Die Maximen des Herzogs von La Rochefoucauld [Reprint 2019 ed.] 9783486769524, 9783486769517

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Die Maximen des Herzogs von La Rochefoucauld [Reprint 2019 ed.]
 9783486769524, 9783486769517

Table of contents :
VORWORT DES ÜBERSETZERS
NACHRICHT FÜR DEN LESER
Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster
NACHGELASSENE MAXIMEN
UNTERDRÜCKTE MAXIMEN
Werke von Ernst Hardt
Übersetzungen

Citation preview

F R A N Ç O I S VI H E R Z O G V O N LA

ROCHEFOUCAULD

Die Maximen des Herzogs von La Rochefoucauld Übersetzt v o n

Ernst Hardt

MÜNCHEN UND BERLIN 1957 VERLAG

VON

R.

OLDENBOURG

Druck von R. Oldenbourg in München

VORWORT DES

ÜBERSETZERS

La Rochefoucauld wurde als Ältester von dreizehn Geschwistern im Jahre 1613 geboren. Der gräfliche Stammsitz seiner alten und hochgestellten Familie lag oder liegt nordöstlich von Bordeaux in Westfrankreich. Er erhielt die seinem Stande gemäße Erziehung zu Schwert, Pferd und Krieg. Mit fünfzehn Jahren wurde er verheiratet und zeugte in seiner Ehe fünf Söhne und drei Töchter, ohne daß Andrée de Vivonne, im Gegensatz zu anderen Frauen, in seinem Leben je einen anderen als diesen mütterlichen Raum eingenommen hätte. Bis zum Tode seines Vaters, der im Jahre 1622 in den Herzogstand erhoben worden war, führte er den Titel eines Prinzen von Marcillac, 1650 wurde er François VI., Herzog de La Rochefoucauld, Pair von Frankreich. Doch ob Prinz, ob Herzog, in den staatlichen Werdekämpfen des XVII. französischen Jahrhunderts, aus denen ein gefestigter Staat unter der Alleinherrschaft eines Monarchen hervorging, stand La Rochefoucauld auf selten der verlierenden und zu bändigenden Partei, auf selten des sich mit dem inneren und äußeren Feinde jeweils verschwörenden 3

aufständischen Adels. Von Fronde zu Fronde, zwischen der Bastille, in die Richelieu den Vierundzwanzigjährigen für eine Woche warf, zwischen dem Schaffott auf dem Grève-Platz, in dessen Nähe den Neunundzwanzigjährigen die von dem Marquis de Cinq-Mars angezettelte Verschwörung brachte, und dem Büchsenschuß, der den fünfunddreißigj ährigen Generalleutnant einer unterliegenden Rebellenarmee an der Seite seines ältesten Sohnes, des Prinzen von Marcillac, mitten in sein schönes und tapferes Gesicht traf, verlief La Rochefoucaulds Leben in den Kabalen, Nöten und Drangsalen des unterliegenden Parteimannes und wider die obsiegende Macht aufständischen großen Herrn und Soldaten. Adlige Tugenden, Treue für die beschworene Sache, Opfersinn und heldenhafte Tapferkeit hatten in dieser ersten Hälfte seines Lebens seinem Namen großen Ruf geschaffen, noch ehe er sich mit anderen seelischen und geistigen Kräften seines Wesens unvergänglicheren Ruhm erwarb. In seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre zeichnet La Rochefoucauld von sich ein schriftliches Selbstbildnis, in dem es heißt: „Von meinem Gemüte muß ich sagen, daß ich schwermütig bin, und zwar so sehr, daß man mich in den letzten drei oder vier Jahren kaum drei oder viermal lachen gesehen haben

4

möchte." Dieses Bekenntnis ist in den Jahren niedergeschrieben, in denen sich La Rochefoucauld mit zerstörter Gesundheit und geopfertem Vermögen, reich an Narben, Erfahrungen, Enttäuschungen und Erkenntnissen als überwundener selbstherrlicher Ritter von Gottes Gnaden und entstehender Gentilhomme des vierzehnten Ludwig in die Gnade seines Königs und in die neue Ordnung des Staates schickt. Der Täter und Dulder, der im Wirrkreis einander bekämpfender Leidenschaften und Eigensüchte gewirkt hatte, wird nun in leidvollen aber ruhigen Jahren zu einem Moralisten der Betrachtung, der philosophischen Erkenntnis, zu einem großen Schriftsteller und vorbildlichen Solisten, in dem sich der französische Urgenius im Widerstreit zu den literarischen Oberflächentendenzen des Jahrhunderts ruhmvoll offenbart. Und dieser Genius will immer wieder ergründen, nicht was der Mensch zu sein scheint, sondern was er in Wirklichkeit und in Wahrheit ist*. Das um die Mitte des Jahrhunderts aus den politischen Kabalen und blutigen Auseinandersetzungen wieder ins Geistige sich wendende gesellschaftliche Leben Frankreichs verzweigt und sammelt sich in Zirkeln geistiger Eliten, in gesellschaftlichen „Sa* Lies F . Strowski: Vom Wesen des französischen Geistes. München und Berlin 1937.

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Ions" nach dem alten unsterblichen Muster des Rambouillet-Schlosses. Wie an den von Frankreich erfundenen Liebeshöfen von ehedem und den Verschwörungen von gestern sind es wiederum Frauen, um die sich diese Eliten scharen. Die im Zirkel der Frau von Sablé vereinigten Persönlichkeiten gefielen sich im Erdenken und Erörtern, im Drehen und Wenden von Sentenzen und Maximen oder, wie wir heute sagen würden, von Aphorismen. In dieser geistigen Luft, in diesem leidenschaftlichen Hingenommensein erlesener Menschen für die Kühnheit neuer Erkenntnisse über den Menschen, sind im Zeitraum von sieben Jahren die 641 Aphorismen entstanden und wieder und wieder geschliffen worden, welche das Maximenwerk La Rochefoucaulds vorlegt. Mehr noch, sie haben diese ihm zugewandten Geister und Herzen als ein Sieb passiert, in sie ist die Erfahrung und die Zustimmung einer geistigen und seelischen Gemeinschaft eingegangen. Getragen und geprägt von der Persönlichkeit und dem stilistischen Genie eines einzelnen, stellen sie die Erkenntnisse einer erlesenen Gesamtheit von Menschen dar, welche in einer Beruhigung oder Atempause großen geschichtlichen Geschehens zu einer Art Selbstbesinnung und Selbstbeschauung gekommen waren. Sie fanden, im Gegensatz zu der Tugendhaltung der 6

Preziösen und den idealisierenden Ritter- und Schäferromanen der Zeit, daß der Mensch nicht gut sei. In diesem sehr hohen Sinne handelt es sich in den Maximen La Rochefoucaulds nicht um die moralischen Spekulationen und Erkenntnisse einer Individualität, sondern um den Niederschlag und Bodensatz einer Epoche. Die erste Ausgabe der Maximen erschien ohne den Namen ihres Verfassers im Jahre 1665, in La Rochefoucaulds zweiundfünfzigstem Lebensjahre also, begleitet von einer „Nachricht für den Leser", welche auch dieser Übertragung vorangesetzt ist. Die feine und kluge Bosheit der wenigen Zeilen, die mit bewußter Grazie den damals üblichen Tonfall der Editoren nachahmen, möchte mittelbar oder unmittelbar auf La Rochefoucauld zurückzuführen sein. Das Maximenwerk, wie es La Rouchefoucauld ein Jahr vor seinem 1680 erfolgten Tode in der sechsten Auflage selbst festgelegt hat, umfaßt die Maximen 1—504. Zwölf Jahre nach seinem Tode vermehrte sein Verleger das Werk um 57 Maximen, die sich in des Herzogs Nachlaß gefunden hatten. Es sind die Sentenzen 505—562. Unter den Nummern 563—641 endlich stehen Maximen, welche La Rochefoucauld aus den sechs ersten Auflagen allmählich unterdrückt hatte. Die vorliegende deutsche Ausgabe umfaßt 7

also das gesamte Maximenwerk nach dem Text und in der Bezifferung der französischen Ausgabe der Bibliothek Larousse. — Die Übersetzung der Maximen erstrebte äußerste Treue und äußersten Widerstand gegen die gar oft sich bietende Versuchung, die scharfen und zarten Ecken und Kanten der Gedanken dem Rundschliff eines sprichworthaften Ausdruckes zum Opfer zu bringen. Sie wurde zuerst im Jahre 1906 veröffendicht und hat in dieser neuen Ausgabe, neben der Vermehrung um 5 j nachgelassene oder unterdrückte Maximen, eine genaue Durcharbeitung und Vervollkommnung des sprachlichen Ausdruckes erfahren. Berlin im September 1937. Ernst Hardt

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NACHRICHT

FÜR DEN

LESER

Ich biete hier unter dem Titel „Betrachtungen oder moralische Maximen" dem Publikum ein Porträt des menschlichen Herzens. Es ist dem Schicksale ausgesetzt, nicht jedermann zu gefallen, weil man vielleicht finden wird, es sei allzu ähnlich und schmeichle nicht genug. Es hat den Anschein, als sei es niemals die Absicht des Malers gewesen, dieses Werk erscheinen zu lassen, und sicher würde es noch in seinem Kabinette verschlossen liegen, wenn nicht eine schlechte Abschrift, welche davon umgegangen und seit einiger Zeit sogar bis nach Holland gedrungen ist, einen seiner Freunde veranlaßt hätte, mir eine andere zu geben, welche er dem Originale vollkommen gleichlautend sagt; aber wie getreu sie auch sein möchte, sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach dem Tadel gewisser Personen kaum entgehn, welche nicht ertragen können, daß man sich anläßt, bis auf den Grund ihrer Herzen zu düngen, 9

und ein Recht zu haben wähnen, andere daran zu verhindern, sie zu erkennen, weil sie sich nicht selbst erkennen wollen. Da diese Maximen mit jener Art von Wahrheiten angefüllt sind, in die sich der menschliche Eigendünkel niât zu schicken weiß, ist es in der Tat fast unmöglich, daß er nicht gegen sie aufstünde und ihnen Tadler schüfe. Um ihretwillen berichte ich hier von einem Briefe, den man mir gegeben hat, und der seit dem Auftauchen der Handschrift verfaßt worden ist in der Zeit, da ein jeder darüber seine Meinung zu sagen für gut fand; er schien mir trefflich geeignet, den Haupteinwürfen zu begegnen, die man gegen die Betrachtungen erheben kann, und die Empfindungen ihres Verfassers zu erhellen: er begnügt sich nämlich damit, hervorzuheben, daß der Inhalt der Maximen nichts anderes sei wie der Abriß einer Moral, welche mit den Gedanken mehrerer Kirchenväter völlig übereinstimmt, und daß ihr Verfasser mit Recht hätte glauben dürfen, nicht in die Irre zu gehn, als er so guten Führern folgte, und daß es ihm erlaubt 10

war, so vom Menschen zu sprechen, wie es die Kirchenväter getan hatten; aber wenn die diesen geschuldete Ehrfurcht nicht imstande ist, den Groll der Tadler zurückzudämmen, wenn sie sich kein Gewissen daraus machen, die Meinung dieser großen Männer zu verdammen, indem sie dieses Buch verdammen, so hüte ich den Leser, es ihnen nicht nachzutun, seinen Geist nicht von der ersten Wallung seines Herzens fortreißen zu lassen und — wenn es möglich ist — dafür zu sorgen, daß Eigenliebe sich nicht in das Urteil mische, das er fällen wird: denn wenn er sie befragt, braucht man nicht mehr darauf zu rechnen, er könne diesen Maximen günstig gesinnt werden: da sie die Eigenliebe als den Verderber der Vernunfi ansprechen, wird sie nicht verfehlen, den Verstand gegen sie einzunehmen. Man muß also auf seiner Hut sein, diese Beschuldigung zu rechtfertigen, und sich klarmachen, daß nichts so sehr angetan ist, die Wahrheiten dieser Betrachtungen zu erweisen, als der Eifer und der Scharfsinn, den man aufwenden wird, sie zu II

bekämpfen. Es wird in der Tat schwer sein, einem Menschen mit gesundem Verstände weis zu machen, man 'verdamme sie aus anderen Gründen, denn aus heimlichem Eigennutz, aus Eigendünkel und aus Eigenliebe. Mit einem Wort, das beste, was der Leser also tun kann, ist, seinem Geiste zunächst einzuschärfen, daß keine einzige dieser Maximen ihn im besonderen beträfe, und daß er allein ausgenommen sei, obgleich sie allgemein gültig erscheinen. Wenn dies gescbehn, bin ich ihm Bürge dafür, daß er der erste sein wird, der sie gutheißt, und sogar meinen wird, sie ließen dem menschlichen Herzen noch Gnade widerfahren. Dies hatte ich über diese Schrift im allgemeinen zu sagen.

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Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster

1

Was wir für Tugend halten, ist oft nur ein Zusammentreffen unterschiedlicher Handlungen und Vorteile, welches das Geschick oder unsere Geschicklichkeit herbeizuführen weiß, und nicht immer sind die Männer aus Kühnheit kühn und die Weiber keusch aus Keuschheit. 2

Eigenliebe ist der größte aller Schmeichler. 3

Man mag noch so große Entdeckungen im Reiche der Eigenliebe gemacht haben, stets bleibt unerforschtes Gebiet zurück. 4

Eigenliebe ist klüger als der klügste Mann der Welt. 5

Die Dauer unserer Leidenschaften hängt nicht mehr von uns ab, als die Dauer unseres Lebens. 6

Leidenschaft macht oft aus dem gescheitesten Menschen einen Narren und aus den größten Dummköpfen gescheite Leute. 15

7 Die großen glänzenden Taten, welche wir geblendet anstaunen, werden von den Politikern stets als die Folgen großer Absichten dargestellt, während sie gewöhnlich Folgen von Launen und Leidenschaften sind. So war der Krieg des Augustus und Antonius, den man aus ihrem Willen, sich zu Herren der Welt zu machen, herleitet, vielleicht nur die Folge einer Eifersucht. 8

Die Leidenschaften sind die einzigen Redner, welche stets überreden. Sie kommen einer Kunst der Natur gleich, deren Regeln unfehlbar sind, und so überredet denn der einfältigste Mensch, den Leidenschaft treibt, stets besser als der beredsamste, der keine hat. 9 Alle Leidenschaften sind unbillig und selbstsüchtig, es ist daher gefährlich, ihnen zu folgen: man soll ihnen mißtrauen, selbst wenn sie noch so vernünftig erscheinen. 10 Im menschlichen Herzen west ein unaufhörliches Entstehen von Leidenschaften, so daß das Abwelken der einen fast immer das Keimen einer anderen bedeutet. i6

Die Leidenschaften erzeugen oft ihre Gegensätze: Geiz bringt manchmal Verschwendung, und Verschwendung Geiz hervor; oft ist man fest aus Schwäche und aus Zagheit kühn. 12 Mit welcher Sorgfalt man seinen Leidenschaften auch die Schleiermasken der Ehre und Frömmigkeit vorhängen mag, sie schimmern immer durch. ij Unsere Eitelkeit erträgt die Verurteilung unserer Neigungen mit größerer Unlust als die Verurteilung unserer Meinungen. 14 Die Menschen pflegen nicht nur die Erinnerung an Wohltaten und Beleidigungen zu verlieren, sondern sie hassen sogar den, der sie verpflichtet hat, und hören zu hassen auf, wer ihnen Schimpf angetan. Die Aufgabe, Gutes zu vergelten und sich für Böses zu rächen, dünkt ihnen eine Knechtschaft, der sie sich nur ungern unterwerfen. 15 Die Milde der Fürsten ist oft nur eine Art Staatsklugheit, um die Zuneigung der Völker zu gewinnen.

ι6 Die Milde, die man gar zur Tugend stempelt, wird geübt: einmal aus Eitelkeit, manchmal aus Trägheit, oft aus Furcht und fast immer aus allen dreien zusammen.

Die Gelassenheit glücklicher Menschen entspringt der Windstille, die das gute Geschick über ihr Gemüt gebracht hat. 18

Gelassenheit ist Furcht, dem Neid und der Mißachtung anheimzufallen, welche jene verdienen, die sich an ihrem Glück berauschen: sie ist ein eitles Prahlen der Stärke unseres Geistes, und die Gelassenheit der Menschen in ihrer höchsten Erhebung endlich ist der Wunsch, größer als ihr Schicksal zu erscheinen.

Wir haben alle genug Kraft, die Leiden anderer zu ertragen. 20

D e r Gleichmut der Weisen ist nichts weiter wie die Kunst, ihre Erregung in ihren Herzen zu verschließen. 18

21

Zum Tode Verurteilte erkünsteln bisweilen eine Standhaftigkeit und eine Verachtung des Todes, welche in Wirklichkeit nur der Angst entspringen, ihm ins Angesicht zu schaun, so daß man sagen kann, jene Standhaftigkeit und Verachtung seien für ihren Geist, was die Binde für ihre Augen ist. 22

Die Philosophie triumphiert gar leicht über vergangene und über zukünftige Übel, den gegenwärtigen aber unterliegt sie. 23

Wenige Menschen kennen den Tod; man erleidet ihn gewöhnlich nicht aus Entschlossenheit, sondern aus Stumpfsinn und Gewohnheit, und die meisten Menschen sterben, weil man's nicht gut unterlassen kann. 24 Wenn große Menschen sich durch ihres Mißgeschickes lange Dauer niederwerfen lassen, verraten sie, daß sie es nicht vermöge der Kraft ihrer Seele, sondern nur durch die Stärke ihres Ehrgeizes ertrugen: bis auf eine sehr große Eitelkeit, sind die Helden gemacht wie die andern Menschen. 19

25 U m das Glück zu ertragen, bedarf es größerer Tugend als zum Ertragen des Unglücks. 26

Weder der Sonne noch dem Tode kann man fest ins Auge schaun. 27 Selbst mit den verbrecherischsten Leidenschaften brüstet man sich bisweilen, nur der Neid ist schüchtern und verschämt, man würde ihn niemals einzugestehn wagen. 28

Die Eifersucht ist in gewisser Hinsicht gerecht und vernünftig, da sie nur zu behalten strebt, was uns gehört oder was wir uns gehörig wähnen: der Neid dagegen ist eine Sucht, die es nicht ertragen kann, daß andere besitzen. 29

Das Böse, das wir tun, trägt uns nicht soviel Verfolgung und Haß ein wie unsere guten Eigenschaften. 30

Wir haben mehr Kraft als Willen, und nur um uns vor uns selber zu entschuldigen, bilden wir uns oft ein: Dinge seien unmöglich. 20

JI Wenn wir keine Fehler hätten, würde es uns nicht soviel Vergnügen bereiten, in anderen welche zu entdecken. 32

Eifersucht nährt sich von Zweifeln, und sie wird zur Wut oder vergeht, sobald man aus den Zweifeln zur Gewißheit gelangt. 33

D e r Stolz hält sich stets schadlos und verliert nichts, selbst wenn er auf Eitelkeit verzichtet. 34

Wenn wir nicht stolz wären, würden wir uns nicht über den Stolz anderer beklagen. 35

I n allen Menschen ist der Eigendünkel gleich, nur die Mittel und Wege ihn zu äußern, sind verschieden. 36 Die Natur, welche die Organe unseres Körpers so weise verteilt hat, um uns glücklich zu machen, scheint uns auch den Stolz mitgegeben zu haben, um uns die schmerzvolle Erkenntnis unserer Mängel zu ersparen. 21

37

A n den Vorhaltungen, welche wir denen machen, die Fehler begangen haben, hat Stolz mehr Anteil als Güte, und wir schelten sie nicht so sehr, um sie zu bessern, als um sie zu überreden, daß wir von Fehlern frei seien. 38 Wir versprechen nach unserem Hangen und halten nach unserem Bangen. 39

Der Eigennutz spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, selbst die des Uneigennützigen. 40

Der Eigennutz, der die einen blind macht, erleuchtet die anderen. 41 Wer sich allzuviel mit kleinen Dingen abgibt, wird der großen gewöhnlich unfähig. 42 Wir haben nicht Kraft genug, unserer ganzen Vernunft zu folgen. 22

43

Der Mensch wähnt oft in Freiheit zu gehen, wenn er geführt wird, und während er mit seinem Geist nach dem einen Ziele strebt, schleppt ihn sein Herz unmerklich einem anderen zu. 44 Geisteskraft und Geistesschwäche sind schlecht benannt; in Wirklichkeit sind sie nichts weiter als gute oder schlechte Bereitschaft der Organe unseres Körpers. 45 Die Launenhaftigkeit unseres Gemüts ist noch wunderlicher als die des Schicksals. 46

Die Liebe oder die Gleichgültigkeit, welche die Philosophen dem Leben gegenüber fühlten, war nur eine Frage des Geschmackes, den sie an sich selber fanden, — und über Geschmacksfragen soll man nicht streiten. 47 Allem, was das Geschick bringt, verleiht unser Gemüt den Wert. 2

3

48 D a s Glück liegt im Genuß und nicht in den Dingen; man ist im Besitze dessen glücklich, was man liebt, und nicht dessen, was andere liebenswert finden.

49 Man ist niemals so glücklich oder so unglücklich wie man sich einbildet. 50 Alle, die einen gewissen Wert zu haben meinen, machen sich eine Ehre daraus, unglücklich zu sein, um sich und anderen einzureden, daß sie der Pfeile des Schicksales würdig sind.

51 Nichts sollte unsere Selbstzufriedenheit so sehr vermindern, als die Erkenntnis, daß wir gestern billigten, was wir morgen tadeln werden.

52 Geschicke mögen noch so verschieden voneinander sein, stets enthalten sie einen gewissen Ausgleich des Guten und Bösen, der sie einander gleich macht. 24

53

Welche großen Gaben die Natur auch verleihen mag, nicht sie allein, sondern sie und das Schicksal machen den Helden. 54

Die Verachtung des Reichtums war bei den Philosophen ein geheimer Wunsch, ihren Wert an der Ungerechtigkeit des Schicksals durch Mißachtung eben der Güter zu rächen, deren es sie beraubte — ein Geheimmittel, um sich vor der Erniedrigung durch die Armut zu schützen — ein Umweg zum Erwerb eben des Ansehens, das sie durch Reichtümer nicht erlangen konnten. 55

Der Haß auf Günstlinge ist nichts weiter als Liebe zur Gunst. Der Verdruß, ihrer nicht teilhaftig zu sein, tröstet und lindert sich durch die Verachtung, die wir dem Günstling zollen, wir versagen ihm unsere Schätzung nur, weil wir ihm das nicht rauben können, was ihm die Schätzung aller Welt einträgt. 56 Um Geltung in der Welt zu erlangen, tut man nach besten Kräften so, als ob man sie bereits erlangt hätte.

57

Obgleich die Menschen sich auf ihre großen Taten etwas zugute tun, sind diese dennoch oft nicht Folgen einer großen Absicht, sondern Wirkungen des Zufalls. 58 Es scheint, daß unsere Taten ihre guten und ihre bösen Sterne haben, denen sie einen großen Teil des Lobes und des Tadels schulden, mit denen man sie bedeckt. 59

Zufälle sind niemals so unglücklich, daß Schlauköpfe nicht dennoch irgend einen Vorteil aus ihnen schlügen, und niemals so glücklich, daß ein Tor sie nicht zu seinem Nachteil wenden könnte. 60

Das Schicksal wendet alles zugunsten seiner Günstlinge. 61

Glück und Unglück der Menschen hängt von ihrem Gemüt nicht weniger ab als vom Schicksal. 62

Aufrichtigkeit ist HerzensofFenheit. Man begegnet ihr bei sehr wenigen Menschen, was man aber ge26

meinhin so nennt, ist nur eine feine Täuschung, um das Vertrauen anderer zu erwecken. 6? Der Widerwille gegen die Lüge ist oft ein geheimer Ehrgeiz, unser Zeugnis wertvoll zu machen und unseren Worten die Geltung von Religionssätzen zu verschaffen. 64

Die Wahrheit stiftet nicht soviel Gutes in der Welt, wie ihr Schein Böses darin anrichtet. 65 Kein Lob, das man der Klugheit nicht zollte, aber nicht des geringsten Geschehens Bürge vermag sie zu sein. 66 Ein kluger Mann soll unter seinen Vorteilen bestimmte Rangstufen herstellen und einen jeden nur nach dieser Ordnung verfolgen. Unsere Begehrlichkeit bringt sie gar oft durcheinander und läßt uns so vielen Dingen auf einmal nachjagen, daß uns die wichtigen entgehen, gerade während wir die kleinen beim Schöpfe fassen. 27

6?

Haltung ist für den Körper, was gesunder Menschenverstand für den Geist ist. 68

Es ist schwer, die Liebe zu erklären: in den Seelen eine Sucht zu herrschen, in den Geistern eine Gleichgestimmtheit und in den Leibern nichts wie ein zarter heimlicher Wunsch nach vielen Mysterien das zu besitzen, was man liebt . . . mehr kann man von ihr nicht sagen. 69

Wenn es eine reine und der Vermischung mit unseren anderen Leidenschaften bare Liebe gibt, so hält sie sich — uns selber unbekannt — auf dem Grunde unseres Herzens verborgen. 70 Liebe läßt sich durch keine Maske lange verbergen, wo sie ist, noch vortäuschen, wo sie nicht ist. 71 Es gibt kaum Menschen, die sich nicht schämten, einander geliebt zu haben, wenn sie sich nicht mehr lieben. 28

72

Wenn man die Liebe nach den meisten ihrer Wirkungen beurteilt, ähnelt sie mehr dem Hasse als der Freundschaft. 73

Man kann Frauen finden, welche niemals eine Liebschaft gehabt haben, aber selten trifft man eine, die nur eine einzige gehabt hätte. 74

Es gibt nur eine Liebe, aber tausend verschiedene Abbilder von ihr. 75

Liebe kann wie Feuer nicht ohne dauernde Bewegung bestehn; sie hört zu leben auf, sobald sie zu fürchten und zu hoffen aufgehört hat. 76 Mit wahrer Liebe steht es wie mit den Geistererscheinungen: alle Welt spricht von ihnen, aber wenige haben welche gesehn. 77

Die Liebe borgt ihren Namen einer unendlichen Zahl von Beziehungen, welche man auf sie zurückführt und mit denen sie dennoch nicht mehr zu tun hat, als der Doge mit dem, was in Venedig geschieht. 29

78 Gerechtigkeitsliebe ist in den meisten Menschen nur die Angst, ihnen möchte Unrecht widerfahren. 79 Wer sich selber mißtraut, des bestes Teil ist Schweigen. 80 Wir sind so wechselnd in unseren Freundschaften, weil die Eigenschaften der Seele so schwer zu erkennen sind, und die des Geistes so leicht. 81 Wir können nichts lieben als im Vergleiche mit uns, und daher folgen wir nur unserem Geschmacke und unserem Gefallen, wenn wir unsere Freunde uns selber vor2iehen, nichtsdestoweniger aber kann einzig durch dieses Vorziehen Freundschaft wahr und vollkommen sein. 82 Versöhnlichkeit gegen unsere Feinde ist nur der Wunsch nach Verbesserung unserer Lage, Kampfesmüdigkeit und Angst vor irgendeinem schlimmen Ereignis. 30

8?

Was die Menschen Freundschaft genannt haben, ist nur Begründung einer Handelsgesellschaft, gegenseitige Interessenschonung, Austausch guter Dienste und endlich ein Geschäft, von dem die Selbstsucht sich stets irgendeinen Gewinst verspricht. 84 Seinen Freunden 2u mißtrauen ist schimpflicher, als von ihnen getäuscht zu werden. 85 Wir bilden uns oft ein, Menschen, welche mächtiger sind als wir, wirklich zu lieben, und dennoch ist es nur Eigennutz, was unsere Freundschaft gebiert; wir hängen ihnen nicht an um des Guten willen, das wir ihnen tun, sondern um des Guten willen, das wir von ihnen empfangen wollen. 86

Unser Mißtrauen rechtfertigt den Trug der anderen. 87 D i e Menschen würden nicht lange in Gesellschaft leben, wenn sie nicht alle Bauern und Bauernfänger zugleich wären. Ji

88

Eigenliebe mehrt und mindert uns die guten Eigenschaften unserer Freunde im Verhältnis zu dem Selbstgenuß, den wir in ihrem Umgang empfinden, ihr Wert für uns beruht also in der Art und Weise, in der sie mit uns umgehen. 89

Jedermann beklagt sich über sein Gedächtnis, niemand über seinen Verstand. 90

W i r gefallen im Treiben des Lebens weit öfter durch unsere Fehler als durch unsere guten Eigenschaften. 91 Selbst der größte Ehrgeiz hat nicht den geringsten Anschein von Ehrgeiz, sobald er sich vor der vollkommenen Unmöglichkeit sieht, das zu erreichen, was er erstrebt. 92

Einem im Wahn seines Wertes befangenen Menschen die Augen öffnen, hieße ihm einen ebenso schlechten Dienst erweisen wie jenem athenischen Narren, der sich einbildete, alle in den Hafen einfahrenden Schiffe gehörten ihm.

93

Greise stellen so gerne gute Lehren auf, weil sie darin einen Trost für ihren Zustand finden, der ihnen nicht mehr erlaubt, mit schlechten Beispielen voranzugehn. 94

Hohe Namen erniedrigen, anstatt zu erhöhn, wenn man sie nicht zu behaupten weiß. 95

Das Anzeichen eines ungewöhnlichen Wertes : wenn er auch von denen gelobt werden muß, die ihn am meisten beneiden. 96

Mancher undankbare Mensch ist durch seinen Undank weniger schuldig, als der, so ihm Gutes getan. 97

M a n hat sich getäuscht, als man wähnte, Geist und Urteil seien zwei verschiedene Dinge: die Urteilskraft offenbart nur den Umfang des vom Geiste ausgestrahlten Lichtes. Dieses Licht durchdringt den Grund der Dinge, ergründet dort, was zu ergründen ist und gewahrt die Dinge, welche nicht wahrnehmbar erscheinen. Man muß also zugeben, daß es die 3

33

Ausdehnung dieses dem Geiste entströmenden Lichtes ist, was alle der Urteilskraft zugeschriebenen Wirkungen hervorruft. 98 Jeder sagt Gutes von seinem Herzen, niemand jedoch wagt's von seinem Geiste. 99 Höflichkeit des Geistes besteht darin, zarte und gefällige Dinge zu denken. 100 Artigkeit des Geistes heißt schmeichelhafte Dinge angenehm sagen. 101 Oft tauchen in unserem Geiste Dinge von selbst vollendeter auf, als er sie mit vieler Denkkunst zu gestalten vermöchte. 102 Der Kopf ist stets der Narr des Herzens. 103 Wer seinen Kopf kennt, kennt nicht sein Herz. 104 Alle Menschen und Dinge sind auf eine bestimmte Entfernung berechnet. Es gibt solche, die man aus 34

der Nähe sehen muß, um sie richtig zu beurteilen und andere, über die man niemals so gut urteilen kann, als wenn man sie aus der Ferne sieht. 105 Nicht der ist vernünftig, der aus Zufall zur Vernunft kommt, sondern der, welcher sie kennt, sie sondert und sichtet und ihrer genießt. 106

U m die Dinge gut zu kennen, muß man ihre Einzelheiten genau kennen, und da diese fast unendlich sind, bleiben unsere Kenntnisse stets oberflächlich und unvollkommen. 107 E s ist gefallsüchtig, merken zu lassen, daß man es niemals ist. 108 D e r Verstand könnte niemals lange die Rolle des Herzens spielen. 109

Die Jugend wechselt ihre Neigungen aus Heißblütigkeit, das Alter bewahrt die seinen aus Gewöhnung. 110 Mit nichts ist man so freigebig wie mit seinen Ratschlägen. 3*

III

Je heißer man eine Geliebte liebt, desto näher daran ist man, sie zu hassen. 112 Die Mängel des Geistes mehren sich mit dem Alter wie die Runzeln des Gesichts. "3 Es gibt gute Ehen, aber keine glücklichen. 114 Man ist untröstlich, von seinen Feinden getäuscht und von seinen Freunden verraten zu werden, oft aber recht befriedigt, beides durch sich selber zu sein. "5 Es ist ebenso leicht, sich selber zu täuschen, ohne es gewahr zu werden, wie es schwer ist, andere zu täuschen, ohne daß sie es gewahren. 116 Nichts ist weniger aufrichtig, als die Gewohnheit, Ratschläge zu erteilen und zu erbitten. Der, welcher um Rat bittet, scheint eine ehrfurchtsvolle Achtung für die Gefühle seines Freundes zu hegen, während er doch nur darauf erpicht ist, eine Billigung seiner î6

eigenen Gefühle zu erreichen, gleichzeitig aber die Verantwortung für sein künftiges Verhalten auf den Freund abzuwälzen, und der, welcher rät, vergilt das ihm erwiesene Vertrauen zwar mit warmem uneigennützigem Eifer, aber in den Ratschlägen, die er gibt, verfolgt er meist nur seinen eigenen Nutzen oder seinen Ruhm. "7 Die feinste aller Listen besteht darin, geschickt so tun zu können, als ob man in die Fallen ginge, die einem gestellt werden, denn keiner ist je so leicht zu betölpeln, als wenn er gerade zu übertölpeln wähnt. 118 Die Absicht, niemals zu täuschen, setzt der Gefahr aus, oft getäuscht zu werden. 119 W i r sind so gewöhnt, uns vor anderen zu verstellen, daß wir es zuletzt vor uns selber tun. 120 Man begeht Verrat öfter aus Schwäche, als aus der Absicht zu verraten. 121 Oft tut man Gutes, um ungestraft Böses tun zu können. 37

122

Wenn wir unseren Leidenschaften widerstehen, geschieht es mehr durch ihre Schwäche, als durch unsere Kraft. 12}

Man würde seines Lebens kaum froh werden, wenn man sich niemals selber schmeichelte. 124 Die Allerlistigsten stellen sich ihr ganzes Leben lang so, als ob sie jegliche List verabscheuten, um sich ihrer bei irgendeiner großen Gelegenheit und um eines großen Vorteiles willen nach Kräften zu bedienen. 125 Häufiger Gebrauch von List ist das Anzeichen eines kleinen Geistes, und fast immer geschieht es, daß der, welcher sie anwendet, um sich an einer Stelle zu decken, sich an einer anderen entblößt. 126 List und Verrat entspringen nur einem Mangel an geistiger Gewandtheit. 127 Das sicherste Mittel, betrogen zu werden: sich für klüger zu halten als andere. 38

128

Allzu große Feinfühligkeit ist falscher Zartsinn, und echte Zartsinnigkeit ist sicheres Feingefühl. 129 Oft genügt Grobheit, um von einem Schlaukopf nicht betrogen zu werden. 130 Schwäche ist der einzige Fehler, den man nicht verbessern kann. Der geringste Fehler unkeuscher Weiber ist ihre Unkeuschheit. 132 Für andere weise sein, ist leichter, als selber weise sein. 133 Die einzig guten Kopien sind solche, welche uns das Lächerliche des schlechten Originals enthüllen. 134 Man ist niemals so lächerlich um der Eigenschaften willen, die man hat, wie um derer willen, die man vorspiegelt. 39

135 Manchmal ist man von sich ebenso verschieden wie von anderen. 136

Es gibt Menschen, die sich niemals verliebt haben würden, hätten sie niemals von Liebe sprechen gehört. 137 Man spricht wenig, wenn Eitelkeit einen nicht zum Sprechen treibt. 138

Lieber spricht man schlecht von sich als gar nicht. r

39

Einer der Gründe, warum man so selten Leute trifft, die im Gespräch klug und angenehm erscheinen, ist der, daß es fast niemanden gibt, welcher nicht mehr an das dächte, was er sagen will, als daran, genau auf das zu antworten, was man zu ihm sagt. Anstatt zu bedenken, daß es ein schlechtes Mittel ist, anderen zu gefallen oder sie zu überzeugen, wenn man nur sich selber zu gefallen sucht, und daß gut zuhören und gut antworten eine der allergrößtenVollkommenheiten ist, die man im Gespräch besitzen kann, beschränken sich die Gescheitesten und Artigsten darauf, ein aufmerksames Gesicht zu zeigen, während 40

man doch in ihren Augen und in ihrem Geiste ein Abirren von dem gewahr wird, was man zu ihnen sagt, und eine Hast, zu dem zurückzukehren, was sie selber sagen wollen. 140 Ein geistvoller Mensch würde oft recht übel daran sein ohne die Gesellschaft von Dummköpfen. 141 W i r rühmen uns oft, uns nicht zu langweilen, weil wir zu eingebildet sind, uns selber für schlechte Gesellschafter zu halten. 142 Wie es die Eigentümlichkeit großer Geister ist, mit wenig Worten viel zu sagen, so besitzen die kleinen im Gegenteil die Gabe, viel zu sprechen und nichts zu sagen. Mí Viel mehr aus Bewunderung unserer eigenen Gefühle als aus Bewunderung des Wertes eines anderen übertreiben wir dessen gute Eigenschaften, und fischen nach Lobsprüchen, während wir welche auszuteilen scheinen. 144 Man lobt durchaus nicht gern, und niemals irgend jemanden ohne Eigennutz. Lob ist eine geschickte, 41

versteckte und feine Schmeichelei, welche auf verschiedene Weise Absender und Empfänger befriedigt : der eine nimmt sie für eine Belohnung seines Verdienstes und der andere gibt sie, um seine Billigkeit und Urteilsfähigkeit zu erweisen. 145 Wir wählen oft Lobsprüche, so voller Gift, daß sie in den Gelobten Fehler sichtbar werden lassen, die wir auf andere Weise nicht aufzudecken wagen. 146 Man lobt gewöhnlich nur, um gelobt zu werden. 147 Wenige Menschen sind weise genug, den Tadel, der ihnen nützt, dem Lobe vorzuziehen, das ihnen schadet. 148 E s gibt lobenden Tadel und tadelndes Lob. 149 Das Zurückweisen eines Lobes ist der Wunsch, zweimal gelobt zu werden. 150 Der Wunsch, das Lob zu verdienen, das man uns erteilt, stärkt unsere Tugend, und das Lob, das man 42

dem Geiste, dem Mute und der Schönheit zollt, steigert sie alle drei. 151 E s ist schwerer, zu verhindern, daß man beherrscht wird, als andere zu beherrschen. 152

Wenn wir uns nicht selber schmeichelten, könnten uns die Schmeicheleien anderer nicht schaden. 153 Die Natur schafft die Begabung, und das Schicksal führt sie ins Treffen. 154 Das Schicksal verbessert mehr Fehler in uns, als die Vernunft jemals vermöchte. 155 E s gibt widerliche Menschen mit großen Vorzügen und andere, welche trotz ihrer Untugenden gefallen. 156

E s gibt Menschen, deren ganzes Verdienst darin besteht, mit Nutzen Dummheiten zu sagen und zu begehn, und die alles verderben würden, sobald sie ihre Aufführung ändern wollten. 43

157 Der Ruhm großer Menschen muß stets an den Mitteln gemessen werden, welche sie anwandten, um ihn zu erlangen. 158 Die Schmeichelei ist eine falsche Münze, welche nur durch unsere Eitelkeit Kurs hat. J9 E s genügt nicht, große Eigenschaften zu besitzen, man muß sie auch anzuwenden wissen. X

160 Eine Tat mag noch so glänzend sein, sie darf nicht für groß gelten, wenn sie nicht die Folge einer großen Absicht war. 161 E s muß ein genaues Verhältnis zwischen Handlungen und Absichten bestehn, wenn man alle Wirkungen erzielen will, die sie hervorzubringen fähig sind. 162 Die Kunst, mittelmäßige Eigenschaften gut ins Werk zu setzen, erstiehlt Achtung und verleiht oft größeren Ruf als wahrer Wert. 44

163

E s gibt unendlich viele Arten des Benehmens, die lächerlich erscheinen, und deren verborgene Gründe doch sehr weise und sehr stichhaltig sind. 164 E s ist leichter, der Ämter würdig zu erscheinen, die man nicht hat, als derer, die man ausübt. 165 Unser Wert erwirbt uns die Schätzung der rechtschaffenen Menschen und unser Stern die des Publikums. 166 Die Welt belohnt den Schein des Verdienstes weit öfter als das Verdienst selber. 167 Geiz ist der Sparsamkeit entgegengesetzter als Freigebigkeit. 168 Hoffen mag noch so trügerisch sein, es dient wenigstens dazu, uns auf einem angenehmen Wege ans Ende des Lebens zu führen. 45

169 Während Trägheit und Furcht uns bei unserer Pflicht erhalten, hat unsere Tugend doch oft die ganze Ehre davon. 170

E s läßt sich schwer beurteilen, ob ein klares, aufrichtiges und ehrenhaftes Vorgehen eine Folge von Rechtschaffenheit oder von Verschlagenheit ist.

171 Die Tugenden münden in den Eigennutz wie die Flüsse ins Meer. 172 Wenn man die verschiedenen Wirkungen der Gleichgültigkeit recht untersucht, wird man finden, daß sie gegen mehr Pflichten fehlen läßt als Selbstsucht.

173 E s gibt verschiedene Arten der Neugierde: eine aus Eigennutz, welche uns treibt, erfahren zu wollen, was uns nützlich sein könnte, und eine andere aus Eigendünkel, die dem Wunsche entspringt, mehr zu wissen als andere. 46

174 E s ist besser, unseren Verstand darauf zu verwenden, geschehenes Mißgeschick erträglich zu machen, als voraussehn zu wollen, was uns noch widerfahren könnte. 175 Beständigkeit in der Liebe ist eine dauernde Unbeständigkeit, welche bewirkt, daß sich unser Herz nacheinander an alle Eigenschaften des geliebten Wesens hängt und bald der einen, bald einer anderen den Vorzug gibt, so daß also jene Beständigkeit nichts weiter ist, als eine auf ein und denselben Gegenstand gelenkte und beschränkte Unbeständigkeit. 176

E s gibt zwei Arten von Beständigkeit in der Liebe : die eine rührt daher, daß man in dem geliebten Wesen unaufhörlich neue Dinge zu lieben findet, die andere daher, daß man seine Ehre darein setzt, beständig zu sein. 177 Beharrlichkeit verdient weder Lob noch Tadel, da sie nichts weiter ist wie ein Dauern von Neigungen und Gefühlen, die man weder selber von sich abtun, noch selber sich geben kann. 47

i78 Was uns neue Bekannte lieb macht, ist nicht so sehr der Überdruß an den alten oder das Vergnügen am Wechsel, als der Verdruß, von denen, die uns aÜ2u gut kennen, nicht genug, — und die Hoffnung, von denen, die uns weniger kennen, um so mehr bewundert zu werden.

m Wir beklagen uns bisweilen oberflächlich über unsere Freunde, um im voraus unsere Oberflächlichkeit zu rechtfertigen. 180 Unsere Reue ist nicht so sehr Bedauern des Bösen, das wir getan haben, als Furcht vor dem Bösen, das für uns daraus entstehen könnte. 181 E s gibt eine Unbeständigkeit, welche der Flüchtigkeit des Geistes oder seiner Schwäche entspringt, alle Meinungen anderer anzunehmen, und noch eine zweite gibt es, welche entschuldbarer ist: sie entspringt dem Überdruß an den Dingen. 182 Die Laster gesellen sich der Mischung der Tugenden bei, wie die Gifte der Mischung der Heilmittel. Die 48

Klugheit verbindet und mildert sie und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen die Übel des Lebens. 183 Man muß 2ur Ehre der Tugend zugeben, daß die Menschen ins größte Unglück durch Verbrechen geraten. 184 Wir gestehen unsere Fehler ein, um durch unsere Aufrichtigkeit den Schaden wieder gut zu machen, den sie uns in der Meinung anderer zugefügt haben. 185 E s gibt Helden im Reich des Bösen wie im Reich des Guten. 186 Nicht alle, welche Laster haben, aber alle, welche keine einzige Tugend besitzen, verachtet man. 187 D e r Name der Tugend dient dem Eigennutz ebenso trefflich wie die Laster es tun. 188 D i e Gesundheit der Seele ist nicht verbürgter wie die Gesundheit des Leibes, und wenn man auch allen 4

49

Leidenschaften sehr ferne erscheint, ist man doch nicht minder in Gefahr, sich von ihnen fortreißen zu lassen, wie krank zu werden, wenn man gesund ist. 189 Die Natur scheint, was Tugend und Laster angeht, jedem Menschen von Geburt an bestimmte Grenzen gezogen zu haben. 190 Nur großen Männern steht es an, große Fehler zu haben. 191. Man könnte sagen, daß die Laster uns auf der Lebensreise erwarten wie Gastwirte, bei denen man nacheinander absteigen muß, — und ich zweifle, daß die Erfahrung sie uns vermeiden ließe, wenn es uns vergönnt wäre, die Reise zweimal zu machen. 192 Wenn die Laster uns verlassen, schmeicheln wir uns mit dem Glauben: wir verließen sie. 193 Es gibt Rückfälle in die Krankheiten der Seele wie in die Krankheiten des Leibes. Was wir für unsere Heilung halten, ist meist nur eine Unterbrechung oder ein Wechsel des Übels. 5°

194

Die Gebrechen der Seele sind wie die Wunden des Körpers: mit welcher Sorgfalt man sie auch heilen mag, stets schimmern die Narben, und in jedem Augenblicke droht die Gefahr, daß sie wieder aufbrechen. 195 Was uns oft hindert, uns einem einzigen Laster ganz hinzugeben: der Besitz vieler. 196 W i r vergessen unsere Fehler gar leicht, wenn sie niemand kennt — außer uns. *97 Es gibt Menschen, von denen man niemals Schlechtes glauben könnte, ohne es gesehn zu haben, aber es gibt keine, an denen es uns überraschen dürfte, sobald wir es sehn. 198 W i r erhöhen den Ruhm des einen, um den eines anderen zu erniedern: und manchmal würde man den Prinzen von Frankreich und Herrn de Turenne weniger preisen, wenn man nicht beide tadeln wollte. 4*

51

199 Der Wunsch, klug zu erscheinen, hindert oft, es zu werden. 200

Tugend würde nicht so weit gehn, wenn Eitelkeit ihr nicht Gesellschaft leistete. 201

Wer aller Welt entbehren zu können glaubt, täuscht sich sehr, wer aber glaubt, seiner könne nicht entbehrt werden, täuscht sich noch mehr. 202

Die falschen Biedermänner verbergen ihre Fehler vor sich und anderen, die wahren kennen sie ganz und gestehen sie ein. 20}

Ein rechter Mann setzt in nichts seinen Stolz. 204

Die Sprödigkeit der Frauen ist Putz und Schminke für ihre Schönheit. 205

Die Ehrbarkeit der Frauen ist oft — Liebe zu ihrem Ruf und zu ihrer Ruhe.

52

2θ6

Das heißt wahrhaft ein braver Mann sein, wenn man stets den Blicken aller braven Leute ausgesetzt sein möchte. 207 In alle Zeiten des Lebens folgt uns die Torheit, und wenn jemand weise erscheint, so ist's nur, weil seine Torheiten seinem Alter und seinen Umständen gemäß erscheinen. 208 Es gibt einfältige Menschen, die sich kennen, und sich aufs Schlaueste ihrer Einfalt bedienen. 209

W e r ohne Torheit lebt, ist nicht so weise, wie er denkt.

Älterwerdend, wird man törichter und weiser. 211 Manche Menschen gleichen den Gassenhauern, die man nur eine Zeidang singt. 53

212

Die meisten Leute urteilen über die Menschen nur nach dem Ansehen, das diese genießen, oder nach dem Vermögen, das sie besitzen. 213

Liebe zum Ruhm, Furcht vor Schande, der Vorsatz, sein Glück zu machen, der Wunsch, sein Leben bequem und angenehm zu gestalten und die Sucht, andere zu erniedrigen, das sind oft die Ursachen der unter den Menschen so gar gerühmten Tapferkeit. 214

An den unteren Soldaten ist Tapferkeit ein gefahrvolles Handwerk, das sie ergriffen haben, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben. 215 Vollkommene Tapferkeit und völlige Feigheit sind zwei äußerste Grenzen, an die man selten gelangt. Der Abstand zwischen beiden ist weit und birgt alle Arten des Mutes. Zwischen diesen herrschen nicht mindere Verschiedenheiten, als zwischen den Gesichtern und den Gemütern. Es gibt Menschen, welche sich ohne Zögern im Beginn eines Treffens aussetzen, durch seine Dauer aber leicht erschlafft und abgeschreckt werden. Andere sind zufrieden, wenn sie der Welt Genüge getan haben, und tun herzlich 54

wenig darüber hinaus. Man trifft auch solche, die nicht immer gleichmäßig ihre Furcht bemeistern. Andere lassen sich manchmal von einer allgemeinen Panik mitreißen, wieder andere stürmen ins Gefecht, weil sie sich auf ihren Posten fürchten würden. Es finden sich auch welche, deren Mut durch kleine Gefahren gefestigt und zu größeren vorbereitet wird. Manche sind dem Säbel gegenüber tapfer und fürchten sich vor Flintenkugeln, andere sind im Kugelregen beherzt und scheuen den Säbelangriff. Alle diese verschiedenen Arten des Mutes stimmen darin überein, daß die Nacht, da sie die Furcht steigert und sowohl die guten wie die schlechten Taten verbirgt, die Freiheit bringt, sich zu schonen. Und noch eine andere allgemeinere Schonung gibt es: denn man sieht keinen Mann, der ganz das täte, was er zu tun fähig wäre, hätte er die Sicherheit, lebend davonzukommen, wodurch offenbar wird, daß die Furcht vor dem Tode der Tapferkeit etwas nimmt. 216

Vollkommene Tapferkeit : ohne Zeugen vollbringen, was man vor aller Welt zu vollbringen fähig wäre. 217

Unerschrockenheit ist eine außerordentliche Kraft der Seele, welche sie über alle Störungen, Verwirrun55

gen und Erregungen erhebt, die der Anblick großer Gefahren in ihr hervorrufen könnte, und einzig durch diese Kraft bewahren sich die Helden ihren Gleichmut und den freien Gebrauch ihrer Vernunft — selbst den überraschendsten und furchtbarsten Ereignissen gegenüber. 218

Heuchelei ist eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend. 219 Die meisten Männer setzen sich im Kriege genügend der Gefahr aus, um ihre Ehre zu retten, wenige aber wollen es stets so sehr tun, wie es das Gelingen der Absicht erfordert, um derentwillen sie sich überhaupt aussetzen. 220 Eitelkeit, Scham und vor allem das Temperament — der Mut der Männer und die Tugend der Weiber. 221 Man will das Leben nicht verlieren und will Ruhm erlangen: das bewirkt, daß die Tapferen mehr Geschicklichkeit und Verstand aufbringen, dem Tode zu entgehn, als die Prozeßsüchtigen, ihre Habe zu wahren.

56

222

Es gibt kaum Menschen, die im ersten Abnehmen ihrer Kräfte nicht kenntlich werden ließen, wodurch ihr Körper und ihr Geist erlischt. 223

M i t der Erkenntlichkeit steht es wie mit der Ehrlichkeit der Kaufleute: sie fördert den Handel . . . und wir erstatten nicht zurück, weil es recht ist, seine Schulden zu tilgen, sondern um leichter Leute zu finden, die uns borgen. 224

Wer die Pflichten der Dankbarkeit erfüllt, darf sich darum noch nicht einbilden, dankbar zu sein. 225

Der Stolz dessen, der gibt, und der Stolz dessen, der empfängt, können sich über die Wohltat nicht einigen: der Rechenfehler der Dankbarkeit. 226

Allzu großer Eifer, sich von einer Dankesschuld zu befreien, ist eine Art Undankbarkeit. 57

227

Glückliche Menschen bessern sich kaum: stets glauben sie recht zu haben, da das Schicksal ihre schlechte Aufführung unterstützt. 228

Stolz will nicht schulden und Habsucht nicht zahlen. 229

Das Gute, das uns jemand getan hat, will, daß wir das Böse hinnehmen, das er uns tut. 2JO Nichts ist so ansteckend wie das Beispiel; darum können wir nichts sehr Gutes und nichts sehr Böses tun, das nicht Gutes und Böses hervorriefe. Gute Handlungen ahmen wir durch Wetteifersucht nach und durch unsere natürliche Bosheit die schlechten, welche von der Scham gefangen gehalten wurden und die das böse Beispiel nun befreit. 231

Welch große Torheit, ganz allein vernünftig sein zu wollen 1 58

Welchen Grund wir unseren Zuneigungen auch geben mögen, oft ist es nur Eigennute und Eitelkeit, was sie hervorruft. 233

Die verschiedenen Arten des Kummers bergen verschiedene Arten der Heuchelei. Unter dem Vorwande, über den Verlust eines uns teuren Wesens zu weinen, beweinen wir zum Beispiel uns selber, beweinen das Stummwerden einer guten Meinung, die über uns herrschte, beweinen die Minderung unseres Wohles, unseres Vergnügens, unserer Geltung. So haben denn die Toten die Ehre der Tränen, die nur um der Lebendigen willen fließen. Ich nenne es gewissermaßen eine Heuchelei, weil man in diesen Arten des Kummers sich selbst betrügt. Eine andere Heuchelei aber gibt es, welche nicht so unschuldig ist, weil sie alle Welt betrügt: es ist die Schwermut gewisser Personen, die nach dem Ruhm eines schönen, unsterblichen Schmerzes streben. Nachdem die alles lindernde Zeit den Schmerz gestillt hat, den sie wirklich empfanden, hören sie nicht auf, eigensinnig ihre Tränen, Klagen, Seufzer hervorzupressen; sie nehmen ein düsteres Wesen an und mühen sich ab, durch alle ihre Handlungen davon zu überzeugen, daß ihr Kummer erst mit ihrem Leben aufhören wird. 59

Diese traurige und ermüdende Eitelkeit findet sich gewöhnlich in ehrgeizigen Frauen. Da ihr Geschlecht ihnen alle Wege versperrt, die zum Ruhme führen, quälen sie sich ab, sich durch das Zurschautragen eines untröstlichen Kummers berühmt zu machen. Und noch eine andere Gattung von Tränen gibt es, welche nur seichte, leicht fließende und leicht versiegende Quellen haben: man weint, um in den Ruf eines zarten Gemütes zu kommen, weint, um beklagt, weint, um beweint zu werden, und endlich weint man, um der Schande zu entgehn, nicht zu weinen. 234 Man widersetzt sich mit so großer Halsstarrigkeit den gültigsten Meinungen öfter aus Stolz als aus Mangel an Einsicht : man findet die Vorderplätze in dem guten Wagen besetzt, und einen Hinterplatz will man nicht. 235 Wir trösten uns leicht über das Mißgeschick unserer Freunde, wenn es dazu dienen kann, unsere Zuneigung für sie an den Tag zu bringen. 236

Wenn wir uns zum Vorteile anderer bemühn, scheint die Eigenliebe von der Güte überlistet zu werden und sich selber zu vergessen . . . und dennoch ist 60

dieses der sicherste Weg für sie, um alle ihre Ziele zu erreichen : sie leiht dabei — unter dem Vorwande, zu schenken — auf Wucher aus und gewinnt durch ein feines und kluges Mittel alle Welt für sich. 237 Niemand verdient um seiner Güte willen gepriesen zu werden, wenn er nicht auch die Kraft besitzt, böse zu sein. Jede andere Güte ist meist nur Trägheit oder Willensschwäche. 238

E s ist lange nicht so gefährlich, den meisten Menschen Böses zu tun, wie ihnen allzuviel Gutes zu erweisen. 239

Nichts schmeichelt unserem Stolze mehr als das Vertrauen der Großen, weil wir es für eine Wirkung unseres menschlichen Wertes halten, ohne zu bedenken, daß es meist nur einer Eitelkeit oder der Schwäche entspringt, kein Geheimnis wahren zu können. 240

Man kann von der eigentlicher Schönheit baren Hübschheit sagen, sie sei ein Ebenmaß, dessen Gesetze man nicht kennt und bestehe in einem ge61

heimen Verhältnis der Züge zueinander und zu den Farben und dem Ausdruck der betreffenden Person. 241

Koketterie ist der Untergrund des Gemütes der Weiber, aber nicht alle üben sie, weil sie bei einigen durch Angst oder Vernunft zurückgehalten wird. 242

O f t belästigt man andere, gerade wenn man glaubt, sie niemals belästigen zu können. 243 E s gibt wenig Dinge, die an sich unmöglich sind: ihr Gelingen scheitert öfter an unserem Mangel an Beflissenheit, denn am Fehlen der Mittel. 244

Höchste Klugheit: den Preis der Dinge kennen. 245 E s gehört viel Schlauheit dazu, seine Schlauheit verbergen zu können. 246

Was als Großsinn erscheint, ist oft nur verkappter Ehrgeiz, der kleinen Vorteil verachtet, um größeren zu betreiben. 62

247

I n den meisten Menschen ist Redlichkeit nur eine Erfindung der Eigenliebe zur Erlangung des Vertrauens — ein Mittel, uns über andere zu erheben und zu Bewahrern wichtigster Dinge zu machen. 248

Großherzigkeit macht um nichts ein Aufhebens, um alles einzustecken. 249

I m Ton der Stimme, in den Augen und in der Miene des Sprechenden wohnt nicht weniger Beredsamkeit als in der Wahl der Worte. 250

Wahre Beredsamkeit: das Notwendige und nur das Notwendige sagen. 251

Manche Menschen kleiden ihre Fehler gut, andere ihre Tugenden schlecht. 252

D e r Geschmack wechselt oft, ein Hang selten. 253

D e r Eigennutz führt alle Arten von Tugenden und Lastern ins Treffen.

63

254 Demut ist oft nur eine erheuchelte Unterwerfung, deren man sich bedient, um andere zu unterwerfen, ein Kunstwerk des Stolzes, der sich erniedrigt, um sich zu erhöhen, und obgleich er sich auf tausend Arten kleidet, ist er dennoch niemals besser verkappt und zum Täuschen geschickter, als wenn er sich unter der Maske der Demut verbirgt. 255 Jede Empfindung hat einen Stimmton, eine Gebärde und eine Miene, die ihr gemäß sind, und die gute oder schlechte, angenehme oder unangenehme Harmonie dieser Verbindung entscheidet, ob Menschen gefallen oder mißfallen. 256

In allen Ständen heuchelt ein jeder Miene und Äußeres, um zu scheinen, für was er gehalten sein will, so daß man sagen könnte, die Welt sei mit Masken bevölkert. 257 Schwere ist ein Rätsel des Körpers, erfunden, um die Mängel des Geistes zu verbergen. 258

Der gute Geschmack entspringt mehr der Vernunft als dem Verstände. 64

259

Das Ergötzen der Liebe beruht im Lieben, und das Glück in der Leidenschaft, die man empfindet, und nicht in der, die man erregt. 260

Höflichkeit ist der Wunsch, höflich behandelt und für gesittet gehalten zu werden. 261

Die Erziehung, die man jungen Leuten gewöhnlich zuteil werden läßt, ist eine zweite Selbstliebe, die man in ihnen erweckt. 262

In keiner Leidenschaft herrscht die Eigenliebe mächtiger als in der Liebe, und stets ist man eher geneigt, die Ruhe dessen zu opfern, den man liebt, als die seine zu verlieren. 263

W a s man gewöhnlich Freigebigkeit heißt, ist meist nur eine Eitelkeit des Gebens, welche wir mehr als das Geopferte lieben. 264

Mitleiden ist oft ein Empfinden unserer Leiden in den Leiden anderer — eine kluge Voraussicht der s

65

Übel, die uns zustoßen könnten. Wir helfen also anderen, um sie zu verpflichten, uns bei ähnlichen Gelegenheiten ein Gleiches zu tun, und die ihnen erwiesenen Dienste sind eigentlich Wohltaten, die wir uns im voraus selber erweisen. 265

Der Schwäche unseres Geistes entspringt unsere Starrköpfigkeit, daher glauben wir auch nicht leicht etwas, das über den Bereich unserer Augen hinausgeht. 266

Es heißt sich täuschen, wenn man wähnt, nur heftige Leidenschaften wie Ehrgeiz und Liebe könnten die anderen Leidenschaften besiegen. Auch Trägheit wird trotz ihrer Schläfrigkeit über sie Herr und reißt die Gewalt über alle Vorsätze und alle Handlungen des Lebens an sich, und vernichtet und verzehrt unmerklich alle Leidenschaften und alle Tugenden. 267

Die Bereitschaft, das Böse zu glauben, ohne es genügend untersucht zu haben, ist eine Folge der Hoffahrt und der Trägheit. Man will Schuldige finden und sich doch nicht der Mühe unterziehn, die Verbrechen zu prüfen. 66

268

Wenn es um greifbare Dinge geht, lehnen wir um einer Geringfügigkeit willen den Richter ab, sind aber nichtsdestoweniger einverstanden, daß unser Ruf und Ruhm von dem Urteil von Menschen abhänge, die uns völlig entgegengesetzt sind, sei es durch ihre Eifersucht, ihre Voreingenommenheit oder durch ihre geringe Einsicht, und nur um ihr Urteil zu unseren Gunsten zu wenden, setzen wir auf so vielfache Art unsere Ruhe und unser Leben aufs Spiel. 269 Kein Mensch ist klug genug, um all das Böse zu kennen, das er tut. 270 Erlangte Ehren sind eine Gewähr der noch zu erlangenden. 271 Jugend ist dauernde Trunkenheit — Fieber der Gesundheit — Tollheit der Vernunft. 272 Nichts sollte Menschen, die sich mit Ruhm bedeckt haben, tiefer demütigen, als die ängstliche Sorgfalt, mit der sie sich noch durch kleine Dinge Geltung zu verschaffen suchen. 67

273

Man billigt in der Welt Leute, deren gan2es Verdienst in nützlichen Lastern besteht. 274 Der Reiz der Neuheit ist für die Liebe, was der rosige Schmelz auf den Früchten ist: ein leicht vergänglicher Glanz, der niemals wiederkehrt. 275 Unser zartes Gemüt, das so empfindlich zu sein vorgibt, wird oft durch den geringsten Eigennutzen erstickt. 276 Trennung mindert die laueren Leidenschaften und steigert die großen wie der Wind Kerzen verlöscht und Feuer anfacht. 277 Die Weiber glauben oft zu lieben, obschon sie es nicht tun. Die Beschäftigung mit einer Kabale, die geistige Erregung, die jeder Liebeshandel mit sich bringt, der natürliche Hang zu dem Lustgefühl, geliebt zu werden, und die Pein, sich zu versagen, läßt sie ihre Liebestuerei für wahre Leidenschaft nehmen. 68

278

Man ist so oft mit Unterhändlern unzufrieden, weil sie fast immer das ihnen anvertraute Interesse dem Interesse des bloßen Verhandlungserfolges aufopfern, der durch dies Scheingelingen nicht uns, aber ihnen Erfolg und Ehre einträgt. 279

Wenn wir die Zuneigung unserer Freunde zu uns übertreiben, geschieht es weniger aus Dankbarkeit, als aus demWunsche, unseren Wert herauszustreichen. 280

D e r Beifall, den wir dem neuen Manne zollen, entspringt oft heimlichem Neide auf den anerkannten. 281

D e r Eigendünkel, der so viel Neid in uns entfacht, verhilft uns oft auch dazu, unseren Neid zu mäßigen. 282

E s gibt verkappte Unwahrheiten, die so treu die Wahrheit darstellen, daß sich von ihnen nicht täuschen lassen, schlecht urteilen heißt. 69

283 Manchmal gehört ebensoviel Klugheit dazu, guten Rat zu nützen, wie sich selber gut zu raten.

284

Mancher Böse wäre weniger gefährlich, wenn er gar keine Güte besäße. 285

Der Begriff der Großherzigkeit wird ausreichend durch ihren Namen bestimmt, dennoch könnte man sagen, sie sei die Vernunft des Stolzes und der edelste Weg, bewundert zu werden. 286

Was man einmal wirklich zu lieben aufgehört hat, kann man unmöglich ein zweites Mal lieben. 287

Es ist nicht so sehr Fruchtbarkeit des Geistes, was uns für ein und dieselbe Angelegenheit mehrere Auswege finden läßt, sondern Mangel an Einsicht läßt uns alles aufgreifen, was uns nur irgend einfällt, und hindert uns, das Beste von vornherein auszusondern. 7°

288

Es gibt Angelegenheiten und Krankheiten, die in gewissen Zeiten durch Heilmittel verschlimmert werden : die große Kunst besteht darin, zu wissen, wann ihre Anwendung gefährlich ist. 289

Erkünstelte Einfalt ist kluge Selbstverleumdung. 290

Das Gemüt hat mehr Mängel als der Verstand. 291

Das menschliche Talent hat ebensogut seine Jahreszeit wie die Früchte. 292

Vom Gemüt der Menschen gilt dasselbe wie von den meisten Bauwerken: es hat verschiedene Ansichten, schöne und häßliche. 293

Mäßigung kann nicht das Verdienst haben, den Ehrgeiz zu bekämpfen und zu überwinden, denn sie 71

kommen niemals zusammen vor. Mäßigung ist Schläfrigkeit und Trägheit der Seele, Ehrgeiz dagegen ihre Regheit und ihre Glut. 294

Wir lieben stets die, welche uns bewundern, aber nicht immer die, die wir bewundern. 295

Wir wissen noch lange nicht, was alles wir wollen. 296

Es ist zwar schwer, die zu lieben, die wir nicht schätzen, aber durchaus nicht leichter, die zu lieben, die wir höher schätzen als uns.

297

Die Säfte des Körpers haben einen gewohnten und geregelten Lauf, welcher unmerklich unseren Willen dreht und wendet. Sie fließen zusammen und üben nacheinander eine geheime Herrschaft über uns aus : so daß sie beträchtlich teil haben an all unseren Handlungen, ohne daß wir dessen gewahr werden könnten.

72

298

Die Dankbarkeit der meisten Menschen ist nur der heimliche Wunsch, noch mehr zu bekommen. 299 Fast jedermann macht sich für kleine Dinge erkenntlich bezeigen sich auch dankbar sagen fast niemand hat für anderes als Undankbarkeit.

ein Vergnügen daraus, zu sein : viele Menschen für mittlere, aber sozudie ganz großen etwas

j 00 Es gibt Narrheiten, die sich wie ansteckende Krankheiten verbreiten. 301 Gar viele Menschen verachten den Reichtum, aber wenige wissen ihn hinzugeben. }02

Gewöhnlich haben wir nur bei kleinen Dingen das Glück, dem Schein nicht zu trauen. 3°3

Wie Gutes man uns auch über uns sagen mag, man sagt uns nichts Neues. 73

3°4

Denen, die uns langweilen, verzeihen wir oft, aber niemals denen, die wir langweilen. 3°5

Der Eigennutz, den man all unserer Verbrechen bezichtigt, kann oft unsere guten Taten für sich buchen. 306

Man begegnet kaum Undankbaren, solange man noch etwas zu verschenken hat. 307 Ebenso ehrenvoll, stolz mit sich, wie lächerlich, stolz mit anderen zu sein I 308

Man hat aus der Bescheidenheit eine Tugend gemacht, um den Ehrgeiz großer Menschen einzudämmen und die Mittelmäßigen über ihr geringes Glück und ihr geringes Verdienst zu trösten. 309

Es gibt Menschen, denen es bestimmt ist, dumm zu sein, und die daher nicht nur aus eigenem Belieben, sondern im Zwang des Schicksals ihre Dummheiten begehen. 74

}IO I m Leben treten bisweilen Umstände ein, aus denen man nur mit einiger Tollheit heil hervorgehen kann. ?" Sollte es Menschen geben, deren Lächerliches niemals hervorgetreten ist, so hat man nur niemals gut genug danach gesucht. 312 Warum Liebespaare sich nicht miteinander langweilen ? Weil sie immer nur von sich selber sprechen. 313 Warum reicht unser Gedächtnis aus, unsere Erlebnisse bis in die geringsten Einzelheiten hinein zu behalten, und warum reicht es nicht aus, um uns zu erinnern, wie oft wir sie ein und derselben Person erzählt haben ? 314 Unser grenzenloses Vergnügen, von uns selber zu sprechen, sollte uns fürchten lassen, unseren Zuhörern durchaus keines zu bereiten. 315 Was uns gewöhnlich daran hindert, den Grund unseres Herzens vor unseren Freunden zu enthüllen, ist 75

nicht so sehr Mißtrauen gegen sie, als Mißtrauen gegen uns. 316 Schwache Menschen können nicht aufrichtig sein. 317 Es ist kein großes Unglück, sich Undankbare zu verpflichten, aber ein unerträgliches, einem Unwürdigen verpflichtet zu sein. 318 Man findet Mittel, Wahnsinn zu heilen, aber keine, einen Querkopf einzurenken. 319 Man würde die Empfindungen, die man gegen seine Freunde und seine Wohltäter hegen soll, nicht lange zu bewahren wissen, wenn man sich die Freiheit verstattete, oft von ihren Fehlern zu sprechen.

320 Fürsten für Tugenden loben, die sie nicht haben, heißt ihnen ungestraft Beleidigungen sagen.

76

321

W i r könnten eher noch jemanden lieben, der uns haßt, als jemanden, der uns mehr liebt, als wir es wollen. 322 N u r wer verachtet zu werden fürchtet, ist verächtlich. 3*3

Unsere Weisheit ist nicht weniger der Willkür des Schicksals ausgesetzt als unsere Habe. 324 Eifersucht birgt mehr Eigenliebe als Liebe. 325 Wenn es der Vernunft an Kraft gebricht, uns zu trösten, trösten wir uns aus Schwäche. 326 Lächerlichkeit entehrt mehr als Unehre. 327 Kleine Fehler gestehen wir nur ein, um glauben zu machen, wir hätten keine großen. 77

328 Neid ist unversöhnlicher als Haß. 329

Man glaubt bisweilen die Schmeichelei zu hassen, aber man haßt nur die Art des Schmeicheins. 330 Man vergibt wie man liebt. 331 Es ist schwerer, seiner Geliebten treu zu sein, wenn man glücklich mit ihr ist, als wenn man von ihr gequält wird. 332

Weiber sind koketter als sie wissen. 333

Die Weiber kennen kein völliges Sich-Versagen ohne Abneigung. 334

Die Weiber überwinden ihre Leidenschaft leichter als ihre Gefallsucht. 335

In der Liebe geht der Betrug fast immer über das Mißtrauen hinaus. 78

336 E s gibt eine gewisse Art Liebe, deren Überschwang jede Eifersucht ausschließt. 337

Mit manchen guten Eigenschaften steht's wie mit den Sinnen: wer ihrer ganz entbehrt, kann sie weder wahrnehmen noch begreifen. 338 Wenn unser Haß allzu heftig ist, erniedrigt er uns unter die, welche wir hassen. 339

Wir empfinden unsere Freuden und unsere Leiden nur im Verhältnis zu unserer Eigenliebe. 340 Der Geist der meisten Weiber dient mehr dazu, ihre Narrheit zu stärken als ihre Vernunft. 341 Die Leidenschaften der Jugend wirken dem Wohle kaum mehr entgegen als die Lauheiten der alten Leute. 79

342

Der Tonfall des Landes, in dem man geboren ist, verbleibt im Geist und im Herzen ebensogut wie in der Sprache. 343

Um ein großer Mann zu werden, muß man sein ganzes Schicksal zu nützen wissen. 344

Die meisten Menschen haben gleich den Pflanzen verborgene Eigenschaften, die der Zufall entdeckt. 345

Die Gelegenheiten offenbaren uns anderen und noch viel mehr uns selber. 346

Weder im Verstand noch im Herzen der Weiber kann Ordnung herrschen, wenn ihr Temperament nicht damit übereinstimmt. 347

Wir finden kaum andere Menschen verständig, als die, welche einer Meinung mit uns sind. 348

Wenn man liebt, zweifelt man oft an dem, was man am festesten glaubt. 80

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Das größte Wunder der Liebe: von der Gefallsucht zu heilen. 35° Denen, die uns überlisten wollen, grollen wir nur deshalb so sehr, weil sie sich für klüger halten. 351 B s ist recht schwer, zu brechen, wenn man sich nicht mehr liebt. 352 Man langweilt sich fast immer mit den Leuten, mit denen es nicht erlaubt ist. 353 Ein rechter Mann kann wie ein Narr verliebt sein, aber nicht wie ein Dummkopf. 354 Manche richtig ins Treffen geführte Fehler strahlen heller als selbst die Tugend. 355 Man verliert bisweilen Menschen, welche man mehr betrauert, als man sich um sie grämt — und andere, um die man sich grämt, betrauert man kaum. 6

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356 Gewöhnlich loben wir nur die aufrichtig, die uns bewundern. 357

Kleine Geister fühlen sich durch kleine Dinge nur allzuleicht verletzt, große Geister gewahren sie auch, aber ohne sich verletzt zu fühlen. 358 Demut ist der wahre Beweis christlicher Tugenden: ohne sie behalten wir alle unsere Fehler — sie sind dann nur vom Stolze bedeckt, welcher sie anderen und oft auch uns selber verbirgt. 359

Untreue müßte Liebe ersticken, daher sollte man niemals eifersüchtig sein, sobald man Grund dazu hat. Nur Menschen, welche Eifersucht zu erregen vermeiden, sind es wert, daß man sie um ihretwillen empfindet. 360 Man schadet sich bei uns viel mehr durch die kleinste Treulosigkeit gegen uns, als durch die größte gegen andere. 361 Eifersucht wird stets mit der Liebe geboren, aber sie stirbt nicht immer mit ihr. 82

}6z Die meisten Frauen beweinen den Tod ihrer Geliebten nicht so sehr, weil sie sie geliebt haben, als um liebenswerter zu erscheinen. 363

Die Gewalt, die man uns antut, verursacht uns oft geringere Pein, als die Gewalt, die wir uns selber antun. 364

Man weiß recht gut, daß man von seiner Frau kaum sprechen soll, aber man weiß noch lange nicht gut genug, daß man es von sich selber noch weniger dürfte. 365

Manche gute Eigenschaften entarten, wenn sie angeboren sind, zu Fehlern, und manche erworbene hingegen werden niemals vollkommen. So muß zum Beispiel Vernunft uns zum Walter über unsere Habe und unser Vertrauen machen, die Natur dagegen uns Güte und Mut mit auf den Weg geben. 366

Unser Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit der Menschen, welche zu uns sprechen, mag noch so groß 6*

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sein, dennoch glauben wir stets: mit uns seien sie wahrer als mit anderen. 367 E s gibt wenig ehrbare Frauen — die ihres Handwerks nicht müde wären. 368 Die meisten ehrbaren Frauen sind verborgene Schätze, die nur ungefährdet bleiben, weil man sie nicht sucht. 369 Die Gewalt, die man sich antut, nicht 2u lieben, ist oft grausamer als die Strenge der Geliebten. 370 Kein Feigling kennt stets seine ganze Furcht. 371 Fast immer ist es ein Fehler dessen, der liebt, nicht zu merken, wann man ihn zu lieben aufhört. 372 Die meisten jungen Leute glauben natürlich zu sein, wenn sie nur ungeschliffen und grob sind. 84

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Gewisse Tränen täuschen schließlich uns selber, nachdem sie andere getäuscht haben. 374

Wenn man seine Geliebte um ihretwillen zu lieben glaubt, täuscht man sich gründlich. 375

Mittelmäßige Köpfe verurteilen meist alles, was ihren Horizont übersteigt. 37