates. Sie besteht – wie in dieser Arbeit bereits angesprochen – darin, als Paradox einer von Gewaltpotentialen fundierten Friedensordnung von Voraussetzungen zu leben, die der Staat nicht selbst geschaffen hat457, mit Rechtsförmlichkeit nur die Art und Weise seines Vorgehens, aber nicht sich selbst begründen zu können458, und mit der glaubens- und moralfreien Äußerlichkeit des Rechts innerlich substantiell verkümmern zu können459, wenn es ihm an substantiellem Substrat gebricht. Im Zuge der Säkularisation des Staates, der Trennung von Staat und Religion, von Recht und Moral entstanden zwar die Menschenrechte moderner Prägung, aber ohne den modernen Gedanken der Menschenwürde ist keine die Menschenrechte selbst rechtfertigendes, vorstaatliches, vorpositives Fundament in Sicht.460 Als dieses Substrat des Staates kann im säkularisierten Zeitalter nach Epochen der Aufklärung und solchen der Barbarei, mit den Gesetzen der Vernunft der hier herausgearbeitete grundgesetzliche Menschenwürdegehalt sein. Sie kann den Haltepunkt in der Konstellationen Flucht einnehmen mit dem Mensch als 455  Marx, Grundrechte – keine kollektiven Intuitionen, sondern Grundlegungsbedingungen der Generierung eines Rechtssystems, S. 85. 456  Vgl. Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S. 29 f. 457  Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 458  Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Band, Zweite Abteilung S. 138. 459  Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 86, 90, 105–107. 460  Vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 60 ff.

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Maß aller Dinge.461 Die Wertschätzung jedes Einzelnen als einem selbst gattungsmäßig gleichen Wesen kann es, weil sie durch ihre ideengeschichtliche, nicht rein religiöse Provenienz als ihre Stärke pluralistischen Gehalt für allseitige Akzeptanz aufweisen kann. Menschenwürde als logisch nicht leugbare conditio des Rechts. Dieser pluralistische Gehalt des alle Menschen logisch-methodisch-psychologisch-empirisch Verbindenden ohne das nur eine substantielle Äußere, dass Staatlichkeit als Rechtfertigung und Ziel aufhängen könnte und zu früheren Zeiten aufgehangen hat, verhindert auch sofort Potentiale einer Subordinationspflicht des Einzelnen unter das Postulat eines bestimmten Menschenbildes462, sondern ist zukunftsoffen im Sinne eines enhancement463 des Menschen. Die Stärke der freiheitssichernden Offenheit des Menschenwürdebegriffs wird zur Schwäche, wenn der Menschenwürdeartikel ungeachtet der hier dargestellten Rechtsnormsystematik der Rechtsordnung direkt regelhaft auf seinen subjektiv abwehrfähigen Inhalt festgestellt und fallweise ständig nach ihm befragt wird. Denn dann kann er nicht viel mehr Antworten geben als die allgemeine Antwort über die unbedingte Anerkennung und den Schutz der Rechtssubjektivität mit ihren ethischen Minima. Seine ständig bemühte Benutzung zur rhetorisch bekräftigten Fallentscheidung muss insoweit zur beklagten Entwertung führen. Doch kann der Art. 1 I GG gemäß der in dieser Arbeit dargelegten – wie gezeigt auch rechtsfaktisch von der Rechtspraxis angewendeten – dualen Prinzipien- und Regelfunktion bei der Auslegung des Rechts in rechtsstaatlich rechts-systematischer Weise ausdrücklich fallentscheidende Wirkung erlangen. Er tut dies, wenn sich die Frage zu Achtung und Schutz der Menschenwürde nach Ausschöpfung des übrigen Rechtsnormsystems während der Auslegung in der Pyramidenstruktur der rechtsnormativen Stufenfolge zuspitzt. Dann wird in dem konkreten Fall, in den beteiligten Menschen das Prinzip der Verpflichtung auf die Menschenwürde in Art. 1 I 2 GG so viel rechtsnormative Verdichtung erfahren, dass es als Regel entscheidet. Dann entfaltet sich aus dem Art. 1 I GG als moralischer Grundlage des Gemeinwesens die genuine eigenständige Rechtsnormativität des positiven Rechts. Wenn sich die Rechtslage durch die Rechtsnormpyramide bis zum obersten Verfassungssatz der Menschenwürde im konkreten Fall 461  In Anlehnung an das griechische Synonym für das in dieser Arbeit verwendete Motiv der Konstellation: έποχή – epoché = Haltepunkt, und in Anlehnung an den homo-mensura-Satz des Protagoras. Zu den verschiedenen Bedeutungsebenen des homo-mensura-Satzes als Relativierung der Erkenntnis, der Entscheidung, des Handelns: Helferich, Geschichte der Philosophie, S. 16. 462  Vgl. Enders, EuGRZ 1986, S. 251 f. 463  Dazu: Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 232, 253, 255–261, 267 f., 274, 276.



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zuspitzt und in den konkret betroffenen Menschen als Rechtssubjekten verdichtet, dann vertritt Art. 1 GG die deontologische Gesinnung des Rechts und erklärt fallentscheidend eine utilitaristische Opferung der bestehenden Rechte des einzelnen Rechtssubjekts für staatliche Zwecke zum absoluten Tabu. Davon unbenommen bleiben gemäß der Gewaltenteilung im Rechtsstaat die gesetzgeberischen Grundsatzentscheidungen im vorkasuistischen politischen Raum, deren genuine Genese gerade in der konsequentialistischen Erkenntnis und Abwägung aller Interessen liegt. Art. 1 I GG behält auch insoweit sein prinzipielles Reservepotential, vorrangig vor einfachgesetzlich erlassenen Rechtsnormen, vermittelt über die Auslegung im Verbund mit den nachfolgenden Grundrechten, jederzeit als Art lex specialis fallentscheidende Regel zu werden. Die hier entwickelte Prinzipien- und Regelfunktion der Menschenwürdenorm mit ihrem vernunftgemäßen Fundament wird durch die methodische Herleitung einer verobjektivierten Auslegung zur Anwendung einmal gesetzten Rechts zusätzlich gestärkt mit folgenden Gedanken: Über den Gesetzgebungsprozess wird oft personalisierte Rede gehalten vom Willen „des“ einen „Gesetzgebers“. In diesem Sprachgebrauch liegt eine gewisse Personifizierung der gesetzgebenden Institutionen, so als ob es in der Welt jeweils einen Mann gäbe, der nach eigener Anschauung und eigenen Gedanken in eigener Machtvollkommenheit Recht setzt. Die in den Artt. 77 ff. GG geregelten Gesetzgebungsverfahren beschreiben ordentliche Gesetzgebungsverfahren, die eine gewisse lineare Logik der Entstehung eines jeden Gesetzes verheißen. In Wirklichkeit ist es vielschichtiger: Gesetze sind geronnene Politik464 und als solche Ergebnis von mannigfaltigen politischen Prozessen. So ist gerade die Menschenwürde – als politischer Gegenentwurf – das in Gesetzesform gegossene Ergebnis der staatlichen Katastrophe der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft.465 „Der Wille des Gesetzgebers“ ist also eine Personifikation eines in Wirklichkeit multipel vermittelten Gesetzgebungsaktes, die einen einheitlichen Willen suggeriert, den es so zu keinem Zeitpunkt gibt. Dieser muss vielmehr durch methodische Verobjektivierung des souveränen Willens möglichst sinngemäß ermittelt werden. Auch das richtige Verständnis der Autorität des Gesetzgebers, also als legitimierter Vertreter des Volkwillens und als interessengenerierte personifizierte Fiktion, sind entscheidend für die Frage danach, ob der Wille des Gesetzgebers als objektiver oder subjektiver zu ermitteln ist.466 Vor Erlass eines Gesetzes und im Zeitpunkt des Erlasses mag ausschließlich der Wille des gesetzgebenden Gesetz464  Grimm,

JuS 1969, S. 502. Menschenwürde, S. 116, Rn. 1. 466  Streitdarstellung bei: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, S.  29 ff. 465  Kloepfer,

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

gebers maßgeblich sein. Aber schon in jedem Zeitpunkt danach verobjektiviert sich ein Gesetz aus seinem Schöpfungsakt heraus in die gesamten Rechtsverhältnisse hinein. An dieser Stelle ist am Beispiel von historischer, systematischer und teleologischer Auslegung die bereits in dieser Arbeit beschriebene, wechselseitige Abhängigkeit der Auslegungsansätze zu spüren. Auch der jeweilig nach dem Gesetzgebungsakt agierende Gesetzgeber kann seinen einstmals im Erlasszeitpunkt geäußerten Willen durch Änderung der Rechtsverhältnisse im und um das Gesetz modifiziert zum Ausdruck bringen. Und nicht zuletzt werden gesetzgebende Gesetzgeber durch gesetzändernde oder gesetzduldende Gesetzgeber abgelöst. In jeder Ablösung manifestiert sich ein staatstheoretisches Faktum: Nur der jeweils aktuelle Gesetzgeber besitzt die Fähigkeit, Recht zu setzen. Er stellt durch den Gesetzgebungsakt und das legitime Aufrechterhalten des Gesetzes rechtssichere Einigkeit über Gerechtigkeitsfragen her.467 Rechtssetzung in diesem Sinne geschieht nicht nur durch Gabe, sondern auch durch Inkorporation bestehender Gesetze in den gesetzgeberischen Willen, also durch Rechtsbestätigung. Somit kommt es spätestens mit neuen Gesetzgebungsakten unter systemischen Gesichtspunkten und mit einem neuen Gesetzgeber unter staatstheoretischen Aspekten zu einer Aktualisierung, Modifizierung, Verobjektivierung eines vielleicht einstmals alleine stehenden Willens. So ist der Satz, das Gesetz müsse klüger sein als seine Verfasser468, in strenger Wissenschaftlichkeit nicht mehr als ein gelungenes Bonmot zu nennen, denn das Gesetz bleibt das mitunter kluge Werk seiner Verfasser, aber zur Zeit der Auslegung des Gesetzes weiß sein Interpret immer aktuelleres und anderes, mitunter mehr als der Gesetzesverfasser. Das hier gewonnene Verständnis des gesetzgeberischen Willens und der Autorität des Gesetzgebers unterstreicht die Notwendigkeit einer verobjektivierten, prinzipienhaften Auslegung des Art. 1 GG als Staatsfundamentalnorm. Denn zum einen war der gesetzgeberische Wille wie im Verlauf dieser Arbeit gesehen im Erlasszeitpunkt bzgl. der Menschenwürde zwar ex negativo gegen die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherschaft gerichtet, aber nicht ausreichend positiv bestimmt und zum anderen muss die oberste Rechtsnorm zur Menschenwürde dem Belieben des jeweils aktuellen Gesetzgebers und der jeweils bestehenden Exekutive und Judikative soweit wie möglich entzogen, insofern absolut im buchstäblichen Wortsinne sein. Die grundgesetzliche Würde, die sinnigerweise am Eingangstor aller nachfolgenden Grundrechte des Grundgesetzes steht, ist damit das interdisziplinäre Medium zwischen Ethik und Recht, zwischen philosophischer Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 3 II, § 4 II. Rechtsphilosophie, S. 345: „Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen, als es seine Schöpfer verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser – es muß sogar klüger sein als seine Verfasser.“; sinngemäß übernommen von BVerfGE 36, 342, 362 (Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz). 467  Vgl.

468  Radbruch,



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 143

Begründung von Recht und juristischer Setzung von Recht. Sie ist ethische Konklusion für die Prämisse der Rechtsgemeinschaft. Was unvereinbar mit dem ersten ethischen Rechtsgedanken der Würde ist, kann kein Recht sein. Wenn das über die Würde gewobene Band zwischen Ethik und Recht reißt, dann ist das Recht unmoralisch. Mit der so verstandenen Menschenwürde tritt an die Stelle der Autorität Gottes für das weltliche Recht als Menschenwerk469 die Autorität der Vernunft. Diese Autorität war freilich über eine lange Zeit der Ideengeschichte stärker von Gott hergeleitet und einseitiger auf ihn verpflichtet denn heutzutage selbstverpflichtender an die aufklärerischen Gebote mahnend, den Gesetzen der Logik und Widerspruchsfreiheit zu folgen, die nur zu wechselseitiger Achtung vernunftbegabter Wesen führen können sollen. Die Menschenwürde als vorrechtlich gewachsener, nicht genuin juristischer Begriff kann diese Lücke füllen und schafft den Übergang von der Moral ins positive Recht, verbindet beide, setzt einen letzten Zweck der staatlichen Rechtsordnung, um diese nicht in reiner, methodischer Rechtsäußerlichkeit verkümmern zu lassen. Menschenwürde als zentrale Begründung des Staates, nicht Gott oder gar der Staat selbst. Sie gleicht die Trennung von Moral und Recht, von Innen und Außen aus und enthält sogar eine ethische Aufforderung, dass der Mensch nicht bloß als bürgerliches Mittel zum Zweck der Rechtsstaatlichkeit funktionieren soll, nicht in innerer Emigration gefangen bleibt, sondern, weil höchster Endzweck der Staatlichkeit, das Innere ins Äußere, seine Persönlichkeit als Person entfalten soll. Die Menschenwürdenorm enthält letztlich auch eine Verpflichtung dazu, darauf zu achten dass der Mensch zur Gestaltung der gemeinschaftlichen Verhältnisse des Staates sich als Person in die soziale Ordnung schickt.470 Aus der Notwendigkeit der Achtung und des Schutzes der Rechtssubjektivität bei jedem Einzelnen folgt, dass der Mensch nicht für vermeintlich höhere Zwecke im Sinne eines kollektivistischen Konsequentialismus gebraucht, benutzt, geopfert werden kann. Das ist die Negativfolie der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft: Nie wieder „Du bist nichts – Dein Volk ist alles“. Daraus folgt aber nicht die weitverbreitete Lesart einer konsequenzblinden Verabsolutierung vermeintlicher Individualrechte. Beim Menschenwürdeartikel geht es nicht um Absolutheit und Abwägbarkeit. Es geht um Achtung und Schutz der Rechtssubjektivität und um Recht und Unrecht. Die Verpflichtung, die Würde zu achten und zu schützen, gilt uneingeschränkt als oberstes Prinzip der Rechtsordnung. Dies gilt freilich nach allen Seiten. Jeder Mensch ist als Rechtssubjekt mit Potential 469  Pfordten, Rechtsethik, S. 8, dort nach modernem Verständnis als erste Eigenschaft des Rechts. 470  Vgl. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, S. 41; vgl. auch: BVerfGE 24, 236, 247 (Aktion Rumpelkammer).

144

4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

zu rechtmäßigem Verhalten ernstzunehmen471 und zu respektieren, aber auch als Pflichtsubjekt in Verantwortung zu nehmen, gleichsam buchstäblich zu würdigen, und die Rechte und Pflichten aller Rechtssubjekte sind unter Berücksichtigung aller Konsequenzen zu prüfen. Es geht um ein Ernstnehmen als Rechtssubjekt, nicht um ein Geben oder Nehmen von zusätzlichen Rechten und Pflichten vor oder neben den Grundrechten des Grundgesetzes. Das Ergebnis von Rechtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit ist gleichfalls bei jedem Menschen gesondert zu würdigen. Die Rechtspraxis selbst nimmt diese Würdigung unter Aufnahme ethisch aretaischer Aspekte in den Menschenwürdebegriff und mit der Methodik des Rechtsstaates auf, wenn sie die Würdigung des Rechtssubjektes mit der Eigenverantwortlichkeit des Menschen, dem Schuldprinzip als Grundlage des Strafrechts überhaupt aus Art. 1 und Art. 20 III GG herleitet.472 Die unwiderlegliche und logisch unleugbare Würdegrundannahme des Menschen als potentiell freiverantwortliches Wesen erlaubt, den Einzelnen in die Pflicht zu nehmen, als notwendige Entsprechung zur Anerkennung der Rechte der Anderen. Die Anerkennung als Subjekt von Rechten und Pflichten als Idee des Rechtstaats.473 Wenn die grundlegenden Menschenrechte des Einzelnen betroffen sind und sich das Bild von Demütigung, Erniedrigung und Ohnmacht, des Entzugs jeglicher Einflussmöglichkeit und des Absprechens von Verantwortlichkeit gegenüber dem einzelnen Menschen ergibt, dann ist dies ein starkes Indiz für die Antastung seiner Würde und damit der logischen Verneinung der obersten Rechtsgrundlage für alle Würdeträger im Rechtsstaat. Wo also diese Würdeantastung geschieht, herrscht kein Recht mehr. Dort ist die Würdeverletzung zu unterbinden und wieder Recht durch Prüfung aller durch sie garantierten Rechte und Pflichten walten zu lassen. Würde ist das ethische Axiom des Rechts; größtmögliche Sicherheit in größtmöglicher Freiheit474 die faktische Grundbedingung der Rechtsstaatlichkeit. Die Erfüllung der objektiven Schutzpflicht ist erstes empirisches Kriterium von Staatlichkeit und letztlich des Staates erste Legitimationsbasis.475 die Kurzformel bei Teifke, S. 168. Urteil vom 19.  März 2013  – 2 BvR 2628/10, Abs.-Nr. 53, m. w. N. 473  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 502. 474  Zur modernen, paradigmatischen Debatte über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit statt vieler: Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, S. 137–182; Brugger, Freiheit und Sicherheit; Mackenroth, Der Rechtsstaat in der Zwickmühle? – Zur Balance von Freiheit und Sicherheit; Mager, Terrorismusbekämpfung zwischen Freiheit und Sicherheit. 475  Grundlegend: Hobbes, Leviathan; für die Bundesrepublik des Grundgesetzes am pointiertesten: Isensee, Grundrecht auf Sicherheit; für das Polizeirecht als staatsphilosophische Grundlage und Verfassungspflicht an den Anfang stellend: Dietlein/ 471  Vgl.

472  BVerfG,



E. Integration der Ansätze zum Prinzip der Menschenwürde 145

Die Achtungs- und Schutzfunktion des Staates sind oberste Prämissen seiner Verfassung, auf deren Boden weitere Ansprüche erst gedeihen können. Ein Staat ohne sichere Verfasstheit und die Fähigkeit, Sicherheit, Achtung und Schutz zu gewährleisten durch das Macht- und Gewaltmonopol, ist auch kein Staat, keine gesellschaftliche Verfassung, in der man Grund zu Abwehransprüchen vor einem starken Staat haben kann. Ein Staat ohne die Fähigkeit, Schutz in Form von Sicherheit, Freiheit und Frieden zu gewährleisten, steht sehr im Verdacht, auch keine andere Leistung und Mitwirkung gemäß den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten ausreichend gewähren zu können, was eine sichere Grundlage für Misstrauen, Angst, Ablehnung aus dem Volk und zuletzt Abwehr und Abkehr hieße. Der Topos des Rechtsstaatsprinzips schlechthin ist: Vertrauen. Insofern muss der Staat nicht nur Vertrauensschutz gewähren, sondern sein Bürger auch Schutzvertrauen haben. Gewisse Abkehrtendenzen sind in sich autark gerierenden Formen von Privatisierung der öffentlichen Sicherheit und von parallel am Rechtsstaat vorbeiagierenden Gruppen der pluralistischen Gesellschaft zu beobachten.476 An der Wiege der Grundrechte stand der Schrecken der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, was deren tendenziell eher abwehrrechtliche Formulierungen nachvollzieh- und historisch-genetisch erklärbar machen, aber das Grundgesetz weist auch direkt zu Beginn in Art. 1 I 2 GG als höchster Verfassungsnorm und immer wieder im Verlauf – vgl. Art. 2 I, 5 II, 9 II, 11 II GG – expressis verbis auf Begrenzungen zur Erfüllung seiner Schutzpflichten hin.477 Nach alledem, der Auffindung der ideengeschichtlichen Gehalte, der Auslegungen nach der Genese, dem Wortlaut, der Systematik und der Teleologie kann Art. 1 GG kein spezielles Grundrecht mit einem eigenen Gewährleistungsgehalt gegenüber den im Grundgesetz nachfolgenden, bewährten Grund- und Menschenrechten haben, wenn er sich nicht in systematischen, selbst-schwächenden Widerspruch zu ihnen setzen will.478 Durch die prinzipielle Zurückhaltung des Art. 1 GG vor den anderen gewichtigen Rechten des Grundgesetzes entfaltet sich in doppelter StoßrichBurgi/Hellermann, Öffentliches Recht in NRW, § 3, Rn. 1 f.; ausführlich: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten; des Weiteren: Robbers, Sicherheit als Menschenrecht; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 84 ff.; verfassungsgerichtlich eindeutig: BVerfGE 39, 1; BVerfGE 49, 24, 56 f. 476  Vgl. Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 398, 402. 477  Ebenfalls diese grammatikalische und systematische Argumentation heranziehend: Dietlein/Burgi/Hellerman, Öffentliches Recht in NRW, § 3, Rn. 3. 478  Luzider Hinweis auf Widersprüchlichkeit aller Auffassungen, die Unantastbarkeit als Unwägbarkeit verstehen wollen bei: Kloepfer, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 136 f., § 55, Rn. 89–92.

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4. Teil: Auslegung des grundgesetzlichen Menschenwürdeartikels

tung seine eigentliche Kraft: Einmal als gesetztes Axiom des Rechts, zugleich als Sinnausrichtung für die Auslegung und Realisierung aller anderen Rechte. Dabei entfaltet die Menschenwürdenorm Gehalte von Freiheit, Individualität, Verantwortung, Vermutung für ein jederzeitiges Potential des Menschen zum Guten im Wissen um seine Fähigkeit zum Schlechten, mit der logischen Garantie jederzeitiger Rechtssubjektivität für den Menschen. Diese Gehalte finden sich als von der Rechtspraxis sogenannter Menschenwürdegehalt in den der grundgesetzlichen Menschenwürde nachfolgenden Grundrechten. Das Demütigungs- und Erniedrigungsparadigma ist schon intuitiv eines der stärksten Motive zur Versinnbildlichung von würderelevanten Modalitäten der Rechtsverletzung. Die Idee der Menschenwürde ist nicht so sehr Grundrecht, sondern eher Grundethik für das Recht. Durch Art. 1 GG ist Achtung und Schutz der Menschenwürde rechtliche Verpflichtung, schlicht nicht mehr und schlechthin nicht weniger. Daran sollte man mit aller logisch-vernünftiger Überzeugungskraft festhalten, darüber darf man sich keine Illusionen machen, dass die rechtlich-ethische Bewertung innerhalb des ganzen übrigen Rechtsumfeldes noch immer zu erfolgen hat. Doch auszugehen hat sie stets von der Menschenwürdenorm und muss auf sie zurückführbar sein.

5. Teil

Rechtlich-ethische Entscheidungen von Fällen der polizeilichen Praxis A. Zur Auswahl der polizeipraktischen Fälle mit Menschenwürderelevanz Gerade im von hoher Entscheidungsfrequenz geprägten sicherheitspolizeilichen Bereich sind Praxisfälle der Lackmustest für die auf Entscheidungen ausgerichteten rechtlich-ethischen Wissenschaften. In den meisten Fällen polizeilicher Praxis müssen gemäß der beim systematischen Auslegungsansatz dogmatisch freigelegten und schon in der Ideengeschichte vorfindlichen dualen Regel- und Prinzipienstruktur der Menschenwürde die Sachverhaltsmerkmale nicht mehr extra auf allen Ebenen durchdekliniert und der Menschenwürde subsumiert werden. Das wäre auch sowohl für die Entscheider wegen des dann auftretenden Phänomens einer Paralyse durch Überanalyse als auch für den Rechtswert der Menschenwürde kontraproduktiv: In der Grundrechtslehre ist der allgemeine Hinweis zumindest ohne konkrete Entscheidungssituation anerkannt, dass eine Überforderung und Überdehnung der Menschenwürde sie zu „kleiner, billiger Münze“ verkommen lasse.479 Anderserseits gibt es wenige polizeipraktische Fallgruppen, die einer Entscheidung gerade aufgrund und durch die Menschenwürde harren; doch eine Entscheidung der wenigen vorhandenen steht an; sie können nicht mehr ignoriert oder aus den rechtlich-ethischen Entscheidungssystemen exkludiert werden.480 Die Kriterien, nach denen gerade die hier zu besprechenden Fallgruppen auf der Agenda des polizeipraktischen Bereiches ste479  Bezüglich der Menschenwürdenorm: Maunz/Dürig, Grundgesetz (1958), Art. 1, Rn. 29; so für die Grundrechte schon generell: Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Staatsrecht II – Grundrechte, Rn. 241. 480  Vgl. Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, S. 61, zur konkreten Diskussion anlässlich des Frankfurter Entführungsfalls: „Des Rechtsstaats unwürdig wäre es, die rettende Tat zwar als moralisch legitim gutzuheißen und zugleich als verfassungsrechtlich unzulässig zu verwerfen, sich das gute Gewissen des absoluten Folterverbots zu erhalten in der Erwartung, daß sich im Ernstfall schon jemand finden werde, der es unterlaufe. Befürworter einer solchen Nicht-Lösung attestieren dem illegalen Retter Tragik. Doch es wäre eine durch den Rechtsinterpreten inszenierte Tragik, deren Sinn es wäre, diesem, wie immer die Sache ausginge, die Möglichkeit zu erhalten, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen.“

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

hen und nicht etwa andere, sind die der Zentralität des Menschenwürde­ arguments, der Aktualität respektive der Permanenz der Falldiskussionen, der Intensität der Menschenwürderelevanz, der Öffentlichkeit der Menschenwürdediskurse, des Entscheidungsbedarfs aus rechtsethischer und polizeipraktischer Perspektive und der Exemplarität der Fallgruppen zur ­ Menschenwürdethematik sowie für den sicherheitspolizeilichen Bereich. Für die umfassend exemplarische Erfassung des Menschenwürdebegriffs erscheint es geboten, Fallkonstellationen als Besprechungsgegenstand gewählt zu haben, die sowohl einen äußerlich körperlichen Verstoß gegen das Menschenwürdeprinzip darstellen können als auch auf geistiger Ebene die Menschenwürde tangieren. Wenn beide Fallgruppen, gleichsam eine verkörperte und eine vergeistigte, mit dem in dieser Untersuchung gewonnen generellen Menschenwürdeverständnis verarbeitet werden können, ist dieser Menschenwürdebegriff im Wege des dann vollendeten deduktiv-induktiven Gegenstromverfahrens im Sinne des zu dieser Arbeit vertretenen Wahrheitsbegriffes plausibilisiert. So sind denn die hier gemeinsam exemplarisch zu verhandelnden Fälle die von staatlich veranlasster Lüge in Gestalt von Vertrauenspersonen, Lockspitzeln, Verdeckten Ermittlern sowie Fallgruppen von lebensrettender Aussageerzwingung und als Vergleich herangezogen der lebensrettende Luftfahrzeugabschuss oder die Erpressung durch Geiselnahme, Dreieckskonstellationen mit Staat-Störer-Opfer, in denen Würdekollisionen innerhalb der gesamten verfassungsmäßigen Ordnung zu entscheiden sein können. Aufgrund der nun fallbezogen erfolgenden Verarbeitung des Menschenwürdeverständnisses innerhalb der gesamten verfassungsmäßigen Ordnung mitsamt einfachem Recht wird sich die Fallsubsumtion nicht in Redundanzen alles schon bisher Festgestelltem ergehen, sondern nur mit immer wieder vorkommenden Anklängen an die gewonnen Erkenntnisse und diese punktuell zusammenfassenden Wendungen. Eher wird an jeweils geforderter Stelle die Menschenwürdethematik durch die fallpraktischen Ergebnisse weitergeführt. Dabei soll auch gezeigt werden, wie bei hohem Wahrheitsgehalt durch einen erhöhten Plausibilitätsgrad qua Integration der in dieser Arbeit aufbereiteten und gewonnen Erkenntnisse zugleich rechtspraktischen Erfordernissen der Fallbearbeitung genüge getan werden kann, indem entlang den Argumenten und Topoi der Rechtsprechungspraxis und herrschenden Literaturmeinungen gearbeitet wird, diese also möglichst weiter verarbeitet werden können.



B. Menschenwürderelevante Entscheidungssituationen149

B. Beschreibung der menschenwürderelevanten Entscheidungssituationen Der lebensrettenden Aussageerzwingung, also der staatlich-polizeilichen Anwendung oder Androhung von unmittelbarem Zwang zur Durchsetzung einer Aussagepflicht, um Menschenleben zu retten, – oft fälschlich präjudizierend unter dem Wertungsbegriff Rettungsfolter firmierend – werden folgende zwei Sachverhalte zugrundegelegt: Erstens sei ein dringend Tatverdächtiger481 einer Entführung festgenommen; das entführte Kind sei wahrscheinlich ohne Aufsicht und Nahrung, also lebens-gefährlich unversorgt; der Tatverdächtige macht trotz aller Umstände, Vernehmungsversuche und Ermittlungen keine oder falsche Aussagen; weitere Aufenthaltsermittlungsansätze fehlen; das Kind würde ohne Aussage des Tatverdächtigen alsbald sterben. Der vorgestellte Fall ist vom 27. September bis zum 01. Oktober 2002 tatsächlich so gelaufen, mit einer Ausnahme: mit Ausnahme des glücklichen Endes: Der 11-jährige Jakob von Metzler wurde in einem Müllsack unter dem Steg eines Waldsees tot aufgefunden. Der Frankfurter Polizeivizepräsident legte in einem Aktenvermerk nieder, dass er den Vernehmungsbeamten angeordnet habe, dem Beschuldigten für den Fall weiterer Auskunftsverweigerung über das Versteck des Entführten anzudrohen, ihm körperliche Schmerzen, keine Verletzungen unter ärztlicher Aufsicht zuzufügen. Zuvor waren alle anderen Mittel erfolglos geblieben: Durchsuchung ganzer Landstriche sowie der Wohnung des Beschuldigten und kriminaltechnische Auswertung, stundenlange Vernehmungen mitsamt Zusammenführung mit der Mutter des Beschuldigten. Trotz allem verweigerte der Beschuldigte ständig die Aussage oder log auf die Frage, wo der entführte Junge war.482 Zweitens sei eine aktivierte Zeitbombe im Stadtgebiet versteckt; bei Explosion würden viele Menschen sterben; ein dringend Tatverdächtiger483 sei festgenommen; der Tatverdächtige macht trotz aller Umstände, Vernehmungsversuche und Ermittlungen keine oder falsche Aussagen; weitere Ermittlungsansätze fehlen; die Bombe würde ohne Aussage des Tatverdächtigen alsbald explodieren. Ein weiteres Entführungsszenario, das so bereits Realfall geworden ist, kann zum Vergleich herangezogen werden: Es sei eine Entführung einer Person des öffentlichen Lebens durch Terroristen. Die Terroristen drohen 481  Vgl.

den Begriff des dringenden Tatverdachts in § 112 I 1 StPO. aus Sicht eines an den Vernehmungen beteiligten Polizisten bei: Ennigkeit, Um Leben und Tod. 483  Vgl. Anm. in Fn. 481. 482  Beschreibung

150

5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

mit der Tötung ihrer Geisel im anderen Fall als dem der Freilassung von in staatlichen Gefängnissen inhaftierten Terroristen.484 Dem lebensrettenden Luftfahrzeugabschuss wird folgende Fallkonstella­ tion zugrundegelegt: Es sei der dringende Tatverdacht, dass mindestens eine Person sich eines Luftfahrzeuges mit Tatunbeteiligten an Bord bemächtigt habe, um es als Waffe in der Art einer einfliegenden Rakete oder durch dessen Absturz gegen Ziele am Boden einzusetzen. Und es sei dadurch die gegenwärtige Gefahr der Lebens- und Leibesgefahr für eine Vielzahl von Menschen am Boden. Dazu sei die Annahme, dass diese gegenwärtige Gefahr nur abgewehrt werden könne durch Abschuss des Luftfahrzeugs mit der dadurch an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit erfolgenden Tötung aller Personen an Bord. Der staatlich veranlassten Lüge werden folgende Fälle zugrundegelegt: Erstens sei in einer Zwangssituation wie der einer Untersuchungshaft ein Verdeckter Ermittler in die Gefängniszelle des Gefangenen und dringend Tatverdächtigen eingeschleust, um eine Aussage zu schwersten Straftaten wie einem lebensgefährdenden Menschenhandel und zum Versteck der gegenwärtig an Leib und Leben gefährdeten Opfer von dem Untersuchungsgefangenen zu erhalten, unter Ausnutzung der besonderen Situation in der Zelle und eines entstehenden Vertrauensverhältnisses. Zweitens sei ein Verdeckter Ermittler in eine Familie eingeschleust, um dort von den Strafverfolgungsbehörden angenommene Strukturen organisierter Schwerstkriminalität – u. a. des lebensgefährdenden Menschenhandels – und die künftige Begehung solcher einzelner Straftaten zu ermitteln, und um Aussagen – also entweder Geständnisse oder ein für die Strafverfolgungsbehörden glaubhaftes Bestreiten von Kriminalität – von Familienmitgliedern zu den Verstecken der gegenwärtig an Leib und Leben gefährdeten Menschenhandelsopfer zu erhalten. Dabei beginnt der Verdeckte Ermittler ein sexuelles Verhältnis mit einem weiblichen Familienmitglied, aus der eine Schwangerschaft für das nichts von der wahren Identität des Verdeckten Ermittlers wissenden Familienmitglied resultiert.485 Während der 484  Dieser

Fall lag BVerfGE 46, 160 (Schleyer) vom 16.10.1977 zugrunde. diese Fallkonstellation ist alles andere als irrealistisch konstruiert, sondern eher ein beispielsweiser Ausschnitt der Lebenswirklichkeit, wie nur die sog. Romeo- oder Venus-Fälle insbesondere bei Inlands- und Auslandsgeheimdiensten belegen, bekanntgeworden vor allem aus Staaten des früheren Ostblocks, und wie der in der jüngeren Geschichte bekanntgewordene Fall der altehrwürdigen, „Scotland Yard“ genannten Metropolitan Police zeigt, bei welchem mehrere undercover officers anlässlich ihres Polizeidienstes mit mehreren Frauen aus infiltrierten Gruppen über etwa ein Vierteljahrhundert unter Verschleierung von wahrer Identität und Motivation sexuelle und von den Frauen jedenfalls teilweise einseitig empfundene Liebesbeziehungen eingingen und unterhielten, die längste davon etwa neun Jahre, 485  Auch



C. Die Subsumtion der Fälle151

Schwangerschaft und der familienseitigen Vorbereitungen einer von dem Verdeckten Ermittler angesonnenen Straftatbegehung erhält die polizeiliche Führung Kenntnis von dem sexuellen Verhältnis und der Schwangerschaft. Eine Ermittlung des Aufenthaltsortes der Menschenhandelsopfer erscheint nur möglich bei Beibehaltung der Legende des Verdeckten Ermittlers. Bei Nichtbeibehaltung der Legende des Verdeckten Ermittlers ist von einer künftigen Entziehung der Familie von jeglichem staatlichen Zugriff auszugehen. In den hier angenommenen Entführungs- und Zeitbombenfällen sowie den schweren Menschenhandelsfällen wurden alle denkbaren Aufenthaltsoder Versteckermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, und ihre Wiederholung oder Variation durchgeführt oder mit negativem Ergebnis geprüft. In den zugrundegelegten Renegade-Fällen wurden alle Abdräng-, Warn- oder Verhandlungsmöglichkeiten geprüft und ihre Wiederholung oder Variation durchgeführt oder mit negativem Ergebnis geprüft. Der zum Vergleich herangezogene Erpressungsfall durch Geiselnahme ist sich wie der vom 05.09.1977–18.10.1977 stattgefundene Realfall der Schleyer-Entführung vorzustellen. Weitere Wiederholungen oder Zuwarten auf den mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließenden, rettenden, glücklichen Zufall kann ab sofort zum Tode der Entführungs- oder Menschenhandelsopfer sowie der potentiellen Opfer in den „ticking-bomb-Szenarien“ oder der tatunbeteiligten Passagiere führen. Zu den fallmöglichen Zeitpunkten kann es keinen Täter im strafrechtlichen-rechtsstaatlichen Sinne geben, weshalb immer begrifflich von einem Tatverdacht – mag er auch noch so groß erscheinen – ausgegangen werden muss. Jede durch die gefahrverursachende Handlung zum Täter werdende Person wird in seiner Eigenschaft als gefahrverursachender Störer gefahrenabwehrrechtlich in Anspruch genommen. Zu den fallmöglichen Zeitpunkten muss mit Wahrscheinlichkeitsbegriffen operiert werden, weil es nie ganze Gewissheit im Entscheidungszeitpunkt geben kann.

C. Die Subsumtion der Fälle Durch eine Zwangsandrohung oder -anwendung gegenüber dem dringend Tatverdächtigen und durch staatlich veranlasste Lügen zur Erlangung von Aussagen sowie durch Mitabschuss der tatunbeteiligten Luftfahrzeugpassiere könnte in Art. 1 I GG eingegriffen werden. Nach Art. 1 I 1 GG ist die Würde wobei es auch zur Kindeszeugung kam und schließlich zum Verlassen ohne Angaben von wahren oder irgendwelchen Gründen, vgl. Home affairs correspondent Casciani BBC-News vom 20.11.2015, bei: http://www.bbc.com/news/uk-34875197.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

des Menschen unantastbar. Würde kennzeichnet den Eigenwert des Menschen schlechthin als Mitgift seines Menschseins.486 Folge ist ein Achtungsund Schutzanspruch gegenüber jedem Menschen für seinen im Menschsein liegenden Eigenwert. Dieser Achtungs- und Schutzanspruch kommt dem Menschen als Person gesellschaftlichen Lebens und äußerlichen Rechtsverkehrs etwa in Form eines Wertschätzungsanspruchs zu, der auch die Darstellungsleistung der eigenen Identitätsbildung ermöglicht.487 Achtungs- und Schutzanspruch bestehen ohne Rücksicht auf des Menschen konkret-reale Eigenschaften oder Leistungen sowie seinen sozialen Status488. Sie können aus den dem Menschen kraft seines Menschseins mitgegebenen Potentialen und der wechselseitigen logischen Abhängigkeit zu den Potentialen der Mitmenschen abgeleitet werden. Somit hat selbst der gewissermaßen menschenverachtende, gemeinschädliche Störer einen aus Art. 1 I 1, 2 GG folgenden Anspruch auf Achtung seines menschlichen Eigenwerts, der grundsätzlich verletzt werden kann – erst Recht natürlich Nichtstörer wie die tatunbeteiligten Personen an Bord des Luftfahrzeugs, die Passagiere. Zur zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde gehören in einem allgemeinen Sinne die potentiellen Menschenwürdebereiche der Identität, Intimität, Integrität, ein Existenzminimum und die Anerkennung als soziales Wesen. Als soziales Wesen ist allerdings jeder Mensch – auch die tatunbeteiligten Passagiere und erst Recht der kriminelle Störer – kein isoliertes, souveränes, selbstherrliches Individuum; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft im Sinne der Ge­meinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden.489 Nach klassischer und als allgemeiner Ansatz rechtspraktisch angewandter, sogenannter Objektformel490 liegt ein Eingriff in die Menschenwürde vor bei prinzipieller, genereller Infragestellung der Subjektqualität, bei einer Behandlung als Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen schon kraft seines Menschseins zukommt.491 Die Objektformel knüpft an das Instrumentalisierungsverbot aus der zweiten Formel des kategorischen Imperativs Immanuel Kants an, der vor aller konkreten Erfahrung mit einem einzelnen Menschen davon ausging, dass das Menschsein selbst einen Wert hat, und dass der Mensch von einem Menschen nicht bloß als Mittel benutzt 486  Nipperdey,

Die Würde des Menschen, S. 1. Grundrechte als Institution, S. 53 ff. 488  BVerfGE 87, 209, 228 („Tanz der Teufel“). 489  BVerfGE 4, 7, 15 (Investitionshilfe); Gedanke des Gesellschaftsvertrags schon bei: Althusius, Politica Methodice Digesta, 1603, 3. Auflage 1614. 490  Wintrich, BayVBl. 3, S. 137 ff.; Dürig, AöR (81) 1956, S. 117, 127; Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar (1958), Art. 1 I, Rn. 28. 491  Vgl. BVerfGE 30, 1, 26 (Abhörurteil); BVerfGE 109, 279, 312 f. (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 487  Luhmann,



C. Die Subsumtion der Fälle153

werden darf, sondern jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden muss und darin seine Würde besteht.492 Dazu hat das Bundesverfassungsgericht den Gewährleistungsgehalt der durch Art. 1 I GG geschützten Menschenwürde bisher zumeist von dem jeweils in Frage stehenden Verletzungsvorgang her von Fall zu Fall bestimmt.493 Dabei hat es hervorgehoben, dass sich nicht generell, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles beurteilen lässt, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann.494 Als Verletzungshandlungen Dritter, vor denen der Staat den Betroffenen gemäß Art. 1 I GG zu schützen hat, wurden beispielhaft genannt die Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung.495 Auch hat das BVerfG nicht nur die Menschenwürde fallbezogen bestimmt, sondern „Berührungen“ von „Verletzungen“ der Menschenwürde abgegrenzt und „Berührungen“ der Menschenwürde einer Abwägung mit anderen Verfassungswerten zugänglich gemacht, wenn es schrieb: „Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass es angesichts des sämtlichen Grundrechten innewohnenden Menschenwürdekerns einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlage und deshalb eine Abwägung ausgeschlossen sei (vgl. BVerfGE 93, 266, 293; 107, 275, 284); ein Berühren der Menschenwürde genügt hierfür nicht, sondern es ist eine sie treffende Verletzung vorausgesetzt“.496 Der Begriff der Menschenwürde ist also situationsbedingt und offen und es lässt sich nicht ein für allemal sagen, sondern immer nur in Ansehung der spezifischen Situation und des konkreten Konfliktfalles bestimmen, ob sie betroffen ist. Zudem lässt das Bundesverfassungsgericht im jüngeren, vorstehenden Zitat erkennen, dass es selbst von einer prinzipiellen Rangstellung mit regelhafter, rechts-systematischer Reservefunktion der grundgesetzlichen Menschenwürde ausgeht. Zur weiteren Auffindung von Würdeverletzungen werden teilweise Fallgruppen gebildet497, bei denen oft eine Verletzung der physischen oder psy492  Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten – Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 38; dass der Mensch „immer Zweck an sich selbst bleiben“ müsse wurde übernommen etwa von: BVerfGE 45, 187, 228 (Lebenslange Freiheitsstrafe). 493  Vgl. BVerfGE 109, 279, 311 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“), m. w. N. 494  Vgl. BVerfGE 30, 1, 25 (Abhörurteil); 109, 279, 311 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“); 115, 118, 153 (Luftsicherheitsgesetz). 495  Vgl. BVerfGE 1, 97, 104 (Hinterbliebenenrente I). 496  BVerfG, NJW 2009, 3089, Rz. 21 (Werbung mit Holocaust-Vergleich). Nach BVerfG 2 BvL 1/15 „berührt“ Strafe den Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen. 497  Zu den Fallgruppen: Dreier, GG I, Art. 1, Rn. 138 ff.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

chischen, seelischen Integrität durch „Folter“ genannt wird498. Die Zwangsandrohung oder -anwendung zur Erlangung von Aussagen, um Menschenleben zu retten, könnte unter die Fallgruppe der Folter fallen. Auch könnte die Zwangsausnutzung des Gefängnisaufenthalts bei der Einschleusung eines Verdeckten Ermittlers, oder die Ausnutzung des Familienmitglieds und dessen emotionale Bindung und Schwängerung unter einer Legende, um schwerste Straftaten aufzuklären, eine Art psychischer Gewalt sein, die zumindest durch das nachträgliche Erkennen der Lügen auch physische Belastungsreaktionen mit echtem körperlichen Krankheitswert zeitigen kann. Jedoch ist eine schablonenhafte Fallgruppenzuordnung zur rechtsnormund fallunabhängigen Feststellung der Verletzung der Würde schon insofern zweifelhaft, weil es auch zahlreiche andere Fälle gibt, in denen jemand durch Zwangsanwendung zum Objekt staatlichen Handelns wird, wie Blutentnahmen, Einsperrungen, Fesselungen, körperliche Untersuchungen, Vorführungen zur Vernehmung, die aber, weil gerechtfertigt, nach einhelliger Meinung auch keine Menschenwürdeverletzung darstellen.499 Es stehen im Gesetz sogar staatliche Zwangsmittel zur Bewirkung einer aktiven Aussagehandlung wie bei der Zwangshaft des § 390 II ZPO. Eindringlichstes Beispiel für auf die Aktivität eines Menschen abzielende Zwangshandlungen des Staates ist das des lebensrettenden Todesschusses, der – als finaler Rettungsschuss euphemisiert –, obwohl dort der Mensch vom Staat getötet und gleichsam vollkommen zum Leichnam verdinglicht wird, nach nicht überzeugender Lesart einer offiziell weitverbreiteten Meinung generell keine Würdeverletzung sein kann. Das wäre zusammen mit der h. M. vom Menschenwürdegehalt als unantastbarem Kernbereich eigentlich unhaltbar unter der gefestigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungsprämisse, dass das Leben Menschenwürdegehalt hat, denn eine Tötung löscht denk­ logisch jeden Gehalt angeblich unwägbarer Menschenwürde aus. Daraus kann gefolgert werden, dass alle naturalen Handlungen nicht isoliert betrachtet und per se, sondern nur rechtsnormgebunden als Menschenwürdeverletzung angesehen werden können500. Das deckt sich mit der ­epistemologisch bedeutsamen, schon in der Scholastik gebräuchlichen Unter-scheidung von zwischen dem natürlichen, der reinen äußerlichen Erscheinung nach beschreibbaren Genus und dem moralischen, von einer Bewertung abhängigen Genus einer Handlung: Entscheidend für Recht und Ethik ist erst die Bewertung, die wiederum von der Frage geleitet wird, ob ein Recht oder eine Pflicht verletzt wurde.501 498  Schon

Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (1958), Art. 1 I, Rn. 30. JZ 2005, S. 321 ff. 500  Herzberg, JZ 2005, S. 321. 501  Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 284. 499  Herzberg,



C. Die Subsumtion der Fälle155

Aus der ethisch-rechtlichen Bewertungsabhängigkeit von natürlich vorkommenden Verhaltensweisen folgt, dass es nicht vertretbar ist, ohne Ansehung des konkreten Falles für die Falllösung rein topisch von einem einzigen locus communis als Prämisse auszugehen und schon aus dieser Prämisse in der Art einer petitio principii die mit ihr identische Conclusio für den konkreten Fall quasizirkulär ziehen. Geht man beispielsweise von einem „Foltertabu“ oder „absoluten Folterverbot“ wegen einer immer darin liegenden Menschenwürdeverletzung aus, kann man nicht mehr tun, als zur Bewahrung der prämissenidentischen, gleich zwei Bewertungen von Handlungen als „Folter“ und „Menschenwürdeverletzung“ enthaltenen Konklusion iterativ auf das Folterverbot hinzuweisen und ungeachtet neuer Fallcharakteristika jeden Hinweis auf andere Fallelemente, Rechte und Pflichten, abzulehnen. Eine methodisch umfassende Abwägung findet gleichfalls nicht statt – kann gar nicht stattfinden – wenn zwar alle Beteiligten sub specie des Topos der Menschenwürde abgehandelt werden, aber bei einer der beteiligten Personen wegen der angeblichen Unwägbarkeit der Menschenwürde die Fallbearbeitung vor einer Abwägung mit dem anderen, gleichfalls, vielleicht mindestens gleichwertig Betroffenen stoppt.502 Generell wird in der einfachrechtlichen Bewertung die Zwangsandrohung oder -anwendung bereits als nach § 32 StGB strafrechtlich gerechtfertigt angesehen.503 Die Strafrechtsvorschriften erfüllen zwar nicht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine öffentlich-rechtliche Rechtsgrundlage, können aber auch den Amtsträger wie jeden Bürger derart rechtfertigen, dass sie seine Handlung als nicht rechtswidrig bewerten.504 Diese Bewertung muss nicht zuletzt unter dem Aspekt der mutatis mutandis vorliegenden oder doch anzustrebenden rechtsethischen Einheit der Rechtsordnung in eine Gesamtwürdigung des Falles Eingang finden. Zu der rechtlichen Situation von zuerst betroffener Würde der Opfer schwerster Straftaten gegen eine vielleicht betroffene Täterwürde – gewissermaßen von völliger Unschuld gegen sie missbrauchende aggressive Kriminalität – gilt allgemein: Das Grundgesetz verwehrt dem Staat nicht schlechthin, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter auf Kosten anderer Verfassungsgüter zu bewahren. Eine Abwägung ist verfassungsrechtlich 502  Beispiele für die nichtssagenden, selbstreferentiellen Aussagen in der Debatte anlässlich des Frankfurter Entführungsfalls bei: Herbst, Lebensrettende Aussageerzwingung, S.  20–22, m. w. N. 503  Dig. 43, 15, 1: „vim vi repellere vicet“ – sinngemäßes Rechtsbewährungsprinzip der Notwehr heute: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. 504  So auch BGH, NJW 1958, 1405 f. (Waffengebrauch durch hessische Polizeibeamte in Notwehr); BGHSt 27, 260, zu § 148 StPO: aus dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 34 StGB sei auf dessen Anwendbarkeit auch da zu schließen, wo eine Erlaubnisnorm für hoheitliche Eingriffe nicht gegeben ist.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

unausweichlich, da sonst nicht auf Entscheidungen erkannt werden kann, welche die staatlichen Organe in den Stand versetzen, die ihnen nach dem Grundgesetz und der verfassungsmäßigen Ordnung obliegenden Aufgaben sachgerecht wahrnehmen zu können. Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG davon auszugehen, dass die verfassungsmäßige Ordnung ein Sinnganzes bildet, ein Widerstreit zwischen verfassungsrechtlich geschützten Belangen mithin nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen ist.505 In diesem Rahmen können auch regelmäßig als uneinschränkbare vermutete Grundrechte prinzipiell Begrenzungen erfahren506, denn schlechthin schrankenlose Rechte kann eine wertgebundene Ordnung nicht anerkennen.507 Selbst die von ihrem Wortlaut „unverletzlich“ eigentlich noch mehr als Art. 1 GG abwägungsfesteren508 Grundrechte etwa der Art. 4, 10, 13 GG, die Menschenwürdegehalt aufweisen509, sind ohne verfassungsgerichtliche Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 19 II GG vielfach eingeschränkt worden. Beispielsweise ist die Menschenwürde selbst bei langandauernder Sicherungsverwahrung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist.510 Hier wie sooft auch andernorts gebraucht das BVerfG eine klassische, abwägende Verhältnismäßigkeitsterminologie.511 Das Problem wird schlagartig systematisch entschärft, wenn man zwischen heuristischer Rechtsfindung durch Abwägung der Interessen, Güter, Umstände und substantieller Essenz der klar abgrenzbaren Rechte und Pflichten differenziert und die prinzipielle Funktion der grundgesetzlichen Menschenwürde als Axiom und Auslegungsprinzip bei der Rechtsfindung dogmatisch anerkennt. 505  BVerfGE 49, 24 (Kontaktsperregesetz); 28, 243, 261 (Dienstpflichtverweigerung); 30, 1, 19 (Abhörurteil); 30, 173, 193 (Mephisto); 34, 269, 287 (Soraya); 35, 202, 225 (Lebach). 506  BVerfGE 28, 243, 261 (Dienstpflichtverweigerung); 30, 173, 193 (Mephisto). 507  BVerfGE 49, 24 (Kontaktsperregesetz); BVerwGE 49, 202, 209 (Umfang und Grenzen des Asylrechts). 508  Den mehr für eine Abwägung sprechenden Wortlautvergleich von Art. 1 GG anderen im Wortlaut vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten führt an: Wagenländer, Zum strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, S. 159 f. 509  BVerfGE 109, 279 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 510  BVerfGE 109, 133 (Langfristige Sicherheitsverwahrung). 511  Lüderssen, FS Rudolphi, S. 702 f. ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass selbst bei der Menschenwürde auch laufend verkappte Abwägungen stattfinden, z. B. über ihre Definition oder bei der Frage, ob der Schutzbereich eröffnet sei. Es sei geradezu die große Lebenslüge des Verfassungsrechts, dass es die Menschenwürde aus jedem Abwägungsprozess heraushalte; Herzberg, JZ 2005, S. 321, hält das Gerede von der Abwägungsfestigkeit für bloßen „Verbalismus“.



C. Die Subsumtion der Fälle157

Selbst wenn man aber unabhängig von einer schematischen Fallgruppenzuordnung entgegen der Logik die tabuartig-grundrechtliche Vorrangigkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Fall und die Betroffenheit der Menschenwürde in speziell-grundrechtlicher Lesart des Tatverdächtigen oder Täters auch im konkreten Fall trotz dessen primärer Verursachung der Opferwürdeverletzung annehmen würde, steht dann die zuerst durch den Täter verletzte Opferwürde gegen die vielleicht durch die Zwangsandrohung, -anwendung oder -ausnutzung betroffene Täterwürde. Bei einer im unausweichlichen Konfliktfall notwendig werdenden Entscheidung zwischen miteinander unvereinbar scheinenden, Gerechtigkeitsgeboten, können die scheinbar unversöhnlich absolut gegeneinander stehenden Gebote einer gerechten heuristischen Abwägung und Entscheidung nicht gänzlich entzogen werden.512 Nach alledem könnte die Frage, ob die Menschenwürde des Tatverdächtigen nur berührt oder gar nicht betroffen ist oder im Rahmen einer norminternen513 oder internormativen Wertung zurücktritt, in den zugrundegelegten Extremfällen dahinstehen, wenn jedenfalls die Rechte und die Würde des Opfers bei der Frage nach dem staatlichen Handlungsauftrag grundsätzlich als so vorrangig zu werten wären, dass im Rahmen der Grundrechtsrelevanz eine Inanspruchnahme des Tatverdächtigen nicht von vornherein unzulässig sein muss. So muss im Folgenden über eine tatverdächtigenfokussierte Interpretation ausschließlich des Art. 1 I 1 GG hinaus das ganze Recht der eine Sinneinheit bildenden Verfassung näher beleuchtet werden. I. Zur Menschenwürde in Dreieckskonstellationen In den spezifischen Situationen von Entführungs- und Zeitbombenszenarien oder den hier geschilderten anlässlich andauernden schweren Menschenhandels gerät der Tatverdächtige dadurch in den Fokus des Staates, dass er dabei betroffen wird, wie er den Opfern selbstherrlich zur Verfolgung verbrecherischer Zwecke die Freiheit auf erniedrigende Weise entzieht respektive wie er die Opfer dem Tod aussetzt, sodass für Leib und Leben der Opfer gegenwärtige erhebliche Gefahr besteht. In den spezifischen Situationen der vergleichsweise herangezogenen Renegade-Fälle geraten die 512  Horn, Einführung in Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 420e, anlässlich von extremen Entführungsfällen wie den hier vorausgesetzten. 513  Vgl. Herdegen, in Maunz/Dürig, GG-Kommentar zu Art. 1, Rn. 43 ff., der dort allgemein spricht von: normimmanenter Konkretisierung, Würdekern und peripherem, abwägungsoffenem/geprägtem Schutzbereich, und von einer bilanzierenden Würdigung des Eingriffs nach Modalität und Finalität und der eine internormative Abwägung zwischen Art. 1 und 2 GG ablehnt.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

tatunbeteiligten Passagiere notwendig mit ins Visier des Staates, weil sie von den Störern zur Verfolgung verbrecherischer Zwecke an Bord gefangen gehalten werden und während der Bordgemeinschaft als Gefahrengemeinschaft das Schicksal der Störer teilen. Damit ist zunächst ganz manifest das menschliche Leben der Opfer durch die Störer akut bedroht. Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar. Demgemäß folgt aus Art. 2 II 1 GG i. V. m. Art. 1 I 2 GG die umfassende, im Hinblick auf den Wert des Lebens besonders ernst zu nehmende Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, es vor allem vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.514 Das Leben selbst hat Menschenwürdegehalt.515 Leben ist zwar nicht conditio per quam, aber conditio sine qua non der Menschenwürde.516 Die damit berechtigte Frage, ob nicht das menschliche Leben als vitale Basis der Menschenwürde517 dieser faktisch-logisch vorgeschaltet und damit vorrangiges Recht, weil ohnehin Voraussetzung für sämtliche Grundrechte518, soll hier angesprochen werden, kann aber für die Auflösung der konkreten Würdeproblematik zunächst dahinstehen. In den Renegade-Fällen ist – analog zu den Fällen des gezielten polizeilichen Todesschusses – bei einem Abschuss ausschließlich der Störer ohne Mittötung anderer die Menschenwürde der Störer nicht in intensiver rechtswissenschaftlicher Diskussion. Fraglich bleiben die Entführung- und Zeitbombenfälle sowie die schweren Menschenhandelsfälle, in denen der Störer als Täter die Opfer für seine verbrecherischen Zwecke instrumentalisiert und entsprechend seiner Verantwortung als einziger Verursacher als ultima ratio in Anspruch genommen werden könnte. Da die Menschenwürde höchster, absoluter und in der gesamten Verfassungsordnung unmittelbar geltender Wert ist, könnte eine Gesamtschau der Dreieckssituation StörerStaat-Opfer ergeben, dass die Menschenwürde des Opfers schon durch den Täter verletzt und die Verletzung der Würde des Täters fraglich sein kann. In den Renegade-Fällen würde ein Mitabschuss der tatunbeteiligten Passagiere deren Leben und Sterben als Mittel zum Zweck der Gefahrenabwehr behandeln. Sähe man darin einen Grundrechtseingriff in die Menschenwürde und einen Eingriff zugleich immer als deren verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung an, verböte Art. 1 I 1 GG dem Staat aus514  BVerfGE 49, 24 (Kontaktsperregesetz); BVerfGE 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I); BVerfGE 46, 160, 164 (Schleyer). 515  Vgl. BVerfGE 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch I); BVerfGE 88, 203 (Schwangerschaftsabbruch II); BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz). 516  Vgl. Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. I 1, Rn. 69. 517  So BVerfGE 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I). 518  So auch: Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 27.



C. Die Subsumtion der Fälle159

nahmslos den Abschuss von Luftfahrzeugen mit tatunbeteiligten Personen an Bord. Ein Verzicht der tatunbeteiligten Passagiere auf die Abwehr des ihre Menschenwürde betreffenden staatlichen Verhaltens kann – wie bei der Rechtsfigur des Grundrechtsverzichts allgemein – nicht ohne weitere und in aller Regel von Realfällen fehlende Anhaltspunkte unterstellt werden. Für eine Verhinderung des Einstellens staatlicher Gefahrenabwehr und für eine weitere Prüfung staatlicher Verhaltensoptionen blieben folgende Alternativlösungen übrig: Erstens, dass die Menschenwürde kein Grundrecht, sondern nur verfassungsrechtlicher Leitsatz oder Wertentscheidung sei und dementsprechend eine Grundrechtsprüfung wegen Nichtmöglichkeit eines Eingriffs in sie entfiele, sodass ein Fall nach bewährter Dogmatik der dem Menschenwürdesatz nachfolgenden Grundrechte zu lösen sei. Zweitens, dass die Menschenwürde auch nach einem möglichen Eingriff in sie mit anderen Rechten wägbar sei. Dass der Menschenwürdesatz gebietet, ein Luftfahrzeug beispielsweise in ein „vollbesetztes Stadion oder eine Schule rasen zu lassen, weil Geiseln an Bord sind“, wird in der Literatur schon wieder als „mehr als fraglich“ angesehen. Und an gleicher Stelle wird es sodann bei der Hoffnung belassen, dass es nie einen Fall gibt, in dem sich erweist, ob das die Prüfung wegen der Menschenwürdeverletzung für beendet befundene BVerfG mit seiner Judikatur Recht hat.519 In den Entführungs- und Zeitbombenfällen würde eine direkt an den Störer gerichtete Aussageerzwingung ihn unmittelbar zum Zweck der Gefahrenabwehr zur Aussage zwingen bzw. ihn in den schweren Menschenhandelsfällen zu Aussagen verleiten. Sähe man darin einen Eingriff in die Menschenwürde und einen Eingriff zugleich immer als deren verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung an, verböte Art. 1 I 1 GG dem Staat ausnahmslos eine Aussageerzwingung oder Aussageverleitung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Personenkonstellationen bestehen wie folgt: Im Renegade-Fall sind die Opfer an Bord mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Gewalt der Störer und die Opfer am Boden der Gewalt der Störer alsbald ausgesetzt, sodass es die Störer in der Hand haben, die bestehende Zwangssituation ihrer Opfer aufzuheben bzw. nicht eintreten zu lassen. In den Entführungs- und Zeitbombenfällen und in den Fällen des schweren Menschenhandels sind die Opfer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Gewalt der Störer. Der entscheidende Unterschied ist, dass im Renegade-Fall die Opfer an Bord als Unbeteiligte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit staatlicherseits zur Gefahrenabwehr für unbeteiligte Dritte am Boden getötet werden müssten, und in den Entführungs- und Zeitbombenfällen sowie in den Fällen schweren Menschenhandels niemand staatlicherseits getötet werden müsste, sondern 519  Hufen,

Staatsrecht II – Grundrechte, § 10, Rn. 62.

160

5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

nur der Störer ohne Drittbeteiligung angegangen würde, um eines oder mehrere Menschenleben zu retten. Folglich besteht in den Renegade-Fällen gar keine unmittelbare Dreiecksbeziehung, sondern nur eine über Tatunbeteiligte vermittelte, also nach deskriptiv genauerer Zählweise eine Vierecksbeziehung, quasi eine Dreiecksbeziehung über ein zusätzliches Eck. In den Luftsicherheitsfällen und den terroristischen Freipressungsentführungen ginge staatliches Handeln immer auch über den Störer hinaus zu Lasten Dritter: der tatunbeteiligten Personen und der Bevölkerung. Eine weitere Dreieckskonstellation kann zur Vergleichbarkeit herangezogen werden: die des Schwangerschaftsabbruchs. Beim Schwangerschaftsabbruch bricht der Arzt das jedenfalls schon einmal aufgrund Art. 2 II 1 GG zu schützende, werdende Leben des noch nicht geborenen Kindes ab. Dies wurde früher bei bestimmten medizinischen Indikationen schon ohne ausdrückliche strafrechtliche Erlaubnis mittels der Regeln über die rechtfertigende Pflichtenkollision straffrei gestellt. Im Ergebnis wird bei jedem Schwangerschaftsabbruch und meistens mit strafrechtlichem Plazet das Leben des unschuldigen, noch nicht geborenen Kindes für andere Interessen geopfert bei gleichzeitig anhaltenden Diskussionen um die Menschenwürderelevanz ab der Existenz von Stammzellen. Ein Vergleich mit den Entführungs- und Zeitbombenfällen sowie den schweren Menschenhandelsfällen, wo in die Rechtssphäre des Störers durch Androhung oder Anwendung oder Ausnutzung von Zwang zur Rettung unschuldigen Lebens eingegriffen wird, erbringt einen gewissen Widerspruch, was nicht ohne Folge für die Bearbeitung der einzelnen Fälle bleiben sollte. II. Gesetzliches Rechtsfeld der Entführungs- und Zeitbombenfälle sowie der schweren Menschenhandelsfälle 1. Körperlicher Zwang Das aus (Art. 2 I GG i. V. m.) Art. 1 I GG hergeleitete520 und einfachgesetzlich in § 136 I 2 StPO normierte Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit521, nach dem niemand verpflichtet ist, sich selbst anzuklagen und gegen sich selbst Zeugnis abzulegen – in einem allgemeineren Sinne: aktiv an der ei520  BVerfGE 38, 105, 114  f.; BVerfGE 55, 144, 150; BVerfGE 56, 37, 43; BVerfGK, NJW 1993 3315; BGHSt 14, 358, 364; BGHSt 38, 214, 220 f.; Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz  – Kommentar, S. 15, Rn. 37. 521  Nemo-tenetur-Prinzip, nach den lateinischen Rechtssätzen: Nemo tenetur se ipsum accusare und nemo tenetur se ipsum prodere; dazu: Bosch, Aspekte des nemotenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, S. 39 ff.



C. Die Subsumtion der Fälle161

genen Überführung mitzuwirken – gilt als einfachgesetzliche Schranke nur im Strafverfahren, nicht im Bereich der Gefahrenabwehr, und bei verwaltungsrechtlicher Vollstreckung der Aussagepflicht geht es ausschließlich um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben. Die Einhaltung des nemotenetur-Prinzips und die dadurch bewirkte Beachtung des Art. 2 I GG kann für die Entführungs- und Zeitbombenfälle durch ein striktes Beweisverwertungsverbot für das Strafverfahren gewährleistet werden. Ein Vorgesetzter, welcher seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt verleitet, kann sich nach § 357 StGB strafbar machen und die für diese rechtswidrige Tat angedrohte Strafe wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat verwirkt haben. Nach § 13 I StGB macht sich jemand auch wegen Unterlassens strafbar, wenn er es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Polizisten, die mit Zwangsandrohung oder -anwendung eine Auskunft verlangen, können sich gemäß § 343 I Nr. 1 StGB wegen Aussageerpressung strafbar machen. Denn in § 343 I Nr. 1 StGB heißt es unter anderem, dass bestraft wird, wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren, berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht, oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären. Aber in den hier einschlägigen Fällen geht es der Polizei regelmäßig und im Frankfurter Entführungsfall ging es dem Polizeivizepräsidenten und seinem Vernehmungsbeamten ausschließlich darum, das Leben des entführten Kindes oder das Leben der vom Menschenhandel akut Gefährdeten zu retten, also um Gefahrenabwehr. Insofern zielt die Absicht der Polizei nicht auf eine Aussage in dem Strafverfahren – im Ergebnis kann also keine Strafbarkeit wegen Aussageerpressung stehen. Polizisten, die mit Zwangsandrohung eine Auskunft verlangen, können sich gemäß § 240 StGB wegen Nötigung strafbar machen. Nach § 240 IV 2 Nr. 3 StGB liegt ein besonders schwerer Fall in der Regel vor, wenn der Täter seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht. Die Ankündigung, dem Beschuldigten Schmerzen zuzufügen, ist Drohung mit einem empfindlichen Übel. Die Nötigung ist nach § 240 II StGB nur dann rechtswidrig, wenn Mittel, Zweck oder die Beziehung beider zueinander verwerflich sind. Die Verwerflichkeit ist stets ausgeschlossen, wenn für die Tat ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Rechtfertigungsgründe im Sinne des Strafrechts können die erfüllten Voraussetzungen von öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen sein.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Eine öffentlich-rechtliche Befugnisnorm könnte sich aus den Polizeigesetzen ergeben, hier exemplarisch am Beispiel des PolG NRW dargestellt: § 10 IV PolG NRW, wonach § 136a StPO entsprechend gilt, gilt zumindest einfachgesetzlich-systematisch direkt nur für die Vorladung. Ermächtigung für die Befragung ist § 9 I, II 2 PolG NRW. Entführungstäter und Bombenleger sowie Menschenhändler haben eine echte Hilfeleistungspflicht im Sinne des § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) und eine Garantenstellung im Sinne des § 13 I StGB aus vorangegangenem rechtswidrigem Tun. Nach § 50 I PolG NRW kann der Verwaltungsakt – hier die Anordnung zur Aussage –, der auf die Vornahme einer Handlung – hier die Aussage – gerichtet ist, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Die Auskunft über das Versteck von Entführungsopfer oder tickender Zeitbombe oder von Menschenhandelsopfern duldet keinen Aufschub im Sinne des § 80 II 1 Nr. 2 VwGO. Damit ist der Grundverwaltungsakt (etwa: „Nennen Sie das Versteck!“) unaufschiebbar im Sinne des § 50 I PolG NRW. Nach § 59 I 1 PolG NRW sind Polizeivollzugsbeamte verpflichtet, unmittelbaren Zwang anzuwenden, der von einem Weisungsberechtigten (wie z. B. einem Polizeivizepräsidenten) angeordnet wird. Das gilt nach § 59 I 2 PolG NRW nicht, wenn die Anordnung die Menschenwürde verletzt oder nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist. Und nach § 59 II 1 PolG NRW darf eine Anordnung nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Polizeivollzugsbeamte die Anordnung trotzdem, so trifft ihn nach § 59 II 2 PolG NRW eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird. Den gleichen Regelungsgehalt wie § 59 I, II PolG NRW haben §§ 35, 36 BeamtStG. Nach § 58 I PolG NRW ist unmittelbarer Zwang die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen. Nach § 58 II PolG NRW ist körperliche Gewalt jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen. Davon ist also nicht die rein psychisch vermittelte seelische Einwirkung erfasst, etwa eine solche durch Ausnutzen einer Zwangslage in der Untersuchungshaft und Aufbau bei Vertrauen durch einen Verdeckten Ermittler. Nach § 55 I 1 PolG NRW kann die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden, wenn andere Zwangsmittel nicht in Betracht kommen oder keinen Erfolg versprechen oder unzweckmäßig sind. Ersatzvornahme kommt nur bei vertretbaren Handlungen, nicht bei höchstpersönlicher Aussagepflicht in Betracht. Zwangsgeld verspricht regelmäßig keinen Erfolg, durch finanziel-



C. Die Subsumtion der Fälle163

le Belastung auf die Tätermotivation einzuwirken. Nach §§ 51 II, 56 PolG NRW sind die Zwangsmittel nach Maßgabe der §§ 56, 61 PolG NRW anzudrohen. Nach § 55 II PolG NRW ist unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ausgeschlossen. Zunächst ist festzuhalten, dass es keinen Wortlaut im Polizeigesetz gibt, der ausdrücklich zur zwangsweisen Durchsetzung einer Aussagepflicht ermächtigt, sondern nur einen Wortlaut, der Zwang zur Abgabe einer Erklärung ausschließt. Der Wortlaut schließt nicht die Androhung von Zwang zur Abgabe einer Erklärung aus. Fraglich ist, ob die völlige Abwesenheit einer Möglichkeit zur zwangsweisen Durchsetzung einer Aussagepflicht angesichts extremer Lagen wie den Entführungs- und Zeitbombenfällen eine verdeckte Lücke im Polizeigesetz darstellt. Eine verdeckte Lücke und damit ggf. die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion ist gegeben, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsnorm zu weit gefasst sind, wenn sich also mehr Sachverhalte dem Tatbestand subsumieren lassen, als dies nach Sinn und Zweck dieser Rechtsnorm oder anderer Rechtsnormen sein dürfte.522 Selbst bei rechtstechnisch möglicher sog. teleologischer Reduktion von Aussageerzwingungsverboten, wie sie auch in den Polizeigesetzen formuliert sind523, stehen für viele Auffassungen der Vorbehalt des Gesetzes und das Bestimmtheitsgebot aus Art. 20 III GG einer grundsätzlich wegen vergleichbarer Interessenlage und planwidriger Regelungslücke naheliegenden Analogie zum eingriffsintensiveren lebensrettenden Todesschuss524 (vis absoluta) zumindest im einfachgesetzlichen Kontext entgegen. Denn dabei wäre die Rechtsfolge der lebensrettenden Aussageerzwingung (vis compulsiva) genauso wenig wie bisher vom einfachen Gesetzgeber gesetzt und damit entgegen Art. 20 III GG zu unbestimmt. Gleichwohl ist für die rechtliche Bewertung des Falles nicht zu verkennen, dass bei der lebensrettenden Aussageerzwingung der Störer sogar nach endgültiger Entscheidung der Polizei für diese Maßnahme, die lediglich vis compulsiva ist, es durch die Wahl für aktive Mitwirkung länger als beim Todesschuss, der vis absoluta ist, selbst in der Hand hat, ob und inwieweit er von der Maßnahme getroffen wird; er hat also wesentlich mehr Möglichkeiten.525 Außerdem schließt ein polizeigesetzlicher Wortlaut vom „Zwang“, der „ausgeschlossen“ sei, nicht nach jeder Betrachtungsweise die reine Androhung von Zwang aus. Doch kann der Art. 1 I GG gemäß der in dieser Arbeit dargelegten – wie gezeigt auch rechtsfaktisch von der Rechtspraxis angewendeten – dualen 522  Muthorst,

Grundlagen der Rechtswissenschaft, § 8, Rn. 32. § 55 II PolG NRW. 524  Z. B. in § 63 II 2 PolG NRW. 525  Herbst, Lebensrettende Aussageerzwingung, S. 152. 523  Z. B.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Prinzipien- und Regelfunktion bei der Auslegung des Rechts in rechtsstaatlich rechtssystematischer Weise ausdrücklich fallentscheidende Wirkung erlangen. Er tut dies, wenn sich die Frage zu Achtung und Schutz der Menschenwürde nach Ausschöpfung des übrigen Rechtsnormsystems während der Auslegung in der Pyramidenstruktur der rechtsnormativen Stufenfolge zuspitzt. Dann wird in dem konkreten Fall in den beteiligten Menschen das Prinzip der Verpflichtung auf die Menschenwürde in Art. 1 I 2 GG so viel rechtsnormative Verdichtung erfahren, dass es als Regel entscheidet. Dann entfaltet sich aus dem Art. 1 I GG als moralischer Grundlage des Gemeinwesens die genuine eigenständige Rechtsnormativität des positiven Rechts. Wenn sich die Rechtslage durch die Rechtsnormpyramide bis zum obersten Verfassungssatz der Menschenwürde im konkreten Fall zuspitzt und in den konkret betroffenen Menschen als Rechtssubjekten verdichtet, dann vertritt Art. 1 GG die deontologische Gesinnung des Rechts und erklärt fallentscheidend eine utilitaristische Opferung der bestehenden Rechte des einzelnen Rechtssubjekts für staatliche Zwecke zum absoluten Tabu. Davon unbenommen bleiben gemäß der Gewaltenteilung im Rechtsstaat die gesetzgeberischen Grundsatzentscheidungen im vorkasuistischen politischen Raum, deren genuine Genese gerade in der konsequentialistischen Erkenntnis und Abwägung aller Interessen liegt. Art. 1 I GG behält auch insoweit sein prinzipielles Reservepotential, vorrangig vor einfach-gesetzlich erlassenen Rechtsnormen, vermittelt über die Auslegung im Verbund mit den nachfolgenden Grundrechten, jederzeit als Art lex specialis fallentscheidende Regel zu werden. Nach § 57 II PolG NRW bleiben die Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt. Gemäß § 32 I StGB handelt nicht rechtwidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist. Nach § 32 II StGB ist Notwehr die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Die anhaltende Entführung oder die in den weiteren Kausalverlauf entlassene tickende Zeitbombe sowie der anhaltende schwere Menschenhandel mit Lebensgefahr sind gegenwärtige rechtswidrige Angriffe im Sinne des § 32 StGB. Im Frankfurter Entführungsfall irrte die Polizei über die sachlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes, denn das entführte Kind war bereits tot und somit der Angriff auf sein Leben abgeschlossen, also nicht mehr gegenwärtig. Unabhängig von der genauen dogmatischen Einordnung des sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtums526 wird im Ergebnis bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der sich nicht fahrlässig über die sachlichen Voraussetzungen Irrende rechtlich so behandelt, als ob eine reale 526  Siehe zu Notwehr und Erlaubnistatbestandsirrtum in einem polizeilichen Fall: Basten, Die Polizei 06/2012, S. 149–155.



C. Die Subsumtion der Fälle165

Notwehr- oder Notstandslage vorläge, sodass im Ergebnis rechtlich kein Unterschied zu einer wirklichen Notwehrlage besteht, und sodass bei der weiteren Prüfung von einem andauernden Angriff ausgegangen wird. Fraglich ist, ob die Angriffsabwehrhandlung geboten ist. Die erforderliche Notwehr ist nur dann geboten, wenn sie nicht durch sozial-ethische Maximen einzuschränken ist. Nach § 34 StGB handelt nicht rechtswidrig, wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. Der Entschuldigungsgrund des entschuldigenden Notstands gemäß § 35 StGB kommt regelmäßig nicht in Betracht. Denn: Es liegt zwar eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für das Leben des Entführten oder der Menschenhandelsopfer oder vieler Menschen im Wirkungskreis der Bombe oder ein sachlicher Irrtum über eine solche Situation vor, der bei Fehlen von Fahrlässigkeit rechtlich wie die Reallage behandelt wird. Aber: Der geschützte Personenkreis ist regelmäßig nicht einschlägig: Nahestehende Personen sind nur solche Menschen, die dem Täter so verbunden sind, dass er eine Gefahr für den Menschen gerade wegen der Nähe – nicht nur wegen einer etwaigen Amtsstellung – für sich selbst als Drucksituation empfinden kann. Nach h. M. ist im Rahmen der außergesetzlichen rechtfertigenden Pflichtenkollision der Täter außerhalb von § 34 StGB auch dann gerechtfertigt, wenn ihn zwei gleichrangige Handlungspflichten treffen, von denen er nur eine durch die Nichtbefolgung der anderen erfüllen kann.527 In den Entführungs- und Zeitbombenfällen mit festgehaltenem Täter sowie den schweren Menschenhandelsfällen mit räumlich und emotional angebundenem Täter fehlt es aber schon an zwei Handlungspflichten, denn hier kollidiert eine etwaig bestehende Unterlassungspflicht, den Täter nicht in bestimmter Art und Weise zu behandeln, mit einer Handlungspflicht, Leib und Leben von Menschen zu schützen. Dazu verhält sich die teilweise ausdrücklich vertretene Ansicht, die im Rahmen des § 34 StGB auch eine Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht zulässt.528 Innerhalb der Mindermeinung wird teilweise ein Wahlrecht zugestanden, teilweise soll die Unterlassungspflicht vorgehen, in den Entführungs- und Zeitbombenfällen also die Pflicht, den Täter nicht zur Aussage zu zwingen. In Betracht könnte noch der sog. übergesetzliche entschuldigende Notstand kommen, der in 527  Fischer, 528  Dazu:

Strafgesetzbuch, Vor § 32, Rn. 11, 11a, m. w. N. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor § 32, Rn. 11d, m. w. N.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Grenzfällen wie Entführung, Zeitbombe und Flugzeugabschuss auch immer wieder genannt wird. Nach dieser Rechtsfigur soll eine unlösbare Pflichtenkollision bestehen, wenn der Täter nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat und sich in beiden Fällen pflichtverletzend verhalten würde. Müsste man auf dieses Rechtsinstitut rekurrieren, weil die Rechtfertigungsgründe nicht eingriffen, wären nur fraglich, ob die Polizei wirklich Rechtsgüter des Täters opfern muss, um die bedrohten Rechtsgüter der Opfer zu retten und ob damit eine wesentliche Übelsverringerung einherginge. Bei allen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundnormen stellen sich entscheidungserhebliche Wertungsfragen über die Ausfüllung von Begriffen der Gebotenheit, § 32 StGB, des wesentlichen Überwiegens, § 34 StGB, der Wertungsgleichheit von Handlungs- und Unterlassungspflicht, vgl. dazu § 13 StGB, und des wesentlich geringeren Übels beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand. In diesem Zusammenhang gibt es bei einem Vergleich von Polizeirecht und den strafrechtlichen Rechten einen Wertungswiderspruch: Ein Privater darf den Täter mit den schneidigen Notwehrrechten zwingen, aber sobald die Polizei eingreift, müssen nach der Auffassung von der Würdeverletzung Privater und Polizei allen Zwang unterlassen, weil die Polizei dann den Täter schützen müsste. Dies gilt aber nur bei nichtkonsequenter Anwendung des Art. 1 GG in all seinen – eben auch auf das Opfer bezogenen – Wirkungsdimensionen als höchstem und absolutem, unmittelbar wirkendem Recht innerhalb der gesamten verfassungsmäßigen Ordnung. So spiegeln die Wertungsfragen und die Menschenwürde in der Fallbearbeitung einander, und so bleibt das vorläufige Ergebnis nach der vollständigen Sondierung des einfachgesetzlichen Rechtsfeldes, dass ohne einen Rekurs durch die Rechtsnormpyramide hindurch auf Art. 1 GG die dargestellten Extremfälle rechtswissenschaftlich nicht befriedigend zu lösen sind. 2. Geistiger Zwang Die Annäherung an den Würdebegriff vom Verletzungsvorgang her geschieht ganz überwiegend durch eine Beispielstechnik des Malens plastischer Bilder von Brandschatzung, Mord, Verfolgung. In diesen Motiven äußerlicher Angriffe auf den menschlichen Körper spiegelt die Würdeverletzung die Inkorporation von Würde. Und in der Rechtshistorie war es zuerst der menschliche Körper, der Projektionsfläche für die juristische Anerkennung von Rechtssubjektivität der Person war. Das Habeas Corpus529 des Mittelalters war in den Jahrhunderten vor dem Grundgesetz stehende Wendung für die Habhaftwerdung des Menschen, gab einem der größten Meilensteine an Rechtsdokumenten in der Menschheitsgeschichte 529  Lat. –

zu Deutsch: „Du sollst den Körper haben“.



C. Die Subsumtion der Fälle167

den Namen530 und wird heute noch durch Art. 104 GG zitiert, der wiederum in enger Verwandtschaft zu Art. 1 GG steht. Die verkörperte Rechtsverwirklichung ist freilich nur die eine Seite menschlicher Würde. Die andere betrifft die Frage nach geistig-seelischer Habhaftwerdung, Lenkung und Herrschaft. In der dem Recht eignenden Äußerlichkeit verkörpern sich die Achtung und der Schutz der Menschenwürde für das menschliche Wahrnehmungsvermögen des für das verobjektivierte Recht zuständigen urteilenden Dritten unmittelbarer. Das macht es für das Recht einfacher und naheliegender, sich zunächst mehr mit äußeren, sichtbaren Emanationen von Verhalten zu beschäftigen. Für die Berührung der Würde durch Beeinflussung innerer Prozesse im Körper des Menschen ist mehr menschliche Phantasie vonnöten. Doch gerade dort hat die Menschenwürde mit ihrer überschießenden subjektiven Innentendenz und ihrem eigenständigen Gehalt von Demütigung, Erniedrigung, Ohnmachtsstellung der Person ihre Berechtigung. Dem richtigen Verständnis von Menschenwürde liegt ja wie gesehen die logischerweise intersubjektiv-wechselseitige Anerkennung der achtunggebietenden und der schutzbedürftigen Vernunftbegabung im jeweils anderen Lebewesen zu freier guter Selbstgesetzgebung zugrunde. Das verdeutlicht sehr schön, dass die Beispielstechnik vom Verletzungsvorgang den falschen Ausgang, zumindest einen Umweg nimmt und auf falsche Fährte locken kann531: Nicht die körperlichen Angriffe greifen in die Menschenwürde ein, sondern die körperlichen Angriffe können einen Menschenwürdeeingriff vermitteln und indizieren. Denn was das Gute ist, erfordert noch unabweisbar ethisch-geistige Bewertung, und dementsprechend können körperliche Zugriffe auf den Menschen – wie sie alltäglich in gesellschaftlich konsentierter Weise durchgeführt werden – dem körperlich angegangenen Menschen gerecht werden und ihn angemessen würdigen. Die Wirkung eines körperlichen Angriffs, der zugleich ein Angriff auf die Menschenwürde ist, ist jedoch erst dadurch ein Angriff auf die Menschenwürde, dass er Beeinträchtigung der geistig-seelischen Identität als Rechtspersönlichkeit ist, die als solche anerkannt, ernstgenommen, respektiert, geachtet und geschützt gehört, und der Mensch nicht bloß benutzt, gebraucht, gesteuert werden darf, wenn der den Anderen behandelnde Mensch nicht in existentiellen Widerspruch zur eigenen Bedeutung und eigenen Achtungs- wie Schutzbedürftigkeit geraten will. Insofern ist die Objektformel näher am nervus rerum der Menschenwürde als die entferntere, mehr und gleichsam rückwärts anlaufnehmende Annäherung vom Verletzungsvorgang. 530  Habeas-Corpus-Act in England im Jahr 1679 zur Überprüfung von Haftbefehlen. 531  Für Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 89, ist die Deutung vom Verletzungsvorgang her juristisch-dogmatisch „Ausdruck der Kapitulation“.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Das spezifisch menschliche Mittel zur Beeinflussung des Menschen unter logischer Negation seiner Fähigkeit und seines guten Willens zur freien Selbstgesetzgebung ist: eine unwahre Aussage. Ist die unwahre Aussage ethisch nicht gerechtfertigt, wird sie Lüge genannt. Die negative Konnotation schwingt bei der Rede von der Lüge immer mit, und genauso behilft sich schon der Volksmund mit semantischen Abstufungen etwa in Gestalt des die Unwahrheit Sagens, oder des Flunkerns oder der Notlüge, welche die unterschiedlichen Bewertungen und verschiedenen Rechtfertigungsgrade ausdrücken sollen. Das entspricht der hier gewonnenen Erkenntnis, dass alle Verhaltensweisen nach ihrem genus naturae und ihrem genus moris denklogisch-theoretisch zu trennen sind und genausowenig wie es ein Ding an sich gibt, keine Handlung an sich ohne Bewertung in der menschlichen Welt existieren kann. Unwahre Aussagen sind spezifisch menschlich, weil nach menschlicher Erkenntnislage nur der Mensch sich anders als alle anderen ihm bekannten Lebewesen selbstreflexiv in multiple Beziehungen zu seinem Verhalten, seiner Umwelt, der Differenz von Verhalten und Umwelt, sowie der Wirkung auf den jeweils Anderen durch eine bestimmte Aussage setzen und jederzeit eine andere Setzung vornehmen kann. Lüge ist der eine ethisch negative Bewertung insinuierende Name für eine Aussage, von der der Sender weiß oder vermutet, dass sie unwahr ist, und die mit der Absicht geäußert wird, dass der oder die Empfänger sie trotzdem glauben.532 Die ethisch negative Konnotation hat die Bezeichnung Lüge mit der Bezeichnung der Folter gemein. Beide Bezeichnungen benennen bereits das genus moris. Die Lüge als schlecht bewertete unwahre Aussage ist spezifisch menschlich, weil dem Anderen, der belogen wird, die Möglichkeit der Beziehungswahl zwischen sich, dem anderen und der Umwelt zumindest ein Stück weit genommen wird. Insofern wird geistige Herrschaft, ja als terminologisches Pendant zum unmittelbaren, körperlich einwirkenden Zwang, geistiger Zwang ausgeübt. Durch Einwirkung auf das intellektuelle Vorstellungsbild des Anderen wird dieser in eine Fehlvorstellung gezwungen. Mit den Worten des Menschenwürdebegriffs: Dem Belogenen wird mindestens ein Stück seiner Fähigkeit zu freier, guter Selbstgesetzgebung genommen und ihm wird damit der Rechtsstatus einer frei zu achtenden und zu schützenden Persönlichkeit vom Lügner aberkannt. Er wird als gleichberechtigter Akteur in der Wahrheit nicht ernstgenommen, als Unwissender gedemütigt und ohnmächtig gestellt, sich gemäß der Wahrheit zu verhalten. Der belogene Mensch ist im Lebensbereich der Lüge durch den Lügner nicht als Person 532  Vgl.

Mahon, The Definition of Lying and Deception.



C. Die Subsumtion der Fälle169

geachtet, die sich im Verhältnis zum von ihr unerkannten Lügner selbstzweckhaft in der zwischenmenschlichen Beziehung verhalten kann, sondern bloß als Mittel zu Zwecken des Lügners ferngesteuert wird. Durch Verschleierung der wahren Motivation des Gegenübers kann der Belogene sich nicht adäquat mit seiner personalen Identität ins Verhältnis setzen zu seiner Umwelt, von der der Lügner ja ein Teil ist. Es kommt beim Belogenen im wahrsten Sinne des Wortes zur Zweckverfehlung.533 Dass damit der Lügner sich selbst entwürdigt im Sinne des aufgeklärten logisch-konsistenten Menschenwürdebegriffs der Vernunftautorität ist eine zwingende Folge, was – vielleicht erst später dem Lügner bewusstwerdend – gravierende Folgen für die eigene geistig-seelische Identität auch des Lügners haben kann. Das Gesetz kennt die hier vorgenommene Differenzierung von Lüge und sonstigen unwahren Aussagen, wenn es mit Bedacht eben nicht von Lüge spricht, sondern von „Täuschung“. Nach § 136a StPO darf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden u. a. durch Täuschung. Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden des § 136a StPO ist direkter rechtsethischer Ausfluss des Art. 1 GG.534 Auch sieht § 136a StPO das Verbot der Hypnose und der Verabreichung von Mitteln, die auch geistige Wirkungen im Körper entfalten können, vor, aber hier soll die Lüge als reinste geistige Einwirkungsform zur Exemplifizierung des würdetangierenden geistigen Zwangs genommen werden. In § 110a II StPO ist von einer „Legende“ die Rede, die dort legaldefiniert wird als eine auf Dauer angelegte, Beamten des Polizeidienstes in ihrer Funktion als Verdeckte Ermittler verliehene, veränderte Identität zur strafprozessualen Ermittlung. Verdeckte Ermittler dürfen nach § 110a I StPO zur Aufklärung von Straftaten eingesetzt werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte535 dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen worden ist und zur Aufklärung von Verbrechen536 bei aufgrund bestimmter Tatsachen bestehender Gefahr ihrer Wiederholung; in beiden Fäl533  Ein eindrucksvolles Zeugnis dieses menschenunwürdigen Vorgangs der Fehlsteuerung gibt eine der durch undercover officers von Scotland Yard belogenen Frauen in dem Fall aus der Anm. zu Fn. 485 ab, wenn sie mit folgenden Worten widergegeben wird: „I gave my heart to a fictional character.“ Deshalb trifft auch Assistant Commissioner Martin Hewitt von der Metropolitan Police in der Sache den richtigen Ton, wenn er mit folgender Beurteilung wiedergegeben wird: „They were a gross violation of personal dignity and integrity.“, vgl. Home affairs correspondent Casciani, BBC-News vom 20.11.2015, bei: http://www.bbc.com/news/uk34875197. 534  Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 131. 535  Vgl. § 152 II StPO. 536  Vgl. die Legaldefinitionen von Verbrechen und Vergehen in § 12 StGB.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

len, soweit die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zur Aufklärung von Verbrechen dürfen Verdeckte Ermittler außerdem eingesetzt werden, wenn die besondere Bedeutung der Tat den Einsatz gebietet und andere Maßnahmen aussichtslos wären. Unter der Legende dürfen die Verdeckten Ermittler gemäß § 110a II 2 StPO am Rechtsverkehr teilnehmen und gemäß § 110a III StPO dürfen, soweit es für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Legende unerlässlich ist, entsprechende Urkunden hergestellt, verändert und gebraucht werden. Gemäß § 110c Sätze 1, 2 StPO dürfen Verdeckte Ermittler unter Verwendung ihrer Legende ohne darüber „hinausgehendes Vortäuschen eines Zutrittsrechts“ eine Wohnung mit dem Einverständnis des Berechtigten betreten. Vertrauenspersonen (VP) sind Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist – so die Definition in der für die Gefahrenabwehr genügenden Ermächtigung des § 19 I 1 PolG NRW –, und die im Auftrag der Polizei für sie über eine gewisse Dauer Daten ohne eigene hoheitliche Befugnisse erheben. Im Unterschied zu VP agieren Informanten lediglich im Einzelfall und sind Verdeckte Ermittler (VE) gemäß § 110a II 1 StPO Beamte des Polizeidienstes und nicht wie VP Private. Der Einsatz von VP erfolgt in praxi in Orientierung an den Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister / -senatoren und der Innenminister / -senatoren als Anlage D der RiStBV, in den Ländern zusätzlich nach Runderlassen.537 Richtlinien und Erlasse sind bloßes Innenrecht der Verwaltung und keine genügende Ermächtigung im Außenverhältnis. Das Verhalten der VP ist dem veranlassenden Staat zuzurechnen, auch weil die VP als verlängerter Arm, als Werkzeug des Staates von diesem gezielt in notwendigen Vorbereitungshandlungen für vertiefte Eingriffe eingesetzt und gelenkt wird. Die Strafverfolgungspraxis beruft sich teilweise auf die Generalermächtigung des § 163 I 2 StPO. Teilweise wird wegen der traditionellen Typizität538 und der Ein537  Vgl. z. B. für NRW: „Verfolgung von Straftaten – Inanspruchnahme von Informanten, Einsatz von V-Personen und Verdeckten Ermittlern und sonstigen nicht offen ermittelnden Polizeibeamten“ – Gemeinsamer RdErl. des JM (4110 – III A. 33) und des IM (IV A 4 – 6450) vom 17. Februar 1986 – MBl. NRW. S. 62 – in der Fassung des Gemeinsamen RdErl. vom 22. September 2011 zusätzlich nach RdErl. des JM und des IM v. 17.02.1986, geändert durch RdErl. v. 15.08.1996. 538  Zum Topos der Typizität allgemein: Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 49, wonach die den Anwendungsbereich der Generalklausel auf atypische Sachverhalte einschränkende Ansicht „zu weit“ gehe, den „grundrechtlichen Parlamentsvorbehalt“ überdehne, und es genüge, dass dem Gesetzgeber Grundrechtseingriffe aufgrund der Generalklausel bekannt seien, außerdem führten die Abgrenzungsprobleme zwischen typischen und atypischen Sachverhalten zu Rechtsunsicherheit; Schenke, ebenda, lässt es rhetorisch dahinstehen, ob eine Vergrößerung der Gesetzesflut wirklich wünschenswert ist; im Ergebnis ebenso Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 6, Rn. 15.



C. Die Subsumtion der Fälle171

griffsintensität539 der Maßnahme eine spezialgesetzliche Ermächtigung mit hinreichend bestimmten Eingriffsschwellen gefordert, teilweise wird sich auf den Standpunkt gestellt, VP agierten privat und nicht als Staat, was eine Ermächtigung entbehrlich mache. Jedenfalls für den Fall eines gezielten Einsatzes von VP im Umfeld von Beschuldigten mit aktiver Informa­ tionserhebung durch heimliche Befragung einer sonst die Aussage verweigernden Zeugin ist der VP-Einsatz ohne spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage unzulässig.540 Nicht mit einer kompletten Legende, sondern ggf. nur unter Falschnamen agieren sog. NOEP, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte. Sie tun dies nicht auf Dauer angelegt, sondern nur gelegentlich, so beispielsweise bei Scheinkäufen.541 Auch ihr Einsatz soll von der Generalermächtigung des § 163 StPO gedeckt sein.542 Ebenfalls von der Generalermächtigung erfasst sein soll der Einsatz eines Lockspitzels. Der Lockspitzel, auch agent provocateur genannt, soll Straftaten provozieren, um den daraufhin Straffälligen bei der Tatbegehung beweissicher verfolgen zu können. VP, NOEP und VE können sich als Lockspitzel betätigen. Sie werden regelmäßig deshalb als straflos angesehen, weil bei ihnen der sog. Anstiftervorsatz in Bezug auf die Vollendung der Haupttat fehlen soll. Eine Rechtsverletzung durch die Tatprovokation liegt jedenfalls dann regelmäßig vor, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person in einer dem Staat zuzurechnenden Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt.543 Eine Ausnahme von der Zurechnung soll nur dann vorliegen, wenn der beauftragende Staat 539  Zum generalermächtigungsbezogenen Kriterium der Eingriffsintensität allgemein: Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 6, Rn. 16 sieht ganz im Sinne dieser Arbeit die eingriffsintensive Maßnahmen aus Generalklauseln völlig ausschließende Gegenmeinung richtigerweise als auf einer Vorstellung vom Verhältnis von Generalzu Spezialbefugnisnormen basierend an, „die sich mit den landesgesetzlichen Regelungen nicht in Einklang bringen lässt.“ Die von ihm Standardermächtigungen genannten Spezialbefugnisnormen seien zwar spezieller, „sie gestatten aber weder durchgängig besonders schwere Eingriffe noch stellen sie sämtlich höhere tatbestandliche Anforderungen als die Generalklauseln.“ Gleichwohl könne nach Thiel, ebenda ein Rückgriff auf die Generalklausel im Einzelfall „aus verfassungsrechtlichen Gründen gesperrt sein, wenn sich aus der mit der Maßnahme verletzten Grundrechtsnorm Anforderungen ergeben, die die Generalklauseln in ihrer normativen Ausgestaltung nicht erfüllen.“ 540  BVerfG, Beschluss vom 01.03.2000,  – 2 BvR 2017/94, Abs.-Nr. 9. 541  BGHSt 41, 64. 542  Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozeßordnung, § 110a, Rn. 4. 543  BGHSt 45, 321, 335; EGMR, Urteil vom 23.10.2014  – Az. 54648/09 = JR 2015, S. 81; BVerfG, Beschluss vom 18.12.2014  – 2 BvR 209/14 = StV 2015, S. 413.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

nicht mit dem Fehlverhalten rechnen konnte.544 Das muss auch für ein völliges Fehlgehen, eine völlige Abirrung vom staatlichen Auftragsrahmen etwa bei einem so drastischen Fall wie dem einer ermittlungsfremden Schwängerung durch eine VP, einen NOEP oder einen VE gelten. Eine Provokation soll nicht vorliegen, wenn durch ein staatliches Werkzeug ein Privater nur auf eine Straftat angesprochen oder wenn nur die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung von Straftaten genutzt wird.545 Der Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 I 1 EMRK kann verletzt sein, wenn die im Rahmen einer Tatprovokation durch eine von der Polizei geführte VP angesonnene Straftat nicht mehr in einem angemessenen, deliktsspezifischen Verhältnis zu dem jeweils individuell gegen den Provozierten bestehenden Tatverdacht steht.546 Alle staatlich eingesetzten Funktionen des VE, der VP und des NOEP täuschen ihr Gegenüber, um von ihm Verhaltensäußerungen oder solche verbaler Art zu erlangen, die er wahrscheinlich in Kenntnis der wahren Identität des staatlichen Werkzeugs nicht oder nicht so tätigen würde. In Vernehmungssituationen hätte das staatliche Gegenüber diese Kenntnis, denn die Frage eines Polizisten ist nach dem herrschenden formellen Vernehmungsbegriff dann Vernehmung, wenn der Amtsträger einer Person in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Funktion von der Person eine Auskunft verlangt.547 Das in der Belehrung bekannt zu machende Schweigerecht des Beschuldigten ist Kernstück des vom Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III GG, 6 I EMRK garantierten fairen Verfahrens.548 Ein Verstoß gegen die Vorschriften des Einsatzes von VP, NOEP, oder VE, auch in der Funktion eines agent provocateur, führt in der Regel nur zu einer Kompensation bei den Rechtsfolgen des strafgerichtlichen Urteils. Demgegenüber führt ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht bei Vernehmungen aus § 136 StPO regelmäßig zu einem Belehrungsmangel und daraus resultierend zu einem Beweisverwertungsverbots hinsichtlich der Vernehmungsinhalte bei Widerspruch bis zum in § 257 StPO geregelten Zeitpunkt.549 Bei Vorliegen einer Verdachtslage sind die Strafverfolgungsorgane verpflichtet, dem Verdächtigen den Beschuldigtenstatus zuzuerkennen, und ihm grundrechtssichernde Maßnahmen verdeckt oder offen angedeihen zu lassen, offen insbesondere nach §§ 136, 163a I, IV StPO durch Belehrung, ansonsten kommt dem von den Strafverfolgungsakten Betroffenen der Beschuldigtenstatus 544  BGHSt

45, 321, 336. 45, 321, 338. 546  BGHSt 47, 44. 547  BGHSt 42, 139 (Hörfalle). 548  EGMR, NJW 2002, 499. 549  BGHSt 38, 214, 224, 226, 228; BGHSt, 42, 15. 545  BGHSt



C. Die Subsumtion der Fälle173

trotz offiziösen Vorenthaltens de iure zu – wiederum mit der Folge eines Belehrungsmangels. Hat der Beschuldigte in Vernehmungen von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, so können die anschließend durch VP, NOEP oder VE erlangten Aussagen aufgrund der durch die Vernehmungssituation anhaltenden psychologischen Drucksituation, der darüber hinausgehenden Zwangssituation etwa in einer Gefängniszelle, und der völligen Nichtanerkennung des bekannten Willens des Beschuldigten gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.550 In menschenwürdenäheren Fällen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation, in denen ein zuvor völlig unverdächtiger als Objekt der staatlichen Ermittlungsbehörden einen von diesen vorgefertigten Tatplan ohne eigenen Antrieb ausgeführt hat, kann für die Bewertung des Verhaltens des Verleiteten eine kompensierende Strafmilderung nicht mehr ausreichend sein, sondern ein absolutes Verfahrenshindernis vorliegen.551 Der Grundsatz des fairen Verfahrens wird aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Das Rechtsstaatsprinzip ist eine Leitidee des Grundgesetzes552, das der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf553. Es ergibt sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 III GG (Bindung der einzelnen Gewalten) und der Art. 1 III GG (Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte), 19 IV GG (Rechtsschutzgarantie), 28 I 1 GG (Homogenitätsgebot) sowie aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes.554 Seine Wurzel hat das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 1 I GG, mit der Maßgabe, den Menschen nicht zum bloßen, rechtlosen Objekt eines Verfahrens zu degradieren.555 Es stimmt zwar nicht, dass die Täuschung nicht die Menschenwürde noch die Freiheit der Willensentschließung berühren kann, und es liest sich dann geradezu kurios, wenn sie doch wenigstens dem Rechtsstaat „unwürdig“ sein soll556, doch ist folgende Bewertung im Einklang mit dem rechtsstaatlichen Topos des Vertrauens gangbar: Heimliches oder verschleiertes Vorgehen des Staates stellt nicht per se eine 550  EGMR Allan/UK, 5.11.2002, 48539/99, Fn. 35, § 52, ECHR 2002–IX = StV 2003, 257. 551  EGMR, Urteil vom 23.10.2014  – 54648/09 = JR 2015, S. 81; BVerfG, Beschluss vom 18.12.2014 – 2 BvR 209/14 = StV 2015, S. 413. Die Rechtsprechungen betrachten je nach erkannter Menschenwürdebetroffenheit und Rechtsstaatsrelevanz bei Fällen von Tatprovokation in ihren rationes decidendi und obiter dicta juristische Lösungen der abschlägigen Strafzumessung, des Verbots der Verwertung der durch die Tatprovokation erlangten Erkenntnisse und des Verfahrenshindernisses. 552  BVerfGE 2, 380, Ls. 5 (Haftentschädigung). 553  BVerfGE 7, 89, 92 f. (Hamburgisches Hundesteuergesetz). 554  BVerfGE 2, 380, 403 (Haftentschädigung). 555  BVerfGE 57, 250, 274 f. (V-Mann). 556  Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozeßordnung, § 136a, Rn. 12.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Missachtung der menschlichen Würde dar.557 Die Lüge ist keine Antastung der Menschenwürde, wenn eine Aussage tatsächlich gar keinen Vertrauensschutz genießen soll.558 Beispiel kriminelles Milieu: Dieses lebt oft gerade von der Lüge und darf dann nicht damit rechnen, vom Staat durch Ehrlichkeit darin unterstützt zu werden. Anders, wenn der Staat selbst Vertrauensschutz gerade zu seiner Grundlage als Rechtsstaat gemacht hat, wie dies im Fall der Selbstbelastungsfreiheit und der Garantie von Aussageverweigerungsrechten der Fall ist, wo also sogar das Vertrauen im Rang rechtsstaatlicher Prozessordnung als angewandtes Verfassungsrecht559 steht. Dort kann sich – genauso wenig, wie das kriminelle Milieu sich auf Vertrauensgrundsätze berufen kann, die es selbst untergräbt – der Staat in logischen Widerspruch zu seinen rechtsstaatlich Grundsätzen, seinen Grundlagen, seinem Grund und Zweck, setzen. Der Mensch, auch als Person aus dem kriminellen Milieu bekannt, bei dem ein begründeter Verdacht erheblicher Straftaten besteht und der ausdrücklich und aktuell von seinem Aussageverweigerungsrecht im konkreten Strafverfahren Gebrauch gemacht hat und zu erkennen gegeben hat, dass er auch künftig keinesfalls aussagen will, ist im Rahmen der Strafverfolgung jedenfalls keinen über die staatliche offene Befragung hinausgehenden staatlichen Täuschungen mit erheblichem psychologischen Druck und Zwangssituationen auszusetzen. Eine solche Vorgehensweise würde nämlich die völlige Nichtachtung der in Anspruch genommenen Rechte des Verfahrenssubjektes, letztlich die Negierung seiner im Rechtsstaat des Grundgesetzes mit Art. 1 GG bestehenden Rechtssubjektivität bedeuten. Der Mensch, auch als Person aus dem kriminellen Milieu bekannt, bei dem ein begründeter Verdacht erheblicher Straftaten besteht und der nicht ausdrücklich und aktuell von seinem Aussageverweigerungsrecht im konkreten Strafverfahren Gebrauch gemacht hat, kann im Rahmen der Strafverfolgung mit den per Gesetz strafverfahrensbekannten Mitteln der Strafverfolgung angegangen werden, ohne dass darin eine Missachtung seiner aktuellen Verfahrensstellung und eine zwangsweise Brechung seines Willens zu sehen wäre. 3. Zum Folterbegriff Im allgemeinen Teil dieser Arbeit wurde daran erinnert, dass das, was wesentlich gleich ist, durch Vergleich von mindestens zwei Lebenssachverhalten und deren Abgleich auf einen signifikanten Bezugspunkt (tertium 557  BVerfGE 109, 279, 311 (akustische Wohnraumüberwachung/„Großer Lauschangriff“). 558  Ähnlich: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 362. 559  So schon Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 909, 966 ff.



C. Die Subsumtion der Fälle175

comparationis), als gemeinsamer, vergleichstauglicher Oberbegriff (genus proximum), herausgefunden werden muss. Dabei werden rechtstechnisch zwei Tatbestände zum Vergleich herangezogen, auf genügende Ähnlichkeit abgeglichen und bei genügender Ähnlichkeit wird im Rechtsstaat eine identische Rechtsfolge angemessen gesetzt. Sollte sich herausstellen, dass unter bestimmten Topoi des Menschenwürdediskurses ungleich zu behandelnde Fälle gleich behandelt werden – oder umgekehrt –, dann ist dies ein Indikator für die Inadäquatheit von Menschenwürdeverständnissen, die zu solchen Verarbeitungsergebnissen geführt haben. Beim Vergleich fungieren zu vergleichende und nicht unbedingt gleichzusetzende Fälle mit ähnlichen oder gleichen genera proxima und differentia specifica gewissermaßen als Vergleichs- und Kontrollgruppen in Bezug auf Fragen nach den rechtsethischen Folgen staatlicher Maßnahmen. Die teilweise als Ausfluss aus dem Menschenwürdebegriff betrachteten sogenannten „Folter“-Verbotsvorschriften – etwa Art. 104 I 2 GG, Art. 4 EUGRCh, Art.  3 EMRK, Art.  7 IPBR, UN-Antifolterkonvention vom 10. Dezember 1984 und die Europäische Antifolterkonvention vom 26. November 1987 – sind genauer mit den konkreten, extremen Entführungsoder Zeitbombenfällen sowie den Menschenhandelsfällen abzugleichen: Sie erfassen zunächst historisch-ideengeschichtlich, teleologisch und in ihrem jeweiligen Normzusammenhang grundsätzlich nur die durch eine Herrschaftsstruktur institutionalisierte, systematische Erniedrigung von im Gewahrsam befindlichen Personen (Inquisitionsfolter), die sie zum bloßen Objekt unter Auslöschung ihrer psychischen Identität als Rechtssubjekt degradiert, nicht die verantwortliche ultima-ratio-Inanspruchnahme von Tatverdächtigen zur lebensrettenden Aussage.560 Das im vorliegenden Fall untrennbar und im Gegensatz zum Renegade-Fall561 unmittelbar – also nicht über weitere tatunbeteiligte Dritte vermittelte – sprichwörtlich aneinandergekettete Dreiecksverhältnis Störer-Staat-Opfer mit klarer Verantwortungszuteilung und Auflösungszuständigkeit in der Person des Tatverdächtigen entspricht nicht der Grundidee der Folterverbote. Diese bezwecken Schutz eines Festgehaltenen, nicht das Opfer eines unschuldig angegriffenen Dritten in akuter Lebensgefahr. Und nach systematischer und teleologischer Auslegung der Misshandlungs- und Folterverbotsvorschriften kennen auch diese Vorschriften Wertvorbehalte zugunsten höherrangigen Rechts, für das staatliche Gewalt eingesetzt werden kann: etwa ist Art. 104 I 2 GG für nicht-willkürliche und zulässige Gewalt zur Aufrechterhaltung im Strafvollzug teleologisch auszulegen, oder vgl. Art. 2 und 3 EMRK: Art. 3 EMRK, der die Folter verbietet, ist zu Art. 2 II EMRK, der den 560  Jerouschek/Kölbel, 561  Vgl.

JZ 2003, S. 614. dazu BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz).

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Rettungsschuss erlaubt, bzgl. der Wahl der Mittel lex specialis. Art. 2 II EMRK ist zu Art. 3 EMRK bzgl. der Situation, die Ausnahmen bei rechtswidrigen Angriffen zulässt, lex specialis.562 Bezeichnend, richtig und wegweisend für die Fälle lebensrettender Aussageerzwingung ist die Bewertung, die beim lebensrettenden Todesschuss den Todesschuss als generell mit der Menschenwürde unproblematisch vereinbar proklamiert, und dafür erstens mit der Handlungsurheberschaft des Störers und demgemäß mit dessen Verantwortung des in Gang gesetzten Geschehens und zweitens mit der Gefahr für ein gleichsam „würdebegabtes“ Leben argumentiert.563 Richtig ist diese Argumentation, weil sie – anlässlich der Würdethematik geführt – sich mit Ausnahme des Wortes „würdebegabt“ genau mit dem in dieser Arbeit erkannten generellen Würdeverständnis des Rechtssubjektes als ernstgenommenen Rechten- und Pflichtenträger deckt. Wegweisend ist sie, weil das generelle Würdeverständnis für alle Fälle bei durchzuhaltendem Würdeverständnis in dieser Arbeit adäquat verarbeitet werden soll, und die weitverbreitete Argumentationsart eben diese adäquate Verarbeitung nicht leistet; deshalb ist sie auch bezeichnend. Bezeichnend ist die den jeweiligen Einzelfall bewertende, rhetorische Zwecksetzung der Argumentation, denn sie wird konsequentialistisch eingesetzt gegen die Deontologie des Rechts und der Menschenwürde mit am abgeschwächten Wortlaut erkennbarem Unbehagen unter Außerachtlassung der beiden die anderen Fälle ebenso prägenden Analoga von Verantwortung und Lebensgefahr für das Opfer, wo im gleichen Kontext steht, dass „Folter“ auch in diesen Fällen immer verboten sei, die bloße Androhung von „Folter“ allerdings noch keine „strikt verbotene Antastung“ der Menschenwürde darstelle, weil sie „nur den psychischen Druck“ auf den Störer erhöhe, ohne ihm körperlichen Zwang anzutun; es handele sich aber bei der „Androhung“ um eine mit der Achtungspflicht aus Art. 1 I 2 GG „schwer vereinbare“ und daher durch § 136a StPO „mit Recht untersagte polizeiliche Verhörmethode“.564 Genuin rechtliche, deontologische Entschiedenheit angesichts des höchsten Verfassungswertes muss anders aussehen. Mit dem Foltertopos wird im Menschenwürdediskurs für ein allgemeines Unterfallen der meist nicht näher definierten Folter unter einen absolut verbotenen Menschenwürdeeingriff mit einem durch die als „Folter“ benannte Handlung erfolgenden Eingriff in das „forum internum“ und gegen die Selbstzwecksetzung argumentiert, somit für ein Folterverbot wegen des 562  Brugger,

HFR 04/2002, S. 47 f. vieler: Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, Rn. 47.1, in: ­Epping/Hillgruber, Grundgesetz  – Kommentar. 564  Statt vieler wieder: Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, Rn. 45.1, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz  – Kommentar. 563  Statt



C. Die Subsumtion der Fälle177

Schutzes der persönlichen Identität.565 Das forum internum als Begriffspendant zum forum externum, beides als Begriffspaar für die Benennung der ungleichen Sphären von Moral und Recht, daraus erwachsend der rechtliche Respekt vor der Person, kennzeichnet aber gerade die differentia specifica der Fälle und führt zwingend dazu, sie nicht unter einen genus proximum der Folter zu subsumieren. Denn der für die Lebensgefahr wie für die Lebensrettung Verantwortliche kann sich in den Entführungs- und Zeitbombenfällen rein äußerlich durch einen selbstbestimmten Akt der Äußerung, dessen Aussageinhalt in der äußeren Welt durch Nachschau des angegebenen Verstecks verifizierbar ist, von jeder Inanspruchnahme hinsichtlich seiner Auskunftspflicht befreien und damit uno actu alle Not für jedermann aufheben. Im Übrigen bleibt er – bis eben auf die ggf. jahrelange Freiheitsentziehung nicht wegen gefahrenabwehrrechtlicher, sondern wegen strafrechtlicher Verantwortlichkeit – unangetastet, insbesondere in seiner persönlichen Identität, auf die ja gerade kein Zugriff genommen wird, mithin auch kein Zugriff auf das forum internum. Es findet gerade keine für die Folter eindringlich beschriebenen566 und für eine Einordnung eines Verhaltens als Folter entscheidende Auslöschung der bisherigen Identität, Brechung der Persönlichkeit, Indoktrination des Gefühls oder des Verstandes, kein Lustigmachen über das wehrlose Fleisch eines scheinbar ohne Sinn und Zweck fortwährend Gepeinigten statt, ja, es geht gar nicht um ihn, um seine Persönlichkeit, seine Identität, sein forum internum; das alles ist dem nach dem Versteck Fragenden egal. Es soll nur das vom Auskunftspflichtigen akut angegriffene Leben anderer Menschen vor der totalen Auslöschung bewahrt, der völligen Verfügungsmacht des Auskunftspflichtigen entzogen werden. Klassischer kann sich der Unterschied zwischen forum internum und forum externum, zwischen in die Persönlichkeit eindringender Fremdmoral einerseits und andererseits dem Ernstnehmen wie Inverantwortungnehmen als Rechtsperson nahezu nicht erkennbar machen. Der Verantwortliche ist verantwortlich als Rechtsperson für das Weiterleben mindestens einer anderen, auch strafrechtlich unschuldigen Rechtsperson. Crux der gesamten Debatte ist, dass das – verständlicherweise und mit Recht – emotional und moralisch aufgeladene Wort „Folter“ fast nie hinreichend bestimmt in Bezug genommen und ins Verhältnis der verschiedenen Fälle gesetzt wird, sodass die Begriffe von Inquisitionsfolter, Diktaturkeller und Befragungs- und Wartezimmer schnell durcheinandergeraten können. In den Fällen der Gefahrenabwehr handelt es sich funktional ja noch nicht einmal um 565  So etwa: Enders, Art. 1. Menschenwürde, Grundrechtsbindung, S. 142, Rn. 75, in: Stern/Becker: Grundrechte-Kommentar. 566  Zusammenfassung von Beschreibungen der Folter und ihrer Folgen, damit für Gründe des Folterverbots bei Herbst, Lebensrettende Aussageerzwingung, S. 112– 114.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

ein behördliches Vernehmungsbüro, sondern ein Zimmer des eindringlichen Befragens und des hilflosen Wartens auf lebensrettende Worte. Der Adressat der lebensrettenden Aussagerzwingung wird nicht im Sinne der kategorischen Zweckformel bloß als Mittel zum Zweck mit totalitärem Herrschaftsanspruch behandelt, sondern als im einzelnen Falle für die Gefahren Verantwortlicher und für die Gefahrbeseitigung Pflichtiger; er soll auch nicht selbstzweckhaft erniedrigt, gedemütigt oder ohnmächtig gestellt werden, sondern er wird als Person angesprochen, die Macht hat über Menschenleben. All diese wesensmäßigen Distinktionen mit großen Dimensionen an aretaischer Tugendethik bzgl. der Gesinnungen und Motivationen der Beteiligten müssen immer berücksichtigt werden, sonst wären die viel krasseren Fälle von Zwang bis hin zur Tötung von Menschen allesamt Folter. Wenn nun aber die Fälle lebensrettender Aussageerzwingung wesentlich ungleich zu den klassischen Folterfällen stehen, dürfen sie nicht in den Rechtsfolgen wesentlich gleich entschieden werden. Das heißt freilich auch noch nicht, dass das Verhalten, das nicht einem Foltertatbestand unterfiele, nicht auch verboten sein könnte. Der EGMR selbst legt den Begriff der Folter offen und abwägend aus, je nach konkretem Einzelfall und mit unterschiedlicher Gewichtung von modalen, finalen und Urheberkriterien.567 Zumindest ist nicht jede Handlung willkürlich im Sinne des Art. 104 I 2 GG und es ist nicht jede Handlung ohne jegliche Erheblichkeitsschwelle „Folter“.568 Der EGMR bezieht in seine Überlegungen zur Frage der Folter oder unmenschlichen Behandlung fallweise alle nach dieser Arbeit als entscheidend anzusehenden Punkte ein: die Abhängigkeit der Beurteilung eines Verhaltens von allen Umständen des Einzelfalles, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das sich auch im Recht auf ein faires Verfahren findet, und vereinigt im Sinne der vorliegenden Arbeit unter Betonung der Abbildbarkeit aller Parameter im Erniedrigungsmotiv alles auf einen Punkt, verschmelzt alles im von ihm sogenannten „Kern der Konvention“: der Menschenwürde.569 Wenn die Menschenwürde aber Kern aller Konventionen sein muss, können auch alle Normen und sonstigen Prinzipien wie Völkerrecht im Rang von Bundesrecht, vgl. Artt. 25, 59 II GG, oder zwingendes Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) nicht in utilitabei: Herbst, Lebensrettende Aussagerzwingung, S. 77–110. Staatsrecht II – Grundrechte, § 10, Rn. 63, siehe auch EGMR – 22978/05  – vom 10.06.2010: Im vom Fall Metzler über den Fall Gäfgen zum Fall Daschner mutierten Frankfurter Entführungsfall eben keine (sic!) Folter. 569  EGMR (Große Kammer), Urteil vom 17.07.2014, 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko und Slyadnev/Russland) = EGMR, NJW 2015, S. 3423–3427. Im vorbezeichneten EGMR-Fall lag das Potential der Erniedrigung im Halten der als unschuldig geltenden Angeklagten in einem Gitterkäfig während der gesamten öffentlichen Strafverhandlung. 567  Nachweise 568  Hufen,



C. Die Subsumtion der Fälle179

ristischer Weise den verfassungsrechtlichen Höchstwert der insonderheit beim Opfer betroffenen Menschenwürde aus Art. 1 GG zu dessen individuellem Nachteil aufheben.570 Vielmehr könnte sich eine Schutzpflicht für das Opfer auch aus Art. 3 EMRK ergeben, weil das durch den Störer bewirkte und aufrechterhaltene Leiden etwa des Entführungsopfers nach der weiten und offenen Folterdefiniton des EGMR ohne klare unmittelbare Staatsurheberschaft mit Kenntnis des Staates und bei staatlicher Abwendungsmöglichkeit durchaus Folter durch den Störer sein kann.571 III. Zur Rhetorik vom Dammbruch Gegen den Grundrechtsschutz sichernde Verfahrens- und Formvorschriften im Fall der Zulässigkeit einer lebensrettenden Aussageerzwingung werden mit Bildern von polizeilicherseits ausgebildeten „Folterknechten“ und erlassenen „Folterverwaltungsvorschriften“ Bedenken vorgebracht. Diese bestehen darin, dass die Verfahrensanforderungen und Tatsachengrundlagen für „Folter“ nie präzise genug bestimmt werden könnten, denn die Logik des Polizeirechts mit seinen Begriffen der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts zwänge geradezu zum Foltern aus ex-ante-Verdachte heraus.572 Jede auch nur ausnahmsweise Gestattung berge die Gefahr von Missbrauch, Grenzverschiebung, Absenken von Hemmschwellen. Die Grenzen einer geregelten Folter könnten der öffentlichen Meinung, politischer Einflussnahme und individuellem Erfolgsdruck nicht standhalten.573 Auch das Strafgericht für den Polizeivizepräsidenten und den Vernehmungsbeamten im Frankfurter Entführungsfall verwendete das sog. Dammbruch-Argument, wenn es schrieb: „Die Dokumente aus der Zeit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland machen unschwer deutlich, dass den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes noch sehr deutlich vor Augen standen. Sein fundamentales Anliegen war, so etwas wie damals nie wieder entstehen zu lassen und mit der Fassung dieses Grundgesetzes einen deutlichen Riegel vor jegliche Versuchung zu schieben. Der Mensch sollte nicht ein zweites Mal als Träger von Wissen behandelt werden können, das der Staat aus ihm herauspressen will, und sei es auch im Dienste der Gerechtigkeit. So ist zu erklären, dass Artikel 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz unabänderlich ist. Der Verfassungsgeber hat in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz dem Gedanken ‚Wehret den Anfängen‘ Ausdruck verliehen und eine Änderung dieses Verfassungsgrundsatzes ausgeschlossen, auch wenn eine entsprechende Mehrheit für eine Grundgesetzänderung vorläge. Herbst, Lebensrettende Aussagerzwingung, S. 203–209. Wittreck, DÖV (56) 2003, S. 880. 572  Fischer, Strafgesetzbuch, § 32, Rn. 15a. 573  Lisken/Denninger/Rachor, Handbuch des Polizeirechts, E, Rn. 861. 570  Vgl. 571  Vgl.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Aus diesem Grund wird Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz auch als ‚Ewigkeitsklausel‘ bezeichnet. Das strikte Verbot, einem Beschuldigten Gewalt auch nur anzudrohen, ist bereits das Ergebnis einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Interessen. Diese wurde bei Errichtung des Grundgesetzes vorgenommen.“574

Diese sog. Dammbruch-Argumentation der schiefen Ebene hält also das Polizeirecht als Gefahrenabwehrrecht, das eigentlich immer auch Gefahrenprognose ist, für die extremen Fälle von möglicher Lebensrettung gegen kriminelle Angriffe bedenklich, aber regelmäßig nicht für alle anderen Fälle des Alltags. Die Gegenmeinung führt an, dass Zwang begrenzt würde auf extreme Ausnahmefälle, Kriterien für eine sichere Tatsachengrundlage aufstellbar seien, Entscheidungsvorbehalte vorgesehen werden könnten, und die Durchführung des Zwangs sich auf Schmerzzufügung ohne Verletzungen beschränken könnte. Allgemein hat auch die Möglichkeit von mit Waffen ausgestatteten und zum professionellen Schusswaffengebrauch ausgebildeten Polizisten, Menschen gezielt zu töten, zu keinem Dammbruch an rechtswidrigen Tötungen geführt – im Gegenteil. Und mindestens genausogut wie als willigen Vollstrecker muss man sich den Polizeibeamten als vom Disziplinarrecht und Strafrecht eingerahmten, opportunistischen, auf Minusmaßnahmen ausgerichteten Staatsdiener vorstellen. Im Ergebnis würde durch ein Abstellen auf vermeintlich zukünftige Güterkonsequenzen in den Fällen, in denen die Sachlage so gewiss wie nur möglich ist, die Rechtssubjekte und ihre intersubjektive Rechtsstellung zueinander bekannt und alle tatsächlichen Möglichkeiten so sicher wie nur möglich ausgeschöpft sind, ein Menschenleben für entferntere Zwecke geopfert durch Unterlassen allein der Inanspruchnahme des Angreifers auf das schutzlos preisgegebene Leben. Dieses Ergebnis kann zwar im Gesetzgebungsprozess als Ergebnis einer konsequentialistischen Abwägung des Gesetzgebers Gesetzesnorm als generelle, vorprägende Entscheidung fraglicher Fälle für die voraussichtliche Entscheidung im konkreten Einzelfall werden. Aber in Fällen, in denen sich die Rechtslage in den beteiligten Menschen verdichtet und sich in der Rechtsnormpyramide rechtssystematisch in der Frage einer Menschenwürdeverletzung zuspitzt, kann die deontologische Entscheidung des Rechts für die jederzeit bestehende Rechtssubjektivität des einzelnen Rechtssubjektes – und demgemäß hier seines Rechts auf Leben, das in der Hand eines anderen, verantwortlichen Rechtssubjektes instrumentalisiert oder achtlos verbraucht wird – nicht negiert werden, ohne dem staatseigenen, logischen Axiom der Rechtsordnung zu widersprechen.

574  LG

Frankfurt/Main, Urt. v. 20.12.2004  – 27 KLs 7570 Js 203814/03.



C. Die Subsumtion der Fälle181

IV. Rechtswirkung des Unterlassens Die rechtliche Bewertung kann auch von einem moralisch-psychologischen Vorurteil beeinflusst sein, das Unterlassen anstelle von aktivem Handeln rechtlich und in seinen Folgewirkungen als kleineres Übel bewertet. Diese Bewertung ist Ausdruck einer vor Entscheidungen in Extremlagen zurückschreckenden Unterlassungspräferenz zum vermeintlich verantwortungsentlastenden Nichtstun. Das kommt auch zum Ausdruck in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz.575 In dieser werden bzgl. der Entscheidung über Einsatzmaßnahmen in RenegadeFällen auf einmal für das sonstige Sicherheitsrecht unbekannte Entscheidungskriterien des Ausgeschlossenseins, des vollen Überblicks und der Gewissheit aufgestellt. Danach könne die tatsächliche Lage nicht immer „voll überblickt und richtig eingeschätzt“ werden. Es sei auch „nicht ausgeschlossen“, dass Abläufe passierten, die den Einsatz der Maßnahme nicht mehr erforderlich sein lassen. Doch dies gilt für alle Lebenssachverhalte. Laut Bundesverfassungsgericht könne nach „Erkenntnissen aus den im Verfahren abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen und der Äußerungen in der mündlichen Verhandlung“ – eine klassische, der Gefahrenabwehr wesensfremde ex-post-Perspektive mit Hang zum verzerrten Rückblick (hindsight bias) – nicht davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anordnung und Durchführung einer solchen Maßnahme stets mit der dafür erforderlichen „Gewissheit“ festgestellt werden können. Dies wird für Renegade-Fälle verlangt, die wohlgemerkt wie gesehen nicht mit den Entführungs- und Zeitbombenfällen und allen schweren Menschenhandelsfällen gleichgesetzt werden können, weil die Personenkonstellation eine andere ist. Grundsätzlich hat Gefahrenabwehr immer eine Gefahrenprognose zum Inhalt und kann demzufolge nur unter Unsicherheits-, nicht unter absoluten Gewissheitsbedingungen arbeiten. Im Übrigen erfolgt auch jedes Unterlassen unter Ungewissheitsbedingungen und jedes Unterlassen führt genauso wie Handeln Wirkungen herbei, die rechtlich gleich gewertet werden können, vgl. nur § 13 StGB. Dass nach psychologischen Erkenntnissen das Unterlassen dem Menschen generell moralisch weniger risikoreich erscheint, erhellt die wahren Gründe, dispensiert jedoch nicht von der Schutzpflicht und legitimiert hingegen nicht zum Nichthandeln. So kann Unterlassen zwar psychologisch einfacher, aber rechtlich das größere Übel sein.576 Freilich muss eine Rechtspflicht zum Handeln bestehen. 575  BVerfGE

115, 118 ff. (Luftsicherheitsgesetz). mit Hinweis auf die rechtliche Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen bei zugleich das Unterlassen nicht legitimierendem psychologischem Motivationsunterschied – allerdings sogar anlässlich des Renegade-Falls in BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz): Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, S. 31. 576  Ebenso

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Gemessen an dem durch die Jurisprudenz meistzitierten Immanuel Kant und seinem kategorischen Imperativ könnte in beiden Formeln keine kategorische Regel aufgestellt werden, dass ein Menschenleben für die Zwecke vermeintlich zukünftiger Güterkonsequenzen zu opfern sei durch Unterlassen allein der Inanspruchnahme des Angreifers auf das Leben. Vor die Frage gestellt, ob der polizeiliche VE-Einsatz nach Bekanntwerden der Schwängerung eines Mitglieds der kriminellen Familie durch den VE abgebrochen werden muss, indem die polizeiliche Einsatzleitung der über die wahre Identität belogenen Schwangeren die Identität preisgibt und den VE abzieht, ist die Frage zu stellen, welche Verantwortung für welches Schutzgut der Polizei zukommen kann. Der Gedanke, die Frau müsse wissen, von wem genau der Fötus abstammt, um dann eine freie Entscheidung über eine Austragung treffen zu können, missachtet die Würde des Fötus als Wesen mit allen Anlagen des Menschseins, dem Würde durch die Potentialität des begonnenen Menschseins unantastbar ab dem Beginn der Zeugung des Lebens577 zukommt, wie sie im Verlauf der Arbeit herausgearbeitet wurde und wie sie vom Staat sogar zu schützen ist.578 Eine rechtmäßige Abtreibung kann nur bei medizinischer Indikation in Betracht kommen.579 Die Beurteilung einer Würdeverletzung bei dem weiblichen, schwangeren Familienmitglied ist abhängig sogar von aretaischen Aspekten, die sich in der Frage wiederfinden: Mit welcher Gesinnung, aus welchen Beweggründen wurde der Geschlechtsakt, der zur Zeugung des Würdewesens führte, vollzogen? Aber selbst wenn nach umfassender Beantwortung dieser Frage ein Gesamtbild nach allen ethischen Denkmustern das einer Würdeverletzung durch 577  Hofmann, Art. 1, Menschenwürde, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, S. 132, Rn. 11: Beginn des Lebens und des Rechtsschutzes mit der Konjugation, also der mütterlichen und väterlichen Keimzellen; Isensee, Würde des Menschen, S. 127, Rn. 212: „Letztlich haften an allen Versuchen, den Lebensschutz auf einen Zeitpunkt nach der Kernverschmelzung zu verlegen […] Momente von Willkür.“ Die willkürliche Behandlung eines Menschen und des gleich in dem Behandelnden wie in dem Behandelten angelegten Menschseins tangiert aber die Menschenwürde. Ebenfalls ganz im Sinne dieser Arbeit: Starck, Art. 1, Menschenwürde, in: Mangoldt/Klein/Starck, Rn. 18: „Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Möglichkeiten genügen, um Würde zu begründen.“; Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz – Kommentar, S. 7, Rn. 4: „Die weitere Entwicklung des Embryos ist seit seiner Entstehung durch Kernverschmelzung in ihm selbst als fertiges Programm angelegt“. 578  Vgl. BVerfGE 39, 1, 41 (Schwangerschaftsabbruch I): „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“; BVerfGE 88, 203, 252 (Schwangerschaftsabbruch II): „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen.“ 579  Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 71, eine Rechtfertigung nur bei medizinischer Indikation annehmend, sofern das Leben der Schwangeren allein durch Opferung des Fötus gerettet werden kann.



C. Die Subsumtion der Fälle183

völlige, verlogene Instrumentalisierung der Frau zur Zeugung eines Kindes wäre, könnte dies nicht zur Abtreibung des bereits entstandenen Würdewesens führen. Hier liegt nicht der Fall vor, in dem exakt uno actu zwischen verschiedenen Wesen und Handlungen entschieden werden muss, sondern nach chronologisch etwaig bereits erfolgter Würdeverletzung ginge es nun sogar um die effektiv breit streuende Entscheidung, wie das Leben des Fötus, der Opfer der Schwerkriminalität, der Frau und des VE zukünftig möglichst würdevoll gestaltet werden können, und welcher Verantwortung der Staat in welcher Zeitfolge nachzukommen hätte. Dabei ergibt sich bezüglich der Kindszeugung durch einen VE das Ergebnis, dass nach verantwortlicher staatlicher Auswahl, Ausbildung, Belehrung, und angemessener Überwachung des VE der Staat – nur analog zur strafrechtlichen Verantwortlichkeitslehre – zwar durch den Einsatz rein kausal eine Bedingung für die Schwangerschaft gesetzt hat, diese ihm aber bei Einhaltung seiner Auswahl- und Überwachungspflichten nicht mehr objektiv zurechenbar ist. Die etwaige Würdeverletzung durch die vielleicht völlig verlogene Kindszeugung ereignete sich allein inter partes – zwischen Mann und Frau. Die direktere Verantwortung des Staates besteht für den auftragsgemäßen Schutz der Kriminalitätsopfer und bei vorzeitiger Einsatzbeendigung potentiell weiterer gefährdeter Personen, danach für die Führung der Person des VE nach dessen Abirrung. Begleitend hat der Staat im Rahmen der Gefahrenabwehr darauf zu achten, dass die Würde und das Leben des Kindes gewahrt bleiben. Die konkreten Maßnahmen – wie etwa ein Abziehen des VE, eine zeitige Information der Frau, ein offenes Vorgehen im kriminellen Milieu – sind von den genauen Umständen abhängige Fragen des Einzelfalles. V. Differenzierungen, Delegationen und Diffusion zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht In der Diskussion über menschenwürdenahe staatliche Zwangsmaßnahmen werden angesichts der Eindrücke dilemmatischer Situationen vermittelnde, auslagernde, die Abgrenzungen zwischen Rechten wie Rechtsgebieten verwischende Lösungsrichtungen vor- und eingeschlagen: Nach einer Auffassung könne Folter polizeirechtlich rechtswidrig, aber strafrechtlich „erlaubt“ sein.580 In den von einer Auffassung so titulierten tragic-choice-Konflikten581 zwischen Menschenwürde des Täters und Menschenwürde des Opfers kön580  Jerouschek,

581  Anglizismus

Rn. 862.

JuS 2005, 296 ff. bei: Lisken/Denninger/Rachor, Handbuch des Polizeirechts, E,

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

ne der Staat den Dingen seinen Lauf lassen und „Folter“ zwar nicht öffentlich-rechtlich legitimieren, aber das Naturrecht der Notwehr strafrechtlich auch nicht beschränken, wenn Leben und Würde des Opfers gegen einen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen wären.582 Teilweise wird das Problem aus der verfassungsrechtlichen Dogmatik geradezu ausgelagert, wenn es heißt, dass es allenfalls darum gehen könne, „bei der gerichtlichen oder disziplinarrechtlichen Beurteilung des Verschuldens eines Beamten oder bei der Wertung eines Eingriffs Dritter das Ziel des Schutzes der Menschenwürde eines Opfers einzubeziehen“583. Oder wenn ganz offen gesagt wird, dass es verfassungsrechtlich nicht zu entscheiden sei, wie Fälle der Folter zum Zwecke der Rettung von Menschen strafrechtlich zu behandeln sind, weil Schutzpflichten keine Strafpflichten notwendig zur Folge haben.584 Auch das BVerfG grenzt seine öffentlich-rechtliche Renegade-Entscheidung von einer strafrechtlichen Beurteilung ab, wenn es erwähnt: „Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären […]. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist allein entscheidend, dass der Gesetzgeber nicht durch Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zu Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG geregelten Art gegenüber unbeteiligten, unschuldigen Menschen ermächtigen, solche Maßnahmen nicht auf diese Weise als rechtmäßig qualifizieren und damit erlauben darf. Sie sind als Streitkräfteeinsätze nichtkriegerischer Art mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren.“585

Etwas weiter über das Strafrecht hinaus und durchaus ins öffentliche Recht hinein weist der mit der Absicht der Entspannung des wissenschaftsinternen und potentiell in der Person des Entscheidungsträgers intraindividuellen Konflikts gegebene Hinweis, dass das logische Gegenteil von rechtmäßig nicht rechtswidrig, sondern nichtrechtmäßig sein könne.586 Diese Logik in den öffentlich-rechtlichen Bereich übernommen, könnte das Handeln des Beamten für den vom Staat nicht ausdrücklich geregelten, weil vielleicht nicht ausdrücklich regelbaren Einzelfall wegen der nichtexpliziten, aber vielleicht impliziten Regelung nicht als ausdrücklich rechtmäßig deklariert, jedoch genauso vielleicht nicht rechtwidrig sein. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG herausgearbeitete, in wesentlichen Fragen ein explizit ausgeschriebenes Gesetz verlangende Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes ist erstens ein Grundsatz und zweitens nur einer von 582  Erb,

Jura 2005, S. 26 ff.; Erb, NStZ 2005, S. 593 ff. Staatrecht II – Grundrechte, § 10, Rn. 64. 584  Michael/Morlock, S. 103, § 8, Rn. 151. 585  BVerfGE 115, 118 ff. (Luftsicherheitsgesetz). 586  Jerouschek, JuS 2005, S. 302. 583  Hufen,



C. Die Subsumtion der Fälle185

mehreren verfassungsrechtlichen Grundsätzen, der mit der übrigen verfassungsmäßigen Rechtsordnung in gerechten Einklang zu bringen wäre. Jedenfalls griffe eine rein strafrechtliche Insellösung zu kurz, denn das Strafrecht kann sich in seiner Qualität als angewandtes Verfassungsrecht587 einer verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht entziehen. VI. Recht und staatliche Schutzpflicht Nach Art. 1 I 2 GG ist Achtung und Schutz der Menschenwürde Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. In den Fällen lebensrettender Aussageerzwingung oder des verdeckten Aussageermittlung wäre in die Würde des Opfers nach der Verletzung durch einen Täter ein zweites Mal – diesmal durch den Staat selbst – eingegriffen, würde der Staat seiner expressis verbis in Art. 1 I 2 GG normierten Schutzpflicht nicht nachkommen. Weder historisch noch grammatikalisch ergibt sich eindeutig eine Vorrangstellung der Achtungspflicht in bezug auf den Täter; vielmehr kann die Beschränkung der Achtungspflicht durch die Schutzpflicht bereits in der Binnenstruktur des Art. 1 I GG als angelegt angesehen werden. Für die zugrundegelegten Fälle könnte systematisch und teleologisch auf einen Vorrang der Schutzpflicht des Staates für das unschuldige und durch den Tatverdächtigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit instrumentalisierte, gefolterte Opfer zu erkennen sein. Die Rechte des Störers und Tatverdächtigen könnten gerade in dieser seiner verfahrensrechtlichen Doppelrolle u. a. durch strikte Beweisverwertungsverbote für das Strafverfahren, durch strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (nur Erlaubnis einer Androhung588 oder erst Androhung mit Aufforderung zur Aussage für nochmalige tätereigene Opferhilfemöglichkeit, dann mildestmöglicher, nur langsam steigerungsfähiger, schmerzzufügender Zwang ohne Verletzungen und bleibende Schäden), durch Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren (ärztliche Aufsicht; weitestgehende Ermöglichung von umfassendem Rechtsschutz, etwa durch besonders qualifizierte Belehrungen; schriftliche Dokumentation sowie Bild- und Ton-Dokumentation während des gesamten Procederes) zu wahren sein. Auch die (polizeiliche) Exekutive ist gemäß Art. 20 III GG nicht nur an das Gesetz, sondern ebenso und im extremen Konfliktfällen letztgültiger an das Recht gebunden. Das Recht ist mehr als die Summe der Gesetze. Ein Mehr an Recht kann seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung schon Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 909, 966 ff. JZ 2005, S. 321 ff., mit Unterscheidung von „Folter“-Anwendungsverbot und insbesondere strafrechtlicher „Folter“-Androhungserlaubnis; ähnlich aus völkerrechtlicher Sicht: Schmahl/Steiger, AVR Bd. 43 (2005), S. 358 ff. 587  So

588  Herzberg,

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

als Sinnganzem haben.589 Grundlegende Verfassungswerte sind die Sicherheit des Staates und die Sicherheitsgewährleistung für seine Bevölkerung, von deren Bewahrung der Staat seine eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.590 Das Recht des Staates darf sich nicht zurückziehen, darf nicht durch stumpfes Unterlassen der Rettung unschuldigen staatsbürgerlichen Lebens einen Antagonismus zu Moral und Gerechtigkeitsgefühlen seiner Bürger bilden und seine Delegitimation in Kauf nehmen; genauso wie der Staat Delegitimierung erführe, wenn seine Beamten gezielt willkürlich Menschenwürde verletzten591, denn: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“.592 Bei gegeneinander gerichteten Rechten kann eine Art Gesamtanspruch der Rechtsordnung einen Vorrang dahingehend begründen, dass der Tatverdächtige als der den Gesellschaftsvertrag beeinträchtigende Aggressor593 anzusehen ist; und er folglich in die Schranken des Rechts zurückzuverweisen sein könnte, nicht das Opfer gewissermaßen vor Hilfe bewahrt werden müsste.594 Der Staat darf keinen staatsrechtlichen Zustand des summum ius, summa iniuria entstehen lassen, nach Art eines „fiat lex, et pereat mundus“, ohne dem höchsten, in dieser Arbeit bereits zu Anfang ausgearbeiteten, rechtsethischen Ideal der iustitia. Die Würde aus Art. 1 I 1, 2 GG ist unabhängig von ihrer weiteren dogmatischen Einordnung als Grundrecht oder Konstitutionsprinzip oberste positive Rechtsnorm.595 Sie kann zudem durch ihr Gewicht in der üblichen rechtsdogmatischen Auslegung oder in Ermangelung einer rechtssystematisch vorgreiflichen Form erga omnes596 subjektiven Anspruchsgehalt erzeugen.597 Nur mit dieser prinzipienhaften Herleitung der subjektiven Achtungs- und Schutz-Regel in systematischer Auslegungsrelation kann präzise davon gesprochen werden, dass Art. 1 GG ein subjektiv öffentliches Recht 589  BVerfGE

34, 269, 287 (Soraya). 49, 24 (Kontaktsperregesetz). 591  Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, § 10, Rn. 63. 592  Vgl. Art. 1 I „Herrenchiemseer Entwurf – Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder, erstellt von einem Verfassungsausschuss, der von den Ministerpräsidenten der Länder der drei Westzonen eingesetzt, und zwischen dem 10. August 1948 und dem 25. August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammengetreten war.“ 593  Vgl. zur Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen: BVerfGE 4, 7, 15 (Investitionshilfe). 594  Brugger, HFR 4/2004, S. 45, 48. 595  Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, § 10, Rn. 9 und vgl. die Rspr. des BVerfG. 596  Isensee, Würde des Menschen, S. 130 ff., Rn. 219 ff. 597  Seit BVerfGE 1, 322 (Zwangsverleihungen deutscher Staatsangehörigkeit nach Annexionen seit 01.01.1938), mit Bejahung der Beschwerdebefugnis nach § 90 BVerfGG. 590  BVerfGE



C. Die Subsumtion der Fälle187

„enthält“598. Diese Rechtsqualität der Menschenwürde als höchste, absolute und unmittelbare Geltungsnorm des Art. 1 I 1, 2 GG innerhalb der gesamten Rechtsordnung mit der sogar ganz h. M. konsequent gedacht, ist es von vornherein nicht völlig ausgeschlossen, dass sie für die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber den Opfern in den extremen, konkret zugrundegelegten, singulären Entführungs- und Zeitbombenfällen sowie schweren Menschenrechtsfällen mit ausreichend gesicherter Tatsachengrundlage und gleichsam einzig real-möglich noch verbleibender Maßnahme als Rechtsgrundlage zur Entscheidung über Lebensrettung oder billigender Todeshinnahme heranzuziehen sein könnte. Lehnte man die Heranziehung einer Grundrechtsnorm als unmittelbare Rechtsgrundlage unter allen Umständen ab, so könnte die polizeirechtliche Generalklausel in systematisch-verfassungskonformer Auslegung insbesondere vermittelt durch Art. 1 I 2 GG heranzuziehen sein. Denn Generalklauseln sind keine minderen Rechtsnormen, sondern solche anderer Qualität. Systematisch-institutionell-staatsrechtlich relativieren die Generalklauseln den Rechtsschutz nicht, sondern provozieren im rechtsstaatlichen Gewaltensystem – das idealtypisch die Gestaltungsmacht der Legislative, die Handlungsmacht der Exekutive und die Kontrollmacht der Judikative zuteilt – zu verdichteter, richterlicher Kontrolle des auf ihrer Grundlage ergangenen Verwaltungshandelns.599 Aus alledem leitet sich auch eine fundamentale Konsequenz ab: Das Verhältnis von Generalklauseln und speziellen Standardbefugnisnormen ist grundsätzlich eines der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung und nur im gesetzesintern speziell normierten Einzelfall eines auf Wortlaut und Gesetzessystematik beschränktes Vorrangverhältnis zugunsten der besonderen Bestimmungen.600 Freilich müsste für eine rechtliche Beurteilung der ultima ratio-Charakter des Falles mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit anhand von chronologischer Darlegung und Beweisführung sämtlicher Fakten nachvollziehbar dokumentiert sein. Die Geeignetheit des Zwangs als Prüfungspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde in Frage gestellt mit der Überlegung, der Pflichtige könne die Unwahrheit sagen, nur um der Zwangswirkung zu entgehen und sich Erleichterung zu verschaffen.601 Dagegen ist einzuwenden, dass für die Geeignetheit einer Maßnahme eine Teileignung, ein Schritt in die richtige Richtung genügt und der Aussageinhalt des Pflichtigen im Einzelfall sofort nach Aussage überprüft werden kann.602 598  So etwa Hofmann, Art. 1, Menschenwürde, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, S. 128, Rn. 3. 599  Wissmann, Generalklauseln, S. 10 f. 600  Wissmann, Generalklauseln, S. 331. 601  Günther, Darf der Staat foltern, um Menschenleben zu retten?, S. 101, 106; Hanschmann, Kalkulation des Unverfügbaren, S. 130, 139. 602  Herbst, Lebensrettende Aussageerzwingung, S. 125 f.

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5. Teil: Rechtlich-ethische Entscheidungen

Für die Fälle des Flugzeugabschusses sind staatstheoretische Überlegungen angestellt worden, der tatunbeteiligte Bürger an Bord des Flugzeugs könne in seiner Situation als morituri, als ohnehin Todgeweihter, ähnlich wie Soldaten im Kampfgeschehen durch seine würdevolle Aufopferung zur Abwehr erheblich größerer Schäden auf dem Staatsgebiet einer staatsbürgerlichen Pflicht nachkommen.603 Das Menschenopfer in sich selbst ist freilich eine durch die Menschenwürde konstituierte freie Entscheidung des einzelnen Rechtssubjektes. Dann hat er die Menschheit in sich abermals als Zweck gesetzt. Vom Menschen zu verlangen, für den Staat sich aufzuopfern, widerspricht der letzten teleologischen Prüfinstanz des kategorischen Imperativs, dass der Staat um des Menschen willen da sei, nicht der Mensch um des Staates willen.

603  Vgl.

Pawlik, JZ 2004, S. 1045 ff.

6. Teil

Würde, Wahrheit und Wesentliches Die Herrschaft des Menschlichen noch im Tod kündet von der Würde des Menschen als noch Mehr und auch Anderes als das nackte Leben. Die Potentialität des Menschseins umfasst auch die jederzeitige, individuelle Möglichkeit eines freien, selbstbestimmten Todes durch eigene Sinngebung – und nicht das fremdbestimmte Oktrois eines „Du musst“, „für einen höheren Zweck“. Im Angesicht der christlichen Märtyrer, angefangen mit der Kreuzigung des menschgewordenen Gottessohnes Christus, die trotz aller Ächtung, Folterung, Verfolgung, Vernichtung ihre Würde nicht preisgeben konnten, macht Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG alleine schon Sinn604, der da lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser Satz bestätigt normativ, dass trotz faktischer, erfahrungsgemäßer Antastungen der Menschenwürde das Menschliche als Grundlage der Integrität der Person als Rechtssubjekt unantastbar, unabhängig von jeder unwürdigen Behandlung und jedem unwürdigen Verhalten erhalten bleibt.605 Die inhärente Würde des Menschen ist unantastbar. Sie muss durch Achtung und Schutz der Person extern manifestiert werden.606 Die Unantastbarkeit einer mit den Mitteln der Vernunft praktisch-analytisch angenommenen, inhärenten Menschenwürde macht ihre Absolutheit. Durch dieses universale, egalitäre, kategoriale Konzept von Menschenwürde ist sie als nicht weiter beweisfähiges, empirisch plausibelstes Axiom der Menschenrechte geeignet, weil diese, wenn sie als Menschenrechte plausibel sein sollen, als wesentliche Charakteristika eben Universalität, Egalitarität und Kategorizität aufweisen müssen.607 Gleichwohl erschöpfen sich der Gehalt und Geltungsgrund nicht in der christlichen Lehre, die selbst Jahrhunderte lang zu den Menschenrechten ein 604  Schaede, Würde – eine ideengeschichtliche Betrachtung aus theologischer Perspektive, S. 28, 66. 605  Vgl. schon die dahingehend, konjunktivisch formulierte Vermutung bei: Dreier, H. Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 128. 606  Kobusch, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, S. 216 f. 607  Vgl. Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, S. 63; Alexy, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004 (52), S. 16; Müller, Ein Phantombild der Menschenwürde – Begründungstheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, S. 121.

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6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches

gespaltenes Verhältnis einnahm608, und nur ein – wenngleich auch sehr wichtiger – Aspekt des Würdeverständnisses ist, aber ein großes Beispiel auch dafür, dass selbst die Kirche als mächtige Instanz ihre Berechtigung im freiheitlichen Verfassungsstaat nicht durch sich selbst und ein etwaig von ihr festgesetztes Menschenbild erhält, sondern durch die Offenheit des Menschenbildes des Grundgesetzes an der Rechtssubjektivität gleichermaßen partizipiert. Die definitorische Offenheit des Menschenwürdebegriffs wie die Nichtfestlegung auf ein ganz bestimmtes Menschenbild sind Korrelat zur inneren Freiheit des Menschen, dem Wesen der Würde. Für jederzeitige Aufmerksamkeit, Sensibilität und Wachsamkeit, Wehrhaftigkeit des Menschenwürdegedankens als Rechtsgedanken par excellence gibt es keinen Automatismus, sondern zunächst nur eine vom Rechtsprinzip her annähernde Rechtsanwendung. Nicht jeder Grundrechtsverstoß bedeutet eine Menschenwürdeverletzung, aber jede Menschenwürdeverletzung lässt sich mit den Grundrechten judizieren. Nicht jeder Grundrechtsverstoß ist eine Menschenwürdeverletzung, weil letztere nur vorliegt, wenn das Verhalten Ausdruck der Missachtung des einzelnen Menschen als Rechtssubjekt ist oder Schutzlosstellung des einzelnen Menschen in der Rechtsgemeinschaft. Die Bestimmung der Menschenwürde über Ausschluss-, Demütigungs-, Erniedrigungs-, Ohnmachtsstellungsmotive machen entscheidend das Spezielle der Menschenwürde im Verhältnis zu den nachfolgenden Grundrechten aus. Diese spezielle Seite der durch die Motive indizierten Menschenwürdeverletzungen bildet die im Menschen beschlossene, inhärente Menschenwürde des Menschseins ab. In der äußeren Rechtssphäre findet sie Ausdruck in den unter dem Prinzip der Menschenwürde auszulegenden und anzuwendenden Grundrechten des einzelnen Menschen als Person, als Grundrechtsträger. Die Zurückführung der grundgesetzlichen Menschenwürdenorm auf das Wesentliche des Rechts und das damit einhergehende, offene und prinzipielle Menschenwürdeverständnis sind notwendige Voraussetzungen für die dauerhafte Gewährleistung von rechtsstaatlicher Bestimmtheit als Vertrauensschutz vor Wendehals-Interpretationen je nach Weltanschauung der Herrschenden. Wegen der Offenheit des grundgesetzlichen Menschenbildes darf es auch kein Verbot gerade aufgrund der Menschenwürde des Würdeträgers gegen dessen freiverantwortlichen Willen geben, wenn das Verhalten auch sonst nicht als rechtlich verboten zu bewerten ist. Wenn ein Rechtsanwender zu der Bewertung gelangt, dass ein Verhalten verboten ist, etwa allein sub 608  Dreier, H., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I, Rn. 6 ff., der sich damit gegen Isensee, ZRG KA 104 (1987), S. 333, wendet, m. w. N., welche die von Isensee, ebenda vertretene Auffassung vom Christentum als „alternativlose Verfassungsstütze“ und von allen anderen Auffassungen zur Menschenwürde nur als „säkularisierte Formen der christlichen Personalitätsidee“ eine „wahrlich steile These“ und „Begriffsimperialismus“ nennen und das „Konto weit überzogen“ sehen.



6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches191

specie öffentlicher Ordnung, dann könnte dies eine zutreffende Bewertung sein, aber die Hyperbegründung der Generalermächtigung mit dem Prinzip der Menschenwürde zur Ermächtigung eines Eingriffs in ein bestehendes Recht gegen den Willen des Würdeträgers wäre falsch. Wenn sonst keine Willensmängel oder sonstigen Verbotsgründe vorliegen, kann die eigene Menschenwürde des Würdeträgers gegen dessen Willen nicht der Grund für eine Beschränkung seiner subjektiven Rechte sein. Beweis für die Gefährlichkeit einer überinterpretativen Instrumentalisierung der Menschenwürde waren historische Beispiele von unvermittelt entgegengesetzter Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch soziale Definitionsmächte kurzzeitig nach Änderung machtpolitischer Vorzeichen609 und historische Beispiele von vereinzelt gebliebenen Mesalliancen mit der vergleichbar unergiebigen Menschenwürde zur finalen Fallbearbeitung.610 Wo sich der Menschenwürdebegriff nur in einem allgemeinen Gattungsbegriff verflüchtigt und nicht in der intersubjektiven, individuellen Erfahrung des Verantwortungszusammenhangs und symmetrischen Anerkennungsverhältnisses synthetisiert wird, besteht weiterhin eine erhöhte Gefahr der Vereinnahmung des Begriffes gegen den Würdeträger im Namen der Gattung.611 Hier darf nun nichts mehr im vorgelegten Menschenwürdekonzept verwechselt werden: Jeder existierende Einzelne ist Würdeträger als Individuum und wird entsprechend als Person behandelt, aber jeder Einzelne ist Würdeträger nicht qua seiner Individualität, sondern wegen des gattungsmäßig im Menschsein anzunehmenden Potentials.612 Ein Abstellen lediglich auf die nur individuellen Fähigkeiten würde augenblicklich die Verabsolutierung des Menschseins relativieren und den Keim von willkürlicher Selektion in sich tragen. 609  PrOVGE 91, 139, 140 f. am 09.11.1933 (Damenboxen): „Nach diesen veränderten Anschauungen ist es mit den Wesenseigentümlichkeiten der Frau, ihrer Stellung und ihrer Würde innerhalb der Volksgemeinschaft unvereinbar, wenn zur Befriedigung ihrer Schaulust in öffentlichen Lokalen weibliche Personen auftreten, die im Kampfe aufeinander losschlagen und sich gegenseitig Verletzungen beizubringen versuchen.“ 610  Z.  B. bei Peepshows (BVerwGE 64, 274), Lasertötungssimulationsspielen (BVerwGE 115, 189, 198 ff.), anders: VGH München, NVwZ-RR 1995, 32 und für Paintball: VGH Mannheim, GewArch 2004, 327; Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8, Rn. 33: „dogmatisch nicht geglückt“; ebenfalls gegen ein Rekurrieren auf die Menschenwürdenorm akkumulativ zu Sozialnormen der öffentlichen Ordnung unter rechtssystematischer Erinnerung zum Verhältnis von Art. 1 GG und Grundrechten, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wurde: Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 55: „Im übrigen neigt die neuere Rechtsprechung zur öffentlichen Ordnung dazu, die Grundrechte in zweifelhafter Weise zu unterlaufen.“ 611  Müller, Ein Phantombild der Menschenwürde: Begründungstheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, S. 123. 612  Müller, Ein Phantombild der Menschenwürde: Begründungstheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, S. 125.

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6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches

Im Kontext des Art. 2 I 1 GG, der da lautet, dass Achtung und Schutz der Menschenwürde Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sind, hat der Verfassungsgesetzgeber im Angesicht des Todeskults der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft eine positivierte Naturrechtsordnung mit unmittelbarer Verbindlichkeit schaffen wollen.613 Herausgekommen ist ein rechtlich-ethisches Rückkoppelungsverhältnis über den Menschenwürdebegriff mit wechselseitiger Geltungsverstärkung614 und eine dogmatische Stufenarchitektur innerhalb des Art. 1 GG,615 in welcher die Philosophie der Menschenwürde eben nicht im Ungefähren verschwinden soll, sondern als erstes und letztes Prinzip den Menschen setzt und insofern im einzelnen Fall auch zur Regel des Handelns werden kann. Moral wird zum Recht positiviert; Menschenrechte zu Grundrechten; Staat zum Rechtsstaat mit substantiellem Halt in womöglich wechselnden Konstellationen. Der Staat des Grundgesetzes ist kein Selbstzweck. Ohne Menschen ist kein Staat zu machen. Auch der Mensch selbst trägt in einem von geistigtotalitärer Fremdherrschaft abgegrenzten und an den Grundsätzen des Subsidiaritätsprinzips ausgerichteten Freiheitssystem der Selbstverantwortung Verantwortung für sich und andere: Ihm ist übertragen worden, für die Erkenntnis des Eigenwerts aller Menschen im Staate Sorge zu tragen. Das ist eine Verpflichtung, die jederzeit gegenüber jedem von jedem besteht.616 Wer sie verabsäumt, verstößt gegen die logischen Regeln der Vernunft und überlässt sich selbst und die Menschheit der Willkür. Art. 1 GG ist während jeder juristischen Auslegung Memorandum dafür, dass der Staat des Grundgesetzes mitsamt seiner Rechtsordnung kein Selbstzweck ist, und Art. 1 GG ist der Schlüssel617 für rechtsethische Denkweite bei der juristischen Auslegung bis ins teleologische hinein, also insofern die Auslegung fixsternartig anleitender Orientierungspunkt.618 Schlicht nicht 613  Denninger, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 Abs. 2, S. 302, Rn. 3. 614  Vgl. Höfling, Art. 1, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Rn. 1. 615  Denninger, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 Abs. 2, S. 302, Rn. 4. 616  Vgl. Isensee, Würde des Menschen, § 87, Rn. 1, S. 5, wo er schreibt, dass für die Erkenntnis des idealen Bildes vom Menschen ein Mensch dem anderen Achtung schuldet und wo er zitiert die „rettende Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst“ von: Thomas Mann: Versuch über Schiller (1955), in: ders. Nachlese, Prosa 1951– 1955, 1956, S. 57 (140). 617  Schlüssel- und Zweckgedanke auch bei: Hillgruber, Art. 1, Schutz der Menschenwürde, S. 5, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz  – Kommentar. 618  Vgl. Enders, Art. 1. Menschenwürde, Grundrechtsbindung, S. 112 f., Rn. 38 f., in: Stern/Becker: Grundrechte-Kommentar, wo bzgl. der Rede vom „Grundrecht“ in



6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches193

mehr und schlechthin nicht weniger ist die Menschenwürde, und das ist ganz viel, jedenfalls mehr als ein einzelnes Grundrecht, wenn man das Prinzip als deontologisches Recht mit Regelpotential in der Auslegung ernst nimmt und es wird weniger, weil man etwas verliert, wenn man damit für bestimmte andere utilitaristische Zwecke rhetorisch spielt. Die Menschenwürde ist wegen ihrer mannigfaltigen geistesgeschichtlichen Gehalte keine juristische Zauberformel, die man in einen Subsumtionsautomaten stecken könnte und dadurch sogleich eine Art juristischer Weltformel erhielte. Ihre ausdrückliche Anwendung bedarf immer einer Auseinandersetzung mit ihrem gesamten ethisch-rechtlichen Ideengehalt und der Anwendung der dabei gewonnen Ergebnisse durch die Grundrechte und das weitere, auch einfachgesetzliche Rechtsumfeld, auf den konkreten Fall. Damit bleibt die Menschenwürde aufgrund ihrer ursprünglichen Provenienz ein positiviertes Medium im Recht für dessen teleologische Öffnung durch Interdisziplinarität und Interpretationsmethodik. Die Menschenwürde ist junges positives Recht. Die Grund- und Menschenrechte haben eine längere Geschichte, in denen sie sich bewährt haben. In dieser Geschichte hat sich allerdings auch gezeigt, dass geschriebenes oder erklärtes Recht in einzelnen Situationen nicht viel wert bleiben kann. Wenn Grundlage jeglichen Rechts, die Achtung und der Schutz jedes Einzelnen als vernunftbegabter, potentiell verantwortlicher Rechtsträger in den praktischen Entscheidungen nicht ernstgenommen und respektiert wird. Wenn nicht in den einzelnen Entscheidungen mit möglichst wissenschaft­ licher, intersubjektiv nachprüfbarer Methodik das Recht ausgelegt und die Umstände umfassend abgewogen werden. Ernstgenommen und respektiert wird ein jeder nur, wenn er entsprechend dem symmetrischen Austauschverhältnis aller Individuen im Rechtsstaat und ihrer wechselseitigen Pflichtrechtbeziehungen angemessen gewürdigt wird, was heißt, dass er je nach intersubjektiv nachvollziehbaren, rechtlich-ethischen Bewertungen seiner Handlungen und Unterlassungen mit Rechtsanspruchsgewährleistungen ausgestattet und mit Pflichten in Anspruch genommen wird. Substanz und Form, Inhalt und Methode korrelieren im Menschenwürdebegriff und im ihm inhärenten Rechtsverständnis und Staatsdenken miteinander. Der deontologische, regelhafte, individualbezogene Pflichtcharakter des Rechts zeigt sich sehr gut in der Unwägbarkeit der subjektiven Rechte selbst. Die Würde jedes einzelnen Menschen als Inhaber von Rechten ist das Prinzip der Rechtssubjektivität. Deshalb kann eben ein Mensch – etwa ein Kind – auch nicht aus allgemeinen konsequentialistischen und speziell utilitaristischen Gründen geopfert werden, wenn er ein in den Grundrechten Anlehnung an einen Terminus aus dem Privatrecht von einer „falsa demonstratio“ geschrieben wird, weil die Menschenwürde objektiv-rechtliches Prinzip sei.

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6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches

konkretisiertes Recht auf Achtung und Schutz hat. Zu unterscheiden sind immer der deontologische Charakter des Rechts selbst, der Unwägbarkeit aller einmal erkannten und zugeordneten Rechte impliziert und die rechtspolitische Abwägung aller Konsequenzen durch den Gesetzgeber sowie die Abwägung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls durch den judikativen oder exekutiven Rechtsentscheider, wie sie nach menschenmöglichen Erkenntniskräften vorliegen. Zur konsequentialistischen Stoßrichtung der Rechtsentscheidung gehört die gleichberechtigte Einbeziehung der Rechte aller Würdeträger unter Ausschluss jeglicher isolierten, individualzentrierten, auch nur ein einzelnes Rechtssubjekt missachtenden, Betrachtungs­ weise. Die komplette Opferung der Rechte eines Einzelnen für höhere Endzwecke geht nicht an gegen Art. 1 GG. Auszugehen hat die rechtlich redliche Entscheidungsfindung – sowohl diejenige über und diejenige mit der Menschenwürde – von den in dieser Arbeit dargelegten Bedingungen des Erkenntnisprozesses, wozu gehören der Wahrheitsbegriff, das Rechnen mit Tatsachen und Wahrscheinlichkeiten, Plausibilitätskontrollen, die Prüfung von Paradigmen und Perspektiven, mit dem Bewusstsein, dass es für die Rechtsentscheidung keine naturalen Handlungen per se ohne sie rechtsethisch einzuordnende Bewertungen gibt. Bei der Bewertung ist nach dem Grundgesetz auszugehen vom Prinzip der Menschenwürde als Axiom von Rechtlichkeit überhaupt und als Sinnausrichtung aller Grundrechte auf das deontologische Wesen des Rechts: die als unverbrüchlich anzunehmende Rechtssubjektivität jedes Einzelnen, woraus folgt die Verpflichtung zu Achtung und Schutz des menschlichen Wesens, sich möglicherweise in freier Willensentscheidung selbst auch gute Gesetze geben zu können, durch den jeweils anderen. Wer gegen die wechselseitige Abhängigkeit der Anerkennung jedes einzelnen anderen durch sich und den anderen verstößt, verstößt durch logische Widersprüchlichkeit gegen die Gesetze des Denkens und der Erfahrung und entzieht sich allein unter der Autorität der Vernunft selbst die existentiellen Lebensgrundlagen. Ohne Freitag hat die Vorstellung eines Robinsons keinen Sinn.619 Das derart im Verlauf dieser Arbeit durch die praktischen Gesetze der Vernunft entwickelte, in Methodik und Ergebnis auf das maximal mögliche, auf das Wesentliche reduzierte Menschenwürdeverständnis, nämlich Menschenwürde nicht als von vornherein spezielles Grundrecht mit vorgeblich fest umrissenem Schutzbereich, hat weitere verfassungsimmanente und rechtsstaatliche Vorteile: Verfassungsimmanent wird die Staatsräson im Einklang mit der gebotenen weltanschaulichen Neutralität620 und der Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG nicht in einer äußeren, vorgesetzten Autorität gesucht, 619  Baumann, 620  Vgl.

Menschenwürde und das Bedürfnis nach Respekt, S. 27. Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar, S. 106.



6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches195

sondern jeder Staatsbürger selbst auf die Gesetze der Vernunft im Geiste säkularisierter Aufklärung621 für das gesellschaftliche Staatsganze verpflichtet. Rechtsstaatlich wird die prinzipielle Zukunftsoffenheit622 der Menschenwürdenorm unterstützt bei gleichzeitiger Verankerung in der intersubjektiven, symmetrischen Verpflichtung eines jeden Staatsbürgers zu Achtung und Schutz des menschlichen Eigenwerts der Willensfreiheit zu guter Selbstgesetzgebung. Rechtsstaatlich soll die Bemächtigung des Menschenwürdeartikels durch eine gesellschaftliche oder eine Staatsmacht und ein tabuartiges Abschneiden rechtswissenschaftlicher Auslegung und Abwägung unterbunden werden. Würde nämlich entgegen der historischen Auslegung der Menschenwürdenorm und der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung über Art. 79 III GG jeder Richterspruch zu Art. 1 I GG sogar gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber tabuartigen Ewigkeitscharakter erhalten, würde die staatliche Verfassung nicht säkularisiert, sondern sakralisiert.623 Die Menschenwürde erweist sich im Spektrum von Individualismus, Personalismus, Kollektivismus624 aber gerade als individuelle Schutz- und Tabuzone vor staatlicher Weltanschauungsvereinnahmung. Eine solche Weltanschauungsvereinnahmung hat in besonders drastischer Weise in der Negativfolie der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft trotz formal in Kraft gebliebener Weimarer Reichsverfassung stattgefunden, mit Ausrichtung auf das Individuum ignorierende Staatszwecke.625 Zusätzlich zu diesen Funktionen bleiben mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit dennoch maximal alle ideengeschichtlichen Gehalte von heiliger Verehrung und Selbstverpflichtung des Menschen, wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge und selbstzweckhafter Subjektqualität des Menschen prinzipienhaft integriert. Mit dem durch die vorliegende Arbeit gewissermaßen analytisch synthetisierten Menschenwürdekonzept ist das positive Recht nach der Verlautbarung vom Tode Gottes626 wie irgendwie noch maximal möglich durch eine im menschlichen Sein übergeordnete Begründung des Achtungs- und Schutzanspruchs 621  Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 4, Zwölftes Stück, S. 481–494. 622  Das BVerfG hat selbst eingeräumt, dass ein Menschenwürdeurteil immer auch zeitbedingt vom jeweils gegenwärtigen Stand an Bewusstsein und Erkenntnis abhängig sei, in: BVerfGE 45, 187, 229 (Lebenslange Freiheitsstrafe). Ein weiteres Indiz für die Erkenntnis der Unmöglichkeit absoluter Regel-Anwendung selbst eines absoluten Prinzips. 623  Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 143. 624  Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, S. 669, 671. 625  Vgl. BVerfGE 6, 132, 163 f. 626  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 108, 125, 343; ders., Zarathustra, II, 4, Von den Mitleidigen, 31 f., S. 115.

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6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches

für Metadiskurse über die Menschenwürde intersubjektiv nachvollziehbar aufgefangen. Das hiermit vorliegende Menschenwürdekonzept fügt sich am besten in das Aussagensystem aller vorhandenen Sollens- und Sollensaussagesätze sowohl aus Ethik als auch aus Recht der gesamten Menschheitsund Ideengeschichte und vermeidet zumindest punktuelle oder temporäre Unglaubwürdigkeit aufgrund von unauflösbaren Widersprüchen bei absoluter Gleichbehandlung von Ungleichem. Nach so viel Menschenwürdediskurs seit Bestehen des Grundgesetzes und seiner exponentiellen Steigerung seit den wirklich existentiellen-problematischen Fällen und nicht nur denen, in welchen Menschenwürde als Verstärkerargument etwa der öffentlichen Ordnung diente, kann es nicht darum gehen, den Menschenwürdebegriff des Rechts mit immer neuen ­Kreationen unter Ausschluss anderer hergebrachter Aussagen aufzublähen, sondern nur darum, im Sinne des hier vertretenen Wahrheitsbegriffs den Menschenwürdebegriff für das Recht unter größtmöglicher Vereinigung allzeitlich tradierter Gedanken kluger Köpfe auf das Wesentliche zurückzuführen. Wer diese Wesentlichkeiten noch weiter reduziert, das meiste an Menschenwürdegehalt der Ideengeschichte im Recht abwehrt oder umgekehrt die Funktion der Menschenwürdenorm über ihr Wesen überdehnt, wird dem Wesen des Menschen, seiner Würde nicht gerecht. Bei der Berücksichtigung der philosophischen Gehalte des Menschenwürdebegriffs passiert nicht eine Depossedierung des Verfassungsrechts durch die Philosophie627, sondern eher eine Einverleibung und damit Stärkung des Rechts durch die Moral, ein Klügerwerden der Jurisprudenz628. Der redliche Umgang mit diesen Wesentlichkeiten entscheidet über die Zukunft des Würdeaxioms. Der Menschenwürdeartikel bildet die durchaus justiziable Engführung des ethischen Prinzips des Rechts und dessen philosophische Begründung, zugleich die juristische Öffnung des Rechts hinein in ethische Reflexion und Rückversicherung. Die Menschenwürdenorm ist rechtlich-ethisches Gegenstrommedium. Sie überbrückt die Kluft zwischen inhärenter, unverlierbar im Menschsein beschlossener Würde und kontingenten, äußeren Würdeverhältnissen.629 Der Menschenwürdeartikel kündigt vom Prinzip des Rechts und vom wehrhaften Optimismus, dieses jederzeit in der Gewährleistung der Grundrechte realisieren zu können. Zum redlichen Umgang gehört die systematische Auslegung, welche gemäß allgemein anerkannter Höfling, Plädoyer für die Autonomie rechtlicher Begriffsbildung, S. 37 ff. dem Lateinischen ius, iuris, zu Deutsch: Recht, vgl. Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 283 f. und vom Lateinischen prudentia, zu deutsch: Vorhersehen, Umsicht, Einsicht, Klugheit, in Verbindung mit iuris vor allem: Kenntnis, Wissenschaft, vgl. Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 415. 629  Müller, Ein Phantombild der Menschenwürde: Begründungstheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, S. 131. 627  So

628  Aus



6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches197

Rechtsnormkonkurrenzregeln auf die Menschenwürdenormen ausdrücklich nur zurückgreift, wenn sich nicht schon der einzelne Fall rechtskonform durch das Gesamt der nachfolgenden Gesetzesregeln lösen lässt. Heutzutage bedarf es noch viel Auseinandersetzung mit Menschenwürdeargumenten, die systematisch nicht angebracht sind und nicht an richtiger Stelle stechen. Das trägt eben nicht zur Stärkung des Rechtsprinzips bei, sondern zur Schwächung durch Inflationierung und unsystematischer Entscheidungsfindung. Der Topos der Menschenwürde kann durch die historischen Beispiele von Menschenwürdeverletzungen und durch das Demütigungs-, Erniedrigungsund Ohnmachtsstellungmotiv im einzelnen Fall ein starker Indikator bei der Auslegung sein, genauso wie auch ethisch-intuitive Eindrücke vom Verletzungsvorgang her nicht völlig ausgeschlossen gehören. Jedoch ist die Menschenwürde kein Alles-Problem-Löser und dispensiert nicht von den Mühen der Ebene bei der Anwendung juristischen Handwerkszeugs630 der Rechtsdogmatik in jedem einzelnen Fall durch Abwägung aller Umstände und Auslegung wie Subsumtion.631 Der Rechtsstaat sieht in der Freiheit des Menschen zu guter und schlechter Selbstgesetzgebung nicht in erster Linie Not, sondern macht aus ihr die Tugend, auf äußere Bedingungen für die Ermöglichung guter und in der staatlichen Gesellschaft wechselseitig abgestimmter Selbstgesetzgebung abzustellen. Das prozedurale Rechtsschutzsystem des Rechtsstaates nach Artt. 19 IV, 92 ff. GG soll das materielle Recht sichern helfen.632 Dafür, dass die symmetrisch-wechselseitige Anerkennungslogik des Rechts aus dem Prinzip der im Menschsein jedes Einzelnen gesetzten Würde durch den jeweils Anderen nachvollzogen werden kann, bedarf es dennoch mehr als reinem Vertrauen in die Vernunft, reinem Vortrag ihrer Logik und reinem Angebot rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen. Für die reale Würdeverwirklichung erfordert es auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft633 Erziehung, Bildung, Kultur, in welcher dem einzelnen Menschen moralische Grundlagen des Rechts vermittelt werden634 Das Recht braucht die Ethik, damit es über die Kenntnis des Rechtsnormensystems und seiner faktischen Durchsetzungspotentiale hinaus für die es nötigenden Entschei630  Sinnigerweise stammt das Wort von der Norm vom Lateinischen norma ab, was – bevor es sich mit Regel oder Vorschrift übersetzen ließ – soviel wie Winkelmaß, Richtschnur, Maßstab bedeutete, also Handwerkszeug bezeichnete, vgl. Stowasser/Petschenig/Skutsch, Stowasser, S. 337. 631  Luf, Der Grund für den Schutz der Menschenwürde, S. 50. 632  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 158. 633  Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, S. 185–220. 634  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 209, wonach man zum Denken gebildet sein muss, damit man den Gedanken des Rechts habe.

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6. Teil: Würde, Wahrheit und Wesentliches

dungssituationen Halt findet und eine überpositive Richtung sieht.635 Denn bei der Menschenwürde handelt es sich auch nach der vorliegenden Konzeptionierung um keine naturkausale Notwendigkeit, sondern um eine solche der praktischen Vernunft. Ihr Wesen kann nur in Diskursen und durch Vorbilder sowie nötigenfalls in mehr als geistigen Kämpfen immer wieder verteidigt werden. Die Verteidigung des Rechts ist Pflicht gegen sich selbst und für das Gemeinwesen.636 Dementsprechend bedeutet Würde als das Wesen des Rechts wie dieses Recht und Pflicht für sich selbst und andere. Das Wesen des Rechts ist das, was den Menschen und die Ethik von Staat und Recht ausmacht. Ohne das Wesen des Rechts, dass im Menschenwürdebegriffsgehalt seinen Kern hat und seinen Kristallisationspunkt erfährt, sind die Gesetze und ihre Umsetzung positive Hülle ohne Halt und wahre Substanz. Ohne Achtung und Schutz der Menschenwürde ist das Recht kein wahres Recht, kann es in den Augen eines Maßnahmenadressaten oder mehrerer Rechtsbetroffener schnell zur verlogenen Veranstaltung geraten. Das wahre Wesen des Rechts sind die hier ausgearbeiteten Begriffsgehalte der Menschenwürde. Der in dieser Arbeit mit dem wissenschaftlichen Wahrheitszweck und entsprechender Methodik entwickelte Begriffsgehalt der Menschenwürde ist das, was den einzelnen Menschen das ihn betreffende Recht als seine Sache, als wahr, als Gerechtigkeit erleben lassen kann. Wenn die menschliche Besinnung auf das Wesentliche und die ethischen Prinzipien der Moral Halt geben, kann Recht alle Konstellationen unter Menschen größtmöglich gerecht regeln.

635  Vgl. 636  Vgl.

Radbruch, Rechtsphilosophie, § 10, Fn. 2. Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 56.

Literaturverzeichnis Als Hilfsmittel wurde das Internet teilweise im Sinne eines bibliographischen Hilfsmittels zum Auffinden oder zur Vergewisserung wissenschaftlicher Titel genutzt, insbesondere die Suchmaschinen Google, Bing und Wikipedia. Die nachgeschlagenen Titel wurden dabei stets im Original benutzt. Sämtliche Zitate stammen aus analogen oder digitalen Versionen der Druckfassungen. Bei der Nutzung letzterer habe ich auf die einzelne Unterscheidung von analogem und digitalem Zugang oder nochmaliger analoger oder digitaler Vergewisserung zu bekannten Inhalten verzichtet. Entscheidende und vor dem Hintergrund teilweise vorhandener Diskussionen zu Erklärungspflichten erst Recht unbedingt zu nennende Hilfe für diese Arbeit waren mir die Menschen, die mich bisher auf meinem Lebens- und Bildungsweg mit Büchern, Gesprächen, Erlebnissen zu Erkenntnissen und Erkenntnisquellen sowie den Fähigkeiten eigener Erkenntnisbildung geführt und mit sonstiger Unterstützung begleitet haben. Diese tragenden Hilfen haben weit vor dem offiziellen Beginn zu dieser Arbeit begonnen und lassen sich überwiegend jedenfalls nicht direkt im folgenden Literaturverzeichnis finden. Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991. Albrecht, Ernst Carl Julius: Der Staat – Idee und Wirklichkeit. Grundzüge einer Staatsphilosophie, Stuttgart 1976. Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation – Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 7. Auflage, Frankfurt am Main 2012 (Erstauflage 1983). – Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg und München 1992. – Theorie der Grundrechte, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1996. – Menschenrechte ohne Metaphysik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004 (52), S. 15–24. Althusius, Johannes: Politica Methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata: Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica de utilitate, necessitate et antiquitate scholarum, Herbonae Nassoviorum 1603. Amelung, Knut: „Rettungsfolter“ und Menschenwürde, in: JR 01 / 2012, S. 18–20. Apelt, Willibalt: Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, in: NJW 1949, S. 481–485. Aristoteles (384–322 v.  Chr.): Metaphysik (Entstehung: zwischen 348 und 322 v. Chr.; Erstdruck: Venedig 1498; erste vollständige deutsche Übersetzung: Rieckher, Julius; deutsche Übersetzung des vorliegenden Textes: Lasson, Adolf, Jena 1907), 3. Auflage, Berlin 2014; Hrsg. der Reihe: Holzinger, Michael.

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Sachwortverzeichnis absolute subjektive Rechte  101 Abtreibung  182 Abwägung  115, 116, 155 Achtungs- und Schutzanspruch  152 Adäquation  27 agent provocateur  171 Akteur-Neutralität  114 Akteur-Relativität  114 Akt-Utilitarismus  113 Allaussage  91 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte  78 Allgemeines Persönlichkeitsrecht  98, 109 Anerkennung  138 Angreifer  116 Antwortmöglichkeiten  34 a posteriori  51 a priori  51 aretaische Aspekte  117 aretaische Ethik  113 Auslegung  31, 69 Auslegungsansätze  69 Auslegungsziel  112 Aussageerpressung  161 Aussagen  27, 88 Aussagensystem  28, 31 Aussagepflicht  163 Aussageverweigerungsrecht  173 Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft  121, 124 außergesetzliche rechtfertigende Pflichtenkollision  165 Autonomie  50 Axiom  90, 134, 137, 138

Befragung  162 Befugnisnormen  96 Begriff  32 Belehrungspflicht  172 Berührungen  153 Beschuldigtenstatus  172 Bestimmtheitsgebot  120 Bibel  45 Bildhauer  48 Bill of rights  79 Bindungswirkung  72 Brechmittel  81 Bürger  19 causa finalis  134 Charta der Grundrechte der Europäischen Union  79 Charta der Vereinten Nationen  78 christliche Autoren  47 christliche Lehre  189 Dammbruch-Argument  179 Déclaration des droits du l’homme et du citoyen  79 Deduzierungen  29 Defunktionalisierung  119 Demütigung  134 Demütigungsmotiv  123 Denkmuster  112 Deontologie  113 Deutschland  116, 179 Diffamierung  121 differentia specifica  33, 175 dignitas  45 Ding an sich  54 Diskriminierung  121

220 Sachwortverzeichnis Diskurs  26 Disziplin  29 Dreieckskonstellationen  19 Dreiecksverhältnis  175 dringend Tatverdächtiger  149 Drittwirkung der Grundrechte  108 Eigenverantwortlichkeit  144 Eigenwert  60 einzelnes Recht  115 Endzweck  80, 137 Ensembletheorien  122 Entführung  149 Entscheidungen  38 Entscheidungsfindung  115, 194 Entscheidungsgegenstände  117 entschuldigender Notstand  165 Erfahrungssätze  29 Erhabenheit  60 Erkenntnismedium der Jurisprudenz   115 Erkenntnisziel  28 Erlaubnistatbestandsirrtum  164 Erniedrigung  132 Erniedrigungsmotiv  123 Ernstnehmen  144 Ersetzung  90 erstes Moment  134 Ethik  27, 34, 38–40, 88, 122, 135 Ethikmodelle  115 ethische Entscheidungsmuster  115 ethische Konklusion  143 ethische Muster  113 ethisches Ideal des Rechts  39 ethisches Minimum  39, 122, 135 ethische Struktur des Rechts  115 etymologisch  89 Europäische Antifolterkonvention  175 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten  79 Ewigkeitsklausel  74 Exekutive  185 ex-post-Perspektive  181

Fall  27 Fälle  19, 33, 148, 175 fallentscheidende Wirkung  140 Fallgruppen  153 Falsifikation  28 finaler Rettungsschuss  154 Flugzeugabschuss  19, 86 Folgenabschätzung  112 Folter  20, 84, 116, 168, 177, 178, 183 Foltertabu  155 Folterverbot  155 Folterverbote  175 Folter-Verbotsvorschriften  175 Form  131 forum externum  40, 177 forum internum  40, 177 Fötus  182 Frankfurter Entführungsfall  82 freier Wille  50, 90, 135 Freiheit  50, 116 Freiheitssphäre(n)  116 Friedensordnung  39 Gebotenheit  165 Geeignetheit  187 Gefahrenabwehr  181 Gemeinschaftsbezogenheit  135 Gemeinschaftsgebundenheit  135 Generalklauseln  40, 187 genera proxima  33, 175 Genus  154 genus moris  168 genus naturae  168 genus proximum  33, 175 Gerechtigkeit  39, 198 Gerechtigkeitsarbeit  40 Gerichtspositivismus  73 Gesetzeskraft  73 Gestaltung  65 Gestaltungsauftrag  62 Gewaltenmachtverschiebung  126 Gewaltensystem  187 Gewohnheitsrecht  125

Sachwortverzeichnis221 Gleichheit  39 Glück  77 Goldene Regel  134 Gott  45, 48, 50 Gottebenbildlichkeit  46 Gottebenbildlichkeitslehre  61 Grundgesetz  22, 79, 145, 179 Grundrechte  145 Grundrechtsverstoß  190 Grundsatz des fairen Verfahrens  172, 173 gültiger Schluss  70 Gute  50 Güter  115 gute Sitten  40 Habeas Corpus  166 Hermeneutik  37 hermeneutisch  28, 37 Heuristische Erkenntnisprogramme  116 historische Auslegung  71 historisch-genetische Auslegung  76 holistisch  28, 37 homo noumenon  54 homo phanomenon  54 horror vacui  49 Hybris  60 hypostatische Union  63 Hypothese  28 Ideengeschichte  31, 41, 42, 65 Induktion  30 Informanten  170 Inhalt  131 Instrumentalisierungsverbot  118 Interdisziplinarität  36 Interessen  115 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte  79 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte  79 internationale Verträge  79 internationaler Vertrag  78

Interpretation  37 Intersubjektivität  60, 132 Intimsphäre  99 iustitia  39 Jurisprudenz  27 juristische Methodenlehre  69 Justizsyllogismus  70 kategorischer Imperativ  52, 182 kausaler Grund  134 Kernbereich privater Lebensgestaltung  99 Kognitivismus  87 Konklusion  69 Konklusionen  70 Konsequentialismus  113 Konsequenzethik  113 Kontraktualismus  132 körperliche Gewalt  162 langandauernde Sicherungsverwahrung  156 Laserdrome-Spiele  82 Leben  102, 158 lebensrettende Aussageerzwingung  19, 149, 179 lebensrettender Luftfahrzeugabschuss  150 lebensrettender Todesschuss  154 Lebenssachverhalte  33 Legende  169 lex parsimoniae  94 Lockspitzel  171 Logik der Vernunft  134 Lüge  53, 168, 174 Maximen  52 Medium  142 Mensch  51, 58, 91, 137, 143, 192 Menschen  56, 184 Menschenbild  190 Menschenrechte  60, 134, 139, 144, 189, 192, 193

222 Sachwortverzeichnis Menschenwürde  61, 62, 64, 87, 110, 115, 116, 129, 131, 134, 138, 139, 141, 143, 164, 178, 190, 191, 193, 195, 197, 198 Menschenwürdeartikel  22, 196 Menschenwürdegehalt  98 Menschenwürdeideen  42 Menschenwürdekonzept  17, 23, 191 Menschenwürdenorm  196 Menschenwürdesatz  91, 92 Menschenwürdeverletzung  190 Menschenwürdeverständnis  136 menschenwürdig  18 Menschheit  91 menschliches Leben  158 Menschsein  54 Mitgift  45, 152 mittelbare Drittwirkung von Grund­ rechten  110 Moral  34, 38, 40, 63, 192 moralische Bewertung  113 Nachweis  28 Nahestehende  165 nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft  79 Natur des Menschen  45 nemo-tenetur  161 Nichtanerkennung  138 Nichtdemütigung  123 nicht offen ermittelnde Polizeibeamte  171 Nonkognitivismus  87 Normenhierachie  116 Normkonkurrenz  109 Nötigung  161 Notwehr  116, 164 Objekt staatlichen Handelns  154 Objektformel  118, 152 objektive Wertordnung  108 objektives Recht  116 öffentliche Sicherheit oder Ordnung  41 Ohnmächtigstellung  124 Opfer  116

Peep-Shows  82 Person  53, 58, 64 Personalität  51 Personenbegriff  63 Pflicht  50 Pflichten  44 Pflichtethik  113 Philosophie  34, 53, 113 Plausibilität  31 Polizeibegriff  19 polizeilicher Bereich  22 Potential  66, 131 praktische Konkordanz  116 Prämisse der Rechtsgemeinschaft  143 Prämissen  70 Praxisfälle  147 prima causa  134 primum movens  134 Prinzip  105, 117 probabilistisch  28 Prüfstand  17, 86 Recht  11, 34, 39, 52, 115, 116, 125, 135, 138, 143, 144, 158, 184, 185, 197 Recht als Wissenschaft  38 Rechte  115 Rechtfertigung Gottes  46 Rechtsaussagen  37 Rechtsaussagesätze  68 Rechtsdogmatik  20, 36, 67 Rechtserkenntnisquellen  68 Rechtsgeschichte  36 Rechtsgüter  115 Rechtskraft  72 Rechtsnormcharakter  126 Rechtsnormen  68, 96 Rechtsökonomik  36 Rechtsphilosophie  36 Rechtsprämisse  133 Rechtsprinzipien  68 Rechtsregeln  68 Rechtssätze  68

Sachwortverzeichnis223 Rechtssicherheit  72 Rechtssoziologie  36 Rechtsstaat  120, 173, 197 rechtsstaatlich  195 Rechtsstaatlichkeit  115, 132, 139 Rechtsstaatsprinzip  173 Rechtssubjektivität  121, 132 Rechtstheorie  20, 35 Rechtsvergleichung  36 Rechtsverwirklichung  115 Rechtswissenschaften  35, 38 Regel  107 Regel-Ausnahme-Verhältnis  109 Regelungen  68 Regel-Utilitarismus  113 Reich der Zwecke  51 Rhetorik  101 Sachverhalte  28 Schlussfolgerung der Vernunft  133 schrankenlose Rechte  156 Schuldprinzip  144 Schutzpflicht  144, 179 Schutzvertrauen  145 Schwangerschaftsabbruch  160 Schweigerecht  172 Selbstbelastungsfreiheit  160 Selbstzweckformel  53 Selbstzweckgedanke  61 Sicherheit  186 Sittengesetz  40 Sollensaussagesätze  41 Sollenssatz  41 Sollenssätze  41 soziale Tatsachen des Rechts  39 Speziesismus  51 Sprache  87 Staat  19, 22, 110, 179, 186, 192 staatlich veranlasste Lüge  150 Staatlichkeit  134 Staatslehre  36 stoá  45 Strafrecht  185

strafrechtliches Modell  116 Strafrechtsvorschriften  155 subjektive Rechte  115 Subsumtion  69 Sünde  47 Sündenfall  47 Syllogistik  70 Syllogistisches Schlussverfahren  70 systematische Auslegung  71, 97, 196 Tabu  124 Tabugrundrecht  125 Tatprovokation  171 Täuschung  169 Teildisziplinen  35 Teleologie  112 teleologische Auslegung  111 teleologische Reduktion  163 tertium comparationis  33, 175 Theodizee  46 Theorien-Triangulation  31 Tier  49 Tiere  45, 47 Todessschuss  19 Topos  33 tragic-choice  183 Tugendethik  113 übergesetzlicher entschuldigender Notstand  165 Überzeugungskraft  30 Unantastbarkeitsformel  94 UN-Antifolterkonvention  175 Ungleichbehandlung  138 Universalisierungsformel  52 unmenschliche Behandlung  84 unmittelbarer Zwang  162 unmittelbare Wirkung der Grundrechte  108 Unterinterpretation  127 Unterlassen  161, 181 US-amerikanische Unabhängigkeits­ erklärung  79 Utilitarismus  113

224 Sachwortverzeichnis Verantwortlichkeit  63 Verantwortung  144, 176 Verantwortungszusammenhang  135 Verbot von Vernehmungsmethoden  169 Verdeckte Ermittler  169 verdeckte Lücke  163 Verfassung  36, 110 verfassungsmäßige Ordnung  156 Verfassungsstaat  40 Verfassungswerte  186 Verhältnismäßigkeitsterminologie  104, 156 Verifizierung  28 Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat  161 Verletzungsvorgang  121, 166 Vernehmung  172 Verrechtlichung  18, 67 verschleiertes Vorgehen  173 Verstärkerargument  101, 102 Verstärkungsverschmelzung  100 Vertragstheorie  133 Vertrauen  145, 173, 174 Vertrauenspersonen  170 Vertrauensschutz  145 vis absoluta  163 vis compulsiva  163 Völkermord  119 Völkerrecht  79, 178 Vorbehalt des Gesetzes  184

Wahlfreiheit  61 Wahrheit  26 Wahrheitsbegriff  128 Wahrscheinlichkeit  30 Weimarer Reichsverfassung  18, 78 Welt  27 weltanschauliche Neutralität  139 Werke  43 Wesen des Rechts  198 Wesensgehaltsgarantie  100 Wesensmerkmal  62 Wille  50, 57 Wille des Gesetzgebers  141 Willensfreiheit  61 Wirtschaftsleben  78 Wissenschaft  26 Wissenschaftlichkeit  38 Wissenschaftsmodelle  37 wohlfahrtsstaatlich  78, 80 Wohnungsgrundrecht  99 Worte  32 Wortlautauslegung  70, 87 Würde  49, 57, 58, 59, 60, 63, 65, 87, 133, 137, 142, 144, 184, 186 Würdigkeit  44, 50, 51 Zeitbombe  149 zoon politikon  134 Zwangsanwendung  154 Zwergenweitwurf  82