Die Entwurzelten: Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heute 3205981367, 9783205981367

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Die Entwurzelten: Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heute
 3205981367, 9783205981367

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Dorit Bader Whiteman • Die Entwurzelten

BÖHLAUS ZEITGESCHICHTLICHE BIBLIOTHEK Herausgegeben von Helmut Ronrad Band 29

Dorit Bader Whiteman

Die Entwurzelten Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heute

Aus dem Englischen übersetzt von Marie-Therese Pitner

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Umschlagabbildung: Ankunft eines Rindertransports in Selkirk. (Foto: Gunther Abrahamson)

Titel der Originalausgabe: The Uprooted. A Hitler Legacy. Voices of Those Who Escaped before the „Final Solution". © 1993 Plenum Press, New York

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Whiteman, Dorit Bader: Die Entwurzelten : Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heule / Dorit B. Whiteman. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1995 ( B ö h l a u s z e i l g e s c h i c h t l i c h e B i b l i o t h e k ; Bd. 2 9 ) ISBN 3 - 2 0 5 - 9 8 1 3 6 - 7

NE: GT

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1995 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG., Wien · Köln · Weimar Satz: Vogel Medien, Korneuburg Druck: Manz, A-1050 Wien.

Für meine Mutter und meinen Vater und all jene, die nicht mehr am Leben sind, um ihre Geschichte zu erzählen, und für meinen Mann und meine Kinder, die verstanden haben, warum ich dieses Buch schreiben mußte.

Inhalt Vorwort von William B. Helmreich Dank Prolog

9 11 13

I UNTER HITLER Kapitel 1: Und dann kam unser Leben zum Stillstand Kapitel 2: Die Schlinge zieht sich zu Kapitel 3: Der Weg hinaus: Die Hindernisse Kapitel 4: Die Geschichte von Kurt und Franz Kapitel 5: Der Weg hinein: Noch mehr Hindernisse Kapitel 6: Abschied: Drei Berichte Kapitel 7: Reichskristallnacht: Der Anfang vom Ende Kapitel 8: Der Weg zum Ziel Kapitel 9: Drei Odysseen Kapitel 10: Die Kinder Kapitel 11: Sie fuhren durch die Nacht Kapitel 12: Und vor allem - ein Lächeln!

23 42 53 60 68 86 91 99 103 116 127 144

II VOR HITLER Kapitel 13: Ein warmes Nest Kapitel 14: Ein gewisser Lebensstil Kapitel 15: Wirklichkeit oder Illusion?

153 160 169

III EIN NEUER ANFANG Kapitel 16: Eine Bleibe, kein Zuhause Kapitel 17: Es gab so viele Gründe Kapitel 18: Episoden aus dem Leben der Kinder Kapitel 19: Begegnungen von Herz und Verstand Kapitel 20: Der lange Weg in eine neue Heimat Kapitel 21: Noch nicht Kapitel 22: Interniert Kapitel 23: Gefängnis auf italienisch Kapitel 24: Es geht aufwärts Kapitel 25: Der Bauer und der Tierpräparator Kapitel 26: Die Kraft der Jugend

177 191 207 240 257 265 276 297 303 315 320

IV EMOTIONALE NACHWIRKUNGEN Kapitel 27: Weine nicht, Großmutter!

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Inhalt

Kapitel 28: Assimilierte Außenseiter Kapitel 29: Ich bin glücklich, daß Hitler mich nicht erwischt hat!

346 358

Epitaph „Nehmen wir an . . . " von Gerda Mayer Die Studienteilnehmer Fragebogen Literatur Register

371 373 374 377 384 387

Vorwort Die Entwurzelten ist ein Buch, für das die Zeit heute reif ist. Wenn man es liest, wundert man sich, warum es nicht schon zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Jahre früher geschrieben wurde. Die Autorin hat auf Grundlage von Interviews mit 190 Juden, die durch die Nazi-Diktatur gezwungen wurden, Österreich oder Deutschland zu verlassen, eine faszinierende Geschichte geschrieben. Wenn wir an den Holocaust denken, so setzen wir seinen Anfang im allgemeinen mit dem Jahre 1939 fest und sehen als seine Opfer jene Juden an, die in Europa blieben. Das vorliegende Buch zeigt, in welchem Ausmaß auch jene Juden, die noch vor dem Krieg aus den betroffenen Ländern auswanderten, Opfer waren. Noch heute leben das Trauma und der Schmerz, gezwungenerweise einen Ort verlassen zu müssen, wo seit Jahrhunderten Juden gelebt hatten, in ihrer Erinnerung fort. Aus Respekt gegenüber den Überlebenden der Konzentrationslager sprechen viele von ihnen nur zögernd von ihrem eigenen Leid. Ihre Entbehrungen kommen ihnen so unerheblich vor im Vergleich zu den Qualen jener, die die Erfahrung von Konzentrationslager und Ghetto hinter sich haben. Dorit Whiteman zeigt in ihrem Buch aber auf, wie schrecklich und folgenschwer auch die Qualen jener waren, die noch vor der „Endlösung" fliehen konnten. Die Autorin hat das Spektrum breit gefächert. Die Teilnehmer an ihrer Studie kamen aus allen Berufsschichten und aus vielen Ländern, darunter England, Australien und den Vereinigten Staaten. Sie rufen die Erinnerung an die Vergangenheit wach, an das, was nie wieder vorkommen darf, und wir werden unwiderstehlich in das Leben der Betroffenen eingebunden, teilen ihre Tragödien, erleben ihren Einfallsreichtum, ihren Mut, ihre Beharrlichkeit und ihre Hilfsbereitschaft gegenüber ihren Schicksalsgenossen. Wir lesen von der Anteilnahme jener, die Flüchtlinge aufnahmen, und von den Schwierigkeiten der Einwanderer, die in einem fremden Land eine neue Sprache und neue Lebensformen lernen mußten. Was diese Gruppe so einzigartig macht, ist zum Teil die Tatsache, daß sie an den Wert der deutschen Kultur glaubten - ihre Musik, ihre Literatur und ihre allem Anschein nach fortschrittliche Einstellung zum Leben. Die deutschen und österreichischen Juden vermeinten sich glücklich schätzen zu dürfen, nicht in Polen oder Rußland zu leben, wo der Antisemitismus weitverbreitet war und oft vom Staat gefördert wurde. Als das Ende kam, wurden somit viele Illusionen zerstört. Aber allen Härten zum Trotz, von denen ihr Leben gekennzeichnet war, bauten sich die Flüchtlinge in einem neuen Land ein neues Leben auf. Sie paßten sich an neue Lebensformen an, stiegen ins Geschäftsleben ein,

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Vorwort

nahmen ihre unterbrochene Ausbildung wieder auf, gründeten Familien und bewältigten schließlich ihr Schicksal, auch wenn Narben zurückblieben. Mit einem Wort, sie vereitelten Hitler den endgültigen Sieg, da sie nicht zuließen, daß ihre Erfahrungen ihr Leben zerstörten. Die Entwurzelten schildert die Geschichte dieser Menschen in sehr bewegender und nahegehender Art und Weise. Vor allem räumt dieses Buch den Protagonisten die Möglichkeit ein, für sich selbst zu sprechen und damit Zeugnis abzulegen für die Fähigkeit des Menschen, sein Leid zu ertragen, zu überwinden und ein neues Leben anzufangen. William Β. Helmreich, Ph. D.

Dank Hundertneunzig Menschen haben viele Stunden mit der Studie „Was geschah mit jenen, denen ,überhaupt nichts geschah?'" zugebracht, jenem Projekt, aus dem dann dieses Buch hervorgegangen ist. Mein großer Dank gilt ihnen allen, die mir nicht nur bereitwillig die Geschichte ihres Lebens aufrollten, sondern mir auch ihre Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit den Ereignissen der Vergangenheit anvertrauten. Viele StudienTeilnehmer - zu viele, als daß ich sie hier einzeln aufzählen könnte - waren sehr darum bemüht, für mich die Namen weiterer möglicher Teilnehmer herauszufinden und mir äußerst aufschlußreiche Unterlagen und Photographien zu schicken. Aufrichtigsten Dank schulde ich weiters Dr. Robert Lifton und Dr. William Helmreich, die ich zu Beginn des Projektes kontaktierte und die mich mit hilfreichen Ratschlägen ermutigten. Die Entwurzelten erschien zuerst auf Englisch 1993 bei Plenum Press, New York. Ich möchte mich bei den Mitarbeitern dieses Verlages sehr herzlich für ihr einfühlsames Verständnis für die Ziele dieses Buches bedanken. Mein besonderer Dank gilt: Cheflektorin Norma Fox, die, noch bevor das gesamte Material zusammengetragen war, die Bedeutung dieser Studie erkannt hat; Lektor Frank K. Darmstadt für seine freundliche und gleichzeitig sichere und verläßliche Betreuung des Manuskripts in allen Produktionsstadien; dem Hersteller Herman Makler für seinen entgegenkommenden Umgang mit dem Manuskript während der gesamten Produktion. Großen Dank schulde ich den Doktoren Marianne Anderson, Alice Kaminsky, Jack Kaminsky, Milton Kornrich und Rhoda Kornrich sowie Ellen Lubarsky, M. S. W, nicht nur für ihre scharfsinnigen Kommentare, sondern auch für ihr anhaltendes Interesse und ihre warmherzige Unterstützung. Ich danke auch Dr. Diane Spielman, die mir in ihrer Eigenschaft als Archivarin am Leo Baeck Institute dankenswerterweise Informationen über die verschiedensten Themen zur Verfügung gestellt hat. Mein ganz besonderer Dank geht an Blanche Glaser, die mich jede Woche besuchte und mir bei zahllosen Aufgaben half, wie etwa der Transkription von Tonbandaufnahmen oder der Einordnung von Files, und mir dadurch Zeit sparte, die ich für meine Forschungsarbeit und die Niederschrift des Buches verwenden konnte. Danken möchte ich weiters Professor Dr. Michael Mitterauer für seine Unterstützung einer deutschen Ausgabe der Entwurzelten in Österreich sowie dafür, daß er mich mit Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz vom Böhlau Verlag bekannt machte. Frau Dr. Reinhold-Weisz zeigte großes Interesse und Einfühlungsvermögen für das in diesem Buch behandelte Thema,

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Dank

was unsere Zusammenarbeit äußerst angenehm gestaltete, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Mein Dank gilt auch folgenden Mitarbeitern des Böhlau Verlages, die mir in vielerlei Hinsicht Unterstützung boten: Frau Prokurist Ulrike Dietmayer, Frau Brigitte Gass und Frau Stefanie Rovacic. Jegliche Bedenken meinerseits hinsichtlich der Übersetzung von Die Entwurzelten wurden zerstreut, als ich Marie-Therese Pitners deutsche Fassung las; es ist der Übersetzerin nicht nur zu meiner großen Erleichterung gelungen, den Text korrekt wiederzugeben, sondern sie verstand es auch, den Geist dessen zu vermitteln, was ich berichtete. Bedanken möchte ich mich in dieser Hinsicht auch bei Frank Parker, der mich für einige im Zusammenhang mit der Übersetzung stehende diffizile Punkte aufgeklärt hat. Meine Gespräche mit Prof. Dr. Mitterauer gingen weit über das hinaus, was unmittelbar mit den Entwurzelten zu tun hatte. Sein umfassender geistiger Horizont, seine spontane Freundschaft, seine Gedanken, seine Ideen und seine Philosophie haben viel dazu beigetragen, daß ich meine Geburtsstadt wieder besuchen konnte, ohne mich völlig fremd und unbehaglich zu fühlen. Die Veröffentlichungen, Mitteilungen, Ermutigungen und die Anteilnahme von Dr. Helga Embacher und Dr. Albert Lichtblau, die sich in Österreich mit ähnlichen Arbeiten befassen, haben mir gezeigt, daß ich in der Lage bin, an einem Ort, dem ich mich lange Zeit hindurch völlig entfremdet fühlte, wieder neue Brücken zu schlagen. Ich danke auch vielen meiner Freunde, die mir in der langen Zeit, in der ich mich zurückzog und dieses Buch schrieb, treu zur Seite standen und mir Mut machten. Mein innigster Dank gilt meinem Mann Martin, der diesem Projekt das gleiche Verständnis entgegenbrachte und es ebenso unterstützte, wie er dies bisher mit all meinen anderen Arbeiten und Interessen getan hat, seit wir verheiratet sind. Bei dieser Studie half er mir nicht nur durch scharfsichtige redaktionelle Anmerkungen und fruchtbringende Diskussionen zum Thema, sondern stand mir auch bei der Lösung praktischer Probleme, etwa beim Umgang mit dem widerspenstigen Computer, zur Seite. Auch war er, wofür ich ihm sehr dankbar bin, selbstlos jederzeit bereit, seinen Lebensrhythmus dem meinen anzupassen und verschaffte mir so die neben meinem Beruf notwendige Zeit, um dieses Buch zu schreiben. Mein Dank gilt all jenen, die in irgendeiner Form mit dieser Studie beschäftigt waren, daß sie durch ihren Einsatz die Bedeutung dieses Themas bestätigt haben. Danken möchte ich abschließend der Memorial Foundation for Jewish Culture, die dieses Projekt durch die Gewährung eines Stipendiums gefördert hat.

Prolog Vor drei Jahren saßen wir an einem Sommertag beim Abendessen in einem gemütlichen Haus in einer englischen Kleinstadt, als mein Cousin vom Schicksal seiner Eltern, meiner Tante und meines Onkels, erzählte. Sein Vater war im Konzentrationslager Theresienstadt gestorben und seine Mutter - ebenso wie die Mutter, der Vater und der Bruder seiner Frau - in Auschwitz umgekommen. Meine Gedanken schweiften zu meinen Eltern, meiner Schwester, meinen Cousins und mir selbst. „Was für ein Glück hatten wir doch", dachte ich. „Wir entkamen dem Holocaust. Uns geschah überhaupt nichts." Bei diesem „uns geschah nichts" dachte ich daran, daß es meiner Familie gelungen war, all die großen Hindernisse zu überwinden und Österreich nach der Machtübernahme durch die Nazis zu verlassen und später in New York wieder Fuß zu fassen. Was waren schon unsere Schwierigkeiten, wie groß auch immer sie gewesen sein mögen, im Vergleich zum Hungertod in einem Ghetto, zur Ankunft in Viehwaggons in Sobibór und zum Tod durch Vergasen innerhalb von 40 Minuten. Die meisten, die so wie ich entkommen konnten (sie werden in der Folge „Flüchtlinge" genannt), denken ähnlich. Vergleichen sie sich mit jenen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, so haben diese Flüchtlinge einfach das Gefühl, daß ihnen „nichts geschehen ist". Dieses Mal begann ich mich jedoch ernsthafter mit dem Schicksal der Flüchtlinge auseinanderzusetzen, jener Tausender Juden, die mit einer Wanderungswelle hinweggespült wurden, die sich sowohl in der Struktur der Bevölkerung, die sie hinter sich ließen, als auch in jener, in die sie einwanderten, deutlich bemerkbar machte. Ich dachte an die verzweifelten Bemühungen meiner Eltern, uns zu retten - ihre Absichten, Pläne und die herzzerreißenden Abschiede. Ich erinnerte mich an die vielen Jahre, bevor unser Leben wieder den Anstrich von Normalität bekam. Und ich begann an all jene zu denken, die genauso wie wir geflüchtet waren. Wie war es ihnen gelungen, Hitler zu entkommen? Wohin gingen sie, nachdem sie das Dritte Reich verlassen hatten? Haben sich ihre Einstellungen dadurch geändert? Erleben sie noch heute emotionale Nachwirkungen? Es gibt zwar Einzelbiographien, aber kaum Studien über das Schicksal ganzer Gruppen von Flüchtlingen oder über die emotionalen Folgen ihrer Erfahrungen. Die Wissenschaftler haben sich vernünftigerweise auf die Überlebenden aus den Lagern und Ghettos konzentriert, da ihr Leid unendlich viel größer und ihre Bedeutung für die jüdische Geschichte wesentlich wichtiger ist als die der Geschichte der Flüchtlinge. Und doch

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Prolog

muß auch diese Geschichte der Flüchtlinge einmal erzählt werden, ist sie doch ein Teil von Hitlers Erbe. Ich entschloß mich, die Lebensgeschichten von Menschen zusammenzutragen, die noch vor der Umsetzung der Endlösung fliehen konnten. Ich gab dieser Studie den Titel „Was geschah mit jenen, denen ,überhaupt nichts geschah'"? Den Flüchtlingen war sofort klar, daß sie es waren, die unter diese Bezeichnung fielen. Die Studie deckt den Kreis jener ab, denen es gelang, vor oder unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus einem von den Nazis besetzten Land in ein relativ sicheres Land zu fliehen. Relative Sicherheit bedeutete, daß die Gefahren für die Flüchtlinge dort nicht größer waren als für ihre Mitbürger, wie etwa die Gefahren für Armee-Angehörige, ein drohender Bombenangriff oder die Tatsache, daß man unter Lebensmittelknappheit zu leiden hatte. Gemäß dieser Definition werden jene Flüchtlinge, die nach Polen flohen und die Kriegsjahre in Rußland verbrachten, hier nicht berücksichtigt, da man bei vielen von ihnen aus unterschiedlichen Gründen (wie etwa die Internierung in einem russischen Arbeitslager) nicht von einem Leben in relativer Sicherheit sprechen kann. Grundsätzlich mußten zwei wichtige Fragen in bezug auf diese Studie geklärt werden: Wie sollte ich an die Informationen herankommen, und wie konnten mögliche Teilnehmer erreicht werden. Da ich auch Flüchtlinge außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung ansprechen wollte, mußten die Befragungen schriftlich per Post durchgeführt werden. So arbeitete ich einen vier Seiten langen Fragebogen aus, dessen Fragen entweder kurz und prägnant oder sehr ausführlich beantwortet werden sollten. Die Fragen bezogen sich auf das Leben des Betreffenden vor und unter Hitler, die Flucht, die Jahre des Aufbaus und die emotionalen Folgen. Um Freiwillige ausfindig zu machen, bediente ich mich im wesentlichen des „Schneeball"-Systems, indem ich mit einer Handvoll Leute begann und sie bat, mir Namen möglicher weiterer Teilnehmer zu nennen. Hinweise auf diese Studie gab ich auch bei einigen Flüchtlingstreffen. Außerdem sprach ich auch Leute direkt an, von denen ich glaubte, sie sollten sich an der Studie beteiligen. So kam ich beispielsweise mit einer Dame ins Gespräch, die nicht - wie Amerikaner üblicherweise - kraulte, sondern Brustschwimmen bevorzugte, woraus ich schloß, daß sie vermutlich Europäerin war. Es stellte sich heraus, daß sie tatsächlich ein Flüchtling war, und sie willigte ein, sich an der Studie zu beteiligen. Obwohl einige Teilnehmer an dieser Studie in ihrem Bereich durchaus Großes geleistet haben, war es doch nicht mein Ziel, berühmte Einwanderer zu befragen. Im Gegenteil, ich interessierte mich mehr dafür, wie Leute aus den verschiedensten Berufsgruppen mit den Ereignissen fertig geworden waren. In einer Kritik des Buches News from the Land of Freedom, einem Buch über deutsche Einwanderer, betont Marty (1991), wie wichtig es ist,

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das Leben von Durchschnittsmenschen zu beschreiben: „(Diese Beschreibungen) geben uns Einblick in das Leid und bisweilen die Erfolge, die das tägliche Leben ausmachen, und werfen so ein Licht auf die menschliche Existenz, wie das all die Beiträge über ,herausragende Leistungen' nur selten vermögen." (S. 2) Und genau dieses alltägliche Leben wollte ich schildern. Ich ging also folgendermaßen vor: Nachdem ich den Namen eines potentiellen Teilnehmers erfahren hatte, rief ich den Betreffenden an, bevor ich den Fragebogen abschickte, und erklärte das Ziel dieser Studie; erfolgte der Kontakt ausschließlich per Post, so legte ich dem Fragebogen auch eine eingehende Beschreibung der Zielsetzungen der Studie bei. Die Bandbreite in der Länge der Antworten der Befragten reichte von ganz kurz bis äußerst ausführlich. Einige schickten zusätzlich auch interessantes Material: Dokumente, Photographien oder alte Briefe sowie Geschichten und Gedichte, die sie früher geschrieben hatten. Sobald ich den vollständig ausgefüllten Fragebogen zurückerhalten hatte, antwortete ich im allgemeinen mit einem ausführlichen Brief, ging auf die Erfahrungen des Betreffenden ein, stellte noch einige zusätzliche Fragen und erzählte gegebenenfalls auch ein wenig von meinen Erfahrungen. Oft fanden sich in den Briefen, die mir Flüchtlinge nach der Retournierung des Fragebogens schickten, aufschlußreichere Details als in den ursprünglichen Antworten. Dies war vielleicht darauf zurückzuführen, daß sie Vertrauen gefaßt hatten, daß ihre Angaben mit aller Rücksicht behandelt würden. Die anfängliche Sorge, ob wohl ausreichend Flüchtlinge bereit sein würden, sich die nötige Zeit für das Ausfüllen des Fragebogens zu nehmen, erwies sich als unbegründet. Alle, die ich ansprach oder anschrieb, wollten ihre Geschichte erzählen. Eine Woche nachdem ich bei einem Flüchtlingstreffen in England ein Rundschreiben verteilt hatte, erhielt ich beispielsweise zwanzig Anfragen über eine Beteiligung aus England, Massachusetts, Illinois, Kalifornien, Delaware, Florida und Kanada, und innerhalb von drei Wochen meldeten sich weitere fünfzig Interessenten. Ein ausgefüllter Fragebogen, dessen Antworten eilig auf einem gelben Konzeptpapier hingekritzelt worden waren, kam fast postwendend zurück. Der Betreffende schrieb, daß der Fragebogen ihn emotional so aufgewühlt hätte, daß er nicht warten konnte, bis er eine Schreibmaschine zur Hand hatte, sondern den Zwang verspürte, sofort zu antworten, wie die Erinnerungen in ihm aufstiegen. Viele, mit denen ich Kontakt aufgenommen habe, fühlten sich spontan für den Fortgang des Projekts verantwortlich. Einige Flüchtlinge schickten Kopien des Fragebogens an befreundete ehemalige Flüchtlinge. Irgend jemand, ich weiß nicht wer, gab in einer australischen Zeitung eine Anzeige mit dem Hinweis auf die Studie auf. Manche Flüchtlinge hatten Angst, daß eine Verzögerung ihrer Antwort sie von einer Teilnahme ausschließen könnte. Ein Teilnehmer

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fragte ängstlich an, ob er noch warten könne bis sein gebrochener Arm geheilt sei, oder ob seine Antwort dann nicht mehr berücksichtigt werden könnte. Alter war nicht unbedingt ein Hindernis für die Teilnahme: „Mit Freuden bin ich bereit, ihren Fragebogen zu beantworten, aber da ich bereits 91 Jahre alt bin, geht bei mir alles sehr langsam und kann ich an einem Tag nicht so vieles machen. Trotzdem hoffe ich, in etwa vierzehn Tagen in der Lage zu sein, ihnen eine detaillierte Antwort schicken zu können", schrieb eine Frau. Ich erkannte, daß die Studie gerade zur rechten Zeit kam. Offensichtlich hatten manche Flüchtlinge bereits mit der Aufzeichnung ihrer Lebensgeschichte begonnen oder eine solche geplant. Der Fragebogen stellte für viele einen zusätzlichen Anstoß dar und lieferte ihnen die Struktur für die Niederschrift ihrer Erinnerungen. Einer der Befragten schrieb: „Ich danke Ihnen für Ihre Anregung, denn im wesentlichen habe ich jetzt (durch die Beantwortung ihres Fragebogens) ein Grundgerüst für meine Lebensgeschichte vorbereitet. Ich stehe daher für alle weiteren Fragen oder Kommentare jederzeit zur Verfügung." Für andere wurden die Antworten auf dem Fragebogen zu einer Chronik, die sie an die Familie und Freunde weitergeben konnten: „Meine Tochter wußte vieles über mein Leben, sie hat es aber nie zusammenhängend gehört. Ihr Mann war ganz erschüttert über alles. Meine Enkelin, für die das alles ganz neu war, las meine Geschichte in einem durch, obwohl sie bei Gott keine ,Leseratte' ist. Mein Enkel hat richtig mitgelebt. Aber auch viele andere Leute haben es gelesen, und ich war überwältigt, welche Welle der Herzlichkeit mir entgegenschlug, nachdem die Leute meine Geschichte gelesen hatten." Die Ereignisse der Vergangenheit chronologisch niederzuschreiben, wirkte sich auf die Teilnehmer an dieser Studie oft positiv aus. Einer schreibt: „Es machte mir nichts aus, ihre Fragen zu beantworten. Ich fand sie sogar sehr ermunternd. Sie halfen mir, einigen Tatsachen ins Auge zu schauen, die ich vorher immer verdrängt hatte." Für einige war es sehr einfach, die Erinnerungen wieder auftauchen zu lassen. Eine Frau schrieb, daß die Informationen in ihrem Gehirn gespeichert waren wie in einem Computer und nur darauf warteten „ausgedruckt" zu werden. Andere wiederum, die darin sozusagen ein Ventil für ihre Gefühle sahen, freuten sich über diese Aufgabe, wodurch sie „von alten Komplexen befreit" wurden. Besonders berührend war für mich, wie hoch es mir die Flüchtlinge anrechneten, daß ich mich mit dieser Studie beschäftigte. So etwa schrieb einer der Teilnehmer: „Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich Sie bewundere, daß Sie an diese große Aufgabe herangehen. Letztlich wird es Ihnen eine große Genugtuung bereiten, im Namen der schweigenden Minderheit im Gedenken an die sechs Millionen Juden, die während des Holocausts ihr Leben lassen mußten, sprechen zu können." Ein Mann bot mir,

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wie auch manch andere, das Du-Wort an, mit der Begründung, daß ich für ihn nun, nach unserer ausführlichen Korrespondenz, zu einem Teil seiner Mischpoche (jüdisches Wort für Familie) geworden bin. Mehrere Teilnehmer dankten mir dafür, daß ich auch einige persönliche Erinnerungen von mir selbst preisgegeben habe. Die Tatsache, daß ich selbst ebenfalls ein Flüchtling war, trug hier sicherlich zu dem Gefühl einer engeren Beziehung bei. Einige Leute lehnten eine Teilnahme an der Studie mit der Begründung ab, dies emotional nicht verkraften zu können. Ein Beispiel: „Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß meine Frau und ich uns nicht in der Lage fühlen, Ihnen zu antworten. Zu viele böse Erinnerungen tauchen dadurch auf und machen uns dann wieder depressiv. Wir möchten uns entschuldigen, daß wir so sensibel reagieren. Herzlichen Dank und viele Grüße." Oder: „Es tut mir sehr leid. Aber die Erinnerungen würden mir das Herz wieder aufreißen. Ich danke Ihnen jedenfalls, daß Sie mich für ihr so wichtiges Projekt ausgewählt haben." Nur eine einzige Antwort erhielt ich, in der der Betreffende sich aus ideologischen Gründen gegen diese Studie aussprach und die Meinung vertrat, daß man seine Energien lieber für Fragen der Gegenwart einsetzen sollte. Aus Südamerika schrieb mir jemand, daß er sich an der Studie nur dann beteiligen würde, wenn ihm die Einkünfte aus einer nachfolgenden Verfilmung zugesichert würden! Als ich mich mit der Studie zu beschäftigen begann, hatte ich zunächst vor, mich der üblichen Forschungsmethoden zu bedienen, den Teilnehmern gleiche Fragen zu stellen, ihre Antworten dann zu analysieren und damit einen statistischen Vergleich zu ermöglichen. Sobald ich aber in Briefkontakt mit den Teilnehmern trat, wurde mir klar, daß diese Methode meiner Absicht nicht dienlich sein würde. Ich wollte keine statistischen Vergleiche dieser Gruppe mit irgendeiner anderen Gruppe von Flüchtlingen, ich wollte auch keine numerischen Indizes erhalten, aus denen ich dann ein „durchschnittliches" Verhaltensmuster ablesen könnte. Ich behaupte auch nicht, daß diese Gruppe von Flüchtlingen notwendigerweise typisch für irgendeine andere Gruppe ist. Ich sehe die Geschichte der Flüchtlinge vor mir wie ein riesiges Bild, das sich ähnlich einem Puzzle aus unendlich vielen kleinen Teilchen zusammensetzt. Die Geschichte jedes einzelnen, die von individuellem, vielleicht sogar ungeheurem Leid erzählt, ist nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Teil des Ganzen. Jede Geschichte trägt einen anderen Aspekt zum Gesamtbild bei, das selbst nie vollständig sein wird. Ich hielt es für meine Aufgabe - vielleicht sogar meine Berufung -, einen dem zeitlichen Ablauf folgenden Bericht über die Erfahrungen der Flüchtlinge und die daraus resultierenden Folgen zu geben, wie sie es durch ihre eigenen Augen sahen. Ihre verschiedenen Geschichten habe ich dann so geordnet, daß sie sowohl eine Untersuchung der individuellen als auch der gemeinsamen Aspekte erlauben.

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Erwähnenswert scheint mir, daß andere Wissenschaftler auf diesem Gebiet ganz ähnlich vorgegangen sind. Des Pres (1976) schrieb in seiner Studie über das Leben in den Todeslagern: „Nach und nach wurde mir klar, daß ich mich an die Sicht der Überlebenden selbst halten sollte. Das wird dem Historiker, der einem persönlichen Zeugnis mißtraut, vielleicht nicht recht sein; aber außerordentliches Leid steht jenseits der Relativität, und wenn ein Ereignis oder bestimmte Umstände von einem Überlebenden genau gleich beschrieben werden wie von Dutzenden anderen . . . aus unterschiedlichen Nationen und Kulturen, dann glaubt man an die Gültigkeit solcher Berichte und hinterfragt sogar die seltenen Abweichungen von der üblichen Beschreibung. Ich hatte kaum eine andere Wahl, als zahlreiche Zitate zu verwenden und ständig auf Beispiele und Geschichten zu verweisen . . . Dieses Buch wurde so zu einer Sammlung konkreter Zeugnisse die Stimmen vieler Männer und Frauen wurden zusammengetragen, um eine kritische Mischung aus Wut, Sorge und Wahrheit zu bilden. Meine Aufgabe war es, ein Medium zur Verfügung zu stellen, in dem diese verstreuten Stimmen zu einer einzigen Stellungnahme verschmelzen konnten." (S. VI) Berghahn (1984), die in einer Studie die Einstellungen und Gefühle der deutsch-jüdischen Flüchtlinge in England untersucht hat, nahm von den traditionellen Forschungsmethoden Abstand, weil sie die Notwendigkeit eines flexibleren Ansatzes erkannte. Ihr ging es in erster Linie nicht nur darum, das Typische, sondern auch die Unterschiede herauszufiltern. Sie hielt es für wichtig, sich auf einzelne Fälle zu konzentrieren, denn „ein einzelner, der in einer bestimmten Situation steht, ist oft der Schlüssel zum besseren Verständnis des Gesamtbildes". (S. 2-3) Was sollte ich nun mit dem unerhört umfangreichen Material, das ich zusammengetragen hatte, weiter machen? Ich hatte die Absicht, aus allen Berichten jenes Material herauszuholen, das sowohl repräsentativ für diese Gruppe von Flüchtlingen war als auch die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen aufzeigte. Und so habe ich zu jedem in dem Buch beschriebenen Ereignis alle Informationen nach Hinweisen auf diesbezügliche Erfahrungen durchsucht. Wenn ich zum Beispiel über ein bestimmtes Ereignis oder eine emotionale Reaktion schrieb, dann habe ich jeden Fragebogen durchforstet und die entsprechenden Beobachtungen des Studien-Teilnehmers hinsichtlich dieser Erfahrung in den Computer eingegeben. Zu einem einzigen Thema - etwa dem Abschied von den Eltern - sammelte ich so bisweilen bis zu 75 Seiten an Informationen. Diese habe ich dann in Kategorien eingeteilt, welche Erfahrungen als repräsentativ für die Gruppe angesehen werden können und bei welchen es sich sozusagen um Einzelerfahrungen handelt. Dann traf ich eine Auswahl treffender Zitate. Denselben Vorgang wiederholte ich dann beim nächsten Ereignis oder Thema und so fort. So wurde jeder der 190 Berichte wie mit einem feinzahnigen Kamm wieder und wieder durchkämmt.

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Im allgemeinen beteiligt sich ein Wissenschaftler selbst nicht an seiner Studie, sondern bemüht sich vielmehr, völlig objektiv zu bleiben. Nach eingehenden Überlegungen entschloß ich mich jedoch, von dieser Regel abzuweichen. Da ich selbst ein Flüchtling war, wurde auch ich zu einem Stein des Gesamtbildes. Und so hielt ich es für angebracht, auch einige meiner persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen einfließen zu lassen. Meine persönlichen Bemerkungen sind immer sehr leicht als solche zu erkennen: Zum einen weise ich stets darauf hin, daß sie von mir stammen, zum anderen unterscheiden sie sich von denen der anderen Flüchtlinge dadurch, daß sie ohne Anführungszeichen abgedruckt sind. Ursprünglich setzte ich mich mit 306 Personen in Verbindung. Das Material dieses Buches basiert letztlich auf den Berichten von 190 ehemaligen Flüchtlingen (62%), die auf den Fragebogen antworteten - ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz, wenn man einerseits die Länge des Fragebogens und andererseits die Tatsache in Betracht zieht, daß üblicherweise etwa 25% der Angeschriebenen auf per Post zugeschickte Fragebögen antworten. Von den 38%, die sich nicht an der Studie beteiligen wollten, bin ich 16% näher nachgegangen. In den meisten Fällen hatten sie eine einleuchtende Erklärung, warum sie nicht mitmachen wollten, sei es aufgrund einer Krankheit oder weil sie ihre Erinnerungen bereits für den Eigengebrauch niedergeschrieben hatten. Die restlichen 22% habe ich aus Rücksicht auf das Stichdatum nicht weiterverfolgt. Von den 190 StudienTeilnehmern sind 58% weiblich und 42% männlich. Heute wohnen diese ehemaligen Flüchtlinge in Australien, Deutschland, England, Italien, Israel, Ranada, Neuseeland, Österreich, Schottland und den Vereinigten Staaten, wobei der größte Prozentsatz von ihnen in den Vereinigten Staaten und in England lebt. Innerhalb der USA kamen die Antworten von Bewohnern von 14 verschiedenen Staaten. Geflohen waren sie einst vor Hitler aus folgenden Ländern: Belgien, Deutschland, Holland, Italien, Jugoslawien, Österreich, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn. Zeitlich gesehen verließen sie das Dritte Reich zwischen 1933 und 1942, die meisten allerdings 1938 oder 1939; was die Altersstruktur zum Zeitpunkt der Flucht betrifft, so liegt die Bandbreite hier zwischen dem Rindesalter und der Lebensmitte. (Der älteste Studien-Teilnehmer, der erst kürzlich verstarb, war 95 Jahre alt. ) Ich erhielt 173 detaillierte Antworten auf den Fragebogen, wobei 57 Personen außerdem noch persönliche Schriftstücke, gedruckte Artikel, Photos, Dokumente und Gedichte mitschickten, die mit ihrem Leben in Zusammenhang stehen. 23 Teilnehmer sprachen ihre Erlebnisse auf Tonband, 17 antworteten nicht direkt auf den Fragebogen, sondern schickten Material, das mit ihnen und dem Thema der Studie zu tun hatte, wie etwa persönliche Artikel, Schriften und Aufzeichnungen. Da die Erinnerungen der Flüchtlinge die Grundlage dieses Buches dar-

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stellen, erhebt sich die Frage, ob man sich nach 50 Jahren noch auf sein Gedächtnis verlassen kann. Die Berichte haben zweifellos Gültigkeit, gibt es doch große Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Darstellungen. Jede Geschichte hat ihre Besonderheiten und erzählt von ganz spezifischen Erfahrungen, hinsichtlich der Ereignisse der damaligen Zeit, der Probleme, mit denen die Flüchtlinge zu kämpfen hatten, und der Gefühle, die sie damals empfanden, decken sich die verschiedenen Berichte aber. Außerdem stimmen auch Darstellungen, wie sie in anderen Studien und Biographien (ζ. B. Berghahn, 1984) gegeben werden, mit den in diesem Buch dargelegten überein. Es erstaunt auch wohl kaum, daß so einschneidende Ereignisse nicht leicht vergessen werden, sondern wahrscheinlich für immer im Gedächtnis bleiben. Außerdem sei noch einmal darauf hingewiesen, daß es das Ziel dieser Studie ist, die Ereignisse aus der Sicht der Betroffenen zu schildern, so, wie sie sie damals erlebt haben. Die Erinnerungen dieser Menschen haben sie für den Rest ihres Lebens geprägt. Ein Teilnehmer beschreibt sehr anschaulich die Absicht, die ich mit dieser Studie verfolgt habe: „(Was Sie mit Ihrem Buch bezwecken) das sollten sich meiner Meinung nach auch die Verantwortlichen für die Erziehung und die Historiker im Umgang mit dieser dunklen Periode der europäischen Geschichte zum Ziel setzen. Es genügt nicht, sich nur mit dem Exodus und den Erlebnissen und Gefühlen jener, die entkamen, während des Krieges zu beschäftigen. Wichtig ist es, Einzelschicksale und ihre Geschichte bis in die Gegenwart aufzuzeigen. Alles, was ein Mensch erlebte, der als Kind aus Hitler-Deutschland flüchtete, ist von unmittelbarer Bedeutung für eine Studie über die Auswirkungen auf jene, die entwurzelt wurden, als ihre Heimat unter die Macht Hitlers kam. Dasselbe gilt für alle Erfahrungen und für jedes Verhalten der betroffenen Menschen im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre, gleichgültig ob es uns normal und somit ,oberflächlich bedeutungslos' oder direkt traumatisch und somit,oberflächlich bedeutend' erscheint. Denn die frühe Erfahrung, plötzlich seine Wurzeln verloren zu haben, hat einen Gang der Ereignisse ausgelöst, der ohne diese Erfahrung zweifellos ganz anders verlaufen wäre." Im Anhang findet sich eine numerierte Liste aller Teilnehmer an der Studie (sechs baten um die Angabe eines Pseudonyms). Die im Text in Klammern gestellten Nummern sollen es dem Leser erleichtern, zu ermitteln, von wem die entsprechenden Antworten stammen. Wenn keine wörtlichen Zitate verwendet werden, habe ich mich bemüht, den Wortlaut sinngemäß wiederzugeben. Daß viele Ausführungen sehr flüssig geschrieben sind, darf nicht zu der Annahme verleiten, es hätten nur Leute mit einer Begabung für das Schreiben geantwortet. Sehr oft beschrieb ein kurzer Satz eine bestimmte Reaktion genauso klar und einsichtig wie eine

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längere Erklärung von jemandem mit größerem Talent zum Schreiben. Scheint ein Zitat ohne Nummer auf, so kann dies zwei Gründe haben: entweder um der Forderung des Betroffenen nach Anonymität zu entsprechen, oder um auch jenen Anonymität zu sichern, die in Kapiteln zitiert werden, in denen es um bleibende emotionale Folgen geht, einen Bereich also, wo die Intimität gewahrt bleiben sollte. Da ich Psychologin und nicht Historikerin bin, habe ich gerade nur so viele Angaben zum historischen Hintergrund gemacht, wie ich es für notwendig hielt, um dem Leser eine zeitliche Orientierung zu erleichtern. Unter den zahlreichen Quellen, die ich für das Hintergrundmaterial verwendet habe, habe ich mich vor allem auf die folgenden Bücher gestützt: William L. Shirer, The Rise and Fall of the Third Reich (1962) und Lily Baders Zeugenbericht aus ihrer unveröffentlichten Autobiographie One Life is not Enough (1956); zu den Erlebnissen der Flüchtlinge in Shanghai: David Kranzler, The History of the Jewish Refugee Community in Shanghai (1971); und zu den Erlebnissen in den Internierungslagern: Connary Chappel, Island of Rarbed Wire, Rochan Britain's Internees in the Second World War (1983) sowie Cyril Pearl, The Dunera Scandal (1990). Zwei Studien-Teilnehmer haben es mir freundlicherweise gestattet, bereits früher veröffentlichtes Material in diesem Buch abzudrucken: „The Gold Watch" von George Jellinek (Copyright 1987 New York Times Company) und zwei Gedichte von Gerda Mayer: „All the Leaves Have Lost Their Trees" (1978) und „Make Believe" (1988), wobei das Copyright für beide Gedichte bei Gerda Mayer liegt. Stella Hershans Beitrag wurde anschließend unter dem Titel „Memoir of Nazi Austria and the Jewish Refugee Experience in Austria" in American Jewish Archive (1991) veröffentlicht. In der Kurzdarstellung des Projektes, die an potentielle Teilnehmer ging, habe ich zwei Zitate verwendet, die für mich selbst in gewissem Sinne eine Inspiration waren, und ich hoffte, sie würden es auch für andere sein. In vieler Hinsicht umreißen sie das Ziel dieses Buches. Das eine stammt aus Primo Levis Aufsatz „Shame" (1988): Wir, die Überlebenden, sind nicht die wahren Zeugen . . . Wir Überlebenden sind nicht nur wenige, sondern auch eine untypische Minderheit; wir sind diejenigen, die aufgrund ihrer Ausflüchte oder Fähigkeiten oder einfach durch Glück nicht bis auf den Grund kamen. Jene, die dies taten, jene, die das Gorgonenhaupt gesehen haben, sind nicht mehr zurückgekehrt und können nichts mehr darüber erzählen. Wir sprechen als ihre Stellvertreter. Ich kann nicht sagen, ob wir dies aus einer gewissen moralischen Verpflichtung jenen gegenüber, die zum Schweigen gebracht wurden, heraus taten oder tun, oder um uns selbst von der Erinnerung an sie zu befreien; zweifellos fühlen wir uns dazu aber immer wieder auf das stärkste gedrängt." (S. 102)

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Das zweite Zitat stammt aus Betty Hillesums An Interrupted Life (1983), das sie mit 29 Jahren vor ihrer Deportation nach Auschwitz geschrieben hat: „Ich werde diesen schlanken Füllhalter schwingen, als wäre er ein Hammer, und meine Worte werden so viele Hammerschläge sein wie nötig, um die Geschichte unseres Schicksals herauszumeißeln, und damit einen Teil der Geschichte, wie er heute ist und nie zuvor war." In gewisser Hinsicht zeigt die in diesem Buch niedergeschriebene Geschichte auch - und wenn nur zum Teil - auf, was zumindest einige Opfer der Konzentrationslager erlebten, bevor sie in den Tod geschickt wurden, und was sie im Falle einer Auswanderung hätten erleben können und wie ihr Neubeginn ausgesehen hätte, wären sie nicht in ihrem letzten Kampf unterlegen. Denn viele der Holocaust-Opfer waren ebenso einfallsreich, aktiv, energiegeladen, aber auch ebenso verzweifelt wie jene, die überlebten. Es gab nur einen einzigen kleinen Unterschied - den tödlichen Zufall.

I UNTER HITLER Und dann kam unser Leben zum Stillstand

Der Morgen war noch voller Hoffnung. Am Abend herrschte Verzweiflung. Die jüdische Bevölkerung Österreichs wußte nur allzu gut, daß die Tragödie nun über sie hereingebrochen war. Die Absage der Volksabstimmung bedeutete das Ende jeder Hoffnung. Die Volksabstimmung war von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg für den 13. März 1938 angesetzt worden. Ziel dieser Abstimmung war es, ein für alle Mal festzustellen, ob die Österreicher wirklich, wie Hitler behauptete, von den Deutschen annektiert werden wollten. Jahre hindurch hatten die Nazis in Deutschland propagandistisch die Idee verbreitet, alle Deutschen sollten zu einem Reich, und zwar dem Großdeutschen Reich, gehören. Die Nazis waren der Meinung, Österreich sollte Teil Deutschlands werden und an der Beherrschung der minder reinen Rassen teilhaben. Schuschnigg war ein Diktator, wenn auch ein gemäßigter. Es ist richtig, daß es damals weder Presse- noch Redefreiheit gab. Auf der anderen Seite bestand aber auch für niemanden eine wirkliche Gefahr: Es gab weder mitternächtliche Verhaftungen, noch quälend in die Länge gezogene Gefängnisaufenthalte oder einen institutionalisierten Antisemitismus. Auch unter der Bevölkerung herrschte keine große Furcht. Schuschnigg gehörte der bürgerlichen Partei an, den Christlichsozialen. Säulen ihrer Bewegung waren Konservatismus und Katholizismus. Schuschniggs Problem bestand darin, daß er von einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung nicht unterstützt wurde. Beispielsweise den Sozialdemokraten, besser bekannt als „Sozis". Dieser Partei gehörten Arbeiter, Liberale und all jene an, für die der Katholizismus nicht oberste und ausschlaggebende Priorität besaß. Die Sozialdemokraten aber waren 1934 in einem Aufstand niedergeschlagen worden. Sie waren von den Christlichsozialen ausgeschaltet worden, die sogar auf einen großen, überwiegend von Sozialisten bewohnten Wohnbaukomplex schössen. Dieses Vorgehen hatten die Sozialisten den Christdemokraten nie vergeben. Und so konnte Schuschnigg also nicht mit der Unterstützung der Sozialisten rechnen, deren Zorn sich gegen ihn richtete. Dann gab es noch die Illegalen, deren Anzahl in die Tausende ging. Sie waren geheime Nazi-Sympathisanten und Aktivisten und umfaßten ein breites Spektrum. Einige waren Anhänger Hitlers, beteiligten sich aber an keinen illegalen Aktionen. Begeistert von dem Bild der Macht, durchdrun-

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gen von der Idee, wieder eine mächtige Nation zu werden, unterstützten sie Hitler in Wort und Geist. Dann gab es auch noch jene, die sich lediglich nach allen Seiten hin absichern wollten, Opportunisten, die zu jener Seite - welche auch immer es war - gehören wollten, die letztlich die stärkere war. Und schließlich die Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, die illegal tätig waren - sie legten Bomben, schleusten sich in diverse Organisationen ein und stellten Listen von Sympathisanten und Gegnern zusammen. Sie waren gerüstet für den großen Tag, überzeugt, daß Hitler Österreich letzten Endes unter Rontrolle halten würde. Und dieser Tag war am 25. Juli 1934 beinahe gekommen, als die Nazis das Bundeskanzleramt besetzten und Engelbert Dollfuß, damals Kanzler und Führer der Christlichsozialen Partei, niederschossen. Sie ließen Dollfuß am Boden des Bundeskanzleramtes einfach verbluten. Aber der Putsch schlug fehl, und Schuschnigg wurde Kanzler. Kein Wunder, daß ihm die Illegalen verhaßt waren. Da stand er nun, mit einem geteilten Österreich. Schuschnigg haßte die Nazis und hegte auch keine Sympathien für die Sozialisten. Auch die Sozialisten verabscheuten die Nazis. Nur die Christlichsozialen unterstützten Schuschnigg. Dennoch war die jüdische Bevölkerung nicht sonderlich beunruhigt. Sie glaubten, daß die meisten Leute es bevorzugen würden, wenn Österreich ein unabhängiges Land bliebe, und hielten die Österreicher für zu gewitzt, als daß sie ihre Freiheit dem Deutschen Reich opfern würden. Außerdem waren die Österreicher bekannt für ihre Unbekümmertheit, für ihre Schlamperei und ihren Mangel an Organisation und Zielstrebigkeit. Sie waren das genaue Gegenteil der Preußen mit ihrem fast krankhaften Bedürfnis nach Struktur, ihrem Militarismus und ihrer harten deutschen Aussprache. Um Hitler zu beweisen, daß Österreich ein freies Land bleiben wolle, rief Schuschnigg zu einer Volksabstimmung auf: Stimmt Ja, und Österreich bleibt unabhängig, stimmt Nein, und Österreich wird ein Teil Deutschlands. In diesem gefährlichen Augenblick, wo die Machtübernahme durch die Nazis drohte, kam es schließlich zum Schulterschluß zwischen Sozialisten und Christlichsozialen. Der Riß zwischen den beiden Parteien war gekittet. Der 11. März 1958 war ein strahlend warmer, aber windiger Tag. In Wien herrschte Hochspannung. Die jüdische Bevölkerung war ängstlich, aber zuversichtlich. Man glaubte, Grund zum Optimismus zu haben. Die politischen Kräfte, die gegen Hitler waren, schienen alles fest in der Hand zu haben. Den ganzen Tag hindurch fuhren Wagen voll junger Leute, die für die Unabhängigkeit Österreichs eintraten, in den Straßen auf und ab. Sie verteilten Flugzettel an die Passanten, in denen sie diese aufforderten, mit Ja für die Unabhängigkeit Österreichs zu stimmen. Die Flugzettel bedeckten die Straßen der Stadt wie Schnee. Den ganzen Tag lang wirbelte

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der Wind sie hoch in die Luft, ließ sie dann wieder fallen, um sie erneut hochzuwirbeln, als ob die Luft selbst über die Stärke des Landes frohlockte, die sich nun endlich zeigte. Alle Herzen freuten sich über die Solidarität, die nun angesichts der Bedrohung durch die Nazis an den Tag gelegt wurde. Natürlich waren die Feindseligkeiten zwischen den politischen Parteien noch überall zu merken. Und gerade diese Feindseligkeiten machten der Direktorin einer Mädchenvolksschule Angst (Bader, 1956). Sie erinnert sich später an ihre damaligen Eindrücke: „Hauptschauplatz der Auseinandersetzungen zwischen den Parteien war eine der Hauptstraßen Wiens, die Kärntner Straße. Auf der einen Seite der engen Straße standen die Regierungstreuen, schwangen die rot-weiß-rote Fahne Österreichs und riefen ihren Wahlspruch: ,Rot-weiß-rot bis in den Tod!' Mit Stöcken bewaffnete und in aller Unverfrorenheit Hakenkreuze tragende Nazis schrieen von der anderen Straßenseite: ,Ein Volk, ein Reich, ein Führer!' Fäuste wurden geschwungen, Steine geworfen, und die Polizei war kaum in der Lage, die beiden Gruppen auseinanderzuhalten. Lastwagen mit jungen Leuten, welche die Parolen der Regierung skandierten, rasten durch die Straßen und trugen so das ihre zu der knisternden Atmosphäre bei." (S. 272) Aber solche Konfrontationen schienen selten zu sein. In den Straßen zeigten sich weniger Nazi-Sympathisanten als erwartet. Alle Nazi-Gegner - dazu zählten die jüdische Bevölkerung, die Sozialisten und jene praktizierenden Christen, die Hitler aufgrund seiner anti-religiösen Ansichten ablehnten - hofften, daß diese etwas schwächere Präsenz von Hitlers Gefolgsleuten ein Hinweis für deren Resignation war. Dann tauchte plötzlich ein Gerücht auf, ein schreckliches, angsterregendes und drohendes Gerücht: Hitler, der offensichtlich fürchtete, zu viele Österreicher könnten mit Ja und damit für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmen, hätte befohlen, die Volksabstimmung abzusagen. Natürlich konnte er dies nicht offiziell anordnen, war er doch ein ausländischer Regierungschef. Aber seine Macht war so groß, daß Schuschnigg sich ihm nicht zu widersetzen wagte. Es war vorherzusehen, was ein Widerstand zur Folge hätte. Hitler würde mit großer Sicherheit in Österreich einmarschieren. Die Nazi-Gegner brachten sich in ihre Wohnungen in Sicherheit und lauschten vor den Volksempfängern. Alles wartete in einem Zustand quälender Spannung. Die Verhängung des Ausnahmezustands erhöhte die Angst der Direktorin um eine weitere Stufe (Bader, 1956). In ihren Erinnerungen fährt sie fort: „Unsere Unsicherheit fand um 7 Uhr ein Ende, als die Walzer- bzw. leichte Unterhaltungsmusik plötzlich unterbrochen wurde. Schuschnigg verkündete über den Äther mit gebrochener Stimme und kaum in der Lage, seine Tränen zurückzuhalten, daß er der Gewalt weiche. Auf seine letzten Worte ,Gott schütze Österreich!' folgten ein Knarren und andere

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wirre Geräusche, die uns klarmachten, daß Schuschniggs Rede mit Gewalt beendet worden war. Der Anschluß, Hitlers Annexion Österreichs, stand unmittelbar bevor. Wir waren wie betäubt. Mit Tränen in den Augen und kaum fähig zu glauben, was wir vernahmen, hörten wir Schuschniggs Abschiedsrede zu. Schluchzend preßten wir uns aneinander. Was sollten wir nun tun? Welche Entscheidung sollten wir treffen? In diesem Augenblick erinnerten wir uns daran, was uns eine Freundin einige Monate zuvor gesagt hatte. Sie war mit einem Diplomaten verheiratet, der in den letzten Jahren Botschafter in Berlin gewesen war. Sie sagte uns flüsternd, nachdem sie sich zuvor überzeugt hatte, daß wir nicht abgehört wurden: ,Ich möchte euch warnen. Sollten die Nazis je in Österreich die Macht ergreifen, laßt euch nicht verleiten zu glauben, ihr könntet vielleicht unter ihnen leben. Das einzig mögliche in diesem Fall ist es, die Flucht zu ergreifen. Zögert nicht, flieht sofort.'" (S. 273) Die Direktorin floh indes nicht in dieser Nacht. Die Mädchen, die ihr Pensionat besuchten, waren größtenteils jüdischer Herkunft und kamen aus ganz Europa. Sie hatte das Gefühl, sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen zu können. So beschloß sie zu warten, bis die Mädchen entweder nach Hause geschickt werden konnten oder ihre Eltern sie abholen kamen. Bald waren alle Grenzen dicht, und eine Flucht war nicht mehr möglich. „So blieben wir", erinnert sie sich weiter, „mit dem schrecklichen Gefühl, daß uns ein grauenhaftes Monster an der Kehle saß, ein Monster, dessen Stärke und Wildheit wir nur vage ahnten. Das Monster war damals noch formlos, seine Klauen nur undeutlich erkennbar." (S. 275) Aber jeden Tag und jede Stunde nahm das Monster eine deutlichere Gestalt an. Terror und Zerstörung setzten noch in dieser Nacht ein. Der Mann der Direktorin, ein Arzt, wurde zu einem sterbenden Patienten gerufen. Er fühlte sich verpflichtet, in dieser gefährlichen Nacht seine Wohnung zu verlassen. Während er auf den Tod seines Patienten, der nur allzu langsam kam, wartete, stand der Arzt am Fenster des Krankenzimmers und blickte in die dunkle Nacht. Die Finsternis auf den Straßen paßte zu seinen düsteren Gedanken. Später erzählte er seiner Frau, Zeuge welcher Szene er dabei wurde: „Plötzlich flammten die Lichter in einem großen jüdischen Geschäft auf der anderen Straßenseite auf. Lastwagen hielten davor. Soldaten in deutschen Uniformen und mit Bajonetten im Anschlag sprangen aus diesen heraus. Die Türen des Geschäftes wurden aufgebrochen, die riesigen Auslagenscheiben zerbarsten unter den Schlägen mit den Gewehrkolben. Große Packen wurden den auf den Lastwagen verbliebenen Soldaten zugeworfen. Die ganze Aktion dauerte nicht länger als zehn Minuten. Dann waren die Lastwagen mitsamt den Soldaten verschwunden." (Bader, 1956, S. 274) Hätte nicht die erste Dämmerung die verstreut umherliegenden Waren und die umgestoßenen Ladentische in

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dem Geschäft gezeigt, hätte der Arzt dies alles für einen bösen Traum halten können. Aber es war kein Traum. Das bislang gestaltlose Monster nahm nun Gestalt an. Der nächste Tag dämmerte herauf über einem jubelnden Österreich. Es schien, als trüge fast jeder Österreicher ein kleines Hakenkreuz am Aufschlag, ein Zeichen dafür, daß er ein Illegaler gewesen war. Zahllose Österreicher erschienen in Nazi-Uniformen oder zumindest mit Hakenkreuz-Armbinden, die in den Kleiderkästen verwahrt gewesen waren und nur auf diesen Tag gewartet hatten. Während die Deutschen mit offenen Armen begrüßt wurden und die Volksempfänger endlose Reden Hitlers und seiner Gefolgsleute übertrugen, war den meisten Juden klar, welch schreckliches Schicksal über sie hereingebrochen war. So auch die Direktorin: „Es war, als hätte ein Zauberer unsere Welt mit einem vergifteten Zauberstab berührt. Alle um uns herum, uns ebenso vertraut wir unsere eigene Haut, hatten ein feindliches Gesicht aufgesetzt. Da gab es den bejahrten, rundlichen Polizisten, dem ich jeden Tag auf meinem Weg von zu Hause begegnete. Heute trug er ein Hakenkreuz und wurde von einem SA-Soldaten begleitet. Letzterer war leicht als ein solcher zu erkennen, nicht nur, weil er ein braunes Hemd, hohe Stiefel und eine Militärmütze sowie ein rotes Hakenkreuz trug, sondern auch an seinem brutalen Äußeren." (S. 275) Es gab zahllose Massenaufläufe und Szenen einer hysterischen Begrüßung in den Straßen. Diese wimmelten von Leuten, die dahinmarschierten und Hakenkreuzfahnen schwangen. Jede Fahne war eine mögliche Bedrohung für die Direktorin, die fühlte, daß selbst die Häuser, geschmückt mit Hakenkreuzen (die offensichtlich schon bereitgelegen hatten), ihre Feinde geworden waren. Nicht nur den Erwachsenen war klar, daß das tägliche Leben plötzlich eine Metamorphose mitgemacht hatte. Die Änderungen waren so radikal, daß selbst die Rinder sich voll bewußt waren, was da vor sich ging. Als 14jähriger, der Waren für das Lebensmittelgeschäft seiner Mutter kreuz und quer in der Stadt auslieferte, hatte Meir (134) ausreichend Gelegenheit, die Ereignisse und ihre Entwicklung zu beobachten: „Es war am 12. März, einem klaren, sonnigen Morgen, als wir das entfernte Brummen von Flugzeugen vernahmen, das bald zu einem ohrenbetäubenden schrecklichen Getöse von 300 deutschen Flugzeugen mit Hakenkreuzen anschwoll. Sie flogen sehr niedrig über den Dächern Wiens und bedeckten die Straßen der Stadt mit Tonnen von Flugblättern. Ich hob eines auf. ,Der Führer und die deutsche nationalsozialistische Regierung grüßen die deutsche Stadt Wien.' Aus jedem Fenster hing eine rot-weiß-rote Fahne. Auf diese Fahnen aufgenährt waren improvisierte Hakenkreuze, von denen einige kaum das Kruckenkreuz von Schuschniggs Partei verbargen. Auf allen Plätzen waren Fahnenmaste aufgestellt worden. Fahnen, und immer noch mehr Fahnen, ein blutrotes Meer flatterte bei klarem Son-

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nenschein im Wind. Nicht eine Wolke zeigte sich am Himmel. Der Rundfunk sendete Reden von Hitler, Göring und Goebbels, die von Marschmusik unterbrochen wurden. In der Luft schwangen die ekstatischen Rufe der Massen. Immer wieder das nervenzermürbende: ,Sieg Heil, Deutschland erwache, Jude verrecke!'". Auf dem Heimweg machte ich einen Umweg, um jenen Platz anzuschauen, wo Hitler am nächsten Tag in Wien einziehen sollte. Die ganze einst so vertraute Umgebung schien nicht wiederzuerkennen. Ein Meer von Fahnen, hölzerne, vergoldete Adler, jeder an die fünf Meter hoch und geschmückt mit goldenen Hakenkreuzen, waren aufgestellt worden. Girlanden aus Grünpflanzen säumten alle Straßen. Hunderte Männer arbeiteten fieberhaft an allen Ecken und Enden. Noch keine 24 Stunden waren vergangen, und schon hatte sich das Leben grundlegend verändert. Gestern war noch alles ganz normal. Heute traf jeder die Vorbereitungen für Hitlers triumphalen Einzug. Es sollte eine gigantische Massendemonstration auf dem Heldenplatz werden. Hitler sollte eine seiner entscheidenden Reden halten. Als ich meinen Weg nach Hause fortsetzte, erblickte ich die ersten geplünderten und ausgebrannten jüdischen Geschäfte, ein grauenhafter Anblick. Kurz bevor ich in unsere Straße einbog, sah ich die ersten deutschen Soldaten. Am nächsten Tag spazierte ich zur Mariahilferstraße, um Hitlers Einzug in Wien zuzuschauen. Ich stand inmitten einer riesigen Menschenmenge, die Parolen brüllte und mit glänzenden Augen auf Hitler wartete. Irgendwelche Anführer gaben Befehle und Anweisungen, wann und wie einstimmig geschrieen werden sollte. Diese außer sich geratene, frohlockenden Menge mußte zweifellos nicht erst angestachelt werden. Die Kirchenglocken stimmten ein und läuteten den feiernden Wienern ihren Gruß. Plötzlich ein unglaublicher Aufschrei: ,Er kommt!' Und da kam Hitler, aufrecht stehend in einem offenen Wagen, seinen rechten Arm in Schulterhöhe zum Gruß erhoben. Er fuhr rasch vorüber, und alles war vorbei." Meir kehrte noch vor seiner Mutter zu deren Geschäft zurück. „Mutter war an jüdischen Geschäften vorübergekommen, die zertrümmert, geplündert und ausgebrannt worden waren. Unübersehbare Menschenmassen strömten durch die Straßen und schrieen ihr blutrünstiges ,Jude verrecke!' Ihre Kunden drehten sich zur Seite, um sie nicht grüßen zu müssen. Sie wurde gezwungen, ein Schild mit der Aufschrift ,Das ist ein jüdisches Geschäft' in ihre Auslage zu stellen." Schon vom allerersten Tag an schwebte über dem täglichen Leben Gefahr. Sofort kam es zu Festnahmen. Es war sehr einfach für die Nazis, Juden auszuforschen, hatten sie sich doch lange auf diesen Tag vorbereitet. Einerseits hatte die jüdische Kultusgemeinde, der fast alle Wiener Juden angehörten, stets Listen der jüdischen Einwohner geführt. Die Nazis hat-

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ten diese Listen beschlagnahmt, und es war daher ein leichtes für sie, die Juden ausfindig zu machen, die sie zuerst festnehmen wollten. Zu jenen, die sie zu allererst festnehmen wollten, zählten die wohlhabenden Juden. In den Jahren vor dem Anschluß hatten sich die Illegalen, durchaus keine Bummelanten, eingehend mit den finanziellen Verhältnissen ihrer jüdischen Mitbürger beschäftigt. Diese geheime Arbeit kam 1936 zutage (John, 1990). Einige Arbeiter, die in einem Haus in Kritzendorf beschäftigt waren, stießen zufällig auf eine Karteikarte, auf der in allen Einzelheiten das Vermögen aller in dieser Gegend lebenden Juden aufgezeichnet war. Diese Art von Nachforschungen erwiesen sich nach dem Anschluß als Goldmine, war es den Nazis doch so möglich, die wohlhabenden Juden zu lokalisieren. Wie rasch die Geschicke der Menschen auseinanderlaufen und wie drastisch unterschiedlich ihr Schicksal werden sollte, all das wurde schon am ersten Tag deutlich. Nach dem Ende der Rede Schuschniggs nahm ein 80jähriger Mann (141) ein Taxi zum Bahnhof und stieg in den Zug um 9.35 Uhr nach Zürich, und damit in Sicherheit. Der Besitzer (172) einer großen Schuhhauskette versuchte am Abend desselben Tages ebenfalls einen Zug nach Zürich zu nehmen. Er wurde am Bahnhof festgenommen und später in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Seine Frau sprang aus einem Fenster und war auf der Stelle tot. Bei ihrem Begräbnis war auch die Gestapo anwesend, um dort ihren Sohn zu verhaften, dieser aber enttäuschte sie, da er nicht zu der Beerdigung seiner Mutter kam. Alle, die vor dem Anschluß politisch gegen die Nazis gearbeitet hatten, sowie Vertreter der Presse, die für eine Diktatur stets eine Bedrohung darstellen, waren unmittelbar gefährdet. Eine Frau (4) erinnert sich an das Unheil, das über ihre Familie hereinbrach: „Mein Vater, ein Journalist, wurde nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich sofort festgenommen. Es war schrecklich. Meine Mutter erholte sich damals gerade von einer schwereren Operation. Das Telephon läutete, und man teilte ihr mit, daß Vater verhaftet worden sei. Wir verbrachten die Nacht damit, alles irgendwie Verdächtige, wie beispielsweise Zeitungsausschnitte, zu verbrennen." Solche Erinnerungen sind alles andere als selten, kam es doch aus zahllosen Gründen zu Verhaftungen, die häufig von jenen angezettelt wurden, die schon seit Monaten nach Beute lechzten. Kurz nach dem Anschluß stand Anitta (43), die 14jährige Tochter eines Künstlers, SS-Leuten gegenüber, das Gewehr im Anschlag, die ihrer Familie befahlen, die hübsche Wohnung innerhalb von drei Tagen zu räumen; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ein Nachbar schon seit einiger Zeit darauf gespitzt. Ebenso unvermittelt traf die Familie ein weiterer Schlag, an den sich die Tochter erinnert, und zwar diesmal seitens der Klientel ihres Vaters: „Nazis, die früher bei meinem Vater etwas gekauft hatten, plünderten unsere Wohnung und setzten uns vor die Tür. Dann plünderten sie auch noch das

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Geschäft meines Vaters und schlössen es. Sie verhafteten meinen Vater, und wir hatten keine Ahnung, wohin er gebracht wurde. Drei Tage später kehrte er ohne Vorderzähne, dafür aber mit schwarzen und blauen Flecken auf dem ganzen Körper zurück." Verhaftungen konnten die Folge einer unachtsamen Bemerkung sein. Ein junger Familienvater (106) lebte mit seiner Familie in einem kleinen Dorf, wo er mit seinen Stammtischkumpanen das Dorfgasthaus besuchte. Dort machte er die weitblickende, aber unkluge Bemerkung: „Der Pharao war schlecht zu den Juden, aber die Juden gibt es immer noch. Das gleiche wird mit Hitler geschehen." Zehn Minuten später kamen sie, um ihn abzuführen. Er wurde schließlich in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht, kam dort aber wieder heraus, und es gelang ihm, bis nach Shanghai zu kommen. Nach dem Krieg kehrte er nach Österreich zurück. Seine Frau und ihr gemeinsamer zweijähriger Sohn waren in einem Lager umgekommen. Die Verhaftungen erfolgten völlig willkürlich. Die SA war ständig auf „Fang": In Straßenbahnen, an Plätzen, wo Juden ihre Geschäfte abwickelten, und vor den Konsulaten, vor denen die Juden Schlange standen. Stella (72) sah während eines Spazierganges einen Lastwagen, der mit Männern in Mantel und Hut überfüllt war. Zusammengepfercht wie die Sardinen, standen sie auf dem schwankenden Fahrzeug, den blanken Schrecken in ihren Gesichtern. Der Lastwagen bog um die Ecke Richtung Gestapo-Hauptquartier. Nichtjuden trugen kleine Hakenkreuze auf ihren Aufschlägen. Mit ihren blanken Aufschlägen waren die Juden leicht zu erkennen. Einige jüdische Männer steckten sich Orden aus dem Ersten Weltkrieg an und hofften, so einer Verhaftung zu entgehen. Es gelang ihnen nicht. In den Familien herrschte immer höchste Aufregung, wenn ein Mitglied das Haus verlassen mußte. Kam der Betreffende nicht zurück, wandelte sich diese Aufregung in wohlbegründete Angst. Die 18jährige Nellie (73) fürchtete, ihr betagter Vater sei verhaftet worden. Zwei Tage hindurch wartete die Familie mit steigender Furcht. Als er schließlich zurückkam, war er ein körperliches Wrack. Er war auf einen mit Viehskeletten beladenen Lastwagen geworfen und gezwungen worden, auf diesen Kadavern zu liegen, während er geschlagen wurde. Noch heute hat seine Tochter seine zerschundene Gestalt bei seiner Rückkehr vor Augen. Da die Gefahr, irgendwo festgenommen zu werden, allgegenwärtig war, versuchten Menschen, deren Äußeres dem Klischee der Juden entsprach - lange Nase oder dunkle Haut -, ihre Häuser möglichst wenig zu verlassen. (42) Die vorrangige Aufgabe, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen, wurde einem Familienangehörigen übertragen, der weniger semitisch aussah. Brutal geschlagen zu werden, war nicht das Schlimmste, mit dem man während einer Razzia rechnen mußte. „Ein junger, 20jähriger Mann ver-

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schwand von der Straße. Seine Familie suchte nach Spuren von ihm. Sie gingen von einem Polizeikommissariat zum nächsten. Sie nahmen Rontakt zu allen ihnen bekannten, einflußreichen Leuten auf. Aber der Name des Sohnes schien auf keiner der Listen auf. Er war einfach verschwunden. Einige Tage später kam ein Telegramm aus Buchenwald: ,Ihr Sohn wurde bei einem Fluchtversuch erschossen. Gegen Überweisung von 2,50 Mark wird ihnen eine Urne mit seiner Asche zugesandt.'" (Bader, 1956, S. 275) Natürlich konnten diese Verhaftungen auch von jemandem angezettelt werden, der hoffte, sich damit bei den Nazis in ein gutes Licht zu bringen. Alles, was man tun mußte, war, beim Gestapo-Hauptquartier anzurufen und irgendeinen Verdacht über eine illegale Aktivität zu äußern. Freundinnen der oben erwähnten Direktorin wurden auf diese Weise denunziert. Einige Damen (darunter die Tochter des berühmten Dirigenten Bruno Walter) hatten Sich privat getroffen. Plötzlich läutete es stürmisch, und sechs Gestapo-Leute mit gezückten Pistolen stürmten herein. Sie durchsuchten das ganze Haus, nahmen die gesamte Gesellschaft fest und pferchten sie auf Lastwagen, die auf der Straße warteten. Gleichzeitig mit der Gestapo waren auch zwei der Ehemänner angekommen. Als sie sahen, daß ihre Frauen verhaftet wurden, ersuchten sie die Gestapo-Leute, sie an ihrer Statt mitzunehmen. Die Frauen wurden freigelassen, aber die beiden rein zufällig verhafteten Männer kamen nach Dachau. Später stellte sich heraus, daß ein Dienstbote, der erst kürzlich entlassen worden war, das Treffen als kommunistische Versammlung denunziert und die Gestapo verständigt hatte. Für die SS oder die Gestapo-Leute war es nicht einmal notwendig, jemanden zu Hause aufzusuchen. Man konnte per Telephon angerufen werden, wobei dann eine strenge Stimme dem jeweiligen befahl, am Polizeikommissariat zu erscheinen. Einen solchen Anruf erhielt auch ein junger Mann namens Richard (145). Rasch rief er seinen Anwalt an, und so gestärkt machte er sich auf den Weg zu seinem Polizeikommissariat. Vorahnungen quälten ihn auf diesem Weg. War dies eine Routine-Untersuchung? Irgendein geringfügiges Vergehen? Richard war stets bedacht gewesen, die engen Grenzen der neuen Gesetze in keiner Weise zu übertreten. Zitternd überschritt er die Schwelle des Gestapo-Hauptquartiers. Er fühlte sich etwas sicherer, hatte er doch mit seinem Anwalt jemanden zur Seite, der für ihn sprechen konnte. Dieser wurde aber barsch weggeschickt. Man brachte Richard nach Dachau, wo er bis zur Tschechenkrise blieb, als alle Gefangenen nach Buchenwald überführt wurden. Es stand in jedermanns Macht, einen Juden zu denunzieren, und jeder, der irgendwann einmal einen Groll gegen einen anderen gehegt oder jemanden seines Besitzes wegen beneidet hatte, wurde zu einer möglichen Gefahrenquelle. Lang vergessene Ressentiments waren ein möglicher

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Grund für Anschuldigungen, die sogar den Tod bringen konnten. Jeder konnte Anschuldigungen erheben - Lehrer, Mitschüler oder Nachbarn, die Illegale gewesen waren. Eine kleine Auseinandersetzung in einem Frisiersalon versetzte eine Frau in größte Angst: „Einige Jahre vor dem Anschluß machte mein Friseur mir eine Dauerwelle und verbrannte mir dabei den Hals. Ich ärgerte mich darüber und beschimpfte ihn. Nach dem Einmarsch Hitlers lief ich ihm zufällig auf der Straße in die Arme. Er zischte mir entgegen: ,Jetzt werde ich es ihnen zeigen, ich werde ihnen die Gestapo auf den Hals hetzen.'" Nicht jede Drohung hatte auch tatsächlich Folgen, beunruhigte den Betreffenden aber zumindest und führte zu verzweifelten Diskussionen in der Familie, was denn nun zu tun sei. Sollte der Anrufer beschwichtigt werden? Ignoriert werden? Sollte man die Wohnung sofort verlassen, für den Fall, daß die Gestapo schon im Anmarsch war? Ich erinnere mich, daß mein Vater zu Hause in der Nacht immer wieder angerufen wurde: „Doktor", flüsterte die Stimme, „haben Sie immer noch ihr Auto? Doktor, wie lange glauben Sie, werden Sie es noch behalten können?" Nirgends war man sicher - weder innerhalb noch außerhalb der eigenen vier Wände. Aus dem Radio dröhnten Tag und Nacht Hitlers Reden. Ich erinnere mich auch noch an unser eigenes Dienstmädchen Mitzi, die darauf bestand, daß das Radio auf höchster Lautstärke eingeschaltet bleiben mußte; so schallte zu jeder Stunde Hitlers Stimme durch unsere Wohnung. Wir trauten uns nicht, Widerstand zu leisten. Das Dienstmädchen wurde dicker und dicker, in dem gleichen Maße, wie meine Mutter dünner wurde. Ich hatte das Gefühl, als würde sie irgendwie das Leben aus meiner Mutter heraussaugen. Jedes Haus hatte einen Hausmeister, meist eine Frau, die von der Gestapo befragt werden konnte. Das Leben hing oft von einem einzigen Wort von ihr ab. Es war ihre Aufgabe, das große Haupttor zu öffnen, wenn Bewohner abends spät nach Hause kamen. Wenn sie sich über diese Pflicht ärgerte, mußten jüdische Hausbewohner dies unter Umständen mit ihrem Leben bezahlen. Die SS kam zu unserem Haus und ging direkt zur Hausmeisterin. „In welchen Wohnungen wohnen Juden?" Natürlich fiel unser Name. Aber die Hausmeisterin war eine gute Seele und fügte rasch hinzu: „Ja, aber der Doktor hat überhaupt kein Geld; sind ganz arm." Und die SS ging wieder weg. Das nächste Mal würde es vielleicht nicht so glimpflich abgehen, aber für dieses eine Mal hatte die Hausbesorgerin uns das Leben gerettet. Da die Hausmeister über das Rommen und Gehen aller Bewohner Bescheid wußten, waren sie ein höchst nützliches Werkzeug für die Nazis und konnten von diesen dazu eingesetzt werden, um irgendeine versteckte Beute auszukundschaften. Viele Hausmeister mußten nicht lange genötigt werden, sondern stellten sich rasch in den Dienst von SS und Gestapo. Ein damals 20jähriger Mann (30) erinnert sich: „Die Haus-

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meisterin wurde zur Aufseherin ernannt. In den nächsten Tagen wurde nahezu alles in der Wohnung meiner Mutter versiegelt. Ende April kam die SS wieder. Die Hausmeisterin berichtete über alle Gespräche zwischen ihr und den Hausbewohnern. Meine Mutter wurde geschlagen, weil sie der Hausmeisterin nicht gehorcht hatte." Im Mai kamen sie wieder mit Eichmann. Er war sehr höflich, gleichzeitig aber angsteinflößend. Das Eigentum jedes Juden war wichtig. Der Bürokrat Eichmann bestand darauf, daß alles „korrekt" ablief. Er verlangte die Unterzeichnung eines Papieres, daß das gesamte Eigentum der Familie dem Deutschen Reich überlassen wurde. Der Schock über diese Besuche wäre noch größer gewesen, hätte die Familie über Eichmanns spätere Rolle Bescheid gewußt. Eine der Aufgaben der stets umherstreifenden SA war es, Juden aus ihren Wohnungen zu zerren und sie zu zwingen, die Straßen zu schrubben. Dies hatte eine mehrfache Funktion: Einerseits wurden die Straßen von den noch immer vorhandenen Pro-Schuschnigg-Parolen („Stimmt mit Ja") gesäubert, und andererseits wurden die Juden gedemütigt, und obendrein stellte dies eine Belustigung für die Bevölkerung dar. Das Alter der Juden oder ihre Bekanntschaft mit jenen, die sie aufgriffen, verhinderte nicht, daß die Wahl auf sie fiel, ja machte es sogar noch wahrscheinlicher, daß sie auf die Straßen gezerrt wurden. Sowohl der Vater als auch der Großvater einer Frau (20) wurden von ehemaligen Angestellten abgeholt, um die Straße und Toilettenanlagen zu schrubben. Auf den Gehsteigen zwangen die Nazis mit Knüppeln in den Händen und unter den „Saujud"Rufen einer johlenden Menge alte bärtige Männer, Gymnastik zu machen (72). Meir (134) erlebte eine Abart dieser Unterhaltung: Juden wurden gezwungen, ihre besten Kleider anzuziehen, um die Straßen zu schrubben. Die lachenden Umstehenden amüsierten sich damit, sarkastische Bemerkungen zu machen. Einer der Zuschauer schlug einem Juden mit einem der Besen auf den Rücken und stieß ihn damit in das schmutzige Wasser. Eine andere allgemein geübte Praxis war es, einen jüdischen Geschäftsinhaber zu zwingen, ein riesiges JUDE auf seine Auslagenscheiben zu malen und ihm dann einen horrenden Preis für die Farbe zu verrechnen. Auch dieses Spiel endete oft mit sadistischer Gewalt. Die Wunden, die durch solche Erlebnisse geschlagen wurden, schwärten oft noch Jahre hindurch. Ein ehemaliger Einwohner einer Kleinstadt (94) erinnert sich: „Meine Menschenwürde wurde bis ins Innerste erschüttert." Die Verletzung war so tief, daß einige Leute jahrelang nicht darüber sprechen konnten. Eine Mutter (162), die gezwungen wurde, den Gehsteig auf Händen und Knien zu schrubben, erzählte ihrer Familie erst viele Jahre später davon. Es gab vieles, von dem Eltern nicht wollten, daß ihre Kinder es sehen und hören sollten. Was mich betrifft, so setzten die Bemühungen meiner Eltern zu meinem Schutz schon in der Nacht des Anschlusses ein. Nach

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dem Abendessen erklärte mein besorgt dreinblickender Vater meiner Schwester und mir, daß das Essen verdorben gewesen sei und wir ein Gegenmittel einnehmen sollten. In Wahrheit gab er uns ein Schlafmittel. Mein Vater, der Schießereien während der Nacht befürchtete, wollte uns vor diesem Lärm schützen. Auf lange Sicht gesehen aber war ein Schutz unmöglich. Einige Tage später sah ich auf meinem Heimweg von der Schule gegenüber der berühmten Konditorei Aida eine Menge spottender Leute und Männer und Frauen, die auf Knien die Straße schrubbten. Ich rannte nach Hause. Ich hatte bereits davon gehört, nun hatte ich es auch gesehen. Das war ein großer Unterschied. Straßen von Juden schrubben zu lassen, war nicht die einzige Unterhaltung für die breite Masse. Da gab es auch noch eine Zeitung, Der Stürmer, die in Ständern an den Straßenecken aufgestellt war und die Leute erziehen und über die Doktrin der Nationalsozialisten aufklären sollte. Der Herausgeber dieser Zeitung, Julius Streicher, galt als moralisch derart verdorben, daß selbst so manche nationalsozialistische Funktionäre nichts mit ihm zu tun haben wollten. Seine Zeitung brachte Karikaturen von Juden mit langen Nasen und schmutzigen Spinnenfingern, die sich nach Geld und „schönen deutschen Mädchen" streckten. Ich erinnere mich, wie ich einen großen Bogen um die gierige Menge machte, die Schlange stand, um die jeweils neueste Ausgabe zu lesen. Es gab auch eine Wochenzeitschrift, Das Schwarze Corps, die von der SS veröffentlicht wurde. Sie brachte obszöne und pornographische Meldungen über Juden, die verhaftet worden waren. Von jedem Juden wurde natürlich geschrieben, daß er ein Verbrecher und Räuber war. Von jedem Bild starrte das unrasierte Gesicht eines Angeklagten voller Furcht in die Kamera. Meist ging es um das Verbrechen der „Schändung unschuldiger Dienstmädchen" im Dienste jüdischer Familien. In den einzelnen Artikeln wurden diese Vergehen bis ins intimste Detail beschrieben. Die Anschuldigungen waren lauter Lügen. Aber wer wagte schon, das laut zu sagen? Die Öffentlichkeit glaubte an ihre Richtigkeit. Stand es denn nicht in der Zeitung? Die meisten der Beschuldigten kamen nach Buchenwald oder Dachau zur „Umerziehung". Und viele überlebten diese Umerziehung nicht. Zur Zeit des Anschlusses lebten etwa 220. 000 Juden in Österreich, 91 Prozent davon in Wien (Jelavich, 1987, S. 232). Jahre hindurch waren Wiener mit Juden in die Schule gegangen, hatten mit ihnen gearbeitet, von ihnen gekauft, ihnen verkauft, waren mit ihnen befreundet und oft sogar verheiratet. Jetzt plötzlich glaubte die Öffentlichkeit alles, was es zu lesen gab, und vergaß, wie Juden wirklich aussahen. Man war überzeugt, daß Juden so aussahen, wie sie im Stürmer beschrieben waren. Wer blond und blauäugig war, konnte kein Jude sein. Ein damals zehn- oder elfjähriges Mädchen erinnert sich (90): „Ich sah arisch aus. Ich hatte blonde Zop-

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fe und trug ein Dirndl. Ich ging in ein jüdisches Geschäft. Ein SS-Mann fragte mich, warum ich dies tue. Ich antwortete ihm, daß ich jüdisch sei. Er brachte mich nach Hause, und unser Dienstmädchen bestätigte, daß ich jüdisch war. Dies zeigt, wie dumm sie waren. Wer hätte damals wohl gesagt, er sei ein Jude, wenn er dies nicht war? Meine Mutter schnitt mir das Haar, und ich trug nie mehr wieder ein Dirndl." Meine blonden Haare und meine blauen Augen waren ein gewisser Schutz für mich. Im Frühling, kurz nach dem Anschluß, spazierte ich am Justizpalast mit seiner beeindruckenden Statuenreihe nahe dem neugotischen Rathaus vorbei. Diese Gebäude und diverse Parkanlagen, die ihre Blumenpracht zur Schau tragen und in denen sich zahlreiche Denkmäler befinden, gehören zum Bereich der Ringstraße, die den inneren Teil der Stadt umschließt. Plötzlich ergoß sich eine Menschenmenge in die breite Straße und skandierte dabei immer wieder „Ein Reich, ein Volk, ein Führer!" Ein Auto fuhr langsam in ihrer Mitte. Ein kleiner Mann stand aufrecht darin, den Arm zum Hitler-Gruß erhoben. Es war Goebbels, umgeben von einer hysterischen Menschenmenge. So rasch ich konnte, überquerte ich die Straße, ängstlich besorgt, daß mich jemand aus der Menge als jüdisch erkennen könnte. Gleichzeitig empfand ich aber ein Hochgefühl. „Ihr Dummköpfe", dachte ich bei mir, „ihr denkt, ihr könnt jeden Juden an seinem degenerierten Äußeren erkennen. Seht mich an - blond, blauäugig und nur wenige Meter von Goebbels selbst entfernt -, und keiner von euch weiß es." Ich hatte das Gefühl, die ganze Menge zu überlisten. Da ich aber keine Spielernatur war, eilte ich dennoch so schnell wie möglich nach Hause. Rein jüdisches Eigentum, hinter dem jemand her war, war in Hinkunft mehr sicher. Die Leute konnten sich aneignen, was auch immer ihnen in ihrer Phantasie vorschwebte. In der Nacht nach dem Anschluß sprang Stella (72) rasch in ihr Auto, um nach der Wohnung ihrer Mutter zu sehen. Eine Bande jugendlicher Raufbolde mit braunen Armbinden und roten Hakenkreuzen hielt sie auf. „Ist das Ihr Auto?" „Ja." „Sie sind Jüdin?" „Ja." „Geben Sie uns die Schlüssel, und steigen Sie aus." Die Gesichter der Männer waren wie aus Stein. Stella war Jüdin. Sie fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Von Juden zu nehmen, war nichts Schändliches oder Peinliches. Meir (134) erinnert sich an die quälenden nervlichen Anspannungen, die durch nicht miteinander zu vereinbarende Verpflichtungen entstanden. Er half seiner Mutter im Geschäft, und gleichzeitig versuchte er, Rontakte anzuknüpfen, die ihm dabei helfen könnten, Wien zu verlassen. Den ganzen Tag hindurch fuhr er auf seinem Fahrrad kreuz und quer durch die Stadt. „Die Zeit wurde mir kurz. Eines Tages mußte ich ein Dokument aus meiner Wohnung holen. Ich ließ das Fahrrad unten stehen. Als ich einige Minuten später wieder hinunter kam, war es nicht mehr da. Einfach ver-

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schwunden! Ich brauchte dieses Rad dringendst. In meiner Verzweiflung läutete ich beim Hausmeister, um ihn zu fragen, ob er irgendwelche Fremde in unserem Haus gesehen hätte. Er öffnete die Tür, und ich sah sofort mein Fahrrad im Vorraum stehen. Ich sagte ihm lediglich, daß mein Fahrrad vor einigen Minuten gestohlen worden war, und er riet mir, zur Polizei zu gehen!" Natürlich packte nicht jeder so habgierig zu und ergriff, wonach ihm gelüstete. Manch einer ging da schon raffinierter vor, wie die folgende Geschichte zeigt: (180) Ein jüdischer Rechtsanwalt hatte seine Garage einem anderen Juden vermietet. Nun trat ein berühmter Arzt und Nationalsozialist mit seiner eleganten Frau auf die Szene. Seine Frau wollte die Garage des jüdischen Rechtsanwaltes mieten. Warum sollte es einem Juden erlaubt sein, eine Garage zu mieten? Dies war doch undenkbar. Sie zitierte den jüdischen Rechtsanwalt zu sich. Das Dienstmädchen meldete ihn. Während er in dem eleganten Salon wartete, hörte er Gläserklirren, Lachen und Geplauder aus dem Speisezimmer. Die feine Gesellschaft aß gerade zu Mittag. Alsbald erschien die Dame des Hauses. Sie wünsche die Garage. Der jüdische Anwalt machte Einwendungen. Die feine Dame murmelte etwas über die neue Ordnung, die nun herrsche. Sie rief ihren Mann, einen großen, eindrucksvoll aussehenden Mann in SS-Uniform. Er fragte in barschem Ton, was das Problem sei. Der jüdische Anwalt hörte sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen, daß die Garage bereits an jemand anderen vermietet sei und er den derzeitigen Eigentümer fragen müsse. Zur eigenen Überraschung fügte er noch hinzu: „Leben wir denn nicht in einem Rechtsstaat?" Der jüdische Anwalt war über seine eigenen Worte ebenso verblüfft wie die übrigen Anwesenden. Aber es gab kein Ende gut - alles gut. Die feine Dame erzwang die Garage. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Nach der Niederlage der Deutschen verübte der so eindrucksvoll aussehende Arzt in SS-Uniform Selbstmord. Es schien fast eine Bagatelle, Autos und Garagen zu stehlen, wo doch ganze Unternehmen konfisziert werden konnten. Am ersten Morgen nach dem Anschluß ging Stellas (72) Mann in sein Büro. Dort saß ein Mann mit einem Hakenkreuz am Rockaufschlag. „Wer sind Sie?" rief er ihm entgegen. „Der Eigentümer", antwortete Stellas Mann. „Nicht mehr!" brüllte ihn den Mann an. „Ihre jüdische Gesellschaft wurde arisiert. Verschwinden Sie sofort!" Das war das letzte Mal, daß der Eigentümer sein Büro betrat. Wie war es möglich, über Nacht die Beschlagnahme eines Geschäftes und die Einsetzung eines Rommissars zu veranlassen? Stella hat eine Erklärung dafür: „Sie dürfen nicht vergessen, daß die Nazis bereits über Listen von jüdischen Unternehmen und Häusern verfügten. Alles schien schon vor dem Anschluß von langer Hand vorbereitet worden zu sein. Ich vermute, daß viele Arbeiter Illegale waren und diese Informationen gesammelt hatten."

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Vom Augenblick des Anschlusses an wurden jüdische Unternehmen durchsucht, geschlossen, vom arischen Partner übernommen oder unter die Obhut eines arischen Kommissars gestellt. Wurde einem Juden ein arischer Partner zugeteilt, konnte dies Gefahr bedeuten. Es gab aber leider nur wenige arische Partner, die das Unternehmen dem ursprünglichen Eigentümer nicht entrissen oder diesem den Gewinn vorenthielten. Der Partner/Kommissar „entdeckte" dann meist, daß der ursprüngliche Besitzer Gelder veruntreut oder sonst irgendein Verbrechen begangen hatte. Mit einem Streich konnte der neue Partner sich so selbst vom alten Eigentümer befreien und ein neues Unternehmen erwerben. Solches war durchaus an der Tagesordnung. Franz (15) berichtet, wie das Unternehmen seiner Familie enteignet wurde: „Gott sei Dank erkannte mein Vater die Gefahr rasch, als Ende 1938 ein Kommissar erschien. Er händigte ihm einfach die Schlüssel aus, und das Unternehmen war beschlagnahmt. Aber er war immerhin noch frei und konnte nach Hause gehen." Die Übernahme von Geschäften konnte mit erschreckender Schnelligkeit, ja noch an der Eingangstür der Wohnung erfolgen. Alans (141) Familienunternehmen wurde von seiner Mutter weitergeführt, nachdem der Vater in ein Konzentrationslager gebracht worden war: „Das hartnäckige Läuten und Klopfen an der Tür zu dieser frühen Stunde erinnerte allzu sehr an die Verhaftung meines Vaters sechs Monate zuvor. Vor der Tür stand ein riesiger SS-Mann in der berüchtigten schwarzen Uniform in Begleitung eines Zivilisten. Ersterer erklärte in militärischem Befehlston, der neu bestellte Geschäftsführer des Unternehmens zu sein, das er an seinen Kompagnon verkaufe, der während der ganzen Zeit kein Wort gesagt hatte. Würde meine Mutter ein Angebot von 3.000 Reichsmark annehmen? Meine Mutter bejahte. Das Geschäft wurde sofort abgeschlossen und die Papiere, welche die beiden Ehrenmänner gleich mitgebracht hatten, unterzeichnet. Ich erinnere mich an die Übergabe der Schlüssel. Der SS-Mann und sein Freund verließen schon kurz darauf das Büro. Der Kaufpreis war natürlich ein Witz. Bis zum Jahr 1947, als ich das Unternehmen wieder zurückbekam, setzte ich keinen Fuß mehr in diese Räume." Für einige Juden war es schwer zu verstehen, daß sie in Hinkunft verachtet wurden, und selbst die Tatsache, daß man schwer arbeitete und gewissenhaft war, sollte an diesem Urteil nicht das geringste ändern. Eine Frau (190) erzählt von der Fehleinschätzung ihres Bruders: „Mein Bruder wurde im März 1938 verhaftet. Er verfügte zwar über ein französisches Visum, wollte Wien aber nicht verlassen, bis er in seiner Anwaltskanzlei alles geordnet hatte. Er wollte dem Kommissar keinen Anlaß geben, sagen zu können, der Jude hätte alles in Unordnung hinterlassen. Mein Bruder kam für sechs Monate nach Dachau und dann noch für drei Monate nach Buchenwald." Es gab zwei Arten von Kommissaren. Die einen vertraten die national-

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sozialistische Partei und füllten die Säckel derselben mit unrechtmäßig erworbenen Unternehmen. Andere jedoch vertraten lediglich sich selbst. Man bezeichnete sie als „wilde Rommissare". Mit diesen mußte man verhandeln; wie, das erzählt uns die Frau eines Anwalts (142): „Die Gestapo nahm meinen Mann zehn Tage nach dem Anschluß mit. Sie nahmen auch unsere Pässe - und damit fehlte uns das Entscheidende, um das Land verlassen zu können. Ein Nazi-Anwalt interessierte sich dafür, die Ranzlei meines Mannes zu übernehmen. Als Preis dafür wollten wir unsere Pässe wieder zurückhaben. Es dauerte drei Monate." Der Anwalt, der sich die Ranzlei aneignete, war kein von den neuen Machthabern bestellter Kommissar, er hatte sich lediglich selbst bestellt. Ein solches Vorgehen empörte die Parteiführung, kam es doch ihren eigenen Interessen, die Parteisäckel aufzufüllen, in die Quere. Alles in allem war die Arisierung von diversen Unternehmen nicht bloß Ausdruck des Antisemitismus; ein mindestens ebenso wichtiges Ziel war es, die wirtschaftlichen Bedingungen für das Dritte Reich zu verbessern. Bei einem Treffen von nationalsozialistischen Funktionären im Oktober 1938 erklärte Reichsmarschall Göring, daß die Wirtschaft des Reiches völlig zerrüttet sei (Bankier, 1990). Die ausländischen Währungsreserven und die Grundstoffe waren begrenzt. Die Wirtschaft mußte „mit brutalen Mitteln" umgedreht werden. Alle bisherigen Maßnahmen, die Juden aus ihren Betrieben hinauszudrängen, reichten nicht aus. Göring forderte eine raschere und radikalere Lösung. Die „wilden Rommissare" verdrossen ihn zunehmend, da sie Unternehmen auf eigene Rechnung arisierten und die Gewinne einsteckten, anstatt die Beute der Partei zukommen zu lassen. „Unter allen Umständen zu unterbinden ist aber die wilde Rommissar-Wirtschaft, wie sie sich in Österreich ausgebildet hat", fordert er. „Diese wilden Aktionen müssen aufhören, und die Erledigung der Judenfrage darf nicht als ein Versorgungssystem untüchtiger Parteigenossen angesehen werden." (S. 27) Sie sollte als Entschädigung für altgediente, fähige Parteimitglieder verwendet werden. Ein weiterer Stein des Anstoßes war die Unfähigkeit der neuen Rommissare. Sie beschlagnahmten jüdische Unternehmen und führten sie schon bald in den Ruin. Es gab etwa 3.500 völlig nutzlose Rommissare. Man bedenke, was das für ein Verlust für die Parteikasse war! Aber keine Sorge. Hilfe war schon unterwegs. Bis zum Anschluß waren die Österreicher stets bekannt für ihre Schlamperei gewesen, als es aber darum ging, jüdische Unternehmen zu requirieren, stieg ihre Durchschlagskraft plötzlich völlig unvermutet enorm an. Tatsächlich stellten die Österreicher ihre deutschen Brüder schon bald in den Schatten, die sich stets ihrer kaltschnäuzigen Effizienz gebrüstet hatten. Aber da trat Minister Dr. Fischböck, ein Österreicher, auf die Bühne (Bankier, 1990). Er unterrichtete Göring davon, wie er die Arisierung handzuhaben gedachte.

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Fischböcks Bericht lautete: „Dann wären von 17.000 Geschäften 12.000 oder 14.000 geschlossen und der Rest arisiert oder an die Treuhandstelle übertragen, die dem Staat gehört." - „Ich muß sagen: der Vorschlag ist wunderbar", rief Göring aus. „Dann würde in Wien, einer der Hauptjudenstädte sozusagen, bis Weihnachten oder Ende des Jahres diese ganze Geschichte wirklich ausgeräumt sein." (S. 33) Fischböck bereitete für Göring und seine österreichischen Parteigenossen in der Tat fröhliche Feiertage vor. Der Grund für diese prompte Aktion kann aber nicht allein im Antisemitismus gesucht werden (John, 1990). „Die antijüdischen Maßnahmen des Nationalsozialismus nach seiner Machtübernahme in Österreich sind keineswegs als bloße Konsequenz der antisemitischen Programmpunkte zu interpretieren, sondern ebenso ein Weg zur Bereicherung für Privatleute gewesen." (S. 76) Bei Bankier (1990) heißt es: „Es scheint, als genügten damals ein paar Schilling, besser natürlich Reichsmark, um aus einem Teil der Wiener mit einem Schlag langjährige und überzeugteste Nationalsozialisten zu machen, in denen ihr Antisemitismus so innig glühte, daß sie den Tag gar nicht erwarten konnten, an dem die Jüdischen Volksschädlinge' auf die eine oder andere Art das Land verlassen hatten, so oder so, ihr ,Gerschtl' aber, wie man mit wienerischer Bonhomie süffisant formulierte, hatte dazubleiben." (S. 28) John (1990) fährt fort: „Die Aggressivität gegen den Juden bedurfte hier einer besonderen ,theoretischen' Überhöhung, versprach sie doch die Erfüllung ganz konkreter Interessen: die Beseitigung des jüdischen Ronkurrenten als Händler oder Warenhausbesitzer, als Rechtsanwalt oder Arzt, die Erlangung einer Wohnung oder eines wertvollen Möbelstücks." (S. 79) In der Vergangenheit hatte Österreich selten Vorbildwirkung für Deutschland gehabt. Aber was die Arisierung der jüdischen Unternehmen betraf, diente Österreich als strahlendes Beispiel für das gesamte Dritte Reich: „Am Ende des Jahres 1938 wurde das exemplarische österreichische Arisierungsverfahren auf das sogenannte ,Altreich' übertragen, ein Beispiel für die unrühmliche Vorreiterrolle, die Österreich im Bereich der ,Arisierungen' spielte . . . Auf ökonomischem Gebiet erregte besonders der Eifer Dr. Fischböcks die uneingeschränkte Bewunderung der reichsdeutschen Wirtschaftsführer. Sein Programm hatte voll eingeschlagen: eine im Sommer 1939 präsentierte Ausstellung der WST sollte eindrucksvoll die ,Früchte seiner Arbeit' dokumentieren. Von rund 26.000 ehemals jüdischen Unternehmen waren 5.000 arisiert und über 21.000 zwangsweise aufgelöst worden. Alle beteiligten Interessensgruppen hatten durch die Arisierungskampagne ihre jeweiligen Ziele erreicht: kleine ,Ariseure' hatten sich bereichert, mittlere Betriebe waren lästige Ronkurrenz losgeworden, Banken und Industrie hatten ihre Expansionsbedürfnisse befriedigen können. Die Ökonomen in Berlin waren stark beeindruckt. Das öster-

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reichische Arisierungsverfahren wurde eine Art Vorbild für die übrigen Teile des ,Großdeutschen Reiches' [...] in den später in den nationalsozialistischen Machtbereich fallenden Gebieten Europas." (Bankier, 1990, S. 35-36) John (1990) unterstreicht, daß man sich, wenn immer die Österreicher behaupten, keine Verbündeten der Nazis gewesen zu sein, sondern das erste Land, das Hitler zum Opfer fiel, an folgende Tatsache erinnern muß: „Die ,Entjudung' der Wirtschaft, die im Deutschen Reich fast fünf Jahre gedauert hatte, war in Österreich in einigen Monaten durchgeführt worden." (S. 79) Angesichts der neuen Umstände witterte die langjährige nichtjüdische Ronkurrenz bald ihre Chance. Die Lage meiner eigenen Mutter ist ein Beispiel dafür. Sie hatte den Schulbetrieb für jene Handvoll Kinder, die das Land im Juni 1938 verlassen sollten, mit einem Rumpfpersonal aufrechterhalten. Eine Geschäftsfrau sah im Niedergang der Schule eine großartige Gelegenheit, deren vierzig gut ausgestattete Räume für einen Pappenstil zu erwerben. Wortlos übergab meine Mutter ihr die Schule. Sie wechselte während des Krieges noch mehrmals den Besitzer und wurde schließlich von der österreichischen Regierung übernommen. Ich sah sie viele Jahre nach dem Krieg wieder, und sie gehörte noch immer dem Staat. Sie war schäbig und heruntergekommen, aber ich erkannte die Malereien und das große Klavier. Niemand hat je irgendeine Entschädigung dafür gezahlt. Am Tag der Übergabe hatte meine Mutter eine Quittung erhalten. Das war wichtig: Die Nazis legten Wert darauf, daß alles „korrekt" ablief. Solange es irgendein unterschriebenes Stück Papier gab, konnte niemand behaupten, es hätte hier eine illegale Transaktion gegeben. Ein Mann (30) erzählt, daß seine Familie für die Freilassung seines Vaters aus dem Konzentrationslager ein Dokument unterzeichnen mußte, in dem auf alle Ansprüche verzichtet wurde, die der Vater stellen könnte, und das gesamte Eigentum der Familie, mit Ausnahme des persönlichen Besitzes der Mutter, gleichzeitig dem Deutschen Reich überschrieben wurde. Anfänglich spielten die Deutschen gelegentlich sogar noch die Farce, nach der Plünderung von Wohnungen Quittungen auszustellen. Ein Mann erinnert sich (145): „Für die Plünderung unserer Wohnung während unserer Abwesenheit erhielten meine Eltern eine Karte, auf der stand, daß uns das Geld bereits weggenommen worden sei und wir für die Zukunft nichts zu befürchten hätten." Natürlich sollte dieses Versprechen schon in allernächster Zeit gebrochen werden. Diese eigenartigen Widersprüche in der Mentalität der Nationalsozialisten wurden von einem Studienteilnehmer auf den Punkt gebracht: „Mein nun schon verstorbener Schwiegervater wurde verhaftet. Seine Frau ging zur Polizei und teilte dort mit, daß er ein kranker Mann sei und brachte auch sein Leberröntgen mit. Er wurde sofort freigelassen." Diese sonderbare Kombination gesetzlicher und jenseits der Gesetze stehender Vor-

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gangsweisen spricht ein Mann an, dessen Onkel verhaftet und aufgrund einer fingierten Anschuldigung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Während der Onkel seine Strafe in einem öffentlichen Gefängnis verbüßte, genoß er alle Privilegien eines nichtjüdischen Gefangenen. Sobald er aber aus dem Gefängnis entlassen war, wurde er erneut von der Gestapo verhaftet, unter „Schutzhaft" gestellt und nach Dachau gebracht: Dort starb er im Jahre 1942. Für Stella war die Stadt gleichgültig gegenüber dem menschlichen Leid: „Im Jahr 1939 gab es in Wien einen prachtvollen Frühling. Aber die neu gestrichenen Parkbänke trugen schwarze Zeichen:,Juden ist es nicht erlaubt, hier zu sitzen'. Schilder wie dieses tauchten überall in der Stadt auf - in Kinos, Restaurants, Geschäften." Franz (15) fügt dem noch hinzu: „Der Klang von Stiefeln im Stiegenhaus, das Läuten an einer Nachbartür, Stimmen, Schritte, die sich entfernten, und ein Nachbar, den man nie mehr wieder sah. Obwohl Millionen von Erwachsenen behaupten, sie hätten weder etwas gesehen noch gewußt, sah, wußte und verstand ich eigenartigerweise sofort, was hier vor sich ging, obwohl ich erst zwölf Jahre alt war." Die Schuldirektorin beschreibt den Terror wie folgt (Bader, 1956): „Meldungen von Verhaftungen und Ausschreitungen kursierten. Wenn hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, daß die Gestapo wieder nächtens, meist zu früher Morgenstunde, aufgetaucht sei, fragten wir uns in den ersten Tagen noch dümmlich ,Warum?' Anfänglich fanden wir darauf sogar bisweilen eine Antwort. Im Hintergrund stand da üblicherweise ein entlassener Dienstbote, ein unzufriedener Angstellter oder ein Schüler, der sich an seinem Lehrer rächen wollte. Bald lernten wir aber, nicht mehr nach dem ,Warum' zu fragen. Die Zahl der Leute, die plötzlich verschwanden und von denen man nie wieder etwas hörte, stieg täglich. Mit jedem Tag vervielfältigte sich die menschliche Tragödie um uns herum. Die Zahl der Leute, die wir kannten, war gleichbedeutend mit der Anzahl von Tragödien, deren Zeuge wird wurden. Der Verlust des gesamten Besitzes galt als nichts. Wir mußten unser Geld, unsere Wohnung, unsere Stellung, unser Lebenswerk, unsere Ehre, unseren Beruf aufgeben. Dies alles bedeutete nichts. In jener Zeit wurde uns klar, was es bedeutete, ohne den Schutz von Gesetzen zu leben. Menschen können sich an schreckliche Situationen anpassen. Sie können in Krieg und Feuer leben und das Leben dennoch lebenswert finden. Ohne den Schutz von Gesetzen zu leben, aber ist schlimmer. Nichts bleibt, als die nackte Angst des Gejagten." (S. 279-281) In Österreich gab es nur wenige Juden, die nicht danach trachteten, das Land zu verlassen. Persönlich kannte ich nur eine recht wichtigtuerische Lehrerin, die gleich nach dem Anschluß behauptete, sie würde einen Gelehrtenzirkel einrichten und sich in die Isolation zurückziehen. Wir Kinder hielten sie für verrückt. Einige Tage später änderte sie ihre Meinung.

Die Schlinge zieht sich zu In Österreich schlugen die Nazis schnell und grausam zu. Ohne Verzögerung wurden ihre Praktiken brutal in die Tat umgesetzt. Über Nacht kam es zu antisemitischen Maßnahmen im ganzen Land. In Deutschland erfolgte diese Entwicklung viel schleichender, schrittweiser und punktueller. Es war gleichzeitig ein Glück, aber auch ein Unglück für die österreichischen Juden, daß die Nazis sofort ihr wahres Gesicht zeigten. In Deutschland war es etwas anders, man könnte es damit vergleichen, daß sich hier die furchtbare Schlinge immer enger und enger zusammenzog. In Deutschland wurde noch das eine oder andere ausprobiert, bis sich die Nazis als wahre Meister der Grausamkeit herausstellten. Zur Zeit des Anschlusses kamen ihnen diese Jahre der Einübung zugute. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Jahre 1933 setzte ein Prozeß ein, in dessen Verlauf brave Bürger schließlich zu einem Fanatismus aufgepeitscht und dazu gebracht wurden, barbarische Aufgaben zu übernehmen. Das soll nicht heißen, daß es an Deutschen gemangelt hätte, die bereit waren mitzutun, sondern nur, daß noch viel Arbeit geleistet werden mußte, bis der volle Nazi-Terror einsetzen konnte. Es brauchte Zeit, um den Reichstag auszuschalten und so die absolute Macht zu gewinnen. Es brauchte auch Zeit, Gesetze durchzusetzen, die dem Staat das Recht unbegrenzter Hausdurchsuchungen einräumten und den unbestrittenen Machthabern das Recht gaben, jegliches Eigentum zu konfiszieren. Und es brauchte Zeit, um die Verbrennung „undeutscher" Bücher und die Verstaatlichung der Presse vorzubereiten. Erst 1934, nach Hindenburgs Tod, übernahm Hitler den deutschen Staat und den Oberbefehl über die Streitkräfte. Damals hatte er jedoch bereits eines der entscheidensten Werkzeuge für seine Regierung vorbereitet: die Konzentrationslager, deren erstes 1933 errichtet worden war. Der Höhepunkt wurde erst 1942 auf der Wannsee-Konferenz erreicht, wo die Endlösung beschlossen wurde. Es bedurfte auch der Vorbereitungsarbeiten, um die Juden zu isolieren. Ein staatlich organisierter Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 legte hiefür den Grundstein. Kurz darauf folgte die Entlassung der Juden aus dem öffentlichen Dienst. Wie konnte denn auch ein Jude für den deutschen Staat arbeiten und von diesem bezahlt werden? Jene Juden, die als Mediziner oder Juristen für die Regierung arbeiteten, wurden aus ihren Ämtern entlassen. Mit der Verstaatlichung der Presse und der Künste wurden die Juden auch aus diesen Bereichen bald gekündigt. Im September 1935 kam es zur Erlassung der Nürnberger Gesetze. Nun konnte die volle Macht des staatlichen Rechtssystems gegen die Juden eingesetzt werden. Die Rassenlehre wurde genau definiert. Früher war sie nur bei

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gewalttätigen Zusammenstößen, in hysterischen Reden und reißerischen Zeitungsartikeln vertreten worden. Nun wurde sie zu einem rechtskräftigen und „wissenschaftlichen" Gesetz. Eine zunehmende Zahl antisemitischer Gesetze wurde verabschiedet. Den Juden war nun auch die Ausübung von Berufen in den Bereichen Medizin, Jurisdiktion, Finanz u. a. verwehrt. Aufgrund ihres „minderwertigen Blutes" durften Juden keine Arier heiraten. Am schwersten aber wog, daß die Juden jenseits des Schutzes durch die Gesetze gestellt wurden: Es war ihnen untersagt, ein Gericht anzurufen. Dies hatte zur Folge, daß die Juden den Launen jedes Raufbolds und Fanatikers ausgeliefert waren. Fanatiker gab es unzählige, und sie alle waren glühende Verfechter von Alfred Rosenbergs skurrilen Rassentheorien, die zur Bibel jedes Nazis und jedes Schulkindes wurden. 1938 folgten weitere strenge anti-jüdische Gesetze. Im Dezember 1938 wurden die Juden isoliert und finanziell ausgesogen. In Hinkunft durften sie weder ein Geschäft noch ein Unternehmen führen. Juden verloren ihre Wohnungen, der Zutritt zu öffentlichen Plätzen wurde ihnen untersagt, und sie konnten aus jedem beliebigen Teil der Stadt verbannt werden, wenn die lokalen Behörden einen entsprechenden Erlaß herausgaben. All diese Verordnungen, Dekrete, Gesetze und Anordnungen brachten für die Juden den gänzlichen Verlust an Macht, jedweden Berechtigungen und Schutz. Doch all dies brauchte Zeit. Fünf Jahre. Von 1933 bis 1938 zog sich diese fürchterliche Schlinge immer enger zusammen, eng genug, um die Massenvernichtung der Juden einige Jahre später vorausahnen zu lassen. Im Rückblick läßt sich die Hoffnungslosigkeit der Lage der deutschen Juden leicht erkennen. Tatsächlich wird oft die Frage gestellt, warum nicht alle Juden 1933 das Land verließen. Einige Flüchtlinge, die als Jugendliche in Deutschland gelebt hatten, stellen sich diese Frage selbst. Lore (139) schreibt: „Ich bin überrascht, daß mein zweifellos intelligenter Vater so viele Jahre lang ,blind' war für die drohende Gefahr." Und Elsa (96) meint, daß „die Erwachsenen sich selbst ,zum Narren hielten', indem sie zuversichtlich glaubten, solange das noch irgendwie möglich war. Wer soll denn auch solch unglaubliche Entwicklungen glauben, wenn man ihn nicht zwingt, ihnen ins Auge zu schauen? Außer in meiner Schule wurde die Lage für viele Leute nur sehr langsam schlechter." Und gerade hier liegt der Haken: „Die Lage für viele Leute wurde nur sehr langsam schlechter." Diese allmählichen Veränderungen erweckten den irrigen Eindruck, als könnte ein Leben in Deutschland selbst unter diesen einschränkenden Bedingungen noch immer möglich sein. Die Funktionäre der Regierung zeigten anfänglich noch nicht jene Grausamkeit wie später. Die Historikerin Lucy Dawidowics schreibt (1975): „Nach der Flut von Gewalttaten, dem Boykott und dem Inkrafttreten der Ausnahmegesetze im Jahr 1933 schienen weder der deutsche Staat noch die

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NSDAP eine klare Politik hinsichtlich der Juden zu haben. Einige Regierungsbehörden behandelten sie weiterhin durchaus korrekt, ja sogar höflich, gemäß den Vorschriften und Verordnungen, die in der Weimarer Republik gegolten hatten. Für Fragen der Auswanderung beispielsweise war das dem Innenministerium unterstehende Reichswanderungsamt zuständig. Das Personal bestand zum Großteil aus Beamten, die keine Nazis waren, sondern vor 1933 der Ratholischen Zentrumspartei oder anderen nicht linksorientierten Parteien angehört hatten. Diese Bürokraten handelten bis 1938 nicht nur gemäß der Weimarer Gesetze, sondern auch mit einem mitfühlenden Verständnis für die Probleme und Prioritäten der jüdischen Organisationen, die versuchten, ein systematisches Auswanderungsprogramm aufzuziehen." (S. 82) Es schien keine besondere Eile geboten, das Land zu verlassen. Die Leute stellten sich darauf ein, zwei oder drei Jahre auf ein amerikanisches Visum zu warten. Schließlich gab es wenige Länder, die Einwanderern offenstanden. Außerdem war weltweit eine Wirtschaftsdepression zu verzeichnen. Im Klartext: Arbeitsplätze in neuen Ländern warteten nicht auf Leute, die nicht einmal die Sprache beherrschten. Die häufigen Regierungswechsel vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten berechtigten darüber hinaus durchaus zu der Annahme, daß sich auch diese wohl barbarischste aller Regierungen in einem kulturell so hochstehenden Land nicht lange würde halten können. Und, selbst sollten sie an der Macht bleiben, würden die ausländischen Regierungen sie letztlich doch zu Fall bringen. Sicher, es kam schon ab dem Augenblick von Hitlers Aufstieg zur Macht zu unliebsamen Zwischenfällen. Wie Warnfeuer flammten diese Konfrontationen kurz auf, um ebenso schnell wieder zu verlöschen. Elsa (96) erinnert sich an eine solche Gelegenheit: „Ich erinnere mich an einen Zwischenfall in einem Biergarten im Jahre 1933, in dem meine Familie im Sommer meist zu Abend aß. Ein jüdisch aussehender Mann wurde gegen die Mauer gedrückt, während Nazis auf ihn einschlugen. Gott sei Dank konnten sie ihm nicht viel anhaben. Ich hatte jedoch große Angst um meinen Vater, der eine lange Nase besaß. Aber nichts Weiteres passierte." Auf der anderen Seite ging das Leben weitgehend normal weiter. Die meisten Juden konnten noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Wurde ein Geschäft konfisziert, so wurde der Eigentümer nicht unbedingt mittellos. Ein Apotheker (109) beispielsweise wurde nach den Nürnberger Gesetzen gezwungen, seine Apotheke zu verpachten, erhielt aber weiterhin ein genügend hohes Einkommen, um ein angenehmes Leben führen zu können. Als er starb, hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, so daß seine Familie keine großen Entbehrungen leiden mußte. Die Menschen schienen sich an die geänderten Umstände zu gewöhnen und begannen sie als selbstverständlich anzunehmen. Das gilt vor al-

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lem für die Jugendlichen. Eric (35) zum Beispiel war sich bewußt, daß es von Zeit zu Zeit Zwischenfälle mit nichtjüdischen Schülern gab. Aber da ihm nie etwas Ernsthaftes geschah, machte er sich darob keine größeren Sorgen. Er war der einzige jüdische Bub in seiner Klasse, und sein Lehrer sagte den Klassenkameraden, daß er keine antisemitischen Bemerkungen dulden würde. In Österreich hätte sich nach dem Anschluß zweifellos kein Lehrer getraut, ein jüdisches Kind so offen zu verteidigen. Selbst nach 1935, als Erich in eine jüdische Schule kam, war ihm immer noch eine glückliche Jugend beschieden: „In der jüdischen Schule in den 30er Jahren hatten wir eine herrliche Zeit. Das waren die schönsten Jahre meines Lebens. Der Zauber der Jugend glänzte über allem. Ich denke noch heute, ein halbes Jahrhundert später, wehmütig an diese Zeit zurück." Friedländer (1991) beschreibt, wie die Nazis, in der Absicht, das Ausland - und damit auch die Juden - zu täuschen, häufig den Eindruck erweckten, die Juden könnten in Deutschland ein, wenn auch eingeschränktes, aber durchaus sicheres Leben führen. Ein Beispiel war der Jüdische Kulturbund, der 1933 gegründet und vom Reichspropagandaministerium gefördert wurde. Er veranstaltete Opern- und Theateraufführungen sowie Konzerte und beschäftigte viele berühmte jüdische Künstler, die an deutschen Bühnen nicht mehr auftreten durften. Es gab einen grotesken Kontrast zwischen der Welt innerhalb und außerhalb des Theaters, zwischen dem Bemühen um Visa und dem Leben hinter den Kulissen: Draußen herrschten die Nazis, drinnen gab es ein jüdisches Publikum. Die einzigen zugelassenen Nichtjuden waren Polizisten, Feuerwehrleute und - Angehörige der Gestapo. Hannah (160), eine begabte Tänzerin und Choreographin, beschäftigte jeden Tänzer, der ihr unterkam, da nichtbeschäftigte Künstler von den Nazis zum gefürchteten Arbeitsdienst eingeteilt wurden. Der Kulturbund wurde von den Nazis erst am 11. September 1941 aufgelöst. Sechs Monate später begann die Massenvernichtung der Juden. Aber auch dann noch bemühten sich die Nazis, die Welt zu täuschen. Berühmte jüdische Künstler wurden gezwungen, auf einer in Westerbork, einem in Holland gelegenen deutschen Sammelpunkt für Juden, die in den Tod geschickt werden sollten, eigens errichteten Bühne aufzutreten. Die Schauspielerin Camilla Spira erzählt, wie sie, als Frau eines Wirtes mit blonden Zöpfen verkleidet, vor tausend jüdischen Gefangenen, die auf dem Weg nach Auschwitz eine Nacht in dem Transitlager verbrachten, Lieder aus der Operette „Im weißen Rößl am Wolfgangsee" vortrug. „Es war schrecklich", erinnert sie sich. „Für einen Augenblick vergaßen sie alles. Am nächsten Tag wurden sie per Zug in den sicheren Tod geführt (Tagesspiegel, Berlin 1991). Der Leiter des Kulturbundes, Dr. Kurt Singer, wurde verhaftet und nach Theresienstadt gebracht. Die Nazis wollten alle Welt glauben machen, Theresienstadt sei

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eine angenehme, den Juden vorbehaltene Stadt. Die Karten, die Dr. Singer und andere schreiben durften, trugen die typischen Straßennamen von Kleinstädten. In Wirklichkeit waren das keine Straßennamen, sondern nur Blocknummern. Jene von Dr. Singer lautete Q 410. Er starb 1944 (Friedländer, 1991). Hannah hatte mehr Glück. Ihr gelang es, in die Vereinigten Staaten zu kommen. Die Tatsache, daß sie auch weiterhin noch bestimmten Beschäftigungen nachgehen konnten, und die Hoffnung, die Nazis würden nur vorübergehend die Macht in Händen halten, verleiteten die deutschen Juden lange Zeit hindurch zu dem Glauben, ein Leben in Deutschland wäre für sie noch möglich. Nach einiger Zeit aber verfehlten die Restriktionen, die der jüdischen Bevölkerung auferlegt wurden, und unerfreuliche, ja selbst gefährliche Konfrontationen mit den Nazis ihre Wirkung nicht. Um solchen Begegnungen aus dem Weg zu gehen, schien es für Juden am besten, ihr gesellschaftliches Leben abseits öffentlicher Orte zu führen. Selbst in diesen immer enger werdenden Grenzen nahm das Leben eine Zeitlang noch seinen weitgehend normalen - in einigen Fällen sogar unterhaltsamen - Lauf: „Mein Vater (ein Anwalt) arbeitete zu seiner Zeit ausschließlich für jüdische Klienten", erinnert sich Beate (59). „Es gab Abendessen und literarische Diskussionen." Die Jugendlichen der damaligen Zeit erzählen von ihrem Musikunterricht (59); vom Besuch von Veranstaltungen, die von zionistischen Gruppen organisiert wurden (165); und von samstäglichen Zusammenkünften in den Räumen des jüdischen Gemeindezentrums sowie von Ausflügen und sportlichen Aktivitäten am Sonntag nachmittag (70). In späteren Jahren wäre es für jüdische Jugendgruppen undenkbar gewesen, sich zu treffen: Sie wären nur allzu rasch von den Braunhemden, Hitlers Sturmtruppen, aufgelöst worden. Die zukünftige Entwicklung vorauszusehen, wurde auch dadurch erschwert, daß das Leben in einigen Teilen Deutschlands leichter war als in anderen. Während eine Familie ihr Heim in einer deutschen Kleinstadt bereits 1935 aufgeben mußte, gelang es anderen Familien, sich noch bis zur Reichskristallnacht, der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, durchzuschlagen und ein in gewissen Grenzen sogar noch recht angenehmes Leben zu führen. Nach Durchsicht seines 1938 verfaßten Tagebuches muß Paul (91) eingestehen, daß er darin ein gar nicht unerfreuliches Leben in Wiesbaden beschreibt, während er mit seiner Familie auf die Visa für die USA wartete: „In meinem Kalender aus dem Jahre 1938 finden sich die üblichen Eintragungen, wie etwa, daß ich im Mai ein neues Fahrrad bekommen hatte; er enthält einen vollständigen Stundenplan meiner Geigestunden sowie Aufzeichnungen über sportliche Aktivitäten, englische Privatstunden, den Besuch der Freitagsgottesdienste, die Ausflüge an den Sonntagen sowie die Vorbereitungen für meine für Dezember geplante Bar-Mizwa. Im September herrschte große Aufregung über das Sudeten-

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land, und man sprach von Krieg. Im Oktober wurde ,peace for our time' durch die Briten sichergestellt. Im späten Oktober genossen wir die jährlichen Festtage . . . Anfang November verlief alles normal. . . Wir wissen, was dann im November geschah: die Kristallnacht." So lange es möglich war, das eigene Leben zu fristen, versuchte sich die jüdische Bevölkerung an diesen Strudel, der alles hinabzog, anzupassen. Eric (35) erinnert sich: „Trotz der beunruhigenden Entwicklungen realisierten nur sehr wenige von uns, in welch tödlicher Gefahr wir schwebten. Von Zeit zu Zeit konnte man die rauhen Stimmen der blutrünstigen Nazi-Sturmscharen hören, die ihre nicht minder blutrünstigen Lieder wie „Wenn Judenblut vom Messer spritzt" sangen. Aber wir hatten dieses Lied schon früher so oft gehört, daß wir es nicht mehr wörtlich nahmen." Jeder schien den Wunsch zu hegen, so lange wie möglich - ja selbst, als es unmöglich wurde - an dem Gewohnten festzuhalten. John McPhee (1989) befragte Leute, die am Abhang eines Vulkans lebten, warum sie dort blieben. „Du lernst dich anzupassen", antwortete einer der Bewohner. „Du lernst damit zu leben. Gott sei Dank gibt es nicht allzu oft Probleme. In den Jahren, seitdem ich hier lebe, hatten wir nur ein größeres Erdbeben, zwei bedeutendere Feuerausbrüche und ein nennenswertes Hochwasser." (S. 257) Isaac Bashevis Singer sagte einmal: „Gott bewahre uns vor allem, an das wir uns gewöhnen können." Mit jeder Eskalation in den Einschränkungen glaubten viele deutsche Juden, daß nun das Schlimmste vorbei wäre, der Gipfel der Grausamkeit erreicht sei und keine neuen Gewalttaten mehr folgen würden. „Auf Zeiten der Gewalt und der drakonischen Maßnahmen folgten Zeiten relativer Ruhe, die neue Hoffnung aufkommen ließen, daß der Wahnsinn nun aufhören würde. Und so kamen 1934 mehrere tausend Juden, die 1933 ausgewandert waren, wieder nach Deutschland zurück, weil es den Anschein hatte, als würde das Regime nach den anfänglichen Unruhen des Jahres 1933, in denen die reine Willkür herrschte, einen ,legaleren Kurs' einschlagen." (Berghahn, 1984, S. 72) Mit jeder Eskalation wurde das Leben für einige unerträglich, und sie verließen das Land, andere aber hielten es immer noch für möglich, unter diesen Diskriminierungen zu leben. Als es Juden beispielsweise verboten wurde, öffentliche Orte zu besuchen, trafen sich Freunde statt dessen in ihren Wohnungen. Als es ihnen verboten wurde, als Beamte im öffentlichen Dienst zu arbeiten, stellten sie ihre Arbeitskraft und ihre Erfahrung privaten Unternehmen zur Verfügung. Nach jedem Erlaß kam es zu einer Anpassung. Jede kurze Periode des Aufatmens fand dann durch einen neuen Erlaß ihr Ende. Eine Dame, die meinen Fragebogen beantwortete (16) und bereits sehr früh Deutschland verlassen hatte, sagt, daß der staatlich organisierte Boykott aller jüdischen Geschäfte im Jahre 1933 der entscheidende Faktor für den Entschluß ihrer Familie war, das Land zu verlassen. Aber ihre Familie befand sich

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auch in einer guten Position, dies zu tun. Sie war finanziell gut gestellt und hatte Verwandte in den Vereinigten Staaten. Die berüchtigte Bücherverbrennung in Deutschland im Jahre 1933 wird von keinem Flüchtling in unserer Studie erwähnt. Es ist möglich, ohne Bücher, aber nicht ohne Einkommen zu leben. Die Nürnberger Gesetze des Jahres 1935, mit denen die Rassengesetze verkündet wurden und die deutschen Juden aller Bürgerrechte verlustig gingen, öffnete vielen die Augen, in welch schrecklicher Lage sie sich befanden. Für andere aber, die immer noch ein, wenn auch sehr eingeschränktes Leben führen konnten, war dies noch immer nicht der entscheidende Augenblick. Das heißt aber nicht, daß die in Deutschland verbleibenden Juden nicht nach Wegen ins Ausland suchten. Sie bemühten sich vielmehr um so verbissener darum, je bewußter ihnen die Gefahr wurde, in der sie schwebten. Eine Mutter (35), die 1936 ein Angebot, ihren Sohn zu einer Gastfamilie nach Amerika zu schicken, abgelehnt hatte, hätte dieses eineinhalb Jahre später mit Freuden angenommen. Der Anschluß und was dadurch ins Rollen kam, war ein zusätzlicher Anstoß. Die Reichskristallnacht schließlich rüttelte fast jeden auf. Danach bedurfte es keiner weiteren Beweise mehr. Die Entscheidung, ob und wann es zu handeln galt oder nicht, hing von der persönlichen Einschätzung der politischen Lage durch jeden einzelnen ab. Juden, die glaubten, sich keine falschen Hoffnungen über den Nationalsozialismus machen zu dürfen, waren eher geneigt, sofort Maßnahmen zu ergreifen. Wer noch einen gewissen Optimismus hegte und meinte, dieses Regime würde sich nicht halten können, oder glaubte, mit diesen Einschränkungen leben zu können, schob eine Entscheidung über die ungeheuren Probleme, die mit einer Auswanderung verbunden waren, hinaus. Beide, sowohl Optimisten als auch Pessimisten, mußten sich auf Vermutungen stützen und auf Vorahnungen verlassen, wobei die persönliche Einstellung zum Leben ebenfalls eine Rolle spielte. Davon abgesehen waren natürlich jene, die das Glück hatten, Verwandte oder Beziehungen im Ausland zu besitzen, eher bereit, an eine Auswanderung zu denken. Einige vermochten bereits sehr früh die finsteren Vorankündigungen zu deuten, die auf Kommendes hinwiesen. Dazu zählten die Opfer früherer Pogrome, die vermutlich Tennessee Williams zustimmen, wenn er sagt: „Wir müssen einander mißtrauen. Das ist die einzige Verteidigung gegen den Verrat." Leon Winer (187) hatte gelernt zu mißtrauen. Zwanzig Jahre zuvor waren er und seine Frau über einen zugefrorenen Fluß unter dem Beschuß der Bolschewiken geflohen. Nach diesem Erlebnis fiel es ihnen nicht mehr schwer, Gefahren zu erkennen, und sie verließen unverzüglich das Land, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Wer die Grausamkeit der Nazis selbst kennengelernt hatte, zählte ebenfalls zu denen, die schon bald die kommenden Ereignisse vorhersahen. Anfangs

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gelang es den meisten Juden, solche Konfrontationen zu vermeiden. Aber wer bereits einmal mit den Nazis zu tun gehabt hatte, war schon einmal in einer so schlimmen und furchterregenden Lage gewesen, daß selbst die Aussichten auf eine Auswanderung mit all ihren Beschwerlichkeiten bei weitem verlockender waren. Der Verlust jeder Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, konnte ebenfalls ein Anstoß zum Verlassen des Landes sein. Ein jüdischer Richter (114) wurde seines Amtes enthoben, und es bestand keinerlei Aussicht für ihn, in Deutschland je wieder als Jurist arbeiten zu können. Daß er Verwandte in Amerika besaß, sprach ebenfalls für eine Auswanderung. Es war ihm klar, daß er in den Vereinigten Staaten keinen Posten finden würde, aber auch in Deutschland hatte er keinen. Und in den USA wären zumindest er und seine Familie in Sicherheit. Ein weiterer Faktor waren die Kinder. In dem Maße, wie sich Angriffe auf die Kinder häuften, wurde die Motivation größer, das Land zu verlassen. Was für eine Schreckensvorstellung für Eltern, die eigenen Kinder nicht schützen zu können! Ein Flüchtling (161) erinnert sich an den Abend des Passah-Festes im Jahre 1935. Bis dahin hatte die Familie, unter der Obhut des Vaters, eines geachteten Rabbiners, weitgehend friedlich in einer Kleinstadt gelebt. Die Mutter bat den 13jährigen Sohn, der einmal selbst Rabbiner werden sollte, ein Paket Mazzes und eine Flasche Wein zu einem Bauern zu bringen, bei dem die Familie das ganze Jahr hindurch eingekauft hatte. Der Bub brachte dem Bauern das wohlüberlegte Geschenk der Mutter. Der Bauer prallte zurück und war sichtlich aufgeregt: „Ich trinke Rhein- und Moselwein", schrie er. „Ich trinke keinen jüdischen Wein. Jüdischer Wein ist gemischt mit dem Blut christlicher Kinder, die brutal ermordet wurden." Um seine Aussage zu untermauern, entfaltete der Bauer eine Zeitung und wedelte damit vor den Augen des Buben. Es war Julius Streichers Stürmer, die Zeitung eben jenes Julius Streicher, der später in Nürnberg verurteilt wurde. Und was hier in gedruckten Lettern, gleich auf der ersten Seite, stand, war die Quelle für die Informationen des Bauern. Der Bub fragte: „Glauben Sie alles, was in der Zeitung steht?" Der Bauer war erbost über diese Frechheit. „Ich sehe, daß du sehr krank bist", sagte er. „Es gibt einen Arzt in Dachau, der sich mit großem Erfolg auf Fälle dieser Art spezialisiert hat. Sein Name ist Theodor Eicke (einer von Himmlers Gefolgsleuten)." Als der Bub seiner Mutter dieses Gespräch erzählte, sagte sie: „Die Zeit ist gekommen, Deutschland zu verlassen." Einer der entscheidendsten Anstöße für das Verlassen des Landes war die Verhaftung eines Familienmitgliedes. Für die Familie Heiman (69) war ein solcher Schreck der ausschlaggebende Anlaß: „Die Verhaftung meines Vaters war ein schrecklicher Schlag. Das Unmögliche war geschehen. Uns wurde klar, daß wir entweder das Land verlassen mußten oder

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untergehen würden. Ein Gefühl des Verrates, nicht unbedingt der Unsicherheit, überfiel mich. Eine völlige Katastrophe." Die drohende völlige Katastrophe war für einige manchmal aufgrund fehlender Erfahrung oder Naivität im Umgang mit politischen Ereignissen nicht ganz ersichtlich. Zu den Juden, die ein solch unvorhergesehenes Problem nicht richtig einzuschätzen oder anzupacken vermochten, zählten so manche, die die unerbittliche Realität nicht wahrhaben wollten. Als die Familie Heiman zum Beispiel die Vorbereitungen für die Auswanderung traf, weigerte sich einer der Onkel noch immer beständig, sein Haus zu verlassen. Er hielt an seinem Entschluß fest, sich einen Bunker in seinem Hof zu bauen und zu bleiben. Glücklicherweise änderte er seine Meinung. Die Haltung des Onkels spiegelt einen Mangel an Realismus wider, der möglicherweise durch die Furcht vor den riesigen Problemen, die eine Auswanderung mit sich brachte, hervorgerufen wurde. Vermutlich wuchsen einigen die enormen Belastungen der damaligen Zeit über den Kopf. Es erforderte unerhörte Ausdauer, Einfallsreichtum und Intelligenz, um all die Hindernisse zu überwinden, die einer Auswanderung im Wege standen. Man brauchte Mut, um der Aussicht von Arbeitslosigkeit, Armut und Einsamkeit in dem jeweiligen neuen Land ins Auge sehen zu können. Es überrascht daher nicht, daß so manche angesichts dieser Perspektiven zögerten. Ein Mann (88) erinnert sich an die quälende Unentschlossenheit seiner Mutter: „Unsere Pässe waren ausgestellt, und wir hatten vor, im Dezember 1937 auzuwandern. Meine Mutter verlor in der letzten Minute die Nerven und veranlaßte meinen Vater, die Pässe auf die Polizei zurückzubringen. Mein Vater und ich konnten sie schließlich doch zur Ausreise bewegen, und wir bekamen unsere Pässe wieder." Man mußte sich entscheiden, ob man den Schritt ins Unbekannte wagen und in einem neuen Land zu leben versuchen sollte, oder ob man in vertrauter Umgebung bleiben und hier zu überleben versuchen sollte. Jede Option barg ein ganzes Spektrum unausgesprochener Schwierigkeiten, was zur Folge hatte, daß man in eine lähmende Ambivalenz verfiel. Was damals in Deutschland vor sich ging, lag jenseits jeder Erfahrung. Wie quälend dieser Entscheidungsprozeß war, beschreibt Yecheskel Leitner (1987): „Als Deutschland und Rußland Polen untereinander aufteilten, wurde der Fluß Bug zur Trennungslinie zwischen ihren Armeen . . . Jüdische Flüchtlinge flohen in Massen vor den Deutschen Richtung Bug, um auf die russische Seite des besetzten Polen zu gelangen. Gleichzeitig schlugen sich zahllose andere Flüchtlinge, die vor der sowjetischen Besatzung flohen, ans andere Ufer durch. In ihrem Elend und ihrer Verzweiflung blickten die jüdischen Flüchtlinge voll Erstaunen auf diese andere Gruppe: Wie konnte jemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte nach Deutschland fliehen? Diese anderen hingegen dachten genau das

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Gegenteil, hatten sie doch gerade alles riskiert, um vor den Russen zu fliehen." Dieser Konflikt verlangte nach einer Lösung. Man beschloß, einen Rabbiner, der auch ein bekannter Richter am Thora-Gerichtshof der Stadt Brisk war, um Rat zu fragen. Rabbiner Simcha Zelig fällte schließlich seinen Schiedsspruch, der im Kernpunkt lautete: Wir stehen erst am Beginn eines Krieges, der von seiner Charakteristik und seinen Eigenheiten her vor allem was die bisher noch nie dagewesenen unmenschlichen Grausamkeiten gegen die Juden betrifft - ein Krieg werden wird, der über jedes menschliche Verständnis hinausgeht. Da die Entwicklungen der Ereignisse sich unserem Verstand, unserer Vorstellungskraft und unserer rationalen Analyse entziehen, kann darüber kein Thora-Urteil gesprochen werden. Es kann kein Thora-Urteil über etwas geben, das jenseits des menschlichen Begriffsvermögens liegt." (S. 43-44) Die Frage, warum so viele deutsche Juden das Land nicht sofort verließen, erklärt sich zum Teil wie folgt: Eine Zeitlang nach der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler war ein Leben in bescheidenem Wohlstand, wenn auch in engen Grenzen, immer noch möglich. Solange das Leben noch mit einer Spur von Normalität weiterging, solange man noch ein gewisses Einkommen hatte und solange die Hoffnung bestand, Hitler würde nur vorübergehend an der Macht bleiben, so lange schien es vernünftig zu warten. Mit Zunahme der restriktiven Gesetze und der ständig häufiger werdenden persönlichen Erfahrung mit den Methoden der Nazis, wurde es immer leichter vorherzusehen, worauf die Machthaber abzielten und was ihre Absicht war. Aber das brauchte Zeit. Günther (1), den seine Mutter aus Deutschland ins Ausland geschickt hatte, kommt zu einer ähnlichen Schlußfolgerung: „Im Rückblick betrachtet, verließen meiner Meinung nach so viele Juden Deutschland nicht, als dies noch möglich gewesen wäre, weil sie nicht glaubten, daß sich die Nazis halten würden, weil sie sich selbst als ebenso gute Deutsche ansahen wie die Nichtjuden und weil es nicht einfach ist, in der Lebensmitte Besitz und eine gesicherte Karriere aufzugeben." Lange nachdem den deutschen Juden die Lage in Deutschland völlig klargeworden war, erkannte der Rest der Welt noch immer nicht die wahre Natur des Nationalsozialismus. Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag in England. Meine Lehrerin forderte mich auf, von den Ereignissen in Europa zu erzählen. Obwohl mein Englisch noch recht holprig war, gelang es mir recht gut, von den geplünderten jüdischen Geschäften und den Verhaftungen zu erzählen und auch, daß ich nicht zur Schule gehen durfte. Abschließend sagte ich, daß viele Leute in den Selbstmord getrieben würden. Plötzlich wurde mir klar, daß mich niemand verstand. Hatte ich ein falsches Wort für Selbstmord verwendet? Vielleicht sprach ich es falsch aus. Und ich versuchte mich bildlich verständlich zu machen: Ich hielt meine Finger an die Stirn, als wären sie eine Waffe; ich spielte, als

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würde ich mir die Pulsadern mit einem Messer aufschneiden; ich ging zum Fenster und tat, als wollte ich hinausspringen. Aber niemand verstand mich. Lehrer und Schüler schauten mich verduzt an. Es war nicht das Wort, das sie nicht verstehen konnten. Es war die Vorstellung. Eine andere Frau, Bea (59), machte als Kind in England eine ähnliche Erfahrung. Im Januar 1940 flatterte eine Ausgabe der Zeitschrift Picture Post in ihre Schule. Darin fand sie eine ihr vertraute Photographie: Ihr Vater schritt, umgeben von SA-Leuten, die Straße einer Stadt hinab. Vorübergehende Zivilisten starrten ihn an. Würdevoll schritt er, die Augen hinter seinen Brillen starr auf die Straße vor sich gerichtet, mit einem riesigen Plakat um seinen Hals dahin. Darauf stand: „Ich bin Jude, aber ich will mich nicht über die Nazis beschweren." Seine Hosenbeine waren abgeschnitten worden, sein Kopf verletzt und seine Zähne ausgeschlagen. Bea erinnert sich, daß der Anblick dieses Photos ein großer Schock für sie war. Sie schrie auf und zeigte das Photo ihrer Lehrerin, die nicht glaubte, daß das Beas Vater war und sie zur Direktorin schickte. Auch diese glaubte ihr nicht. Niemand konnte das Unglaubliche glauben.

Der Weg hinaus: Die Hindernisse Alles Tun, alle Gespräche drehten sich nun fast ausschließlich um die Flucht. Nach dem Anschluß gab es für uns nur einen Gedanken: Wir müssen hier herauskommen. Oder vielmehr, wir müssen hinaus- und wieder hineinkommen. Denn plötzlich wurde uns klar, daß es zwei unterschiedliche Hindernisse auf dem Weg gab: jene, welche die Nazis einer Genehmigung zum Verlassen des Landes in den Weg legten, und die Weigerung der anderen Länder, flüchtende Juden aufzunehmen. Die Nazis begannen die Juden damit zu quälen, ihnen jedes nur erdenkliche Hindernis in den Weg zu legen. Praktisch jeder, der das Land nicht unmittelbar nach dem Anschluß verlassen hatte, sah sich mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn er die für die Ausreise notwendigen Dokumente zu beschaffen versuchte. Die Funktionäre der Nazis wurden zu Königen, die die Bittsteller in endlosen Reihen warten ließen. Und es war dann jedes Mal noch ein weiteres Papier erforderlich oder noch eine weitere Unterschrift. Lang gesuchte und endlich erhaltene Dokumente wurden willkürlich abgelehnt und alle Ansprüche geleugnet. Die Arbeit begann wieder ganz von vorne - außer es handelte sich bei dem beschlagnahmten Dokument um den Paß. Dies konnte das Todesurteil bedeuten. Fast alle Flüchtlinge haben irgendwelche Erinnerungen an diese alptraumartigen Tage. Ein 15jähriges Mädchen (106), das seinen Vater auf seinen endlosen Wegen begleitete, erinnert sich an die damaligen Ereignisse: „Es war in erster Linie mein Vater, der sich darum kümmerte, alle notwendigen Papiere zu besorgen. Ich erinnere mich, wie ich ihn begleitete, um den Paß zu holen. Wir kamen um 6 Uhr früh zu dem entsprechenden Amt und standen dann in einer langen Schlange und warteten Stunden. Dann schlössen sie den Schalter und sagten, wir sollten am nächsten Tag wiederkommen. Da unsere Konten gesperrt worden waren, stellte sich mein Vater häufig auch für andere an, die ihn dafür bezahlten." Daraus spricht eine gewisse Verzweiflung, war doch dieses Schlange-Stehen gefährlich, so daß man es tunlichst vermied. Die SA unternahm regelmäßig Razzien bei diesen langen Reihen vor den Amtern. Manchmal schlugen sie die Leute nur mit Fäusten und Stöcken. An anderen Tagen holten sie sie ab und brachten sie in Konzentrationslager. Alles, was nichts völlig Alltägliches war, bedurfte einer Sondererlaubnis. Anittas (43) Vater war Porträtmaler und brauchte eine Sondererlaubnis, um mit seinen Bildern, Zeichnungen und seinen Materialien zu emigrieren. In der ersten Zeit war es für Frauen weniger riskant verhaftet zu werden als für Männer. Daher nahm Anittas Mutter ihre ganze Kraft und

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Ausdauer zusammen, um in bitterer Kälte stundenlang Schlange zu stehen. Als sie zu Mann und Tochter nach Hause zurückkehrte, sah sie völlig erschöpft und zerschlagen aus, beklagte sich aber nie. Erst viel später erfuhr Anitta, daß ihre Mutter geschlagen, beschimpft und in der bitteren Kälte gezwungen worden war, den Gehsteig zu schrubben, wobei es ihr verboten war, irgend etwas Warmes zu tragen. Dreimal kamen SS-Leute mit Gewehren in der Hand und plünderten den Besitz von Anittas Familie. Anitta mußte in einer Ecke sitzend zusehen, ihr Meerschweinchen und ihren Hund eng umschlungen, die ihrerseits ein paar harte Tritte mit SSStiefeln abbekommen hatten. Die Stunden, die sie auf die Rückkehr ihrer Mutter wartete, waren erfüllt von Angst und Sorge. Wie durch ein Wunder endeten die Besuche der SS und die Bemühungen der Eltern um die erforderlichen Papiere nicht in einem Unglück. Zwei ihrer Freundinnen hatten weniger Glück. Als sie eines Tages von der Schule nach Hause kamen, fanden sie ihre Wohnung leer und geplündert. Sie sahen ihre Eltern nie mehr wieder. Mit dem ihnen eigenen Sadismus erfanden und forderten die NaziFunktionäre eine immer länger werdende Liste von Dokumenten. Da gab es zum Beispiel die Reichsfluchtsteuer. 25 Prozent des gesamten Privatvermögens, einschließlich der Möbel, mußten in bar bezahlt werden. Die Höhe dieser Summe wurde von den Behörden völlig willkürlich festgelegt. Aber wo sollte man diesen Betrag in Bargeld herbekommen? In Österreich verloren die Juden sehr bald ihre Stellungen und ihre Geschäfte, in Deutschland dauerte das eine Weile. Die Steuer wurde zum Symbol der unerträglichen Lasten. Die Bestätigung über die Reichsfluchtsteuer war nur eines von vielen wichtigen Papieren. Dazu zählte auch der Nachweis, daß der Antragsteller dem Staat keine Steuergelder schuldete. Man mußte ein Formular anfordern, in dem bestätigt wurde, daß man in keinem Strafregister aufschien. Man mußte beweisen, daß keine Hundesteuer ausständig war - selbst wenn man nie einen Hund besessen hatte. Oberflächlich gesehen, mag es für eine Regierung sinnlos erscheinen, eine niemals enden wollende Flut von bürokratischen Formularen zu verlangen. Was wurde wohl damit bezweckt, riesige Summen für die Reichsfluchtsteuer aus den potentiellen Flüchtlingen zu pressen? Letztlich war es den flüchtenden Juden ja nur erlaubt, 10 Schilling mitzunehmen, wenn sie die Grenze in ein fremdes Land überschritten. Und damit fielen dem Staat letzten Endes in der einen oder anderen Form ohnehin das gesamte Geld, die Immobilien und die Haushaltseinrichtung in die Hände. Dafür gab es zwei Gründe: Der eine lag darin, die jüdische Bevölkerung zu quälen. Der andere war das germanische Bedürfnis, jede Transaktion in offizielle Bahnen zu lenken, gestempelt mit den richtigen Stempeln und besiegelt mit der entsprechenden Bestätigung. Dieser Zwang bewog die Nazis dazu, genaue Aufzeichnungen selbst der unmenschlichsten Akte zu

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führen. In Ärzte im Dritten Reich (1988) erwähnt Robert Lifton die umfangreichen Aufzeichnungen über geistig behinderte Rinder, die in den Spitälern getötet wurden. Ich selbst besuchte ein ehemaliges deutsches Gefängnis im damaligen Jugoslawien. Ich sah die Peitschen, mit denen die Gefangenen geschlagen worden waren, und auch andere Folterinstrumente. Da gab es lange, hölzerne Pfähle, an welche die Gefangenen gebunden wurden, bevor sie erschossen wurden, und die eine Unzahl von Einschußlöchern aufwiesen. An die Wände der Zellen hatten die Gefangenen Nachrichten und Tageszähler gekritzelt, die plötzlich aufhörten. Es gab auch eine Sammlung von Photos, welche die Deutschen von Kindern und Erwachsenen aufgenommen hatten, wenn diese zum ersten Mal in das Gefängnis kamen. Weiters gab es noch zwei äußerst dicke, gebundene Bände nach der Art, wie sie die Buchhalter zu Zeiten Dickens' verwendeten. In jeder Zeile auf jeder Seite stand der Name eines Gefangenen, das Datum seiner Ankunft, eine Gefangenennummer - alles peinlichst genau in gestochener Schrift eingetragen. Und dann gab es eine Linie, mit der fein säuberlich jeder Name ausgestrichen war, und daneben stand ein Todesdatum. Und alle Zeilen waren genau gleich lang und völlig parallel zueinander. Es war ein bestens geführtes Todesbuch. Ob in Jugoslawien, Österreich oder Deutschland, die Aufzeichnungen wurden immer peinlichst genau geführt. Die Schwierigkeiten, die notwendigen Papiere zu bekommen, wurden mit den Jahren immer größer. 1934 war es noch nicht allzu schwierig, die für die Ausreise aus Deuschland notwendigen Dokumente zu beschaffen. 1936 gab es bereits Probleme: Ein Mann (124) erinnert sich, daß er zweimal nach Stuttgart fahren mußte, um die notwendigen Dokumente zu bekommen. Zwischen der ersten und der zweiten Fahrt verlor die Familie ihr Haus und schlief acht Monate lang nur auf dem Betonboden einer benachbarten Scheune. Da man bei der Vorlage der Papiere eine bestimmte Reihenfolge befolgen mußte, war Schnelligkeit vonnöten. Zu der Zeit, zu der man Dokument Nummer zwei bekam, war Dokument Nummer eins oft schon abgelaufen, und man mußte wieder von vorne beginnen. Ein ehemaliger Österreicher (145) beschreibt die Situation kurz und bündig: „Das Land zu verlassen, war nicht gerade einfach. Bevor wir alles beisammen hatten, waren zwei von uns bereits nach Dachau geschickt worden." Beamte waren erfinderisch, was Verzögerungen betraf. Fritz (167) hatte beim Polizeihauptquartier um einen Paß angesucht. Er wurde aufgefordert, in zwei Tagen wiederzukommen, damit ihm dann mitgeteilt wurde, daß er ein weiteres Dokument benötige, für das er in eine andere Stadt reisen mußte. Nachdem er dieser Forderung nachgekommen war, fand er sich wieder in dem Amt ein und sagte zu dem Beamten: „Ich komme um den Paß von Fritz Steinweg." Der Beamte musterte Fritz ernst und antwortete: „Gibt es nicht." Fritz war sprachlos und wiederholte sein Ansu-

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chen. Der Beamte schüttelte den Kopf und gab dieselbe Antwort wie zuvor. Dann dämmerte es Fritz. „Ich komme um die Papiere von Fritz Israel Steinweg." „Das klingt schon besser", antwortete der Beamte und nahm die Unterlagen entgegen, die Fritz ihm gebracht hatte. Zahllose Formulare zu verlangen, war ein bewährtes Mittel, um Macht zu zeigen. Ich erinnere mich, daß meine Eltern mich einmal zu irgendeinem Regierungsgebäude mitnahmen - vermutlich ein notwendiger Weg, da sie stets bemüht waren, mich abzuschirmen. Ich sehe das Gebäude noch heute vor mir. Das Innere war grau, schmutzig und nur schwach beleuchtet. Ein endloses Stiegenhaus wand sich durch mehrere Stockwerke. Ein oder zwei Leute standen auf jeder Stufe und warteten, bis sich die Schlange langsam aufwärts bewegte. Sie schauten eingeschüchtert und ebenso grau drein wie die Wände. Niemand sprach ein Wort. Viele hielten Papiere in Händen. Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit schien, kamen wir endlich oben an. Hier saß eine Frau hinter einem Schalter. Sie sprach mit scharfer Stimme mit meinen Eltern, die ihr einige Papiere aushändigten. Sie schien irritiert und herrschte meine Eltern in rechthaberischem Ton an. Mein Vater, der für gewöhnlich seine Würde sorgfältig zu wahren wußte, sagte nichts. Das bestürzte mich, aber ich wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Wir hatten offensichtlich bekommen, worum wir gekommen waren. Meine Eltern drehten sie um und gingen rasch die Stiege hinunter. Wir verlangsamten unseren Schritt auch nicht, als wir die Straße erreichten. Jeder Schritt, der uns weiter von diesem Gebäude entfernte, brachte uns in größere Sicherheit. Niemand sprach von dem Vorfall. Hier gab es nichts zu sagen: Wir alle verstanden nur allzu gut. Neben diesem Spiel mit der Macht gab es auch das Spiel mit Bestechungen, das sehr schwierig zu spielen war. Zum einen kam es teuer. Viele Beamte waren durchaus bereit zu nehmen. Sie verlangten dabei etwa eine Perlenkette oder ein Goldarmband, nicht einfach ein paar lumpige Schillinge. Für den, der gab, stellten sich immer die gleichen Fragen: „Gebe ich zuviel oder zuwenig? Versuche ich einen der wenigen zu bestechen, der Bestechungen ablehnt, und werde ich daher im Gefängnis landen? Und wenn ich zahle, werde ich dann die benötigten Papiere bekommen? Irgendwann einmal wird mir das Geld ausgehen, wie werde ich dann noch mehr beschaffen können? Ich erinnere mich, meine Eltern einmal bei einem diesbezüglichen Gespräch belauscht zu haben. Ich weiß nicht, zu welchem Amt meine Mutter ging, als sie die Perlenkette mitnahm, die einst meiner Großmutter gehört hatte. Ich weiß nicht, wie oft sie zahlen mußte, um noch ein weiteres Papier zu bekommen, aber ich weiß, daß die Perlenkette nicht das einzige Schmuckstück war, das bei diesem Spießrutenlauf um die notwendigen Dokumente in unergründlichen Kanälen verschwand. Wann immer es um Korruption geht, sprießen dunkle Leute aus dem

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Boden, die aus dem Nichts auftauchen und - natürlich um einen bestimmten Preis - ihre „Verbindungen" haben. Und unter dem Hitler-Regime gab es unzählige davon. Es gelang ihnen, dort Eingang zu finden, wo anderen das Terrain zu heiß war und sie Angst hatten. Sie erlangten sogar Zugang zur streng bewachten Gestapo. Stellas (72) Vater wurde von der Gestapo gesucht: „Mein Vater befand sich damals außer Landes. Die blitzenden schwarzen Autos mit den roten Hakenkreuzfahnen fuhren vor unserem Haus vor. Wann mein Vater denn mit all seinem ausländischen Geld zurückkommen würde, wollten die Männer in ihren schwarzen Uniformen wissen. Unsere Pässe wurden konfisziert. Ein junger Anwalt, der mit einem kleinen, silbernen Hakenkreuz protzte, trat in unser Leben. Er erreichte bzw. bekam fast alles. Ein Paß? Kein Problem. Etwas teuer vielleicht, aber es war möglich. Papiere, in denen bestätigt wird, daß Sie keine wie auch immer gearteten Steuerschulden haben - etwas, das für Juden, die das Land verlassen wollten, völlig unerreichbar war? Natürlich. Aber nur für bares Geld. Wir bekamen einen Paß." Aber in dem Paß fehlte etwas Entscheidendes: Das rote „J" für Jude. Stella wandte sich erneut an den Anwalt, der schon zuvor - gegen Bargeld - verpflichtet worden war: „Unser Freund mit dem kleinen silbernen Hakenkreuz erschien wieder. Ein ,J' im Paß? Die Dinge lagen heute schwieriger. Er wollte sehen, was sich machen ließe. Aber es würde teuer kommen. Er verschwand mit unserem Paß im Schloß Schönbrunn, der ehemaligen Residenz des Kaisers, das nun Regierungsstellen beherbergte. Lange wartete ich auf ihn im Park. War er verhaftet worden? Mit unseren Pässen? Als er endlich zurückkam, sah er erschöpft aus: ,Es ist eine schlimme Zeit für mich', vertraute er mir an.,Viele der Leute, denen ich Pässe verschafft habe, haben nun kein Geld mehr. So zahlen sie in Naturalien. Die ganze Nacht hindurch begehe ich ,Rassenschande' (das schwerwiegende Verbrechen eines Ariers, der sexuelle Beziehungen zu einem jüdischen Partner unterhält). Er händigte mir den Paß aus. Ihn zierte nun ein dickes, fettes, rotes ,J'. Ich gab ihm einen Briefumschlag. Er verlor sich im Schatten der Bäume." Andere Schwarzmarkthändler verlangten handfestere Vermögenswerte. „Ich bestach jemanden um ein Visum", erinnert sich ein Flüchtling (144). „Für meine Ausreisegenehmigung überließ ich ihm mein Auto." (144) Mit solchen dunklen Gestalten zu tun zu haben, barg eine ganze Reihe von Gefahren in sich. Bisweilen verschwand die Kontaktperson, die diese illegalen Aktivitäten der Juden ermöglicht hatte. Ohne Papiere oder mit falschen konnte ein Jude eingesperrt werden, und man hörte nie wieder von ihm. Ein andermal entschloß sich der Schwarzmarkthändler vielleicht, den geänderten Paß überhaupt nicht mehr zurückzugeben. Es war durchaus möglich, daß er einen Käufer für den Paß finden würde, der ihm mehr Geld bot, als er für ein bloßes „J" verrechnen konnte. Damit sah der

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ursprüngliche Besitzer seinen Paß aber nie mehr wieder und war verzweifelt. Bis er dann wieder um einen neuen Paß ansuchen konnte, waren ihm alle Türen versperrt. Aber das kümmerte den Schwarzmarkthändler wenig. Meine eigenen Eltern, die sich verzweifelt um einen wichtigen, aber nirgends aufzutreibenden Stempel bemühten, übergaben unsere Pässe einer dieser dunklen Gestalten. Ja, ja, versicherte er ihnen, er würde den Stempel für ihre Pässe beschaffen können. Mitten in der Nacht wachte meine Mutter angsterfüllt auf. Sie ging weinend auf und ab; sie war überzeugt, dieser Mann würde unsere Pässe verkaufen - vier wunderschöne, fast vollgültige Pässe. Sie besprach die Angelegenheit mit meinem Vater. Sollten sie versuchen, die Pässe auch ohne die notwendigen Stempel wiederzubekommen, oder sollten sie dem Erpresser die Pässe überlassen? Würden wir die Pässe mit dem Stempel bekommen? Oder würden wir die Pässe nie mehr wiedersehen? Sie beschlossen, die Pässe zurückzuholen. Aber von wo? Mein Vater ging in die Nacht hinaus, was an sich schon gefährlich war. Nachdem er eine Runde durch berüchtigte Plätze gemacht hatte, fand er den Erpresser. Er hatte die Pässe noch. Am nächsten Tag begann die Suche nach dem Stempel von neuem. Meine Eltern hatten eindeutig kein Talent für den Schwarzmarkthandel. Manchmal mußte man sich komplizierter Mittel und Umwege bedienen, um zu einem Paß zu kommen. Ein Mann (31), der sich verzweifelt um einen Paß bemühte, hoffte, sein Cousin, ein Beamter in Polen, würde ihm einen solchen verschaffen können. Er konnte. Aber es war ein etwas eigenartiger Paß, der nur drei Monate Gültigkeit besaß und - obwohl ein polnischer Paß - für Polen nicht galt. Aber es war wenigstens ein Paß, der den Mann in die Lage versetzte, Deutschland verlassen zu können. An dieser Stelle möchte ich kurz eine persönliche Erinnerung einfließen lassen: Wir näherten uns mit unserem Schiff der Rüste Ranadas, als ein Mann seinen Paß versehentlich über Bord fallen ließ. Alle waren zutiefst erschrocken. Jeder flüsterte nur mehr; wir alle waren betroffen. Ohne Paß war dieser Mann ein toter Mann. Nur wenige Leute erinnern sich heute noch an die umfangreiche Liste von Dokumenten, die für ein Ausreisevisum erforderlich waren. Diese Dokumente hatten in Österreich und Deutschland zwar unterschiedliche Namen, die Vorgangsweise aber war dieselbe. „Ich kann mich nicht mehr an alle Details der Papiere erinnern, die wir in Deutschland vorlegen mußten. Darunter waren natürlich viele Bestätigungen über Steuern, wie etwa die Wassersteuer, die Warenumsatzsteuer, die Gemeindeabgabe, die Hundesteuer. Auch wenn der Betreffende diesen Steuern gar nicht unterlag, mußte er dennoch nachweisen, daß er keine dieser Steuern schuldete." (42) Alle Flüchtlinge haben noch die alptraumgleichen Tage vor Augen, die

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sie damit verbrachten, ein Ausreisevisum zu erlangen. Hindernisse tauchten in den verschiedensten Abarten auf, die von den Nazis bis zur Perfektion ausgeheckt wurden. Sie waren das geistige Produkt jener, die mit scharfer oder bestenfalls gleichgültiger Stimme hinter käfigartigen Fenstern saßen. Sie sahen eine endlose Reihe grauer Leute an sich vorbeiziehen. Aber diese Bürokraten wurden es nie müde, ihre Pflicht zu erfüllen. Sie achteten darauf, daß jedes Τ einen Querbalken hatte und jedes I einen Punkt. Nur zu gerne schickten sie jemanden wieder und wieder zurück, wenn sie auch nur die kleinste Unterlassung bemerkten. Kein noch so verzweifeltes Drängen brachte sie von ihrem Rurs ab. Ließen sie ein Dokument verfallen und ging damit ein Visum verloren, so brachte sie das nicht aus der Ruhe. Befehl ist Befehl. Ein Bürokrat kennt seine Pflicht. Ich habe viele Geschichten von den Schwierigkeiten gehört, die damit verbunden waren, sich Ausreisepapiere zu verschaffen, aber nie habe ich dabei gehört: „Oh, dieser Angestellte in dem Steueramt war mir wirklich sehr hilfreich" oder „Wenn es diesen Mann in dem Amt nicht gegeben hätte, hätte ich ein wichtiges Ablaufdatum versäumt." Niemand wird je erfahren, wie viele Leute wichtige Ablaufdaten versäumten und damit zum Tod verurteilt wurden. Vielleicht gab es irgendwo einen Beamten, der nicht gar so streng am Buchstaben des Gesetzes festhielt. Es muß wohl einen gegeben haben. Aber ich habe nie von ihm gehört.

Die Geschichte von Kurt und Franz Kurt: Auszüge aus dem Bericht von Ken Schüler

Kurt Schiller (159) hatte dunkles Haar, war ein Intellektueller und hatte ein sich selbst stets in den Hintergrund rückendes, aber freundliches Wesen. Aufgrund einer Kinderlähmungserkrankung hinkte er leicht. Das Leben vor dem Anschluß war für Kurt sehr friedlich gewesen. Nur einmal, 1932, hatte er eine furchterregende Begegnung mit dem Antisemitismus. Er erinnert sich nur mehr dunkel daran: Eine Vorlesung an der Universität - eine Gruppe von Antisemiten, die mit Stahlstöcken bewaffnet sind, stürmt in den Hörsaal und umzingelt die jüdischen Studenten - ein tatenloser Professor, der zwar verlegen ist, aber nicht einschreitet. Ein böser Traum? Nein, schreckliche Wirklichkeit. Aber das Leben kehrte zur Normalität zurück - das heißt bis zum Anschluß. Kurt bemühte sich verzweifelt, Österreich zu verlassen. Aber wie? In keinem Land suchte man junge Physiker. Er beschloß, etwas Praktischeres zu lernen. Vielleicht würde dies ihm ermöglichen, die Einreisebewilligung in ein anderes Land zu bekommen. Als Friseur würde es vielleicht leichter sein, nach Australien zu kommen. Spanisch wiederum würde ihm in einem südamerikanischen Land weiterhelfen. Er und drei Freunde trafen sich täglich in einer ihrer Wohnungen, um diese beiden Dinge zu lernen. Ein Kostgänger, der im angrenzenden Zimmer in Untermiete wohnte, verständigte das Gestapo-Hauptquartier und erzählte etwas von einer kommunistischen Verschwörung. Die nichtsahnenden jungen Männer seiften sich gerade gegenseitig die Gesichter ein, um sich zu rasieren, als drei SA-Leute in voller Uniform zur Tür hereinstürmten. Einer nahm seinen Gürtel ab und begann damit auf die Gruppe einzuschlagen. Ein anderer hielt Kurt ein Messer an die Kehle. Unter Schreien und Fluchen wurden die vier jungen Männer rasch grob in ein wartendes Auto gestoßen. Der Weg zum Gefängnis des Landesgerichts war nur kurz. Zunächst teilte Kurt eine kleine überfüllte Zelle mit Kriminellen. Nach ein paar Tagen wurde er in eine größere Zelle verlegt, die aber noch überfüllter war. Zu den Gefangenen zählten ein Bäcker, ein paar Anwälte und einige Geschäftsleute. Sie alle hatten etwas gemeinsam: Sie waren Juden. Von Zeit zu Zeit wurde der eine oder andere hinausgerufen und kam nicht mehr zurück. Wer waren die Glücklichen, die nach Hause geschickt wurden? Wer wurde nach Dachau geschickt? Die Tage vergingen ohne jeden Kontakt mit der Außenwelt. Kurt wußte, daß seine Eltern schon halb wahnsinnig vor Angst sein würden.

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Endlich war die Reihe an Kurt. Er wurde in einen kleinen Raum geführt, der an einen größeren angrenzte. Er hörte zwei Stimmen. „Der Jude Schiller, kommt der nach Dachau?" Kurt konnte die Antwort nicht verstehen. Die Minuten schlichen dahin. Dann wurde er aufgefordert, in den größeren Raum zu kommen. Ein Stück Papier wurde ihm mit der Aufforderung „Unterschreiben!" hingeschoben. Irgendwie verschwommen las Kurt das Schreiben. Darin stand, daß er Österreich aus freiem Willen verlasse. Es war bei den Nazis üblich, von Leuten, die aus dem Gefängnis oder aus einem Konzentrationslager entlassen wurden, die Restätigung zu verlangen, daß sie gut behandelt worden waren und daß ihr Wunsch, Österreich zu verlassen, schlicht eine Frage der Präferenz war. Kurt wurde auch mitgeteilt, daß er sich zweimal pro Woche bei der Polizei zu melden hätte. Das Wichtigste aber war, daß er, sollte er am 12. Juli noch in Österreich sein, nach Dachau geschickt würde. Man schrieb gerade den Monat Mai. Noch einmal: Nicht später als der 12. Juli - sonst Dachau. Wie ein Fingerzeig Mengeies, der einen Gefangenen in Auschwitz willkürlich zu Leben oder Tod verurteilte, hatte Kurts Schicksal zufällig auf Flucht und nicht nach Dachau gezeigt. Aber wie? Wohin? Er besaß keine Ausreisepapiere, kein Visum, keine Quotennummer. Dann ging ein Gerücht um, das neue Hoffnung nährte: Über Freiburg in Deutschland könne man immer noch in die Schweiz. Alles, was man brauchte, war ein deutscher Paß. Ein österreichischer Paß genügte nicht. Aber Österreich war ja nun ein Teil Deutschlands. Kurt konnte seinen österreichischen gegen einen deutschen Paß tauschen. Ja, er mußte nach Freiburg. Österreichischen Juden war es untersagt, nach Deutschland zu reisen, aber irgendein Risiko mußte man eingehen. Es folgten ein rascher Abschied von den Eltern, die Zugreise nach Freiburg, eine Nacht, in der Kurt voller Angst in Freiburg herumirrte. Wenn ihn die Polizei aufgriff, so war das ohne Zweifel gleichbedeutend mit seiner Überstellung nach Dachau. Endlich dämmerte der Morgen herauf, und das Paßamt öffnete. Nun ging es darum, einen neuen Paß zu bekommen. Aber zu spät. Zu spät. Die List war durchschaut. Die Polizei würde seinen Paß nicht gegen einen deutschen tauschen. Was nun? Mit jedem Tag rückte der Stichtag für Dachau näher. Nach langer Suche zeichnete sich eine andere Lösung ab. Kurt erfuhr von einem Restaurant in Rasel, das genau an der deutsch-schweizerischen Grenze stand. Wenn es Kurt nun gelang, auf deutscher Seite in dieses Restaurant zu kommen, mußte er nur auf der schweizerischen Seite herausgehen, um ein freier Mann zu werden. Kurt beeilte sich, einen Zug nach Rasel zu erreichen. Ja, es gab dieses Restaurant, genauso wie es ihm beschrieben worden war. Aber was sollte er als nächstes tun? Er konnte nicht einfach vom Speisesaal in die Küche und von dort hinaus in die Schweiz gehen. Allein, verängstigt und mit Herzklopfen fiel ihm nichts

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ein, wie er sich an die Kellnerin heranmachen sollte. Als er die Speisekarte studierte, bemerkte Kurt die Worte Können Sie mir helfen? auf der Rückseite. Sofort war ihm klar, daß die Kellnerin bereits anderen vor ihm geholfen hatte. Dies gab ihm Mut. Er rief sie herbei, drehte die Speisekarte um und schaute in das Gesicht der Kellnerin. Ein Nicken ihrerseits - sie hatte verstanden. Sie würde ihm helfen. Aber er mußte warten, bis der Koch nach Hause gegangen war. „Er ist ein Nazi", sagte die Kellnerin. „Wir müssen vorsichtig sein". Unendliche Erleichterung und neue Hoffnung überkamen Kurt. Das Dachau-Gespenst würde vielleicht schon bald verschwinden. „Warte", sagte er zu sich selbst, „bis das Restaurant schließt. Alles wird gutgehen." Plötzlich näherten sich wie aus dem Nichts zwei hünenhafte Männer. „Gestapo", wiesen sie sich selbst aus. „Wohin gehen Sie?" „In die Schweiz." „Haben Sie einen Paß?" „Ja." Einer der Nazis nahm barsch den Paß entgegen und verschwand. Der andere war erstaunlich mild gesinnt, ja sogar hilfsbereit. Ja, Kurt mußte das Lokal verlassen. Aber wußte Kurt, daß es in Straßburg eine Brücke gab, die Deutschland mit Frankreich verband? In der Nacht konnte man sie sehr einfach überqueren. Der erste Mann kam wieder zurück, und nachdem er Kurt seinen Paß ausgehändigt hatte, gingen beide wieder weg. Kurt untersuchte seinen Paß. Seine schlimmste Angst bewahrheitete sich: Der Paß trug nun den Stempel „Ungültig". Kurt überlegte, welche Schritte er als nächstes setzen sollte. Aus keinem besonderen Grund entschied er sich dafür, nicht nach Straßburg zu gehen. Kurz darauf hörte er, daß all jene, die versucht hatten, die Brücke in der Nacht zu überqueren, von der Gestapo erschossen worden waren. Der Grund: „Erschossen bei einem Fluchtversuch." Dachau rückte mit jeder Stunde näher. Aber Kurt war mit seiner Weisheit noch nicht am Ende. Er erfuhr von einer weiteren Möglichkeit. Er hörte von einer kleinen Stadt namens Lörrach, die zwar in Deutschland lag, aber nicht weit von Basel in der Schweiz entfernt war. Wenn beladene Lastwagen von Lörrach aus in andere Teile Deutschlands aufbrachen, konnten sie eine Abkürzung durch die Schweiz nehmen. Die Lastwagenfahrer waren sowohl den deutschen als auch den Schweizer Zollbehörden bekannt und wurden daher nur selten durchsucht. Wenn es Kurt gelänge, mit einem dieser Lastwagen mitfahren zu können! Eine kurze Zugsfahrt brachte ihn nach Lörrach. Als Kurt in die Stadt kam, fiel ihm die festliche Stimmung auf. Es war das Jahrestreffen der Feuerwehren aus der Umgebung. Keine Lastwagen verkehrten. Kurt war sofort klar, daß er in dieser Kleinstadt nicht bleiben konnte. Würde er erkannt, bedeutete dies mit Sicherheit seine Deportation nach Dachau. Er verließ die Stadt. Ein Anfall von Verzweiflung überkam ihn, aber dann zeigte sich ein Hoffnungsstrahl. Durch ein Telegramm aus London erfuhr er, daß einer seiner Onkel, der in England Zuflucht gefunden hatte, sich um ein Visum

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für ihn bemühte. Eine geradezu wunderbare Aussicht war sozusagen aus dem Nichts aufgetaucht. Aber der Paß! Es fiel ihm wieder ein, daß sein Paß ja ungültig war. Ohne Paß konnte England genausogut auf dem Mond liegen. Rasch kehrte Kurt nach Wien zurück. Die Zeit wurde langsam knapp. Die zweimal wöchentlichen Meldungen bei der Polizei waren gefährlich. Jedesmal bestand die Möglichkeit einer neuerlichen Verhaftung. Aber das Glück stand auf seiner Seite. Sein Stichtag für Dachau wurde auf den 5. September verlegt. Nun begannen die Bemühungen um einen Paß von neuem. Die Leute stellten sich tagelang an, ständig der Gefahr von SARazzien ausgesetzt. Aber dieses Riskio mußte man eingehen. Ohne Paß gab es kein englisches Visum. Die Gefahr wurde zu groß. Kurts Schwester stellte sich an seiner Stelle in der Schlange an. Endlich hielt er einen Paß in Händen. Dann kam ein Telephonanruf aus London: Das Visum war abgelehnt worden. Der September stand bereits vor der Tür. Kurt hatte einen Paß, aber mehr nicht. Er schien an einem Endpunkt angekommen. Aber wie ein Deus ex machina wurde Kurt ein nichtjüdisches Mädchen vorgestellt, das anbot, ihm zu helfen. Das Mädchen hatte einen Verlobten in Dänemark. Sie hatte einen Weg gefunden, wie sie ihn über Warnemünde, eine Kleinstadt an der baltischen Küste Deutschlands, besuchen konnte. Dort hatte sie einen Ferien-Passierschein ausgestellt bekommen, mit dem sie einige Tage in Dänemark verbringen durfte. Was sprach dagegen, daß auch Kurt einen solchen Passierschein bekam und dann zum gegebenen Zeitpunkt in Dänemark verschwand? Aber es gab tatsächlich einen guten Grund, warum dies für Kurt nicht möglich war. Der Paß des Mädchens trug einen Stempel mit einer Gültigkeitsdauer von drei Jahren, aber Kurts Paß galt nur für ein Jahr. Dies wies ihn eindeutig als Juden aus. Die dänischen Zollbehörden würden ihm nie einen Passierschein ausstellen. Jeder Zollbeamte mit auch nur ein bißchen Hirn wußte, daß kein Jude, dem einmal die Einreise nach Dänemark erlaubt worden war, nach Deutschland zurückkehren würde, wenn sein Passierschein ablief. Kurt und das Mädchen wußten, daß die Hitlerjugend im Sommer regelmäßig Ausflüge nach Dänemark unternahm. Es wurden ihnen dafür spezielle Ferienpassierscheine ausgestellt, wobei sie ihre Pässe gar nicht zeigen mußten. Wenn es Kurt gelang, einen solchen Passierschein zu bekommen, konnte er sich mit einer Hitlerjugendgruppe außer Landes schmuggeln. Aber wie sollte er wohl einen dieser Passierscheine bekommen? Dem Mädchen fiel ein, daß es den örtlichen Gauleiter kannte. Sie würde ihm einen entsprechenden Passierschein besorgen. Ungeduldig wartete Kurt auf sie. Sie kam mit der Nachricht zurück, daß der Gauleiter auf Urlaub war. Das tägliche Warten auf die Rückkehr des Gauleiters begann. Dieser kam gerade noch rechtzeitig zurück, um dem Mädchen ei-

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nen Passierschein auf Kurts Namen für den letzten Ausflug in diesem Sommer auszustellen. Kurt stieß am 4. September zu der Gruppe, einen Tag vor seinem Stichtag für Dachau. Die jungen Nazis bestiegen ein Boot namens Kronprinz. Wie alle anderen trug Kurt ein Hakenkreuz am Aufschlag seines Rockes, aber für ihn als Juden war das eine kriminelle Beleidigung. Er sang Nazi-Lieder und grüßte mit dem Hitler-Gruß. Endlich legte das Boot in Gedser, Dänemark, an, wo er und die Hitlerjugend-Leute ausstiegen. Kurt nahm einen Bus nach Nykobing, wo er den Verlobten des Mädchens traf. Dieser hatte keine guten Nachrichten. Der Verlobte sprach sehr rasch: „Kurt, es ist zu gefährlich! Geh zurück. Versuche etwas anderes. Ein Mann, der vorige Woche hierher gekommen ist, wurde von der dänischen Polizei aufgegriffen und nach Deutschland zurückgeschickt." Aber Kurt konnte nichts anderes mehr versuchen; der nächste Tag war sein Stichtag für Dachau. Der Verlobte händigte ihm eine Zugkarte nach Kopenhagen aus und gab ihm auch zwei Adressen von Frauen, bei denen er übernachten konnte. Als Kurt sich auf den Weg dorthin machte, war niemand zu Hause. Es war gefährlich für ihn, in der Nacht herumzustreunen. Und so wandte er sich mit dem wenigen Geld, das ihm noch übriggeblieben war, an ein kleines Hotel. Der Portier fragte nach seiner Paßnummer. Kurt gab vor, ihn nicht zu verstehen. Und so wurde jemand gesucht, der deutsch sprechen konnte; wieder wurde ihm gesagt, daß man seine Paßnummer brauche. Aber Kurt wußte, daß er kein dänisches Visum besaß. Der Hotelbesitzer würde sicherlich die Polizei verständigen. Er gab vor, müde zu sein und erklärte, er würde seinen Paß am nächsten Morgen zeigen. Er stand früh auf, ließ etwas Geld zurück und verließ das Hotel. Der Hotelpage rief ihm noch nach und lief ihm sogar nach, um den Paß zu bekommen. Trotz seines Hinkens lief Kurt schneller. Es war nun Montag früh, und Kurt gelang es, die beiden Frauen ausfindig zu machen, deren Adressen er bekommen hatte. Sie verschafften ihm ein dänisches Visum, das jedoch nur eine Woche Gültigkeit besaß. Kurts Onkel in England arbeitete fieberhaft, hatte aber bis zum Ende dieser Woche noch kein Visum. Die Frauen, die noch nie zuvor mit solchen Dingen zu tun gehabt hatten, machten einen Kontaktmann ausfindig und verschafften ihm ein zweites Visum, diesmal für sechs Wochen. Allerdings wurde Kurt vorgewarnt, daß dieses Visum nun endgültig nicht mehr verlängert werden könne. Alles immer endgültig. Kurt wanderte durch die Straßen, fragte im britischen Konsulat nach einer telephonischen Nachricht und ging zur Bibliothek des Universitätsinstituts für Theoretische Physik (dessen Direktor Niels Bohr war). Die sechs Wochen vergingen. Die Hoffnung schwand dahin. Das Telephon läutete. Es war das britische Konsulat, das Kurt davon in Kenntnis setzte, daß sein Visum gekommen war. Er konnte es gar nicht glauben; er bat die Frau am anderen Ende der Leitung, die Nachricht noch einmal zu wiederholen. Er verabschiedete

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sich von den Dänen, die ihn beherbergt, unterstützt, verköstigt und sich für ihn mit der Bürokratie herumgeschlagen hatten. Vor seiner Ankunft hatte er sie nicht gekannt. Er sollte sie auch nie mehr wiedersehen. Aber sie hatten sein Leben gerettet. Am 29. Oktober 1938 kam er in Harwich, England, an. Kurt, der heute auf den Namen Ren hört, schwor dem König von England, seinen Erben und seinen Nachfolgern die Treue und wurde 1947 britischer Untertan. 1956 wurde er zum Mitglied des Instituts für Physik gewählt.

Franz: Auszüge aus dem Bericht von Frank Parker Der bekannte Pianist Jan Smeterlin hatte Franz' (137) Mutter, selbst Professorin am Wiener Musikkonservatorium, eine Stelle als Erzieherin und Klavierlehrerin in England verschafft. Franz' Bruder Georg war aus Österreich geflohen und studierte Technik am Technion in Haifa, wo er bis zu seinem Eintritt in die britische Armee blieb. Aber weder Franz noch sein Vater hatten bislang einen Weg gefunden, um Wien zu verlassen. Die beste Freundin seiner Mutter, Grete Frank, eine bekannte Pianistin und Freundin der Königinmutter Elisabeth von Belgien, hatte versucht, ihren Einfluß geltend zu machen. Franz' Eltern bekamen einen Brief mit prächtigem Briefkopf vom Büro der Königin, der Inhalt aber war gleich Null. Die Frau des tschechischen Verteidigungsministers erkundigte sich freundlich, aber naiv, und der Erfolg war ebenfalls gleich Null. Eines Tages sollte Franz ein hübsches Mädchen in einem Café treffen. Als er eintrat, erzählte ihm das Mädchen, daß ein SS-Mann, der hinter dem Café spazierengegangen war, versuchte hatte, mit ihr anzubandeln. Da sie Jüdin war, kam das Franz so komisch vor, daß er laut auflachte. Einem jüdischen Burschen bekam es nie gut, einen SS-Hauptmann zu provozieren. Als Franz das Café verließ, forderte der Hauptmann ihn auf, sich auszuweisen. Die Gefahr erkennend, schaltete Franz rasch und zeigte seinen Waffenschein her, einen Ausweis, den er erhalten hatte, als er bei der österreichischen Armee eingerückt war. Der SS-Hauptmann fragte Franz, ob er noch immer in der österreichischen Armee diene. Franz log und sagte, daß er an diesem Nachmittag Dienst hätte. Der Hauptmann stellte unheilvoll fest, daß er diese Aussage später überprüfen würde. Für den Augenblick könnte Franz gehen. Franz ging direkt nach Hause, packte ein paar Dinge zusammen und wollte die Nacht im Hause seiner arischen Tante verbringen. Zufällig traf er auf dem Weg dorthin einen Onkel, der ihn zu einem Büro in einer finsteren Seitengasse führte, das von einem orthodoxen Juden betrieben wurde. Letzterer beschäftigte sich damit, Leute unter dem Schutz eines Gestapo-Angehörigen, der daraus finanziellen Profit schlug, in die Tschechoslowakei zu schmuggeln. Dieser Herr untersuchte Franz' Paß und

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fragte ihn, ob die Gestapo nach ihm suchte. „Nein", antwortete Franz, „aber vielleicht die SS." „Reine Ursache", sagte der Mann. „Die Gestapo kümmert sich nicht um die SS." Es gab zwei Möglichkeiten, die Grenze zu überqueren. Die eine brauchte mehrere Stunden und war obendrein schwierig und unsicher; dies würde einige hundert Mark kosten. Die andere Möglichkeit würde das Doppelte kosten, war aber sicherer und schneller. Franz entschied sich für zweitere, mußte aber nach Hause, um das notwendige Geld zu holen. Der Herr sah auf seine Uhr. Es war Freitag und nach drei Uhr. „Heute werde ich kein Geld mehr anrühren", sagte er, „bringen Sie es morgen abend." Nach einer angsterfüllten Nacht erschien Franz zur vereinbarten Stunde. Eine Limousine brachte ihn und sieben andere zum Gestapo-Hauptquartier einer kleinen Grenzstadt. Dort stiegen sie in ein Gestapo-Auto um, mit dem sie zur Grenze geführt wurden. Der Offizier erklärte, daß die Grenze von einer Straße und einer Eisenbahnlinie gebildet würde, die im rechten Winkel aufeinanderstießen und beide schwer bewacht waren. Zwischen den beiden lag ein Sumpf, der durch nicht mehr benützte Eisenbahngleise geteilt wurde. Diesen Gleisen mußten sie folgen und würden so zu einem Punkt kommen, wo diese mit der derzeitigen Eisenbahnlinie zusammenstießen. Dort angekommen konnte man örtliche Fahrkarten nach Prag kaufen. Zu der Gruppe gehörten der halbwüchsige Herbert, eine Frau in mittleren Jahren und eine Familie, die aus dem Vater, der Mutter, die zwei Wochen zuvor eine Unterleibsoperation gehabt hatte, und deren drei kleinen Töchtern bestand, deren älteste erst zwölf Jahre alt war. Franz und Herbert halfen der Mutter, die nicht in der Lage war, allein zu gehen. Die anderen folgten drei bis fünf Meter dahinter. Sie erreichten die tschechische Stadt nach einer Stunde, fielen aber inmitten der örtlichen Bevölkerung, welche die Nationaltracht trug, sehr auf. Nahe der Eisenbahnstation stießen sie auf zwei Polizisten und beschlossen rasch, sich zu teilen und einander im Ortsgasthof wieder zu treffen, einem weniger verdächtigen Ort. Zu ihrer Enttäuschung war das Lokal von der tschechischen Armee requiriert. Die Gruppe verließ das Lokal rasch wieder. Der Vater bestand darauf, für seine Frau und die Kinder, die immer schwächer wurden, etwas zu essen suchen zu wollen. Sie fragten den erstbesten Mann, der ihnen entgegenkam, wo man etwas zu essen bekäme. Der Mann blickte sie lange und hart an und fragte dann: „Woher kommen Sie?" Franz überlegte gerade, was er antworten sollte, als der Vater schon frei heraus sagte, daß sie geradewegs aus Österreich kämen. Der Mann senkte die Stimme. „Folgen Sie mir", sagte er, „ich bin der städtische Rabbiner." Er schickte jemanden aus, um Fahrkarten zu besorgen und versorgte die Gruppe bis unmittelbar vor der Abfahrt mit Essen. Am Bahnhof fehlten nur mehr zehn Minuten bis zur Abfahrt, als zwei Polizisten auf Franz zutraten und

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ihn fragten, wohin er fahre. Franz zeigte seine Fahrkarte. „Ich weiß, daß Sie eine Karte haben", sagte einer der Polizisten ungeduldig. „Ich möchte Ihren Paß sehen." „Natürlich", sagte Franz, wohl wissend, daß seinem Paß der Ausreise- und der Einreisestempel sowie das Visum fehlten. Es ging darum, schnell zu handeln, oder es war das Ende. Franz reichte dem Polizisten seinen Paß und mit einer großen Geste gab er ihm auch ein Stück Papier, auf das der Bürgermeister von Slana, einer unbedeutenden Kleinstadt in der Tschechoslowakei, einige Worte geschrieben hatte. Die Familie eines Freundes von Franz besaß eine Textilfabrik in Slana, und die Nachricht des Bürgermeisters besagte, daß er nichts dagegen habe, sollte Franz dort zu leben wünschen. Das Papier trug die Unterschrift des Bürgermeisters und ein hochoffizielles Siegel. Das Papier war genausoviel wert wie die Bestätigung des Bürgermeisters von Massapequa, New York, für einen Chinesen, daß dieser kommen könne, um in den Vereinigten Staaten zu leben. Die beiden Polizisten besprachen sich noch, als der Zug, der in dieser Station nur drei Minuten Aufenthalt hatte, einfuhr. „Das ist mein Zug", beharrte Franz. „Bitte geben Sie mir meinen Paß." „Gut", antwortete der Polizist, „wenn er eine Erlaubnis hat, dann kann er gehen." Franz riß den Paß an sich und sprang in den Zug. Es sollte noch fünfzehn Jahre dauern, bis die Familie wieder vereint war. Franz, nun Frank, absolvierte die Harvard Law School und wurde Anwalt. Beide, Ken und Frank, sind meine Cousins.

Der Weg hinein: Noch mehr Hindernisse Jenen, die endlich ihre Ausreisepapiere beisammen hatten, hätte man die Frage stellen können: „Und nun, da ihr einen Fuß draußen habt, wie wollt ihr jetzt das nächste Hindernis überwinden?" Das erste Problem war es, die zum Verlassen des Dritten Reiches notwendigen Papiere zusammenzubekommen. Dann ging es darum, ein Land zu finden, das einen aufnehmen würde. Die Schwierigkeiten, in einem fremden Land Aufnahme zu finden, waren zumindest gleich groß, wenn nicht größer als jene, aus dem Dritten Reich herauszukommen. In der Theorie hatten die Juden das gesetzlich verbriefte Recht, aus ihrem jeweiligen Herkunftsland auszuwandern, selbst wenn die Nazis das nahezu unmöglich machten. Die Juden hatten aber keinerlei gesetzlich verbrieftes Recht, in ein anderes Land einzuwandern. Ein Flüchtling (20) erinnert sich an diese fieberhaft-geschäftigen Tage: „Es gab furchtbare Schwierigkeiten: Wir bemühten uns um eine Aufenthaltsgenehmigung in den verschiedensten Ländern, mußten dabei die Menschen, die wir liebten, zurücklassen, eilten hierhin und dorthin, um dies oder jenes zu erledigen. Wir ließen unseren ganzen Besitz zurück und schlössen unser Geschäft, nur um die Ausreisebewilligung zu bekommen." Meir (134), dessen Fahrrad vom Sohn des Hausmeisters enteignet worden war, suchte weiter nach einem Weg, das Land zu verlassen: „Die Bemühungen um ein Visum gingen weiter. Immer wieder gab es Gerüchte, da jeder versuchte, einen Weg zu finden, um ein Visum zu bekommen, irgendein Visum, das es einem ermöglichen würde, in ein Land, gleichgültig welches, zu gehen, das bereit war, Juden aufzunehmen. Man brauchte auch ein Visum, um ein Land nur zu durchqueren. Visa wurden wertvoller als Gold. Vor allen ausländischen Konsulaten bildeten die Juden lange, unendlich lange Schlangen unter den boshaften Blicken der Polizei, die hier war, um ,Recht und Ordnung' aufrechtzuerhalten. Bisweilen fiel ein Trupp von SA-Leuten über die Wartenden her und zerstreute sie in alle Himmelsrichtungen, indem sie auf sie einschlugen, sie prügelten und aufs Geratewohl Verhaftungen vornahmen oder Leute einfach entführten. Manchmal warteten die Juden in der Schlange ganze Nächte lang. Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß diese Anstellerei meist erfolglos war." Maßlose Enttäuschung machte sich breit: „Ein Transitvisum, das einem nicht erteilt wurde, Fahrkarten, die nicht verwendet werden konnten, Kriegshandlungen, die eine Emigration verhinderten." (35) Es gab eine Unzahl von Einschränkungen, die einer Asyl-Gewährung fast unüberwindliche Hindernisse in den Weg legten. Wer brauchte so viele Juden?

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Immer wieder tauchten an Geschäften und Parkbänken Schilder wie dieses auf. Foto: DÖW

2 SA- und SS-Leute plakatieren jüdische Geschäfte mit Naziparolen w ä h r e n d der antijüdischen Kampagne im April 1933. Foto: DÖW

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Z u r Belustigung der spottenden Bürger wurden Juden gezwungen, Straßen zu schrubben. Foto: DÖW

4 Dr. Michael Siegel, ein bekannter Anwalt, wurde von der SS verhaftet, während er einen jüdischen Klienten verteidigte. Er mußte barfuß durch die Straßen gehen, die Hosenbeine abgeschnitten, den Kopf kahl geschoren, die Zähne ausgeschlagen und mit einem Schild um den Hals, auf dem stand, daß er Jude war. Foto: Hulton Deutsch Collection Ltd. und Bea Green

5 Juden stellen sich vor dem Polizeikommissariat um die notwendigen Ausreisepapiere an. Das Amt wurde willkürlich geöffnet und geschlossen, wodurch sich die Wartezeit manchmal über Tage oder Wochen hinzog. Ähnlich lange Schlangen standen vor allen Konsulaten. Die SA schlug die Wartenden oft zusammen oder verhaftete sie. Foto: DOW

6 Brief von Frau Goldschmied an den Telegraf, in dem sie um eine Entschädigung für die Entlassung ihres Mannes ansucht und unterstreicht, daß sie und ihr Rind ja schuldlos seien. Um ihren Anspruch zu untermauern, fügt sie in dem Postscriptum hinzu, daß sie Arierin ist. Mit Bleistift steht am Kopf dieses Briefes: „abgelehnt". Von derselben Hand stammt die sarkastische Bemerkung an der Seite: „auch das noch!" Foto: Elli Adler Ad λ „UiM —·~ ·-·"· . ¿rUi- & -é • W^h "Wjí

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13 Mit Hilfe solcher Legitimationsschreiben hoffte man, nach der Ankunft im Ausland leichter eine Beschäftigung zu finden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß sie für potentielle Arbeitgeber wertlos waren. Foto: Gertrude und Charles Deutsch 14 Bekanntgabe eines Ankaufs durch die „Öffentliche Ankaufsstelle". Man beachte, daß für sechs Silbergabeln und -messer nur 20 Pfennig bezahlt wurden. Foto: Ch. und G. Deutsch 15 Dieses Dokument soll den Anschein erwecken, die betreffende Dame hätte sich freiwillig zusätzlich Sara genannt. Foto: Ch. und G. Deutsch 16 Die Familie Heiman hatte in ihrem Geschäft Fotos ihrer Söhne in Uniform aus dem Ersten Weltkrieg hängen, um ihre Loyalität gegenüber Deutschland unter Beweis zu stellen. Man beachte, daß Julius (mittleres Foto) in der Schlacht bei Ypern gefallen ist. Die Hoffnung, daß der Dienst fürs Vaterland vor der Verfolgung durch die Nazis schützen würde, zerschlug sich bald. Foto: Karl Heiman

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U.Heimann

Julius Heimonn g e f a l l e n 8.5.1915, bei

Sperrt

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Fronl- Ι9ΐνΐ

17 Schülerinnen des Wiener Luithlen-Gymnasiums auf einem Ausflug vor 1938. Man beachte die glücklichen Gesichter.

18 Schülerinnen des Luithlen-Gymnasiums mit ihrer Lehrerin (ganz links) nach dem Anschluß. Man beachte den veränderten Gesichtsausdruck. Ganz rechts: Hilde Höfert, Französischprofessorin, eine der wenigen, die Mitgefühl mit den jüdischen Studentinnen hatte. Obwohl selbst keine Jüdin, emigrierte sie in die Schweiz und kehrte erst nach dem Krieg nach Österreich zurück.

19 Drei junge Frauen bei einer Aufführung des „Jüdischen Kulturbundes" Berlin. Jüdische Schauspieler traten unter Aufsicht der Gestapo für ein ausschließlich jüdisches Publikum auf. Damit sollte das „Ausland" in dem Glauben gelassen werden, das Leben für die Juden ginge ganz normal weiter. Viele der Schauspieler konnten nicht flüchten und kamen im Dritten Reich um. Diese Szene aus dem Ballett „Die Entführung" wurde von Hannah Kroner Segal choreographiert. Foto: Hannah Kroner Segal

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Wer wollte schon Flüchtlinge in einer derartigen Depressionszeit? Niemand, so hatte es den Anschein. Heute hat die Welt ein Bewußtsein und eine Verantwortung für flüchtende Menschenmassen entwickelt, während der Nazi-Zeit aber bot niemand den europäischen Juden Zuflucht an. Die Betroffenen waren nicht wählerisch, wenn es um die Wahl eines Landes ging. Rein Ort war zu entlegen. In einigen fernen Ländern, so etwa Tibet, bedurfte es keiner Einwanderungsformalitäten. Wann immer Hitler in ein neues Land einmarschierte, das zuvor noch Asyl zugesagt hatte, begann die Suche von neuem. Die Teilnehmer an unserer Studie bemühten sich um Visa für die folgenden Länder: Argentinien, Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, England, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, Kanada, Kuba, Liechtenstein, Neuseeland, Palästina, Paraguay, Peru, Philippinen, Portugal, Santo Domingo, Schottland, Schweden, Schweiz, Spanien, Südafrika, Tschechoslowakei, Trinidad, Türkei und die Vereinigten Staaten; manche wandten sich auch an die internationale Stadt Shanghai. Jedes Land definierte sorgfältig, welche Eigenschaften von einem Bewerber erwartet wurden. Tag für Tag wurden verzweifelte Gespräche in den verschiedenen Konsulaten geführt. Potentielle Einwanderer erlebten wohl oft ähnliche Situationen oder bekamen Ähnliches zu hören: Ein Angestellter zu einem verängstigt dreinblickenden Bewerber mit eingefallenem Gesicht: „Sie sind Wissenschaftler? Welches Fach? Wir nehmen nur hervorragende Wissenschaftler und Künstler von internationalem Ruf auf. Genießen Sie einen gewissen Bekanntheitsgrad? Haben Sie herausragende wissenschaftliche Leistungen vorzuweisen? Nein? Leider, in diesem Fall kann von Seiten Englands keine Einladung an Sie ausgesprochen werden." „Sie sind Landarbeiter? Nein? Aber gerade das brauchen wir in Neuseeland! Für Angehörige Ihres Berufsstandes haben wir nicht viel Verwendung. Wir können Ihrem Visum-Antrag nicht stattgeben." „Kann irgend jemand für Sie in Ihrem Namen in Australien 100 Pfund hinterlegen? Das geht nicht? Wie glauben Sie dann, daß Sie zu einem Visum kommen?" Oder man stelle sich den folgenden qualvollen Wortwechsel vor: „Haben Sie irgend jemanden in den Vereinigten Staaten, der für Sie ein Affidavit unterzeichnen kann, daß Sie dem Staat nicht zur Last fallen werden und der Betreffende für Sie aufkommen wird, falls Sie keinen Posten linden sollten? Gut, dann können Sie in die Vereinigten Staaten einreisen. Aber natürlich erst, bis Sie ein Visum bekommen." „Wie bekommt man ein Visum?" „Sie bekommen natürlich eine Quotennummer." „Eine Quotennummer?"

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Der Angestellte, verärgert und gereizt: „Sie wissen nicht was eine Quotennummer ist? Also wirklich, mein Herr, Sie sind völlig ahnungslos! Die Vereinigten Staaten gestatten einer bestimmten Anzahl von Leuten aus jedem Land die Einwanderung. Bei Ihrer Bewerbung bekommen Sie eine Nummer. Und wenn diese Nummer an der Reihe ist und Sie dann immer noch über jemanden verfügen, der für Sie bürgt, dann erhalten Sie ein Visum. Leider sind die Quoten in Österreich und Deutschland derzeit weit überzeichnet. Ihre Nummer kommt frühestens in zwei Jahren dran!" „Dann geben Sie mir eine Quotennummer für ein Land wie etwa Schweden oder England. Von dort wandern die Leute ja nicht in Scharen in die Vereinigten Staaten aus. Da müssen doch Quotennummern übrigbleiben?" „Das ist richtig. Aber ein solches Vorgehen läge nicht im Sinne unserer Politik. Sie müssen schon zwei Jahre warten." „Zwei Jahre! Aber wir werden alle sterben!" „Der Nächste bitte." Erfundene Gespräche? Ja und nein. Es gab Variationen dieses Themas, die in jedem Konsulat im Dritten Reich gespielt wurden. Aber am häufigsten fanden sie wohl in amerikanischen Konsulaten statt. Die USA waren das meistbegehrte Land der Welt. Die Reihen vor dem amerikanischen Konsulat nahmen kein Ende und bewegten sich nur im Schneckentempo vorwärts. Ein junger Mann vergaß seinem Bruder zu sagen, wie wichtig es war, eine Quotennummer zu bekommen. Als sein Bruder sich nur zwei Tage später anstellte, kostete ihn dies mehr als ein Jahr Wartezeit. Die Richtlinien in den amerikanischen Konsulaten waren streng. Jedes aus den USA gesandte Affidavit wurde sorgfältig überprüft, um sicherzustellen, daß dem Einwanderer ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Ängste und Hoffnungen begleiteten jeden Gang zum Konsulat. Werde ich heute bis ins Konsulat vordringen? Wird die von meinen nicht allzu vermögenden Verwandten garantierte Summe ausreichen? Wird meine Quotennummer bald an der Reihe sein? Nur selten war das der Fall. Die Stimmung in den amerikanischen Konsulaten war keineswegs aufbauend für all die mittellosen und dichtgedrängt sich anstellenden Menschenmassen. Man wußte, daß die Atmosphäre eisig, ja geradezu gleichgültig war. Die Angestellten erwiesen sich nicht nur als wenig hilfreich, sondern vermittelten sogar den Eindruck, als wollten sie den Prozeß verzögern, indem sie unnötige und kleinliche Vorsichtsmaßnahmen trafen. Meine eigenen Eltern pilgerten wiederholt zum amerikanischen Konsulat. Die Antwort war immer dieselbe: „Ihr Akt ist noch nicht behandelt. Sie müssen warten, bis Sie an der Reihe sind." Meine Eltern waren sicher, daß hier irgendein Mißverständnis vorlag. Leute, die sich lange nach ihnen eingeschrieben hatten, kamen früher dran. Die Angestellten hinter

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den Schreibtischen waren ausnehmend wenig hilfreich. Das Warten auf die Quotennummer nahm kein Ende. Würden die Dinge in Zukunft nicht schneller gehen, so hatten wir kaum die Chance zu überleben. In der Nacht hörte ich, wie meine Mutter im Schlafzimmer auf und ab ging, hin und her, hin und her, und dabei seufzte. (Bis heute ist es mir unerträglich, jemanden seufzen zu hören. ) Wir mußten das Land sofort verlassen. Aber wie sollten wir das anstellen? Meine Mutter hatte um einen Posten als Haushaltshilfe in England angesucht und ihn auch zugesprochen bekommen. Damit hatte sie Anrecht auf ein englisches Visum. Aufgrund dieses Visums war es auch ihrer Familie erlaubt, nach England einzureisen. Aber da gab es ein „Wenn" - ein sehr großes „Wenn". Das englische Visum war nur ein Transitvisum. Um in England an Land gehen zu dürfen, würden wir zuerst nachweisen müssen, welches Land unser Endziel war. Und hier lag die Schwierigkeit. Wir konnten nur dann nach England gehen, wenn wir nachweisen konnten, daß wir über eine Quotennummer des amerikanischen Konsulats verfügten. Die Wartezeit auf diese konnten wir aber nur überleben, wenn wir diese Zeit an einem sicheren Ort verbrachten. Es war lebenswichtig für uns, nach England einreisen zu dürfen. Wir brauchten beide Visa, um zu überleben. Eine glückliche Fügung erlöste uns endlich aus diesem allem Anschein nach unlösbaren Dilemma. Mein Vater traf zufällig eine Patientin, die am amerikanischen Konsulat arbeitete. Sie machte sich auf die Suche nach unserem Akt. Er lag in einem nicht verwendeten Schrank. Sie legte die Unterlagen aus diesem Schrank in den richtigen Aktenschrank, und kurz danach erhielten wir unsere Quotennummer. Von so simplen Dingen hing das Leben vieler ab. Potentielle Einwanderer ließen sich durch keine der Schwierigkeiten entmutigen, die im amerikanischen Konsulat auf sie warteten. Jeder hoffte und suchte nach einem amerikanischen Bürgen. Die Glücklichen fanden einen solchen. Ein Verwandter in den Vereinigten Staaten war wohl der sicherste Weg auf der Suche nach einem Bürgen. So manch einer verfolgte seinen Stammbaum weit zurück, um einen solchen „Onkel in Amerika" zu finden. Andere hatten Verwandte, die erst vor kurzem in die Staaten gekommen waren und nach einem Bürgen für die Zurückgebliebenen suchten. Die dringende Notwendigkeit eines Visums ließ zukünftige Auswanderer zu den unwahrscheinlichsten Mitteln greifen. Unsere Kontakte zu Amerika waren durch eine Reihe von Zufällen zustande gekommen: Einige Jahre vor dem Anschluß hatten meine Eltern auf einer Reise nach Norwegen zwei amerikanische Lehrer kennengelernt. Nach dem Anschluß schrieben ihnen meine Eltern und baten sie, für uns zu bürgen. Die Lehrer selbst waren nicht in der Lage, das nötige Geld aufzubringen, nahmen aber, wie das Glück es wollte, Kontakt zu einer Synagoge auf, wo eben ein neuer Vorsteher ernannt werden sollte. Dieser hielt Ausschau nach einem

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geeigneten Projekt, das man fördern könnte, und entschied, daß unsere Rettung eine solche Aufgabe war. Die Angehörigen der Gemeinde brachten das Geld auf, um eine ihnen unbekannte Familie zu retten. Verwandte nahmen oft vieles auf sich, um zu helfen. Charles (28) erzählt: „Die Verwandten meiner Frau in Amerika waren wahre Schutzengel. Sie trugen ihre mageren Einkünfte zusammen und hinterlegten das Geld, das sie zusammenzukratzen vermochten, bei einer Bank als Garantie dafür, daß wir dem Staat nicht zur Last fallen würden. Sobald die Regierung überprüft hatte, daß die entsprechenden finanziellen Mittel bereitstanden, hoben sie das Geld wieder ab und hinterlegten dieselbe Summe noch einmal in einer anderen Bank als Grundlage für weitere Affidavits. So wurden insgesamt 14 Verwandte gerettet." Verbindungen auf höchster Ebene waren von mindestens ebenso großem, wenn nicht größerem Vorteil als Verwandte im Ausland. Man hatte den Eindruck, als könnte „die richtige Person" jeden auch noch so dichten bürokratischen Knoten mit einem Fingerschnapper lösen. Ein ehemaliger Konsul in Norwegen (79) war mit dem griechischen Konsul befreundet. Der ehemalige Diplomat war in der glücklichen Lage, für seine Tochter in kürzester Zeit ein griechisches Visum zu bekommen. Es erstaunt auch nicht, daß Beziehungen zu einem gekrönten Haupt ein zusätzliches Plus waren. Die dänische Frau (13) eines österreichischen Wissenschaftlers wollte die Aufnahme ihrer Familie in Dänemark erwirken. Das war nicht so einfach, aber da ihr Vater dänischer Beamter gewesen war, gelang es ihm, die Unterstützung des dänischen Königs für die Ausstellung eines Visums für den Ehemann seiner Tochter zu erhalten. Dies war erforderlich, obwohl der Wissenschaftler in Schweden mit Niels Bohr zusammengearbeitet hatte und von der schwedischen Regierung für seine Arbeiten auf dem Gebiet der pflanzlichen Genetik sogar ausgezeichnet worden war. Verbindungen waren lebensnotwendig, mußten aber nicht unbedingt bis in allerhöchste Kreise reichen. Einfache Leute, wie etwa der Portier in einem Konsulat, erwiesen sich bisweilen als ebenso wirkungsvoll. Die 15jährige Susan (55) und ihre Familie hatten bereits die Überfahrt auf einem Schiff gebucht, sie brauchten aber noch einen Stempel der chinesischen Botschaft für ihren Paß. Sie fanden dort schnell Zugang, weil Susans Mutter mit dem Portier im chinesischen Konsulat tschechisch sprechen konnte. Von ihm hing es ab, wer eintreten durfte und wer nicht. Es mutet schon etwas eigenartig an, daß die Beherrschung des Tschechischen sich als Schlüssel erweisen sollte, um die Türen des chinesischen Konsulats zu öffnen. Einen gewissen Namen oder Ruf zu haben, wurde damals doppelt geschätzt. Ruhm war keineswegs vergänglich und für manche sogar lebensrettend. An dieser Studie beteiligte ehemalige Flüchtlinge mit bekanntem

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Familiennamen wissen noch heute genau, was für ein Vorteil das für sie war: Ein Mann, dessen Großvater ein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler gewesen war, erhielt relativ leicht eine Einreisegenehmigung für England. Die Tochter eines berühmten Kardiologen (8), dessen Patienten aus der ganzen Welt nach Wien gekommen waren, erinnert sich, daß für ihren Vater von drei ehemaligen Patienten in den verschiedensten Teilen der Vereinigten Staaten Affidavits abgegeben wurden. Ein berühmter Jude galt vielleicht in den Staaten etwas, in seinem Geburtsland jedenfalls zählte er weniger als nichts. Manchmal führte ein gewisser Ruf, gepaart mit dem Wissen um die richtigen Leute, zum gewünschten Erfolg. So etwa schreibt die Frau (172) eines Wissenschaftlers: „Mein Vater wurde von Freud nach Schweden geschickt, wo er einen von Freuds Bekannten traf, nämlich Professor Gunner Holmgren, den Leiter des Rarolinsky Instituts, von dem der Nobelpreis für Medizin verliehen wird. Dieser Mann kam uns 1937 besuchen. Da mein Vater mit Patienten beschäftigt war, führte mein Mann den Professor durch sein Laboratorium. Die beiden wurden enge Freunde. Sobald ich 1958 meinen Paß abgeholt hatte, rief ich Professor Holmgren in Stockholm an. Es fügte sich, daß der Bruder des Professors damals gerade Außenminister war. Innerhalb von acht Stunden verfügten wir über ein schwedisches Visum. Ich bin noch heute verblüfft über so viele glückliche Zufälle." Aber es gab auch Fremde, ganz gewöhnliche Leute, die einfach aus humanitären Überlegungen halfen, ohne in irgendeiner Weise eine Bezahlung zu fordern. Solche Leute, die Verbindungen zu Regierungsbeamten hatten, kamen Richard (145), einem jungen Mann, der sich in einer schrecklichen Lage befand, zu Hilfe. Noch in Dachau wurde ihm mitgeteilt, daß er Österreich binnen einer Woche nach seiner Entlassung zu verlassen hätte, andernfalls er erneut verhaftet würde. „Mein Onkel schickte meine Papiere an einen Freund in England, der sie an irgend jemanden in Australien weiterleitete, den wir nicht kannten. Dieser Fremde besorgte eine Einreisegenehmigung, die für eine Einwanderung in Australien notwendig war." Oft war es unmöglich vorherzusehen, welche Regierung Antragstellern gegenüber ein gewisses Wohlwollen zeigen würde und wer im geheimen beschlossen hatte, eine Einreise unter allen Umständen zu verweigern. Bei einem falschen Land um eine Einreisegenehmigung anzusuchen, konnte die Abreise so lange verzögern, bis es zu spät war. Die Schweiz war ein solches Beispiel. Sie rühmte sich selbst als Land, dessen Mission es sei, Flüchtlingen zu helfen (Wickers und Wacker, 1990). Die offizielle Darstellung sah folgendermaßen aus: „Die Schweiz ist ein Zufluchtsort für jene, die aus ihren Ländern vertrieben wurden. Auf diese Weise sprechen wir der Welt nicht nur unseren Dank für Jahrhunderte des Friedens

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aus, sondern erkennen gleichzeitig auch den großen Beitrag an, den heimatlose Flüchtlinge dazu geleistet haben." (S. 2) Insgeheim war die Einstellung aber eine ganz andere. Das „J" für Jude wurde in den deutschen Pässen auf Ansuchen des Schweizer Konsuls eingeführt. So konnten jüdische Flüchtlinge schneller herausgefunden werden. Das „J" diente als Schutz davor, daß ein unaufmerksamer Beamter versehentlich ein Transitvisum in ein Dauervisum umwandelte. Aber schlimmer noch: Dr. Heinrich Rothmund, Chef der Schweizer Fremdenpolizei, gab einen Erlaß heraus, welche Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen werden sollten: „Wir nehmen jene auf, die von ihren Wehrmachtseinheiten desertieren. Wir nehmen auch Kriegsgefangene, deren Zustand eine Weiterreise unmöglich macht. Wir nehmen auch politische Gefangene auf, da jeder politische Flüchtling vom Tod bedroht ist. Weisen wir nur Juden ab? Diese Schlußfolgerung scheint sich uns aufzudrängen." (S. 4-5) Dr. Rothmund war aus hartem Holz geschnitzt. Er warnte vor dem Mitleid mit jüdischen Kindern. „Es gibt bereits einige wenige (jüdische) Kinder in unserem Land. Daher ist es notwendig, in jedem einzelnen Fall klar festzustellen, daß es hier kein dauerhaftes Asyl (für jüdische Kinder) geben kann. Dies muß ihren Eltern deutlich gemacht werden. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, (jüdische Kinder) unter allen Umständen zurückzuschicken. Wir müssen entschlossen sein, an unsere eigene heranwachsende Generation zu denken. Unsere Kompromisse (beim Einlaß jüdischer Kinder) könnten ihnen (den Schweizer Jugendlichen) zum Nachteil gereichen." (S. 2) Auf der anderen Seite kam es vor, daß die Einwanderungspolitik eines Landes sich plötzlich aufgrund unerwarteter Umstände günstiger gestaltete. Im Falle Kubas waren diese günstigen Umstände Rabbi Shuster (161) zu verdanken. Er kam mit einem Transitvisum nach Kuba. Rabbi Shuster wußte, daß in Kuba nur Leute mit einer Quotennummer für die Vereinigten Staaten aufgenommen wurden. Aber was sollte mit den Juden geschehen, die immer noch in Europa waren und über kein amerikanisches Affidavit verfügten? Gab es denn keine Möglichkeit, wenigstens einige von ihnen nach Kuba zu bringen? Die meisten Flüchtlinge zogen es vor, in dem fremden Land nicht auf sich aufmerksam zu machen und hielten sich von den Beamten fern. Nicht so Rabbi Shuster. Er sah die Bestechlichkeit und Korruption in diesem Land, und es kam ihm eine außergewöhnliche Idee. Er bat einen befreundeten Geschäftsmann, ein Treffen mit Oberst Batista, dem Präsidenten Kubas, zu arrangieren. Der Rabbi trat in das Büro ein und forderte, daß Juden aus Deutschland nach Kuba gebracht werden sollten. Der Präsident verwies den Rabbi an seinen Schwager, Señor Gonzalez, den für Einwanderungsfragen zuständigen Minister. Der Rabbi fand ihn beim Kartenspiel. Unerschrocken wiederholte er seine Forderung. Ohne das Spiel zu unterbrechen, antwortete Señor Gonzalez: „Für 1.000

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Dollar pro Kopf können Sie alle herüberbringen." Rabbi Shuster arbeitete nun fieberhaft Tag und Nacht, um ein Komitee auf die Beine zu stellen, das große Geldsummen aufbrachte. Die Flüchtlinge kamen zu Tausenden in großen, kleinen und allen nur denkbaren Schiffen. Manche Länder öffneten ihre Tore für Leute, die einen bestimmten Beruf ausübten. Am wenigsten gefragt waren Freiberufler und Geschäftsleute. Geschickte Arbeiter hatten da schon größere Chancen. Dies hatte zur Folge, daß immer mehr Kurse für Schneider, Glasschleifer, Zuckerbäcker, Hutmacher und Blumenbinder abgehalten wurden. Abgesehen davon, daß sie sich um die Visa kümmerten, beschäftigten sich Gerdas (100) Familienangehörige damit, verschiedene Gewerbe zu lernen. Ihre Mutter besuchte einen Kosmetik-Kurs, ihr Vater einen Kurs für die Herstellung von Gesichtscremen, und ihre Schwester lernte die Hutmacherei. Ein anderer Flüchtling (54) entschied sich für die Schokoladeerzeugung. Charles (28), der sich um ein Visum für England für sich und seine Frau bemühte, wo sie als Dienerehepaar arbeiten wollten, schrieb sich in einen von der Gestapo bewilligten Kurs für die Ausbildung zum Butler ein. Er lernte Schuhe zu putzen, Tisch zu decken und Wein zu servieren. Der Kurs wurde in einem leerstehenden Café gegenüber dem Gestapo-Hauptquartier abgehalten. Wiederholt kam die Gestapo zur Inspektion, so daß Charles in ständiger Angst lebte. Der Kurs fand bald ein Ende. Otto (42), der nach dem Anschluß das ihm noch fehlende letzte Jahr des Medizinstudiums nicht mehr absolvieren konnte, sah sich nach einem praktischen Gewerbe um. Er schrieb sich in ein Institut für Schönheitspflege ein. Sein Zeugnis bestätigt, daß er „Gesichtskosmetik" und „Handpflege" mit der höchsten Note „sehr gut" absolviert und so die Berechtigung erworben hatte, den Titel eines Kosmetikspezialisten zu tragen. Überflüssig zu erwähnen, daß sich die meisten Kurse als nutzlos herausstellten. Mit zunehmendem Bedürfnis, Bargeld aufzutreiben, nützten einige Leute ihre Fähigkeiten und hielten selbst Kurse ab. Hildas (162) Vater, der eine Mazzes-Fabrik besaß, gab anderen weiter, wie man feine Bäckereien macht. Charles' (28) Schwiegervater, ein erfahrener Tapezierer, hielt Kurse für Matratzen- und Polstererzeugung ab. Am vordringlichsten aber war es, Englisch zu lernen. Abgesehen davon, daß sie ihren Kunden die Haare verbrannte, als sie sich zur Friseuse ausbilden ließ, kämpfte Stella (72) mit dem Englischen: „Wir nahmen Englischstunden, sprachen das ,the' als scharfen sss-Laut aus und bemühten uns vergebens, unsere Lippen zu einem korrekten englischen w zu formen." Anders als die meisten übrigen Kurse, machte Englisch sich unmittelbar bezahlt. Man konnte ausländische Zeitungen lesen. So etwa erschien in einer englischen Zeitung ein von der Tochter von Lord Justice verfaßter Artikel. Miß MacKinnon rief die Engländer darin auf, österreichischen Flüchtlingen zu helfen. Gertrude (29) schrieb an die Au-

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torin und legte eine Photographie ihres kleinen Sohnes bei. Miß MacKinnon antwortete und wurde zu Gertrudes Ratgeberin und Stütze. Die Frauen stellten sich reihenweise an, um bei Gertrude Englisch zu lernen. Englischkenntnisse waren auch hilfreich für die Korrespondenz mit Fremden in den Vereinigten Staaten. Fred (39) erinnert sich: „Ich schrieb in einem wohl recht gebrochenen Englisch an mindestens zwanzig oder mehr Leute, die denselben Nachnamen trugen wie ich. Ich fand ihre Adressen in dem Telephonbuch von Manhattan, das in der amerikanischen Botschaft auflag." Er hatte kein Glück. Dorrit (188) hingegen erinnert sich an die erfolgreichen Bemühungen ihrer Freundin: „Eine meiner Schulkameradinnen namens Waxman schrieb an Franz Waxman, den bekannten Filmmusiker. Er war nicht mit ihr verwandt. Erstaunlicherweise schickte er aber die benötigten Affidavits für die ganze Familie. Sie hatte seinen Namen lediglich aus dem Vorspann einiger Filme gekannt." Familien, die zunächst geschworen hatten, das Land nur gemeinsam zu verlassen, mußten einsehen, daß ihre Bindung aneinander ein Hindernis für das Überleben war. Ein sehr typischer Fall ist jene Familie (137), wo die Mutter nach England ging, ein Sohn sich nach Israel durchschlagen konnte und ein anderer illegal in die Tschechoslowakei floh. Der Vater der Familie sah zunächst keine Ausreisemöglichkeit, doch gelang es ihm später, seiner Frau nach England zu folgen. Freunde kamen sich treulos vor, wenn sie die Bemühungen um eine gemeinsame Ausreise aufgeben mußten. Kurt (159) und zwei seiner Freunde hatten geschworen, zusammenzubleiben. Irgendwann wurde Kurts Freunden aber klar, daß nur Kurt die Möglichkeit hatte, England zu erreichen. Sie überredeten ihn, das Land zu verlassen, Kurt aber kam sich vor wie ein Deserteur. Später mußten sich auch Fritz und Georg trennen. Es galt aber auch noch andere gewissenhafte und vielleicht lebensrettende Entscheidungen zu treffen. Dazu zählte die Frage, ob man sich taufen lassen sollte oder nicht. Stella (72) und ihr Mann erwogen diese Möglichkeit: „Man hatte uns erzählt, südamerikanische Staaten würden die Einreise genehmigen. Man mußte allerdings Papiere vorzeigen können, aus denen hervorging, daß man katholisch war. Katholisch? Ja, man konnte, diese Papiere kaufen. Es handelte sich natürlich um eine bloße Formalität. Das hieß selbstverständlich nicht, daß man wirklich konvertierte. Es war nur ein Mittel, um das Land verlassen und sich in Sicherheit bringen zu können. Eines späten Nachmittags fanden mein Mann und ich uns in einem ausgebauten, düsteren Dachboden ein. Um uns herum eine Handvoll schäbiger, niedergeschlagener Leute. Vorne, auf einem Podium, war ein Lesepult aufgestellt. Ein Priester erschien. Er trug ein weißes Rollar und einen schwarzen Rock. Ein großes, goldenes Kreuz glänzte auf seiner Brust. Aus seinem freundlichen Gesicht strahlte ein warmes Lächeln. Er ging zu jedem der zusammengekauerten Menschen und

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sprach mit ihnen mit leiser Stimme. Ich zeigte ihm ein Photo meiner kleinen Tochter. Sein Lächeln wurde noch breiter. ,Wie gerne würde ich diese kleine Seele gewinnen.' Etwas in mir ließ mich erstarren. Er ging zum Lesepult und erhob seine Arme. ,Nun wollen wir niederknien', sagte er, ,und lernen, das Kreuzzeichen zu machen.' In der Dunkelheit warf ich einen Blick auf meinen Mann. Auch er schaute mich an. Meine Knie waren wie erstarrt. Sie waren völlig steif. Wir stahlen uns hinaus." Wichtig war eine gewisse Weltgewandtheit. Naivität konnte einen teuer zu stehen kommen. Ein Mann weiß noch, daß seiner Familie diese Erfahrung fehlte. Die Familie (51) hatte bei der französischen Botschaft um ein Visum für Tunesien angesucht und kam, um dieses abzuholen. Als sie ihre Pässe vorzeigten, erklärte man ihnen, daß ihre Papiere verschwunden seien. Später erfuhren sie, daß sie bloß eine beträchtliche Geldsumme hätten anbieten müssen. Bei manchen Konsulaten war die Vorgangsweise viel einfacher: Joseph (144) erinnert sich, daß der Portier beim ecuadorianischen Konsulat jeden einzelnen genau wissen ließ, was man zu zahlen hatte und das entsprechende Bakschisch dem jeweiligen Beamten überbrachte, der dann das Visum ausstellte. Zu dem dauernden Hin- und Herlaufen um Dokumente und Visa kam die ständige Sorge um Geld. Der Verlust beruflicher Stellungen und die Ausgaben im Zusammenhang mit dem Erwerb der notwendigen Dokumente ließen viele Leute verarmen. (134) Jugendliche, die nach Palästina auswandern wollten, versuchten, Geld für jene aufzutreiben, die sich die Überfuhr nicht leisten konnten. Der ständige Geldmangel war quälend, vor allem dann, wenn sogar kleinste Summen oft von größter Bedeutung sein konnten. Trotz ihrer durchaus hilfreichen Verbindungen fehlte es Emma (142) an Geld, und ihr Bruder brauchte eine Sicherstellung von 100 Pfund, die in England hinterlegt werden mußten, bevor er in das Land einreisen durfte. Das Problem war, daß sie über keine 100 Pfund verfügten. Dann erinnerte sich Emmas Mann an einen Engländer, den er während der Zeit, als er in England gearbeitet hatte, kennengelernt hatte. Dieser streckte das Geld vor, und zwei Tage vor Kriegsausbruch kam Emmas Bruder nach England. Gelder im Ausland konnten lebensrettend sein. Unter den Nazis mußte dieses Kapital aber den Behörden übergeben werden. Unterlassungen wurden mit der Todesstrafe geahndet. Daher leisteten viele diesem Befehl Folge und benachrichtigten die entsprechenden Nazi-Behörden von der Existenz solcher Gelder. Viele hingegen beschlossen, dies nicht zu tun. Gerdas (100) Familie kam überein, die Existenz ihres Schweizer Bankkontos nie zu erwähnen, selbst wenn sie gefoltert werden sollten. Für Geschäftsleute, die viel im Ausland zu tun gehabt hatten (185), und für Leute mit Verwandten im Ausland war es relativ leicht, Kapital zu verstecken. Angesichts der unvorhersehbaren politischen Situation in Österreich hat-

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ten auch meine Eltern eine Summe Geldes in Geheimkonten sowohl in Norwegen als auch in der Schweiz angelegt. Sie meinten, daß man bei ihnen für den Fall der Aufgabe eines Rontos wohl kein weiteres vermuten würde. Solange wir in Österreich waren, hatten wir jedenfalls nicht sehr viel von diesem Kapital. Da die Post zensuriert wurde, war es nicht möglich, potentielle Bürgen davon zu unterrichten, daß wir über finanzielle Mittel verfügten, so daß wir ihnen nicht zur Last fallen würden. Wir machten aber diesbezügliche Andeutungen in Briefen. Zum Beispiel: „Wir werden euch nicht zur Last fallen. Unsere Tante Rosie in New York wird uns helfen." Die Empfänger verstanden die Botschaft allerdings nicht. Sie hatten nie in einer Diktatur gelebt. In ihrer Einfalt glaubten sie, wir hätten tatsächlich eine Tante Rosie. Es war allgemein bekannt, daß es der jüdischen Bevölkerung an Geld fehlte. Geier in Menschengestalt tauchten auf und kauften ihren Besitz um einen Pappenstiel. Die Fahrkartenagenturen profitierten von der einmaligen Gelegenheit; sie behaupteten, daß es nichts Billigeres mehr gäbe als Erste-Klasse-Kabinen auf Luxusdampfern und verkauften an Juden überdies nur Hin- und Retourkarten, obwohl sie natürlich nur die einfache Fahrt brauchten. In anderen Fällen behaupteten die Agenturen zunächst, daß „alles ausverkauft" sei, und entdeckten erst nach einigen Geschenken auf wunderbare Weise, daß „gerade eben" jemand von der Reise zurückgetreten war. (144) Krankheit war eines der unvorhergesehenen Hindernisse, die plötzlich alle Pläne über den Haufen werfen und die ganze Familie gefährden konnten. Ein Bub (187) hatte soeben sein Visum und die Fahrkarte erhalten, um Rumänien zu verlassen, als er plötzlich an einer beinahe tödlich verlaufenden Blinddarmentzündung erkrankte. Nachdem das Kind drei Wochen im Krankenhaus verbracht hatte, mußte die Familie wieder ganz von vorne anfangen. Die Deutschen übernahmen die Macht in Rumänien in demselben Monat, in dem die Familie das Land verließ. Sie hatten es gerade noch geschafft, aber es gab zahllose andere, denen es nicht gelungen war, vor der Ankunft der Nazis das Land zu verlassen. Wer an einer langwierigen Krankheit litt, dem blieben alle Türen versperrt; sie fanden gemeinsam mit selbstlosen Familienangehörigen, die bei ihnen geblieben waren, den Tod. Lotties (165) Mutter litt an multipler Sklerose. Alle Länder lehnten eine Aufnahme ab. Lottie wurde nach England geschickt, ihr Vater aber beschloß, bei seiner Frau zu bleiben. Er wurde zwei Tage nach dem Tod seiner Frau in ein Konzentrationslager deportiert. Alter war ebenso wie Krankheit eines der großen Hindernisse für eine Emigration. Wer bereits die Lebensmitte überschritten hatte, wurde von den meisten Ländern als nicht wünschenswert empfunden. Waren Verwandte zu alt, um noch einmal von vorne zu beginnen, brachte dies die Kinder in eine schreckliche Lage. Franz (15) schreibt: „Meine Großmutter

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väterlicherseits stellte ein Problem dar: Sie war alt und obendrein in der Tschechoslowakei geboren - eine nicht sehr vielversprechende Kombination, um ein Visum für die Vereinigten Staaten zu bekommen, und tatsächlich wurde sie auch abgelehnt. Was sollten meine Eltern tun? Selbst um ein Visum ansuchen und sie hier allein zurücklassen? Nicht ansuchen und früher oder später dem sicheren Tod ins Auge sehen? Solche Fragen wurden nun zu alltäglichen, praktischen Problemen, die einer raschen Lösung bedurften." Otto (42) bemühte sich verzweifelt, ein Land zu finden, das seine Eltern aufnehmen würde. Sie hatten kein Geld im Ausland, keine Bürgen, keinen brauchbaren Beruf. Sie kamen um. Einige ältere Leute hatten einfach das Gefühl, daß ein Neuanfang ohne Fremdsprachenkenntnisse, ohne Geld oder irgendwelche Aussichten einfach über ihre Kräfte ging. Es ist ein ernüchternder Gedanke, daß all jene, die Hitler entkommen sind, heute gleich alt oder älter sind als ihre Eltern zur damaligen Zeit. Würden sich die Ereignisse heute wiederholen, würden all diese Flüchtlinge als zu alt empfunden, um gerettet zu werden. Neben Geld, Beziehungen und einem entsprechenden Beruf gab es noch einen weiteren, ganz wichtigen Faktor. Und dieser konnte weder durch besondere Anstrengungen noch durch Bestechung erreicht werden, und ohne ihn war alles verloren: Dieser Faktor war das Glück. Man mußte Glück haben, um nicht verhaftet zu werden, wie Dorrit (188) feststellte. An einem heißen Julitag des Jahres 1938 wollte sie mit ihrer Freundin schwimmen gehen. Aber alle öffentlichen Bäder in Wien waren den Juden versperrt. Unvorsichtigerweise nahmen die Mädchen die Badnerbahn nach Baden bei Wien, das etwa eine Stunde von Wien entfernt lag und wo Juden der Eintritt in die Schwimmbäder noch erlaubt war. Als die Mädchen sich gerade anzogen, um wieder nach Hause zu fahren, machte sich eine Unruhe bemerkbar, und sie sahen, wie die Nazis in das Bad eindrangen und alle Juden auf Lastwagen zusammenpferchten. Eilig verließen sie den Ankleideraum und rannten um ihr Leben. Wurde man verhaftet, so war es einzig eine Frage des Glücks, ob man mit dem Leben davonkam oder starb. Glück hatte auch ein Baby, das auf dem Arm seiner Mutter gemeinsam mit dieser und seiner Schwester bei einer Razzia aufgegriffen wurde. Aufgrund einer schlimmen Mittelohrentzündung schrie das Baby. Seine Mutter bat, bei dem diensthabenden Gestapo-Beamten vorsprechen zu dürfen, und zu ihrer Überraschung kannten sie einander. Ihr Mann hatte dem Bruder des Beamten einmal eine Arbeitsstelle vermittelt. Die Familie wurde freigelassen. Eine ähnliche Geschichte ereignete sich in einem anderen Gefängnis. Stella (72) erzählt: „Der Mann meiner Freundin, ein Rechtsanwalt, wurde verhaftet. Während er auf dem Polizeikommissariat festgehalten wurde, erschien ein Wurstverkäufer im Gefängnis. Die zahllosen verhafteten Leute drängten sich, um eine Wurst zu kaufen. Der Mann meiner Freundin war nicht

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hungrig. Er knüpfte ein Gespräch mit einem der Polizisten an, der ihm erzählte, daß er Schwierigkeiten habe, seine Scheidung zu erreichen. Der Mann meiner Freundin gab ihm einige Ratschläge, und der Polizist erreichte irgendwie, daß er freigelassen wurde." Am wichtigsten war es, Glück zu haben und einen Bürgen zu finden, der ein Visum besorgen konnte. Manchmal waren die Erlebnisse in ihrer Zufälligkeit geradezu hollywoodreif. Norbert (14) hatte keine Möglichkeit auszuwandern. Er arbeitete in dem Geschäft seines Vaters, als ein Amerikaner eintrat, der sich verlaufen hatte. Norbert bot ihm an, ihn bis zu seinem Hotel zu begleiten. Unterwegs erzählte Norbert, daß er Jude war und es ihm nicht möglich war, das Land zu verlassen. „Wie alt bist du?" fragte der Mann. „Einundzwanzig", antwortete Norbert. Mit offenkundigem Interesse fragte der Mann, ob er im Juli 1917 geboren worden sei. Als Norbert diese Frage bejahte, wurde der Tourist, der sich als Mr. Selsberg vorstellte, nachdenklich. Er bat Norbert, ihn zu seiner Frau zu begleiten. Im Hotel sprachen die Eheleute kurz miteinander. Mr. Selsberg wandte sich an Norbert und bot ihm ein amerikanisches Affidavit an. Viele Jahre später sagte ihm Mr. Selsberg auch den Grund: 1917 war Mrs. Selsberg gestürzt und hatte eine Fehlgeburt erlitten. Als Folge davon konnten sie keine Rinder bekommen. Das verlorene Rind wäre im Juli zur Welt gekommen, fast an dem gleichen Tag wie Norbert. Das Ehepaar hielt dieses Zusammentreffen mit Norbert für eine göttliche Fügung. Er war der Ersatz für ihr verlorenes Rind, und so mußten sie ihn retten. Wer kein Visum bekommen konnte, für den war Glück noch wichtiger. Man brauchte es nicht nur, um jemanden zu finden, den man bestechen konnte, man mußte sogar noch mehr Glück haben, um jemanden zu finden, der dies dann auch honorierte. Alices (128) Vater war es nicht gelungen, ein Visum zu bekommen. Schließlich setzte er den verzweifelten Schritt, einen exorbitant teuren Transport nach Venedig zu bezahlen. Die Grenzbeamten waren von dem Reiseleiter bestochen worden. In den frühen Morgenstunden, als der Zug die Grenze passierte, ging die Paßkontrolle an ihrem Abteil vorbei. Es war die letzte derartige Abmachung. Die nächste Gruppe, die auf diesem Weg zu fliehen versuchte, wurde gefaßt. Und selbst, wenn man bereits über einen Bürgen und ein Visum verfügte, brauchte man immer noch Glück, um Rarten für die Überfahrt zu bekommen. Joseph (144), der seine Eltern nicht überreden konnte, es doch einmal in einem südamerikanischen Land zu versuchen, hatte ein Visum für Ecuador erhalten. Aber er fürchtete, keine zeitgerechte Überfahrt zu bekommen. Nachdem er sich von seiner Tochter verabschiedet hatte, die auf dem Weg nach England war, lief er beim Verlassen des Bahnhofes in einen Mann, den er am ecuadorianischen Ronsulat getroffen hatte. Beide hatten ihr Visum am selben Tag bekommen. Joseph erwähnte, daß seiner

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Meinung nach der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstünde. Er suchte fieberhaft nach einem Fluchtweg und fragte den Mann, wie er nach Ecuador gelangen könnte. Zu seiner Überraschung erzählte ihm der Mann, daß er für seine Familie die Überfahrt auf der Horatio gebucht hätte, die am 16. Juli 1938 auslief, er aber die Fahrkarten nicht verwenden könne, weil er noch eine geschäftliche Angelegenheit zu regeln hätte. Er sei gerade auf dem Weg, der Schiffsagentur seine Karten zurückzubringen. Überglücklich begleitete Joseph ihn zur Agentur und übernahm die Überfahrtskarten. Hatte man erst einmal alle Papiere in Händen, hieß es Abschied von Verwandten und Freunden zu nehmen. Schon unter normalen Umständen erleichtern ein warmer Händedruck oder ein Kuß den Abschiedsschmerz. Für Flüchtlinge aber wären solch rührende Gesten besonders beruhigend gewesen, hatten sie bei ihrem Abschied doch oft das Gefühl, daß sie ihre Verwandten und Freunde nie mehr wiedersehen würden. Aber ein Abschied war ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Die letzten Tage und Stunden waren üblicherweise ausgefüllt mit sorgenvollen Aktivitäten. Es ging nicht darum, weiß Gott welches Vermögen mitzunehmen. Die meisten Leute gingen einfach weg und ließen ihre Möbel zurück. Oder sie packten ihre Habseligkeiten in riesige Kisten, die abgeschickt wurden, sobald sie einmal auf hoher See waren. Das Einpacken erfolgte häufig unter den Augen eines Nazi-Funktionärs, oder das Gepäck wurde im Nachhinein kontrolliert, um sicherzugehen, daß nur mitgenommen wurde, was auch wirklich erlaubt war. Der Druck war groß, der beim Einpacken auf einem lastete, wenn man einen Nazi-Funktionär in seinem Rücken wußte. Die großen Kisten, in welche die Flüchtlinge ihre Möbel packten, verließen das Dritte Reich indes nur selten: Entweder sie wurden von dem einen oder anderen Funktionär gestohlen oder, wie im Fall meiner eigenen Familie, die Dinge wurden versteigert, und der Erlös floß in die Parteikasse. Ich selbst erinnere mich an die recht gedrückte, düstere Atmosphäre, als meine Mutter die wenigen Dinge zusammensuchte, die ihr am Herzen lagen und die sie mitnehmen wollte. Dies alles mußte heimlich geschehen. Unsere Köchin Mitzi, die seit meiner Geburt bei uns war, war eine glühende Nationalsozialistin geworden. Als einsame Frau, die von ihrem Mann sitzengelassen worden und deren einziges Kind früh gestorben war, erlag sie den schmeichelnden Worten, mit denen die deutsche Frau beschrieben wurde. Sie war „eine schöne deutsche Frau" geworden. Ihre Identifikation mit der siegreichen nationalsozialistischen Partei verlieh ihr eine persönliche Identität, die sie nie zuvor gekannt hatte. Sie bestand darauf, die Reden der verschiedenen Nazi-Größen im Rundfunk hören zu können, und so schallten die kreischenden Stimmen Hitlers oder Goebbels' von früh bis spät durch unser Haus. Mitzi liebte mich heiß. Einerseits wollte sie bei dem

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jüdischen Kind bleiben, das sie liebte, andererseits wollte sie eine aufrechte Nationalsozialistin sein. Mitzi heckte langsam ihren eigenen Plan aus. Waren meine Eltern erst einmal weg, würde sie mich bei sich behalten und aus mir eine „aufrechte Arierin" machen. Das alles dachte sie sich natürlich nur in ihrer Phantasie aus, der Plan stellte für uns aber dennoch eine große Gefahr dar. Meine Eltern fürchteten, Mitzi könnte sie unter irgendeinem Vorwand bei der Gestapo anzeigen, um mich ihnen wegzunehmen. Meine Eltern versuchten daher verzweifelt, den genauen Tag der Abreise vor ihr geheimzuhalten. An diesem Tage bereitete meine Mutter hastig einige Dinge vor, die sie mitzunehmen gedachte. Sie bat mich, das Photoalbum mit den Familienbildern zu holen und es neben die anderen wenigen Dinge zu legen, die sie hergerichtet hatte. Ich erinnere mich noch ganz genau an dieses Album: Es war aus grünem Leder und mit einer goldenen Spange verschlossen. „Später", antwortete ich und vergaß dann prompt darauf. Meine Mutter, die sich mit wichtigeren Dingen beschäftigte, erwähnte es nicht mehr. Jahre später vermißte ich das grüne Album, wie ein englischer Lord, der seine Ahnenbilder vermißt, wenn sie aus dem Treppenaufgang weggehängt werden. Für die meisten war der Abschied schmerzlich. Joseph (144), der nach Südamerika auswanderte, denkt noch heute daran, wie schwer es ihm fiel, seine alten Eltern zurückzulassen. Als Valerie (151) mit ihrem Mann abreiste, schaute ihre Mutter aus dem Fenster und weinte; Valerie vermied es, daran zu denken, daß sie einander vielleicht nie mehr wiedersehen würden. Otto (42), der bei seiner Abreise erst 23 Jahre alt war, hat sich der Augenblick des Abschieds tief in sein Gedächtnis eingegraben: „Ich verabschiedete mich von meiner kränklichen Mutter. Mein Vater begleitete mich zum Bahnhof. Wir gaben uns den Anschein, als wäre dies nur ein vorübergehender Abschied, aber beide hatten wir die Vorahnung, daß es ein Abschied für immer war. Es war ein herzzerreißender Augenblick. Ich weinte bitterlich, als der Zug abfuhr. Diese Szene ist noch heute in meinem Gedächtnis lebendig, und ich kann darüber nicht schreiben, ohne daß Emotionen in mir aufsteigen." Der Optimismus meines Vaters machte mich zuversichtlich über die Chancen bezüglich unserer Ausreise. Eines Nachmittags ging ich in das Wohnzimmer, das während der Ordinationszeiten meist leer stand. Ich war erstaunt, meinen Vater dort mit seinem besten Freund zu finden. Da ich im Türrahmen stand, wo mich die beiden nicht sehen konnten, bemerkten sie mich nicht. Mein Vater, der seinen weißen Arztmantel trug, war offensichtlich gerade aus seiner Ordination hereingerufen worden. Der Freund erzählte meinem Vater, daß er auswandern werde. Die beiden Männer schwiegen für einige Minuten. Dann umarmten sie sich, und zu meinem großen Schock füllten sich die Augen meines Vaters mit Tränen. Ich verließ leise das Zimmer.

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Es gab viele Arten, sich einer List zu bedienen, um die eigene Ausreise zu verheimlichen. Als Dorrit (188) mit ihrer Mutter abreiste, nahmen sie keine Koffer mit. Ihre Mutter trug eine große Handtasche, und Dorrit hatte ihre Schultasche mit, die eine Garnitur Kleider zum Wechseln, eine Puppe und eine Zahnbürste enthielt. Sie trug auch ihren Geigenkasten mit. Der Bub Franzi, mit dem sie immer spielte, kam gerade vorbei und fragte, wohin sie gingen. „Zum Zahnarzt", antwortete Dorrit. Sie versuchten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Den Flüchtlingen drohte ständig Gefahr, bis sie endlich die Grenze überschritten hatten, und oft bedurfte es großer Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit, um nicht im letzten Augenblick zu scheitern. Alices (172) Mann, der Wissenschaftler war, zeigte sich dieser Aufgabe gewachsen: Am Flughafen durchsuchte ein Beamter das Gepäck des Ehepaares so langsam, daß sie drauf und dran waren, ihr Flugzeug zu versäumen. Die Ulmans waren dank der Hilfe zweier mutiger Frauen so weit gekommen. Die eine war Dr. Ella Lingens, eine nichtjüdische Ärztin, die ihre Wohnung Juden als Unterschlupf anbot, die auf ihre Ausreise warteten. Sie wurde schließlich verhaftet und nach Auschwitz geschickt. Die andere war Muriel Gardner, die ihre Geschichte in dem Buch Code Name Mary niedergeschrieben hat und Lillian Hellman vielleicht als Vorlage für ihren Roman Julia diente. Die Ulmans waren von Dr. Lingens versteckt worden. Muriel Gardner, die gerade erst Manfred, einem bekannten jüdischen Sozialistenführer, eine leere Wohnung verschafft hatte, bis man ihm einen Paß besorgen würde, hatte auch Alice Geld und ein Affidavit verschafft. Nachdem sie mit Hilfe der beiden Damen nun schon so weit gekommen waren, wollte Professor Ulmann nicht, daß ihre Flucht im letzten Augenblick scheiterte. Er wußte, wie man diese „Befehl ist Befehl"-Mentalität des starrköpfigen Beamten überlisten könnte. „Wissen Sie", sagte er, „der Führer möchte, daß wir Deutschland verlassen. Wenn wir das Flugzeug versäumen, können wir ihm nicht gehorchen. Wir haben unser letztes Geld für die Flugkarten ausgegeben. Und Sie werden dafür verantwortlich sein, daß wir nicht wegfahren konnten." Das war eine Sprache, die der Beamte nur zu gut verstand. In aller Eile schloß er die Koffer. Das Ehepaar rannte zum Flugzeug. Die Propeller drehten sich bereits. Man muß eine so knappe Flucht erst einmal miterlebt haben, um verstehen zu können, was sie dabei fühlten. Dorrit (188) erinnert sich noch genau an den Augenblick, als sie die Grenze überquerten: „Wir kamen in der Nacht an die Grenze. Ich glaube es war Aachen. Ich wurde rechtzeitig wachgerüttelt, um zu sehen, wie die Gestapo meinen Geigenkasten aus dem Gepäcksnetz nahm und untersuchte. Der Mann legte ihn dann zurück und ging weiter. Einige Ausländer in dem Zug hatten Geld für die Juden versteckt und gaben es ihnen jetzt wieder zurück. Als wir nach Frankreich einfuhren, begannen alle Fahrgäste vor lauter Freude zu schreien."

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Auch meine Familie war sich der bis zur letzten Minute lauernden Gefahr bewußt. Ich sehe unsere Abreise noch vor meinen Augen: Meine Familie ist bereits auf dem Flughafen. Wir wollen nach Londen fliegen, um eine Durchreise durch Deutschland zu vermeiden. Auf dem düsteren Flughafen patrouillieren zwei SS-Leute in ihren schwarzen Uniformen mit hohen Stiefeln und dem Totenkopfsymbol auf ihren Rappen. Jeder spricht leise. Meine Eltern, meine Schwester und ich sind bereit, an Bord zu gehen. Jeder von uns trägt eine kleine Reisetasche und hat die erlaubten zehn Mark bei sich. Die beiden hünenhaften SS-Leute kommen auf uns zu. Sie fragen nach unseren Pässen und beginnen uns zu durchsuchen. Versehentlich hat mein Vater drei Pennies in einer tiefen Hosentasche übersehen. Triumphierend ziehen die SS-Leute sie heraus und beginnen zu besprechen, ob mein Vater damit ein Gesetz übertreten hat und abgeführt werden sollte. Mein Herz steht still, aber ich kann nicht glauben, daß sie meinen Vater wirklich mitnehmen werden. Nicht meinen Vater. Der Augenblick dauert eine Ewigkeit. Letztlich nicken sie uns zu, daß wir abfliegen dürfen. Erleichtert besteigen wir das Flugzeug. Mein Vater erzählte mir oft, daß er nie zuvor und nie nachher ein so großes Glücksgefühl empfunden hätte wie beim Abheben der Maschine. Meine Mutter und ich sahen ganz grün und gelb aus. In dem Flugzeug gab es keinen Druckausgleich, und uns war totenübel. Mein Vater glühte vor Aufregung und Freude. Aber noch Jahre suchten mich die beiden SS-Leute in meinen Alpträumen heim. Nicht für jeden war der Augenblick des tatsächlichen Abschieds ein fröhlicher. Charva (63), die mit einer Gruppe junger Leute nach Israel aufbrach, beschreibt ihre letzten Augenblicke in Deutschland: „Im Nieselregen gingen wir zum Pier. Wir trugen zwanzig Kilogramm auf unserem Rücken und zehn Mark in unseren Taschen. In meinen Armen trug ich den von meiner Mutter aus Windeln zusammengenähten Polster für den Fall, daß mein Kind frühzeitig geboren werden sollte. Passanten riefen unserer traurigen Gruppe zu: ,Schaut, das sind die Saujuden, die sich verkrümeln müssen. Schaut die dort drüben an! Die hat ein Pinkerl vorne und eines hinten.' Damit meinten sie mich." Es ist immer weise, aus der Vergangenheit zu lernen. Indem ich immer wieder von neuem die Beschreibungen der Erlebnisse all dieser Flüchtlinge las, hatte ich das Gefühl, ich sollte einige Grundsätze formulieren, einige allgemeine Thesen, die mich lehren könnten, wie ich in Zukunft mit Katastrophen umzugehen hätte, sollte es je wieder zu solchen kommen. Schließlich weiß man nie, was die Zukunft bringen wird. Das nächste Mal möchte ich vorbereitet sein. Ich kam zu einigen Schlußfolgerungen und möchte mein neuerworbenes Wissen gerne teilen. Und hier einige Grundsätze, um auf Katastrophen vorbereitet zu sein: Zu allererst achte man darauf, daß man in einem anderen Land geboren wird, als in

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dem, dessen Bürger die Eltern sind. So bekommt man eine doppelte Staatsbürgerschaft. Wenn die eine nichts mehr wert ist, hält vielleicht die andere. Man achte darauf, einen berühmten Vater oder eine berühmte Mutter zu haben, die über viel Geld verfügen. Es hilft, wenn man ein weltberühmter Wissenschaftler oder Musiker ist. Man sei geschickt in einem Gewerbe, an dem in fremden Ländern Mangel besteht, wie etwa Installateur. Wenn man keine Verbindung zu einem Königshaus hat, sollte man sich mit hohen Regierungsbeamten gut stellen. Man habe keine Krankheit, die in anderen Ländern geächtet ist. Bleiben Sie immer unter 40. Haben Sie die Ausdauer, sich stundenlang anzustellen. Seien Sie außerordentlich einfallsreich und intelligent. Aber das Wichtigste von allem: Haben Sie eine gute Portion Glück. Mit all diesen Eigenschaften haben Sie recht gute Chancen.

Abschied: Drei Berichte Die Umstände, unter denen man ein Land verließ, waren für jeden einzelnen unterschiedlich. Jeder Abschied vollzog sich auf seine ganz besondere, ergreifende Weise. Aber so manches in den folgenden Darstellungen kommt auch in den Berichten der meisten anderen Flüchtlinge vor: Angst, eine unerwartete Wendung der Ereignisse, Beharrlichkeit, Glück und Schmerz.

Ganz plötzlich: Auszüge aus dem Bericht von Stella Hershan Freunde verließen nach und nach das Land. Einige ohne Papiere. Wir warteten auf unsere Affidavits aus Amerika. Plötzlich war es Herbst, November 1938. Kurz vor Ende des Jahres kamen dann unsere Affidavits aus Amerika. Nun konnten wir die Fahrkarten für die Queen Mary kaufen, die uns über den Ozean bringen sollte - mit unserem letzten Geld. Der Schweizer Beamte prüfte die ausgestellten Visa sorgfältig. „Sie können acht Tage lang in der Schweiz bleiben", erklärte er uns, während er einen Vermerk im Paß anbrachte. „Diese Frist kann aber nicht verlängert werden. Verstehen Sie?" Wir verstanden. „Wann wollen sie abreisen? Heute abend?" „Heute abend?" Mein Mann sah verdutzt drein. „Nein, ich glaube nicht..." „Warum nicht?" fragte ich rasch. „Worauf warten wir?" Auf die Gestapo? Ich sprach es nicht aus, aber wir alle wußten, woran ich dachte. „Also dann ist alles in Ordnung", sagte der Schweizer Beamte und stempelte den Paß. Acht Tage ab heute. Gute Reise!" Zu Hause packten wir eine kleine Reisetasche. Ich zog meine Tochter an. Sie trug ein neues Reisegewand. Auf ihrem blonden Haar trug sie einen dazupassenden Hut, der unter dem Kinn befestigt war. Sie lächelte uns strahlend an und machte es sich in den Armen ihres Vaters bequem. Unser Zug nach Zürich fuhr spät ab, und es war schon nach Mitternacht, als wir das Haus meiner Eltern verließen. Wir sperrten noch das Gartentor zu und warfen die Schlüssel über das Gitter auf den mit Schnee bedeckten Rasen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir zum Westbahnhof gelangten. Mit einem Taxi? Mit der Straßenbahn? Ich weiß es nicht mehr. Das wichtigste war, keine allzu große Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Wir sprachen nicht über unsere Ängste. Wir wußten, daß Leute an der Grenze wieder zurückgeschickt wurden. Am Bahnhof wimmelte es nur so von Menschen.

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Wir hatten Fahrkarten für einen Schlafwagen. Unser letztes Geld. Das allerletzte. Aber man durfte ja ohnedies kein Geld aus dem Land ausführen. Ich schläferte das Baby ein. Wir setzten uns hin und warteten. In der Früh kamen wir an die Grenze. Nazi-Funktionäre betraten unser Abteil. „Ihren Paß." Ihre Stimmen waren so kalt wie ihre Gesichter. Nicht die kleinste menschliche Regung. Mein Mann reichte ihnen den Paß. Sie nahmen ihn und studierten ihn lange. Dann verschwanden sie mit ihm. Wir blieben wie erstarrt sitzen. Sicher bedeutete das das Ende. Wir würden aus dem Zug geholt werden. Der Beamte kam zurück, reichte uns den Paß und fragte nach dem Steuerbescheid. Mein Mann gab ihm auch diesen. Er raschelte in der Luft. Der Beamte las ihn sorgfältig durch. Es dauerte lange, sehr lange. Dann gab er ihn zurück. Er streckte seine Hand aus: „Heil Hitler." Wir sahen seinen breiten Rücken, als er das Abteil verließ. Draußen vor dem Fenster sahen wir niedergeschlagene, bemitleidenswerte Leute, die kleine Koffer, ähnlich dem unseren, trugen und abgeführt wurden. Wir wagten nicht einmal zu atmen. Unsere Tochter wachte auf und weinte leise. Langsam, ganz langsam - wir bemerkten es anfangs gar nicht - setzte sich der Zug in Bewegung. Ungläubig blickten wir einander an. Neue Beamte kamen in unser Abteil. Sie sprachen Schweizerdeutsch und lächelten das Baby an, als sie unsere Pässe überprüften. Wir waren in der Schweiz. Ich glaube, das erste, was ich tat, als der Zug begann, schneller zu fahren, war, mir Lippenstift aufzutragen. Im Wien der Nazizeit wagte man es nicht, die Aufmerksamkeit in irgendeiner Weise auf sich zu lenken. Mein graues Gesicht sah mir aus dem Spiegel entgegen. Womit fütterte ich das Baby? Wo wickelte ich es? Ich kann mich nicht mehr erinnern. „Wir sind in Sicherheit!", sagte ich zu meinem Mann. „Wir sind tatsächlich in Sicherheit!"

Wettlauf mit der Zeit: Auszüge aus dem Bericht von Lily Friedman Eines Morgens rief mich mein Vater in sein Büro. An seinem ernsten Gesichtsausdruck erkannte ich, daß es um etwas Wichtiges ging. Zunächst sagte er mir, er hätte gehofft, von diesem Thema nie sprechen zu müssen, die Umstände machten es aber notwendig. „Du wurdest von einer amerikanischen Mutter in Wien geboren, und wir haben dich mit sechs Wochen adoptiert." Langsam fügte er hinzu. „Wir wissen nicht, was mit Mutter und mir geschehen wird. Aber wir können dich retten. Die amerikanische Botschaft hat mir gesagt, daß du bald einen amerikanischen Paß bekommen wirst." Er machte eine Pause und wartete ab, welche Wirkung diese überraschende Neuigkeit auf mich haben würde. Ich war eine amerikani-

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sehe Staatsbürgerin. Ich fühlte mich sicherer. Daß ich adoptiert worden war, machte keinen großen Eindruck auf mich. Mir war nur wichtig, daß ich eine liebevolle Mutter und einen liebevollen Vater hatte. Als die Braunhemden das erste Mal zu uns kamen, war es Abend. Sie fielen wie Heuschrecken ein. Während wir hilflos zusahen, rissen sie von der Wand, was nicht niet- und nagelfest war, nahmen das Sims vom Ramin mit und räumten die Wohnung aus. Bevor sie weggingen, gaben sie uns eine Bestätigung über alles, was sie mitgenommen hatten. Dadurch wurde alles „legal". Als sie das zweite Mal kamen, war es sieben Uhr in der Früh. Ich schlief noch halb, als mein Vater zu mir ins Zimmer kam. Er versuchte sachlich zu bleiben, als er sagte, daß zwei Polizisten gekommen seien, um ihn und seinen Bruder zu einer Routinebefragung auf das Kommissariat mitzunehmen. Er ging weg, ohne auch nur das geringste mitzunehmen. Nicht einmal eine Zahnbürste. Als er nicht zurückkam, bot sich ein anderer Bruder an, zum Kommissariat zu gehen und nachzufragen. Auch er kam nicht mehr zurück. Es gingen Gerüchte, daß alle jüdischen Männer aus unserer Nachbarschaft in das örtliche Gefängnis gebracht worden seien. In der offiziellen Version hieß es, sie seien „zu ihrem eigenen Schutz" in Gewahrsam genommen worden. Das Warten dauerte endlos. Nach zwei quälenden Wochen bekamen wir eine Postkarte. Darauf stand: „Mir geht es gut." Aber sie kam aus Dachau. Zumindest war er noch am Leben. Nun konnten wir an die nahezu unlösbare Aufgabe herangehen, ihn dort wieder herauszubekommen. Meine Mutter unternahm alles nur Menschenmögliche, klammerte sich an jeden Strohhalm, verfolgte jeden auch noch so unwahrscheinlichen Weg, ging jedem Gerücht nach, nur um ihm zu helfen. „Arier" mit „Verbindungen" tauchten bei uns auf, die gegen einen stolzen Preis Visa für das Ausland besorgten. Meine Mutter kaufte Visa für Santo Domingo, Honduras, Madagaskar und Shanghai. Sie alle erwiesen sich als wertlos. Ein Freund redete ihr ein, zum Gestapo-Hauptquartier in Berlin zu fahren. Trotz der damit verbundenen Gefahr folgte sie seinem Rat. Sie kam mit leeren Händen zurück. Die 15 Zeilen langen Postkarten kamen alle zwei Wochen. Nun kamen sie aus Buchenwald. Mein Vater und seine Brüder waren überstellt worden. Durch die Blume beschworen sie uns, kein Geld auszugeben und auch keine Anstrengungen zu unternehmen, um sie herauszubekommen. Meine Mutter und ich mußten unsere Wohnung binnen zwei Tagen räumen. Sie war von einem hochrangigen SS-Offizier beschlagnahmt worden, dem sie gefiel. Wir nahmen mit, was wir konnten, und flohen in die Wohnung von Verwandten. Die Monate schlichen dahin. Mein Vater und seine beiden Brüder waren für sieben Monate eingesperrt worden. Mit jedem Tag, der verstrich, sanken ihre Chancen. Als es schon keine Hoffnung mehr zu geben schien, hörten wir, daß Männer, die ein Visum

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für die USA hatten, entlassen wurden. Hatten wir Freunde oder Verwandte in Amerika? Ich dachte an meine Blutsverwandten und überlegte, ob sie helfen würden. Es war ein Versuch aufs Geratewohl, aber wir hatten alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft. Es war unsere letzte Chance. Meine Mutter hatte die Korrespondenz über die Adoption irgendwo aufgehoben und kramte in ihren alten Papieren. Schließlich gelang es uns, die Adresse des Bruders meiner leiblichen Mutter auszumachen, und wir schrieben ihm. Dann warteten wir, harrten jeden Tag auf die Post und hofften. Einige angsterfüllte Wochen verstrichen. Eines Morgens kam auf wunderbare Weise ein Brief aus Amerika. „Onkel Izzi" war bereit, ein Affidavit für meine Eltern und mich zu schicken. Unsere Dankbarkeit und Erleichterung lassen sich nicht mit Worten beschreiben. Damit war die erste Bedingung für die Freilassung meines Vaters erfüllt. Wir hatten ein ausländisches Visum und ein Land, das uns aufnehmen würde. Aber unsere Quotennummer würde erst in sechs bis zwölf Monaten an die Reihe kommen. So lange würden wir wohl nicht überleben. Meine Mutter hatte Verwandte in London, denen es gelang, uns ein Transitvisum zu verschaffen. Mit Hilfe dieser Dokumente und nach langem Bitten und Betteln öffneten sich die Tore von Buchenwald, und mein Vater und seine Brüder wurden freigelassen. Kurze Zeit darauf wurden keine Gefangenen mehr aus den Konzentrationslagern entlassen.

Die goldene Uhr: Auszüge aus dem Bericht von George Jellinek Sie hängt in einem Glasschrank nahe meiner Stereoanlage, und so sehe ich sie jeden Tag. Eine goldene Taschenuhr, die vermutlich aus den 30er Jahren stammt, für heutige Begriffe ausgesprochen altmodisch, aber noch nicht alt genug, um als „antik" zu gelten. Die Zeiger stehen auf 6 Uhr 40. Aller Wahrscheinlichkeit nach 6 Uhr 40 nachmittag, denn ich kann mich nicht erinnern, sie je aufgezogen zu haben, seitdem sie am 15. April 1939, dem letzten Tag meines „früheren Lebens", am Bahnhof in Budapest in meine Hände kam. Mein Zug nach Hamburg sollte um die Mittagszeit abfahren. Ich verbrachte die letzten Stunden mit meiner Familie in einem Zustand dumpfer Ungläubigkeit. Mein Vater, der an alles dachte, hatte schon Monate zuvor geplant, mich an die Vorstellung des „Von-zu-Hause-weg-Seins" zu gewöhnen. Er bat meine Tante in Belgrad, mich für eine Woche einzuladen. „Jugoslawien ist zumindest ein anderes Land", meinte er. „Das ist so eine Art Überleitung." Es klappte nicht. Ich bekam Heimweh, und nach fünf Tagen kam ich wieder nach Hause. Mein Vater sah mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Schmerz an. „Du hast Heimweh gehabt? Was wirst du erst im April machen?"

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So bereitete ich mich mit meinen 19 Jahren darauf vor, mein Zuhause zu verlassen, das mir all die Liebe und Sicherheit geschenkt hatte, die man so leicht annimmt und so töricht als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Die (ungarische) Regierung machte den immer optimistischen ungarischen Juden eine ganz kleine Hoffnung, die aber nicht groß genug war, um meinen Vater davon zu überzeugen, daß ich in meinem wehrfähigen Alter irgendeine Zukunft in Ungarn haben könnte. Zumindest nach außen hin schien er sich mehr vor dem Krieg als vor der Bedrohung durch die Nazis zu fürchten. Und so beschloß er, daß ich nach Havanna auswandern sollte. Ich tat mein Bestes, um mich geistig auf ein neues Leben voll von Abenteuern, Unabhängigkeit und Unsicherheiten vorzubereiten. Leider war ich damals aber nur zu letzterem in der Lage. Und dann begleitete mich mein Vater zum Bahnhof, wobei er mir den ganzen Weg hindurch Mut zusprach und mir erklärte, wie wichtig reife Entscheidungen seien und wie ich lernten müßte, nun auf mich selbst gestellt zu sein, da er ja nicht mehr da sein würde, um mich zu leiten und zu führen. Ich zweifelte daran, daß ich meinen Weg von Stadt zu Stadt allein finden würde und ganz auf mich gestellt ein neues Leben in einem neuen Land, einem neuen Kontinent unter neuen Leuten beginnen könnte. Was sollte aus mir ohne seine Stärke, seine Voraussicht und seine resolute und schützende Hand werden? Was, wenn ich ihn nie mehr wiedersehen sollte? Ich erinnere mich an nichts mehr bis zum Augenblick des Abschieds. Und dann schaute sich dieser Mann, der mich bislang so fest durch mein junges Leben geführt hatte und mich nun für ein späteres Leben rettete, um und suchte, was er noch für mich tun könnte. Und er nahm seine goldene Taschenuhr und drückte sie mir, als ich in den Zug stieg, rasch und wortlos in die Hand. Erst in Wien gelang es mir, meiner Tränen Herr zu werden. Wir sahen einander nie wieder, und ich mußte erst selbst Vater werden, um in vollem Umfang zu erkennen, was meinem Vater nicht nur in diesem Augenblick, sondern bereits in all den Monaten zwischen seiner Entscheidung, mich ziehen zu lassen, und meiner tatsächlichen Abreise, wohl durch den Kopf gegangen war. Da ich in Havanna (1939-1941) großes Heimweh hatte, schrieben wir einander regelmäßig. Nach Pearl Harbour aber riß die Verbindung zwischen uns vollständig ab. Damals wurde Ungarn von Hitlers Wehrmacht übernommen, und meine Eltern wurden vom Holocaust verschlungen. Erst in reiferen Jahren wurden mir meine Verletzlichkeit mit 19 Jahren, die unbekannten Gefahren und die zahllosen Wege, die mein Leben hätte nehmen können, voll bewußt. Die goldene Uhr verkörpert sozusagen alles, was mich in diesen Jahren aufrechterhielt."

Reichskristallnacht: Der Anfang vom Ende Offizielle Erklärung für die Reichskristallnacht seitens der Nationalsozialistischen Partei: Legationsrat von Rath wurde am 7. November 1938 in Paris von dem Juden Hershel Grynszpan angeschossen. Von Rath starb an den Folgen seiner Verletzungen, und am 9. November machte die deutsche und die österreichische Bevölkerung in einem spontanen Ausbruch ihrer Wut gegen die Juden Luft. Um weitere Gewalt zu vermeiden, nahmen die Behörden zahlreiche Juden zu ihrem eigenen Schutz in Gewahrsam. (Bankier, 1990, S. 26) Stellungnahme eines Flüchtlings, der kurz vor der Kristallnacht in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden war Die Nazis versicherten, die Kristallnacht sei eine spontane, impulsive Aktion der deutschen Bevölkerung nach der Ermordung von Raths gewesen. Das Zeugnis eines Konzentrationslagerhäftlings, daß in Buchenwald vier Tage vor diesem Ereignis Vorbereitungen liefen, straft die deutsche Behauptung Lügen. Richard Roberts (145), Konzentrationslagerhäftling: „Vier Tage vor der Kristallnacht (kursiv vom Autor) mußten wir in Erwartung neuer Transporte rund 20.000 Betten in leeren Hütten aufstellen. Es wurde uns befohlen, diese Betten mit Stacheldraht von unserem Teil des Lagers abzutrennen. Wir hatten keine Ahnung, was außerhalb des Lagers vor sich ging. Später erfuhren wir, daß die Deutschen behaupteten, daß 20.000 Juden als Vergeltung für die Ermordung Herrn von Raths nach Buchenwald geschickt wurden. Was für ein Betrug!" Auszüge aus den Erinnerungen von Flüchtlingen an die Kristallnacht Mord „Die SS stürmte unsere (69) Wohnung und bedrohte uns mit Pistolen, die sie ihren hilflosen und erschreckten Opfern vor das Gesicht hielten. (Sie suchten nach dem Familienoberhaupt, meinem Vater, der gerade nicht zu Hause war. ) Sie plünderten die Wohnung, die aussah wie ein Schlachtfeld, und beschlagnahmten staatsfeindliches' Material. Dann gingen sie zur nächsten Tür, zu einer anderen jüdischen Wohnung und erschossen dort in ihrer Enttäuschung auf der Stelle Vater und Sohn. Die Ermordung der Nachbarn versetzte mich geradezu in einen Schockzustand. Nur

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durch Glück waren mein Vater, meine Mutter und auch ich diesem Schicksal entgangen." „Mein (156) Vater wurde von der Gestapo festgenommen. Drei Tage später war er tot!" Brandstiftung „Die Synagoge in Düsseldorf brannte lichterloh. Hohe Flammen loderten aus dem Dach. Bücher und Hefte waren über die ganze Straße verstreut." (35) „Wir (64) sahen den roten Himmel im Hintergrund und realisierten, daß unsere Synagogen in Flammen standen. In Fürth befanden sie sich in einem Hof, der Zentrum zahlreicher unserer religiösen und anderen Aktivitäten war, ein Ort, an dem schon unsere Vorfahren seit Hunderten von Jahren ihre Gottesdienste abgehalten hatten." „Bei meiner (109) Bückkehr nach Frankfurt am Tag nach der Kristallnacht sah ich die Synagoge in Flammen, hatte aber keine Ahnung von den Tausenden Verhaftungen." Razzien „Lautes Hämmern an unserer (64) Wohnungstür. Braunhemden erzwangen sich den Weg in unsere Wohnung. Unter ihnen befand sich auch ein Waffengefährte meines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg. Während wir uns rasch anzogen, brüllten die Männer uns an und verfluchten uns. Wir wurden aus der Wohnung gejagt und marschierten in Begleitung der grölenden, kreischenden und uns immer wieder Zwischenrufe entgegenschleudernden Bevölkerung durch die völlig dunkle Stadt. Sie waren zu dieser sogenannten ,spontanen Aktion' ermuntert worden. Sie trieben alle Juden auf einen Platz. Viele waren geschlagen, einige die Stiegen hinuntergeworfen worden. Die Nazi-Schlägertypen nahmen ihre Knüppel, schlugen auf uns ein und verletzten und töteten dabei wahllos jung und alt, krank und gebrechlich. Wir standen einfach hilflos da." „Zweimal kamen SS-Leute in unsere (174) Wohnung, aber da Freunde mich versteckt hielten, fanden sie mich nicht. In der Meinung, die ,Aktion' wäre für diesen Tag am frühen Abend beendet, kam ich nach Hause. Beim dritten Besuch in unserer Wohnung fanden sie mich. Zusammen mit vielen anderen wurden wir an sogenannten ,Sammelpunkten' zusammengetrieben. Alte und junge, geschlagene und verwundete Männer wurden schließlich auf Lastwagen gestoßen und in die örtliche SS-Kaserne gebracht, wo sie, in kleinen Zellen zusammengepfercht, während der nächsten beiden Tage erneut geschlagen und ,verhört' wurden. Schließlich wurden wir in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe kam in das Konzentrationslager Dachau, einige wenige wurden freigelassen. Aus einem nicht näher erforschlichen glücklichen Umstand gehörte ich zu letz-

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terer Gruppe. Am 12. November wurde ich nach der Unterzeichnung eines Papieres, daß ich das Land binnen zwei Monaten verlassen würde, freigelassen. Ich unterschrieb, auch wenn ich nicht wußte, wie ich das bewerkstelligen sollte, da doch alle Grenzen gesperrt waren." „Sie verhafteten meinen (152) Vater. Sie sagten kein Wort, wohin sie ihn bringen würden. Drei Tage später kam er mit acht Zähnen weniger, den Körper übersät von blauen Flecken, wieder." Konzentrationslager

„Papa war in Dachau. Onkel Karl und mein Cousin Ernst waren in Buchenwald. Onkel Josef in Sachsenhausen. Am 21. November bekamen wir die Nachricht, daß Ernst in Buchenwald gestorben war. Tante Emma erfuhr, daß auch ihr Mann in Buchenwald gestorben war, und einige Tage später wurde sie verständigt, daß auch ihr Bruder gestorben war." (91) „Mein (69) Vater wurde sofort verhaftet und nach Dachau gebracht, das nach der Kristallnacht förmlich von Gefangenen überging. Es gab nicht genug Platz für alle Konzentrationslagerhäftlinge. Schließlich ließen sie meinen Vater nach sechs Wochen wieder frei, allerdings mit der Warnung: ,Das nächste Mal erwischen wir Sie, da kommen Sie nicht mehr heraus!'" „Mein (109) Vater wurde verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Vier Wochen lang lebten meine Mutter und ich bei meiner Tante, deren Mann ebenfalls nach Buchenwald geschickt worden war. Mein Vater war sehr niedergeschlagen nach seiner Rückkehr. Er sprach nicht über seine Erlebnisse in dem Lager. Ich glaube, er hatte Angst." Gefängnis

„Ich (168) sah einen Lastwagen mit mehreren Männern die Straße herunterfahren. Ein Mann in Uniform, der einen Stahlhelm trug und ein Gewehr in der Hand hielt, saß hinten. Ich glaubte, sie kamen wegen meines Vaters. Ich hätte nie gedacht, daß sie noch mehr im Sinn haben würden. Das Fahrzeug blieb vor unserem Haus stehen, und drei Männer in Zivil gingen auf meinen Vater zu. Sie fragten ihn, ob er Jude sei, und verhafteten ihn. Ein anderer Mann kam auf mich zu und stellte fest, daß ich zur Familie gehörte. Als er erfuhr, daß ich 17 Jahre alt war, befahl er mir, ebenfalls mitzukommen. Wir alle gingen in das Haus hinein, wo wir auf meinen Onkel stießen. Sie verhafteten auch ihn. Ich hörte einen der Gestapo-Leute mit Befriedigung feststellen, daß sie drei Leute gefangen hätten, wo sie doch nur mit einem einzigen gerechnet hätten." „Ein freundlicher Nachbar versteckte mich (174) einen Großteil des Tages. Als wir dachten, die Verhaftungen seien vorüber, begann eine neue Welle. Ich wurde mit anderen in das örtliche Gestapo-Hauptquartier geschleppt."

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Verwüstungen und schwere Körperverletzungen „Im Geschäft blieb absolut nichts mehr übrig. Alle Regale, die nicht zerbrochen waren, standen leer. Alles, was irgendwie verwendbar war, hatten sie mitgenommen. Der Rest war einfach auf den Boden geworfen worden und dort zerbrochen oder zersplittert. Als ich den Raum betrat, der früher der Schankraum gewesen war, begrüßte mich ein heilloses Durcheinander. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Nicht ein Tisch oder Sessel, der nicht zerbrochen war. Der Gang war meterhoch mit Abfall, Glasscherben und zerbrochenen Möbeln bedeckt. In unserem sogenannten besten Zimmer standen solide, schwere Eichenmöbel. Die große Anrichte war umgeworfen worden und zerborsten. Das gleiche Bild bot sich im Nebenzimmer. Das Klavier war umgestoßen und Tisch und Sessel zertrümmert worden. Wer auch immer das getan hatte, hatte auch einen ganz simplen altmodischen Einbruch versucht. Ein Brett aus dem Schreibtisch meines Vaters war herausgeschlagen. Mein Vater pflegte seine Kasse mit Kleingeld dort aufzubewahren." (168) „Ich (189) erinnere mich, daß ich im Dunkeln kauerte. Wir wagten nicht, das Licht in der Wohnung anzudrehen. Wir hörten, wie in einer anderen Wohnung Glas und Porzellan zersplitterten. Leute wurden geschlagen und schrieen." „Sie SS-Leute fanden meinen (167) Onkel und fielen über ihn her. Mein Onkel, der damals schon ein alter Mann war, war in seiner Jugend ein ganz guter Boxer gewesen und konnte daher die meisten Schläge parieren. Das reizte den SS-Mann noch mehr. Von einem Juden erwartete man keinen Widerstand. Um seiner Wut freien Lauf zu lassen, nahm er das erstbeste Ding, das er zu fassen bekam - in diesem Fall einen Blumentopf - und schlug ihn meinem Onkel auf den Kopf." Ausweisungen „Einige ehemalige Kunden meines (152) Vaters kamen mit vorgehaltenen Pistolen in unsere Wohnung und warfen uns einfach hinaus. Sie rissen sich auch das Geschäft meines Vaters unter den Nagel und schlössen es." Erpressung „Mein (64) Vater wurde nach Dachau geschickt. Um seine Freilassung zu erwirken, wurden meine Mutter und ich eingeladen, einen gewissen Herrn Kandel zu ,besuchen'. In Form eines Ultimatums zwang er uns, ihm das Geschäft und das Auto meines Vaters gegen die Summe von zehn Mark zu überlassen. Er machte uns deutlich, daß jede Weigerung unsererseits für meinen Vater den sicheren Tod bedeuten würde." Der Pöbel „Die Straßen der Stadt boten ein schreckliches Bild. Der Rauch brennen-

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der Synagogen erfüllte die Luft. Die grölende Menge ergötzte sich an den Verhaftungen aller männlichen Juden. Jubelnd unterstützten sie das Blutbad." (174) „Wir (64) marschierten in völliger Dunkelheit durch die Stadt in Begleitung der grölenden, kreischenden und uns immer wieder Zwischenrufe entgegenschleudernden Bevölkerung, die zu dieser sogenannten spontanen Aktion' ermuntert worden war." Ein Held

„Unser (64) kleiner Rabbi wurde von den Nazis für eine besondere Mißhandlung auserkoren. Als Kinder hatten wir uns oft über ihn lustig gemacht. In dieser Nacht wuchs dieser 1,50 Meter große Mann (aufgrund seines würdevollen Verhaltens) über sich hinaus und wurde in unser aller Augen zu einem Riesen." Das Versteck

„Ich (59) hatte das große Glück, aus dem Haus schlüpfen zu können, gerade als die SA das Haus betrat. Sie suchten mich. Mein Vater und ich gingen zu einem Versteck in die Stadt. Wir kampierten in einer leerstehenden Wohnung im Stadtzentrum. Wir blieben unentdeckt, was möglicherweise auf die Hilfe der wohlmeinenden Hausbesorgerin zurückzuführen war." „Mein (87) Vater wurde verhaftet, aber da er nur Halbjude war, ließen sie ihn wieder gehen. Er sah die Brutalität im Gestapo-Hauptquartier. Er hatte Angst, und so reiste er wochenlang durch das ganze Land. Wir versteckten uns bei einer ,Mischlingsfamilie'. Nach meiner Abreise wurde mein Vater von einem Nachbarn beschuldigt, ausländische Sender gehört zu haben. Er stand kurz vor seiner neuerlichen Verhaftung, aber er beging Selbstmord." Frauen und Kinder

(Wir [64] standen in einer Reihe am Hauptplatz.) „Es war ein bitterkalter Morgen. Ich erinnere mich, daß ich ein Paar Handschuhe mit meiner kleinen Freundin Eva teilte, die neun Jahre alt war - sechs Jahre jünger als ich selbst." „Einige Nazis kamen in unsere (66) Wohnung und warfen den chinesischen Schrank um. Da wir nur Frauen und Kinder waren, begnügten sie sich damit." „Mein (47) Vater und mein 17j ähriger Bruder hatten sich versteckt, so daß die Raufbolde meine Mutter und meine Tante mitnahmen. Mich ließen sie zurück. Hinter einem Vorhang versteckt, schaute ich aus dem Fenster, und was ich sah, ließ mir das Herz stillstehen. Sie hatten meine Mutter auf die Straße gezerrt und zwangen sie, auf dem Gehsteig niederzuknien. Gewaltsam veranlaßten sie sie, irgendeine weiße Farbe vom Bo-

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den abzuschrubben. Sie war vom Mob verschüttet worden, als sie das Wort Jude auf die Fenster des Geschäftes geschrieben hatten. Zwei Stunden später kam meine Mutter durch die Tür, naß und erschöpft, und Angst spiegelte sich in ihrem Gesicht. Sie schlang ihre Arme um mich und weinte." „Großvater setzte sich, wie jeden Abend, an das Fußende meines (43) Bettes, um zuzuhören wie ich mein Sh'ma Israel aufsagte. Dann sang er mir ,Rozhinkes mit Mandelen' vor. In dieser Nacht ging er nicht weg, und ich sagte ihm noch einmal das Sh'ma auf, und er sang mir noch einmal ,Rozhinkes mit Mandelen' vor. Es dauerte nicht lange, bis wir das Stampfen von Stiefeln im Hausflur hörten, laute, unangenehme Stimmen, Türen und Fenster zerbarsten, Schreie, Gewehrkolbenschläge und flehende Stimmen, während ich abwechselnd mit Großvaters Schlaflied wieder und wieder das Sh'ma aufsagte. Der Morgen dämmerte schon, als die Schreie, das Flehen und die Gewehrkolbenschläge endlich aufhörten. Ich schlief ein, noch bevor er mein Zimmer verließ. Am nächsten Morgen waren alle jüdischen Familien weg, ihre Wohnungen geplündert." „Eine Horde von etwa zehn Nazis in Uniform zwang uns (96), die Tür zu öffnen. Sie zerstörten die Einrichtung und zerbrachen alle Glassachen. Sie stapelten alles zu einem Haufen auf und stießen meine 75 jährige Großmutter auf die Spitze dieses Berges. Ich werde diese Szene nie vergessen." Ausländer „Ausländer waren nicht geschützt. Ich (64) erinnere mich, wie ein Schweizer Freund schrie: ,Ich bin ein Schweizer'. Und die Nazis schlugen auf ihn ein und sagten dabei: ,Was bis du? Du bist ein Jude!'" Hilfe „Meine (15) Mutter erhielt einen anonymen Anruf, in dem ihr gesagt wurde, daß mein Vater weder eine Straßenbahn noch einen Bus oder ein Taxi benützen sollte. Er kam sicher nach Hause." „Der Hausmeister kam, um mit meinen (43) Großeltern zu sprechen. Er wies sie an, kein Licht anzudrehen oder herumzugehen, uns allen empfahl er, uns ruhig zu verhalten und schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen waren alle jüdischen Familien weg und ihre Wohnungen geplündert. Wir bemerkten, daß es kein J an unserer Tür gab." (Irgend jemand hatte es entfernt, um die Familie zu schützen. ) „Ich (183) verbrachte die Nacht in der Wohnung von Dr. Ella Lingens." (Die Nichtjüdin Dr. Lingens verbrachte zwei Jahre in Auschwitz, weil sie Juden geholfen hatte. )

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Postskriptum Stellungnahme von Gauleiter Odilo Globocnik zur „Reichskristallnacht" (Bankier, 1990) „Mein nächster Befehl lautete: a) Geschäfte von Juden werden geschlossen, die Schlüssel sind an die Polizei abzuführen. Beschädigte Fensterscheiben haben auf Kosten des jüdischen Geschäftsinhabers wieder hergestellt zu werden. b) In Wohnungen, die von Juden verlassen sind, haben die Möbel in ein Zimmer gestellt und dieses versiegelt zu werden und kann die Wohnung an Parteigenossen gegen entsprechenden Mietzins weitergegeben werden. c) Bei Wohnungen und Geschäften, wo die Voraussetzung der Sicherheit der Ware nicht mehr gewährleistet ist, hat diese sofort in entsprechende Räume bei den Kreis- und Ortsgruppenleitungen zusammengetragen zu werden. Aus dieser Aktion (Anm.: anläßlich der Kristallnacht) ergeben sich nunmehr folgende Vorteile (Anm.: Schlußfolgerungen von Gauleiter Odilo Globocnik): 1) Es wurden von den 5.000 zu sperrenden, laut Planung, Einzel- und Kleinhandelsgeschäften 4.000 innerhalb kürzester Zeit gesperrt und dadurch der arische Kleinhandel auf eine gesunde Wirtschaftslage gebracht und gestärkt. 2) Die Lagerbestände werden an die arischen Geschäftsleute über Fachkommissionen bei Einhaltung der wirtschaftsnotwendigen Preise abgegeben. 3) Leicht verderbliche Lebensmittel werden der NSV übergeben. 4) Ca. 2.000 Parteigenossen haben durch diese Aktion entsprechende Kleinwohnungen erhalten." (S. 30-31) Sitzungsprotokoll einer Besprechung zwischen Göring und Nazi-Funktionären nach der Kristallnacht, 12. November 1938 Göring: Denn, meine Herren, diese Demonstrationen habe ich satt. Sie schädigen nicht den Juden, sondern schließlich mich, der ich die Wirtschaft als letzte Instanz zusammenzuhalten habe. Wenn heute ein jüdisches Geschäft zertrümmert wird, wenn Waren auf die Straße geschmissen werden, dann ersetzt die Versicherung dem Juden den Schaden - er hat ihn gar nicht -, und zweitens sind Konsumgüter, Volksgüter zerstört worden. Wenn in Zukunft schon Demonstrationen, die unter Umständen notwendig sein mögen, stattfinden, dann bitte ich nun endgültig, sie so zu lenken, daß man sich nicht in das eigene Fleisch schneidet. Denn es ist irrsinnig, ein jüdisches Warenhaus auszuräumen und anzuzünden, und dann trägt eine deutsche Versicherungsgesellschaft den Schaden, und die Waren, die ich dringend brauche - ganze Abteilungen Kleider und was

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weiß ich alles - werden verbrannt und fehlen mir hinten und vorn. Da kann ich gleich die Rohstoffe anzünden, wenn sie hereinkommen . . . Mir wäre es lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen, und nicht solche Werte vernichtet. Hilgard (Vertreter der Versicherungsgesellschaften, der über das Problem spricht, für die zerstörten, versicherten jüdischen Geschäfte Schadenersatzzahlungen leisten zu müssen): Wir haben für unsere Geschäfte eine sehr gute internationale Basis, und wir müssen gerade im Interesse der deutschen Devisenbilanz Wert darauf legen, daß das Vertrauen zu der deutschen Versicherung nicht gestört wird. Wenn wir es heute ablehnen, klare, uns gesetzlich obliegende vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen, so wäre das ein schwarzer Fleck auf dem Ehrenschild der deutschen Versicherung. Obergruppenführer Heydrich: Man mag ruhig die Versicherung ausschütten, aber nachher bei der Auszahlung (Anm.: an die Juden) wird sie beschlagnahmt. Dann ist formell das Gesicht gewahrt. Hilgard: Das, was Obergruppenführer Heydrich eben gesagt hat, möchte ich eigentlich auch für den richtigen Weg halten." (Bankier, S. 31-32) Erklärung von Hermann Göring Hermann Göring, 12. November 1938. Konferenz über die Judenfrage. Punkt 7: Über die jüdische Gemeinde wird eine Strafe in der Höhe von 1 Mrd. Dollar wegen der Zerstörung von Geschäften und Wohnungen am 9. und 10. November verhängt. (Herzstein, 1974, S. 96-97)

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2 Ein Scheck, den Lily Feldman als Wiedergutmachung für den Tod ihrer Mutter erhielt. Ihre Mutter war nach Lodz gebracht worden und dort verschwunden. Die österreichische Regierung erachtete den Betrag von $ 347,64 für eine ausreichende Entschädigung. Lily löste den Scheck nie ein. Foto: Ch. und G. Deutsch

5 Lea (auf dem Hocker sitzend) mit drei ihrer fünf Geschwister. Die drei Mädchen auf diesem Foto wurden nach England geschickt, Leas Bruder, ihre Mutter und zwei jüngere Geschwister starben im Konzentrationslager. Der Vater kam nach dem Krieg aus dem Lager zurück, und die Kinder hatten Schwierigkeiten, sich an das neue Leben mit ihm zu gewöhnen. Foto: Lea Taub

4 Elli mit ihren Eltern im Jahre 1928. 1939 kam Etil nach England. Ihr Vater, ein Journalist, wurde in Frankreich gefangengenommen, vermutlich nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Die Mutter überlebte und ließ sich in England nieder, konnte aber den Verlust ihres Mannes nie überwinden. Foto: Elli Adler 5 Ellis Mutter, Frau Goldschmied schrieb zahlreiche Institutionen an in der Hoffnung, ihr Mann hätte doch überlebt. In diesem Schreiben des französischen Veteranen- und Kriegsopferamtes heißt es: „Alwin Goldschmied, geboren am 11. Juni 1891 in Wien. Interniert in Drancy. Deportiert am 2. September 1942. Bis zum heutigen Tag nicht zurückgekehrt." Foto: Elli Adler

6 David (vorne Mitte), bei seiner Ankunft in England sechs Jahre alt, hier in Deutschland mit Eltern und Tante (rechts, hintere Reihe) und zwei Brüdern. Heute lebt David in den USA, sein Bruder (rechts) in Israel. Sein anderer Bruder, seine Eltern und die Tante wurden von den Nazis ermordet. Foto: David Ross

7 Die sechsjährige Maritza mit ihren Eltern und dem Großvater mütterlicherseits in Prag. Kurz darauf wurde sie nach England geschickt. Ihr Großvater wurde fünf Monate später auf offener Straße erschossen, die Eltern in Auschwitz vergast. Foto: Maritza Jasper

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