Die langen Folgen der kurzen Conquista: Auswirkungen der spanischen Kolonisierung Amerikas bis heute 9783964564436

Diese Untersuchung behandelt die nachhaltigen gesellschaftl. und kulturellen Folgen der kolonisierenden Inbesitznahme Am

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Die langen Folgen der kurzen Conquista: Auswirkungen der spanischen Kolonisierung Amerikas bis heute
 9783964564436

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
Die Stadt in Lateinamerika: Vom kolonialen Ordnungsschema zum Chaos der Megalopolis
Die neuen Menschen der Neuen Welt: Zur gesellschaftlichen und kulturellen Rolle der mestizos
Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay
Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Ethisch-politische Überlegungen zum Fall Mexiko
Westlichkeit als Herausforderung für Staat und politische Kultur in Lateinamerika

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Dieter Janik (Hrsg.) Die langen Folgen der kurzen Conquista

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Dieter Janik (Hrsg.)

Die langen Folgen der kurzen Conquista Auswirkungen der spanischen Kolonisierung Amerikas bis heute

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1994

Die Herausgabe des Bandes erfolgt im Auftrag des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die die Drucklegung mit einem Druckkostenzuschuß gefördert hat.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die langen Folgen der kurzen Conquista : Auswirkungen der spanischen Kolonisierung Amerikas bis heute / Dieter Janik (Hrsg.). Frankfurt am Main : Vervuert, 1994 ISBN 3-89354-057-1 NE: Janik, Dieter [Hrsg.]

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany: Difo-Druck GmbH, Bamberg

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

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Erdmann Gormsen, Die Stadt in Lateinamerika: Vom kolonialen Ordnungsschema zum Chaos der Megalopolis .

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Dieter Janik, Die neuen Menschen der Neuen Welt: Zur gesellschaftlichen und kulturellen Rolle der mestizos

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Harald Thun, Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay

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Ernesto Garzón Valdés, Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Ethisch-politische Überlegungen zum Fall Mexiko

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Manfred Mols, Westlichkeit als Herausforderung für Staat und politische Kultur in Lateinamerika

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Vorwort

Vorwort Die Beiträge dieses Bandes sind aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die der »Interdisziplinäre Arbeitskreis Lateinamerika« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Verbindung mit dem Studium generale im Sommersemester 1992 veranstaltete. Die Vorträge sind für die Publikation überarbeitet worden, der Titel ist geblieben. Die Adressaten der Vorlesungsreihe waren die Studierenden aller Fächer. Diese Hinwendung zu einem an Lateinamerika interessierten, aber nicht durchweg fachlich spezialisierten Publikum prägt den Informations- und Argumentationsstil der einzelnen Vorträge auch in der nun vorliegenden Druckfassung. Die Mitglieder des Arbeitskreises waren sich bei der Konzeption der Vorlesungsreihe darin einig, daß der wichtigste Impuls, der vom Gedenken an die Fahrt des Kolumbus im Jahre 1492 ausgehen kann, in der Reflexion der unabsehbaren gesellschaftlichen und kulturellen Folgen besteht, die die entdeckende, erobernde und kolonisierende Inbesitznahme der Neuen Welt haben sollte. Damit hat Kolumbus wenig zu tun. Er hatte auf seinen Reisen einige ferne Inseln entdeckt und war auf Festlandsküsten gestoßen, ohne die Konturen des dahinter liegenden Kontinents auch nur zu ahnen. Die entscheidenden Ereignisse auf amerikanischem Boden waren die raschen und - scheinbar gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit - erfolgreichen Eroberungszüge von Hernán Cortés und Francisco Pizarro. Innerhalb einer Spanne von nur 15 Jahren brachen die beiden amerikanischen Großreiche im Norden und Süden in sich zusammen. Im Jahr 1521 hatte Cortés nach zweijährigem, wechselvollem Kampf die Hauptstadt des Aztekenreiches im Griff. Auf dem Südkontinent übernahmen die Spanier im Jahre 1533 die Herrschaft über das ehemalige Inkareich. Mit der Zerstörung der amerikanischen Hochkulturen und der Eingliederung der riesigen Territorien in die spanische Herrschaft und Kultur begann die neuere, von Europa geprägte Geschichte Amerikas. Erst in unserem Jahrhundert hat in Spanischamerika selbst eine eindringliche Beschäftigung mit den politischen, gesellschaftlichen und kul-

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Dieter Janik

turellen Strukturen eingesetzt, die die spanische Kolonialpolitik in 300 Jahren geschaffen hat. Diese haben auch nach der politischen Unabhängigkeit der neugebildeten Staaten Mentalität, gesellschaftliches Verhalten und politisches Handeln der Herrschenden und Beherrschten weitgehend geprägt. Aus dem großen Fragenkomplex, der sich daraus ergibt, haben sich drei der hier vorliegenden Vorträge mit den politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Prozessen beschäftigt, die aus der fortdauernden Präsenz autochthoner Völker und Stämme - während der Kolonialzeit und nicht minder seit der Independencia - erwuchsen. Mestizierung, Ausrottung und Akkulturationsdruck sind drei politisch gesteuerte gesellschaftliche Prozesse, die in der Vergangenheit - aber auch in der Gegenwart - wirksam waren und sind (Janik, Thun, Garzón Valdés). Diese drei Beiträge sind eingerahmt von einem Überblick über die Stadtentwicklung in Lateinamerika, wobei die koloniale Stadtstruktur freilich nicht unmittelbar ursächlich ist für die scheinbar unbeherrschbaren Riesenstädte von heute (Gormsen). Immerhin ist festzuhalten, daß die Spanier in ihren überseeischen Ländern keine eigenständige Dorfkultur entwickelten. Den Abschluß des Bandes bildet ein Diskussionsbeitrag (Mols) zu der Frage, inwieweit in der Geschichte Lateinamerikas über die Kolonialzeit hinaus eine notwendige Orientierung seiner politischen Verfaßtheit an europäischen bzw. westlichen Modellen angelegt ist, die ihrerseits die Teilnahme an ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Modernisierungsprozessen ermöglicht. Dieter

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D i e Stadt in Lateinamerika

Erdmann Gormsen

Die Stadt in Lateinamerika: Vom kolonialen Ordnungsschema zum Chaos der Megalopolis Rio de Janeiro - Säo Paulo - Lima - Caracas - México: diese Städtenamen gelten weithin als Synonyme für - unbegrenzten Zustrom armer Bevölkerungsmassen, - favelas, barriadas, ranchos, ciudades perdidas - oder wie sonst die Elendsviertel genannt werden, - mangelhafte Infrastruktur, - lebensbedrohende Luftverschmutzung, - Straßenkinder und Straßenraub, - Katastrophen der jüngsten Zeit wie das Erdbeben in México-Stadt 1985 und die Gasexplosion in Guadalajara 1992, - kurz: das Chaos der Megalopolis. So erscheint die Stadt México beim Blick aus dem Flugzeug als unendlichkonturloses Häusermeer. Und trotz vieler Bemühungen um geregelte Planung hat diese Riesenstadt mit ihren Wucherungen der einstmals harmonischen, von hohen Vulkanen überragten Landschaft ihren Stempel aufgedrückt. Mit Erklärungen für dieses negative Image sind wir schnell bei der Hand: hier zeigt sich angeblich das Erbe einer ausbeuterischen Kolonialzeit. Doch ein Blick in die Geschichte macht deutlich, daß diese einfache Begründung nicht ausreicht. Gerade die spanische Kolonialpolitik verfolgte ein strenges Ordnungsschema, in dem die Anlage von Städten eine grundlegende Rolle als Instrument der Raumerschließung spielte. Das ging so weit, daß z. B. das Augsburger Handelshaus der Welser 1555 die kaiserliche Konzession zur Kolonisierung Venezuelas verlor, weil es ihm nicht gelungen war, innerhalb eines vereinbarten Zeitraums fünf feste Plätze zu gründen.1 Solche Stützpunkte sollten einer kleinen Zahl von Europäern 1

H. Wilhelmy und A. Borsdorf: Die Städte Südamerikas, Teil 1: »Wesen und Wandel«, Berlin 1984, S. 40-41.

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dazu dienen, die Bevölkerung der eroberten Gebiete zu beherrschen und zu missionieren; zur besseren Kontrolle sollten die Einheimischen in geschlossenen Siedlungen (reducciones) konzentriert werden. Die Städte sollten also Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung sowie einer neuen territorialen Organisation sein.

Entwicklung und Erscheinungsbild der Kolonialstadt Das heutige Erscheinungsbild der meisten historischen Stadtzentren Lateinamerikas läßt erkennen, daß die Spanier in ihrem weltumspannenden Kolonialreich einem einheitlichen Konzept gefolgt sind. Es fand seine endgültige Form in den Ordenanzas de Descubrimiento y Población (Anordnungen zur Entdeckung und Besiedlung), einem umfassenden Gesetzeswerk zur Stadtplanung, das Philipp II. im Jahr 1573 erlassen hat. In Anlehnung an das Handbuch De architectura des römischen Städtebauers Vitruvius regeln 36 Artikel Form und Struktur der Stadt. Entscheidende Anliegen waren die Ortswahl, eine ausreichende Ventilation, die Lage der wichtigsten Institutionen am Hauptplatz (plaza) und die geometrische Raumgliederung.2 Der Schachbrettgrundriß - seit der Antike die bevorzugte Form einer Kolonialstadt - wurde vorgeschrieben. Da hierbei meist keine Rücksicht auf das Relief genommen wurde, fuhren in manchen Städten schnurgerade Straßen an extrem steilen Hängen hinauf. In der Kolonialzeit spielten allerdings Wagen als Transportmittel gegenüber Tragtieren eine untergeordnete Rolle. Die plaza sollte einen Straßenblock (manzana) in der Stadtmitte einnehmen. Hier sollten die Kirche, der weitgehend unabhängige Stadtrat (cabildo) sowie andere zentrale Funktionen und die Wohnhäuser der städtischen Oberschicht ihren Standort finden (Abb. 1). Die vielfältige Rolle der plaza als Kulisse für Alltag und Feste, Handels- und Versammlungsort, Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Lebens und Marktplatz für das weite ländliche Umland hat sich am besten in kleineren Städten erhalten. Seit jeher dient sie kirchlichen Prozessionen, Militärparaden und akklamatorischen Ritualen, mit denen sich die Mächtigen feiern lassen und wo sie sich im Notfall zur Verteidigung sammeln: daher die Bezeichnung plaza de armas 2

Stanislawski: »Early Spanish town planning in the New World«, in: Geographical Review 37, 1947, S. 94-105; - H. Wilhelmy und A. Borsdorf(Anm. 1), S. 74ff.

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(Waffenplatz). Da Grünanlagen bei solchen Manifestationen stören, fehlte im allgemeinen jeglicher Baumwuchs, und dementsprechend wurden in der Gegenwart die zentralen Plätze einiger Hauptstädte (México, Bogotá, Lima) wieder zu monumentalen Freiräumen umgestaltet. Sie bieten damit freilich auch eine Bühne für Demonstrationen und Umsturzbewegungen.

Abb,1

STADTZENTRUM MIT PLAZA UND KATHEDRALE IN MORELIA, MEXIKO Quelle: El Suefio de un Orden (Anm.4), S.101

Am Beispiel der plaza mayor in Spanien lassen sich Wechselwirkungen zwischen dem Städtebau in den Kolonien und im Mutterland verdeutlichen. Da die engen spanischen Altstädte keine vergleichbar großzügigen Plätze aufwiesen wie die Neugründungen in Amerika, wurden rigorose Eingriffe in die vorhandene Bausubstanz vorgenommen. Die eindrucksvoll geschlossenen Platzanlagen in Valladolid (1561), Madrid (1617), Salamanca (1729) und anderswo erscheinen wie Flächensanierungen der Renaissance- und Barockzeit, die in das mittelalterliche Gassengewirr regelrecht »hineingero-

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Erdmann Gormsen

det« wurden.3 Sie dienten als Arena für Reiterspiele und Stierkämpfe, als Freilichtbühne und Aufmarschplatz. Im übrigen weist das Erscheinungsdatum der Ordenanzas darauf hin, daß die darin enthaltenen Prinzipien des Urbanismus schon Jahrzehnte vorher angewandt wurden. So entstanden bis 1573 mehr als 300 Städte, und aus den ersten 50 Jahren der Conquista sind über 100 Grundrisse von gebauten Städten überliefert, die in fast jeder Hinsicht den neuen Gesetzen entsprachen.4 Insofern hatten diese einen sanktionierenden und regulierenden Charakter, der die bisherige Entwicklung zusammenfaßte. Der Einfluß vorspanischer Hochkulturen auf die kolonialen Raumstrukturen wurde lange kontrovers diskutiert. Inzwischen gibt es jedoch sichere Erkenntnisse dafür, daß nach der Eroberung und Zerstörung viele Siedlungs- und Flurgrundrisse übernommen wurden, deren Orientierungsweisen auf astronomische Weltbilder altamerikanischer Völker zurückgeführt werden können.5 In besonderer Weise gilt das für Tenochtitlan-México. Die Azteken hatten ihre Hauptstadt um 1345 auf einer flachen Insel im Texcoco-See gegründet und in anderthalb Jahrhunderten zu einer glänzenden Metropole ausgebaut, deren Macht auf der Unterwerfung zahlreicher Völkerschaften beruhte. Mit ihren Pyramiden, Tempeln, Palästen und Marktplätzen versetzte sie die Konquistadoren in höchstes Erstaunen. Sie soll mindestens 60.000 Einwohner gehabt haben,6 also mehr als die meisten Städte Europas in jener Zeit. Im Gegensatz zu den verwinkelten Städten Spaniens war sie durch ein Achsenkreuz in vier regelmäßige Viertel geteilt. Die Lage im abflußlosen See stellte ungewöhnliche technische Anforderungen und legte die Übernahme der aztekischen Grundstrukturen nahe, zumal die geometrische Anlage den europäischen Vorstellungen einer Idealstadt entgegenkam. Die zentrale plaza, heute Zócalo genannt, sowie die wichtigsten Kanäle, Däm3

E. Gormsen: »Kulturelle Grundwerte und Leitbilder der Stadtstruktur«, in: M. C. Neddens und W. Wucher (Hrsg.): Die Wiederkehr des Genius loci, Wiesbaden 1987, S. 80f.

4

El Sueño de un Orden: La Ciudad Hispanoamericana, Madrid: Centro de Estudios Históricos, Ministerio de Obras Públicas y Urbanismo 1989.

5

F. Tichy: Die geordnete Well indianischer Völker, Wiesbaden und Stuttgart 1991 (= Das MexikoProjekt der DFG, Bd. XXI).

6

S. Lombardo: Desarrollo urbano de México-Tenochlitlan según las fuentes históricas, México D. F.: SEP/INAH 1973, S. 119ff. - vgl. die Abbildungen in H. G. Gierloff-Emden: Mexico, Berlin 1970, S. 150 u. 528.

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me und Aquädukte dienten als Koordinatensystem für das Straßenraster mit manzanas von etwa 80 x 160 m Seitenlänge.7 Cortés selbst ließ seine Residenz an der Stelle des heutigen Regierungssitzes auf den Ruinen des Palastes von Moctezuma n . erbauen, während die Kathedrale im zerstörten Tempelbezirk errichtet wurde und das Franziskanerkloster am sogenannten Platz der drei Kulturen im benachbarten Tlatelolco, direkt auf den Resten der dortigen Pyramide. Dieser hoheitliche Akt war von größter politischer Bedeutung, denn die Spanier besetzten den Mittelpunkt des besiegten Reiches. Sie knüpften damit an dessen Symbolkraft an und begründeten ein neues Imperium. Bei der Eroberung Perus ergab sich eine komplexe Situation. Während Lima (1535) in Küstennähe als neues Verwaltungszentrum entstand, übernahmen die Konquistadoren den Grundriß der Inka-Metropole Cuzco. Sie errichteten ihre Gebäude auf den massiven, aus polyedrischen Granitblöcken kunstvoll zusammengefügten Mauern, die auch die stärksten Erdbeben überdauert haben. Das zentrale Straßennetz bildet hier die Form eines Puma, der nach den kosmologischen Vorstellungen der Inka als heiliges Tier galt. Dies haben die Spanier freilich nicht verstanden. Tatsächlich ist eine derartige Grundriß-Kontinuität selten. Die perfekt geometrischen, aus Lehm gebauten präkolumbischen Stadtanlagen im Küstentiefland Perus (Chanchan, Pachacamac u. a.) wurden nicht genutzt. Ihr Einfluß auf die kolonialzeitliche Ordnung des Raumes ist noch zu klären. Zu den typischen Merkmalen der spanischen Kolonialstadt gehört die Geschlossenheit der Straßenfronten. Sie ergibt sich aus der einheitlichen Bauweise des pano-Hauses, für das es im mittelalterlichen Spanien, abgesehen von maurischen Höfen in Andalusien, keine Entsprechung gab (Abb. 2). Es ist vom römischen Atrium abgeleitet, d. h. alle Räume öffnen sich auf einen oder mehrere Innenhöfe mit Arkaden, während die Außenfassade nur durch das Eingangsportal (zaguán) und wenige Fenster gegliedert ist. Diese Grundform bestimmte, unabhängig von der Größe und Funktion eines Gebäudes, das Stadtbild durch annähernd vier Jahrhunderte und schloß prächtige Klöster und Paläste ebenso ein wie bescheidene Halbpatio-Häuser am Stadtrand. 7

Vgl. J. Newig: »Der Schachbrettgrundriß der Stadt Mexiko. Antikes Vorbild oder indianische Tradition?«, in: Petermanns Geogr. M in. 4, 1977, S. 253-263.

Erdmann Gormsen

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Es bleibt festzuhalten, daß im kolonialen Städtebau wechselseitige Impulse und Einflüsse wirksam wurden. Wesentliche Innovationen gingen von europäischen Idealstadt-Ideen aus, die in der Neuen Welt verwirklicht wurden, was im dichtbesiedelten Europa seltener möglich war. Hinzu kamen Erfahrungen, die bei der Reconquista in Spanien und der Übernahme präkolumbischer Stadtanlagen gewonnen wurden. Andererseits gab es auch Rückwirkungen auf den spanischen Urbanismus des 16. Jahrhunderts und auf die Utopien der Renaissance.8 8

E. Gormsen und H. Haufe: »Die Stadt in der Kolonisation Amerikas«, in: Amerika 1492 - 1992. Neue Welten, neue Wirklichkeiten, Berlin: Ibero-Amerikanisches Institut 1992, S. 148-158.

Die Stadt in Lateinamerika

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Trotz der einheitlichen Stadtplanung zeigen sich regionale Besonderheiten. Sie hängen in erster Linie von der Wirtschaftskraft im historischen Wandel ab. So erklären sich die bescheidenen Stadtbilder in weiten Regionen, die während der Kolonialzeit keine bedeutenden Exportprodukte anbieten konnten. Ihre Architektur beschränkt sich auf einfache Muster: einstöckige pafio-Häuser mit verputztem Mauerwerk aus Lehmziegeln (adobes) und einem leicht geneigten, wenig vorkragenden Dach aus mediterranen Ziegeln. Lediglich die Haustür oder die Gitter der hohen Fenster zeigen einzelne Zierformen, und im 19. Jahrhundert wurden hie und da Blendfassaden hochgezogen. Auch die schlichten Kirchen treten kaum hervor. Prunkvoll präsentieren sich demgegenüber die wohlhabenden Städte an Hauptverkehrswegen, in reichen Plantagenzonen und vor allem in Bergbaugebieten. Dir Erscheinungsbild wird bestimmt durch regionale Ausprägungen der Renaissance, des Barock und des Klassizismus. Im Hochland sind sie oft zwei- bis dreistöckig und tragen flache Dächer. Ihre Landschaftsverbundenheit kommt darin zum Ausdruck, daß nicht nur Kirchen und öffentliche Gebäude, sondern auch viele Bürgerhäuser aus behauenen Werksteinen der Umgebung aufgeführt wurden und allein schon durch Farbe und Textur des jeweiligen Gesteins eine Individualität ausstrahlen. Beispiele hierfür sind México-Stadt, Morelia, Oaxaca und San Luis Potosí in Mexiko, Cuzco und Arequipa in Peru, aber auch La Habana. Eine Besonderheit im ehemals spanischen Herrschaftsbereich ist die ornamentale Fassadenverkleidung aus azulejos (farbigen Kacheln) und roten Ziegelplatten in Puebla (Abb. 3).9

9

Vgl. D. BOhler Das Bürgerhaus der Kolonialzeil in Puebla, Mexiko, Saarbrücken 1990.

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Die faszinierenden Stadtbilder der Kolonialzeit in Brasilien, wie Salvador de Bahia und die kleinen Bergbaustädte in Minas Gerais, erhalten ihr Gepräge nicht nur durch die herrlichen Barockkirchen, sondern auch durch die zivile Architektur mit Walmdach und Balkons sowie mit Fenster-, Tür- und Fassaden-Elementen, deren Verwandtschaft zum portugiesischen Mutterland unverkennbar ist. Ausgesprochen individuelle Stadt-Charaktere von hohem ästhetischen Wert entstanden aus der Einbindung kolonialer Ensembles in einen besonderen Landschaftsrahmen, sei es eine Oase (Saltillo), ein von schneebedeckten Vulkanen überragtes Hochtal (Arequipa) oder eine Halbinsel mit großen Festungsanlagen zum Schutz vor Piraten (Montevideo, Cartagena, San Juan Puerto Rico u. a. Hafenstädte). In hohem Maße gilt dies für die Minenorte, die häufig ohne erkennbare Planung entstanden. In Bolivien entsprach Sucre, das frühere La Plata (1538), annähernd dem geometrischen Schema, während Potosí (1546) erst 1573 (im Jahr der Ordenanzas) einen regelmäßigen Ortskern erhielt, nachdem es eine der reichsten Städte des Kolonialreiches geworden war. Die ökonomische Rolle des Bergbaus war enorm: Potosí förderte im 16. Jahrhundert 70 % der Welt-Silberproduktion und war mit 120.000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt. In Mexiko gehen mehrere Hauptstädte der heutigen Bundesstaaten auf ehemalige Minenzentren zurück. Dabei konnte sich Zacatecas (1548) in die Hochebene ausweiten. Doch Guanajuato (1554) in seinem engen Tal und das aus mehreren Kernen zusammengewachsene Taxco (1529) lassen keine planmäßige Anlage erkennen. Mit ihren winkeligen Gassen und Treppen erinnern sie an Mittelmeerstädte. Daher sind sie zu bevorzugten Zielen für Touristen aus den USA geworden, zumal die reichen Minenbesitzer aufwendige Bauten errichteten und großartige Barockkirchen stifteten, z. B. Santa Prisca in Taxco, La Valenciana in Guanajuato und die Kathedrale in Zacatecas mit ihrer einmaligen Churrigueresco-Fassade. Auch sonst stand das städtische Leben demjenigen im spanischen Mutterland kaum nach. Das zeigt schon der hohe Aufwand an damals moderner Infrastruktur, z. B. die Aquädukte zur Trinkwasserversorgung in Morelia, Querétaro u. a., die z. T. heute noch die Barockbrunnen speisen, oder das Theatergebäude von 1759 in Puebla, das als ältestes der westlichen Hemisphäre gilt. Im übrigen spielte die Kirche in der Kolonialzeit eine tragende Rolle. Neben Mission und Seelsorge umfaßte sie alle Bereiche der Bildung,

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des Sozial- und Gesundheitswesens. Mehrere Universitäten sind aus Jesuitenkollegs hervorgegangen. In manchen Orten besaß sie bis zur Hälfte des gesamten Grund und Bodens. Klöster wie Santa Catalina in Arequipa, San Francisco in México-Stadt oder Santo Domingo in Puebla und Oaxaca nahmen mit ihren Nebengebäuden und Gärten zwei und mehr manzanas ein, und einige Städte erinnern mit ihren Kathedralen an den Typus der mittelalterlichen Bischofsstadt. Einen entscheidenden Wandel im Bild der ländlichen Kulturlandschaft haben die Spanier durch Hunderte von Klostersiedlungen eingeleitet, die schon im 16. Jahrhundert gegründet wurden. Mit ihren Filialkirchen, Haciendas, Wallfahrtsorten und Wegenetzen bildeten sie Territorialsysteme, die bis heute nachwirken. Durch ihre missionarische Tätigkeit wurde die indianische Bevölkerung integriert und kontrolliert. Hie und da überlagern die Kirchengebäude eine präkolumbische Pyramide wie in Izamal (Yucatán) oder im bedeutenden Zeremonialzentrum Cholula (Mexiko), wo nicht nur auf der Hauptpyramide eine Wallfahrtskirche errichtet wurde, sondern mehrere Kirchen die Stelle ehemaliger Tempel einnehmen. Diese Siedlungskontinuität wurde aus Gründen der Mission bewußt gesucht. Viele Klöster entsprechen zwar dem üblichen Grundriß-Schema mit der Kirche und einem zweistöckigen Kreuzgang, um den sich das Refektorium, die anderen Gemeinschaftsräume und im Obergeschoß die Mönchszellen gruppieren; und doch sind sie in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Ihr Äußeres trägt den schlichten Charakter massiv gebauter Wehrkirchen mit aufgesetzten Zinnen und geringen Verzierungen im plateresken Stil. Im Inneren sind sie dagegen mit Stukkaturen, Fresken und Altären der Renaissanceund Barockzeit reich ausgestaltet. Im Hinblick auf die Entstehungszeit im 16. Jahrhundert erscheint es erstaunlich, daß gotische Bauformen, wie z. B. fein ausgeführte Kreuzrippengewölbe, in vielen Klöstern zu finden sind. Daneben gibt es Elemente des spanisch-maurischen Mudéjar-Stils. Hier manifestiert sich eine vielfältige koloniale Architektur, die von europäischen Kunstrichtungen inspiriert und doch eigenständig weiterentwikelt wurde, und zwar nicht nur in den Kirchen, sondern auch in der bürgerlichen Wohnkultur. Funktionale Besonderheiten mexikanischer Klöster sind die capilla abierta, eine in die Außenfassade eingebaute offene Kapelle, sowie der atrio, ein großer rechteckiger Platz vor der Kirche, der von einer Mauer mit

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vier Prozessionskapellen (capilla posa) umgeben ist und in dessen Mitte ein Steinkreuz steht. Dieses Ensemble diente als Gottesdienst-Platz für die Masse der bekehrten Indios. Viele isoliert liegende Konvente zeugen von der flächendeckenden Missionstätigkeit der Mönche. Manche wurden aufgelassen und dem Verfall preisgegeben. Andere wurden zu Kristallisationspunkten für Marktorte oder Kleinstädte und damit zu zentralen Orten im Rahmen einer territorialen Ordnung.

Städtischer Strukturwandel seit dem 19. Jahrhundert Das innere Gefüge der lateinamerikanischen Kolonialstadt entsprach bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durchaus dem Modell, das J. G. Kohl schon 1841 für die vorindustrielle Stadt in Europa entworfen hat.10 Es zeigt ein zentral-peripheres Gefälle aller Lebensäußerungen, das von der plaza ausgeht. Ringsum konzentrieren sich die monumentalen Gebäude der weltlichen und der kirchlichen Macht sowie die Palais der oberen Schichten. Es folgen die Handelshäuser und die Handwerker. Gegen den Rand nehmen die Gebäudegrößen und die Qualität der Fassadengestaltung aber auch die Bodenwerte, der soziale Status und die Dichte der Bevölkerung kontinuierlich ab (Abb. 4). Dieses Grundmuster läßt sich bis heute in kleineren Städten beobachten, die in provinzieller Stagnation verharren. Dynamische Städte sind dagegen nicht nur durch starke Erweiterungen am Rande gekennzeichnet, sondern auch durch massive Eingriffe in die Substanz der kolonialen Altstadt. Die Veränderungen erfolgten in mehreren Phasen und zu unterschiedlichen Zeiten entsprechend der jeweiligen Bedeutung der Stadt.11 Zunehmende Weltmarktverknüpfung durch Rohstoffexporte, Ansätze zur Industrialisierung und der Eisenbahnbau haben gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Lateinamerika wirtschaftliche Entwicklungen und eine erhöhte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen angeregt und damit die städtischen Zentren gestärkt. Dies bedeutete Zuwanderungen und Stadterweiterungen sowie einen wachsenden Flächenanspruch für Geschäftsräume in zentraler Lage. Er konnte anfangs durch provisorische Dächer über den 10

Vgl. E. Gormsen (Anm. 3), S. 85.

11

E. Gormsen: »Die Städte im spanischen Amerika. Ein zeit-räumliches Entwicklungsmodell der letzten hundert Jahre«, in: Erdkunde 35, 1981, S. 290-303. - E. Gormsen: »Interessenkonflikte bei der Stadtemeuerung lateinamerikanischer Kolonialstädte«, in: Eichstätter Beiträge 18,1986, S. 207-225.

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4 STRUKTURWANDLUNGEN V O R

K O L O N I A L E R S T A D T Z E N T R E N IN -

I N D U S T R

I E L L E S

LATEINAMERIKA

S T A D I U M

BODENWERTE

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_ _ SOZIALSTATUS DER WOHNBEVÖLKERUNG BEVÖLKERUNGSDICHTE

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Entw. ' E. GORMSEN Kartogr: H. ENGELHARDT

offenen patios erfüllt werden, dann durch Aufstockung oder Neubau, bis hin zu Hochhäusern. Früher oder später führte dies zum Auszug des Großbürgertums, das am Rand der kolonialen Altstadt, oft im Anschluß an Park-

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anlagen (paseo, alameda) seine Villen in Gärten nach europäischem Vorbild errichtete. Dabei überwogen lange Zeit französische Architektur-Einflüsse. Doch in den 30er und 40er Jahren kam es zu einer Rückbesinnung auf das koloniale Erbe, was zu eigenartigen Stilmischungen europäisch-nordamerikanischer Hausformen mit barocken Fassadenelementen führte. Zur gleichen Zeit wurden in Bogotá ganze Neubauviertel im estilo inglés, dem perfekt nachempfundenen Stil englischer Land- und Herrenhäuser gebaut. Mit fortschreitender City-Bildung wurden auch diese Gebiete von geschäftlichen Nutzungen überprägt, weshalb ihr Wohnwert absank und sich die Oberschicht weiter außerhalb niederließ.12 Der wirtschaftlich-administrative Konzentrationsprozeß vollzog sich, ausgehend von der plaza, nicht flächenhaft ringförmig, sondern überwiegend in der durch den paseo vorgegebenen Hauptrichtung, die häufig in eine Prachtstraße überging. In vielen Städten wurde erst seit den 50er Jahren die Hauptausfallstraße zu einer breiten Avenida mit Grünstreifen und Baumbestand ausgebaut. Sie dient als Leitlinie für gute Wohngebiete, Dienstleistungen und Auto-Betriebe. Wie in europäischen Altstädten erhielt sich dagegen die überkommene Bausubstanz auf der entgegengesetzten Seite der Innenstadt, >jenseits der Kathedralen Nach außen schlössen sich erste Fabriken und Arbeiterwohngebiete an, darunter sogenannte conventillos oder vecindades. Das sind Einraumwohnungen mit Kochplatz, die an langen, offenen Gängen aufgereiht sind und meist nur einen Wasserhahn sowie sehr unzureichende sanitäre Einrichtungen für 10 bis 20 Familien haben. Das Leben in solchen >Nachbarschaften< wurde von Oscar Lewis13 eindringlich beschrieben. Auch im historischen Zentrum wurden Um- und Neubauten für Behörden, Kaufhäuser, Hotels usw. in verschiedenen Stilrichtungen vorgenommen, die sich aber nach dem Bauvolumen in das vorhandene Gefüge einpaßten. Die oft aus ehemaligen Jesuitenkollegs (colegio) hervorgegangenen Universitäten wurden durch An- und Ausbauten modernisiert. Die plaza selbst wurde mit Brunnen, Denkmälern, Bänken, einem Musikpavillon (kiosko) und schönem Baumbestand zu einem Schmuckplatz umgestaltet, auf dem die Bewohner abends und an Sonntagen flanieren {paseo). In größeren Städten hatte man schon früher die Marktfunktion auf andere Plätze 12

Vgl. P. W. Amato: »Elitism and Settlement Pattems in the Latin American City«, in: Journal qf the American Institut of Planners 36,1970, S. 96-105.

13

O. Lewis: Die Kinder von Sánchez. Selbstporträt einer mexikanischen Familie, Düsseldorf u. a. 1963.

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verlegt, in deren Umgebung sich Geschäfte niederließen. Ihr Angebot war auf die Ansprüche der unteren Schichten und der Landbevölkerung ausgerichtet. So kam es zu einer sozio-ökonomischen Differenzierung der City. Diese zunächst noch gering erscheinenden Folgen der beginnenden Modernisierung, die mit einer mäßigen Bevölkerungszunahme verbunden waren, bildeten die Grundlage für die fortschreitende asymmetrische Entwicklung der Stadt. Das zeigt die kaum merkliche Verschiebung der Bodenwerte ebenso wie der sekundäre Gipfel der >Statuskurve< über dem randlichen Villengebiet und die damit zusammenhängende Veränderung der Bevölkerungsdichte (Abb. 4).14

Großstadtentwicklung und Metropolisierung Der außerordentliche Einwohnerzuwachs der letzten vier bis fünf Jahrzehnte hat nicht nur enorme Flächenerweiterungen an den Rändern der Städte mit sich gebracht, sondern auch massive Strukturwandlungen in ihrem Inneren. Teile der Altstädte wurden mehrfach mit immer höheren Bürotürmen überbaut (Abb. 5). Der Hauptplatz blieb im allgemeinen das Verwaltungszentrum mit Bischofspalast, Rathaus und Sitz der Regierung. Hier wie im anschließenden Geschäftsgebiet läßt sich an der Bausubstanz und an verschiedenen Stilelementen die fortschreitende Umgestaltung erkennen. Viele historische Gebäude wurden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Außer den Kirchen sind im allgemeinen wenige Baudenkmäler aus der Kolonialzeit erhalten geblieben. Da sie gewerblich genutzt werden, sind sie meist gut gepflegt. Vor allem die Banken betrachten sie gern als PrestigeObjekte für ihre Stammhäuser, während in Außenbereichen moderne Filialen gegründet wurden. Aufgrund dieser Entwicklung tendiert die Bewohnerzahl im Zentrum gegen Null; doch die Bodenwerte zählen nach wie vor zu den höchsten der Stadt. Sie korrespondieren mit der Konzentration der Hochhäuser. Ein extremes Beispiel hierfür bietet Säo Paulo. Aber auch in Caracas verschwindet der kleine Bereich um die Plaza Bolívar mit der bescheidenen Kathedrale und einigen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert zwischen den Wolkenkratzern.

14

Vgl. E. Gormsen: »Die Städte ...« (Anm. 11), Abb. 13 (Bevölkerungsdichte und Wohnungstypen der Innenstadt von Puebla).

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Abb. 5 DREI STADIEN DER BEBAUUNG E I N E S S T R A S S E N B L O C K S IN CORDOBA, ARGENTINIEN. Quelle: El S u e ñ o de un O r d e n (Anm.4), S.187

Doch dieser Prozeß der Tertiärisierung blieb nicht auf den kolonialen Stadtkern beschränkt. Er folgte vielmehr mit explosionsartig steigenden Grundstückspreisen den wichtigsten Straßenachsen (z. B. Paseo de la Reforma in México-Stadt) und überprägte die guten Wohnviertel der Jahrhundert-

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wende, wobei die Villen anfangs zu geschäftlichen Zwecken umfunktioniert wurden, bevor sie schließlich großen Hotel- und Bürobauten weichen mußten. Ein erneuter Umzug der höheren Schichten an die Peripherie war die Folge. Hier finden sich faszinierende Beispiele moderner Architektur neben dem kalifornisch beeinflußten hacienda-Stil und allen Spielarten der Postmoderne. Es zeichnen sich also ähnliche Vorgänge ab wie bei den europäischen City-Erweiterungen seit den 50er Jahren (z. B. im Frankfurter Westend). Im Gegensatz dazu blieben auf der weniger florierenden Seite der Altstadt, nur wenige Schritte von der Kathedrale entfernt, ganze Straßenzüge im Kolonial-Stil erhalten, und einzelne Gebäude dienen als Museum oder Sitz einer Behörde; doch häufig gelangt man durch kunstvolle Barockportale in völlig verwahrloste patios mit düsteren Wohnräumen und Werkstätten sowie kreuz und quer hängenden Wäscheleinen und Stromkabeln. Diese ehemaligen Wohnpaläste wurden als vecindades an zahlreiche Familien vermietet und verkamen zu slums. Sie sind charakterisiert durch schwer geschädigte Bausubstanz, unzulängliche sanitäre Einrichtungen, schlecht belichtete und belüftete Räume, ein hohes Maß an Lärm und Luftverschmutzung und einen fast totalen Mangel an Freiräumen im Wohnumfeld. Die Konzentration des tertiären Sektors im alten Zentrum und die Unannehmlichkeiten des rapide zunehmenden Straßenverkehrs haben mit dem Auszug der letzten Bourgeoisie-Familien zur Verlagerung des gesellschaftlichen Lebens in die Außenbezirke geführt. Trotz hoher Geschäftsdichte haben die Altstädte in den Metropolen ihre Attraktivität für die Oberschicht schon lange verloren. Folgerichtig ging die Qualität des Einzelhandels zurück. Bekleidungs- und Schuhläden entsprechen eher dem finanziellen Niveau der unteren bis mittleren Einkommensgruppen. Luxusgeschäfte, Reisebüros, teure Restaurants etc. sind dagegen in Subzentren umgezogen, deren Standorte sich mit den Villenvierteln immer weiter nach außen verlagern. Als Kristallisationspunkte dienen häufig sogenannte plazas comerciales. Nach dem Vorbild nordamerikanischer Shopping malls handelt es sich um baulich geschlossene ein- bis zweistöckige Einkaufskomplexe großen Stils mit mindestens einem Kaufhaus und zahlreichen Läden in klimatisierten Passagen. In ihrer architektonischen Gestaltung und luxuriösen Ausstattung stellen sie die meisten europäischen Shopping Centers in den Schatten. Angelagert sind weitere Geschäfte, Restaurants, Kinos usw. sowie selbstver-

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ständlich ausgedehnte Parkplätze. Für die Mittel- und Oberschichten werden die neuen >Konsumtempel< in Suburbia damit zu Treffpunkten auch in der Freizeit; an die Stelle der zentralen plaza in der Innenstadt tritt die plaza comercial (Name!). Daran wird auch das Bemühen um Restaurierung der historischen Plätze nichts ändern, die nach wie vor von der clase popular frequentiert werden sowie von Touristen und Angestellten der umliegenden Behörden15. Dagegen konnten sich die traditionellen Märkte lange Zeit im Zentrum behaupten, ja ihre Aktivitäten weiteten sich durch unzählige ambulante Händler des informellen Sektors immer weiter in die benachbarten Straßen aus und verstärkten so das Verkehrschaos und die damit verbundenen Umweltprobleme. Seit den 60er Jahren ist es in den meisten größeren Städte gelungen, die riesigen Marktplätze zu dezentralisieren. Das geschah einerseits in modernen Markthallen, andererseits auf großen betonierten Flächen am Stadtrand, die vor allem für den starken Zustrom der ländlichen Bevölkerung gedacht waren, schließlich durch den Bau von Großmarkthallen, denn viele alte Märkte hatten auch deren Funktion inne. Tatsächlich haben diese Maßnahmen zu einer wesentlichen Entlastung der Stadtkerne geführt, wenn auch gelegentlich unter erheblichen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen und der Stadtverwaltung.16 Schließlich hat die Aufblähung der Bürokratie auch zur Auslagerung von Behörden geführt. Sie finden sich z. T. in ehemaligen Wohngebäuden der Jahrhundertwende, meist aber weiter draußen in Neubaukomplexen ähnlich wie moderne Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen. Die Universitäten wurden ebenfalls ganz oder teilweise aus der Altstadt auf einen Campus (Ciudad Universitaria) am Stadtrand verlegt, ebenso wie die zahlreichen neuen Hochschulen. Der Prozeß der Metropolisierung läßt sich in Abb. 4 nachvollziehen, wobei freilich die Profil-Darstellung einen hohen Grad der Generalisierung er15

E. Gormsen und R. Klein-Liipke: »Shopping malls in Latin America; a new indicator of metropolization«, in: G. Heinritz (Hrsg.): The attraction qf retail locations. IGU-Symposium, Bd. 2, München: Geographisches Institut der Technischen Universität 1992, S. 146-159.

16

Vgl. W. Wendel: »El comercio de alimentos de la Ciudad de Puebla. Consideraciones acerca de una tipología«, in: Comunicaciones. Proyecto Puebla-Tlaxcala 15, 1978, S. 21-27. - La lucha de los vendedores ambulantes. Puebla, México 1987 (= Cuadernos de Debate sobre Problemas Urbanos, Instituto de Ciencias de la Universidad Autónoma de Puebla 9-10). - J. Monnet: »Comercio y centralidad en la ciudad de México: una aproximación de las lógicas de estructuración espacial«, in: TRACE (Travaux et Recherches dans les Amériques du Centre, México) 17,1990, S. 33-50.

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Die Stadt in Lateinamerika

fordert, der die flächenhafte Ausdehnung der verschiedenen Phänomene, insbesondere der Wohngebiete, nicht sichtbar machen kann (Abb. 6). Die Nutzungsintensität nimmt nach außen allmählich ab, um erst in weiter entfernten unterschiedlichen Subzentren wieder zu kulminieren. Dem entspricht die Kurve der Bodenwerte, die außerhalb der City einen zweiten Gipfel im Bereich dieser Subzentren aufweist. Abb.6

SOZIALSTRUKTUR U N D E I N K A U F S Z E N T R E N IN

Sozialstruktur I

i Oberschicht/obere M i t t e l s c h i c h t

[

i Untere Mittelschicht/Unterschicht

lUilüJi

Industriegebiet

MEXICO-STADT

Einkaufszentren H | •

C i t y und Subzentren Shopping Centers

a

Kaufhäuser



Verbrauchermärkte

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Die Asymmetrie kommt noch deutlicher bei der Verteilung des sozialen Status zum Ausdruck. Die oberen Schichten wohnen jetzt fast ausnahmslos an der Peripherie. Die Kurve fällt von hier kontinuierlich zum anderen Extrem der Stadt ab: über neuere Apartment-Blocks, Mietwohnungen in den älteren Teilen der Innenstadt, degradierte Altstadthäuser, vecindades und Sozialwohnungen bis zu den randlichen Hüttenvierteln. Letztere kommen übrigens auf besetztem Land auch in nächster Nachbarschaft zu den besten Wohngebieten vor. Hier spielen neben Lagepräferenzen die unterschiedlichen Grundbesitzverhältnisse eine Rolle. Die Bevölkerungsdichte ist dagegen in den Cityrandgebieten jenseits der plaza, den älteren Mietwohnungsvierteln sowie in den Siedlungen des öffentlich geförderten Wohnungsbaus am höchsten. Niedrige Werte erreicht sie dagegen im Hauptgeschäftszentrum sowie am äußeren Stadtrand, und zwar sowohl in den großzügig durchgrünten Luxusvierteln als auch in den noch nicht konsolidierten Spontansiedlungen und den Industriezonen.

Das Problem der Stadterneuerung Die einzelnen Phasen des oben geschilderten Strukturwandels können in Städten verschiedener Größe und Dynamik noch heute nebeneinander beobachtet werden. Nur in den Großstädten zeigt sich ein völlig verändertes asymmetrisches Verteilungsmuster der sozio-ökonomischen Phänomene. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Städten, in denen derartige Veränderungen noch nicht oder nur in geringerem Maße eingetreten sind. Es handelt sich um Mittel- und Kleinstädte, die insgesamt ihre ehemalige Bedeutung verloren haben, weil zum Beispiel der frühere Bergbau erschöpft war oder Verkehrslinien verlegt wurden. Allgemein läßt sich die Altstadtproblematik als Folge veränderter Lagebewertungen erkennen, denn ein bedeutender Städtebau kann nur in Blütezeiten der Stadt entstehen. Diese kann aber ihre ursprüngliche Gestalt nur bewahren, wenn sie weder durch einen zu starken ökonomischen Aufschwung modernisiert, noch durch gegenteilige Einflüsse zerstört wird. In Städten wie San Cristóbal de las Casas (Chiapas) und Oaxaca leben heute noch einige Familien des alten Bürgertums in ihren angestammten Häusern mitten in der Stadt. Für Querétaro und Popayán

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konnte Whiteford 17 dieses Phänomen in den 50er Jahren nachweisen, und selbst in Trinidad auf Cuba ist es trotz des politischen Umbruchs noch erkennbar. Hier macht das Kleinstadtbild in seiner Geschlossenheit aber auch mit liebevoll gestalteten Details wie Fenstergittern und Türgriffen einen gepflegten Eindruck, da abgesehen von der Unterstützung durch die staatliche Denkmalpflege die Besitzer ein Interesse am guten Erhaltungszustand ihrer Häuser haben. 18 Entscheidend für die Unterschiede von Stadt zu Stadt und für die räumlichen Disparitäten in einem komplexen Stadtgefüge sind die wirtschaftlichen Kräfte, insbesondere die Verteilung des Grundeigentums. Sie haben einerseits zur City-Entwicklung und Modernisierung, andererseits zum Verfall und zur sozialen Degradierung bis hin zur Bildung von slums geführt. Abgesehen vom Verlust historischer Gebäude war also die Wohnbevölkerung besonders betroffen. Sie wurde entweder verdrängt oder mußte immer schlechtere Lebensbedingungen in Kauf nehmen. Offenbar sind diese Prozesse vergleichbar mit denjenigen in Europa unter dem Einfluß der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, wo es zu einer ähnlichen Asymmetrie gekommen ist. Und dementsprechend besteht auch hier ein Erneuerungsbedarf. Er sollte sowohl die Pflege wertvoller Baudenkmäler einschließen als auch die Sanierung der allgemeinen Bausubstanz und die Bewahrung des Stadtbildes bei gleichzeitiger tiefgreifender Verbesserung des sozio-ökonomischen Gefüges. Leider läßt sich aber bis in die jüngste Zeit wenig Verständnis für die aufgeworfene Problematik erkennen. Historische Gebäude wurden nur dann erhalten, wenn es im Interesse der tragenden Schichten lag, etwa bei der Restaurierung eines Wohn-Palastes oder eines Klosters für ein Museum, eine Bank oder ein Hotel. Eine noch geringere Rolle hat aber die Verbesserung der Lebensqualität für ihre Bewohner gespielt. Zwar wurde in Mexiko bereits 1864 während der kurzen Regentschaft des Habsburger Kaisers Maximilian ein Denkmal-Gesetz erlassen. Doch es bezog sich ebenso wie mehrere Ergänzungen nur auf vorspanische Ruinen

17

A. H. Whiteford: Two cities of Laiin America. A comparative description of social classes. New York: Anchor Books Doubleday 1964.

18

E. Gormsen: »Strukturwandel und Erneuerung lateinamerikanischer Kolonialstädte«, in: Die alte Stadt 4,1990, S. 331-345.

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oder einzelne Monumente.19 Unter dem Einfluß des Nordamerikaners William Spratling wurde immerhin schon 1928 die alte Minenstadt Taxco unter Schutz gestellt, die seitdem zu einem beliebten Touristenziel geworden ist; und 1934 wurde ein Bundesgesetz erlassen {Ley de Protección y Conservación de Monumentos Arqueológicos e Históricos, Poblaciones Típicas y Lugares de Belleza Natural), das u. a. die Erhaltung ganzer Ortschaften vorsah, die als >typisch< im Sinne der nationalen oder regionalen Geschichte betrachtet wurden, z. B. Patzcuaro im Staat Michoacán, wo Lázaro Cárdenas Gouverneur gewesen war. Dieser hat 1938 als Staatspräsident das Instituto Nacional de Antropología e Historia {INAH) gegründet, das weitreichende Vollmachten bei der Erforschung und Restaurierung von archäologischen, historischen und künstlerischen Denkmälern hat. Es hat wesentlich am Denkmalschutzgesetz von 1972 mitgewirkt, das erstmals ausdrücklich den Ensemble-Schutz ganzer Viertel vorsieht. Auf dieser Basis wurden mehrere Stadtzentren, darunter San Cristóbal de las Casas, Oaxaca, Puebla, Morelia, Querétaro und México-Stadt, zur Zona monumental erklärt, in der nicht nur alle Einzeldenkmäler katalogisiert werden, sondern auch Vorschriften über Gebäudehöhen, Gestaltungsprinzipien und Nutzungsarten bestehen. Erst damit kann von einer Politik der Stadterhaltung und Stadterneuerung gesprochen werden. Insgesamt ist die einschlägige Gesetzgebung Mexikos auch im internationalen Vergleich recht fortschrittlich gewesen, und ähnliche Gesetze sind seit der Mitte des Jahrhunderts in anderen Ländern eingeführt worden. Wichtige Impulse sind einerseits von exogenen Einflüssen ausgegangen, d. h. von Leitbildern und Stilrichtungen, die sich über den europäischen Kulturkreis hinaus verbreitet haben, andererseits von nationalen politischen Umbrüchen, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit dem Städtebau erkennen lassen. Für die Bewußtseinsbildung unter Fachleuten und in der öffentlichen Meinung hat die Aufnahme einiger Altstädte (México, Puebla, Oaxaca, Guanajuato, Antigua Guatemala, Cartagena, Quito, Cuzco, Potosí, Salvador de Bahia, Olinda, Ouro Preto, Havanna, Trinidad) in die 19

E. Gormsen, R. Klein und W. Wöll: »Stadtemeuerung. Ein weltweites Problem. Forschungen in Spanien, Portugal und Lateinamerika«, in: Forschungsmagazin der Johannes Gutenberg Universität, Mainz 2/1988, S. 47-57.

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UNESCO-Liste des Weltkulturerbes eine wichtige Rolle gespielt.20 Doch aus all dem kann man kaum eine Aussage über tatsächlich erfolgte Erneuerungsmaßnahmen ableiten, denn leider herrscht weithin nicht nur Mangel an Geld, sondern auch an Kooperation zwischen verschiedenen Ämtern. Positive Entwicklungen beruhen vielfach auf der besonderen Initiative privater Institutionen oder einzelner Personen, die in ihrer jeweiligen Position als städtische Akteure wirksam werden.

Maßnahmen der Stadterneuerung und ihre kritische Bewertung Schon seit Jahrzehnten werden hervorragende Restaurierungsarbeiten an zahlreichen Gebäuden der Kolonialzeit durchgeführt. Viel seltener sind noch konkrete Planungen zur Erneuerung ganzer Altstadtbereiche. Sie beschränken sich bisher großenteils auf Bemühungen, das Erscheinungsbild einzelner Straßenfronten oder Plätze zu verbessern, einschließlich der Pflasterung sowie der Verlegung von Strom- und Telefonkabeln im Boden. Damit kommen zwar Aspekte eines ganzheitlichen Ensemble-Schutzes zum Ausdruck, doch kritische Urbanisten bewerten diese Maßnahmen als fachadismo (Fassadenkosmetik), da kaum nach den sozio-ökonomischen Hintergründen des Verfalls gefragt wird. Häufig fehlen Bestandsaufnahmen der aktuellen Situation hinsichtlich der Grundbesitzverhältnisse, der Dichte und Sozialstruktur der Bevölkerung, der Nutzung und des Erhaltungszustandes der Gebäude. In einigen Städten wurden Fußgängerbereiche eingerichtet, wobei Brasilien eine Vorreiter-Rolle spielt. Anderswo lassen sich ähnliche Vorhaben gegen vielfältige Widerstände nur schwer durchsetzen. Zu den wenigen Städten, in denen der ganze Hauptplatz von Autos freigehalten wird, gehört Oaxaca. Hier wurden außerdem fünf manzanas der Hauptstraße bis zum ehemaligen Kloster Santo Domingo für Fußgänger reserviert, was in kürzester Zeit zur völligen Umgestaltung durch Touristengeschäfte für Kunsthandwerk, Boutiques, pario-Restaurants usw. geführt hat. Auch sonst spielt der Tourismus eine Rolle bei der Neubewertung der historischen Bausub20

D. Bühlen »Stadtemeuerong und Denkmalpflege in Puebla, Mexiko«, in: Die alte Stadt 4, 1990, S. 364-375. - E. Gormsen (Anm. 18).

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stanz, die nicht nur in Hotels und andere touristische Einrichtungen umfunktioniert wird, sondern in steigendem Maße auch in Zweitwohnungen. Damit verbunden ist eine allgemeine Pflege des malerischen Stadtbildes einschließlich der teilweise fragwürdigen Ergänzungen im historisierenden Stil. Die an sich begrüßenswerte Stadterneuerung ist also weitgehend fremdbestimmt, zumal dadurch ein Wandel der Bevölkerungsstruktur zugunsten einer großstädtischen, z. T. ausländischen Oberschicht eingeleitet wird. Solche Wirkungen sind besonders spürbar in relativ kleinen abgelegenen Städten wie Antigua (Guatemala), Cartagena und Villa de Leiva (Kolumbien) sowie Taxco und San Miguel de Allende (Mexiko).21 Äußerst gefährdet ist das historische Zentrum der Stadt México, das 1980 zur Zona monumental erklärt wurde. Von rund 1500 kolonialzeitlichen Baudenkmälern waren 70 % in privatem Besitz, 25 % in der Hand von privatrechtlichen Institutionen und nur 5 % im Eigentum der öffentlichen Hand. Ein Sonderproblem besteht ferner darin, daß seit den 40er Jahren die Mietpreise von 17 % aller Wohngebäude eingefroren sind, so daß bei der hohen Inflation nur noch Nominalmieten gezahlt werden.22 Die Hauseigentümer haben folglich kein Interesse an Instandhaltungsarbeiten, weshalb der Verfall zunimmt. Dasselbe läßt sich für Lima sagen. Hier kann man sein Haus aufgrund eines Gesetzes von 1967 zur Ruine (finca ruinosa) erklären lassen, um so die Bewohner zu verdrängen und eine Neubaugenehmigung zu bekommen. Die Erdbebenkatastrophe am 19. September 1985 hat die Lage in México-Stadt zusätzlich verschärft, allerdings auch erstaunliche Kräfte zum Wiederaufbau der rund 95.000 zerstörten Wohnungen freigesetzt, wobei die Kosten etwa zur Hälfte durch Kredite der Weltbank aufgebracht wurden. Vor allem in der schwierigen Anfangsphase bildeten sich Solidaritätsgruppen unter den Betroffenen, die durch Kritik und Engagement wesentlich zum Erfolg des Programms beitrugen. Beachtliches Einfühlungsvermögen zeigte sich beim Wiederaufbau von rund 200 Häusern, die als Baudenkmal eingestuft waren. Hier gelang es, in historischen Gebäuden 21

Vgl. E. Gormsen: »Mexiko - Das bedeutendste Touristenziel der Tropen«, in: D. Briesemeister und K. Zimmermann (Hrsg.): Mexiko heute, Frankfurt am Main: Vervuert 1992, S. 221-250 (insb. S. 234-236). - E. Gormsen (Anm. 18).

22

Vgl. J. Monnet: »Una escenografía monumental: El Centro Histórico de la ciudad de México«, in: Sábado, suplemento de Unomásuno, México, 26.8.1989. - P. M. Ward: Mexico City. The production and reproduction of an urban environment, London: Belhaven Press 1990, S. 35ff.

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Sozialwohnungen zu angemessenen Kosten unterzubringen. Sie gehen nach einer Tilgungszeit von 8 Jahren in das Eigentum der Bewohner über, wobei die Monatsraten 10 bis 15 % des bescheidenen durchschnittlichen Einkommen von 2 Mindestlöhnen betragen.23 Derartige Programme könnte man auch in anderen Altstädten mit Hilfe von öffentlichen Wohnungsbaufonds durchführen, die bisher nur Neubaugebiete am Stadtrand fördern (s. u.); doch entsprechende Überlegungen wurden noch nicht verwirklicht. Die Unterstützung von Erdbebenopfern in Popayán (Kolumbien 1983) und Arequipa (Peru 1960) hat übrigens zu beträchtlichen Zuwanderungen von campesinos geführt, die an diesen Vergünstigungen teilhaben wollten. Insgesamt hat sich bestätigt, daß zwar schon recht einheitliche Vorstellungen über die architektonische und städtebauliche Gestaltung von Einzelbauwerken und Zonas monumentales bestehen, aber nur sehr begrenzte Kenntnisse über die tatsächlich dabei ablaufenden sozio-ökonomischen Prozesse. Es fehlt noch weitgehend an ausgewogenen Konzepten für eine integrierte Entwicklungsplanung der Stadtkerne unter Einbeziehung der Wohnraumversorgung für die dort ansässige Bevölkerung. Im übrigen muß die Altstadt im Kontext der enormen Urbanisierung an den Stadträndern beurteilt werden. Lösungen hängen nicht nur von finanziellen Möglichkeiten ab, sondern in erster Linie von der Aufstellung klarer Prioritäten bei politischen Entscheidungen. Statt Prestige-Objekte wie Denkmäler oder Prachtboulevards mit großen Brunnen zu errichten, die oft nur der Selbstdarstellung der jeweils herrschenden Staatsmacht dienen, könnten entsprechende Mittel der Stadtemeuerung zufließen und damit möglicherweise dem Prestige der Stadt und ihrer Gesellschaft nachhaltiger zu Gute kommen.

23

Renovación habitacional popular en el D. F., la reconstrucción de vivienda en el centro histórico de la ciudad de México después de los sismos de Septiembre de 1985. Nairobi (United Nations Centre for Human Settlements, Habitat) 1987.

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Wohnraumversorgung und Stadtplanung Presseberichte und andere Publikationen über die ausgedehnten >Elendsgürtel< (cinturón de miseria) am Rande lateinamerikanischer Metropolen lassen vermuten, daß diese slums, favelas, ranchos, tugurios u. ä.24 überwiegend auf unrechtmäßige Landbesetzungen durch verarmte ländliche Zuwanderer zurückzuführen seien und jegliche Versorgung durch die zuständigen Behörden vermissen ließen. Genauere Analysen zeigen ein differenzierteres Bild, das in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen der jüngeren Zeit belegt wurde.25 Dabei kann auch bei emsthaften Forschem die Einschätzung der festgestellten Situation je nach dem persönlichen Erfahrungsbereich recht unterschiedlich ausfallen. Im wesentlichen werden die enormen Flächenerweiterungen lateinamerikanischer Städte von drei Gruppierungen städtischer Akteure gesteuert: - privatwirtschaftliche Gesellschaften zur Baulanderschließung {urbanización, fraccionamiento), - marginale Gruppen, die tatsächlich Land illegal besetzen (invasión),26 - öffentliche Institutionen verschiedener Art, z. B. Wohnungsbaufonds, die mit der sozialen Pflichtversicherung gekoppelt sind, wie INFONAVIT in Mexiko. Die erstgenannte Form der Ausstattung mit Versorgungsleitungen und Straßen und der anschließenden Parzellierung und Veräußerung an private Käufer ist in Lateinamerika weit verbreitet und geschieht normalerweise durch Gesellschaften, die nur zu diesem Zweck gegründet werden und an denen häufig die Besitzer von großen Ländereien im Weichbild der Stadt als Hauptaktionäre beteiligt sind. Am Beispiel von Puebla (Mexiko) lassen sich Art und Umfang der räumlichen Expansion im Zusammenhang mit der Entwicklung zur Millionenstadt verdeutlichen (Abb. 7) 2 7 24

Vgl. Zitate bei E. Buchhofen »Stadtplanung am Rande der Agglomeration von Mexiko-Stadt. Der Fall Nezahualcoyotl««, in: Geogr. Z. 70, 1982, S. 12.

25

Vgl. u. a. J. Bähr (Hrsg.): Wohnen in lateinamerikanischen Städten, Kiel (= Kieler Geogr. Sehr. 68) 1988. - G. Mertins: »Probleme der Metropolisiemng Lateinamerikas«, in: E. Gormsen und K. Lenz (Hrsg.): Lateinamerika im Brennpunkt, Berlin 1987, S. 155-182.

26

Vgl. G. Mertins: »Das Problem der Marginalisierung und seine Ausprägung im (groß-)städtischen Raum der Dritten Welt«, in: Geographie und Schule 14 (76), 1992, S. 2-9.

27

P. Meie: »Procesos de desarrollo epacial de la Ciudad de Puebla«, in: Revista Interamericana Planificación (Guatemala) 22,1989, S. 97-125.

de

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Die Stadt in Lateinamerika

PUEBLA Formen der Baulanderschließung 1927 - 1984

Privat wirtschaftliche " f r a c c i o n a m i e n t o s " W M A legal illegal Ejido - Land K l l i l regularisiert f ~ ~ H illegal ^ 2km

J

lllll||)||| Bauland der öffentlichen Hand ffiraa Stadtgebiet und eingemeindete BS ™ a Dörfer 1927 Entwurf 1 E. Gormsen nach R Mèle (1989), Kartogr 1 H. Engelhardt

Von 1927 bis 1984 wurden insgesamt 140 fraccionamientos unterschiedlicher Größe geschaffen, anfangs vor allem für die mittleren und oberen Schichten. Doch seit den 60er Jahren entstanden in zunehmendem Maße illegale Baugebiete, die ungenügend erschlossen waren und zum Bau von bescheidenen Häusern der unteren bis mittleren Einkommensgruppen dienten. Mehr als normalerweise vermutet, greift der Staat in das Wohnungswesen ein, seit in den 40er/50er Jahren ein rapide steigender Bedarf entstanden ist. Ein großzügiger institutioneller Wohnungsbau begann allerdings erst später, in Mexiko z. B. 1972 mit der Gründung des Nationalen Wohnbau-Fonds INFONAVIT. Er finanziert sich aus 5 % der Lohnsum-

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men, die anteilmäßig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubringen sind. Die Steigerungen sind beträchtlich: Wurden von 1947 bis 1964 im Jahresdurchschnitt nur etwa 6.700 Wohnungen mit staatlicher Unterstützung gebaut, so waren es in den 70er Jahren knapp 80.000 und in den 80er Jahren bereits 1/4 Million, womit etwa 40 % des jährlichen Bedarfs an 610.000 Wohnungen gedeckt werden konnte.28 In Puebla umfaßte die öffentliche Förderung zwischen 1980 und 1990 mehr als die Hälfte aller fertiggestellten Wohnungen, d. h. 32.500 von 56.700.29 Ein besonderes Problem stellt der Grunderwerb dar, und zwar vor allem für die untersten Schichten. Dies führt zu Invasionen und irregulärer Bebauung und geschieht in Mexiko häufig auf ejido-Land, das im Rahmen der Bodenreform an Kleinbauern zur landwirtschaftlichen Nutzung verteilt worden war. 1982 nahmen ehemalige ejidos im Agglomerationsraum von M6xico-Stadt bereits 23 % der bebauten Fläche ein.30 Entgegen landläufiger Meinung, erfolgen die illegalen und semilegalen Besetzungen meist nicht spontan durch campesinos vom Lande, sondern durch organisierte Gruppen marginalisierter Stadtbewohner, die einen Ausweg aus ihren engen Lebensbedingungen suchen, aber nicht völlig mittellos sind. Ob sich diese Fälle durch einfache Vertreibung mit Hilfe der Polizei bereinigen lassen, hängt von der Einstellung der jeweiligen Regierung ab. Im Prinzip bemüht sich der Staat um gütliche Lösungen, zu denen auch großzügige Umsiedlungen mit entsprechenden Planungen gehören (Abb. 8). Die Regulierung der besitzrechtlichen Fragen erfolgt allerdings oft in langwierigen Auseinandersetzungen mit speziell dafür geschaffenen Behörden. Nach Iracheta31 wurden 1981-87 im Großraum von M6xico-Stadt 458.601 Parzellen mit insgesamt 165 km2 legalisiert. Im übrigen wird eine unkontrollierte Aufsiedlung auch durch Bodenspekulation, eine überforderte Planung und wechselnde politische Konstellationen unter Beteiligung staatlicher oder kommunaler Bauträger begünstigt. 28

29

M. Schteingait Los productores del espacio habitable, México: El Colegio de México 1989. - R. Coulomb: »Política de vivienda y necesidades habitacionales«, in: Ciudades (Revista Trimestral de la Red Nacional de Investigación Urbana, Puebla, México) 4,1989, S. 32-38. Information der Stadtverwaltung Puebla 1991.

30

A. Varley: »Propiedad de la revolución? Los ejidos en el crecimiento de la Ciudad de México«, in: Revista Interamericana de Planificación (Guatemala) 22,1989, S. 125-155.

31

A. Iracheta: »El estado y el suelo para vivienda en la zona metropolitana de la Ciudad de México«, in: Revista Interamericana de Planificación (Guatemala) 22,1989, S. 76-96.

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SCHEMATICHER VILLA

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Gemeinschaftseinrichtungen

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Zentrale Versorgungseinrichtungen

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Quelle: J.Bahr/G.Klückmann (Anm.32), S.456

Die Invasionsgebiete kann man, zumindest in der Anfangszeit, tatsächlich als Hüttenviertel mit improvisierten Wohnungen bezeichnen. Dies betrifft nicht nur die einfachsten Baumaterialien, sondern auch die Rechtsunsicherheit sowie die fehlende Infrastruktur. Bewohnt werden solche viviendas precarias meist von vielköpfigen Familien ohne regelmäßiges Einkommen, weshalb sie keinen Zugang zu Fonds wie INFONAVIT haben. Daher wurden nach der Habitat-Konferenz der UNO 1976 für die marginale Bevölkerung kollektive Selbsthilfe-Programme eingeführt. Sie stellen Grundstücke mit minimaler Ausstattung, Baumaterial zu günstigen Zahlungsbedingungen sowie Beratung beim Eigenbau zur Verfügung. In einigen Fällen, z. B. bei den großen Umsiedlungen aus der Bucht von Acapulcoi erhalten die Siedler Grundstücke mit einer vorgefertigten Sanitärzelle, um die sie dann ihr Haus selbst bauen. 32 Aber auch auf illegal besetzten Flächen beherrschen primitive Behausungen aus Abfallmaterial oder gewellter Teerpappe nicht auf Dauer das Bild. Vielmehr wird überall mit großem Engagement am Bau eines festeren Hauses gearbeitet. Die verschiedenen Entwicklungsstadien der autoconstrucción, die sich parallel zum Lebenszyklus einer Familie im Laufe von ein bis zwei Generationen vollziehen, sind modellhaft in Abb. 9 dargestellt. 32

Vgl. G. Merlins: »Marginalsiedlungen in Großstadien der Dritten Welt«, in: Geogr. Rundschau 36, 1984, S. 434-442. - J. Bähr und G. Klilckmann: »Staatlich geplante Barriadas in Peru«, in: Geogr. Rundschau 36, 1984, S. 432-459. - J. Bazant: Autoconstrucción de vivienda popular, México: Trillas 198S. - R. Kreth: »Der Tourismus-Boom in Acapulco (Mexiko): Lebenschance für Zuwanderer?«, in: FU Berlin, Insl für Tourismus: Berichte und Materialien 1,1986, S. 37-46.

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Abb.9 AUSBAUSTADIEN EINES HAUSES N A C H DEM PRINZIP DER "AUTOCONSTRUCCION" Quelle: J.Bazant (Anm.32)

Einraumhütte

S c h n i t t x-x 1

9b

o

i

i

5

M 5

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Eternitplatten

Backstein

Schnitt x-x'

Wasserbehälter

R f ü p ^ n

m m \

m

m

\

Patio

Fassade

Betondecke

EinStellplatz für PKW

Obergeschoß

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Mit zunehmender Konsolidierung einer Siedlung finden sich diese Haustypen nebeneinander in unzähligen Varianten, aber immer zusammengesetzt aus den gleichen Elementen, wobei der Blick ins Innere schon bald durch eine hohe Umfassungsmauer verwehrt wird, was nicht nur der Tradition des nach außen abgeschlossenen pario-Hauses entspricht, sondern auch als Zeichen der Besitzergreifung der Parzelle von Bedeutung ist. Entscheidende Schritte sind einerseits der Übergang von einer provisorischen vivienda precaria zu einem Haus aus Hohlblock- oder Ziegelmauerwerk, andererseits der Bau eines Betongerüsts bei der nächsten Entwicklungsstufe. Dies bietet insgesamt eine höhere Stabilität und ermöglicht eine spätere Aufstockung. Daher gehören die überstehenden Moniereisen zum charakteristischen Bild, übrigens auch bei vielen Werkstätten, Fabrikhallen und ähnlichen Bauten.

Die Entwicklung der Infrastruktur Im Gegensatz zu den fraccionamientos lassen die Spontansiedlungen am Anfang jegliche öffentliche Ausstattung vermissen. Den elektrischen Strom zweigen die colonos mit langen Leitungen vom nächsten offiziellen Kabel ab. Viel kritischer ist die Wasserversorgung. Allerdings sind Behörden oft trotz der illegalen Besetzung des Landes bereit, wenigstens den dringendsten Bedarf durch Tankwagen zu decken oder provisorische Leitungen mit einzelnen Zapfstellen in eine neue Siedlung zu legen. Technisch am aufwendigsten sind Abwasserleitungen. Aber mit diesem Problem haben auch amtlich genehmigte Stadtviertel zu kämpfen. Sehr oft dienen Sickergraben als einziges Entsorgungssystem. Dabei muß angemerkt werden, daß selbst bei funktionierender Kanalisation fast nirgends eine Kläranlage besteht. Hinzu kommen schließlich die großen Schwierigkeiten bei der Müllbeseitigung. Der Ausbau der Straßen schreitet mit der Konsolidierung allmählich fort. Zur Befriedigung der Grundbedürfnisse an Waren und Dienstleistungen etabliert sich demgegenüber sehr schnell der mehr oder weniger informelle Kleinhandel in bescheidenen Lädchen oder offenen Ständen. Auch private Kleinbuslinien stellen Verbindungen her, sobald eine gewisse Einwohnerzahl erreicht ist. Damit sind einige Grundprobleme der lateinamerikanischen Stadtentwicklung angesprochen, die durchaus nicht nur die unteren Einkommens-

39

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schichten betreffen, obwohl sie davon am meisten betroffen sind. Wenn selbst hoch entwickelte Industrieländer hie und da Schwierigkeiten mit der ausreichenden Ver- und Entsorgung haben, dann kann man sich kaum wundern, daß es bei dem enormen Bevölkerungsdruck und den sonstigen Rahmenbedingungen gelegentlich zu Ausfällen kommt. Insgesamt ist es eher erstaunlich, daß sich z. B. in Mexiko die absolute und relative Zahl der Wohnungen mit entsprechenden Anschlüssen im ganzen Land von 1970 bis 1990 deutlich erhöht hat (Tab. 1), zweifellos ein Erfolg. Tabelle 1: Wohnungen in Mexiko mit Elektrizität, Wasserleitung und Abwassersystemen 1970 und 1990

Wohnungen insgesamt davon mit Elektrizität Wasserleitung Abwassersystem

1970

%

1990

%

8.286.369 4.876.745 5.056.167 3.440.466

100 59 61 42

16.035.233 14.033.451 12.729.987 10.202.934

100 88 79 64

Quelle: XI Censo general de población y vivienda, México 1990 Mit solchen Globalwerten ist jedoch über die tatsächliche Verfügbarkeit von Wasser noch nicht viel ausgesagt. Einerseits bestehen große regionale Unterschiede, andererseits ist der Verbrauch in den letzten Jahrzehnten wegen der starken Bevölkerungszunahme exponentiell gestiegen, ganz abgesehen von dem höheren Pro-Kopf-Verbrauch, der sich aus den veränderten Lebensgewohnheiten des zunehmenden Mittelstandes ergibt. Hinzu kommt der Wasserbedarf der Industrie. Dieser wird allerdings für die Stadt México nur auf 14 % geschätzt gegenüber 72 % für die Haushalte. Der Rest umfaßt öffentliche Einrichtungen einschließlich der Verluste durch defekte Leitungen. 33 Allgemein ergibt sich das Problem, daß viele Großstädte in semiariden Beckenlandschaften liegen und die Grundwasserspende von einer halbjährigen Trockenzeit beeinflußt wird. México-Stadt bezieht beispielsweise schon seit den 40er Jahren einen Teil seines Wassers aus dem gut 60 km entfernten Rio Lerma und neuerdings über eine 120 km lange Fernleitung aus dem Valle de Bravo. 33 Atlas de la Ciudad de México, México D. F. 1987, S. 183ff.

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Weitere Probleme bilden die z. T. überalterten Leitungsnetze mit entsprechenden Verlusten sowie die ungleiche Verteilung des Wassers in den verschiedenen Stadtbereichen. Außerdem gibt es normalerweise nirgends einen ausreichenden Wasserdruck aus den Hochbehältern der Wasserwerke, weshalb jedes Haus einen eigenen Tank im Keller sowie eine Pumpe und einen Behälter auf dem Dach braucht.

Der Stadtverkehr Zu den schwierigsten Punkten der Stadtentwicklung gehört auch in Lateinamerika der innerstädtische Verkehr. Zwar wurden um die Jahrhundertwende in größeren Städten bereits Straßenbahnen eingerichtet, aber in den relativ engen Straßen der kolonialen Stadtkerne hatte dieses System keine Zukunft. So ergab schon 1975 eine Zählung der intra-urbanen Pendler in Puebla bei rund 600.000 Einwohnern täglich 186.000 Fahrten in das Hauptgeschäftszentrum. Dies wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß damals noch mitten in der Altstadt der Hauptmarkt in vollem Betrieb war und die umliegenden Straßen durch ambulante Händler total verstopft waren,34 was auch heute noch für viele Städte zutrifft. Doch auch wo die Märkte an den Stadtrand verlagert wurden, bricht der Straßenverkehr als Folge der rapiden Motorisierung regelmäßig zusammen. Selbst konsequente Einbahnregelungen und strikte Parkverbote können in dem Rechteckschema die Transportprobleme nicht mehr bewältigen, und Diagonalstraßen wie in La Plata oder Belo Horizonte führen ebenfalls nicht weiter. In Caracas wurde schon in den 50er Jahren ein System von Stadtautobahnen gebaut, und ähnliche Lösungen hat man seit den 60er Jahren in Mexico-Stadt und anderswo versucht. In vielen Großstädten wurden Altstadttangenten geschaffen und zu Ringstraßensystemen weiterentwickelt, die aber zu Stoßzeiten häufig überfüllt sind. Die Parkraumproblematik wird vorübergehend dadurch entspannt, daß jedes Abbruchgrundstück bis zum Neubau an private Unternehmer zur Nutzung als gebührenpflichtiger Parkplatz verpachtet wird; und in modernen Büro- und Bankgebäuden gibt es schon Tiefgaragen.

34

E. Gormsen: »Die Städte im spanischen Amerika« (Anm. 11).

Die Stadt in Lateinamerika

41

Bei der Größe dieser Städte ist jedoch das Fehlen leistungsfähiger Massentransportmittel entscheidend. Im allgemeinen stehen für den öffentlichen Verkehr nur Busse, Kleinbusse, Sammeltaxis und Taxis zur Verfügung, z. T. in städtischen, z. T. in privaten Händen, aber selten in einem besonders vertrauenerweckenden Zustand. Dafür fahren sie in einem engen Takt und recht preisgünstig. Dies bedeutet andererseits eine außerordentliche Fahrzeugdichte. Um die Situation etwas zu entflechten, hat man in einigen Innenstädten nicht nur Busspuren, sondern ganze Straßenzüge für öffentliche Verkehrsmittel reserviert. Und im Hinblick auf die Umweltbelastung darf man in der Stadt México, in der rund zwei Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen sind, private Autos an einem Tag der Woche nicht benutzen, eine Regelung, die äußerst scharf kontrolliert wird. Unter solchen Voraussetzungen war die Eröffnung der ersten Metrolinie nach dem modernen Pariser System in México 1969 von allergrößter Bedeutung. Bis 1991 wurden neun Strecken mit einer Gesamtlänge von 158 km in Betrieb genommen. Weitere 19 km sind im Bau. Täglich werden rund fünf Millionen Passagiere zu einem sehr niedrigen Tarif befördert. 35 Es ist also auch in dieser Riesenstadt mit ihren großen Problemen möglich, einen zuverlässigen Dienst für die breite Masse der Bevölkerung zu organisieren, den nicht einmal das schwere Erdbeben 1985 stören konnte. Abgesehen von Buenos Aires, wo schon 1910-14 ein kleines U-Bahn-Netz gebaut wurde, sind entsprechende Systeme seit den 70er Jahren in fast allen Metropolen des Subkontinents entstanden. Doch sie reichen bei weitem nicht aus zur Lösung des Massenphänomens.

Hoffnung für die Zukunft? Die Strukturanalyse lateinamerikanischer Metropolen hat deutlich gemacht, daß der weithin chaotisch erscheinende Zustand der Städte großenteils auf Modernisierungsprozessen dieses Jahrhunderts beruht. Sie sind überwiegend das Ergebnis externer Einflüsse auf eine heterogene Sozialstruktur und kommen, für jedermann sichtbar, in der sogenannten Bevölkerungsexplosion zum Ausdruck. Diese wurde als Folge von Medizin und Seuchen35

Informationen der Cámara Nacional de Comercio, México D. F. In Paris wurden 154 km Metrolinien von 1900 bis 1938 eröffnet, bis 1989 insgesamt 200 km (nach D. u. M. Fremy: Quid, Paris 1991, S. 1633).

Erdmann Goimsen

42

bekämpfung in Lateinamerika schon in den 50er Jahren wirksam mit jährlichen Zuwachsraten um 3 %. Die in kürzester Zeit sinkende Sterberate führte zu einem unerwarteten Bevölkerungsdruck und zu einer Landflucht von bisher kaum bekanntem Ausmaß, die von den Städten in ihren überkommenen Strukturen nicht verkraftet werden konnten.36 Hier liegen die Ursachen für die dramatische Zunahme der Verstädterung in den letzten Jahrzehnten. Rund 70 % der Bevölkerung leben schon in Gemeinden mit mehr als 20.000 Bewohnern, und 23 % in Millionenstäd-ten, deren Zahl seit 1935 von 4 auf 32 angestiegen ist. Sie beherbergen heute mit ihren hoch aufgetürmten Stadtzentren und ausufernden Agglomerationen über 100 Millionen Menschen und haben damit seit 1975 die Einwohnerzahl der Millionenstädte Europas weit hinter sich gelassen (Tab. 2). Tabelle 2: Millionenstädte in Lateinamerika und Europa (ohne Türkei und GUS)

Lateinamerika Europa

A

1935 B C

A

1975 B C

A

4 13

6 30

15 28

55 20,4 55 11,6

32 103 29 63

4,7 7,7

1990 B C 23,4 12,8

A = Zahl, B = Mio. Einwohner der Millionenstädte; C = Anteil der Millionenstädte an der Gesamtbevölkerung. Quellen: E. Gormsen (Anm. 11); Fischer Weltalmanach 1992 Abb. 10 verdeutlicht die Entwicklung seit 1900 am Beispiel von Mexiko, wo die vier größten Ballungsräume 22 Millionen Menschen umfassen, während 1930 das ganze Land nur 19 Millionen zählte; und die Zona metropolitana der Stadt México37 wetteifert mit New York und Tokio um das zweifelhafte Privileg, größte Metropole der Welt zu sein.

36

Vgl. J. Bähr: »Bevölkerungswachstum und Wanderungsbewegungen in Lateinamerika«, in: E. Gormsen und K. Lenz (Hrsg.): Lateinamerika im Brennpunkt, Berlin 1987, S. 111-154.

37

Nach der Volkszahlung 1990 hatte sie 15,1 Mio. Einwohner, die häufig wiederholte Angabe von 20 Mio. beruht auf Uberhöhten Prognosen der 80er Jahre.

Die Stadt in Lateinamerika

43

Abb. 10 Quelle- Censo de población, M é x i c o 1990 Entw.: E. G O R M S E N , Kartogrv H. E N G E L H A R D T

Andererseits lassen sich im Rahmen der Urbanisierung mit besseren Gesundheits- und Bildungseinrichtungen auch zunehmende soziale Differenzierungen und beträchtliche Wandlungen der Wertesysteme und Verhaltensmuster erkennen. Sie folgen damit den Leitbildern der modernen Indu-

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Erdmann Gormsen

strie- und Dienstleistungsgesellschaften, wie sie vor allem im Norden Amerikas entwickelt wurden. Trotz bescheidener finanzieller Mittel stellt die wachsende Mittelschicht entsprechend höhere Ansprüche an Wohnverhältnisse, Verbrauchsgüter, Kommunikationsmittel sowie öffentliche und private Dienste jeder Art, wozu u. a. der starke Zustrom zu den Universitäten gehört. Der Blick zurück in die Geschichte hat uns Städtesysteme und Stadtstrukturen gezeigt, die von der spanischen Kolonialmacht nach festgefügten zentralistischen Prinzipien zur Raumbeherrschung geschaffen und weiterentwickelt wurden und die unter der Dominanz von Staat und Kirche beeindruckende Stadtbilder hervorgebracht haben. Die Unabhängigkeitsbewegungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts gingen zwar vom städtischen Bürgertum aus und hatten die politische und wirtschaftliche Loslösung vom Mutterland zum Ziel. Sie brachten aber keine nennenswerten gesellschaftlichen Veränderungen mit sich. Vielmehr traten an die Stelle der Spanier nationale Oligarchien, die mit der Erweiterung ihrer Latifundien ihre Machtposition stärkten und sie in ständigen Auseinandersetzungen weiter auszubauen versuchten. Die revolutionären Unruhen und die allgemeine Unsicherheit haben gewiß dazu beigetragen, daß sich nach dem Ende der wirtschaftlichen Restriktionen der Kolonialzeit kein allgemeiner Aufschwung einstellte. Wichtiger erscheint, daß die Wirtschaft nach wie vor auf rentenkapitalistischen Vorstellungen beruhte, d. h. in erster Linie auf dem Export von Rohstoffen des Bergbaus und der Plantagenwirtschaft, was einigen Ländern zeitweise erhebliche Gewinne brachte. Folgerichtig gerieten sie unter zunehmenden ausländischen Einfluß, der sich u. a. in der Anpassung an europäische Lebensformen äußerte, einschließlich der Übernahme von Baustilen und anderen Eingriffen in das städtische Gefüge. Doch eine weitgefächerte Industrialisierung als Basis für eine eigenständige Entwicklung wurde vor allem durch die unveränderten Klassenstrukturen verhindert. Im Gegensatz zu der dynamischen Pioniergesellschaft im Norden des Kontinents fehlte ein bürgerlich-liberales, wettbewerbsorientiertes Unternehmertum ebenso wie die für den Markt produzierenden selbständigen Farmer. Außerdem ließ die traditionelle Gesellschaft jegliche Integration der indianischen Kleinbauern, ehemaligen Sklaven und landlosen

Die Stadt in Lateinamerika

45

Landarbeiter vermissen. Doch aus diesen ländlichen Massen entstand später der enorme Bevölkerungszuwachs. Zwar gab es gewisse regionale Unterschiede, vor allem im außertropischen Südamerika mit seiner stärkeren europäischen Einwanderung; aber selbst nach der großen mexikanischen Revolution haben sich die Verhältnisse nur sehr langsam verändert. Im Rahmen der wirtschaftlich-politischen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten, die zunehmend an die Stelle der europäischen Handelsnationen traten, kam es gleichzeitig zur Überprägung der südlichen Nachbarn und damit zu einem Verlust an kultureller Identität, der sich in chaotischen Stadtbildern zeigt. Typische Elemente des modernen Städtebaus wurden mehr oder weniger wahllos aus dem Norden übertragen, von Hochhäusern und Stadtautobahnen über großzügige Universitätsstädte, Golfplätze und Shopping Centers bis zu herrschaftlichen Villen, manches davon in luxuriöser Ausstattung und in einer faszinierenden Architektur, die von Bauvorschriften wenig eingeengt ist. Eigenständig erscheinen daneben fast nur die Reste verformter Altstädte und die wuchernden Hüttenviertel der ranchos, favelas, barriadas, tugurios, oder wie immer sie in den verschiedenen Ländern genannt werden. Nach menschlichem Ermessen müßten viele dieser Städte schon längst im Chaos versunken sein. Doch bei jedem Besuch wundert man sich erneut, daß statt dessen manches verbessert wurde und überall Neues entstanden ist, z. B. Verkehrswege und Telefonleitungen, aber auch neue Museen sowie eine große Zahl von Büro- und Hotelhochhäusern mit riesigen Glasfassaden, wie sie nach dem Erdbeben von 1985 in M6xico-Stadt errichtet wurden. Augenscheinlich steht trotz aller Krisen für die beträchtlichen Privat-Investitionen, die vorwiegend den Mittel- und Oberschichten zugute kommen, genügend Kapital zur Verfügung. Und entgegen allen Vorurteilen und gelegentlichen Pannen gibt es ein Heer von zuverlässigen Arbeitern und Angestellten, die die städtischen Versorgungsnetze in Gang halten und dabei viele technische Schwierigkeiten überwinden. Noch erstaunlicher ist freilich die Überlebensfähigkeit der Bewohner in den marginalen Siedlungen der weit ausgreifenden Peripherie, die auf den ersten Blick als völlig unübersichtliches Chaos erscheinen. Offenbar regelt sich hier vieles im Rahmen von mehr oder weniger informellen Aktivitäten. Und diese betreffen nicht nur den Eigenbau von Wohnhäusern oder den Kleinhandel, sondern auch das Zusammenleben der Menschen. Die be-

Erdmann Gormsen

46

rühmt-berüchtigte Riesenvorstadt Nezahualcóyotl im Osten der Stadt México, die seit 1958 von 12.000 auf 1,3 Millionen Einwohner angewachsen ist und oft als »größter Slum der Welt« apostrophiert wird, zeigt einen bemerkenswerten Grad an Strukturiertheit und Organisation.38 Unter ihrem unendlich monotonen Erscheinungsbild entwickelte sich eine differenzierte Gliederung in Nachbarschaften und Stadtviertel (barrio) sowie ein vielfältiges Vereinsleben. Beispielsweise gab es 1984 schon 107 Fußballclubs, darunter zehn für Frauen. Das Funktionieren der Stadt geschieht also in schwer durchschaubaren Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, die einerseits über Arbeitsprozesse miteinander verknüpft sind, andererseits unter einer zunehmenden sozialräumlichen Segregation jeweils ihr Eigenleben führen, und zwar sowohl beim Wohnen als auch beim Einkaufen, bei den sozialen Diensten und bei der Freizeitgestaltung. So bleibt ihre Partizipation trotz nominell demokratischer Strukturen meist auf ihren barrio begrenzt, trägt aber gleichwohl zur Stabilität des städtischen Gefüges bei. Die Notwendigkeit übergreifender Entscheidungen für die gesamte Stadt und ihre expandierenden Randgebiete ist unbestritten, insbesondere im Hinblick auf Grundbedürfhisse wie die Wasserversorgung, die geordnete Beseitigung von Müll und Abwasser, die Herstellung von Kommunikationsmitteln sowie die ökologischen Folgen der Hyper-Urbanisierung. In einigen Städten hat der Smog unerträgliche Ausmaße angenommen.39 Das Problem hierbei besteht in Lateinamerika nicht so sehr im Mangel an gut ausgebildeten Fachleuten für Planung und technische Lösungen. Wesentlich schwieriger ist die Frage nach der Finanzierung, obwohl es immer wieder erfreuliche Beispiele für öffentliche Investitionen gibt, die teilweise durch internationale Kredite gedeckt werden. Gerade hier liegt allerdings ein kritischer Punkt, denn offenbar sind die Verwaltungen oft nicht in der Lage, die gesetzlich vorgesehenen Steuermittel einzutreiben und bedarfsgerecht zu verteilen. Derartige Mißverhältnisse sind gewiß nicht auf Lateinamerika beschränkt, sie werden aber verschärft durch Kompetenzgerangel zwischen 38

E. Buchhofer (Anm. 24). - Vgl. J. Bähr und G. Klückmann (Anm. 32).

39

Vgl. D. Klaus, W. Lauer und E. Jauregui: Schadstoffbelastung und Stadtklima in Mexiko-Stadt, Mainz (= Abhandlungen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse, Akad. d. Wiss. u. d. Literatur) 1988. - H. J. Sander: »Umweltprobleme im Hochtal von Mexiko«, in: Geogr. Rundschau 42, 1990, S. 328-333. - K. Tyrakowski: »Zur ökologischen Situation der Stadt Mexiko«, in: Geoökodynamik XII, 1/2, Bensheim 1991, S. 139-160.

D i e Stadt in Lateinamerika

47

Behörden 40 sowie insgesamt durch fehlende Kontinuität der häufig wechselnden Regierungen, selbst dann, wenn der Wechsel verfassungsgemäß vonstatten geht. Dies ist um so gravierender, als in den meisten Ländern des Subkontinents keine Aussicht besteht, den Zustrom der Massen einzudämmen. Dirigistische Maßnahmen, die nicht einmal in autoritären Staaten greifen, werden keine Lösung bringen. Ob das Problem durch Dezentralisierung bewältigt werden kann, erscheint nach vielen Erfahrungen von Brasilia über Ciudad Guayana bis Lázaro Cárdenas ebenfalls fraglich. In Mexiko wurde immerhin als Folge des Erdbebens das nationale Amt für Statistik, Kartographie und Informatik (INEGl) mit etwa 2.000 Beschäftigten aus der Hauptstadt in das rund 500 km entfernte Aguascalientes ausgelagert. Und auch andere Bundesbehörden und Industrien haben neue Standorte gefunden und dort eine gewisse Dynamik in Gang gesetzt. Dadurch werden zwar einige Wanderungsströme umgeleitet; solange aber die Entscheidungsträger ihren wirtschaftlichen oder persönlichen Vorteil in der Metropole sehen, werden die Entlastungseffekte gering bleiben. Insgesamt hat also die von außen induzierte Modernisierung zur Festigung der bestehenden Machtstrukturen beigetragen, d. h. die technischen Errungenschaften haben zwar Verbesserungen in verschiedenen Teilgebieten mit sich gebracht; doch statt einer allgemeinen Angleichung der Lebensbedingungen kam es eher zu einer fortschreitenden Entfremdung, zu einer Verschärfung der räumlichen Segregation, nicht nur der Wohnviertel, sondern auch der Versorgungs- und Freizeitgebiete. So drückt sich in dem Mosaik aus Chaos und Ordnung das Fehlen übergreifender Leitbilder und die Unfähigkeit zur Durchsetzung ausgewogener Planungskonzepte aus. Das Stadtbild erscheint hier wie anderswo als Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Gruppierungen, die bislang trotz aller sozio-ökonomischen, kulturellen und politischen Gegensätze jeweils ihren Beitrag zur Stadtentwicklung geleistet haben. Es bleibt als Frage und Hoffnung, ob es auch in Zukunft gelingen wird, in einem gesellschaftlichen Prozeß die divergierenden Kräfte zu bündeln und damit das Überleben in den unendlich wuchernden Metropolen zu sichern.

40

vgl. A. G. Aguilar: »Planeación y proceso político en la ciudad de México«, in: Revista Geográfica (México) 107, 1988, S. 2 M 8 .

Die neuen Menschen der Neuen Welt

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Dieter Janik

Die neuen Menschen der Neuen Welt: Zur gesellschaftlichen und kulturellen Rolle der mestizos Cristóbal Colón ist Anfang August 1492 mit seinen drei Schiffen zu der lange geplanten Entdeckungsreise aufgebrochen. Am 12. Oktober stieß er auf die erste von mehreren, unterschiedlich großen Inseln. Er betrat sie, umfuhr sie und kehrte zurück. Das unterscheidet ihn von anderen, vielleicht früheren Entdeckern. Aber mehr noch etwas anderes, die öffentliche Wirkung: Er unterrichtete im Frühjahr 1493 den portugiesischen König, dann das spanische Königspaar und - dank der raschen Drucklegimg seines Berichts - die europäische Leserschaft über seinen Erfolg. Schon in den ersten Sätzen des Briefs - Carta del descubrimiento - ist von zahllosen Menschen die Rede, die Kolumbus auf den Inseln angetroffen habe. Er nannte sie indios-1 Das Interesse, das das Datum 1492 in diesem Jahr erneut auslöst, gilt der ersten Entdecker- und Eroberergeneration sowie den Menschen und Völkern, die auf den fernen Inseln und Festländern in ihren eigenen kulturellen Ordnungen lebten. Die heutigen Nachfahren der autochthonen Völker Amerikas erheben Protest gegen jede einseitig europäische Sicht der historischen Ereignisse.2 Die ausschließliche Hinwendung zu den vergangenen Taten der Spanier und den endlosen Leiden der Indios verstellt den Blick für jenen sozialgeschichtlich, kulturell und politisch für die Geschichte Spanischamerikas 1

»Carta de Colón, anunciando el descubrimiento del Nuevo Mundo«, in: Carlos Sanz: Henry Harrisse (1829-1910). »Príncipe de los americanistas«. Su vida - su obra. Con nuevas adiciones a la Biblioteca Americana Vetustissima. Madrid 1958, S. 85f.

2

Siehe den Artikel »Los indios americanos dan la espalda al V Centenario«, in: Cambio 16 (Nr. 905), 3.4.1989, S. 100-102.

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Dieter Janik

entscheidenden Prozeß, der durch die sexuellen Begegnungen und ehelichen Verbindungen von Spaniern und autochthonen Frauen ausgelöst wurde. Der allgemeinste begriffliche Nenner für dieses Gesamtgeschehen ist der sogenannte mestizaje. Es gibt zwar einzelne genaue und kompetente Studien zu diesem Thema, dennoch ist der mestizo - im Verhältnis zur Beschäftigung mit dem indio - in der Literatur, in der Forschung und in der Publizistik ein Stiefkind. 3 Eine einfache und klare Definition des mestizo gab der humanistisch gebildete Chronist Inca Garcilaso de la Vega in seinen Comentarios Reales, die 1609 in Lissabon erschienen: A los hijos de español y de india o de indio y española, nos llaman mestizos, por decir que somos mezclados de ambas naciones; fue impuesto por los primeros españoles que tuvieron hijos en indias, y por ser nombre impuesto por nuestros padres y por su significación me lo llamo a boca llena, y me honro con él. Uns Kinder von einem Spanier und einer India oder eines Indio und einer Spanierin nennt man Mestizen, um auszudrücken, daß wir aus beiden Völkern gemischt sind; der Name wurde von den ersten Spaniern, die Kinder von einer India hatten, diesen aufgeprägt, und weil der Name uns von Vaterseite gegeben wurde und aufgrund seiner Bedeutung, nenne ich mich so mit erhobener Stimme, und trage ihn wie einen Ehrennamen.4 Diese selbstbewußt klingende Äußerung - Garcilaso verfaßte sie in Spanien - liefert über die formale Definition der mestizos hinaus den Zugang zu zahlreichen Fragen und Problemen, die sich aus der Mischung der beiden Völker auf amerikanischem Boden ergeben haben. Garcilaso de la Vega korrigiert sich insoweit selbst, als er zunächst von der Verbindung eines Spaniers und einer India bzw. eines Indio und einer Spanierin spricht, dann aber als Ausgangspunkt nur die Verbindung von Spaniern und autochthonen Frauen nennt. Das war die faktische Situation, tausendfach. Die Zahlenrelation der beiden genannten Verbindungen ist 3

4

Siehe besonders: Angel Rosenblat: La población indígena y el mestizaje en América, 2 Bde., Buenos Aires 1954. - Alejandro Lipschutz: El problema racial en la conquista de América y el mestizaje, México 31975 (Santiago '1963). Inca Garcilaso de la Vega: Comentarios Reales de los Incas. Prólogo, Edición y Cronología de Aurelio Miró Quesada, Caracas 1976. Tomo II, S. 265f. (Biblioteca Ayacucho, 5/6). - Die Übersetzungen der spanischen Texte stammen vom Verfasser.

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kraß asymmetrisch. Garcilaso ( 1539) gibt sich selbst als mestizo zu erkennen, doch dieser Bekennermut verdeckt ein psychologisches Problem. Der Name mestizo ist ein >nombre impuestoBlutreinheitara el mestizaje viviente y creador.« So nannteMario Benedetti eine Aufsatzsammlung Letras del continente mestizo (Montevideo 1967) und begrttdete den Titel explizit in einem kurzen Vorwort

44 Carlos Funtes: Valiente mundo nuevo. Epica, utopia y mito en la novela hispanoamericana, Madrid 1990, S. 1.

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Dieter Janik

würde er den Begriff Ibero-Amerika oder Hispano-Amerika gerne jedesmal ersetzen durch Indo-Afro-Ibero-América. Es gibt freilich in dem großen Kulturraum, der Spanischamerika trotz seiner politischen Fragmentierung ist, einige wesentliche verbindende Züge. Dazu gehört das Zusammentreffen und Nebeneinanderbestehen von vormodernen Lebensformen und den zivilisatorischen Erscheinungsweisen der modernen Welt. Geschichte, die Rückhalt verleiht, gesellschaftliche Ordnung, die Sicherheit gibt, Formen, von denen beruhigende Kraft ausgeht - das sind im heutigen Spanischamerika utopische Größen. Die Traumata der Vergangenheit vermischen sich mit den Unheilerfahrungen gegenwärtigen Daseins. Carlos Fuentes beschwört sie mit Namen aus der Geschichte und der Literatur: Im Wissen um unser Verwaistsein sind wir alle Söhne des bodenständigen Patriarchen von Juan Rulfo, Pedro Páramo; sind wir alle Kinder von Hernán Cortés, dem Vater, der einen Namen trägt, und der namenlosen Indianer- oder Negerfrau. Wir stehen Auge in Auge einer undurchdringlichen und riesenhaften Natur gegenüber Canaima - und einer Geschichte voller Gewalt, die straflos bleibt Doña Bárbara.45 Unabhängig von den unübersehbaren Schwierigkeiten, die die Staaten Spanischamerikas weiterhin auf dem Weg zu freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratien haben, denkt Carlos Fuentes nicht nur über die kritische Funktion nach, die die Literatur gegenüber den internen geschichtlichen Prozessen einnehmen muß, sondern - in einer zusammenwachsenden Welt - auch über die Rolle der Kultur und Literatur Spanischamerikas im nahenden 21. Jahrhundert. Wiederum ist es die lebendige Präsenz mehrerer Kulturen auf seinem Boden, die Fuentes die Garantie dafür zu bieten scheint, daß Iberoamerika eine wichtige Stimme im Chor der Stimmen sein wird. Der erste verheißungsvolle Name Amerikas, nämlich Nuevo Mundo, verlangt immer noch nach Einlösung. Jede einengende, die gewachsene kulturelle Pluralität Iberoamerikas aufhebende Definition hat ihre geistige und geschichtliche Unwirksamkeit selbst erfahren müssen. Alle Modemi45

Ebd., S. 281. »Conscientes de nuestra orfandad - todos somos hijos del patriarca rural de Juan Rulfo, Pedro Páramo; todos somos hijos de Hernán Cortés, el padre con nombre, y de la mujer anónima, india o negra. Dándole la cara a una naturaleza impenetrable y gigantesca - Canaima - y a una historia de violencia impune - Doña Bárbara.

Die neuen Menschen der Neuen Welt

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sierungsprozesse in Spanischamerika müssen von seiner Grundbefindlichkeit ausgehen: la poderosa tradición policultural, die machtvolle polykulturelle Tradition des Kontinents.46

46

Ebd., S. 288. - Die politische Aufwertung und kulturelle Überhöhung des mestizaje in Mexiko ist freilich nicht auf die Prozesse der fortdauernden Mestiziening anderer Länder mit hohem indianischen Bevölkerungsanteil übertragbar. Vgl. u.a. Norman E. Whitten, JR.: Jungle Quechua Ethnicity: An Ecuadorian Case Study und Pierre L. Van den Berghe: »Ethnicity and Class in Highland Peru«, in: Peasants, Primitives, and Proletariats. The Struggle for Identity in South America. Edited by David L. Browman, Ronald A. Schwarz, The Hague/Paris/New York 1979, S. 225-266.

Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay

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Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay 0. Uruguay und seine Ureinwohner Wer sich die Karte des großen Südamerika anschaut (Karte Nr. I) 1 , darin das kleine Uruguay entdeckt und sich erinnert, daß dieses Land einmal die Schweiz Lateinamerikas hieß - was schon andeutet, daß es sehr europäisch und sehr »weiß« sein muß - , der ahnt wohl nicht, daß man in der Geschichte des Landes die ganze Typologie des europäisch-amerindischen Kontaktes finden kann, einschließlich des romantischen Nachklangs. Was die Typologie des Kontaktes angeht, so muß ich mich darauf beschränken, die beiden Extremlinien nachzuzeichnen, nämlich die der Konfrontation oder des erbitterten Gegeneinander und die der Allianz, die man, je nach Standpunkt, auch »Kollaboration« oder, etwas freundlicher, »Miteinander« nennen könnte. Gegeneinander und Miteinander kennzeichnen die ersten vier Jahrhunderte, die der Entdeckung Uruguays folgten. Diesem Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ist der erste Teil meines Beitrags gewidmet. Hier geht der Blick vom Jahre 1516 prospektiv in Richtung Gegenwart. Bereits in dieser Phase gibt es etwas, das, verglichen mit Mittelamerika und den Andenländern, als atypisch erscheinen muß, nämlich die lange Dauer der Conquista und ihr abruptes Ende in einem Massaker (1831). Diese Entwicklung ist aber nicht untypisch für die südlichen Anden und für die Tiefländer. Auch der Widerstand der argentinischen Pampastämme und der chilenischen Araukaner wurde bekanntlich erst um 1880 gebrochen.2 Der zweite Teil des Beitrags geht retrospektiv von unserer Gegenwart aus. Hier greife ich auf sprachliche und ethnographische Daten zurück, die 1 2

Siehe Anlagen am Ende dieses Artikels. Vgl. M. Münzel: Die Indianer, Band 2: Mittel- und Südamerika, München 31985, S. 125-130.

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im Laufe der Jahre 1989 bis 1992 für unseren uruguayischen Sprachatlas {Atlas lingüístico Diatópico y Diastrático del Uruguay) zusammengetragen wurden. Sie werden ergänzt durch Eindrücke aus dem Alltagsleben des modernen Uruguay und bereichert durch die neuesten Erkenntnisse der uruguayischen Siedlungsgeschichte und der genetischen Anthropologie. Die Anstrengungen dieser beiden Wissenschaften vereinigen sich mit den Bemühungen von Privatleuten, die Verbindungen zwischen Uruguay und dem indianischen Amerika wiederherzustellen.3 Diese Verbindungslinie ist im Bewußtsein der meisten gekappt. Wenn sie jetzt wieder gezogen wird durch Wissenschaftler und Laien, so geht das eine Ende zwar von der heutigen uruguayischen Bevölkerung aus, aber das andere führt doch in paradoxer Weise aus Uruguay heraus. Den ersten Teil möchte ich nennen: »Die lange Conquista«. Diese reicht von der Vernichtung der ersten Weißen bis zum Verschwinden der letzten freien Indios. Der zweite Teil soll heißen: »Die Spätfolgen der Conquista«. Hier geht es um die erwünschte Wiederkehr der Indios.

1. Die lange Conquista 1.1 Präkolumbische Zeit Wir können erkennen, daß die spätere »Banda Oriental«, schon bevor die ersten Europäer ihren Fuß auf dieses Land östlich des Uruguayflusses setzten, in eine gefährliche Umklammerung geraten war, die bis heute die uruguayische Geschichte bestimmt. Schon diese Konstellation verbietet es uns, für die voreuropäische Zeit ein friedliches, paradiesisches Leben anzunehmen. Der luso-hispanische Konflikt, der die europäische Geschichte Uruguays kennzeichnet, hat eine präkolumbianische Vorstufe, in der die Kleinvölker des Landes bereits von außen bedrängt wurden. Bis nach Uruguay reichte nämlich der Expansionsdrang der amazonischen Völker. Vom heutigen Französisch-Guyana bis an die Laguna Merin im Osten Uruguays erstreckte sich das riesige Gebiet, das sich die Stämme der Tupi-Guarani-Familie unterworfen hatten. 3

Uruguay ist kein Hinzelfall. Auch in Argentinien wird eine solche Identitätssuche unternommen.

Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay

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Wie die Karte Nr. 2 andeutet, wären die kaum bekannten Tapé in Osturuguay ihre südlichsten Vertreter. Es ist anzunehmen, daß auch der Norden und der Westen Uruguays von Guarani-Stämmen durchstreift wurden, die den Paraná und Uruguay abwärts aus dem Gebiet des heutigen Paraguay und Nordostargentinien nach Süden vordrangen, ihrer Gewohnheit gemäß den großen Wasserläufen folgend. Somit wäre die präkolumbianische Bevölkerung Uruguays von TupíGuaraníes gewissermaßen in die Zange genommen worden. Kurz vor der europäischen Conquista hatte eine indianische eingesetzt. Im Gebiet des heutigen Uruguay stießen die Tupí-Guaraníes auf eine Reihe kleinerer Stämme. Deren Anzahl, ethnische Identität und sprachliche Zugehörigkeit ist nun allerdings bis heute aus Mangel an Zeugnissen ungesichert bzw. umstritten. Als Gruppen einigermaßen faßbar sind die Minuanes, Yaros, Chanás, Bohanes und vor allem die Charrúas. Mit letzteren werden wir uns näher befassen. Sie gelten in Uruguay gemeinhin als die eigentlichen Ureinwohner. Die moderne Archäologie hat zwar die Existenz noch älterer Bewohner nachgewiesen, aber von diesen sind nicht einmal Namen bekannt.4 Die genaue Verteilung der genannten Gruppen im uruguayischen Raum vorzunehmen, wagen heute nur noch die uruguayischen Schulbücher. Einigermaßen sicher scheint, daß die Charrúas sich südlich des Río Negro, also im Südwesten und Süden des Landes, aufhielten, als sie mit den Europäern in Berührung kamen. Später wurden sie nach Norden abgedrängt. Es ist möglich, daß die erwähnten Minuanes und Yaros sprachlich und ethnisch Untergruppen der Charrúas bildeten und zusammen mit diesen eine »macro-etnia« bildeten.5 Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß Chanás und Charrúas dasselbe waren oder zumindest enge Verwandte.6 Identität oder Verwandtschaft zwischen Chanás und Charrúas würde die These stützen, daß die Charrúas zu den Arawaks gehörten. Sie wären dann deren südlichste Vertreter, und das große Gebiet der Arawak-Familie hätte 4

Z.B. der »hombre del Catalán«, nach seinem Fundort (Depto. Artigas, Nordwesturuguay), benannt. Das Alter der Funde wird auf über 10.000 Jahre geschätzt. Vgl. J. Chebataroff: Geografía dt la República Oriental del Uruguay, Montevideo 1979, S. 94-95.

5 6

R. Pi Huguarte: El Uruguay indígena, Montevideo 1969, S. 30. Vgl. die Zusammenstellung der Verwandtschaftstheorien bei A. Tovar, C. Larrucea de Tovar Catálogo de las lenguas de Amirica del Sur, Nueva edición refundida, Madrid 21984, S. 31-32; sowie bei R. Pi Huguarte, a.a.O., S. 31.

Harald Thun

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sich somit von der Karibik bis zum Río de la Plata ausgedehnt.7 Die Arawak-Völker sind in historisch faßbarer Zeit von den Caribes und den TupíGuaraníes unterworfen oder in unwirtliche Gegenden abgedrängt worden. Einige Forscher bringen das ebenfalls ausgestorbene Querandi, das auf der argentinischen Seite der La Plata-Mündung gesprochen wurde, mit dem Charrúa in enge Verbindung und beide mit der Sprachgruppe des Guaycurú, die im Chaco beheimatet ist (Rückzugsgebiet?), und diese wiederum mit den Pampa-Indianern. 8 Einigermaßen sicher scheint zu sein, daß die Charrúas sprachlich nicht zu den Tupí-Guaraníes gehörten,9 daß sie sich vor diesen im heutigen Uruguay befanden und daß sie dort mit ihnen schon in vorkolumbischer Zeit in Konflikt gerieten. Dieser Konflikt mündete in den Kampf gegen die weißen Eroberer ein. Das durch Jahrhunderte währende Miteinander von Guaraníes und Europäern und das Gegeneinander von letzteren und den Charrúas hat also sehr tiefe Wurzeln in der Zeit. Und auch hierin bietet Uruguay ein Abbild der Conquista im kleinen: Die Europäer nutzen die Feindseligkeiten zwischen Amerindiem für ihre Zwecke aus. Verschieden waren auch der Lebensraum und die Existenzweise der Charrúas. Sie begegnen uns als Sammler, Fischer, Jäger und Krieger, nicht aber als Ackerbauern. Die Tupí-Guaraníes hingegen hatten den Pflanzenbau auf einen beachtlichen Stand gebracht, der dem Urwaldboden vollkommen angepaßt war und nur von Europäern, die von der roza-horticultura nichts verstehen, gering geschätzt werden kann. 10 Die Tupí-Guaraníes bevorzugen als Lebensraum den Fluß und den Wald. Zum Habitat der Charrúas gehörten hingegen auch die baumarmen Grasebenen des inneren Uruguay. 7

Dies behauptet insbesondere S. Perea y Alonso in seiner allzu unkritischen Filología comparada de las Lenguas y Dialectos Arawak, Montevideo 1942, tomo I. Wie A. Tovar (a.a.O.) betont, entkräften aber auch die Kritiker Perea y Alonsos nicht die These der Ausdehnung des Arawak bis Uruguay.

8

So in neuerer Zeit auch J. P. Roña: »Nuevos elementos acerca de la lengua charrúa«, in: Publicaciones del Departamento de Lingüística 19, Montevideo 1964

9

Die überlieferten Sprachreste lassen m. E. eine solche Zuordnung nicht zu. Der Wunsch, das uruguayische Unabhängigkeitsstreben in die charruische Vergangenheit zu verlangem, muß deshalb gar nicht erst als ideologisch entlarvt werden.

10

Mit Hochachtung spricht 1541 der »adelantado« Alvar Nuñez Cabeza de Vaca bezüglich Paraguays von der guaranitischen Landwirtschaft (vgl. M. B. Berro: La Agricultura colonial, Montevideo 1975 ['1914], S. 21 f.). Auch Ulrich Schmidel ist beeindruckt von der Vielfalt des Pflanzenbaus und der Heischversorgung der »carios« (= Guaraníes); (Wahrhafftige Historien.lEiner wunderbaren Schiffart [...], Editio Secunda/Noribergae^Impensis Levini Hulsii Anno 1602 (Faksimile - Ausgabe Graz 1962), S. 23 (= Cap. 20). 2

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Es ist anzunehmen, daß weder die Charrúas noch die anderen Gruppen sehr zahlreich waren. Ulrich Schmidel, der 1535 den Río de la Plata hinauffuhr, schätzte die »Zechuruas« auf etwa 2.000 »Manßbild«.11 Allerdings muß man diese Zahl in den Größenordnungen der Zeit sehen. Über 200 Jahre später (1760) hatte die heutige Millionenstadt Montevideo erst 2.089 Einwohner und noch sechzig Jahre später das ganze Land nicht mehr als 74.000.12 1.2. Erster Kontakt mit den Weißen Auf der Suche nach der Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik fährt am 20.1.1516 Juan Díaz de Solis als erster Europäer in den Río de la Plata ein. Er nimmt das Land östlich des Rio Uruguay für die spanische Krone in Besitz. Im März desselben Jahres werden er und seine Begleiter auf einer Landexpedition nordwestlich von der späteren Colonia del Sacramento von den Einheimischen erschlagen. Die erste Conquista scheiterte kläglich, und über 100 Jahre lang auch alle weiteren: Bis 1624 konnte keine spanische Ansiedlung bestehen. Die ideologische Konsequenz des Fehlschlags war wie zu erwarten die folgende. Die eilends nach Spanien zurückgekehrte Schiffsbesatzung der SolisExpedition verbreitete das übliche Schreckensmärchen, daß die Indios Kannibalen seien und Solis samt Begleitung aufgefressen hätten. Dieselbe Version kann man heute noch in Uruguay hören. Dieser Akt der Anthropophagie wird dabei den Charrúas zugeschrieben, woran auch Alexandre Dumas mit seiner Nouvelle Troie schuld ist.13 Dies, obwohl schon Diego García in seiner Memoria aus dem Jahre 1526 über die Charrúas geschrieben hatte: »questos no comen carne humana, manteniéndose de pescado y caza, de otra cosa no comen«, 14 was wenig später auch Ulrich Schmidel bestätigt.15 Und 11

Und zwar nur die in einem »Flecken« versammelten (was oft übersehen wird). Mit Frauen und Kindern müssen es also mindestens dreimal soviele gewesen sein, wenn Schmidel nicht übertreibt (Wahrhafftige Historien, S. 7). Mit dem »Flecken« kann einfach eine »toldería« gemeint sein.

12

Vgl. Karte Nr. 3.

13

Montevideo ou une Nouvelle Troie, Paris 1850. Über dieses Werk und den Protest dagegen in der anonymen Serie von Zeitschriftartikeln »A la Nueva Troya escrita por Alejandro Dumas. Refutación« (Montevideo 1850-1851) vgl. J. J. Figueira: Eduardo Acevedo Díaz y los aborígenes del Uruguay, Montevideo 1977, LII, Doc. No. VI, S. 215-246.

14

ZiL nach M. B. Berro, a.a.O., S. 19.

15

»... die [Zechuruas] haben anders nichts zu essen/ dann Visch und Fleisch« (a.a.O., S. 7). Wären sie Schmidel als Kannibalen aufgefallen, hatte er uns dies sicher berichtet, wie im Falle der Carios (ebd.. S. 23).

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auch die vier gefangenen Charrúas, die 1833 nach Paris verfrachtet und dort zur Schau gestellt wurden, blieben dabei. Von den drei Fragen, die ihnen eine Akademiedelegation stellte, beantworteten sie die ersten beiden mit »ja«, nämlich ob sie Hühner mochten und ob ihre Frauen schön seien, die letzte aber, ob sie Kannibalen seien, mit einem entschiedenen Nein.16 Noch der uruguayische Anthropologe Renzo Pi Huguarte meint, daß Solis aufgefressen worden sei. Er hält es aber für zweifelsfrei erwiesen, daß Solis nicht auf Charrúas, sondern auf Guaraníes getroffen sei (a.a.O., S. 61). In der Tat ist rituelle Anthropophagie großen Ausmaßes bei guaranitischen Stämmen im 16. Jahrhundert belegt (vgl. M. Münzel, a.a.O., S. 148). Was nun aber Solis' Ende angeht, so ist keineswegs sicher, daß er Menschenfressern zum Opfer fiel. Die Wahrscheinlichkeit spricht für Mariano Berros Ansicht, daß nämlich die Schiffsbesatzung die Greuelversion erfunden habe, um die Schande ihrer Flucht zu mindern (»para atenuar la huida con tales horrores«).17 Die erste Ansiedlung, die den Angriffen der Charrúas widerstehen konnte, war das 1624 gegründete Santo Domingo de Soriano,18 mit seinen Dépendances Víboras und Espinillo (»Parroquias«). Letztere mußten allerdings 1708 weiter nach Süden verlegt werden. Diese Siedlungen wurden mit Hilfe von Indios aus dem argentinischen Zweistromland begründet, die als Chanás bezeichnet werden. Es ist anzunehmen, daß sie guaranisiert waren. Sie wurden vollständig akkulturiert. Von den Weißen erlernten sie den Ackerbau und das Pflügen mit Pferd und Rind. Mit diesen Indios, die, wie erwähnt, ethnisch mit den uruguayischen Charrúas verwandt gewesen sein können, beginnt die Linie des Miteinander, der Kooperation zwischen Einheimischen und Spaniern auf uruguayischem Boden. In der Folgezeit hören wir immer wieder von den beiden Haltungen des Miteinander und des Gegeneinander. Als 1777 die Spanier Colonia del Sacramento erobern, das die Portugiesen 1680 als Brückenkopf am Río de la Plata gegründet hatten, sind »indios misioneros« und »chanás« aus Santo Domingo de Soriano als Hilfstruppen dabei. Den kanarischen Siedlern des 1726 zur Stadt erklärten Montevideo gibt der Gouverneur von 16 Dies berichtet jedenfalls die Zeitschrift Musée des Familles (Paris, Okt. 1833); zit. nach der spanischen Übersetzung in R. Manica Sosa: La Nación Charrúa, Montevideo 1957, S. 288. 17 Mariano B. Berro, a.a.O., S. 20. In den Quellen aus älterer Zeit gehört der Kannibalismusvorwurf zum Standardrepertoire der den Charrúas feindlich gesonnenen Autoren. 18 Diese Skizze folgt den Angaben in Berro, a.a.O.

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Buenos Aires, Bruno de Zabala, neben Werkzeugen und Geräten auch »indios« vom anderen Ufer des Río de la Plata mit. Sie sollten bald durch afrikanische Sklaven ersetzt werden. Die Indios des La Plata-Beckens wurden im 17. und 18. Jahrhundert in den Kampf der Spanier und Portugiesen um das Land östlich des Rio Uruguay hineingezogen. Während die Spanier und der der spanischen Krone unterstellte Jesuitenstaat sich mit den guaranitischen Stämmen verbanden, setzten die Portugiesen in Uruguay und Südbrasilien auf die Charrúas. Mehrfach werden den »Sete Povos Missioneiros« im heute brasilianischen Teil der Jesuitenreduktionen links des Rio Uruguay charruische Gefangene zugeteilt.19 Antonio Ruiz de Montoya, der »Apostel der Guaraníes« und eminenter Philologe ihrer Sprache, Superior aller Reduktionen von 1636 bis 1637, beschreibt uns in seiner Conquista espiritual hecha por los religiosos de la Compañía de Jesús en las Provincias del Paraguay, Paraná, Uruguay y Tape, Madrid 1639, bei der Darstellung der »Reducción de Nuestra Señora de los Reyes«, die in der heutigen argentinischen Provinz Corrientes gelegen ist, auch die Charrúas und die Yaros. Aus jesuitischer Sicht kann ihr Leben nur mit dem der wilden Tiere verglichen werden, und auch die ersten Schritte in der Akkulturation haben sie nur zu den Lastern der Europäer gebracht. Sie scheinen die lengua general Guaraní zu kennen. Sie haben das Pferd übernommen, aber auch den übermäßigen Alkoholkonsum. Hier der wichtigste Abschnitt aus dem Dokument des Augenzeugen Montoya: »Reducción de Nuestra Señora de los Reyes Esta reducción forjó la Compañía de varias naciones de indios de diversas lenguas, si bien se entienden por la común que es la Guaraní, está en frontero de una nación indómita llamada Charrúas, gente agigantada; su morada es la que les ofrece la noche; andan vagos por los campos á guisa de fieras, buscando caza y pesca en las lagunas; no siembran ni saben de eso; algunos se han acogido á esta reducción; suelen acudir al puerto de Buenos Aires al olor del vino, que compran con caballos que cogen por los campos, cuya multitud es casi infinita y sin dueño; dan un buen caballo por cuatro ó seis reales, y á veces por dos y aun por un pan ó una vez de vino; allí á 19 A. Nilson Mallmann: Retrato sem Retoque das Missöes Guaranis, Porto Alegre 1986, S. 244. Vgl. Karte Nr. 4 im Anhang.

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los ojos de los Prelados y gobernadores los hemos visto tendidos por los suelos, derribados del vino; quiebra el corazón ver este desórden, y si la eficacia que se pone en otras cosas se pusiera en su conversión, reducción y bautismo, no dudo que se domesticaran. Tiene esta reducción por otra parte otra nación llamada Yaro, gente también bestial, que no conoce sitio; como los charrúas son muy guerreros, usan de unas bolas de piedra que tiran con extraña certeza.«20 Hat Transkulturation größerer, kompakter Charrúagruppen durch die Jesuiten stattgefunden? Dies behauptet in seiner Historia da República Jesuítica do Paraguai (Rio de Janeiro 1863) Juan Pedro Gay für die Reduktion San Boija, das südlichste der »Sieben Dörfer«, dessen Oberhaupt er war. J. P. Rona pflichtet ihm bei. Er stützt sich auf eine Analyse der Namen in einem wiederaufgefundenen Kirchenbuch.21 Der berühmte Aragonese Félix de Azara, der das La Plata-Gebiet kurz vor 1800 bereiste, hatte dies ebenfalls bestätigt: »... los españoles consiguieron su objeto de forzar a una parte de los charrúas y de los minuanos a las partes más meridionales de las misiones de los jesuítas sobre el Uruguay.«22 Es handelte sich aber immer nur um Teilgruppen. Deren Identität ist nicht zweifelsfrei als »charrúas« festzustellen. Dies dürfte besonders schwierig gewesen sein in der chaotischen Zeit der Auflösung der Reduktionen nach der Vertreibung der Jesuiten, in der Azara die Missionsgebiete kennengelernt hat. Die missionierten Charrúas dürften nicht mehr als eine kleine Minderheit ihrer Ethnie dargestellt haben. Wie schon Montoya andeutet, ist zu vermuten, daß deren Einfügung in die Reduktionen durch den Prozeß der Guaranisierung erleichtert wurde. Bei den nicht unterworfenen Charrúas können wir seit dem 17. Jahrhundert einen selbstgesteuerten Akkulturationsprozeß beobachten, der sie aber zunächst nicht näher an die »sociedad criolla« rückt, sondern vielmehr ihre Unabhängigkeit stärkt. Wie die nordamerikanischen Prärieindianer haben mit den südamerikanischen Pampa-Indios auch die Charrúas das im 17. Jahrhundert verwil20 Zitiert nach der Neuausgabe Rosario (Argentina) 1989, S. 213. 21 Rona (vgl. Anm. 7). 22 Descripción e Historia del Paraguay y del Río de la Piala, Madrid 1847 (posthum), S. S.

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derte Pferd zähmen gelernt. Es wird ihr Transportmittel im Frieden und im Krieg. Ihre Reitkünste nötigen Bewunderung ab. Sie werden zu bedrohlichen Viehräubern und Gegnern. Auch technisch treten sie aus der Jungsteinzeit heraus: Durch Tausch und durch Recycling von Altmetall kommen sie ab dem 17. Jahrhundert in den Besitz von Eisen für ihre Waffen. Die riesigen verwilderten Rinderherden, von denen Montoya spricht, ermöglichen ihnen die Modernisierung ihrer prekären Behausungen aus Zweigwerk, der sogenannten toldos, durch Bedeckung mit Häuten.23 Die selektive Übernahme europäischer Güter erhöht die Mobilität der nomadisierenden Charrúas. Aus der Kolonialzeit wird berichtet, daß die Indios der argentinischen Pampas die chilenischen Siedler mit in der Provinz Buenos Aires gestohlenem Vieh belieferten.24 Ähnliches wird über die Charrúas in Uruguay gesagt: Sie verkaufen die Rinder, die sie den spanischen Siedlern im Süden rauben, an die lusischen Viehzüchter im Norden. 1.3. Der Untergang der Charrúas Mit dem Beginn des Unabhängigkeitskrieges, den Uruguay gleich dreifach führen mußte, nämlich gegen Spanien, Portugal-Brasilien und gegen Argentinien, geraten die uruguayischen Indios in engere Berührung mit der cr/o/Zo-Gesellschaft. Die zeitgenössischen Berichte über sie nehmen zu. Dieser Kontakt ist besonders für die Charrúas gefährlich, denn sie werden in die Kriege hineingezogen und schließlich als mögliche Verbündete des Gegners prophylaktisch umgebracht. Zunächst zeichnet sich die Möglichkeit der Integration aller Indios in die nachkoloniale Gesellschaft ab. Sie nehmen an den großen Ereignissen der Zeit teil. José Gervasio Artigas, der Befreier Uruguays und caudillo der Liga Federal de los seis Pueblos Libres (siehe Karte Nr. 5), wird während der zwei Jahrzehnte seiner militärischen Aktivitäten (1800-1820) von »indios« 23

Auf den Tafeln 14 und IS seines Voyage Pitioresque et Historique auBrésil, Paris 1834,1.1 (ich benutze die Übersetzung Viagem Piloresca e Histórica ao Brasil, SSo Paulo 1989), stellt Jean Baptiste Debret einen chamiischen Reiter und, auf der Tafel IS, zwei »Charrúas civilizados (peöes)« dar. Der Reiter trägt eine Art Short europaischen Zuschnitts und einen tadellosen Brustlatz, sein Pferd ist gesattelt und aufgezäumt. Die beiden vollbärtigen »peöes« erinnern dank ihrer reichen Ausstattung [elegante Beinkleider und gespornte, die Zehen freigebende Stiefel (»botas de vaca«)] eher an wohlhabende »criollos« als an erst seit kurzem akkulturierte Indios. Auch Debrets Kommentar, in dem er die »zivilisierten Charrúas« in den Provinzen Säo Paulo und Espirito Santo ansiedelt, laßt Zweifel am dokumentarischen Wert seiner bildlichen Darstellungen aufkommen.

24

Vgl. M. Milnzel, a.a.O., S. 127-128.

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begleitet. Identifizierbar sind die »indios misioneros« - also wohl Guaraníes aus den aufgelösten Reduktionen - , sodann die Chaco-Stämme der guaycurúes und abipones und auch die charrúas. Beim »Exodo« aus Montevideo im Jahre 1811, bei dem der größte Teil der hauptstädtischen Bevölkerung Artigas folgte, der einem drohenden spanischen Vergeltungsschlag auswich, gesellten sich auch 400 Charrúas zu den orientales. In einem Dekret aus dem Jahre 1815 sah Artigas Landverteilung auch an »indios« vor,25 womit aber wegen deren nomadischer Lebensweise kaum die Charrúas gemeint sein konnten. Die Verteidigung der links des Uruguayflusses gelegenen, aus der spanischen Erbmasse von der Liga Federal de los seis Pueblos Libres beanspruchten Misiones (siehe Karte Nr. 6) gegen die Portugiesen lag in den Händen des Indios Andresito Artigas, Adoptivsohn des Libertador. Sein indianischer Name Guacacari deutet nach J. P. Rona 26 nicht auf guaranitische, sondern auf charruische Herkunft. Die militärische Bedeutung einer Allianz mit den Charrúas hatte auch der portuguiesisch-brasilianische König Joäo VI erkannt. Seinem General Carlos Frederico Lecor, der die Wirren des uruguayischen Unabhängigkeitskrieges ausnutzen sollte, um das Land Brasilien anzugliedern, empfahl er: »Procurai por de Paz os Charrúas.«27 Beim vergeblichen Versuch des uruguayischen Generals Fructuoso Rivera, die linksuruguayischen Misiones zur Banda Oriental zu schlagen, begegnen uns die Charrúas als seine Verbündeten. Einige Jahre später jedoch, im Jahre 1831, lockt Rivera die Charrúas in Nordwesturuguay in eine Falle und metzelt sie mit seinen Soldaten, darunter auch drei Schwadrone Guaraníes, samt Frauen, Kindern und Alten nieder. Es wird von annähernd 1.000 Getöteten berichtet. Nur wenige entkommen. Sie rächen sich wenig später an Riveras Bruder, Bernabé, den sie bei Yacaré Cururú (heute Bernabé Rivera) umbringen. Mit dieser Aktion wollte Rivera, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt, »dejar limpia la campaña y aseguradas las propiedades«.28 25 M. Lucena Samoral: José Gervasio Artigas. Gaucho y confederado, Madrid 1988, S. 77. 26 A.a.O., S. 10. 27 Faksimile seines Briefes, abgedruckt in D. Michalany: Atlas histórico, geográfico e cívico do Brasil, Säo Paulo 61987, S. 32. 28 E. F. Acosta y Lara: »Salsipuedes 1831 (los lugares)«, in: Revista de la Facultad de Humanidades y Ciencias, Montevideo, V4 (1985), S. 66. Vgl. vom selben Autor La guerra de los charrúas en la Banda Oriental, Montevideo 1989,2 Bde.

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Schon einige Mitlebende betrachteten diese »tremenda carnicería« mit Abscheu.29 Bis heute ist die Erinnerung des Massakers an den Charrúas lebendig. In einem offenen Brief an eine große Montevideaner Tageszeitung stellt eine Gruppe von uruguayischen Reformkommunisten diese Schandtat mit den Verbrechen Stalins auf eine Stufe: »Stalin y sus continuadores dirigieron la URSS y cometieron crímenes en nombre del marxismo-leninismo, igual que en nuestro país nos han gobernado invocando el nombre de Artigas ignorando sistemáticamente su ideario y traicionándolo con otros tantos crímenes como la matanza de los charrúas por Rivera o la vergonzosa participación en la guerra de la Triple Alianza.« (La República, 8.6.92, S. 7). In der uruguayischen Geschichtswissenschaft wird die Ansicht vertreten, daß Rivera nicht lediglich eine Strafexpedition gegen Schmuggler und Viehdiebe unternommen, sondern daß er das Rückzugsgebiet der Charrúas zwischen den Flüssen Queguay, Cuareim und Uruguay regelrecht erobert habe. Mit der Vernichtung der Charrúas am Bach Salsipuedes am 12.4.1831 ist die Conquista auf dem Gebiet des heutigen Uruguay abgeschlossen. Sie hat, mit langen Unterbrechungen, über dreihundert Jahre gedauert (15161831). Die Geschichte der Republik Uruguay beginnt mit dem Ende der freien Indios. Was ist von ihnen übriggeblieben?

2. Die Spätfolgen der Conquista 2.1. Ein Wandel in der Orientierung Der venezolanische Hispanist Angel Rosenblat hat Uruguay als das »weißeste« Land Lateinamerikas bezeichnet.30 Der erwähnte Anthropologe Renzo Pi Huguarte schreibt 1969 (S. 47): »Nuestra población actual presenta la fisionomía propia de un pueblo trasplantado cuya matriz principal es la raza blanca con una pequeña incidencia de la negra. Determinar la medida en que los ge29

Ebd., S. 75.

30

A. Rosenblat: La Población Indígena y el Mestizaje en América. I.: La Población Indígena. Buenos Aires 1954, S. 671-682, gibt folgende Prozentzahlen: »población caucásica«: 90 %, »negra y mulata«: 2 %, »mestiza«: 8 %.

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nes aborígenes sobreviven en este conjunto parece poco menos que imposible.« Diese pessimistische Sicht teilen nun in neuester Zeit weder Wissenschaftler noch Laien. Seit den siebziger Jahren hat eine auffällig intensive Suche nach dem indianischen Erbteil in der uruguayischen Bevölkerung begonnen. Sie wird nun, was nicht erstaunen kann, in dem Milieu betrieben, das den Indios am fremdesten war, im städtischen Uruguay. 2.2. Totalidentifikation Im Jahr der 500. Wiederkehr der Entdeckung Amerikas wird diese Suche der Öffentlichkeit als Identifikation mit der indianischen Vergangenheit bewußt gemacht. Dabei schreckt selbst eine so seriöse Zeitung wie La República nicht vor krasser Geschichtsverdrehung zurück. Zu dieser versteigt sie sich in einer Anzeige, in der eine historische Darstellung der Abreise Juan de Solis' abgebildet ist (siehe Anlage Nr. 7). Wann hat man je den weißen Uruguayern Spiegel verkauft? Wer hat sie je entdeckt, wo doch nur eine zweite Entdeckung im Sinne Alexander von Humboldts möglich ist, und alle den Kalauer im Munde führen: »Nosotros descendemos de los barcos«? 2.3. Annäherung an Amerika Die Totalidentifikation mit den Amerindiern, die »entdeckt« wurden, ist natürlich nicht seriös. Ernster zu nehmen sind die Annäherungen an das indianische Amerika, die gleichzeitig ein Abrücken von Europa bedeuten. Dabei sind ebenso interessant wie die Resultate der Suche nach dem indianischen Bevölkerungsanteil die Motive, die diese Suche bei Wissenschaftlern und Amateuren ausgelöst haben. Was in der Zeitungsanzeige noch im Hintergrund verharrt, wird vom Demographiehistoriker Oscar Padrón Favre, wenn auch unter Entschuldigungen, ans Licht gebracht: »Deseo, [...], confesar que este estudio surge, entre otros motivos, por una profunda vocación hispano-americanista, buscando con él proveer de mayores elementos de contacto a las relaciones entre Uruguay y los demás países latinoamericanos. No escapa a pocos saber que nuestra cómoda y conocida frase >en Uruguay no hay in-

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dios< ha sido un factor de distancia, de alejamiento de nosostros, los orieitales, con respecto al resto de Hispano, y porque no, de Latinoanér.ca.«31 »No somts tan diferentes de los demás«, meinte im Gespräch auch die Montevideaier Anthropologin Mónica Sans, die mit genetischen Untersuchungen dei irdianischen Anteil an der Bevölkerung zu bestimmen versucht, und sé war sehr zufrieden darüber. Kompleirentir zum Historiker Padrón Favre argumentieren die Amateure, die sidi ds »Compañeros Descendientes« in der »Asociación Nacional de desceidicntes de la nación charrúa« zusammengeschlossen haben: »El comciniento de nuestras raíces nos acercará más al continente al que prttnecemos, y en particular a la América Indígena, con quien teienos en común el origen y el destino.«32 Wohl nich zifällig läuft die Suche nach den Indios im eigenen Volk und in der eigenen 'erson parallel zu einer Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage. Nachdem sich nun Uruguay, die einstige Schweiz der Neuen Welt, ökonanich lateinamerikanisiert, soll es sich auch ethnisch und geistig von We¡teiropa entfernen und sich in seinen Kontinent einfügen. Dazu konmi ein zweites. Die Zeitungsanzeige erklärt kurzerhand alle Uruguayer zi hdios. Hinter dieser plumpen Anbiederung an das indianische Amerita seht die Absicht, das Wir-Gefühl der kolonisierten Einwanderer zu städcei. Die Erinnerung an die alte Kolonialmacht Spanien hat sich zu sehr »bgschwächt, als daß sie sich noch zum Gegenbild eignete, an dem man sicti as »anders« und deshalb »einheitlich« erkennen könnte. Die »Compañeros lescendientes« sprechen diese zweite Absicht deutlich aus: »Esta Asociackn es un aporte a la cohesión social que el país necesita.« Und schließlch schwingt als drittes Motiv der Drang zur ungetäuschten Selbsterkenrtni mit. Es nährt sich aus Enttäuschung. Uruguay kommt sich abgeschoben vtr. Europa erschwert ihm den Verkauf seiner Produkte, die den hohen Lebaisstandard und den paternalistischen Versorgungssozialismus gesichert laben. Die großen politischen Ideologien sind zerbrochen. Schluß mit den Täuschungen, den »espejismos«, heißt die Devise. In der 31 Sangre Indígena n el Uruguay, Montevideo 21987, S. 1. 32 Im Bericht der tonte videaner Tageszeitung El País, 23.9.89, unter dem Titel »Descendientes de los charrúas procura profundizar en raíces de sus identidades«.

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Zeitungsanzeige liegt dieses Motiv der Reihung von espejitos, otra vez und otros cuentan zugrunde. Die »Compañeros Descendientes« drücken sich wiederum ganz deutlich aus: »En todo este proceso queremos efectuar el autodescubrimiento de nosotros mismos« (ibid.). Ebenso O. Padrón Favre: »Un país, una nación necesita indefectiblemente conocerse a sí mismo en todos sus aspectos.«33 Die »Compañeros Descendientes« beruhigen ihre Mitbürger: Die Selbstfindung wird nicht aus der Loyalität zum Uruguay, so wie es Artigas erdacht hat, ausbrechen (ebd.). Was ist nun bei dieser Suche herausgekommen, durch die Uruguay nicht weiß, sondern rot gemacht werden soll? Zunächst wollen wir sehen, was die Stadtmenschen herausgefunden haben. Dann soll das andere Uruguay, das des Binnenlandes (»el Interior«) zu Worte kommen. 2.4. Siedlungsgeschichte Alle neueren Untersuchungen rufen den Uruguayern ins Gedächtnis, daß der indianische Anteil an der Bevölkerung größer ist, als die »descendientes de los barcos« wahrhaben wollten. Zwei Resultate seien genannt. Der Siedlungshistoriker Rodolfo González Risotto hat in mehreren Studien aus den 80er Jahren nachgewiesen, daß an die 20.000 Indios in die uruguayische Bevölkerung eingegangen sind.34 Wenn wir, wie die Karte Nr. 3 angibt, für die Zeit um 1830 die Zahl der Einwohner mit ca. 74.000 ansetzen, dann sind das mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Damit bestätigt die moderne historische Demographie das Zeugnis der ausländischen Reisenden des 19. Jahrhunderts, die wie A. de Saint-Hilaire auf den häufigen Fall hinweisen, daß die uruguayischen estancieros indianische Frauen hatten. Posthum wird auch der »literatura costumbrista« Realitätsnähe bescheinigt. Die indianische »china« gab es häufig, und die ethnische Synthese im »gaucho« hat wirklich stattgefunden.35 33 O. Padrón Favre, a.a.O., S. 1. 34 R. González Risotto, S. Várese de González: »Contribución al estudio de la influencia Guaraní en la formación de la sociedad uruguaya«, in: Revista Histórica, Montevideo, LIV (1982), S. 160-162, S. 199-316; R. González Risotto: »La importancia de las Misiones Jesuíticas en la formación de la sociedad uruguaya«, in: Estudios Ibero-americanos XV (1989), S. 191-214. 35 Als eine unter vielen Gesamtdarstellungen sei genannt J. C. Guarnieri: El Gaucho, Montevideo 1967.

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Ein paradoxes Ergebnis für den, der in nationalstaatlichen territorialen Kategorien denkt, ist aber, daß diese Indios Immigranten waren. Es sind in der Hauptsache »indios misioneros«, von denen ein großes Kontingent 1828 mit Rivera aus den Misiones Orientales nach Uruguay gezogen ist. Diese Guaraníes (unter ihnen mögen einige wenige guaranisierte charruische Rückwanderer gewesen sein), stellen den ersten großen Einwandererschub des 19. Jahrhunderts dar. Ab der zweiten Hälfte der Jahrhundertmitte folgten die großen europäischen, vor allem spanischen und italienischen Immigrantenwellen,36 gegenüber denen alle früheren Einwanderungsströme Rinnsale sind.37 Wenn nun die Nachkommen der europäischen Einwanderer die ältere Bevölkerungsschicht freilegen, dann verlängern sie nur die Geschichte Uruguays als Einwanderungsland nach rückwärts. Kennzeichnend für die indianische Einwanderung ist, daß ihre Ansiedlungen keinen Bestand haben, bzw. kreolisiert wurden. Dámaso Antonio Larrañaga beschreibt in seinem Diario de Viaje de Montevideo a Paysandú (1815) letzteren Ort noch als »Pueblo de indios que está sobre la costa oriental del Uruguay« mit einer »población de veinticinco vecinos, la mayor parte de indios cristianizados«, »Indios de Misiones«. Hier hatte Artigas sein Hauptquartier aufgeschlagen. Die (koloniale) Zivilverwaltung gibt es schon nicht mehr: »Antiguamente tenía su Corregidor como los otros Pueblos de Indios, pero ahora hay un Comandante militar.«38 Schon in der Beschreibung, die J. M. Reyes 1859 von der »villa de Paysandú« gibt (»más de 400 edificios, [...] 5000 y más habitantes«), ist von Indios nicht mehr die Rede. Die übrigen Indios, die Larrañaga auf seiner Reise trifft, leben nicht in geschlossenen Gruppen. Da sind die »dos indios tapes hermanos«, von denen der eine den anderen umbringt, die »cuatro Indios de Misiones«, die die berühmte jesuitische Musikausbildung genossen haben und im Haus des Kommandanten der Villa de San Bautista »una música regular de dos violinos, tambora y triángulo« veranstalten, und ihr Kollege in Canelones bei Montevideo, »un buen organista indio o de Misiones.«39 36

Der erwähnte Historiker González Risotto verkörpert wie so viele Uruguayer in seinem Namen die italohispanische Synthese.

37

Ab der Dekade der 1850er Jahre steigt die Bevölkerungskurve bis ca. 1900 steil an. Um die Jahrhundertwende erreicht Uruguay den Stand von 1 Mio. Einwohnern, d.h. die Einwohnerzahl hat sich in siebzig Jahren annähernd verdreifacht.

38

S. 50. Ich zitiere nach der Ausgabe Montevideo 1967 (Colección Historia y Cultura - N° 7).

39

S. 14, 16,77.

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José María Reyes, Verfasser der ersten umfassenden Descripción geográfica del Territorio de la República Oriental del Uruguay (1860-61), analysiert, wie in einer Fallstudie, die Gründe für die Unbeständigkeit der indianischen Siedlungen in Uruguay: »En esas inmediaciones [del Pueblo de San Pedro, am Fluß Yi] existió una Colonia militar que echó las bases de un núcleo de población en las primeras épocas de la Independencia de la República compuesta de naturales de la antigua provincia de las Misiones Orientales que emigraron de ellas al terminarse la guerra con el Imperio vecino en 1828. La organización puramente marcial de ese pueblo, la naturaleza de su propia índole, y los sacudimientos frecuentes del orden público que se atravesaron entonces y más tarde, y a los cuales se prestaron por sus propias tendencias, o por el influjo de los que los promovieron, alejó el porvenir que habrían alcanzado con el empleo del trabajo y de las labores agrícolas para las cuales poseían innatas analogías, emanadas de la educación y los hábitos que habían conservado del régimen teocrático de las antiguas reducciones jesuíticas. Esas causas han contribuido a que una porción de esa tribu se encuentre hoy desparramada en todo el territorio, ocupando sus brazos en los trabajos rurales, mientras que el resto ha desaparecido en procura de sus antiguos lares atraídos por afinidades que no podían olvidar«.40 Auch das System der »repartición«, der Verteilung von Indiokindern, die bei den Gemetzeln verschont worden waren, an verschiedene weiße Familien, verhinderte das eigenständige Zusammensiedeln. Bis heute ist Uruguay für Indios nur Raum für Bewegungen, nicht fürs Verweilen. Die »Indios vendiendo verduras en Montevideo«, die nach Ansicht der deutschspanischen Zeitschrift Ecos de España wohl für Amerika einfach immer dazugehören (Anlage Nr. 8), sind Fremde aus dem andinen Raum. Selbst eine Mbya-Gruppe aus Paraguay, die sich vor kurzem auf der Insel Filomena Grande im Rio Uruguay niederlassen wollte und von Anthropologen der Universität Montevideo betreut und vor der einheimischen 40

S. 17f. in der Ausgabe der Biblioteca Artigas, Colección de Clásicos Uruguayos, vol. 7, Montevideo 1960.

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Bevöllerung versteckt wurde, mußte bald weiterziehen. Die große Flußinsel körnte sie nicht ernähren. Es scheint, daß selbst im dünnbesiedelten Uruguiy kein Platz für ihre Lebensweise ist. Wie sollte es auch, da selbst die Eilheimischen in der extensiven Viehwirtschaft der Latifundien kaum noch /rbeit und Brot finden. 2.5. Genetische Anthropologie Die anlere Disziplin, die einen höheren als bisher angenommenen indianischen Bevölkerungsanteil nachweist und die damit zeigt, daß es doch möglich is, »determinar los genes aborígenes« in der uruguayischen Bevölkerung, Bt die genetische Anthropologie (»Antropología biológica«). Gestützt auf Blitgruppenuntersuchungen geben Mónica Sans et alii in einem Artikel aus den Jahre 199241 den indianischen Anteil unter den Vorfahren von annähend 500 untersuchten Uruguayern mit ca. 13 % an (12,6 ± 2,5; gegenüber 5»,0 ± 3,3 Weißen und 28,4 ± 2,5 Schwarzen). Die Untersuchungen profitierten von Vaterschaftsfeststellungen, Männer und Fauen waren gleichstark vertreten, der größte Teil der Probanden wohntt in Montevideo, der Rest kam aus Gegenden südlich des Río Negro, also ais den Gebieten, aus denen die eingeborene indianische Bevölkerung zuerst zurückgedrängt worden ist. Der Schluß liegt nahe, daß die Charrúas und dii anderen autochthonen Kleinstämme massiv durch die »indios misionens« ersetzt worden sind. Moitevideo und sein süduruguayisches Einflußgebiet können wir nun dank éner zweiten Untersuchung mit dem nördlich des Río Negro gelegenen Departamento Tacuarembó samt gleichnamigem Hauptort vergleichai. Hier haben M. Sans und ihre Kollegen einen noch höheren Anteil indianscher Vorfahren in der Bevölkerung festgestellt, nämlich über 19 % (19,34%). 42 Untersucht wurden in Tacuarembó nicht systematisch und ausschießlich Blutgruppen, sondern die Frequenz des sogenannten Mongolenfleccs (»mancha mongólica«), der spateiförmigen Schneidezähne (»dientes en jala«) und die bestimmter Figuren, zu denen sich die Linien der Fin41

»Blod Group Frequencies and the Question of Race Admixture in Uruguay« (erscheint in Intercienia)

42

»Utiización de marcadores bioantropológicos para el estudio del mestizaje en la población Uruguay«, in: Antropología Biológica, Santiago de Chile, 1/1 (1991), S. 71-86; »Proceso de Integración de laSociedad Uruguaya: El ejemplo de Tacuarembó«, in: Estudos Ibero-Americanos, Porto Alegre, X VI/2 (1991), S. 99-111.

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gerkuppen, Handflächen und Fußunterseiten zusammenfügen (»dermatoglifos«). Diese Daten wurden mit denen der Kirchenbücher (ab 1838) und der zivilen Einwohnerverzeichnisse (ab 1879) verglichen, die allerdings zur ethnischen Zugehörigkeit nur unvollständige Angaben machen. Zum erstaunlich hohen Anteil an indianischen Vorfahren können auch die brasilianischen Siedler in dieser Zone beigetragen haben, die 1838 noch die Bevölkerungsmehrheit im Depto. Tacuarembó bildeten (das damals größer war und bis an die Grenze zum brasilianischen Imperium reichte) und in deren Adem schon indianisches Blut floß. Sowohl in Montevideo wie in Tacuarembó wurde nach dem sozialen Status der Personen mit indianischen Ahnen gefragt und dieser mit dem Status der Nachfahren von Afrikanern (d. h. der schwarzen Sklaven) verglichen. Letztere sind in Tacuarembó genetisch ebenso stark vertreten wie die Indios. Es zeigte sich, daß die Uruguayer mit afrikanischen Vorfahren bis heute in der Unterschicht geblieben sind, während diejenigen mit indigenen Ahnen sich sozial von den »caucásicos«, also von denen, deren Vorfahren ausschließlich europäische Einwanderer waren, nicht unterschieden. Dies könnte m. E. auch darin seinen Grund haben, daß der indianische Erbanteil stärker als der afrikanische durch Frauen in den uruguayischen Bevölkerungshaushalt gebracht worden ist und der soziale Status durch den (weißen) Mann bestimmt wurde. Von Ehen zwischen indianischen Männern und weißen Frauen im Schoß der kreolischen Gesellschaft wird selten berichtet. Die schwarze Bevölkerung hingegen reproduzierte sich auch selbst und damit ihren Unterschichtenstatus. Ihr sozialer Aufstieg ist bis heute mühsam. Zu Recht meinen die Autoren der besprochenen anthropologischen Studien, daß diese neuen Ergebnisse Darcy Ribeiros Gegenüberstellung der Brasilianer als »pueblo nuevo« und der Uruguayer als »pueblo transplantado« abschwächen.43 Die genetische Anthropologie kann natürlich nicht die indianischen Vorfahren nach Stämmen sortieren. Daß der Anteil von Ahnen aus autochthonen Stämmen, besonders der Charrúas, größer sei als bislang angenommen, läßt sich mit diesen Methoden nicht nachweisen. Wenn nun gezeigt wird, daß auch der afrikanische Anteil größer ist als bislang angenommen, dann hat die »antropología biológica«, wie die 43 Las Américas y la Civilización, Buenos Aires 1967.

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Siedlungsgeschichte, bekräftigt, daß Uruguay Einwanderungsland ist. Seine Geschichte ist bis heute die einer Bevölkerung in Bewegung. 44 An die Stelle der Einwanderung ist die Auswanderung getreten. Geblieben ist die Binnenwanderung. Durch die anhaltende Landflucht wird das rurale Mestizentum immer mehr in die Stadt, d. h. vor allem nach Montevideo, verschoben. Das ermittelte Gefälle zwischen den höheren Werten des indianischen Vorfahrenanteils im Landesinneren und den niedrigeren in der Hauptstadt wird durch die demographische Binnenmobilität abnehmen. Eines Tages wird man mit mehr Recht als bisher die aggressive uruguayische Fußballnationalmannschaft als die »Charrúas« bezeichnen dürfen. 45 Genetisch richtiger wäre es wohl, sie »misioneros« zu nennen. Aber die Identifikation mit dem Kampfesmut der Vorbewohner des Landes hat sich wohl schon zu sehr verfestigt, als daß sie noch durch wissenschaftliche Erkenntnisse zurechtgerückt werden könnte. 2.6. Kulturanthropologie und Sprachwissenschaft Ihrer Aufgabe, die indianische Wurzel des modernen Uruguay freizulegen, scheinen sich einige Unter- und Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft und der genetischen Anthropologie noch nicht recht bewußt. Jedenfalls ist nichts von einem großen Programm, an dessen Ende eine Synthese gesetzt werden müßte, bekannt. Ich meine mit diesen Wissenschaften die uruguayische Kulturanthropologie (nicht nur die historische, sondern besonders die vergleichende und die der Gegenwart), die »Historia Oral«, die sich auch in Uruguay an der französischen »Histoire des mentalités« orien-

44

Dieser Tatsache will unser Sprachatlas dadurch Rechnung tragen, daß er neben den ortsfesten Sprechergruppen (»Topostatik«) auch die demographisch mobilen (»Topodynamik«) berücksichtigt. 45 »[...] me asalta el temor de que me sueltes, [...], a ese charrúa que tienes adentro, y que parece haberse parapetado en el espíritu de la mayoría de los orientales [= los Uruguayos]«, schreibt Florencio Sánchez Uber sich und seine Landsleute, und er meint an anderer Stelle: »Nacidos de chulo y de charrúa nos queda de la india madre un resto de rebeldías indómitas, su braveza, su instinto guerrero, su tenacidad y su resistencia, y del chulo que la fecundó la afición al fandango, los desplantes atrevidos, las dobleces, la fanfarronería, la verbosidad comadrera [...]. De tal herencia fisiológica conservamos muy acentuados los rasgos del chulo padre. Nos parecemos más a papá«. (D. Cúneo (ed.): Teatro Completo de Florencio Sánchez. Cartas de un Flojo, Buenos Aires 21952, S. 592 u. S. 596; freundlicher Hinweis von D. Janik).

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tiert und bisher kaum mehr als Ergänzung der dokumentierten »weißen« Geschichte des Landes ist,46 sowie die Sprachwissenschaft. Die Siedlungsgeschichte und die genetische Anthropologie untersuchen Kollektive. Die erwähnten Nachbardisziplinen würden auch die indianischen Individuen ins Blickfeld bekommen. Vor allem müßten sie zeigen, welche indianischen Kulturelemente bis heute fortleben, offen und bekannt oder umgeformt und nicht mehr bewußt. 2.6.1. »Historia Oral« und historische Einzelforschung Zwischen privatem Sammeleifer und wissenschaftlicher nüchterner Überprüfung schwanken die stets mit öffentlichem Interesse aufgenommenen Versuche, immer spätere »letzte Charrúas« aufzuspüren. Die vier nach Paris verfrachteten Charrúas, die J. Belloni in seinem bekannten Denkmal darstellte (siehe Anlage Nr. 9), waren nicht die letzten. Soviel steht fest. Gut dokumentiert ist das Schicksal des Cacique Sepé, der Riveras Massaker rächte und zwar an dessen Bruder Bernabé, selbst aber 1866 ziemlich unrühmlich durch Arsen umkam, das ihm zwecks Testen seiner Widerstandskraft ins Schnapsglas gekippt worden war. Durch Befragung möglichst alter Zeugen - ein typisches Verfahren der Historia Oral - hat sich die Spur der Charrúas, die nach alter Weise und z. T. sogar noch in Kleingruppen lebten, bis an den Anfang unseres Jahrhunderts und vielleicht noch darüberhinaus verfolgen lassen. Dieses Verfahren hat der schon erwähnte Oscar Padrón Favre angewandt und die Ergebnisse in der zitierten Monographie zusammengestellt. Er trennt sauber nach Charrúas und Indios misioneros. Ob das immer möglich ist, darf bezweifelt werden. Die befragten Nachkommen der Indios sind alte Leute, selbst schon akkulturiert, ihre Erinnerungskraft wird schwach. Jemand, der Charrúa-Nachkomme sein sollte, meinte z. B.: »No, no, eso no recuerdo yo, se que misioneros sí« (a.a.O., S. 37). Die systematische und von kritischem Geist geleitete Durchsicht der kirchlichen und zivilen Register, die schon begleitend zu den genetischen Untersuchungen von der »antropología biológica« und zu den Befragungen 46

So die in Uruguay vielbeachtete Darstellung von J. P. Barrán: Historia de la sensibilidad en el Uruguay, Montevideo 1990,2 vols. Es fehlt ein Werk wie die unlängst erschienene, von M. Cameiro da Cunha herausgegebene Synthese História dos Indios no Brasil, S3o Paulo 1992.

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der Historia Oral durchgeführt worden ist, müßte von der sprachwissenschaftlichen Namenkunde auf ein sichereres Fundament gestellt werden, als dies bisher geschehen ist. Der uruguayische Sprachwissenschaftler J. P. Roña hat zur Erforschung der Namen bei den Herkunftshinweisen in diesem wichtigen Material angeregt, selbst aber nur eine eilige Skizze geschafft. Die uruguayische Linguistik versucht in den internationalen Strömungen dieser Wissenschaft mitzuschwimmen. Die Onomastik hat sie Amateuren wie R. Maruca Sosa überlassen, dessen Synthese La Nación Charrúa, Montevideo 1957, ein Muster an Vermischung von Fakten und Phantasie ist. Das geringe Interesse ist verständlich. Von der Sprache der Charrúas ist nicht viel überliefert.47 Und wer die Hauptmasse der sprachlichen indianischen Überreste untersuchen will, muß erst einmal Guaraní lernen. 2.6.2. Sprachwissenschaft Damit komme ich zum letzten Teil meines Beitrages, zu dem Eindruck, den wir bei unserer Arbeit für den Sprachatlas von der Vitalität des indianischen Erbes im ländlichen Uruguay gewonnen haben. Uruguay kann mit Fug und Recht als »Guarania submersa« bezeichnet werden. Es ist der in unserer Gegenwart entguaranisierte Rand der alten »zona guaranitica«. Diese hat heute ihren Kernraum in Paraguay mit Ausläufern in Südwestbrasilien, Nordostargentinien und Südostbolivien. Niemand spricht mehr Guaraní oder gar Charrúa in Uruguay. Die von Padrón Favre befragten mutmaßlichen Nachkommen der Indios haben nur noch vage Erinnerungen an die Sprache, die sie nur gehört, aber nicht selbst gesprochen haben. Roberto J. Bouton, Autor der bis heute reichhaltigsten ethnographischen Darstellung des ländlichen Uruguay,48 der sein Material von 1913 bis 1931 gesammelt hat, fügte noch fast allen Stichworten ein 47

Die Kennzeichnung der von J. P. Rona aufgelisteten Personennamen (a.a.O.) als »chanuisch« ist nicht mehr als eine bloße Behauptung. Schwer nachweisbar ist auch der charruische Charakter der 11 WOrter (zwei kurze Sätze und vier Namen), die André Thevet aus zweiter Hand in seiner Cosmographie universelle (Paris 1575) überliefert (reproduziert in Perea y Alonso, a.a.O., S. LX). Hauptquelle ist der sog. Códice Vilardebó (erstmals 1937 veröffentlicht), der zwei kurze Wortverzeichnisse enthalt, die Teodoro Vilardebó 1841 vom »Sargento Mayor« Benito Silva, der sich zu den Charrúas geflüchtet und einige Zeit unter ihnen gelebt hatte, erhalten bzw. 1842 aus dem Munde der charruischen »China« eines Estancieros vernommen hatte. - Die Namen, die sich die charruischen Kampfer laut den Dokumenten der Zeit geben, dürften wohl in den meisten Fällen angenommene Fremdnamen oder auferlegte Heteronyme sein.

48

La Vida rural en el Uruguay. Prólogo y ordenación de Lauro Ayeíforán, Montevideo 1961.

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guaranitisches Äquivalent bei. Diese hat nun aber der Herausgeber seines Materials weggestrichen, »ya que hasta él habían llegado por la vía de sus lecturas de gabinete y no por la información de los paisanos ajenos a estos menesteres filológicos«.49 Wenn auch die indianischen Sprachen verschwunden sind, so gibt es doch sehr beträchtliche Reste. In der Toponymie und Hydronymie ist das indianische Element massiv vorhanden. Wenn man sich eines Tages einmal die Mühe machen sollte, alle Orts-, Gelände- und Gewässernamen zu sammeln, wird man wohl sehen, daß der indianische Anteil den hispanischen (und ganz sicher den lusischen) übertrifft. Schon jetzt steht fest, daß die indianischen Namen fast ausschließlich guaranitische sind, was nicht heißt, daß sie alle zufriedenstellend gedeutet seien. So gibt es schon für den Fluß- und Landesnamen Uruguay verschiedene Deutungen,50 aber niemand bezweifelt guaranitische Herkunft. Die guaranitische Namengebung in Uruguay bezeugt das Miteinander von Guaraníes und Weißen, das fast völlige Fehlen von charruischen und anderen autochthonen Namen das Gegeneinander, die Distanz zwischen der Welt der Charrúas und der der Weißen. Die guaranitischen Namen passen zu den Hinweisen in den Quellen, daß bis ins 19. Jahrhundert hinein auch in Uruguay Guaraní »lengua general« war. Sie wurde auch von den Charrúas als Verkehrssprache zur Verständigung mit den Weißen benutzt. So berichtet der General Rondeau in seiner Autobiographie über ein Gemetzel an den Charrúas im Jahre 1801: »La mortandad fué grande, pues según la declaración de los que hablan guaraní, no se escaparon mas que un indio y cuatro chinas.«51 49

Ebd., S. 8.

50

Zu den bekannten Deutungen »río de los caracoles« (Uruguay = urugua'y < urugua »caracol« + y »agua, río«) und »río de las gallinas silvestres« (< uru »gallina silvestre« + gua »procedencia« + y) fügt C. R. Almirón die noch schmeichelhaftere Auslegung »río, afluente del jefe«. Uru heißt auf Guaraní auch »Chef«. Im Falle des Flußnamens seien unter »jefe« die Charrúas selbst zu verstehen, deren Namen Almirón als guaranitisches Heteronym mit der Bedeutung »mi jefe« (che ru) versteht. Das -a läßt er allerdings unter den Tisch fallen (»Resedas y etimologías de palabras guaraníes usadas en el Uruguay«, in: Boletín de Filología, Montevideo 1950, VI/43-44-45. S. 200-203). Für das Possessivum che könnte man übrigens in der Form Zechuruas, die U. Schmidel angibt (siehe oben § 1.1), eine Stütze finden.

51

»Auto-Biografía del Brigadier Jeneral Don José Rondeau [...]«, in: Colección de Memorias y Documentos para la Historia y la Jeografía de los Pueblos del Río de la Plata por Andrés Lamas, t. primero, Montevideo 1849, S. 66 [Nachdruck Montevideo 1982],

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Einen Eindruck von der Dichte der guaranitischen Orts- und Gewässernamen gibt die Karte Nr. 10, die den nordwestlichsten Zipfel Uruguays abbildet, das letzte Rückzugsgebiet der Charrúas vor ihrer Vernichtung im Jahre 1831. Die guaranitischen Namen sind noch zahlreicher, als es die modernen Karten angeben. Manche Orte haben einen offiziellen iberoromanischen Namen, daneben aber einen guaranitischen, älteren. So im Falle der Kleinstadt Birnabé Rivera, die von den Einwohnern immer noch Yacaré genannt wird. Auch nicht selten kommt es vor, daß der moderne spanische Name einfach eine Übersetzung des älteren guaranitischen ist. Der Río Negro heißt ir. älteren Quellen Rio Hum (= hü »schwarz«). Charakteristisch für die Präsenz des indianischen Elements im Spanischer. Uruguays ist nun, daß die indianische Herkunft der Topo- und Hydronynika kaum jemandem bewußt ist. Genauso verhält es sich mit den vielen mpi-guaranitischen Bezeichnungen in der einheimischen Fauna und Flora. Dies gilt nicht nur für Wörter, die Internationalismen geworden sind, wie die Tierbezeichnungen yaguar, tatú, ñandú, tucano, piraña oder den Pflanzennamen mandioca (< tupí manioka, guaraní mandi'o). Es ist nicht anders bei Tier- und Pflanzenbezeichnungen, die eine geringere, aber stets über Uruguay hinausgehende Verbreitung haben wie pororó (»rosetas del maíz«), caraguatá (eine in Uruguay sehr häufige Bromelienart), sarandi (eine zu Buschgröße heranwachsende Euphorbia), tacuara (eine Bambusart), tuna (ein Kaktus); Tierbezeichnungen wie pati und surubi (< suruvi), zwei Süßwasserfische, der sapo cururú, apereá (< apere'a, eine Art Meerschweinchen), coatí (< kuati, ein kleines Raubtier), yarará (eine Giftschlange), yacaré (eine Kaimanart), mangangá (ein hummelähnliches Insekt), ferner Bezeichnungen für Tierbehausungen wie tacurú (eine Art Termitenhügel). Der Anteil der Guaranismen am allgemeinen Wortschatz, der nicht Tier- und Pflanzenbezeichnungen betrifft, ist gering. Er betrifft ebenfalls Dinge des ländlichen Lebens, wie z. B. tapera (< tapere, »verlassenes Haus«) oder caracú (Knochenmark). Eine Ausnahme bildet das verbreitete gurí, (kleiner Junge), das aber wohl eher ein Tupinismus ist. 52 52

A. G. da Cunha: Dicionário histórico das palavras portuguesas de origem tupi, Säo Paulo 2 1982, nennt für guri »bagre novo, por extensäo, crianza« das Tupi-Etymon üi'ri. Im Guaraní Paraguays gibt es ein lautlich dem gurí fernerstehendes kyryi »tierno verde, no crecido ni maduro aún (cosas y personas)«, A. Guasch & D. Ortíz: Diccionario Castellano-Guaraní, Guaraní-Castellano, Asunción 6 1986. das semantisch gut paßt. Aber nach native speakers-Auskunft wird kyryi weder allokutiv

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Zu einer interessanten sekundären Variation in Raum führen die Indianismen, die über das Portugiesische nach Norduruguay gekommen und z. T. auch in das dortige Spanische übernommen worden sind. Es dürfte sich meist um Tupinismen handeln. Beispielsweise pia (kleiner Junge), chirú (»indio«, »caboclo«, tupí che iru, guar. che iru, »mi compañero«) oder zape (Ausruf, mit dem die Katze verjagt wird). Über die genaue räumliche Verteilung dieser Indianismen wird unser Adas Auskunft geben. Die sprachlichen Überreste der Indios sind wie die genetischen so gut integriert, daß sie nicht auffallen und erst mit Anstrengungen wieder bewußt gemacht werden müssen. Es gibt eine bedeutsame Ausnahme. Das sind Vornamen wie Yamandú oder Tabaré, die auch für uruguayische Ohren zumindest exotisch klingen. Aber die Mode, solche Namen zu geben, geht wohl auch eher von der Stadt aus und bezeugt historische und literarische Reminiszenzen. In der materiellen Kultur autochthones indianisches Erbe nachzuweisen, ist in zweierlei Hinsicht schwierig. Erstens ist Uruguay ein Land, das eine auffallend arme materielle, dafür aber eine reiche immaterielle Folklore besitzt. Zweitens ist das wenige in Frage kommende materielle Kulturgut nicht spezifisch charruisch, sondern zumindest rioplatensisch-indianisch, meist wohl guaranitisch. So das allgegenwärtige Nationalgetränk, der Mate, den auf der zeitgenössischen Darstellung der Charrúa Senaqué trinkt (siehe die beigefügte Reproduktion, Anlage Nr. 11). Bartolomé Hidalgo benutzt den Mate zur generalisierenden Selbstidentifikation als »indio« und spielt ihn gegen das berühmter gewordene andere indianische Getränk, den »chocolate«, aus (vgl. Anlage Nr. 12). Nicht anders steht es um die boleadora, die gefürchtete Waffe vieler Tieflandstämme. Ein großer, in Uruguay noch nicht in seiner heutigen Koexistenz mit der legalen Medizin angemessen untersuchter Bereich, zu dessen besserer Kenntnis unser Atlas beitragen will und in dem indianischer Einfluß vermutet werden darf, ist die Volksmedizin. Aber auch hier wird es schwer

noch dclokuüv für einen Jungen gebraucht. - Auch die Verbreitung von guri im Rio Grande do Sul spricht eher für Tupinismus.

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sein, das indianische Element zu erkennen, darin das charruische zu identifizieren und den europäischen Anteil herauszusondern. 53 Ein Beispiel. Im norduruguayischen Befragungspunkt Sequeira hat uns eine Informantin ein gutes Mittel gegen Bronchitis verraten: Man nehme den Schwanz eines yacaré, lasse ihn auf dem Dach in der Hitze schmoren und streiche sich die Brust mit dem herabtropfenden Fett ein. Der yacaré ist, wie erwähnt, das einheimische Krokodil. Die Materie ist autochthon, der Name indianisch. Die Antwort auf meine Frage, was der yacaré mit der Bronchitis zu tun habe, verwies auf das Denkmuster der Analogie. Der yacaré ist ein Tier, das im Feuchten lebt, und auch die Bronchitis eine feuchte Angelegenheit. Die analogische Begründung ist so verbreitet, daß sie auch europäisch sein kann. Neben dem Aussaugen der Krankheit war zwar das Einreiben eine der beiden Hauptmethoden der charruischen Medizin, wie gut überliefert ist. Aber dies kennen eben auch die Guaraníes und die Europäer. Meistens wird man sich nur auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen stützen können. So darf man vermuten, daß der von unserem Atlas nachgewiesene verbreitete Glaube an den Werwolf (lobizón) in Uruguay und Südbrasilien, ganz im Gegensatz zur geringen Kenntnis davon auf der iberischen Halbinsel, 54 vielleicht etwas mit dem reichen guaranitischen Inventar an Tiermenschen zu tun hat, insbesondere mit dem Tigermenschen, 55 dem Horacio Quiroga einen »cuento« gewidmet hat (Juan Darién). Oder aber man findet parallele Handlungen, kann aber das Verbindungsstück nicht nachweisen. Bei den Charrúas wird die Sitte des »entierro secundario« vermutet. 56 Sie ähnelt sehr dem ländlichen uruguayischen Totenbrauch, zunächst den Körper zu bestatten, ihn verwesen zu lassen, dann die Knochen zusammenzuschieben (»reducir«) und diese in einer kleinen 53

Die umfangreichste Darstellung der uruguayischen Volksmedizin findet man, außer in den einschlägigen Kapiteln in Bouton (vgl. Anm. 45), in Rafael Schiaffino: Historia de la medicina en el Uruguay, Montevideo 1927, 3 Bde.

54

Vielleicht mit Ausnahme Galiciens. Vgl. Félix Coluccio: Diccionario de Creencias y Supersticiones (argentinas y americanas), Buenos Aires 2 1984, bes. S. 245.

55

Jaguarete-ava. Ohne Mühe setzte sich sogleich der luisö in Paraguay durch. Wie sehr er bekannt und gefürchtet - ist, wird jeder feststellen, der in Paraguay nach ihm fragt.

56

Vgl. R. Pi Huguarte, a.a.O., S. 58. Der »Brigadier General« Antonio Díaz, der die Charrúas aus eigener Anschauung kannte (ohne aber ihre Sprache zu erlernen), berichtet nur von einer »escavación de poca profundidad,/ en la que ponen el cadaver cubriéndolo (preferentemente) con piedras si las hay ano muy/ larga distancia, sino con ramas y tierra« (De las «Memorias» del Brigadier General Don Antonio Díaz: Apuntes varios sobre los indios charrúas del Uruguay, versión paleográfica [...] por J. J. Figueira [...], Montevideo 1978, S. 26; auch in: J. J. Figueira, a.a.O., III (1976), S. 356; vgl. Anm. 12). Es kann sich bei diesem dürftigen Begräbnis um den »entierro primero« handeln.

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Kiste endgültig in einem gemauerten, oberirdischen Grabmal (panteón oder nicho) zu verwahren. 2.6.3. Erinnerungen an die Indios Fragt man die Landbevölkerung nach den »charrúas« oder den »indios« und trifft man nicht gerade auf einen sensibilisierten Nachkommen, dann erinnern sich einige vage an Erzählungen ihrer Vorfahren. Die Indios, die sie selbst kennen, kommen aus dem brasilianischen Mato Grosso und verkaufen Kräutertees (yuyos). Oft werden sie mit Zigeunern verwechselt. Oder man hat Indiogruppen gesehen, die aus Paraguay herabwandern auf ihrer uralten Suche nach der »tierra sin mal« (yvy marane'y). Diesen Immigranten fühlt man sich nicht verwandt. Den Fischern auf der Flußinsel Filomena Grande, die wir im Jahr 1991 exploriert haben, waren die Indios, die dort verweilt hatten, sehr fremd. Jeden Abend sangen sie, »para que no se acabe el mundo«. Zu indianischer Abstammung bekennen sich wenige, noch weniger rühmen sich ihrer. Die Frau, die das Photo der Anlage Nr. 13 zeigt, war eine Ausnahme. Der Landarzt nennt sie natürlich »la Charrúa«. Aber sie korrigiert ihn, denn ihr Vater ist aus den argentinischen Misiones gekommen. Sie ist als »india misionera« also eine Nachzüglerin des ersten großen Immigrantenkontingents in Uruguay.

3. Schluß Die Überreste des indianischen Elements sind in Uruguay genetisch, sprachlich und kulturell so integriert, daß es Anstrengungen bedarf, sie wieder hervorzuziehen. Diese Anstrengung unternimmt das städtische Uruguay. Eine der Spätfolgen der Conquista ist die Selbstentdeckung. Sie verlängert im Falle Uruguays den unsicheren Status des Einwanderers in die Vergangenheit. Wir haben uns mit den indianischen Überresten vom Standpunkt der empirischen Wissenschaften befaßt. Daneben gibt es die fiktionale Verarbeitung, die Gestalt des Indios in der uruguayischen Literatur. Wer diesen Datenstrang zurückverfolgt, wird sehen, daß - wie so oft - Vorbedingung für die literarische Verherrlichung das Verschwinden der Indios als Menschen war.

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Anhang

Karte 1

101

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Karte Nr. 2, aus: A. Tovar ('1961), S. 88-89

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TERRI

TORIO,

Y DIVISION EN

103

POBLACION ADMINISTRATIVA

1830

Población

total.

74.000

Superficie

oprox.

1S0.000

km2

Karte Nr. 3, aus: B. Paris de Oddone, R. Faraone, J. A. Oddone (s. a. [1967 ?]): Cronología comparada de la historia del Uruguay (1830-1945), Montevideo: Segunda Edición (= Colección historia y cultura 5), S. 139

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104

Fig. 6S: Das Gebiet der Guaraní-Reduktionen des Jesuitenordens am oberen Paraná und Uruguay im ¡7. J hundert 'Belén JsL# j j^tojir« 5'?de Cnpjjcnbann iCiudad R«al deTGu¿rá •:' ¿Encaróse iín" 5 Miflue' í i Arcángeles de lnam|ui j 5 Antonio 4. ". Jesús Maria de Iblt jtoy . ;• • ;•;

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Argentinien - Paraguay - Uruguay, Braunschweig, S. 371

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Die Indios in einem Land ohne Indios: Uruguay

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Que no le vendan espejitos, otra vez. No deje que otros le cuenten como nos descubrieron. En LA REPUBLICA hablarán los propios protagonistas: vencedores y vencidos. El Prof. DANIEL VIDART, reconocido antropólogo y americanista compatriota, tendrá a su cargo la selección.prólogos.anotaciones y tablas cronológicas de la Coleccion. No se pierda estos documentos, en su mayoría inaccesibles en librerías, que van desde el Diario de viaje de Colón hasta los códices indígenas.

LaRepública

2 ) (¿A^u^AAMUJUiXoy

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Anlage Nr. 7: Anzeige aus La República, Montevideo, März 1992

Harald Thun

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Anlage Nr. 8: Indios vendiendo verduras en

Montivedeo

© Keystone, Hamburg

MONTEVIDEO

Anlage Nr. 9: Los últimos Charrúas (Skulptur von J. Belloni)

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Anlage Nr. 10: Guaranitische Namen in Nordwesturuguay

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JÂpiSJ-à&ijJjVf Anlage Nr. 12: Bartolomé Hidalgo (Uruguayisches Kunsthandwerk)

Anlage Nr. 13: »La Charrúa« (India misionera)

Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Mexiko

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Ernesto Garzón Valdés

Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Ethisch-politische Überlegungen zum Fall Mexiko

Ethnologen berichten, daß in Mexiko etwa fünfzig verschiedene Ethnien leben.1 Infolge einer geschichtlichen Entwicklung, die unübersehbar von systematischer2 Diskriminierung geprägt ist, stehen diese Völker, unabhängig von ihrem jeweiligen Identitätsbewußtsein, ausnahmslos in mehr oder minder stabilen Beziehungen zu einer sozialen Umwelt, die von Weißen oder Mestizen gebildet wird und sich durch klare technologisch-ökonomische Überlegenheit auszeichnet. Darüber hinaus sind selbst innerhalb des sogenannten »traditionellen Sektors« einige Ethnien in ökologisch benachteiligten Gegenden - den sogenannten »áreas de refugio« (Zufluchtsgebieten), wie Gonzalo Aguirre Beltrán3 sie nennt - angesiedelt. Die Tatsache, daß mehr oder weniger große gesellschaftliche Gruppen ihr Leben am Rande der politisch aktiven und wirtschaftlich erfolgreicheren Bevölkerung fristen, gewinnt besondere Brisanz, wenn man einerseits bedenkt, daß sie einem Nationalstaat angehören, dessen Verfassungstext eine repräsentative Demokratie vorschreibt - also ein politisches System, 1

Vgl. Rodolfo Stavenhagen: Derecho indígena y derechos humanos en América Latina, México 1988, S. 305: »Die Anzahl indianischer Ethnien und ihr Bevölkerungsumfang hangt, da es weder für juristische noch für administrative und noch nicht einmal für Volkszahlungszwecke festgelegte Kriterien filr ihre Definition gibt, von mehr oder weniger allgemein anerkannten Konventionen ab. So wird offiziell davon ausgegangen, daß es in Mexiko 56 indianische Ethnien gibt, obwohl einige sagen, es seien mehr, und andere, es seien weniger.« Letzteres gilt beispielsweise für José del Val: »Identidad: etnia y nación«, in: Boletín de Antropología Americana 15 (Juli 1987), S. 27-36, der von 52 Ethnien spricht (S. 30). María Consuelo MejCa Pifleros und Sergio Sarmiento Silva: La lucha indígena: un reto a la ortodoxia, México 1987, S. 18, erwähnen dagegen ebenfalls 56 ethnische Gruppen.

2

Der Ausdruck »systematisch« ist in diesem Zusammenhang wörtlich zu nehmen und gilt im (lbrigen nicht nur für Mexiko, sondern filr ganz Lateinamerika. Zur Verletzung der Rechte der Indios im heutigen Lateinamerika vgl. Stavenhagen (Anm. 1), S. 207ff„ sowie Mejía Pineros/Sarmiento Silva (Anm. 1), S. 69ff. und 139ff.

3

Vgl. Gonzalo Aguirre Beltrán: Regiones de refugio, México 1967.

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das einen gewissen Grad sozialer Homogenität verlangt - , und wenn man andererseits die Forderungen nach sozialer und kultureller Autonomie ernst nimmt, wie sie von Indioführern und vielen Ethnologen vorgebracht werden. Ein großer Teil der mexikanischen Diskussion über das sogenannte »Indioproblem« kreist folglich auch um die Frage, inwieweit ethnische Autonomie und nationale Integration im Rahmen einer repräsentativen Demokratie miteinander vereinbar sind. Es handelt sich bei diesem mexikanischen Problem aber mitnichten um eine lokale Angelegenheit von national begrenzter Bedeutung; das gleiche Problem stellt sich vielmehr auch anderswo in Gesellschaften, die sich für demokratisch erklären und die ethnische Minderheiten umfassen, deren Kulturen vor der Alternative stehen, entweder in ihrer entwickelteren Umgebung aufzugehen - also zu verschwinden - , oder aber weiter diskriminiert zu werden und zur Isolation oder gar zu wirtschaftlichem und politischem Elend verdammt zu bleiben. Im Unterschied zu anderen Ländern mit ähnlicher Problemstellung wurde allerdings in Mexiko das Problem der ethnischen Minderheiten bisher fast ausschließlich von Ethnologen, Anthropologen und (indianischen und anderen) Politikern behandelt; Ethiker haben sich an der Diskussion dagegen nur in sehr geringem Maße beteiligt.4 Ich beanspruche keineswegs, diese Lücke hier zu schließen. Aber ich möchte doch einige Überlegungen zum Problem der indianischen Völker Mexikos anstellen - und zwar aus ethischer Sicht, d. h. vom Standpunkt einer kritischen Moral, die ihre Prinzipien und Regeln nicht auf die in einer bestimmten Gesellschaft tatsächlich herrschende positive Moral zurückführt, sondern die von der Verallgemeinerungsfähigkeit der Moral und damit von der Möglichkeit ausgeht, unterschiedliche Kulturen hinsichtlich ihrer moralischen Qualität vergleichend zu bewerten. Zu diesem Zweck möchte ich im folgenden (1) die in Mexiko zur Lösung des genannten Problems gemachten Vorschläge vorstellen, wobei ich mich besonders auf Meinungen von Ethnologen und auf Memoranden indianischer Führer beziehen will; 4

Aus der umfangreichen - vor allem angelsächischen - Literatur zum Thema vgl. etwa: Chandran Kukathas: »Are there any cultural rights?«, in: Political Theory 20:1 (Februar 1992), S. 105-139; Vemon Van Dyke: »Justice as Fairness: For Groups?«, in: American Political Science Review 69 (Juni 1975), S. 343-369; ders.: Human Rights, Ethnicity, and Discriminaüon, London 1985; Francés Svensson: »Liberal Democracy and Group Rights: The Legacy of Individualism and its Impact on American Indian Tribes«, in: Political Studies 27 (1979), S. 421-439; Donald L. Horowitz: Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985; Fred Naylor: »Freedom and Respect in a Multicultural Society«, in: Journal of Applied Philosophy 8:2 (1991), S. 225-230.

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(2) diese Vorschläge kritisch auf ihre Tragfähigkeit und ethische Annehmbarkeit überprüfen; und (3) einige Altemativvorschläge formulieren, die - wie ich meine - der doppelten Anforderung genügen, sowohl ethisch vertretbar als auch im Rahmen einer repräsentativen Demokratie praktisch umsetzbar zu sein.

1. Problemstellung und Vorschläge zur Problemlösung in Mexiko Gonzalo Aguirre Beltrán hat das Problem folgendermaßen dargestellt: »Jeder Prozeß der Nationbildung bedeutet notwendigerweise die Assimilierung heterogener Gruppen an eine einzige von ihnen, die damit zur dominanten Nationalität wird; dies bedingt folglich den Verlust der kulturellen Eigenarten der verschiedenen Gruppen zugunsten einer allgemeinen Kultur, die die Entstehung eines Nationalgefühls ermöglicht. Die Absorption der jeder Gruppe eigenen Persönlichkeit und ihrer Werte ist ein ständiger Prozeß der Inklusion, Exklusion und Konklusion in der Strukturierung der nationalen Kultur, der immer um den Preis der Vernichtung der regionalen Kulturen stattfindet, soweit sie sich mit dem Zusammenleben nicht vereinbaren lassen.«5 Pablo González Casanova benutzt die Formel vom »inneren Kolonialismus«, um die Lage der Indios in Mexiko zu beschreiben, und stellt dazu fest: »Das Problem ist sehr viel schwerwiegender, als es bislang dargestellt wurde, und zwar nicht nur wegen seiner eigentlichen Merkmale - die weder von der Anthropologie noch von der Revolutionspolitik herausgestellt wurden - ; es geht hier nämlich nicht um ein Problem der Indios, sondern um ein Problem der Nationalstruktur, um die Grundlage der Struktur des Landes [...].«6 Und an anderer Stelle: »Das Indioproblem bleibt von nationaler Bedeutung: es definiert die eigentliche Seinsweise der Nation. Es geht nicht um ein Pro5 6

Gonzalo Aguirre Beltrán: »Encuentro sobre indigenismo en México«, in: ders.: Obra polémica, México 1975, S. 74. Vgl. Pablo González Casanova: La democracia en México, México 81976, S. 102.

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blem einiger weniger Einwohner, sondern um ein Problem sowohl mehrerer Millionen Mexikaner, die an der Nationalkultur nicht teilhaben, als auch derer, die diese Nationalkultur besitzen.«7 Bei Jean Meyer wird dieses Problem sogar zum echten Dilemma: »[...] das Indioproblem [...] ähnelt dem der Quadratur des Kreises: stellt man dem Indio frei, Indio zu bleiben, so liefert man ihn - an Händen und Füßen gefesselt - der Unterdrückung aus; zwingt man ihn, sich zu >zivilisierenSpanier< und eine für die Indios), wie sie 1580 vom Vizekönig Martin Enriquez de Almanza in den Instruktionen für seinen Nachfolger, den Grafen von La Coruña, gefordert wurden: »Euer Gnaden muß verstehen, daß [...] zwei Republiken [...] in diesem Land regiert sein wollen, nämlich Indios und Spanier [,..].« n Wie Aguirre Beltrán festgestellt hat, gestattete die Trennung dieser beiden Republiken »[...] weitgehend den Fortbestand der indianischen Kultur vor allem in jenen Zufluchtsgebieten des Landes, die wegen ihres unwirtlichen Charakters oder wegen ihrer Abgelegenheit von den Kerngebieten der spanischen Wirtschaft von der Expansion dieser Wirtschaft nicht berührt werden.«12 (b.l) Eliminieren der Hörner des Dilemmas Hinsichtlich der Eliminierung der Hörner des Dilemmas gibt es offenbar zwei Möglichkeiten: (b. 1.1) Entweder eliminiert man das Horn, das die Verteidigung der indianischen Interessen bedeutet, so daß die nationale Homogenität im Sinne der Weißen bzw. Mestizen hergestellt werden kann; (b.l.2) oder man ignoriert die Forderungen der sogenannten »nationalen Eliten« und gibt den Kulturen der Indio-Völker den Vorzug als Lebensformen, die für die gesamte Nation gelten sollen. (b.1.1) Homogenität im Sinne der Weißen bzw. Mestizen Das Ansinnen, Homogenität im Sinne der Weißen bzw. Mestizen durchzusetzen, wird von der sogenannten »kritischen Anthropologie«13 gerne bestimmten Varianten des Indigenismus zugeschrieben, die dann als »urbani11

Vgl. Luis Weckmann: La herencia medieval de México, 2 Bde., México 1984, Bd. 2, S. 534.

12

Vgl. Gonzalo Aguirre Beltrán: Lenguas vernáculas. Su uso y desuso en la enseñanza: la experiencia de México, México 1983, S. 50.

13

Vgl. Héctor Díaz Polanco: Etnia, nación y política, México 1987. Für eine Darstellung der Kritiken des »Neoindigenismus« insbesondere am Werk von Guillermo Bonfil Batalla vgl. u. a. Gunther Maihold: Identitätssuche in Lateinamerika: Das indigenistische Denken in Mexiko, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1986, vor allem S. 178ff.

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stisch«, »campesinistisch«, »bourgeois«, »ethnozentristisch«, »völkermordend«, »autoritär« oder »homogenisierend« verurteilt werden. Guillermo Bonfíl Batalla hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Alle Ziele des Indigenismus der Revolution bleiben unberührt, fern der Realität, unverrückbar gestützt auf die tönernen Füße eines widersprüchlichen Ethnozentrismus, der eine imaginäre eigene Gesellschaft hochhält, deren wirkliche Struktur, Eigenheiten und Probleme er nicht zu erkennen vermag. Der Indio soll >erzogen< werden, damit er seine schlechten Angewohnheiten« ablegt, damit er seine Einstellung und Mentalität ändert, damit er mehr produziert und konsumiert [...] Das ist der Indigenismus, nur das [...] Wenn also überhaupt etwas die indigenistische Politik definiert, dann dieser Versuch, die ethnische Personalität des Indio auszurotten.«14 (b. 1.2) Homogenität im Sinne der indianischen Kulturen Für die entgegengesetzte Alternative, also für die Bevorzugung der indianischen Kulturen, spricht sich etwa Bonfil Batalla aus. Zunächst einmal sei der sogenannten »nationalen Identität« der Anspruch auf Exklusivität zu verweigern: »[...] gefordert wird die Anerkennung des alleinigen Rechts einer spezifischen, formal abgegrenzten gesellschaftlichen Formation, [...] Entscheidungen über ein kulturelles Erbe zu treffen, das sie als das eigene betrachtet. Wer eine ethnische Identität übernimmt, der reklamiert damit zugleich sein Recht auf Teilhabe an den ausschließlich der Gruppe zukommenden Entscheidungen und an dem Nutzen, den der Gebrauch des kollektiven kulturellen Eibes gemäß den Normen und Verfahren, die die Gruppe selbst für legitim erachtet, mit sich bringt. Der Widerspruch zwischen ethnischen Identitäten und nationaler Identität hat seinen Ursprung darin, daß man mit der Behauptung, die neuen nationalen Identitäten seien die einzig legitimen, das von jedem Volk beanspruchte Recht auf alleinige Kontrolle über sein kulturelles Erbe auslöschen will.«15 14 Guillermo Bonfíl Batalla: »Del indigenismo de la Revolución a la antropología crítica«, in: Junqueira/Carvalho (Anm. 9), S. 151-176, hier S. 155f. 15 Vgl. Guillermo Bonfil Batalla: »Identidad étnica y movimientos indios en América Latina«, in: Jesús Contreras (Hrsg.): Identidad étnica y movimientos indios, Madrid 1988, S. 81-94, hier S. 91.

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Das ist aber noch nicht alles: Darüber hinaus müsse man auch tatsächlich die durch eine radikale Ablehnung des Westens gekennzeichnete Position der Indios einnehmen: »Der Westen wird rundum abgelehnt [...] Der Widerspruch zwischen Indio und Westen stellt das Problem und seine Lösung außerhalb der westlichen Zivilisation [...] Die Ablehnung des Westens kann nicht partiell und selektiv, sondern muß absolut sein, weil jede Zivilisation ein zusammenhängendes Ganzes ist, deren Teile einander gegenseitig ergänzen und stützen.«16 Nach Bonfil Batalla ist »das eigentliche Argument [...] vor allem ein moralisches: es geht um die ethische Überlegenheit der indianischen Kultur«: »Aufgrund der moralischen Überlegenheit des Indio relativieren sich die om Westen in Anspruch genommenen Errungenschaften, die überwiegend materieller Art und von den Zwecken verseucht sind, denen sie dienen. Aus dieser Sicht kann man die indianischen Produktionsweisen und Technologien neu bewerten, die durchaus mit den westlichen konkurrieren können und ihnen sogar überlegen sind, wenn man sie in ihrem jeweiligen ethisch-zivilisatorischen Kontext vergleicht und nicht nur anhand ihrer jeweiligen Produktivität. Die von der präkolonialen Zivilisation geleisteten Fortschritte in der Landwirtschaft, der Astronomie, der Medizin, dem Städtebau, den Künsten usw. lassen sich voll und ganz zurückgewinnen; sie sind nicht untergegangen, wie der Kolonialherr behauptet und wünscht, sondern schlummern tief in der Volksseele und werden im richtigen Moment, wenn die Befreiung errungen ist, wieder zum Leben erweckt werden.«17 (b.2) Stutzen der Hörner des Dilemmas Die Alternative des Stutzens der Hömer des Dilemmas hat eine recht große Anhängerschaft, auch unter den Führern der indianischen Bewegungen. Selbst wenn man sich der These von Aguirre Beiträn anschlösse, wonach die nationale Einheit gewährleistet werden müsse, könne man daraus - so 16 Guillermo Bonfil Batalla: »Aculturación e Indigenismo: la respuesta india«, in: José Alcina Franch (Hrsg.): Indianismo e indigenismo en América, Madrid 1990, S. 189-209, hier S. 193. 17 Ebd., S. 196f.

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heißt es etwa bei Héctor Díaz Polanco - nicht auf »die historische Notwendigkeit einer bestimmten sozio-kulturellen Einheitlichkeit« schließen: »[...] der nationale Charakter des politischen Projekts darf die wichtige Frage der historischen Rechte der ethnischen Gruppen nicht verwischen oder aufheben oder zu einer rein rhetorischen Angelegenheit machen. Er muß vielmehr eine sehr energische, fast fanatische Einforderung der Rechte aller sozio-kulturellen Gruppen beinhalten.«18 Díaz Polanco schlägt daher als Lösung eine »umgekehrte Diskriminierung« vor, mit deren Hilfe die indianische Bevölkerung dem Rest der Bevölkerung gleichgestellt werden soll: Man müsse »für bestimmte, historisch unterdrückte Gruppen >PrivilegienPrivilegienNationalkultur< geht.«27 Es gehe vielmehr darum, so Stavenhagen weiter, »die kulturelle Entwicklung dieser Gruppen zu fördern und zu stärken«. Manche Indioführer sind offenbar auch der Meinung, das Dilemma ließe sich dadurch umgehen, daß man im Rahmen einer nationalen Gesellschaft 23 24 25 26 27

Ebd., S. 19. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33.

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seine ethnische Identität zwar behält, aber einige Elemente von Modernität in sie aufnimmt. In der im Juli 1979 veröffentlichen Deklaration von Temoaya etwa wird kultureller Pluralismus und die Bewahrung der indianischen Kulturen gefordert; zugleich heißt es dort aber (unter Punkt 4): »Die gesamte moderne Technologie, die die Indios für ihr wirtschaftliches und soziales Fortkommen brauchen, muß ihnen rasch zur Verfügung gestellt werden. Technologische und wissenschaftliche Abhängigkeit ist ein Hindernis für unsere Befreiung.« 28 Bedingung für den Technologietransfer soll dabei seine Funktionalität sein. Weiter heißt es nämlich: »Wir warnen unsere Genossen auch vor der Einführung unnötiger Technologien, die wir nicht wirklich kontrollieren können und die unserem Prozeß nicht dienlich sind [...].« Und in der Deklaration von Oaxtepec vom Juni 1979 heißt es: »Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß die Erkenntnisquelle, auf die wir zurückgreifen müssen und von der wir uns niemals hätten entfernen dürfen, die Familie, die indianische Gemeinschaft sein muß; denn in ihr liegt der geheime Schlüssel zum Überleben, die traditionelle indianische Erziehung, aus der wir unsere Erkenntnisse ziehen müssen, um nicht länger Objekt zu sein, um zum Subjekt unserer eigenen Geschichte zu werden, zum Gestalter unseres eigenen Schicksals.«29 Was die Wissenschaft betrifft, gibt es in demselben Dokument auch eine interessante Bemerkung zum Mathematikunterricht: daß nämlich »zuerst die indianische Mathematik und danach erst die Mathematik der westlichen Kultur« gelehrt werden solle.30 Auf dem ersten Interamerikanischen Indianer-Kongreß, der 1940 in Pátzcuaro stattfand, wurde u. a. folgendes gefordert: »[•••] c) Gleiche Rechte und Chancen für alle Gruppen der amerikanischen Bevölkerung. 28

Vgl. zu diesem Dokument Guillermo Bonfil Batalla (Hrsg.): Utopía y Revolución - El pensamiento político contemporáneo de los indios en América Latina, México 1981, S. 388ff.

29

Ebd., S. 401.

30

Ebd., S. 402.

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[...] e) Erleichterung des wirtschaftlichen Fortkommens und der Anpassung und Nutzbarmachung moderner technischer Mittel und universeller Kulturgüter für die Indio-Gruppen. f) Jegliches auf die indianische Gemeinschaft gerichtete Handeln soll an die Zustimmung der Gemeinschaft gebunden sein.«31 Letztlich ist kaum nachzuvollziehen, wie die dreifache Forderung in die Praxis umgesetzt werden könnte, zugleich (a) die indianischen Kulturen zu bewahren (was den Verzicht auf westliche Technik und Wissenschaft voraussetzen müßte), (b) einen Technologie- und Wissenschaftstransfer vorzunehmen und (c) den Indios die Kontrolle dieser Technologien zu ermöglichen. Derartige Einwände stellen allerdings für Bonfil Batalla offenbar kein Problem dar, er beantwortet sie folgendermaßen: »Es wird immer Leute geben, die sich darin gefallen, mit Hilfe einer Menge von Zitaten Unstimmigkeiten in irgendwelchen historischen Daten nachzuweisen, oder denen es große Befriedigung verschafft, wenn sie auf logische Inkonsistenzen, Vereinfachungen und fehlerhafte Begriffsbildungen verweisen können [,..].«32 Was er dabei übersieht, ist, daß es hier nicht bloß um irgendeine psychische Befriedigung durch die Entdeckung von Widersprüchen, sondern um die Frage der Gültigkeit von Argumenten geht, die ja immerhin beanspruchen, praktische Lösungen vorzugeben. Gerade deswegen muß man sie ernst nehmen und etwa auf ihre logische Konsistenz hin prüfen. Es scheint daher geboten, die mit den Zitaten angedeuteten Vorschläge zur Überwindung des Dilemmas etwas näher zu betrachten.

31 Vgl. Rodolfo Sta venhagen (Anm. 1), S. 107. 32 Ebd., S. 35.

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2. Kritische Analyse der Vorschläge zur Überwindung des Dilemmas (a) Zieht man die Situation der Indiovölker in Mexiko einerseits und die Voraussetzung für eine Modernisierung andererseits in Betracht, dann läßt sich die optimistische Version von Margarita Nolasco Armas, die die Existenz eines Dilemmas bestreitet, kaum nachvollziehen. Und der Gedanke an zwei getrennte Republiken ist im heutigen Mexiko nicht nur deswegen undurchführbar, weil dort seit Jahrhunderten ein Prozeß der Mestizierung stattgefunden hat, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß die Indiogemeinschaften auf dem mexikanischen Territorium weit verstreut leben und keine »räumliche Kontinuität« besteht. 33 Vor allem aber berücksichtigt dieser Gedanke nicht, daß der hier zugrundegelegte Bezugsrahmen des Problems ja gerade der ist, daß es einen Staat gibt, der auf seinem gesamten Territorium ein System repräsentativer Demokratie etablieren will. Im übrigen gab es unter ethischen Gesichtspunkten schon zu Beginn der Kolonialzeit keinerlei akzeptable Rechtfertigung für die Einrichtung zweier getrennter Republiken, da damit »[...] eine Rassenschranke [errichtet wird], die die Indios von den Europäern aus biologischen Gründen trennt - was allerdings nicht heißen soll, daß die herrschende Ideologie die Fakten nicht so hinstellen würde, als beruhe dies auf Unterschieden in der Religion, der Zivilisiertheit, der Verständigkeit oder der Bildung, so wie es auch in anderen Formen von Rassismus gang und gäbe ist.« 34 (b. 1.1) Was die Position betrifft, die den Anspruch auf eine völlige Homogenität im Sinne der Weißen oder Mestizen durchsetzen will, so wird sie mehr unterstellt als tatsächlich vertreten. Eine radikale Version dieser Position wurde etwa von Bonfil Batalla formuliert, bei dem es heißt: »Das Ideal der Erlösung des Indios wird - wie bei Gamio - zur Negation des Indios. Ziel des Indigenisten ist es, brutal ausgedrückt, das Verschwinden des Indios zu erreichen [...] wie immer die zu 33

Vgl. José del Val (Anm. 1). S. 30. Wie Gonzalo Aguirre Beiträn (Anm. 12, S. 292) feststellt: »In Mexiko sind dem unverdorbenen Tarahumara, der vermeintlich bis in jüngste Zeit von westlichem Einfluß völlig unberührt war, Lebensformen und Weltauffassungen eigen, die zu einem großen Teil aus der Kolonialzeit stammen und sich von den ursprünglich indianischen stark unterscheiden [...] Solche Beispiele zeigen, daß noch nicht einmal die wildesten Völker der Mestizierung entgehen.«

34

Ebd., S. 49.

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bewahrenden Werte aussehen mögen: der Indio soll >integriert< werden, und >Integration< [...] ist hier nicht als die Herstellung bestimmter Beziehungsformen zwischen den Indios und dem Rest der globalen Gesellschaft zu verstehen, [...] sondern als völlige Assimilation, als Verlust seiner ethnischen Identität, als vollständige Eingliederung in das soziale und kulturelle System des mestizischen Teils Mexikos [...].«35 Der Wahrheit zuliebe ist dazu zu sagen, daß die Darstellung, die andere Autoren - etwa Luis Villoro36 - von der Position des von Bonfil Batalla genannten Manuel Gamio geben, erheblich differenzierter ausfällt und in vieler Hinsicht akzeptabel scheint.37 Ich habe hier die von Bonfil Batalla formulierte radikal negative Version angeführt, damit ganz deutlich wird, daß eine Homogenisierung im Sinne der Weißen bzw. Mestizen jedenfalls nicht ohne weiteres eine ethisch akzeptable Lösung des mexikanischen Dilemmas sein kann. So, wie sie von ihren Gegnern dargestellt wird, würde sie die völlige Vernichtung nicht nur der indianischen Gemeinden, sondern auch der individuellen Persönlichkeit des Indios bedeuten. (b. 1.2) Betrachten wir nun die entgegengesetzte Position, die von der Überlegenheit der indianischen Lebensformen und ihrer technischen Verfahren ausgeht. Einer der Bereiche, in denen sich die These am besten auf ihre Wahrheit oder Falschheit prüfen läßt, ist sicher der Bereich der Medizin.38 Da etwa Bonfil Batalla die Überlegenheit der indianischen Medizin bzw. die Tatsache, daß die Krankheiten der Indios >westliche< Ursachen haben, 39 unterstreicht, bietet es sich an, diesen Punkt näher zu beleuchten. Stimmt man zu, daß das Gesundheitssystem mit dem gesellschaftlichen eng verbunden ist und daß beide Ausdruck der jeweiligen Kultur sind, dann 35 Vgl. Guillermo Bonfil (Anm. 14), S. 151-176. hier S. 154f. 36 Vgl. Luis Villoro: Los grandes momentos del indigenismo en México, México 1979, S. 193ff. 37 Ebd., S. 199 und 201: »Gamio versucht, die beiden Extreme [die vollige Bewahrung des indianischen Lebens und seine Verdrängung durch >westliche< Formen, E.G.V.] zusammenzubringen, ohne sich ganz auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Seine Lösung sieht je nach dem betreffenden Kulturgebiet unterschiedlich aus [...] Die Lösungen für die Antinomie sind also von Fall zu Fall verschieden; immer aber zielen sie darauf ab, das Gleichgewicht zwischen zwei Anforderungen zu halten: nämlich der Respektierung der indianischen Persönlichkeit und dem Bedürfnis, sie voranzubringen.« 38 Vgl. Guillermo Bonfil Batalla (Anm. 16), S. 203. 39 Ebd., S. 199.

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ist es sicher nicht uninteressant, einige Daten über den Zustand der medizinischen Versorgung und das Krankheitsverständnis bei verschiedenen Ethnien zu betrachten.40 Wie Aguirre Beltrán bemerkt,41 stellt der Arzt eine sehr viel größere »Bedrohung« für die traditionellen Sitten dar als etwa der Ingenieur oder der landwirtschaftliche Experte; schließlich verfügt der Arzt über Kenntnisse und Techniken, die in direkte Konkurrenz zu den traditionellen Kenntnissen und Techniken insbesondere von Magiern und Medizinmännern treten. Der Arzt ist also ein Techniker mit indianischen Konkurrenten. Die Auswirkungen neuer medizinischer Techniken lassen sich umso besser erkennen, je isolierter ein Volk ist. Ein Beispiel dafür war bis zur Mitte dieses Jahrhunderts die Gemeinde Maya Tzeltal in Chiapas. Die folgenden Angaben stützen sich auf die Untersuchungen von Robert C. Harman 42 Sie beziehen sich auf den Ort Yochib, in dem seit 1944 zunächst protestantische, später katholische Missionare tätig waren. Bis zum Eintreffen dieser Missionare herrschte die Vorstellung, es gebe vier Hauptursachen für Krankheiten: Zauberei,43 Verlust der Seele, Erschrecken (man sollte zum Beispiel vermeiden hinzufallen und sich möglichst nicht aus dem bekannten Gebiet hinausbegeben)44 und Götterwille. Für die Diagnose einer Krankheit wandte man sich an den pik k'ab'al oder »pulsfühlenden Diagnostiker«, der das Handgelenk des Patienten nahm, um den Rhythmus des Pulsschlags festzustellen. In Yochib war man der Meinung, Krankheiten hätten überwiegend volitiven Charakter. Man dachte also, wenn jemand erkranke, geschehe dies, weil jemand anderes beschlossen habe, ihn krank zu machen, oder weil die Person selbst es so gewollt habe.45 Eine durch Zauberei hervorgerufene Krankheit sei im übrigen in dem Moment geheilt, in dem der pik k'ab'al den Namen des schuldigen Zauberers ausspreche. Es sei aber auch möglich, daß die Krankheit als Strafe für 40

Zur sozialen Bedeutung der Krankheit vgl. George M. Foster: Las culturas tradicionales y los cambios técnicos, México 1968, S. 241ff.

41

Vgl. Aguirre Beltrán: »El rol de la medicina en las regiones de refugio«, in: Homenaje a Juan Comas en su 65 aniversario, México 1965, Bd. 1, S. 23-77.

42

Vgl. Robert C. Harman: Cambios médicos y sociales en la comunidad Maya Tzeltal, México 1974.

43

Der Glaube an einen Kausalzusammenhang zwischen Zauberei und Krankheit hat in einigen Regionen Mexikos die Bekämpfung des Paludismus behindert. Da man zur Behandlung dieser Krankheit Blutproben nehmen muß, haben sich viele Indios nicht behandeln lassen, weil sie glauben, »ihr Blut könnte für Zaubereien und Verhexungen des Opfers benutzt werden [...]«; vgl. George M. Foster (Anm. 40), S. 252.

44

Vgl. Harman (Anm. 42), S. 122.

45

Ebd., S. 80.

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irgendein von dem Kranken begangenes Unrecht ausbreche: »die Rechtfertigung der Krankheit war ein entscheidender Faktor«.46 Wollte eine Krankheit nicht weichen, mußte man sich an die uuletik, die Spezialisten für Verhexungen, wenden. Im allgemeinen nahm man zwei von ihnen, denn es bestand ja immer die Gefahr, daß einer von ihnen selbst der Schuldige war. Zweck der Behandlung war es, das Fehlverhalten herauszufinden, das die Krankheit verursacht hatte. Einer der uuletik fühlte den Puls des Patienten, um das Blut zu »hören«, während er ihn nach den begangenen Sünden fragte; dann wiederholte der zweite die Prozedur. Dabei sprachen sie die ganze Zeit eifrig dem Rum zu, um sich Mut zu machen. Die Zeremonie konnte mehrere Stunden dauern, und damit der Patient die gleiche Sünde nicht noch einmal begehen würde, schlug ihn einer der beiden uuletik mit einer Lederpeitsche. Für Erkrankungen der Seele dagegen versicherte man sich der Hilfe eines Gebetsspezialisten, der die Seele zum Kranken zurückholen sollte. Ein anderes in Yochib praktiziertes Verfahren bestand darin, daß zu Beginn des Behandlungsprozesses ein Freund des Kranken aufgefordert wurde, die schmerzende Stelle so lange und so fest zu reiben, bis sie zu bluten anfing. 47 Nachdem die Missionare ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, nahm die Bedeutung der Zauberer erheblich ab, und die Mehrheit der Indios - vor allem die Jungen - zogen die Behandlung mit der >westlichen< Medizin vor 48 1952 richtete das Nationale Indio-Institut eine medizinische Station in Yochib ein, und zum ersten Mal wurde ein Projekt zur Gesundheitsvorsorge in Yochib durchgeführt.49 Dabei ist der Hinweis interessant, daß der Begriff der Präventivmedizin der indianischen Krankheitsauffassung widersprach: Schließlich kann man, wenn Krankheit ihren Ursprung im Willen eines höheren Wesens hat, im Grunde zu ihrer Prävention gar nichts tun. 50 Berücksichtigt man nun, daß Zauberer in der gesellschaftlichen Organisation eine wesentliche Rolle als mit fast übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattete Wesen und als Stabilitätsfaktoren spielten, denen im eigenen Interesse (aus beruflichen Gründen) daran liegen mußte, abrupte gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu verhindern, dann läßt sich daraus un46 47 48 49 50

Ebd., S. 82. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Ebd., S. 125. Ebd., S. 166.

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schwer ableiten, daß die Einführung der >westlichen< Medizin zu erheblichen Änderungen in der Weltsicht und in den sozialen Beziehungen in dieser Gemeinde geführt haben muß. Nach Harman wandelten sich die Auffassung von Raum und Zeit und von der Beziehung des Menschen zur Natur, es entstand ein viel größerer Individualismus, und die Autonomie der »Kleinfamilie« wuchs.51 So stellt Harman fest: »Die traditionellen Rollen des Medizinmannes gibt es als Behandlungsalternativen noch immer [...] Aber die alten Führer sind nicht in der Lage, die alten Verhaltensnormen auch wirklich durchzusetzen.« 52 Auch Bonfil Batalla unterstreicht die enge Beziehung zwischen Kultur und medizinischer Behandlung: »Bei der Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit läßt sich der Gegensatz deutlich erkennen: die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit entsprechen selbst schon einem besonderen Verständnis vom Menschen und den guten und bösen Kräften, die ihm nützen oder schaden können. Die Anerkennung der Legitimität eines Spezialisten und die konkrete Art und Weise der Arzt-PatientBeziehung, die subjektive Einstellung zu den symbolischen und materiellen Rezepten, die der Spezialist jeweils zur Wiederherstellung der Gesundheit verschreibt, [...] all dies sind Einstellungen, die aufs engste mit der ethnischen Identität verbunden sind, da sie die Teilhabe an der Praxis einer gemeinsamen Kultur voraussetzen, die den spezifischen Weisen, in denen sich die Gesundheit wiedererlangen läßt, erst Sinn verleiht und sie gegenüber andersartigen medizinischen Praktiken legitimiert, die in anderen Kulturen legitim und sinnvoll sind.«53 Dies ist zwar richtig; aber es geht hier ja gerade um die Frage, ob man zugunsten der Bewahrung einer bestimmten kulturellen Identität auf die Einführung medizinischer Verfahren verzichten darf (oder muß), die zwar das soziale Gefüge verändern, die aber zur Verlängerung des Lebens und 51

Ebd.. S. 171.

52

Ebd., S. 125.

53

Vgl. Guillermo Bonfil Batalla (Anm. 15), S. 90.

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zur Wiederherstellung der Gesundheit beitragen.54 Letztlich geht es um einen Konflikt zwischen ethnischer Identität und individuellem Überleben. Daß erstere ethisch gesehen Vorrang vor letzterem haben soll, leuchtet mir nicht ein, und die in Yochib bewirkte Entwicklung scheint mir im wahrsten Sinne des Wortes »heilsam«: »Früher gab man beispielsweise Geld aus, um für die Anführer des Clans oder der Sippe Schnaps zu kaufen; heute wird dieses Geld benutzt, um die medizinische Behandlung für die kranke Frau oder das kranke Kind zu bezahlen.«55 In diesem Zusammenhang scheint also die Behauptung von Bonfíl Batalla, daß die indianische Zivilisation »ethisch überlegen« sei, wenig überzeugend. Es handelt sich bei dieser Behauptung offenbar um »umgekehrten Ethnozentrismus«, der die indianische Überlegenheit anhand einer »manichäischen Auflistung« von Werten der indianischen Zivilisation (Nüchternheit, Liebe, Ehrlichkeit) und den entgegengesetzten Merkmalen der (sogenannten) »Westlichkeit« (Egoismus, Betrug, Haß) begründen will.56 Ich denke daher, es ist angebracht, die Alternative (b.1.2) ad acta zu legen. (b.2) Damit bleibt nur noch die Alternative, die Horner des Dilemmas zu stutzen. Das Problem ist hier, daß es bei den schon vorgestellten Versionen von Díaz Polanco und Stavenhagen so aussah, als könnte dieses Stutzen ganz »unblutig« und ziemlich einfach stattfinden, ohne dabei die indianischen Grundstrukturen anzutasten. Leider ist das aber nicht der Fall. Wie ich bei der vorigen Alternative die Medizin als Beispiel benutzt habe, um die Unhaltbarkeit der Alternative zu zeigen, will ich mich jetzt 54

Manuel Gamio: Consideraciones sobre el problema indígena, México 1948, S. 77ff., war dafür, die indianischen Medizinmänner nicht zu brüskieren, sondern sie allmählich an die westliche Wissenschaft heranzuführen, um ihren psychologischen und sozialen Einfluß nicht abrupt zu beenden. Wie weit dies in der Praxis tatsächlich ohne hohe Kosten für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit möglich ist, ist eine Frage, die jedenfalls nicht ausgeblendet werden darf. Ich selbst neige zu der Ansicht, daß ein (durchaus abrupter) Verlust des Einflusses von Medizinmännern und Zauberern vorzuziehen ist, wenn etwa die Bewahrung dieses Einflusses die erfolgreiche Durchführung von Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge verhindern würde.

55

Harman (Anm. 42), S. 172.

56

Vgl. Héctor Díaz Polanco (Anm. 13), S. 57. In der Resolution der Arbeitsgruppe n des Solidaritätstreffens mit der Gemeinschaft der Purépecha von Tarejero, Kreis Zacapu, Michoacán, heißt es: »Unsere indianische Kultur erweist sich als voll von grundlegenden Werten: Solidarität, Respekt, Anständigkeit, Nüchternheit, Liebe und vor allem das wahre moralische Argument, im Gegensatz zur modernen westlichen Kultur, die gegründet ist auf Egoismus, Lug und Trug, unstillbare Gier nach materiellen Gütern, Haß...»(vgl. Mejia Pifleros/Sarmiento Silva (Anm. 1), S. 150).

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auf den Fall der Autonomie der Familie beziehen, um deutlich zu machen, welche Kosten die von Díaz Polanco vorgeschlagene »umgekehrte Diskriminierung« oder die von Stavenhagen und manchen Indioführern vertretene Chancengleichheit für Indios und Mestizen mit sich bringen. Es gibt eine interessante Untersuchung von Lisandro Cruz Ponce über die Frage der Vereinbarkeit von nationalem und indianischem Gemeinderecht, in der der Autor der traditionellen, prähispanischen indianischen Familienorganisation, die er für »wohlorganisiert« und von »hohem moralischem Wert« erachtet, besondere Aufmerksamkeit widmet.57 Seltsamerweise beklagt er einerseits, daß diese Familienformen von den »abhängigen Regierungen Amerikas« rechtlich nicht anerkannt wurden,58 gibt aber andererseits zu, daß das gewohnheitliche Familienrecht doch »von überholten Sitten wie Polygamie, Brautpreis, Dienstleistungsehe, Abhängigkeit der Ehefrau und anderen«59 bereinigt werden müßte. Wenn es aber stimmt, daß »man zu der Schlußfolgerung kommen kann, daß das Sittenrecht, wie es ganz primitiv auf unserem Kontinent existierte, in seinen Grundprinzipien in allen indianischen Gemeinden unseres Territoriums weiterlebt,«60 daß zu den überlebenden Eigenheiten der indianischen Familie die Polygamie und die allumfassende Gewalt des männlichen Familienoberhauptes über alle Mitglieder des Familienclans gehört61 und daß »die absolute Autorität der Eltern bei der Wahl des Ehepartners zu Konflikten führt, weil sich die Frauen, wenn sie mit jemandem verheiratet werden, den sie gar nicht kennen, den Schlägen ausgesetzt sehen, die ihnen der von den Eltern ausgewählte Ehemann versetzt«,62 dann ist kaum zu verstehen, worin der »hohe moralische Wert« dieser Organisation bestehen soll. 57

Vgl. Lisandro Cruz Ponce: »La organización familiar indígena«, in: Cuadernos del Instituto de Investigaciones Jurídicas de la Universidad Nacional Autónoma de México (México) 3:7 (Jan.-April 1988) S. 175-224, hier S. 175.

58

Ebd.

59

Ebd. Stavenhagen (Anm. 1), S. 309, gibt an, daB es bei einigen indianischen Gruppen in Mexiko die Polygamie noch immer gibt.

60

Lisandro Cruz Ponce (Anm. 57), S. 180.

61

Ebd., S. 207 und 213.

62

Robert S. Ravicz: Organización social de los mixtéeos, México 1980, S. 143, zitiert nach Cruz Ponce (Anm. 57), S. 191.

Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: M e x i k o

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Cruz Ponce bemerkt ganz richtig, daß das indianische Familiengewohnheitsrecht, wenn man den indianischen Familien nur ihre anachronistischen Sitten abgewöhnen könnte, »alle Grundelemente jedes in der heutigen Welt geltenden Familienrechts«63 enthalten würde. Das ist jedoch trivial: Wenn man einer Institution ihre Eigenarten nimmt, dann wird sie damit notwendigerweise anderen Institutionen mit gleichen Funktionen ähnlich. Einmal angenommen, ein solcher Prozeß der Ausschaltung von Eigenarten habe stattgefunden. Von moralischer Überlegenheit kann man dann selbstverständlich nicht mehr sprechen. Aber man könnte vielleicht glauben, daß die Einführung eines Systems, das den Indianern Chancengleichheit im Rahmen ihrer nationalen Gesellschaft verschafft, die Beibehaltung einer gewissen Autonomie der Familie gestattet, die die Bewahrung zumindest einiger sekundärer Eigenarten der indianischen Familie gewährleisten könnte. Versucht man jedoch, die beiden Komponenten, die in der Regel als grundlegend für die Chancengleichheit angesehen werden - nämlich das Leistungs- oder Qualifikationskriterium und das Kriterium der Gleichheit der Lebenschancen - , mit der Autonomie der Familie zu kombinieren, dann führt dies, wie James Fishkin64 überzeugend herausgearbeitet hat, zu einem Trilemma bei der Wahl zwischen den folgenden drei Prinzipien: »Qualifikationsprinzip (merit): Es soll weitgehende Verfahrensgerechtigkeit bei der Bewertung von Qualifikationen für die verschiedenen Positionen und Ämter geben. Gleichheit der Lebenschancen: Die Aussichten von Kindern, eines Tages bestimmte Positionen in der Gesellschaft einzunehmen, dürfen nicht systematisch und signifikant von ihnen zufällig angeborenen Merkmalen abhängen. Autonomie der Familie: Die innerhalb einer gegebenen Familie bestehenden Konsensbeziehungen, die die Entwicklung der Kinder bestimmen, dürfen nicht durch erzwungene Eingriffe beeinträchtigt werden, außer zu dem Zweck, den Kindern die wesentlichen Voraussetzungen für eine mündige Teilnahme an der Gesellschaft zu sichern.«65

63

Cruz Ponce (Anm. 57), S. 191.

64

Vgl. James S. Fishkin: Justice, Equal Opportunity and the Family, New Haven/Londres 1983, sowie ders.: »Liberty versus Equal Opportunity«, in: Social Philosophy anpaßtWas soll ich tun?< nur dann antworten, wenn ich zuvor die Frage >Zu welcher Geschichte oder zu welchen Geschichten glaube ich zu gehören?< beantworten kann.« 85 »Die Vergangenheit meiner Familie, meiner Stadt, meines Stammes, meiner Nation hinterläßt mir eine Vielfalt von Schulden, Erbstücken, berechtigten Erwartungen und Verpflichtungen. Dies ist der Istbestand meines Lebens, mein moralischer Ausgangspunkt. Es ist ein Teil von dem, was meinem Leben seine eigene moralische Besonderheit verleiht. Dieser Gedanke wird aus der Sicht des modernen Individualismus sicher seltsam oder gar überraschend scheinen. Vom Standpunkt 84

Vgl. Michael}. Sandel: Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S. ISO.

Emesto Garzón Valdés

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des Individualismus bin ich, was ich selbst zu sein wähle [...] Der junge Deutsche, der glaubt, nach 1945 geboren zu sein bedeute, daß das, was die Nazis mit den Juden getan haben, für seine Beziehung zu den heutigen Juden keine Bedeutung habe, zeigt die gleiche Einstellung, wonach das Selbst von seinen Rollen und seinem Status in der Geschichte zu trennen ist [...] Der Unterschied zur narrativen Vorstellung vom Selbst ist klar. Denn die Geschichte meines Lebens ist immer eingebettet in die Geschichte der Gemeinschaften, von denen ich meine Identität erhalte. Ich bin mit einer Vergangenheit geboren; und wollte ich versuchen, mich auf individualistische Weise von dieser Vergangenheit zu lösen, würde ich meine gegenwärtigen Beziehungen entstellen. Der Besitz einer historischen Identität und der Besitz einer gesellschaftlichen Identität ist dasselbe.«86 Die kommunitaristische Position scheint mir - vor allem, was die angebliche Verbindlichkeit des gesellschaftlichen Bezugsrahmens betrifft - kaum akzeptabel. Damit wird nämlich der Gemeinschaft ethisch Vorrang vor dem Individuum eingeräumt, denn sie ist es, die - nach Sandel - die individuelle Identität definiert bzw. - nach Taylor - die »autoritätsbeladenen Horizonte« bestimmt, so daß man - nach Maclntyre - nur wissen kann, was man tun soll, wenn man weiß, zu welcher story (d. h. zu welcher Gemeinschaft) man gehört. Konsequent zu Ende gedacht würde dies bedeuten, daß man gegenüber dem gemeinschaftlichen Rahmen, in den jeder von uns ganz zufälligerweise hineingeboren wird, immer nur eine resigniert konservative Haltung einnehmen kann. 87 Gerade die liberale Kantische Position unterstreicht aber die Möglichkeit, die von der Gesellschaft, in der man lebt und agiert, vorgegebenen Verhaltensmaßstäbe einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ohne daß dies den Verlust des Selbst bedeuten würde. Zu diesem Zweck wird als Richtlinie ein normativer Begriff von der individuellen Autonomie vorgeschlagen, der aller empirischen Details entkleidet ist, damit der gesetzgeberische Wille eines derart autonomen Individuums universelle Geltung haben kann.88 85

Vgl. Alasdair Maclntyre (Anm. 79). S. 201.

86

Ebd., S. 205.

87

Maclntyre wäre allerdings wohl nicht bereit, dies zuzugeben, da er sagt, es gebe keinen Grund, die »moralischen Grenzen« der Gemeinschaft zu respektieren; vgl. ebd.

88

Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. IV, Darmstadt 1956, S. 65ff.

Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Mexiko

143

Auch diese universelle Geltung des Moralgesetzes muß zu Zweifeln an der kommunitaristischen Position führen. Wer der Gemeinschaft moralische Priorität einräumt, der muß aus Gründen der logischen Konsistenz auch die räumlich-zeitliche Relativität aller moralischen Urteile behaupten und als letzte Instanz für solche Urteile die Hegeische Sittlichkeit anerkennen. Nur deswegen kann Michael Walzer sagen: »[...] Die Gerechtigkeit wurzelt in unterschiedlichen Auffassungen von Orten, Ehren, Werken, und überhaupt von Dingen aller Art, die eine gemeinsame Lebensform ausmachen. Die Zerstörung solcher Auffassungen ist (immer) ein Unrecht.«89 Wenn dies aber so wäre, dann wäre nicht zu verstehen, auf welchen moralischen Boden sich ein Individuum begeben könnte, das gemäß der von Maclntyre ins Auge gefaßten Möglichkeit die »moralischen Grenzen« seiner eigenen Gemeinschaft überwinden wollte. Von einem ethischen Standpunkt aus läßt sich im übrigen kaum nachvollziehen, warum es unmöglich sein sollte, verschiedene Lebensformen hinsichtlich ihrer moralischen Qualität in eine Rangfolge zu bringen.90 Es leuchtet mir nicht ein, daß man »unrecht« handelt, wenn man die Auffassungen einer Gemeinschaft »zerstört«, in der z. B. die Hautfarbe das wichtigste Kriterium für die Verteilung von Gütern und Lasten ist oder in der Frauen sich mit den »Schlägen, die ihnen ihre Ehemänner versetzen«91, abfinden sollen. Eine schwächere Version der Bedeutung des gemeinschaftlichen Rahmens für die individuelle Identität ist die von Will Kymlicka, der die Gemeinschaft als den Rahmen, in dem man seine Wahlen und Entscheidungen treffen muß (context of election) und damit als ein Grundgut - auch im Sinne liberaler Autoren wie John Rawls oder Ronald Dworkin - betrachtet.92 89

Michael Walzer: Spheres of Justice - A Defense cf Pluralism and Equality, New York 1983, S. 314: »Wir sind alle kulturschaffende Geschöpfe; wir errichten und bewohnen sinnbewehrte Welten. Da es aber nicht möglich ist, diese Welten in eine Rangordnung zu bringen und sie nach ihrem Verständnis von sozialen Gütern anzuordnen, werden wir den tatsächlich existierenden Frauen und Männern dann gerecht, wenn wir ihre je partikularen Schöpfungen respektieren.«

90

Die Frage nach der ethischen Vergleichbarkeit von Kulturen hat eine lange Geschichte. Tzvetan Todorov hat diese anhand der Positionen von Montaigne, Montesquieu und Condorcet auf brillante Weise nachgezeichnet: vgl. T. Todorov: »El cruzamiento entre culturas«, in: T. Todorov u. a.: Cruce de culturas y mestizaje cultural, Madrid 1988, S. 9-31. David Gauthier liefert in Morals by Agreement, Oxford 1986, S. 288ff., gute Kriterien filr Urteile Uber den ethischen Rang verschiedener Kulturen.

91

Siehe oben Anm. 62.

92

Will Kymlicka (Anm. 71), S. 169.

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144

Nach Kymlicka ist es wichtig, Kulturen als »Wahlkontexte« zu sehen, weil »das jeweilige Spektrum von Optionen von unserer kulturellen Herkunft bestimmt« sei.93 Deswegen »[m]üßten sich Liberale für das Schicksal kultureller Strukturen interessieren, nicht weil diese selbst moralischen Status besäßen, sondern weil man nur dann, wenn man eine reiche und sichere kulturelle Struktur hat, ein lebendiges Bewußtsein der verfügbaren Optionen haben und deren Wert auf intelligente Weise prüfen kann. [...] [Die] Mitgliedschaft in einer Kultur bleibt ein primäres Gut, dessen Berücksichtigung ein wichtiger Teil der Gleichbehandlung von Individuen ist.«94 Hier scheint mir der Hinweis angebracht, daß der Wert eines »Wahlkontextes« - ebenso wie der einer bestimmten gemeinschaftlichen Lebensform - davon abhängt, inwieweit darin die Respektierung der Autonomie des Menschen im Kantischen Sinne berücksichtigt wird, auf deren Basis jeder einzelne eine moralisch wertvolle Identität entwickeln kann, die als solche Respekt verdient und nicht »zerstört« werden darf. Wären aber die sogenannten »Wahlkontexte« Grundgüter, wie Kymlicka behauptet, dann würden sie schon als solche den gleichen Respekt verdienen wie das Grundgut der individuellen Freiheit. Das ist aber insbesondere dann nicht zu akzeptieren, wenn der »Wahlkontext« der individuellen Freiheit widerspricht und z. B. die Sklaverei propagiert. Die »Wahlkontexte«, die die indianischen Gemeinschaften in Mexiko und allgemein in Lateinamerika bieten, zeichnen sich durch zwei wesentliche Merkmale aus: (1) Es handelt sich nicht um isolierte Kontexte, sondern sie sind in eine umfassendere nationale Wirklichkeit eingebettet. Es gilt für sie voll und ganz die Bemerkung von Thomas McCarthy: »Jene völlig isolierten und ganz und gar fremden kulturellen Einheiten, die die klassische Ethnologie zu retten hoffte, haben mit den Gegebenheiten der Interdependenz und des Austauschs in den heutigen nicht-westlichen Gesellschaften oder mit den 93 Ebd., S. 165. 94 Ebd., S. 165 f.

Ethnische Vielfalt und nationale Einheit: Mexiko

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zunehmend hybriden, synkretistischen und asynchronen Kulturen, die sie kennzeichnen, kaum etwas gemein.«95 Auch José del Val hat begründete Zweifel am Identitätsbewußtsein der indianischen Ethnien geäußert: Sie lebten auf mexikanischem Territorium »ohne jedes Bewußtsein einer gemeinsamen Identität«.96 (2) Diese indianischen Gemeinden sind nicht nur vom nationalen Kontext nicht isoliert, sondern sie sind - ganz im Gegenteil - den Auswirkungen des Einflusses anderer, wirtschaftlich und gesellschaftlich weiter entwickelter Gemeinschaften ausgeliefert. Letztere erzeugen jene wie Chandran Kukathas es genannt hat 97 - »Umweltexternalitäten«, die die Indios in eine Lage offenkundiger Vulnerabilität bringen. Infolge dieser beiden Merkmale sind die indianischen Gemeinschaften hybride Gebilde, die ihre traditionellen Lebensformen noch nicht ganz aufgegeben und die Nebenprodukte der sogenannten »modernen« Zivilisation noch nicht ganz akzeptiert haben. Jeder, der beispielsweise San Juan Chamula (Chiapas) besucht und die religiösen Zeremonien der Tzotziles beobachtet, bei denen abwechselnd einheimische Getränke dargebracht und Coca-Cola getrunken wird, gewinnt einen direkten Eindruck von dem Wandel, den die Lebensform einer indianischen Gemeinschaft inzwischen erfahren haben kann. Entscheidend ist dabei, daß, wenn der Wandel erst einmal eingetreten ist, eine Umkehr nicht mehr möglich ist und man nicht so tun kann, als wäre nichts geschehen. Manche Behauptungen von Indiofiihrern, wie etwa die der Deklaration von Temoaya vom Juli 1979, wo es einerseits heißt: »Wir sind nicht das Ergebnis eines Kolonialprozesses, sondern einer unterdrückten historischen Wirklichkeit, die niemals unterbrochen wurde und die jenseits aller kulturellen Veränderungen hinaus erhalten bleibt [...].« und andererseits im nächsten Absatz: 95

Vgl. Thomas McCarthy: »Döing the Right Thing in Crosscultural Representation«, in: Ethics 102:3 (April 1992), S. 635-649, hier S. 645.

96

Vgl. José del Val (Anm. 1), S. 30: »Die Identitätsformen, die aus dem Willen des Staates resultieren, bestimmte - in diesem Fall ethnische - Gruppierungen mit Hilfe der Institution der Höchsten Räte zu schaffen, werden sich dann als Identitätsformen untersuchen lassen, wenn sie sich niedergeschlagen, d. h. wenn sie Zugehörigkeit oder Identität erzeugt haben. Bislang existieren sie vor allem durch den Wunsch einiger Führer, den Willen des Staates und die Diskussionen unter Anthropologen.«

97

Vgl. Chandran Kukathas (Anm. 76), S. 128.

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»Wir müssen heute [...] unsere Ethnizität, unsere historische Identität zurückgewinnen [...]«98 scheinen daher nicht sehr plausibel. Jedenfalls fällt es mir schwer zu verstehen, was es bedeuten könnte, etwas zurückzugewinnen, was man gar nicht verloren hat. Schließlich ist es ja gerade der »unreine«, hybride Charakter des »Wahlkontextes«, den die indianischen Ethnien bilden, der deren Mitglieder in eine Lage bringt, in der sie den falschen Versprechungen und dem Zwang der Mitglieder der weißen bzw. mestizischen Gemeinschaft erliegen. Wenn aber der Preis für die Aufrechterhaltung der persönlichen Identität in Einklang mit dem vorgegebenen »Wahlkontext« Unterdrückung und Elend ist, dann läßt sich unschwer daraus schließen, daß mit diesem Kontext irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die »Verunreinigungen« einer von ihrer Umwelt »verseuchten« Kultur lassen sich eben nicht einfach beseitigen, um so deren »wahres Wesen« zu erhalten. Ich teile daher voll und ganz die Feststellung von Thomas McCarthy: »Der Gedanke, das Hybride oder Synkretistische herauszudestillieren, um das Authentische zu erhalten - das heißt, eine reine traditionelle Identität zurückzugewinnen - , hat jede Plausibilität, die er einmal gehabt haben mag, verloren. Im heutigen Zustand der Interkulturalisierung ist das Problem der postkolonialen Identität nicht das einer einfachen Rückgewinnung, sondern vielmehr das einer dauernden konstruktiven Verwirklichung.«99 Die Geschichte bietet zahlreiche Beispiele für Veränderungen eines »Wahlkontextes«, die die individuelle Lage der Mitglieder ethnischer oder anderer Gemeinschaften verbessert haben. Die Chronik der Emanzipation des Menschen etwa läßt sich sehr wohl als Wandel von »Wahlkontexten« verstehen; und mit der Sorge um eine größere Geltungskraft der Grundrechte, d. h. um mehr Homogenität in dem von mir vorgeschlagenen Sinne, nährt man nicht nur, wie John Gray meint, einen bloßen Mythos. Selbstverständlich kann die Aufgabe eines traditionellen »Wahlkontextes« Kosten in Form einer anfänglichen Desorientierung mit sich bringen. Bonfil Batalla hat in diesem Zusammenhang von der »Ungewißheit« ge98

Vgl. den Text dieser Erkürung in GuiUenno Bonfil Batalla (Anm. 28). S. 388-393, hier S. 394.

99

Vgl. Thomas McCarthy (Anm. 95), S. 641.

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sprochen, die das Überschreiten der »ethnischen Schranke« hervorruft, 100 und Will Kymlicka meint, daß »die Respektierung der kulturellen Zugehörigkeit der Leute und die Ermöglichung ihres Übergangs zu einer anderen Kultur nicht zwei gleichermaßen legitime Optionen sind. Der Affront, den die Minderheitsgruppen empfinden, beruht auf der Wahrnehmung einer wirklichen Schädigung.«101 Es ergibt sich jedoch - entgegen der Behauptung Kymlickas - auch unter Berücksichtigung der möglicherweise damit verbundenen Schäden und Verluste für die Gesamtbewertung ein positiver Saldo, wenn die Ablösung eines »Wahlkontextes« durch einen anderen zu einer Verringerung der Vulnerabilität führt. Wer sich den hier angestellten Überlegungen anschließt, kann wohl auch der Schlußfolgerung zustimmen, daß eine mögliche Lösung für das ethische und politische Problem, das eine pluri-ethnische Gesellschaft wie die mexikanische aufwirft, in erster Linie die Einführung zweier sich ergänzender Maßnahmen erfordert: (1) Die Sicherstellung der gesellschaftlichen und politischen Homogenität auf dem gesamten nationalen Territorium. Dies ist eine Aufgabe, die vor allem dem Staat zukommt. Man könnte diesbezüglich von einer Homogenisierungspflicht sprechen. Im Rahmen einer repräsentativen liberalen Demokratie bedeutet Homogenisierung im hier vorgeschlagenen Sinne keineswegs die Zerstörung der Autonomie des Menschen, sondern im Gegenteil die Gewährleistung von Möglichkeiten zur Meinungsäußerung in einem Umfeld, in dem die Verletzung der Grundrechte jedes Menschen ungeachtet seiner ethnischen Herkunft wirksam verboten ist. (2) Die Bereitschaft auf Seiten der Führer und Mitglieder der ethnischen Gemeinschaften, ihren jeweiligen »Wahlkontext« zu ändern, wenn dies nötig ist, um sich erfolgreich den Herausforderungen von »Umweltexternalitäten« stellen zu können, die andernfalls zu asymmetrischen Beziehungen führen. Hier könnte man vielleicht von einer Dynamisierungspflicht sprechen. 100 Vgl. Guillemio Bonfil Bauila (Anm. IS). S. 93. 101 Vgl. Will Kymlicka (Anm. 71). S. 176.

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Emesto Garzón Valdés

Beide Pflichten bringen Kosten mit sich. Die hier vorgeschlagene Version des »Stutzens der Hömer« des Dilemmas ist daher nicht so »unblutig« wie die Vorschläge von Rodolfo Stavenhagen oder Héctor Díaz Polanco. Die Homogenisierungspflicht verlangt Leistungen des Staates (man denke nur an Bildungs- oder Gesundheitsmaßnahmen), die notwendigerweise eine Umverteilung von Gütern und Lasten bedeuten - womit selbstverständlich Interessen bisher privilegierter Gruppen tangiert werden. Die Dynamisierungspflicht verlangt die endgültige Aufgabe solcher Lebensformen, die mit der uneingeschränkten Geltung der Grundrechte, wie sie die Homogenisierung erfordert, unvereinbar sind. Das heißt - um bei den Beispielen der Medizin und der Familie zu bleiben: die Medizinmänner müßten letztlich ihren Glauben aufgeben, daß Krankheiten willentlich hervorgebracht werden, und die Ehemänner müßten aufhören zu glauben, man dürfe seine Frau verprügeln; zumindest aber müßten derartige Vorstellungen aufhören, die Praxis der Lebensformen zu bestimmen. Unmöglich ist es dagegen, den Weg der vermeintlichen Rückgewinnung einer vergangenen historischen Identität gehen und zugleich die moderne Wissenschaft und Technik als »Errungenschaften der Menschheit« in Anspruch nehmen zu wollen. 102 Akzeptiert man diese Version des »Stutzens der Horner« nicht, dann bedeutet dies einerseits, daß es bei einem System bleiben wird, bei dem die repräsentative Demokratie allein im Text der Verfassung existiert und breiten Bevölkerungsgruppen der Respekt versagt wird, den sie als Menschen verdienen. Eine solche Gesellschaft müßte man wohl als obszön bezeichnen. Andererseits würde die Haltung einer ethnischen Gemeinschaft, die sich weigerte, der Dynamisierungspflicht nachzukommen, Zwang und Betrug zum Nachteil dieser Gemeinschaft selbst fördern. Eine solche Gemeinschaft müßte man selbstzerstörerisch nennen. Daß sich aber weder eine obszöne Gesellschaft noch eine selbstzerstörerische Gemeinschaft ethisch rechtfertigen lassen, muß ich nicht mit langen Argumenten begründen.

102 Vgl. die Deklaration von Temoaya (Anm. 98), S. 388.

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Manfred Mols

Westlichkeit als Herausforderung für Staat und politische Kultur in Lateinamerika Das Thema, das ich hier anspreche, ist in so gut wie keiner Hinsicht originell. Es reiht sich ein in jene Suche nach einer lateinamerikanischen Identität, über die die besten Köpfe all der Länder und Inseln zwischen dem Rio Grande und Feuerland immer wieder nachgedacht haben. Sobre la identidad iberoamericana heißt ein jüngeres Buch des großen argentinischen Soziologen und Philosophen José Luis de Imaz,1 El Pensamiento Latinoamericano eine der bedeutendsten Schriften von Leopoldo Zea.2 La formación de la conciencia americana, von der der Guatemalteke Jorge Luján Muñoz3 spricht, ist die weitere Spielform eines Themas, das man seit 500 Jahren in jenem Teil der Welt, den man schließlich Lateinamerika nannte, immer wieder in den Vordergrund stellte. Und so gut wie ohne Ausnahme ist dann eine der Leitfragen, was man mit dem Westen bzw. Europa gemeinsam habe und was nicht. Die dependenztheoretischen Richtungen in den Sozialwissenschaften oder die Befreiungstheologie sind nichts anderes als moderne Varianten einer Diskussion, die um die immer gleiche Frage nach der kulturellen Identität der eigenen Existenz mit Blick auf eine geistige, kulturelle, zivilisatorische Welt kreist, die dem eigenen, dem Lateinamerikanischen oder besser dem Mexikanischen oder dem Argentinischen oder dem Paraguayischen ein erhebliches Gepräge gegeben hat. Daß diese Diskussion in Mexiko etwas anders geführt wird als in Honduras, in Argentinien anders als in Peru oder Bolivien, soll hier nur gegenüber denjenigen erwähnt werden, die, nicht ohne Berechtigung, bei solchen Themen regelmäßig mit dem mahnenden Hinweis auf die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der lateinamerikanischen Länder und ihrer Gesellschaften kommen. 1

José Luis de Imaz: Sobre la identidad latinoamericana, Buenos Aires 1984.

2

Leopoldo Zea: El Pensamiento Latinoamericano, Barcelona 3 1976.

3

Jorge Luján Mufloz: »La formación de la conciencia americana«, in: Enrique M. Barba u. a. (eds.): Iberoamérica, una comunidad, Bd. 1, Madrid 1989, S. 411-417.

Manfred Mols

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Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist die Frage nach der Westlichkeit allerdings ein spezifisches Problem für die Auffassungen von Staat, politischer Kultur, übrigens auch von den internationalen Beziehungen Lateinamerikas geworden, eine Herausforderung mit sehr eingreifenden praktischen Konsequenzen, bei der es weniger um literarisch-akademische Feineinstellungen geht oder um die Präsentation von Autoren und Denkschulen als um Gestaltungsprozesse der politischen Systeme und deren Einfügung in die internationale Umwelt. Aus der Menge tatsächlicher Problemfelder greife ich fünf heraus, von denen ich glaube, daß sie ein enormes politisches Gewicht hatten und haben: das lateinamerikanische Entwicklungsleitbild, die systemische Zuordnung von Wirtschaft, »ziviler Gesellschaft« und Regierung, einige Akzente und Brüche im Verhältnis von gesellschaftlicher und politischer Kultur, die Form des lateinamerikanischen Auftretens im internationalen System, Fragen der internationalen Behandlung Lateinamerikas durch Dritte. Ich sollte zuvor ein oder zwei Gedanken - akademischen Ritualen entsprechend - zu dem sagen, was hier unter Westlichkeit zu verstehen ist. Ein sehr bedeutendes Buch zu dieser Frage hat der in Oxford lehrende Historiker J. M. Roberts 1985 unter dem Titel The Triumph ofthe West4 vorgelegt. Die zentrale These von Roberts heißt: Westlichkeit ist die »Idee ..., daß bewußter Wandel möglich ist«.5 Dahinter steckt die Überzeugung, daß man sein eigenes Schicksal in Staat und Wirtschaft und Gesellschaft (oder wie immer frühere Spielformen davon geheißen haben mögen) in die Hand nehmen kann, so daß schließlich eine politische und soziale Organisation neuen Entwurfs und eigenen Bedürfnissen gemäß entsteht, wie Hannah Arendt sie in feiner Nachzeichnung der Amerikanischen Revolution als »novus ordo saeclorum« bezeichnet hat. Dahinter verbirgt sich auch das weltweit ausstrahlende Phänomen der modernen Industriegesellschaft, die allenthalben als nachahmenswertes Paradigma der Moderne empfunden wird. Es hatte dies bekanntlich Karl Marx veranlaßt, im Vorwort zur ersten Auflage seines Kapitals zu schreiben: »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.« 6 Oder in den Wor4

Deutsch als Der Triumph des Abendlandes, Düsseldorf/Wien: Econ-Verlag 1986.

5 6

Ebd., S. 434. Karl Marx: ökonomische Schriften, Bd. 4 der von Hans-Joachim Lieber besorgten sieben bändigen Ausgabe. Darmstadt 1962, hier S. XIX.

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ten von Irving Louis Horowitz, desjenigen Sozialwissenschaftlers, der rund einhundert Jahre später das maßgeblichste Buch über die Abgrenzung von Erster, Zweiter und Dritter Welt schreiben sollte: »Die Dialektik der Entwicklung ist so beschaffen, daß die Transformation von Nachahmung in eine Erneuerung für die Dritte Welt essentiell ist.«7 Dies jedoch zu erreichen - ich selbst habe vor vielen Jahren den Zusammenhang von westlichem Vorbild und Entwicklung auf die Formel einer relativen systemischen »Zielsetzungsautonomie« gebracht8 - setzt ein erhebliches Maß an spezifischen historischen Vorgaben voraus. Sie fangen für diesen Westen, der hier als Paradigma auftaucht, mit der Auffassung des Individuums als Person an (jüdisches Erbe) und setzten sich fort über sehr viele Zwischenetappen, zu denen selbstverständlich die philosophische wie die wirtschaftliche und politische Aufklärung gehören, bis hin zum modernen Unternehmertum und der Auffassung von Gesellschaft als potentiell partizipativem Gebilde und vom Herrschaftsverband als sich durch spezifische Leistungen legitimierendem Sozialstaat. ad 1:

Zum lateinamerikanischen Entwicklungsleitbild als Antwort auf die »westliche« Herausforderung

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube geworden, Lateinamerika sei mit seinen Entwicklungsleistungen weitgehend gescheitert. Erdmann Gormsen hat dies in eindrucksvollen Bildern für die Städte zurückweisen können. Ginge man in die mexikanische Provinz, in die Provinz von Costa Rica, nach Patagonien oder in das ländliche Paraguay, ganz zu schweigen von Cuba, dann müßte man sich schon arg anstrengen, wenn man ein gewachsenes und in üblichen Entwicklungsindikatoren ausdnickbares Stück individueller wie kollektiver Lebensqualität leugnen würde. Ich bin weder ein Wachstumsfetischist noch jemand, der jemals an den einseitigen Ökonomismus des zeitgenössischen Entwicklungsdenkens glaubte, doch sollte ich zwei Zahlen nicht unterschlagen: Lateinamerikas Gesamtbevölkerung hat sich von 1945 bis heute mehr als verdreifacht. Sie ist von damals 145 Millionen auf jetzt gut 500 Millionen Menschen angewachsen. Gleichwohl wuchs das akkumulierte Sozialprodukt bis 1980 jährlich über viele Jahr7

Irving Louis Horowitz: Three Worlds of Development. The Theory and Practice of International Stratification, New York 1966, S. 324.

8

Manfred Mols: »Zum Problem des westlichen Vorbilds in der neueren Diskussion zur politischen Entwicklung«, in: Verfassung und Recht in Übersee 8 (1975) 1, S. 5-22.

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zehnte um durchschnittlich 5,6 % an, eine Ziffer, die im gleichen Zeitraum weder von Westeuropa noch von den USA noch von Asien (Japan ausgenommen) auch nur im Ansatz erreicht wurde.9 Dann kam freilich die große Krise der 80er Jahre, an deren Anfang ein enormes Verschuldungswachstum steht, dann ungeheure Wachstumseinbrüche, so daß die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL zu Recht von einer »década perdida«, von einem verlorenen Jahrzehnt sprach. Für die Gegenwart scheint die Talsohle der Negativentwicklung übrigens in nicht wenigen Ländern erreicht, ja bereits überschritten zu sein. Worin besteht das Entwicklungsproblem - genauer gesagt das Westlichkeitsproblem? Es besteht im Kern darin, daß man die westliche Industriegesellschaft als Entwicklungsleitbild vor sich sah, vorgelebt bekam, über alle möglichen Formen der internationalen Entwicklungsfinanzierung auch mitfinanziert bekam, ohne daß ... Ohne was denn? Gesellschaften sind wohl niemals in sich völlig stimmige Ganzheiten, in denen die Produktionsprozesse und die staatliche Administration, die Lerninhalte der Schulen und die Normen der Religionsgemeinschaften, der soziale Umgang der Menschen untereinander und die Verteilung der produzierten Güter in einem harmonischen Zuordnungsverhältnis zueinander stehen. Es gibt aber in Europa und in den USA, übrigens auch in Indien und im weiteren Asien die Überzeugung, daß es im großen ganzen eine aufeinander verweisende Angleichung von Lebensstilen und Normen und Umgangsformen gibt, die gelegentlich als großer historischgesellschaftlicher Entwurf geradezu durchzubrechen scheint, öfter aber wohl in einer Mischung aus dem entsteht, was wir als Aufklärung einerseits und als Reformismus andererseits zu bezeichnen gewohnt sind. Diese gesamtgesellschaftliche Grobabstimmung, die uns gerade in Westeuropa einigermaßen vertraut ist, hat in Lateinamerika nie richtig funktioniert, oft sogar überhaupt nicht. Es gibt dafür sehr viele Einzelbegründungen. Die aus meiner Sicht wichtigsten heißen: Lateinamerika hat sich so gut wie immer dem Irrglauben hingegeben, man könne sich beliebige Teile aus dem Zuordnungskonglomerat der modernen westlichen Gesellschaft (etwa seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts vor allem der modernen westlichen Industriegesellschaft) herausnehmen und nach gleichem Belie9

Einzelheiten be¡ Gonzalo Martner (coord.): América Latina hacia el 2000. Opciones y estrategias, Caracas 1986, S. 18f.

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ben auf andere einfach verzichten. Des weiteren: Es ist in Lateinamerika präkolumbinische indianische wie ältere spanische Traditionen stossen hier aufeinander, worauf so unterschiedliche Forscher wie Friedrich Katz, Howard Wiarda oder Claudio Veliz hinzuweisen wußten - immer ein wirkmächtiger Synkretismus der Kulturen und Lebensformen erhalten geblieben, der mit erstaunlichen Resistenzen dafür sorgte, daß nichts Altes (ich rede hier primär von den politischen Dingen) wirklich abgelegt wurde. Elemente einer modernen Westlichkeit stossen also wiederholt auf Elemente der Tradition und Beharrung, die sich ob ihrer Vitalität kaum zurückdrängen lassen.10 In den weiteren Punkten will ich dies noch etwas anschaulicher machen. ad 2:

Westlichkeit als ein spezifisches Zuordnungsverhältnis von Regierung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft

Der bolivianische Politologe Felipe Mansilla, dessen Gedanken mich auch sonst in meiner Arbeit über Lateinamerika sehr beeinflußt haben, hat über diesen Themenkomplex vor einigen Jahren ein kleines Buch veröffentlicht mit dem Titel Desarrollo y progreso como ideologías de modernización tecnocràtica.11 Das lateinamerikanische Entwicklungsdenken - so Mansilla - werde beherrscht von dem Ziel, das technologisch-ökonomische Niveau der Metropolen zu erreichen, insbesondere auch ihren Industrialisierungsgrad und ihren Lebensstandard.12 Der Ausbau eines effektiven, bürokratischen, starken Staates sei nach diesen Auffassungen eine unerläßliche Voraussetzung dazu. Es werde dabei aber übersehen, daß man sich bei diesem Leitbild von Entwicklung nicht einfach ein beliebiges Stück aus dem Kuchen herausschneiden könne, nur weil man auf der anderen Seite, wenn es um politisch-kulturelle und um soziale Aspekte ginge, fast schon pathologisch allergisch in bezug auf fremde Vorbilder reagiere. Man werde generell die These vertreten müssen, daß »die rigorose Zurückweisung >fremder< Normen auf dem Gebiet der politischen Kultur die Negation einer der wenigen ganz positiven Elemente der okzidentalen Zivilisation impliziert: die 10

Einzelheiten u. a. bei Manfred Mols: Demokratie in Lateinamerika, Stuttgart u. a. 198S; dort auch genauere Hinweise auf die einschlägige lateinamerikanische Literatur.

11

H. C. F. Mansilla: Desarrollo y progreso como ideologías de modernización tecnocràtica, La Paz 1989.

12

Hier und im unmittelbar folgenden lehne ich mich engstens an an meinen eigenen Aufsatz »Staatsverständnis, Entwicklungsleitbild und politische Kultur in Lateinamerika«, in: Josef Thesing (Hrsg.): Lateinamerika. Tradition und Modernität, Mainz 1991, S. 48-67.

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Verbindung zwischen der Industrialisierung und der Bildung des Nationalstaates auf der einen Seite, und des politischen Pluralismus, des liberal-demokratischen Denkens und des Prozesses der Säkularisation auf der anderen.« 13 Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer dem schon vorhin angedeuteten Vorwurf, daß die westlich-industriestaatliche Moderne sich nicht erreichen läßt durch das Ausblenden ihres spezifischen Zuordnungsverhältnisses von Individuum, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft und ohne die Anerkennung ihrer typischen Verhaltenswerte auch in der Politik. Man könne demgegenüber in den lateinamerikanischen Ländern - so Mansilla - das typische Produkt peripherischer Entwicklung beobachten: »ökonomischtechnische Modernität, vereint mit einem politisch-kulturellen Autoritarismus.« 14 In solchen Zusammenhängen fällt der harte Satz »Die ökonomischtechnische Modernisierung tendiert dazu, despotische Modelle der Herrschaftsbewahrung zu perpetuieren: Dschingis Khan mit dem Telegrafen.« 15 ad 3\ Akzente und Brüche im Verhältnis von sozialer und politischer Kultur Victor Alba hat einmal die recht zutreffende Formel gefunden: »Ein Charakteristikum der Geschichte Lateinamerikas im 19. Jahrhundert ist die Bemühung, einen modernen Staat zu schaffen, ohne gleichzeitig die Gesellschaft zu modernisieren.« 16 Und er kommentiert weiter: »Die offensichtliche Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens, das soziologisch gesehen einfach absurd ist, hatte zur Folge, daß Lateinamerika nach eineinhalb Jahrhunderten der Unabhängigkeit sich nicht wesentlich vom Lateinamerika der Jahre 1810-1820 unterschied, das heißt, im Grunde genommen hatte sich nichts wirklich verändert.« 17 Und nochmals und massiver: »Der Versuch, die politischen Probleme zu lösen, ohne die Sozialstruktur der Gesellschaft zu verändern, hat die Lage in Lateinamerika verschlimmert. Dies war zu Beginn der lateinamerikanischen Unabhängigkeit so und hat sich bis heute nicht geändert.« 18 Ich stimme mit dem ersten Teil der Aussage (= keine substantielle Änderung der Gesellschaft in der Periode der Unabhän13 14 15 16

Mansilla, Desarrollo, S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 64f. Victor Alba: Die Lateinamerikaner. Ein Kontinent zwischen Stillstand und Revolution, Zürich 1973, S. 94. 17 Ebd. 18 Ebd.

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gigkeit bei dem gleichzeitig fehlenden Versuch, über die formale Rezeption westlicher Verfassungen hinaus auf moderne politische Strukturen hinzuarbeiten) völlig überein. Auch feinere Betrachtungen, wie z. B. die Anerkennung der diesbezüglichen Sonderrolle Argentiniens im Zeitalter der Esteban Echeverría, Domingo Faustino Sarmiento und Juan Bautista Alberdi jener Zeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts also, ab der am Rio de la Plata in einer dann ungefähr drei Generationen währenden Phase einer der modernsten Staaten Lateinamerikas aufgebaut werden sollte - verpflichtet zu partiellen Differenzierungen, aber zu keiner Aufgabe des Gesamteindrucks. Später, vielleicht seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts und dann um so deutlicher, je mehr wir in die entwicklungsintensiven 50er, 60er und 70er Jahre kommen, ist in und mit Lateinamerika etwas geschehen, das mich mit dem zweiten Teil der Aussage Albas (nichts habe sich bis heute wirklich verändert) nicht mehr übereinstimmen läßt. Die Gegenthese heißt: Dank einer eingreifenden Urbanisierung, partiellen Industriealisierung, eines flächigen und oft auch erfolgreichen Ausbaus des Erziehungswesens bis weit in den Universitäts- und Forschungsbereich hinein, dank aber auch genauso wenig zu übersehender Modernisierungstendenzen in der katholischen Kirche, im Gewerkschaftswesen, partiell auch im Unternehmerlager und nicht zuletzt selbst im Parteienbereich19 ist in Teile der lateinamerikanischen Gesellschaften eine Modernität hineingekommen, die oft genug die politischen Systeme veralteter, vormoderner erscheinen läßt als die zugehörigen Gesellschaften. Wenn heute in einer sehr breiten Front in praktisch ganz Lateinamerika eine intensive Demokratie- und Verfassungsdiskussion geführt wird,20 wenn es zudem noch zu massiven ordnungspolitischen Anläufen gekommen ist, dann geht es letztlich darum, einer moderneren, westlich-pluralistisch ausdifferenzierten Gesellschaft auch den moderneren, analog funktionierenden Staat zu geben. Das Problem läßt sich an zwei einfachen Beispielen verdeutlichen. Mexiko hatte mit der liberalen Verfassung von 1857, mit der Verfassung der Juárez-Zeit, eine der modernsten Konstitutionen Lateinamerikas erhalten, deren liberaler Grundzug dann 1917 durch die sozialstaatliche Komponente der Revolutionsphilosophie ergänzt

19

Vgl. Mols: Demokratie in Lateinamerika, S. 95ff.

20

Vgl. statt vieler Arbeiten Dieter Nohlen/Aldo Solan (compiladores): Reforma política y consolidación democrática. Europa y América Latina, Caracas 1988; Carlos Mateo Balmelli: Zur gegenwärtigen Verfassungsdiskussion in ausgewählten lateinamerikanischen Ländern: Chile, Paraguay, Argentinien, Frankfurt am Main u. a. 1992.

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wurde. Ich habe in früheren Arbeiten zu Mexiko 21 zu zeigen versucht, daß das Regime der Institutionalisierten Revolution eisern darauf bedacht war, der liberalen Komponente der geltenden Verfassung eine aztekische Begleitinterpretation zu geben, d. h. im Rahmen einer an sich ganz anders lautenden Verfassung wurde ein spezifischer Autoritarismus praktiziert, der dem Land sicher eine Jahrzehnte währende politische Stabilität bescherte, an den immer mündiger werdenden Segmenten in der mexikanischen Gesellschaft aber vorbeilebte. Daß sich hier ungeheure Spannungen in der politischen Kultur Lateinamerikas aufstauen mußten, konnte man spätestens seit der noche triste von Tlatelolco im Jahre 1968 nicht mehr übersehen. Wenn der jetzt amtierende Staatspräsident Carlos Salmas de Gortari in einem seiner vor dem Parlament abgegebenen Rechenschaftsberichte sagt: »Wir wollen, daß Mexiko ein Teil der Ersten Welt sei und nicht der Dritten«, 22 dann kommt hier das ganze Ausmaß von Westlichkeit als Herausforderung für das politische System Mexikos zum Ausdruck. Denn diese Erste Welt, in die Salinas Mexiko hineinmanövrieren will, ist nicht nur die Welt der NICs 23 und der North American Free Trade Association und des Anschlusses an die politisch-wirtschaftliche Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum, sondern auch der Impulsgeber für politische Reformen, wie sie für die meisten mexikanischen Administrationen der Postrevolution, insbesondere aber für die Gegenwart, charakteristisch sind. 24 Mein zweites Beispiel ist kürzer und leitet dann rasch über zu internationalen Überlegungen: Lateinamerikas autoritäre Regime der 70er und teilweise noch der 80er Jahre begriffen sich, besonders wenn sie rechts standen, als Hüter eines westlichen Erbes, das man gegen Anarchie, Chaos und vor allem Kommunismus verteidigen müsse. Eines der enthüllendsten Dokumente für diesen Sachverhalt ist eine Schrift aus der Presidencia de la Nación Argentina, herausgebracht am 8. August 1978 unter der Überschrift »Bases políticas para la reorganización nacional«, in der es u. a. unter der Zwischenüberschrift »El país futuro« heißt, Argentinien solle wieder ein Land werden, »das eine klare Hinwendung zu den eigentlichen Prinzipien des westlichen und christlichen Gei-

21

Vgl. etwa Manfred Mols: Mexiko im 20. Jahrhundert, Paderborn 2 1983.

22

Carlos Salinas de Gortari: 20. Informe de Gobierno, México 1990, S. 9 (Regierungsdrucksache).

23

= Newly Industrializing Countries (ein Fachausdruck aus der Entwicklungsökonomie).

24

Vgl. zu Einzelheiten etwa: Hans-Joachim Lauth: Mexiko zwischen traditioneller Herrschaft und Modernisierung. Die Gewerkschaften im Wandel von Politik und Wirtschaft (1964-1988), Münster und Hamburg 1991.

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stes« zeige.25 Übersahen diejenigen, die diesen Text formulierten, seine Implikationen? - So wie sie von Felipe Mansilla aufgezeigt worden sind? ad 4:

Die Form des lateinamerikanischen Auftretens im internationalen System

Die Zeit des gerade erwähnten Dokumentes ist auch die Hochzeit eines quer durch Lateinamerika gegangenen Streites zwischen sogenannten Occidentalistas und Tercermundistas?6 Die einen hielten an der okzidentalen Kultur und Tradition Lateinamerikas fest und suchten sie - wie selektiv auch immer im Sinne der Kritik Mansillas - zu verteidigen. Die anderen und das waren im großen ganzen die Anhänger der dependenztheoretischen Richtungen unter den Intellektuellen und höchste Politiker wie Mexikos Staatspräsident Luis Echeverría Alvarez, Salvador Allende in Chile, Carlos Andrés Pérez in Venezuela oder Velazco Alvarado in Peru - sahen die Zukunft Lateinamerikas deshalb in einer engen Allianz mit den Staaten und Völkern Afrikas und Asiens, weil die gemeinsam erlittene Dependenz nach Lösungsansätzen suchen lasse, die im Rahmen der mit der Ersten Welt bestehenden Dialogforen nicht mehr zustande kommen würden. Lateinamerikas Auftreten im internationalen System - so wie praktiziert anläßlich von UNCTAD III 1973 in Santiago de Chile, im Zusammenhang mit der Verabschiedung der »Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten« 1974, der SELA-Gründung des Jahres 1975, auch im Zusammenhang mit all den vielen Foren und Konferenzen des damaligen Nord-Süd-Dialogs, hat schließlich den Subkontinent im internationalen System in eine relativ isolierte Situation gebracht, die erheblich zur Krise der 80er Jahre beitragen sollte. Ich weiß, daß ich einen wesentlich komplexeren Sachverhalt ungeheurer verkürze, wenn ich die Auffassung vertrete, daß der Preis, den Lateinamerika für seinen tercermundismo zahlte, der offenkundige Verlust an Kalkulierbarkeit im internationalen System war. Die Zeiten haben sich gewandelt. Lateinamerika wird heute nicht mehr gern an die tercermundistische Phase erinnert. Es bewegt sich mit einer ungeheuren Anstrengung und in veränderten Formen auf das internationale System zu und hat dabei eine Reihe von Erfolgen wie etwa den Dialog zwi25

Das maschinengeschriebene Dokument liegt mir in Kopie vor, Zitat nach Seite 13.

26

Zu Einzelheiten vgl. Wolf Grabendorff (ed.): »Latin America and the Third World. Special Issue«, in: Vierieljahresberichle. Probleme der Entwicklungsländer Nr. 68 vom Juni 1977 (Forschungsinstitut der Friedrich Ebert-Stiftung).

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sehen der Rio-Gruppe und der Europäischen Gemeinschaft oder den fortgesetzten San Jose-Dialog mit Mittelamerika vorzuweisen. 27 Gleichwohl muß es weiterhin um das Vertrauen jenes Westens ringen, dem man in den 70er Jahren auf offener Front den Kampf ansagte. ad 5:

Fragen der internationalen Behandlung Lateinamerikas durch Dritte

Ich komme mit diesem fünften Punkt zum Schluß meiner Ausführungen. In dem Maße, in dem Lateinamerika sich selbst wieder als Teil des Westens begreift, und zwar in einer Substanz, die weit über die christlich-okzidentale Naivität und Romantik der Militärregierungen hinausgeht, in dem Maße scheinen sich partnerschaftlichere Formen des internationalen Umgangs mit Lateinamerika einzupendeln. Auf die Gespräche mit der RioGruppe und auf den San Jose-Prozeß wies ich vorhin bereits hin. Letzterer hat insofern unendlich viel mit dem Thema Westlichkeit zu tun, als er im Grunde genommen als Solidaritätsveranstaltung der Westeuropäer mit einem von der Reagan-Administration geschändeten Zentralamerika begriffen werden muß. Daß die Bush-Administration, auch wenn sie nie eine deutlich artikulierte Lateinamerika-Politik vorzuweisen wußte, wieder gezielter auf Lateinamerika zugeht, zeigt die sog. »Enteiprise for the Americas Iniciative« vom Sommer 1990, deren wichtigster Punkt Überlegungen zu einer gesamtamerikanischen Freihandelszone sind. Diese Bush-Initiative ist übrigens in Lateinamerika freundlich-kritisch aufgenommen worden. Ihre Realisierung gilt als Möglichkeit, im globalen Ringen um eine neue Weltordnung die eigene Einbindung ins internationale System besser zu schaffen als im lateinamerikanisch-kollektiven oder gar im einzelstaatlichen Zugehen auf eine internationale Welt, deren spätestens gegen Ende der 80er Jahre einsetzende substantielle Veränderungen (Europa 1992, die APEC-Gründung 28 im pazifischen Raum, die bekannten Folgen von Perestroika mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes) zu keinem Zeitpunkt von 27

Einzelheiten bei Manfred Mols: »Lateinamerikas internationale Situation«, in: Außenpolitik 43/3 1992, S. 297-30S; Einzelheiten zum oben gemeinten Sachverhalt finden sich auch bei Manfred Mols: »Entwicklungsdenken und Entwicklungsanstrengungen in Lateinamerika, SUdostasien und Indien. Gemeinsamkeiten und Unterschiede«, in: Manfred Mols/Peter Birle (Hrsg.): Entwicklungsdiskussion und Entwicklungspraxis in Lateinamerika, SUdostasien und Indien, Münster und Hamburg 1991, S. 237-283.

28

APEC = Asian Pacific Economic Co-operation. Gegründet 1989 durch eine australische Initiative, hat die APEC seit 1992 ihren Sekretariatssitz in Singapur. Verschiedene lateinamerikanische Länder haben in der APEC einen Beobachter-Status. Einige von ihnen bemühen sich um die volle Mitgliedschaft.

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Lateinamerika aktiv und gestaltend mitbeeinflußt werden konnten. Nur: Die sich abzeichnende neue Verständigung mit den Vereinigten Staaten und die ohne Zweifel gesteigerte Akzeptanz des Subkontinents durch Europa oder auch Japan hängt engstens damit zusammen, daß sich Lateinamerika dazu aufgemacht hat, die Interdependenz des internationalen Systems als Chance zu begreifen, dabei die bisherige überwiegende Binnenorientierung (bis auf wenige, aber im einzelnen noch belastende Relikte) über Bord warf und im ganzen auf den Westen und vor allem auf die westlichen Vorstellungen von nationaler wie internationaler Ordnung einschließlich derjenigen Implikationen, die die Ökonomen Ordnungspolitik nennen, zugegangen ist, wie dies vor wenigen Jahren sich kaum jemand hätte vorstellen können. Ich möchte schließen mit der Einschätzung, daß Westlichkeit immer eine Herausforderung für Staat und politisch-soziale Kultur in Lateinamerika war - eine Herausforderung, der man sich stellte und die man bisher zu oft über selektive Adaptationen aufzugreifen bereit war. In den letzten Jahren hat man den Eindruck, daß die Adaptation auf breiteren Fronten erfolgt, mehr noch, daß man anfängt, eine Staats-, Verfassungs- und Gesellschaftsdiskussion zu führen, auch eine veränderte ordnungspolitische Debatte, die zugleich hoffen lassen, daß Lateinamerika mit so etwas wie einer eigenen »Aufklärung« anfängt. Läßt sich dies durchhalten, wird Westlichkeit keine Orientierungsgröße mehr sein, der man gebrochen gegenübersteht, sondern etwas, dem man durch Internalisierung immer näher kommt.