Die Kunst der Fuge: Bachs Credo [1 ed.] 9783412509989, 9783412509118

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Die Kunst der Fuge: Bachs Credo [1 ed.]
 9783412509989, 9783412509118

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Wolfgang Wiemer

Die Kunst der Fuge Bachs Credo

2018 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bronce-Medaille (Durchmesser 10 cm) eines anonymen Künstlers – vermutlich Entwurf für das Jubiläumsjahr 1935. Vorderseite: ­JOHANN SEBASTIAN BACH. Rückseite: Christus als König David die Harfe spielend, Umschrift: IN CHRISTO OMNIA INSTAVRARE. Frontispiz: König David setzt Musiker zum Dienst im Tempel ein. Kupferstich von Christoph Weigel d. Ä., aus: Biblia ectypa: Bildnußen aus Heiliger Schrifft, ­Regensburg 1697. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anton Ebner, Deggendorf Satz und Reproduktionen: SchwabScantechnik, Göttingen

ISBN 978-3-412-50998-9

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum d-a-f-d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum b-a-c-h . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Davidssohnschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 1–7 (König David) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Contrapunctus 8 und 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 8 »et incarnatus est« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Contrapunctus 9 und 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 9 »Von der Taufe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 10 »Von der Buße« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis« . . . . . . . . . . . Contrapunctus 12 »et sepultus est« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 13 »et resurrexit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrapunctus 14 »et iterum venturus est« (Die Offenbarung des Johannes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dritte Thema von Contrapunctus 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zweite Thema von Contrapunctus 14 . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Thema von Contrapunctus 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachlese und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 9 12 18 20 29 35 38 43 44 46 49 60 62 65 81 84 104 110 118 132 137 152

Vorbemerkung

Die Kunst der Fuge ein »Musicalisches Opfer« für König David? Das b-a-c-h: Synonym gar für den Gekreuzigten? Die vorliegende Arbeit entwickelt einen in der Rezeptionsgeschichte der Kunst der Fuge bisher nicht in Betracht gezogenen Ansatz. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass das Werk auf zwei von Anfang an als solche unerkannt gebliebenen Kryptogrammen basiert: dem d-a-f-d-Kopf des Grundthemas und dem in drei Fugen (Contrapunctus 8, 11, 14) als Thema exponierten b-a-c-h-Motiv. Erst die Dechiffrierung der beiden Viertonfolgen eröffnet den Zugang zu jenem anderen, von einigen Autoren bereits vermuteten außermusikalischen Anteil des Ganzen. Die für das Grundthema so naheliegende Personenzuweisung »König DAVID« führt geradewegs dazu, auch das bisher ausschließlich als Namensnennung des Komponisten verstandene b-a-c-h in seinem umfassenderen, christozentrisch ausgerichteten Sinn zu begreifen. Die beiden Kehrseiten – hie Glaubenszeugnis, hie kontrapunkttechnisches Vermächtnis – müssen von vornherein und schon sehr früh aufeinander zu entworfen gewesen sein; das tritt in immer wieder aufs neue frappierender Stimmigkeit zutage. Es lässt sich absehen, dass ein derart fundamentaler Umbruch seine Zeit braucht, akzeptiert zu werden und ins allgemeine Bewusstsein zu gelangen. Daran knüpft sich die Hoffnung auf einen veränderten Umgang mit Bachs letztem großen Tastenzyklus, der seit seinem Erscheinen Irrtümern und Missverständnissen ohnegleichen ausgesetzt war und bis heute jeder interpretatorischen Eigenmächtigkeit ausgeliefert ist. Mögen die hier vorgelegten Befunde dazu beitragen, die Kunst der Fuge in Haus, Kirche und Konzertsaal künftig annähernd so

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Vorbemerkung

zu verstehen, zu spielen und zu hören, wie Bach es sich seinerzeit gedacht hat.

Ich gebe nach der Theologie der Musik die nächste Stelle und die höchste Ehre. Martin Luther

Einführung

Die Kunst der Fuge ist erst ein Jahr nach Bachs Tod, im Herbst 1751, im Druck erschienen. Bach konnte den Notenstich noch weitgehend überwachen und sich am Schreiben der Druckvorlagen beteiligen. Trotzdem sind den Herausgebern bei der Endredaktion Fehler unterlaufen. Die wurden aber inzwischen im wesentlichen erkannt und berichtigt. Von dem fehlenden vierthemigen Schlussabschnitt der letzten Fuge abgesehen – man hängte dem Fragment das Choralvorspiel »Wenn wir in höchsten Nöten sein« (BWV 668) an –, ist das Werk vollständig überliefert. Es besteht aus vierzehn Fugen, von Bach mit »Contrapunctus« bezeichnet – bis auf die dreistimmigen Nr. 8 und 13 alle vierstimmig. Dazu kommt eine Gruppe von vier zweistimmigen Kanons. Diese sind nicht in die Nummerierung der Contrapuncte einbezogen und vor der Schlussfuge platziert. Alle Stücke basieren auf dem Grundthema:

Das kann mehr oder weniger verändert werden. Die Contrapuncte 1–7 enthalten ausschließlich das Hauptthema: in seiner Grundgestalt bzw. Umkehrung, z. T. rhythmisch und melodisch leicht verändert.

10

Einführung

In der zweiten Werkhälfte treten zum Grundthema auch neue Themen hinzu, entweder eines oder zwei. In der Schlussfuge sind es sogar drei neue Themen. Über die richtige Satzreihenfolge der Druckausgabe bestehen unter den Experten bis heute Meinungsverschiedenheiten. Das betrifft vor allem die Stücke ab Nr. 12. Alle Fugen sind in Partiturform notiert. Im 20. Jahrhundert hat das zu der irrigen Annahme einer von Bach beabsichtigten Ad-libitum-Besetzung geführt. Neben dem Originaldruck ist die auf den Beginn der 1740er Jahre zu datierende autographe Frühfassung – das sogenannte »Berliner Autograph«1 – überliefert. Diese enthält, abgesehen von später für den Druck nachkomponierten zwei Kanons, einer Fuge (dem Contrapunctus 4 der Druckfassung) und wenigen zusätzlichen Takten, die Stücke des Originaldrucks in einer abweichenden Reihenfolge, einige davon in anderem Taktmaß und mit kleineren Notenwerten. Seit jeher galten die forschenden Bemühungen um das Werk insbesondere den Fragen nach seinem entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Hintergrund, nach dem Verhältnis von autographer Fassung und Originaldruck, nach Bedeutung und Zweck – ob Lehrwerk oder Spielzyklus –, nach seiner letztgültigen Gestalt, sprich der Zugehörigkeit und Reihenfolge der Stücke, nach äußeren und inneren Ordnungsprinzipien, und das alles verbunden mit den gründlichsten satzanalytischen Überlegungen. Daran beteiligt war auch mein 1977 erschienenes Büchlein »Die wiederhergestellte Ordnung in Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge«.2 In 1 Deutsche Staatsbibliothek Berlin, Mus. ms. autogr. Bach, P 200. Zur derzeitigen Quellenlage des Werks siehe Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel, Basel. Serie VIII, Band 2; Kritischer Bericht: Klaus Hofmann, 1996. 2 W. Wiemer, Die wiederhergestellte Ordnung in Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Untersuchungen am Originaldruck, Wiesbaden 1977.

Einführung11

der Zwischenzeit ist erneut vieles zu dem Gegenstand veröffentlicht worden, darunter Zustimmendes und Kritisches auch zu meinem damaligen Beitrag. Wenn ich mich nun nach vierzig Jahren wieder zu Wort melde, dann nicht, um die vor zwei Jahrzehnten angemahnte Replik3 auf die kritischen Einwände zu liefern. Meine Studie beschränkt sich darauf, einen grundlegend neuen, noch nirgends erwogenen Weg zum Verständnis der Kunst der Fuge vorzustellen. Dabei werden sich allerdings einige der immer noch strittigen Fragen von selbst erledigen.

3 Klaus Hofmann, Zur Publikation der Kunst der Fuge in der Neuen BachAusgabe. In: Die Neue Bach-Ausgabe auf dem Wege zu ihrem Abschluß. Vier Referate, gehalten am 9. November 1996 in Göttingen, hrsg. von Martin Staehelin, Kassel u. Göttingen 2000, S. 21–27.

Zum d-a-f-d

Vorausgeschickt sei die von Hans Heinrich Eggebrecht geäußerte Überzeugung, »daß in dieser instrumentalmusikalischen Summa von Bachs kontrapunktischem Vermögen noch eine andere Dimension beschlossen liegt als die rein kompositorische«.4 Von dieser anderen, zusätzlichen Dimension soll im folgenden die Rede sein.5 Es ist unstrittig und von den Exegeten auch nie anders verstanden worden: Mit dem b-a-c-h in der Kunst der Fuge ist eine Person gemeint – eben Johann Sebastian Bach, der Schöpfer des Werks.

Bach selbst war sich der wunderlichen Fügung bewusst, den Namen ausgerechnet der Bach-Sippe in Tonbuchstaben ausdrücken und zum Klingen bringen zu können.6 Er hat das b-a-c-h dem Grundthema des Werks als gleichsam zweites Thema beigesellt. Nicht lediglich als abschließende Signatur in der Schlussfuge, wie es in der Regel aufgefasst wird: das b-a-c-h erscheint als einziges der neuen Themen gleich dreimal als Fugenthema: 4 Hans Heinrich Eggebrecht, Bachs Kunst der Fuge. Erscheinung und Deutung, München 1984 (»Zu diesem Buch«). 5 Anlässlich der Eröffnung der Sonderausstellung »B + A + C + H = 14 – Bach und die Zahlen« im Bachhaus Eisenach habe ich am 21. März 2014 die wichtigsten Neuerkenntnisse vorgetragen. 6 Vgl. dazu Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon, Leipzig 1732, S. 64. Faksimile-Nachdruck, hrsg. von Richard Schaal, Kassel 1953.

Zum d-a-f-d13

In Contrapunctus 8 noch verborgen in umgekehrter bzw. krebsgängiger, transponierter Gestalt, in Contrapunctus 11 deutlicher erkennbar, wenn auch wiederum, wie zuvor, durch die Tonrepetitionen verfremdet, und schließlich in Contrapunctus 14, der unvollständigen Schlussfuge, offen und unverstellt, in eine Kadenzklausel mündend. Begreiflich daher meine Überlegung: Wenn das b-a-c-h-Thema für eine bestimmte Person steht, könnte dann mit dem Grundthema nicht gleichfalls eine Person gemeint sein? Mein Anfangsverdacht verstärkte sich zusehends: »stile antico«, »die Majestät der alten Musik wiederherstellen« – Begriffe, die im Zusammenhang mit Bachs Spätstil, insbesondere der Kunst der Fuge, eine besondere Rolle spielen –, und schließlich, wie sich zeigen wird, die Gestalt des Themenkopfs: passte da nicht alles? Der Gesuchte: konnte es jemand anderes sein als der alttestamentliche König David? König David, das ist der Herrscher des Volkes Israel, der Harfenspieler, der Dichter, Komponist und Sänger der Psalmen, der Begründer der Tempelmusik, ja (David vor Saul) der erste »Musiktherapeut«, und später dann: König David, der Schutzpatron der Meistersinger und vieler Musikerzünfte. Einige Anhaltspunkte sollen die Vermutung erhärten. 1. Die ersten vier Töne des Hauptthemas entsprechen den vier vertonbaren Buchstaben des Namens;

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Zum d-a-f-d

dabei wird das v zu f – ein legitimes Verfahren, das z. B. Carl Philipp Emanuel Bach in seiner »Fughetta auf den Namen C. F. E. Bach«7 angewendet hat, indem er das »Ph« zu »F« machte. Nebenbei sei auf eine bemerkenswerte Duplizität verwiesen. Robert Schumann, ein Liebhaber von tonsymbolischen Anspielungen (»abegg«, »asch«), hat im ersten Satz seiner 2. Violin­sonate op.  121 in d-Moll den Nachnamen des Widmungsträgers, des befreundeten Konzertmeisters des Leipziger Gewandhausorchesters, Ferdinand David, mit den Tönen d-a-f-d thematisch verarbeitet. Zu dem dafd-Themenkopf kommen weitere Gesichtspunkte hinzu. 2. Bis in die Bachzeit war der harfespielende David ein beliebtes Accessoire an Orgelprospekten. Bach begegnete ihm als Organist, Orgelprüfer und -sachverständiger sein Leben lang (z. B. in Hamburg, Lübeck). Und natürlich auf Schritt und Tritt in Kirchenräumen, Andachts- und Gesangbüchern. 3. Die aus Bachs Nachlass stammende Calov-Bibel belegt mit den eigenhändigen Eintragungen die Auffassung Bachs von seinem Kantorat als eines auf König David zurückgehenden Amts. Dazu später mehr. 4. Die Geschichte von Davids Berufung als Harfenspieler an König Sauls Hof (1. Samuel, Kap. 16) wird Bach auf eigene Weise verstanden haben. So war ihm bewusst, dass David Hofmusiker gewesen ist und dass er ihm auch in dieses Amt nachgefolgt war. Ein Grund mehr für ihn, über den Brauch der Zeit hinaus Wert auf den »Hochfürstlichen Capellmeister« zu legen und den Titel seinem Namen voranzustellen, wenn es ihm zweckmäßig erschien. Anlass zu der bissigen Bemerkung eines Leipziger Ratsmitglieds in der Sitzung kurz nach Bachs Tod: »Die Schule brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister«.8 7 Siehe Bach-Jahrbuch 2010, S. 271. 8 Bach-Dokumente II, hrsg. von Werner Neumann und Hans-Joachim ­Schulze, Kassel/Leipzig 1969, S. 479: Protokoll vom 7.8.1750.

Zum d-a-f-d15

5. Könnte Bach gar mit Krone und spiegelbildlich verschlungenem JSB in seinem Siegelring – den er ja wohl ständig am Finger trug – insgeheim auf sein »Dienstverhältnis« bei dem alttestamentlichen Lehnsherrn abgezielt haben?

6. Nach dem hebräischen Alphabet ergibt »David« – nur die drei Konsonanten werden gezählt – die Zahl 14: (Alef 1, Bet 2, Gimel 3, Daled 4, Het 5, Waw 6) 4 + 6 + 4 = DAVID. Man kann davon ausgehen, dass Bach die Übereinstimmung seiner eigenen Namenszahl (BACH = 2 + 1 + 3 + 8 = 14) mit der Davids frühzeitig bekannt war. 7. Von Bachs regelrechter Identifizierung mit König David zeugt auch der Name seines Erstgeborenen, in den er bekanntermaßen die größten Hoffnungen setzte. Bach soll über Friedemann gesagt haben: »Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.«9 Wohl in Anlehnung an sein alttestamentliches Idol, das seinem Sohn und Thronfolger den Namen »Salomo« gegeben hatte – verdeutscht »Der Friedfertige« oder »Mann des Friedens« –, nannte er seinen Ältesten »Friedemann«. 9 Matth. 3,17; zitiert nach BACH & FRIENDS. 82 Kupferstiche zur Bach-Biographie, hrsg. von Jörg Hansen, Eisenach 2013, S. 12.

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Zum d-a-f-d

In seinem Buch »Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge« stellt Peter Schleuning im Zusammenhang mit einer ihm fragwürdig erscheinenden Ansicht fest: »Daß viele mit den zitierten Äußerungen Probleme haben oder sie belächeln oder abtun werden, ist vorauszusehen« und fährt dann fort: »Viel eher belächelt zu werden verdient aber die Tatsache, daß es immer noch nicht gelungen ist und auch mir nicht gelingen wird, die inhaltliche und formale Absicht der ›Kunst der Fuge‹ zu ermitteln. Deshalb ist es unbedingt notwendig, auch Erklärungsversuche, die nicht naheliegend erscheinen, zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Denn es ist möglich, daß die inhaltliche Absicht, die Bach mit dem Werk verfolgte – sollte sie einmal entdeckt werden –, uns nicht minder fernliegend erscheint«.10 Die Befunde, alles andere als fernliegend, sind zu gravierend, als dass man sie auf sich beruhen lassen könnte, und die Fährte zu vielversprechend, um ihr nicht weiter nachzugehen. Wenn im folgenden vorzugsweise Hans Heinrich Eggebrecht und Peter Schleuning zu Wort kommen, dann deshalb, weil sie am nachdrücklichsten die Suche nach dem »hinter der Erscheinung Verborgenen« (Eggebrecht)11 aufgenommen und sich der Frage gestellt haben, ob nicht »außermusikalische Aspekte für die Planung und Durchführung der Arbeiten bestimmend gewesen sein könnten« (Schleuning).12 Hierfür gleich ein Beispiel. Bach hat den Contrapunctus 6 – als einzigen – mit einer Bezeichnung versehen, die über das rein Musikalische hinausweist: »in Stylo Francese«. Das bedeutet: »In der Art einer französischen Ouvertüre zu spielen«. Damit betont er zugleich die Zugehörigkeit des Stücks zur höfischen Welt. Aus diesem Grund und weil Bach seine beiden späten Instrumentalzyklen, die Goldberg-Variationen und das Musikalische Opfer, für hoch10 P. Schleuning, Johann Sebastian Bachs ›Kunst der Fuge‹. Ideologien – Entstehung – Analyse, Kassel 1993, S. 119. 11 Eggebrecht, wie Anm. 4. 12 Schleuning, wie Anm. 10, S. 83.

Zum d-a-f-d17

gestellte Persönlichkeiten (Graf Keyserlingk, König Friedrich von Preußen) komponiert hat, schließt Schleuning auch bei der Kunst der Fuge auf eine »Widmungsabsicht« und sucht den möglichen Widmungsträger unter den »hohen Beamten des Potsdamer oder Dresdner Hofes sowie deren Herrschern«.13 Und wenn nun der von Bach so hoch verehrte alttestamentliche, nicht Flöte, sondern die Harfe spielende Monarch der ungenannte Widmungsträger hat sein sollen? Dazu passend die Zunahme der Wertgrößen von Contrapunctus 5 bis 7 und die Prachtentfaltung der Schlüsse (Cp. 5: sechsstimmig; Cp. 6: siebenstimmig (!); Cp. 7: fünfstimmig). Das erinnert an die lateinischen Beischriften Bachs am Rand zweier Kanons des Musikalischen Opfers: bezogen auf den Vergrößerungskanon in Gegenbewegung, übersetzt »Mit wachsenden Notenwerten wachse des Königs Glück« und, bezogen auf den Modulationskanon: »Wie die ansteigende Modulation, so steige des Königs Ruhm« (Abb. 1).14 Der Schlüssel zur Kunst der Fuge, zu ihrem außermusikalischen Gehalt, dieser Schlüssel, genauer das Schlüsselwort: es heißt »König David«. Die Tür aufzuschließen, den dahinter befindlichen, bis heute unbetretenen Gang in einem ersten Anlauf zu erkunden (auch auf die Gefahr, »belächelt zu werden«), das ist das Anliegen dieser Arbeit.

13 Ebenda, S. 224. 14 Bach-Dokumente I, hrsg. von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Kassel/Leipzig 1963, S. 243.

Zum b-a-c-h

Man mag sich wundern, dass Bach seinen Namen derart exponiert eingebunden hat – wie schon gesagt, vom Beginn der zweiten Werkhälfte an als quasi zweites Hauptthema. Egozentrik? Selbstbespiegelung? Nach allem, was wir von Bach wissen, ist das auszuschließen. Er war durchaus selbstbewusst, vor allem war er sich seines überragenden Könnens bewusst. Doch Carl Philipp Emanuel hat später geschrieben, sein Vater habe »seine Übermacht niemand empfinden [lassen]. Im Gegentheil war er ungemein bescheiden, tolerant und sehr höflich gegen andere Tonkünstler.«15 Aber wie lässt sich dann die prononcierte Namensnennung verstehen? Zum einen bedeutet die Tonfolge nun einmal »Bach«, steht somit für den Namen. Zum anderen aber: die Viertonfolge bildet ein liegendes Kreuz,

sie gehört zu den sogenannten Kreuzesmotiven, für deren symbolische Verwendung bei Bach es ungezählte Beispiele gibt. Demnach lässt sich das b-a-c-h auch als Symbol für den Gekreuzigten auffassen. Und das nun ist der springende Punkt: der Person König Davids in Gestalt des Grundthemas stehen mit der b-a-c-h-Tonfolge zwei Personen i n e i n e m gegenüber: Bach u n d der Gekreuzigte. Wenn im weiteren Verlauf von der b-a-c-h-Tonfolge 15 Bach-Dokumente III, hrsg. von Hans-Joachim Schulze, Kassel/Leipzig 1972, S. 443.

Zum b-a-c-h19

als Kreuzes- bzw. Christussymbol gesprochen wird, dann stets in dem Sinne, dass Bach sich daran gekoppelt weiß als der, dem das Erlösungswerk des Gekreuzigten gilt. Und merkwürdig genug: sie beide sind, jeder auf seine Weise, »Sohn Davids«!

Zur Davidssohnschaft

»Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein!« schreit der Blinde von Jericho in der von den Evangelisten Markus und Lukas überlieferten Geschichte. Das auch sonst in den neutestamentlichen Schriften gängige Attribut »Davids Sohn« findet sich erstmals zu Beginn des Matthäus-Evangeliums: »Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams«. Nach der Aufzählung aller Namen der Geschlechterfolge von Abraham über König David bis zur Geburt Jesu heißt es: »Alle Glieder von Abraham bis David sind vierzehn Glieder. Von David bis auf die babylonische Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis auf Christus sind vierzehn Glieder.« Wie oft wird Bach mit geheimer Genugtuung die genealogische Abfolge von Abraham über König David bis hin zu Jesus sich vergegenwärtigt haben. Fraglos waren ihm dabei die dreimal ausdrücklich hervorgehobenen »vierzehn Glieder« ein bedeutungsvolles Omen. Denn das rührt bereits an die nun auch für Bach zutreffende und ihm selbst gewiss frühzeitig bewusste eigene Davidssohnschaft. Das wohl eindrücklichste Zeugnis für Bachs Selbstverständnis als »Sohn Davids« sind die beiden von insgesamt sieben eigenhändigen Randbemerkungen in seiner 1733 antiquarisch erworbenen sogenannten Calov-Bibel (Abb. 2).16 Die Stelle zu Beginn von Kapitel 25 des 1. Buchs der Chronik 16 Christoph Trautmann, »Calovii Schrifften. 3. Bände« aus Johann Sebastian Bachs Nachlaß und ihre Bedeutung für das Bild des lutherischen Kantors Bach. In: Musik und Kirche, Kassel 1969, Nr. 39, S. 145–160.

Zur Davidssohnschaft21

Und David samt den Feldhauptleuten sonderten ab zu Ämtern die Kinder Asaphs, Hemans und Jedithuns, die Propheten mit Harfen, Psaltern und Zimbeln; und sie wurden gezählt zum Werk nach ihrem Amt.

kommentiert Bach so: NB. Dieses Capitel ist das wahre Fundament aller Gott gefälligen Kirchen Music.

Nachgerade überschwenglich dann, was er neben Calovs Erläuterung zum 1. Buch der Chronik, Kap. 28, Vers 21 anmerkt, wo von der durch David verfügten »Ordnung der Priester und Leviten zu allen Aemptern im Hause Gottes« die Rede ist: NB. Ein herrlicher Beweiß, daß neben andern Anstalten des Gottesdienstes, besonders auch die Musica von Gottes Geist durch David mit angeordnet worden. (Abb. 3)

Mit solchen Worten versichert sich Bach nicht nur des allerhöchsten Beistands gegenüber den ständigen zermürbenden Eingriffen in seine Amtsbefugnisse von Seiten der Leipziger Vorgesetzten; er findet sich und seine musikbeflissene Sippe, die »Bache«, als Nachfahren König Davids, des Urvaters der Musik, »herrlich« bestätigt. Man muss dabei nicht so weit gehen, den auf den Titelblättern der drei Bände rechts unten jeweils kalligraphisch verschlungenen Namenszug des stolzen Besitzers mit der ausdrücklich vermerkten Jahreszahl 1733 (Quersumme = 14)

als versteckten Hinweis auf das Bach-Davidsche Tonbuchstabensymbol zu verstehen. Dass aber obendrein das »J S Bach« mit den in sich aufgetürmten Initialen zahlenalphabetisch bekanntlich »41«

22

Zur Davidssohnschaft

(= »14« gespiegelt) ergibt, mag nun vielleicht doch weitere Spekulationen beflügeln. Vor diesem Hintergrund verdient ein kleines Bildwerk besonderes Interesse. Es ist die Vignette, die Bach im Textbuch der Uraufführung des Weihnachtsoratoriums (Abb. 4)17 – 1734, gerade ein Jahr nach dem Erwerb der Calov-Bibel und etwa zeitgleich mit den enthusiasmierten Beischriften – über den Worten des Eingangschores anbringen ließ:

In dem beidseitig reich verzierten Oval zeigt der Holzschnitt den harfespielenden König David. Auch andere Darstellungen hätten gepasst: etwa musizierende Engel, die Krippe, Maria mit dem Kind. Aber es muss Bach ein ureigenstes Anliegen gewesen sein, seinem Oratorium gerade dieses Motiv voranzustellen – immerhin eine aufwendige und kostensteigernde Zutat! Natürlich korrespondiert das Bildchen bestens sowohl mit dem ersten Evangelisten-Rezitativ »… in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißet Bethlehem, darum, daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war« wie auch mit der Apostrophierung des Kindes als »Held aus Davids Stamm« (Textdichter unbekannt – der Komponist selbst?) im anschließenden Accompagnato.

17 Vgl. Bach-Dokumente II, S. 255.

Zur Davidssohnschaft23

Doch wirkt dieser musizierende David in dem ovalen Schild – »Schutzschild« – nicht vielmehr wie eine geheime Demonstration gegenüber den Leipziger Ratsherren, von denen sicherlich einige in der Aufführung saßen und das Programmbuch in der Hand hielten? Ist doch in dem Holzschnitt der »herrliche Beweiß«, dessen Bach sich im stillen Kämmerlein mit Genugtuung vergewissert hatte, hier öffentlich ins Bild gesetzt. Wer hätte gedacht, dass eines Tages unversehens das Oratorium auf die Geburt des Kindes »von dem Geschlechte Davids« zu einem sichtbaren »jauchzend-frohlockenden« »Beweiß« auch für den Leipziger »Sohn Davids« zählen würde? Bach selbst scheint das jedenfalls nicht anders gesehen und schon damals (1734!) die Konzeption des großen Fugenzyklus mit dem David-Thema im Kern vor Augen gehabt zu haben. In den Kontext und Zeitrahmen fügt sich Bachs Beschäftigung mit dem Stammbaum seiner Sippe: just 1735 legt er die vom 16. Jahrhundert bis zur jüngsten Generation reichende Genealogie »Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie«18 an – man möchte sagen: »darum, daß er von dem Hause und Geschlechte der Bache war« –, und Ende der 30er Jahre übernimmt und erweitert er das »Altbachische Archiv«, eine umfangreiche Sammlung von Kompositionen seiner Vorfahren. Zu alledem kommt ein Quellenfund, den Peter Wollny im Jahr 2002 vorgestellt hat.19 Es handelt sich um drei verschollen gewesene Manuskriptblätter mit Kompositionsentwürfen Friedemann Bachs; und das in der Tat Sensationelle: mehr als zwei Seiten enthalten, eng beschrieben, skizzenhafte Kontrapunktstudien, im Wechsel von Johann Sebastian und Friedemann Bachs Hand notiert, 18 Bach-Dokumente I, Nr. 184. 19 Peter Wollny, Ein Quellenfund in Kiew. Unbekannte Kontrapunktstudien von Johann Sebastian und Friedemann Bach. In: Konferenzbericht »Bach in Leipzig – Bach und Leipzig«, Leipziger Beiträge zur Bachforschung; Hildesheim 2002, S. 275–287.

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Zur Davidssohnschaft

darunter vereinzelt Übungen, die sowohl das viertönige Kopfmotiv des Kunst-der-Fuge-Themas

als auch verschiedene auf das späte Werk verweisende motivische Partikel behandeln. Aufgrund ausgiebiger Schriftanalysen werden als Zeitraum des fachkollegialen Austauschs zwischen Vater und Sohn die Jahre »1736 bis 1738 in Betracht gezogen, wobei auch die jeweils angrenzenden Jahre nicht völlig auszuschließen sind.« Und Wollny resümiert: »Die in Kiew neu aufgefundenen Skizzen nun belegen Bachs zumindest gedankliche Beschäftigung mit dem Zyklus ab etwa der Mitte der 1730er Jahre.« Das zeitliche Zusammentreffen vom Erwerb der Calov-Bibel (1733) mit der König-David-Vignette (1734), dem Verfassen der Genealogie (1735) und den Kontrapunktstudien muss nun erst recht auffallen. Und man ist versucht, sich vorzustellen, wie der Vater dem Ältesten, seinem »Salomo«, die wahre Bedeutung des d-a-f-d-Motivs bzw. -Themenkopfs spätestens anlässlich jener Zusammenkunft eröffnet und dabei von der Idee seines großen Zyklus der Fugen-Kunst gesprochen hat. Was schließlich die »gedankliche Beschäftigung« betrifft, so ist, dafür sprechen gute Gründe, wohl um vieles weiter zurückzugehen. Darüber geben zwei interessante biographische Details Auskunft. 1. In Martin Petzolds Studie »Bachs Prüfung vor dem Kurfürstlichen Konsistorium zu Leipzig«20 findet sich ein bemerkenswerter Hinweis auf die Rolle, die insbesondere die Kenntnis der »Bedeutung der Davidssohnschaft« als »wichtiges Thema der Christologie« 20 Bach-Jahrbuch 1998, S. 27.

Zur Davidssohnschaft25

bei den theologischen Fragen eines solchen Berufungsverfahrens spielten. Bei dem Thema, das war 1723, müsste der Kandidat Bach zur Großform aufgelaufen sein! Das wirft auch ein ganz neues Licht auf den Umstand, dass Bach bei seiner Bewerbung um das Leipziger Thomaskantorat die Kantate »Du wahrer Gott und Davids Sohn« im Gepäck hatte und auch aufführte. Davon wird später nochmals zu reden sein (S. 100 f.). 2. Aus Petzolds Untersuchung »Zum Anteil der Theologie bei der Schulausbildung Bachs«21 erfahren wir, dass die Vermittlung des gesamten Lehrstoffs der Ohrdrufer Schule, die der 10jährige Johann Sebastian ab 1695 besuchte, auf dem Fundament »Ut probus & doctus reddar«, »Dass ich fromm und gelehrt werde« – man beachte die Reihenfolge – beruhte. »Frömmigkeit und Gelehrsamkeit (so Petzold) geben die Sinnmitte eines Lebens an, das ganz auf Gott und dabei auch ganz auf die Besorgung der Sachenwelt gerichtet sein soll und will.«22 Was ist die Kunst der Fuge nun, wie sich immer mehr herausstellt, anderes als die künstlerisch-wissenschaftliche u n d theologisch-glaubensmäßige Hinterlassenschaft dieses vom Komponisten zeitlebens verwirklichten frühkindlich geprägten Lebensentwurfs? Der Werkanteil »doctus« ist längst bis ins Letzte erforscht und beschrieben worden. Wenn Christoph Wolff zur Kunst der Fuge feststellt: »Durch Aufdecken der materiellen Substanz des musikalischen Themas, durch deren systematische Ausschöpfung, durch Anwendung traditioneller Kompositionstechniken und Einbeziehung alter und neuer Stilelemente schuf Bach ein autonomes Kunstwerk«23, und wenn er an anderer Stelle schreibt, die der h-Moll-Messe innewohnende »Durchdringung von theologischer Gedankenwelt und musikalischer Materie« enthalte »eine zusätzliche, der Instrumental­musik 21 Bach-Jahrbuch 1985, S. 7–42. 22 Ebenda S. 30. 23 Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main 2005, S. 476.

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Zur Davidssohnschaft

[gemeint ist die Kunst der Fuge] fehlende Dimension«24, so ist das beide Male nur die halbe Wahrheit. Die dem großen instrumentalen Fugenzyklus vermeintlich fehlende Dimension ist nichts anderes als das »probus«. »Probus«: das ist die von Schleuning so vergeblich gesuchte »inhaltliche Absicht, die Bach mit dem Werk verfolgte«. Anders gesagt: die Kehrseite der Medaille ist »probus«. Freilich: Das gründlichste Wissen um die beiden Seiten des Werks vermag das Wesen dieser Musik – wie aller großen Kunst –, ihre Seele, das, was beim Hören so unbegreiflich ergreift, nicht zu erklären. Wie es ein Aphorismus sagt: »Jede Medaille hat zwei Seiten – und den Rand, auf dem sie rollt.«25 Mit König David und den beiden »Davidssöhnen« sind die Bezugsgrößen vorgegeben, aus denen die dem Werk zugrundeliegende Idee sich unschwer ableiten lässt. Der Brückenschlag vom Alten zum Neuen Testament hat seit jeher in der Person König Davids ihren stärksten Ausdruck gefunden, zum einen durch die genealogische Verbindung und die auf den »Sohn Davids« projizierten messianischen Heilserwartungen der Urgemeinde, zum anderen später durch die gottesdienstliche Bedeutung des Psalmisten David in Wort und Ton. Schon die Kirchenväter der frühchristlichen Zeit lehrten, durch den Mund Davids rede der präexistente Christus26. Und Augustinus schrieb, dass »David das Vorausbild Christi war: David, der Goliath erschlagen hat, ist Christus, der den Teufel getötet hat.« Der Stab des jungen Hirten, so fährt er fort, versinnbildliche das siegreiche Kreuz Christi.27

24 Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Messe in h-Moll, Kassel 2009, S. 127. 25 Mdl. überliefert. 26 Etwa Augustinus (354–430) und Cassiodor (um 485–nach 580). 27 Gérard-Henry Baudry, Handbuch der frühchristlichen Ikonographie, Freiburg 2010, S. 169.

Zur Davidssohnschaft27

Für Bach kam die durch Tonbuchstaben und gemeinsame Namenssymbolzahl sowie durch Berufsstand und lutherisch geprägtes Glaubensverständnis bedingte Affinität noch dazu. In offensichtlicher Analogie zu Clavierübung 3. Teil und zum Credo der h-Moll-Messe sind es genau diese Glaubensinhalte, die Planung, Komposition und Gliederung des Ganzen entscheidend mitbestimmt haben. Es geht um die im Neuen Testament erfüllten alttestamentlichen Heilserwartungen: Menschwerdung/Geburt, Taufe, Buße, Kreuzigung, Tod und Auferstehung, Offenbarung. Die erste Werkhälfte (Contrapunctus 1–7, ausschließlich mit dem »David-Thema«) entspricht dem Alten Testament, die zweite (Contrapunctus 8–14, zusätzlich mit neuen Themen) den heilsgeschichtlichen Wegmarken des Neuen Testaments, mit Contrapunctus 11 als formalem und inhaltlichem Zentrum. Beziehungsvoll vor der Schlussfuge eingeschoben die Gruppe der vier Kanons. Sinnträger sind die Themen der Stücke: Bach hat ihre Physiognomie so entworfen, dass sie sowohl den kontrapunkttechnischen Erfordernissen als auch dem jeweiligen außermusikalischen Inhalt genügt. Das sieht in einem groben Aufriss folgendermaßen aus: Altes Testament: Contrapunctus 1–7 (Grundthema) Neues Testament: Contrapunctus 8–14 (mit zusätzlich neuen Themen), dazu die 4 Kanons Cp. 8: »et incarnatus est« (Menschwerdung/Geburt)

Cp. 9 u. 10: Taufe und Buße (»Szene am Jordan«)

Cp. 11: »crucifixus« (Kreuzigung/Tod)

Cp. 121,2: Cp. 131,2: Kanon 1–4 »et sepultus est« »et resurrexit« (Kanonische Schriften: (Grablegung) (Auferstehung) Die 4 Evangelisten) Cp. 14: »et iterum venturus est« (Offenbarung des Johannes)

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Zur Davidssohnschaft

Und nicht zu vergessen Bach, der sich und sein Haus namentlich in das Erlösungswerk eingeschrieben hat: Bach, der berichtet, der schildert und ausmalt, der mitleidet, der bezeugt und der bekennt. Die dem Werk innewohnende zusätzliche Dimension erweist sich, bei aller verbleibenden Verrätselung, als eine augen- und ohrenfällige, vom ersten bis zum letzten Ton ineinandergreifende und in sich stimmige, ungemein bildhafte »Klangrede« – als eine der Lutherschen Theologia crucis verpflichtete Predigt in Tönen: Lesung, Exegese, Verkündigung und Bekenntnis in einem. Was es im einzelnen damit auf sich hat, davon soll in den folgenden Kapiteln die Rede sein. Bei der zweiten Werkhälfte werde ich mich an die chronologische Ausrichtung der Stationen halten, auch wenn innere Gründe eine Zusammenfassung von Contrapunctus 8, 11 und 14 nahelegen.

Contrapunctus 1–7 (König David)

Es ist viel über die Gestalt des Grundthemas nachgedacht und geschrieben worden. Dabei wurden seine Eignung, seine Entwicklungsmöglichkeiten und seine Tragfähigkeit für die überdimensionale zyklische Architektur in allen Belangen erforscht und beleuchtet. Erich Bergel sieht den Schlüssel für das Verständnis des Ganzen in dem Gegensatz von diatonischem Grundthema und chromatischer b-a-c-h-Tonfolge und gebraucht für diesen dem Werk zugrundeliegenden Dualismus den Begriff »Bipolarität«.28 Eggebrecht, ein Stück darüber hinausgehend, begreift den im Grundthema und in seiner Umkehrung exponierten d-Moll-Dreiklang als das in sich ruhende »(göttliche) ›Sein‹«, im Gegensatz zum »(menschlichen) ›Dasein‹« des BACH, dessen chromatische Struktur er schon in der halbtönigen Wendung cis-d des Grundthemas und dem b-a seiner Umkehrungsform angelegt sieht.29 Das ist alles richtig und war Bach zweifellos bewusst. Um so mehr muss es ihm stets aufs neue als Fügung erschienen sein, dass mit dem d-a-f-d und dem b-a-c-h, beide weniger »bipolar« als vielmehr komplementär aufeinander bezogen, der Grundstein, der Eckstein und zuletzt der Schlußstein für den gewaltigen Bau gleichsam von oben in die Notenlinien diktiert waren. »… gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen« hatte Bach dereinst für seine Schüler formuliert. Das d-a-f-d und das b-a-c-h, so wird es Bach gedeutet haben: nicht 28 Erich Bergel, Johann Sebastian Bach – Die Kunst der Fuge. Ihre geistige Grundlage im Zeichen der thematischen Bipolarität, Bonn 1980, S. 6. 29 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 15/16 und S. 52.

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Contrapunctus 1–7 (König David)

von ihm erfunden, sondern vorgefunden – nun wahrlich göttliche »inventiones«! Was ihm blieb, war »auch selbige wohl durchzuführen«. Aus der solcherart in d-Moll vorgegebenen bipolar-komplementären Beschaffenheit der beiden Themen erklärt sich, warum schon in den Contrapuncten 1–7 das b-a-c-h mehr oder weniger gelenkt – sei es offen, sei es als Partikel – in Erscheinung tritt. Erich Bergel hat den ersten seiner zwei Bände über das Werk fast ausschließlich der »Systematisierung des gesamten chromatischen Tonmaterials aus Bachs Kunst der Fuge« gewidmet.30 Eine respektable wie irrwitzige Sisyphusarbeit, die für Contrapunctus 1–14, dazu die Kanons, alle Möglichkeiten, »deren Tonmaterial sich an einer chromatischen Folge von wenigstens vier Tönen zusammensetzt und in irgendeiner Weise auf B-A-C-H Bezug nimmt«,31 erfasst und spezifiziert. Uns genügt festzustellen, dass das b-a-c-h variiert, transponiert und fragmentiert das polyphone Gewebe aller Sätze des Werks durchzieht. Auf die »Kehrseite der Medaille« übertragen: Die wechselseitige Durchdringung von alt- und neutestamentlicher Sphäre spiegelt sich in den Einschlüssen von »Kreuzessplittern« der b-a-ch-Tonfolge in Contrapunctus 1–7, und umgekehrt in der Allgegenwart des d-a-f-d-Themas samt den daraus abgeleiteten Tonfiguren in Contrapunctus 8–14 und den Kanons; damit korrespondiert die durchgängige Verquickung der alten kontrapunktischen Techniken und Formmodelle mit der souveränen Handhabung der chromatischen Totale des tonalen Systems. Musikalisch-theologische Genealogie, wenn man so will. Von Genen und DNA wusste man damals nichts, aber was es mit »Blutsbanden« auf sich hatte, wer konnte da besser mitreden als die Sippe der Bache, an der Spitze ihr Nestor und Verfasser der Familien-Genealogie.

30 Bergel, wie Anm. 28, S. 21. 31 Ebenda.

Contrapunctus 1–7 (König David)31

Soweit es das Außermusikalische betrifft, lässt sich in der ersten Werkhälfte vorerst kaum Ungewöhnliches erkennen. Das liegt in der Natur der Sache, denn die sieben Contrapuncte enthalten ausschließlich das Hauptthema: in seiner Grundgestalt, in der Umkehrung, in verkleinerter und vergrößerter sowie in rhythmisch oder melodisch leicht veränderter Form. Zum Sinngehalt des »David-Themas« wurde das Wesentliche bereits gesagt. Daher sind für sein Auftreten in den vier einfachen Fugen und den drei Gegenfugen nur wenige ergänzende Beobachtungen beizubringen. Wie eingangs gezeigt wurde, spricht einiges dafür, Bach habe die Gruppe der drei Gegenfugen, darin zentral platziert Contrapunctus 6 mit der herrscherlich-königlichen Attitüde »in Stylo Francese«, dem gekrönten David zugedacht. Das lässt die Frage aufkommen, ob dann die vorausgehenden vier einfachen Fugen auf den jugendlichen David bezogen sein könnten, den Hirtenjungen, der den Riesen Goliath mit der Steinschleuder besiegte und den schwermütigen König Saul mit seinem Harfenspiel besänftigte. Von hirtenmäßigem Siziliano hingegen keine Spur, ebensowenig vom »Arpeggio« des jugendlichen Hofmusikus und gar vom Kampf mit dem Riesen Goliath. Oder doch? Apropos »Hirtenjunge«: Dazu muss man wissen, dass Bach in Contrapunctus 2 die Punktierungen und Sechzehntelfähnchen erst nachträglich mit einiger Mühe in die eng geschriebene Partitur des Autographs eingepasst hat.32 Das eigentlich Bemerkenswerte: im Druck hat er die punktierten Viertongruppen mit Bögen versehen

32 W. Wiemer, Eine unbekannte Frühfassung des Contrapunctus 2 im Autograph der Kunst der Fuge – mit einigen Anmerkungen zur Großform des Werks. In: Die Musikforschung, Jg. 34 (1981), S. 413–422.

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Contrapunctus 1–7 (König David)

und damit gefordert, die Fuge auf keinen Fall in französischer, d. h. überpunktierter Manier auszuführen, sondern die Töne gebunden zu spielen, genau ihrem Wert nach, vielleicht sogar »inegal« triolisch. Also doch in Richtung »Hirtenmusik«? Aber Harfe und Steinschleuder? Wenn da nicht die beiden von Johann Kuhnau in seinem Cembalowerk Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien in 6 Sonaten33 vertonten David-Geschichten wären, auf die Bach angespielt haben könnte: Der Streit zwischen David und Goliath und Der von David vermittelst der Music curirte Saul. Bach kannte die berühmte Programmmusik seines nachmaligen Leipziger Amtsvorgängers seit ihrem Erscheinen (1700) und hatte sich zwei Jahre später selbst in dieser Gattung versucht.34 Sollte man die chromatische Eintrübung in Contrapunctus 3 und die terzenselige Aufhellung in den Zwischenspielen der vierten Fuge mit den beschwichtigenden Tongesten der fallenden Dreiachtel-Einwürfe

nicht als Erinnerung an das Kuhnausche Vorbild der therapeutischen Wirkung von Davids Harfenspiel verstehen können? Mit den affektbetonten Terzfall-Sequenzen könnte der Komponist freilich auch bezweckt haben, zuletzt noch das im Grundthema enthaltene Intervall der Terz gesondert vorzuführen, nachdem zuvor in Contrapunctus 1 und 2 Quinte und Quart, und in Contrapunctus 3 große und kleine Sekund zur Geltung kamen. Dabei brauchte der eine den anderen Aspekt nicht auszuschlie33 Fotomechanischer Nachdruck der Originalausgaben Leipzig 1700 und 1710, hrsg. von Wolfgang Reich, Leipzig 1973. 34 Capriccio sopra la lontananza de il fratro dilettissimo, BWV 992, wohl 1702 (vgl. Wolff, wie Anm. 23, S. 83).

Contrapunctus 1–7 (König David)33

ßen. Im übrigen könnte beides gleichermaßen der Anlass gewesen sein, die Fuge für die Druckausgabe nachzukomponieren. Sicherlich spielte dabei die Absicht mit, für die beiden Werkhälften auf je sieben und insgesamt auf vierzehn Contrapuncte zu kommen. Doch zur anderen Geschichte. Wäre mit ihr nicht eine Erklärung für die beiden im Werkganzen singulären, einer musikalischen Notwendigkeit entbehrenden »Generalpausen« vor den Schlusstakten von Contrapunctus 1 gegeben? Während der zweiten Pause hätte der Spieler den Steinwurf aus der Schleuder Davids improvisierend hinzuzufügen. Was muss es Bach, falls er das tatsächlich im Sinn hatte, ein Vergnügen gewesen sein, beim Spielen der Stelle den Steinwurf Kuhnaus unverändert (bis auf »cis« statt »c«) zu zitieren:

Ein Scherz im Gedenken an den Verfasser des »Muicalischen Quacksalbers«? Oder eine geheime Reverenz gegenüber dem berühmten frühen Vorbild? Dass es sich bei Contrapunctus 1 um alles andere als um eine Schulfuge handelt, ist angesichts der darin enthaltenen Satzfreiheiten aller Art oft genug betont worden. Den forschenden Bemühungen bis in die letzten Winkel des Werks ist natürlich auch nicht entgangen, dass das b-a-c-h erstmals beiläufig, wie zufällig, schon in der Exposition der Eingangsfuge im Tenor und – transponiert – im Alt anklingt. Aber wohl doch nicht ganz zufällig, denn ursprünglich, im Manuskript der Frühfassung, ist es der Takt 14:

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Contrapunctus 1–7 (König David)

Im Druck werden daraus, infolge der Änderung der Vierhalbe- in die Zweihalbe-Mensur, die Takte 27/28. Auf weitere zahlensymbolische Spekulationen, sei es im Blick auf Taktzahlen, Themeneinsätze oder sonstige Bezüge, will ich mich nicht einlassen; bekanntlich ist damit viel Unfug getrieben worden. Am Rande sei wenigstens eine Beobachtung registriert. Die Anzahl der Takte bei den Gegenfugen scheint mit Bedacht gewählt: Contrapunctus 5 besteht aus 90 Takten, Contrapunctus 6 aus 79 und Contrapunctus 7 aus 61 Takten. Die beiden »krummen« Zahlen ergeben summiert 140. Die mit 10 multiplizierten Zahlen 9 und 14 sind in der Tat symbolverdächtig. Aber wer vermag mehr als darüber zu rätseln, ob Bach sich etwas dabei gedacht hat und wenn ja, was? Keiner Frage dagegen bedarf es im Blick auf die abschließenden Takte von Contrapunctus 7:

Nicht zu überhören der emphatische Umschlag: Erweiterung zur Fünfstimmigkeit, Innehalten auf dem verminderten Septakkord, vierzehntönige rezitativische Passage im Diskant, gefolgt von schmerzlich fallender Chromatik – eine Ankündigung des von Krippe und Kreuz umschlossenen Lebenswegs des messianischen Hoffnungsträgers aus »der Stadt Davids, die da heißet Bethlehem«.

Zu Contrapunctus 8 und 11

Krippe und Kreuz gehören zusammen. Das in der christlichen Ikonographie jahrhundertelang verwendete Motiv hat Eduard Mörike in einem Gedicht aufgegriffen: Auf ein altes Bild In grüner Landschaft Sommerflor, Bei kühlem Wasser, Schilf und Rohr, Schau, wie das Knäblein Sündelos Frei spielet auf der Jungfrau Schoß! Und dort im Walde wonnesam, Ach, grünet schon des Kreuzes Stamm!

Bach beschließt den ersten Teil der Matthäus-Passion mit der großen Choralbearbeitung »O Mensch, bewein dein Sünde groß«, worin es heißt: »darum Christus sein’s Vaters Schoß äußert, und kam auf Erden. Von einer Jungfrau rein und zart für uns er hie geboren ward, er wollt der Mittler werden.« Umgekehrt lässt er im Weihnachts-Oratorium singen: »meiner Seelen Bräutigam, der du dich für mich gegeben an des bittern Kreuzes Stamm.« Das sind zwei von vielen Beispielen der für ihn und seine Zeit selbstverständlichen Zusammengehörigkeit beider Bereiche. Man denkt auch an altüberlieferte Legenden, nach denen Krippe und Kreuzesbalken aus demselben Holz gezimmert wurden. Mit Contrapunctus 8 und 11 verfährt Bach nicht anders. Um im Bild zu bleiben: beide Fugen sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. In Contrapunctus 11 erscheinen die drei Themen von Contrapunctus 8, in anderer Reihenfolge und umgekehrt: die Abwärtsbewegungen in Contrapunctus 8 (hinab zur Krippe) richten sich in Contrapunctus 11 nach oben (empor zum Kreuz).

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Zu Contrapunctus 8 und 11

Dennoch hat Bach die beiden Fugen nicht gekoppelt, wie zuvor im Autograph, sondern sie als Contrapunctus 8 und Contrapunctus 11 die beiden Doppelfugen Contrapunctus 9 und 10 rahmen lassen. Einige Kommentatoren halten diese Anordnung für falsch und lasten die angebliche Fehlplatzierung den Herausgebern an. Peter Schleuning z. B. schreibt: »Deshalb bin ich … mit Bergel (1985, 62 ff., 76 ff.) einer Meinung, daß die Fuge 8 falsch steht und nach dem Doppelfugenpaar zusammen mit Nr. 11 ein Tripelfugenpaar bilden soll.«35 Dazu ist zweierlei zu sagen. 1. Der philologische Befund bestätigt zweifelsfrei die Anordnung im Druck als authentisch.36 2. Nach üblichem theoretischen Verständnis gehören die beiden Tripelfugen zusammen, wie das die autographe Fassung ja auch belegt. Nur einer kommt in Frage, wider alle musikalische Logik das Paar auseinandergerissen und für den Druck als Contra­ punctus 8 und 11 bestimmt zu haben: das ist Bach selbst. Wenn die Herausgeber die scheinbar widersinnige Abfolge nicht rückgängig machten, dann deshalb, weil sie die Druckplatten von Contra­punctus 1 bis 11 bei Bachs Tod schon durchnummeriert 35 Schleuning, wie Anm. 10, S. 129. 36 Vgl. Wiemer, wie Anm. 2, S. 25, 30, 50 ff.

Zu Contrapunctus 8 und 1137

und paginiert vorfanden. Warum aber hat Bach das Tripelfugenpaar in dieser Weise getrennt? Es waren offenbar jene hier zur Rede stehenden außermusikalischen Aspekte, die er über die formale Korrektheit stellte.

Contrapunctus 8 »et incarnatus est«

Mit diesem allerersten neuen Thema des Zyklus wird die zweite Werkhälfte eröffnet: Bachs Einstieg ins »Neue Testament« – sein »Im Anfang war das Wort«. Tatsächlich tut sich eine völlig neue Welt auf. Dem relativ gleichförmig, eher statisch angelegten Komplex der Contrapuncte 1–7 folgt die von ungeheurer Dynamik bestimmte zweite Hemisphäre, ein »Evolutionssprung« ohnegleichen! Zum einen: enorme Steigerung der kontrapunktischen Mittel und Formen (Doppel- und Tripelfugen, Spiegelfugen, Kanons, Quadrupelfuge), einhergehend mit immenser harmonischer Progression sowie zeitlicher und räumlicher Dehnung. Zum anderen das Auftreten neuer Themen, speziell der drei Versionen des b-a-c-h-Fugenthemas in Contrapunctus 8, 11 und 14. Und dennoch: die heilsgeschichtlichen Stationen ausnahmslos verknüpft mit dem »alttestamentlichen« Grundthema und seinen Metamorphosen – gewissermaßen das bestätigende »wie denn geschrieben steht« der Evangelisten. Der Vergleich mit dem »Et incarnatus est« der h-Moll-Messe drängt sich auf: dort in den Singstimmen abwärts geführte Dreiklänge, begleitet von den Streichern mit dissonierenden Seufzerketten – einer der schmerzvollsten Sätze Bachs, im Herbst 1749 noch nachkomponiert und dem Credo eingefügt; hier eine den Oktavraum von oben nach unten durchmessende, chromatisch eingetrübte Linie, in eine kadenzierende Quintfall-Klausel mün-

Contrapunctus 8 »et incarnatus est«39

dend: das Thema, wohl nicht absichtslos im Alt einsetzend (lat. »altus« bedeutet sowohl »hochragend« wie auch »tief eindringend«), beschreibt das Herabkommen Gottes, seine Menschwerdung in der Armut des Stalles von Bethlehem. »Des Höchsten Sohn kommt in die Welt, weil ihm ihr Heil so wohl gefällt. So will er selbst als Mensch geboren werden.« Oder »Der die ganze Welt erhält, ihre Pracht und Zier erschaffen, muß in harten Krippen schlafen.« Was Bach im Weihnachts-Oratorium nicht oft genug wiederholen kann: in Contrapunctus 8 ist es in die einstimmigen vier Takte einer fallenden Melodielinie gefasst. Mit dem chromatischen Durchgang c-h-b-a ist das Kreuz keimhaft schon angelegt, ja, zusammen mit den beiden aufwärtsgerichteten Quartausschlägen wird die Gestalt des Kreuzes augenfällig: »Ach, grünet schon des Kreuzes Stamm.«

Dass auch der Triller vor dem Abschluss eine fast überdeutliche Aussage enthält, muss nicht weiter ausgeführt werden. Merkwürdigerweise bezeichnet Eggebrecht das Thema als das »tänzerisch bewegte, wie ein Ball springende, lebensvolle … GangSprung-Thema«37 – eine Charakterisierung, die Schleuning, wie er schreibt, »eingedenk der Chromatik … keineswegs überzeugt.«38 Dabei ist doch so offenkundig das Thema eine aus »Bethlehem« und einem Anflug von »Golgatha« gebildete Formulierung, gestellt an den Beginn der zweiten Werkhälfte, die sich in der Abfolge der Fugen von dem einen zu dem anderen der beiden Orte und darüber hinaus bewegen wird. Das Thema besteht aus vierzehn Tönen. Vielleicht denkt Bach dabei an den 1736 von ihm vertonten Paul-Gerhardt-Text »Ich steh an deiner Krippen hier«, wo es in der 8. Strophe heißt: »du hast dich bei uns eingestellt, an unsrer Statt zu leiden.« Die ­vierzehn 37 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 82. 38 Schleuning, wie Anm. 10, S. 108.

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Contrapunctus 8 »et incarnatus est«

Töne verweisen aber auch auf die Namensbuchstaben von König David (vgl. S. 15) und damit auf die Davidssohnschaft des Kindes in der Krippe. Das zweite, sofort mit dem ersten gekoppelte Thema

ist gekennzeichnet durch die mit Tonrepetitionen einhergehende chromatische Seufzerkette: die Mühsal der Menschwerdung, das Annehmen der Knechtsgestalt. Und man hört das Klopfen an das harte Krippenholz, aus dem dereinst der Kreuzesbalken zugehauen werden wird. Schließlich das dritte Thema: es ist die Umkehrungsform der um zwei auf vierzehn Töne erweiterten Variante des »David-Themas«.

Das lässt sich wiederum als Bestätigung des Kindes als »von dem Hause und Geschlechte Davids« verstehen. Die Dreistimmigkeit der Tripelfuge legt nahe, Stimmen und Themenzahl als Symbol für die göttliche Trinität zu betrachten, wie sie schon dem Gehalt des Eröffnungsthemas innewohnt: »et incarnatus est de Spiritu sancto«. Die Vierstimmigkeit von Contrapunctus 11, dem »Crucifixus«, könnte dann auf die vier Enden des Kreuzes verweisen, auch auf den ganz irdischen, von Gott verlassenen Menschen, und auf seinen Tod am Kreuz als Erlösung für die vier Enden der Welt. In allen drei Themen ist, wenn auch verdeckt, Bach anwesend. Im ersten gleich zweimal: kaum erkennbar im chromatischen Gang

Contrapunctus 8 »et incarnatus est«41

c-h-b-a sowie in der Anzahl der 14 Töne; im zweiten transponiert, rückwärts gelesen; und im dritten – die gemeinsame Namenszahl 14 verrät es – als Zunftgenosse des alttestamentlichen Schutzpatrons. Es soll aber schon hier betont werden, dass das zweite Thema, das krebsgängig transponierte b-a-c-c-c-h, zugleich das Kreuz bzw. den Gekreuzigten symbolisiert und zwar – das wird sich später zunehmend erweisen – von Bach ganz offensichtlich primär so verstanden. Seine in Contrapunctus 8 noch »in statu nascendi« auftretende Gestalt ließe sich interpretieren als Verweis auf die Worte des Johannes-Prologs »die Finsternis hat’s nicht begriffen« und »aber die Welt erkannte ihn nicht«. Selbst die gegen Schluss eingestreute Sechzehntelgirlande

vermag den Ernst des »homo factus est« (vgl. h-Moll-Messe) und die Härte des Krippenlagers nicht zu mildern. Und sollte man es wirklich für möglich halten, Bach habe mit den rollenden Sechzehnteln im Bass auch einmal den Ochsen an der Krippe brüllen lassen?

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Contrapunctus 8 »et incarnatus est«

Aber was dann mit dem Esel? Etwa das sechsfache »i-a« der aufsteigenden, mit Bindebogen versehenen Zweiachtel-Glieder, die den vorausgegangenen Läufen im Bass antworten? Und gar, im Diskant versteckt, brüderlich einstimmend Bach selbst – also abermals »Ich steh an deiner Krippen hier«?

Zu Contrapunctus 9 und 10

Contrapunctus 9 und 10 (beide ausnahmsweise im Vierviertel- statt im Allabreve-Takt) stehen für die liturgische Einheit von Taufe und Buße. Im 3. Teil der »Clavierübung« hatte Bach das mit der Aufeinanderfolge der Choralbearbeitungen »Christ, unser Herr, zum Jordan kam« und »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« schon einmal realisiert. Die zwei Fugen – im doppelten Kontrapunkt der Duodezime und der Dezime – bildeten auch in der autographen Frühfassung des Werks ein Paar, dort an fünfter und sechster Stelle innerhalb der drei Gegenfugen – der spätere Contrapunctus 10 noch ohne die 22-taktige einleitende Teilfuge mit dem neuen Thema. Mit Taufe und Buße sind die beiden Katechismus-Stücke angesprochen, die sich auf Jesu erstes öffentliches Auftreten am Jordan und auf die Worte Johannes des Täufers beziehen: »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt« (Joh. 1,29) und »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen« (Matth. 3,2). Beide Worte lassen sogleich an das »O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet« und »Buß’ und Reu’ knirscht das Sündenherz entzwei« denken, Eingangschor und erste Arie der Matthäus-Passion.

Contrapunctus 9 »Von der Taufe«

Im Bericht des Evangelisten Matthäus über Jesu Taufe heißt es: »Und siehe, da tat sich der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen.« Das liest sich bei Bach so:

Mit einem Oktavsprung richtet sich der Blick aufwärts, verweilt drei Viertelschläge, um dann, nach der über den Takt gehaltenen Note (der Himmel öffnet sich wie eine Schleuse) das Herabfahren von »Gottes Geist wie eine Taube« in Gestalt der fallenden Tonleiterachtel zu verfolgen. Das sich anschließende Auf und Ab der Achtelgruppen kann man als Wellengang des Jordanflusses deuten. Nicht von ungefähr assoziieren Erich Schwebsch39 und andere bei der Beschreibung des Themas immer wieder »Wellenbewegung« und »Wasser«, ohne freilich etwas von der konkreten Bedeutung zu ahnen. Zudem lässt es sich Bach nicht nehmen, in das bildhafte Thema die Tonfolge des Grundthemas hineinzuweben – genauer: einzutauchen, und zwar Normal- und Umkehrungsform ineinander verschränkt. Wenn dann im Verlauf des zweiten Teils der Doppelfuge zu diesem Thema das David-Thema in der Vergrößerung (ausschließlich in seiner Grundgestalt) hinzutritt

39 Erich Schwebsch, Joh. Seb. Bach und die Kunst der Fuge, Stuttgart 1931, S. 248 f.

Contrapunctus 9 »Von der Taufe«45

und diese Kombination bis zum Schluss siebenmal erscheint (davon viermal im doppelten Kontrapunkt der Duodezime), liegt es nahe, hierin die andere Textstelle des Taufberichts versinnbildlicht zu sehen: »Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe« (Matth. 3,17). Man erinnere sich an Bachs Eintrag in die Calov-Bibel »Ein herrlicher Beweiß, daß neben andern Anstalten des Gottesdienstes, besonders auch die Musica von Gottes Geist durch David mit angeordnet worden.«: für Bach war König David das Sprachrohr des Geistes Gottes. In Contrapunctus 9 sind Vater und Sohn und der Geist Gottes gegenwärtig! Es fällt auf, dass die bildhafte Eröffnung der Jordanszene ihre Entsprechung im Beginn des »Confiteor« der h-Moll-Messe hat, dem lateinischen Bekenntnis zur Taufe. Könnte da ein innerer Zusammenhang vorliegen, etwa dergestalt, dass – dem Komponisten unbewusst oder bewusst – der Themenkopf von Contrapunctus 9 die Formulierung des Confiteor-Motivs mitbestimmt hätte?

Contrapunctus 10 »Von der Buße«

Das Thema, mit dem Contrapunctus 10 eröffnet wird, hat es in sich:

1. Es beginnt mit dem Leitton: ein eklatanter Regelverstoß. Als Anfangston einer Fuge gilt Grundton, Quint oder Quart, seltener auch ein anderes Intervall. Mit dem Leitton zu beginnen ist Sünde wider den heiligen (Fugen-)Geist, und das ausgerechnet in der Kunst der Fuge – in Bachs Werk singulär und nur hier! 2. Das dreitönige Kopfmotiv erscheint, nach einer Viertelpause, sofort in der intervallgetreuen Umkehrung. Fehlverhalten, gefolgt von Umkehr: das ist »Buße«! Überdies lädt das Dreitonmotiv geradezu ein, ihm den Ruf des Täufers »Tut Buße« zu unterlegen. Bach hat das 22-taktige »Portal« erst nachträglich für den Druck hinzukomponiert. In der autographen Frühfassung beginnt die Fuge mit der um zwei Töne erweiterten Umkehrung des Grundthemas, zu dem erst nach der Exposition und einem längeren Zwischenspiel das »Bußthema« als Kontrasubjekt tritt. Man hat alle möglichen formalen Gründe für die Nachkomposition angeführt. Wie einleuchtend jetzt und wie einfach Bachs später Einfall: Was vorher Kontrasubjekt war, wird nunmehr Thema und eröffnet die Fuge. Dadurch ist der Bußruf des Täufers laut und vernehmlich vorausgeschickt.

Contrapunctus 10 »Von der Buße«47

Der einleitenden Teilfuge, mit sechs Einsätzen des neuen Themas, schließt sich der Hauptteil an. Darin wird das Grundthema in der Variante, die wir schon von den Gegenfugen (5, 6, 7) her kennen, zunächst allein durchgeführt, um schließlich mit dem »Tut Buße«-Thema gekoppelt zu werden. Anders als in den Gegenfugen tritt hier das Grundthema ausschließlich in der inversen Form auf:

Die Ähnlichkeit zwischen Luthers Bußchoral »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« und der Umkehrungsform des Kunst-der-Fuge-Themas ist schon oft hervorgehoben und erörtert worden.40 So verwundert es nicht, dass Bach in Contrapunctus 10 allein diese Themengestalt verwendet. Damit unterstreicht er den Bezug zum gottesdienstlich-liturgischen Bereich und überträgt den BußRuf des Täufers in seine lutherisch-protestantische Gegenwart. Doch was hat es mit den anscheinend jeder kontrapunktischen Strenge spottenden mehrfachen Terz- und Sextenparallelfolgen auf sich?

Schleuning definiert die Parallelführungen einerseits als »eine Sonderform des kanonischen Kontrapunktes«, des »canon sine pausis, des Kanons ohne Pausen«, das heißt: gleichzeitiger statt aufeinander folgender Stimmeneinsatz. Andererseits irritiert ihn die »klangliche Süße« der »parallelen Terzen- und Sextenfolgen«, die 40 Vgl. Schleuning, wie Anm. 10, S. 65.

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Contrapunctus 10 »Von der Buße«

»Vergleiche zu Strauß-Walzern hervorruft«. Er begreift den Widerspruch dialektisch als »zugleich kontrapunktischen Sonderfall und neuerliche Bemühung Bachs um Sexten- und Terzenseligkeit«.41 Damit liegt Schleuning nicht unbedingt falsch, aber vielleicht wollte Bach einfach an das Gleichnis vom guten Hirten erinnern, wo es am Schluss heißt: »Also … wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut« (Lukas15,10). Und dass Bach sich selbst in die Abfolge von Sünde, Buße, Vergebung und himmlische Seligkeit einbindet, darauf könnte nun doch die gewählte 14-tönige Umkehrform des Grundthemas deuten, mehr aber noch der versteckte Fingerzeig im Tenor der Schlusskadenz: das – um eine Quint transponiert – umspielte b-a-c-h:

41 Ebenda, S. 70–72.

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

»Zerreißt einem die Ohren« (Robert Schumann);42 »die Welt des ›Seufzens‹, des ›harten Gangs‹ und der ›Unruhe und Angst‹ «;43 »ein wahres Gestrüpp, eine Anhäufung von Extremismen«, »erstaunliche melodische Schmerz-Blüten, … eine von Bachs Absichten, … Verwirrung, wenn nicht Bestürzung hervorzurufen.«44 Und schließlich »als büßte ein Mensch die Sünden der ganzen Welt ab.«45 Die beliebig zu verlängernde Liste von Äußerungen dürfte genügen, um über Contrapunctus 11 das »crucifixus« anzubringen. Wie drastisch ist der Gang nach Golgatha ins Bild gesetzt – ins Notenbild:

Die Fuge wird mit der aus Contrapunctus 8 herübergeholten Grundthemen-Variante eröffnet. Dort als drittes Thema ausnahmslos in der inversen Form, tritt es hier in seiner Rectus-Gestalt an den Anfang. Die Kette der Tonschritte dreimal synkopisch durch eine Pause unterbrochen, dazu der Achtel-Stolperer vor dem Weitergehen: 42 R. Schumann, Bemerkung am Ende von Cp. 11 in seiner eigenhändigen Klavier-Einrichtung der Kunst der Fuge. Zitiert nach Walter Kolneder, Die Kunst der Fuge. Mythen des 20. Jahrhunderts, Teil IV: Kritische Chronologie, Wilhelmshaven 1977, S. 501. 43 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 85. 44 Alles Schleuning, wie Anm. 10, S. 111, 115, 112. 45 Alfred Heuß, zitiert nach Bergel, wie Anm. 28, S. 27.

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Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

Seufzen und Ächzen, ein Mühsam-sich-Hinschleppen, ein Stocken, Straucheln, Fallen. »Jesus fällt zum ersten … zum zweiten … zum dritten Mal«, so heißt es in dreien der vierzehn Kreuzwegstationen. Er, dem eben noch das »Hosianna dem Sohn Davids!« (Mt. 21,9) gegolten hatte, als Schmerzensmann auf der Via dolorosa: das um zwei auf vierzehn Töne erweiterte Grundthema wird zur Gestalt des leidenden Gottesknechts. Schließt Bach sich damit als Mitleidender dem Gang nach Golgatha an? »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«, so klingt es herüber. Nach 27 (3 × 3 × 3) Takten macht der Zug mit einer vom Passus duriusculus durchzogenen Kadenz und einem Quartvorhalt-Seufzer einen Augenblick Halt;

dann beginnt die zweite Teilfuge mit dem umgekehrten ersten Thema von Contrapunctus 8.

Dort abwärts geführt (»et incarnatus est«), richtet es sich hier empor: hügelaufwärts, Golgatha und dem Kreuz entgegen. Das Thema ist mit einer parallel verlaufenden chromatischen Linie gekoppelt, einem Kontrasubjekt, dessen »Schmerz-Blüten«, die Köpfe aufrichtend oder hängen lassend, im weiteren Verlauf allgegenwärtig sind. Dieses Attribut (das in Contrapunctus 8 fehlt!) lässt an die Dornenkrone denken: dann hätte Bach auch das »sub Pontio Pilato« des Messe-Textes nicht übersehen und damit wiederum die Verschränkung von Passion und Geburt unterstrichen –

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«51

korrespondiert doch das Pilatuswort »Ecce homo« mit dem »et homo factus est« am Schluss des »Incarnatus«. Die zweite Teilfuge endet wiederum auf einem mit Quartvorhalt akzentuierten Halbschluss – ein Moment des Innehaltens, bevor das grausame Werk beginnt. Dass Bach kein unbeteiligter Zuschauer ist, hört man zuallererst der Musik an. Dass es aber mehr als lediglich »Bestürzung« war, die ihn solche Musik schreiben ließ, erkennt man spätestens beim zweiten Einsatz des dritten, des b-ac-c-c-h-Themas:

Gewiss, vordergründig ertönen die Hammerschläge der »Nagelung«, die ohrenzerreißenden Schmerzenslaute, das unaufhörliche Jagen des Pulses – Textzeilen aus der Matthäus-Passion kommen einem in den Sinn: »Wer hat dich so geschlagen?«; »denn meine Sünden haben dich geschlagen.« Das neue Thema wird von Beginn an mit dem aufwärts strebenden »Golgatha-Thema« des zweiten Fugenabschnitts kontrapunktiert, das jetzt an den Vorgang der »Kreuzaufrichtung« denken lässt. Die von Takt 90 bis zum Schluss unaufhörlich peitschenden Dissonanzballungen – in Bachs Werk ohne Beispiel – haben zugleich etwas ausgesprochen Masochistisches: »Ich bin’s, ich sollte büßen, an Händen und an Füßen gebunden in der Höll’. Die Geißeln und die Banden, und was du ausgestanden, das hat verdienet meine Seel’.« Es hat lange gedauert, bis man in dem Thema den Namen Bachs erkannte. Das wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals ausgesprochen und sogleich wieder bestritten. In seinem 1926 im

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Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

Bach-Jahrbuch veröffentlichten Aufsatz zur Kunst der Fuge kritisiert Heinrich Rietsch den jungen Entdecker Wolfgang Graeser, der mit seiner 1924 erschienenen Arbeit und dem Betreiben der spektakulären öffentlichen Leipziger »Uraufführung« von Bachs letztem Werk im Jahr 1927 ein neues Kapitel zu dessen wissenschaftlicher und spielpraktischer Rezeption aufschlagen sollte: er finde es »fraglich«, so Rietsch, »ob Bach das baccch als Bild seines Namens angesehen hat, da dieser gleichsam von einem Stotterer buchstabiert erscheint.«46 Seinen Namen in Contrapunctus 11 möglichst zu verschleiern – ganz und gar in Contrapunctus 8, wo der »gestotterte« Name in der Umkehrung bzw. krebsgängigen Form erst recht unerkannt blieb –, ist Bach denn auch fast zweihundert Jahre hindurch gelungen. Doch es ist nicht zu bezweifeln: mit diesem Thema hat Bach sich leibhaftig in das »crucifixus etiam pro nobis« einbezogen. Da das b-a-c-h aber vornehmlich Synonym für den Gekreuzigten ist, verleiht dies seiner deformierten, gebrochenen Gestalt in den Contrapuncten 8 und 11 zusätzlichen Sinn. Das Moment vom stellvertretenden Leiden des »Menschensohns« kommt ins Spiel: nochmals »etiam pro nobis«. Das b-a-c-c-c-h mit seinen in unzähligen Umformungen anbrandenden Chromatismen und Dissonanzen bildet unstreitig den Kulminationspunkt von Contrapunctus 11.47 Doch, wie gesagt, lag es Bach fern, mit dem Thema sich selbst zu inszenieren, es sei denn, man wollte in dem abfällig bezeichneten »Stotterer« den Augenzeugen sehen, dem es angesichts der Ungeheuerlichkeit des Geschehens die Sprache verschlägt, und der, indem er seinem Stammeln das Grundthema – ob Rectus-, ob Inversusform – hinzufügt, unermüdlich beteuert: »Dieser Gekreuzigte ist niemand 46 Heinrich Rietsch, Zur »Kunst der Fuge« von J. S. Bach. In: Bach-Jahrbuch 1926, S. 19. 47 Die von Bach der »Crucifixus«-Fuge zugeteilte 11 (sie überschreitet die Gesetzeszahl 10) wird definiert als »Maßlosigkeit« und »Sünde«: Ökumenisches Heiligenlexikon. www.heiligenlexikon.de/Glossar/Zahlenmystik.

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«53

anderes als der Sohn Davids!« Vielleicht dachte Bach dabei auch an David als das »Vorausbild Christi«, dessen Harfe man als Symbol des Kreuzes und deren Stimmnägel als Hinweis auf die Nägel der Kreuzigung verstand. In diesen Zusammenhang fügt sich ein Stammbucheintrag Bachs vom 15. Oktober 1747, also aus der Zeit, in der er mit der Neukonzeption seines großen Fugenzyklus beschäftigt war.

Das Blatt zeigt einen dreistimmigen Rätselkanon, rechts unten versehen mit Widmung und Namenszug. Gegenüber der Zusatz: »Symbolum. Christus Coronabit Crucigeros.«, darunter Ort und Datum.48 Bach hat das 1747/48 (!) komponierte Credo seiner h-MollMesse mit »Symbolum« überschrieben. »Symbolum« bedeutet »Bekenntnis«. Der Stammbucheintrag ist als Bachs Credo, als sein Glaubensbekenntnis anzusehen: »Christus wird die Kreuztragenden krönen.« Von Bachs tief verwurzeltem Bezug zum christlichen Kreuz zeugen vor allem seine Passionsmusiken, und seit jeher sind Vertonun48 Vgl. Bach-Dokumente I, Nr. 174.

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Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

gen wie »Komm, süßes Kreuz«49 oder »Ich will den Kreuzstab gerne tragen«50 als ihm besonders wesenseigen hervorgehoben worden. In dem dreifachen Anlaut CCC einen absichtlichen Bezug zu dem b-a-c-c-c-h-Thema zu vermuten, erscheint wohl doch gewagt. Aber davon abgesehen ist das »Christus Coronabit Crucigeros« für Bach alles andere als ein Lippenbekenntnis. In Contrapunctus 11 gibt er zu verstehen, was sich in Contrapunctus 14 erweisen wird: in der Kreuzgestalt der Tonbuchstaben seines Namens – »Kreuzträger« – sieht er den Gekreuzigten, hinter dem die eigene Person zurücksteht. An Bachs Stelle tritt – stellvertretend – der, der auch für ihn am Kreuz gestorben ist. »Diese Fuge ist so rätselhaft«, schreibt Peter Schleuning, »dass man in jedem melodischen Element Themenableitungen oder geheime Botschaften wittern kann.«51 Nehmen wir denn Witterung auf! Im letzten Abschnitt der Fuge – er besteht wie der erste Durchführungsteil aus 27 (3 × 3 × 3) Takten – erscheint zu Beginn die Rectus- und Inversus-Form des Hauptthemas im Sopran und Alt gleichzeitig, d. h. in weiter Lage vertikal gespiegelt:

Nach zwei Takten nochmals im Tenor und Bass in enger Lage:

49 Matthäus-Passion, Nr. 66, Bass-Arie. 50 BWV 56. 51 Schleuning, wie Anm. 10, S. 116.

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«55

Die Spiegelung tritt nur die beiden Male auf. Man hat das immer als Hinweis bzw. Vorbereitung auf die folgenden beiden Spiegelfugen genommen, und das mag durchaus so sein. Aber wurde dabei Wesentliches nicht übersehen? Vielleicht wirft Bach den Blick zurück auf Contrapunctus 8, wo das Grundthema ausschließlich in der inversen Gestalt durchgeführt wurde, und will kurz vor Schluss der Fuge noch einmal daran erinnern, dass Krippe und Kreuz zusammengehören. In der ersten Spiegelung treten beide Formen erstmals gleichzeitig in Erscheinung. Das Über- und Untereinander wird zwei Takte später zum Ineinander verdichtet und durch die Stimmkreuzung das Gewicht des Kreuzes betont. Das Moment der Stimmkreuzung begegnet aber auch schon bei der ersten Spiegelversion. Da ist es der Tenor, der sich in den weiten Raum zwischen Sopran und Alt reckt und dabei die Altstimme kreuzt – bis hinauf zum zweigestrichenen d; das ist so extrem hoch wie nirgends sonst im Werk. In der Partitur des Originaldrucks, deren Stichvorlage Bach selbst geschrieben hat,52 wechselt der Tenor an dieser Stelle in den Altschlüssel und wieder zurück: 158

52 Siehe Wiemer, wie Anm. 2, S. 10–12.

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Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

Das Autograph gebraucht gar den Diskantschlüssel:

Die Tenorstimme hätte problemlos nach unten verlegt werden können. Warum die eigenwillige Stimmführung? Sicherlich, um auch hier das Kreuz sichtbar werden zu lassen. Wenn aber am Ende Bach selbst es wäre, der da, im Falsett die Stimme überschlagend, inmitten Krippe und Kreuz, in das »helft mir klagen« einstimmt? Ausgerechnet Takt 158 ist es, mit dem der vorletzte und längste Großabschnitt der Fuge auf einem extrem dissonanten Halbschluss (gleichzeitig Tritonus, übermäßige Sekund, kleine None) noch einmal Halt macht. Nun ist längst bekannt, dass zahlenalphabetisch die Zahl 158 (Quersumme = 14) die Buchstaben des vollständigen Namens »Johann Sebastian Bach« ergibt. Und tatsächlich übertrifft dieser Takt die kühnsten Erwartungen eines eingefleischten Zahlensymbolikers. Da ist nicht nur die scharf angeschnittene Zäsur, nicht nur die beginnende Themenspiegelung mit der einkreuzenden Falsett-Stimme. Zusammen mit den flankierenden Takten kommt es zu einer unerhörten Kulmination, einem Stau: empfangend und wieder abgebend. Auf ihren Passionsaltären haben sich die alten Meister gelegentlich am Rande des Geschehens, kaum erkennbar, unter die Umstehenden gereiht. Ähnlich und doch ganz anders hier. »Johann Sebastian Bach«, bei seinem Namen gerufen, an allem Anteil nehmend: singend, spielend, komponierend, bekennend! Dreimal lässt er die Anfangszeile seines Chorals aus der Matthäus-Passion anklingen. Zuerst im Sopran: Entlassen aus dem vorge-

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«57

haltenen es2 – ein transponiertes b-a-c-h (es-d-[g]-f-e) eingeflochten –, tonartlich umgebrochen, leitet das »O Haupt voll Blut und Wunden« in den zentralen Takt hinüber. Darauf intoniert, nach dem b1-Vorhalt in Takt 158, der Tenor das »Wenn ich einmal soll scheiden«. Zugleich zitiert der Alt die erste Choralzeile: die von Bach hier verwendete tonale Version der Themengestalt (e1 statt d1) bewirkt den Quartauftakt des Liedanfangs. Die beiden synkopisch betonten Vorhalte es2 und b1 im Sopran und Tenor erinnern an den Beginn der dritten Teilfuge, wo das enggeführte »Crucifixus-Thema« mit genau diesen Vorhaltsnoten erstmals auftritt. Vielleicht auch hat es Bach bewusst so eingerichtet, dass in dem zentralen Takt dreimal das Kreuzvorzeichen erscheint, auf drei Stimmen (cis2, cis1, cis) verteilt: Rückblick womöglich auf die drei Gekreuzigten aus der Stelle der großen Passionsmusik, wo nach den Worten des Evangelisten »Desgleichen schmäheten ihn auch die Mörder, die mit ihm gekreuziget wurden« der Alt einsetzt: »Ach Golgatha, unsel’ges Golgatha!« Im übrigen ist es dreimal der Ton »cis«: Drehpunkt und Wendepunkt des Kunst-der-Fuge-Themas. Schon Eggebrecht hat bemerkt, dass »in Takt 155 ff. die Suspiratio-Figur des Grundthemas … mit dem Passus duriusculus kombiniert« wird:53

Zu Recht hat er Bach eine rhetorische Absicht unterstellt: Indem die chromatische Basslinie in Takt 155–157 das rhythmische Muster des Hauptthemas getreu übernimmt, wird ihrer beider Zugehörigkeit zur Sphäre des Seufzens und des Schmerzes evident. Das lässt 53 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 96 f.

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Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«

sich jetzt konkretisieren und in ein Bild kleiden. Betrachtet man besagte Basslinie als das dem Rhythmus des Hauptthemas angeglichene chromatische Kontrasubjekt vom Beginn des zweiten Hauptteils der Fuge, das wir als »Dornenkrone« verstanden haben, dann würde das hier bedeuten: Bach hat in Takt 155–157 die schimpfliche Krone des Rex Judaeorum mit der Königskrone Davids in eins gesetzt. Und wie nebenbei ist auch der Leipziger »crucigerus« einbezogen, dessen Namensbuchstaben als c-h-b-a die chromatische Kette beschließen und dem Takt 158 anbinden. Alles zusammengenommen spricht es der Takt 158 buchstabengetreu aus: Bach weiß sich mit allen Fasern seiner Existenz in das Geschehen auf Golgatha eingebunden. Bach war ein großer Rhetoriker, ein großer Prediger, ein großer Lehrer. Er war aber auch ein Verschweiger, ein Geheimniskrämer (man denke an seine Rätselkanons und seine zahlensymbolischen Verschlüsselungen). Für Contrapunctus 11 trifft beides zu. Wie es scheint, rührt diese Fuge an eine Verschlußsache besonderer Art, nicht für die große Welt oder irgend jemanden sonst bestimmt: Zwiesprache mit sich selbst, mit dem »süßen Kreuz« und mit dem königlichen Sänger an der Harfe. Umso unmissverständlicher dann und für jedermann vernehmlich, vom Fauxbourdon der zur Fünfstimmigkeit erweiterten Schlusskadenz skandiert, das erlösende »Es ist vollbracht«:

Besagte »Verschlußsache« nochmals angesprochen: mir fällt dabei Nietzsches aufbegehrendes »Hat man mich verstanden?« ein. Wie so ganz anders Bachs »Ich steh an deiner Krippen hier« in Contrapunctus 8 und »Wenn ich einmal soll scheiden« in Contrapunc-

Contrapunctus 11 »crucifixus etiam pro nobis«59

tus 11 (beides Paul-Gerhardt-Texte)! Damit erscheint aber nun doch überraschend etwas von der geheimen Inbrunst preisgegeben, mit der Bach allezeit – und in der Kunst der Fuge besonders – Krippe und Kreuz in seinem Herzen bewegte.

Contrapunctus 12 »et sepultus est«

Der Kontrast könnte größer nicht sein. Eben noch das schier unerträgliche Übermaß an Dissonanzen, an Chromatik, an Synkopen und seufzenden Vorhaltsbildungen, an auf- und abwärtsgerichteten Kaskaden atemloser Tonrepetitionen. Und jetzt: nahezu chromatikfreie Diatonik, rhythmisches Gleichmaß, keine einzige Tonwiederholung – ein ruhiges Dahinströmen im Grundschlag des Kondukts einer Sarabande:

Es ist die einzige Fuge des Werks im Dreiertakt. Das unmittelbare Nebeneinander von Golgatha und Grab, hier auf zwei Fugen verteilt, wird Bach später im Credo der h-Moll-Messe am Schluss des Crucifixus in vier Takte komprimieren: bei den Worten »sepultus est« wendet sich der von schmerzlicher Chromatik durchpulste e-Moll-Satz mit einer unbeschreiblich wehmütigen Modulation in ein stilles G-Dur und kommt in tiefster Stimmlage zur Ruhe. Das Dreiermetrum, »das in dem Gesamtzyklus nur hier erscheint, symbolisiert – dies darf hier als gewiß gelten – in der Zahl drei die Vollkommenheit der göttlichen Trinität«, so Eggebrecht.54 Das soll nicht bestritten werden. Doch im Blick auf »Grablegung« ist wohl zunächst an das »nach dreien Tagen« von Karfreitag bis Ostern zu denken. In diese Richtung weisen auch der letzte Takt des Rectus-Teils und seine gespiegelte Form am Schluss des Inversus:

54 Ebenda, S. 97.

Contrapunctus 12 »et sepultus est«61

Bei der Rectusversion bewegt sich die markante Schlussfloskel im Bass (umspielter Dreiklang) hinab in die Tiefe. Das kehrt sich am Schluss des inversen Teils um. Mit der Aufwärtsführung der Figur im Sopran ist der Fingerzeig auf das folgende »et resurrexit« gegeben: der letzte Ton bildet einen offenen Schluss auf der Quinte, verharrt in der Schwebe, in Erwartung des Kommenden. Nicht zuletzt aber wäre gerade die Spiegelfuge das adäquate musikalische Mittel, um die christliche Vorstellung von der Umkehrbarkeit des Todes in die Auferstehung – als Hoffnung bzw. Gewissheit – auszudrücken. Und das scheint die Absicht Bachs gewesen zu sein. In der frühen autographen Fassung bringt das die synoptische Notierung, also das exakt spiegelbildliche Über- und Untereinander von Rectusund Inversusform, auch optisch zur Geltung (Abb. 5).55

55 Im Originaldruck wurden bei beiden Spiegelfugen Rectus- und Inversushälfte irrtümlich vertauscht. Für die authentische Anordnung habe ich seinerzeit triftige philologische Befunde angeführt (vgl. Wiemer, wie Anm. 2, S. 32–36). Leider ist auch in der neueren maßgeblichen Klavierausgabe des Werks durch Chr. Wolff (Edition Peters Nr. 8586 b) aus unerfindlichen Gründen die falsche Abfolge des Originaldrucks übernommen und damit für den gutgläubigen Benutzer verbindlich gemacht worden. Erst recht nicht zu begreifen ist die Entscheidung desselben Herausgebers, in seiner »Erstausgabe« der autographen Fassung (Edition Peters Nr. 8586 a) bei beiden Spiegelfugen – entgegen Bachs Notierungsweise (zuerst rectus und darunter gespiegelt inversus!) – kommentarlos wiederum die verkehrte Folge der Druckausgabe zu übernehmen.

Contrapunctus 13 »et resurrexit«

Der Anschluss erscheint so eng wie zwingend. Ist es doch, als nähme der Beginn von Contrapunctus 13 den oben hängenden Quintton des vorausgegangenen Stücks auf, um ihn in den mit drei Paukenschlägen bzw. Fanfarenstößen losbrechenden Osterjubel hineinzuziehen. Oder anders herum: in dem offen bleibenden a2 von Contrapunctus 12 steckt der Impuls für die Osterfanfare. Schluss und Anfang der beiden Fugen sind in einer Quasi-Kadenz untereinander verklammert: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« (1.Kor. 15,55).

Mühelos lässt sich ablesen, was das Notenbild – hier die aufwärtsgerichtete Schlussfloskel mit dem verharrenden Spitzenton, dort das auftaktige dreitönige Signal – so anschaulich schildert: in die nach oben ragende Hand greift von drüben eine andere – sie passen ineinander – und zieht sie hinüber. Drüben ist nun alles auf »et resurrexit tertia die« abgestimmt, die Zahl 3 ist allgegenwärtig.

Contrapunctus 13 »et resurrexit«63

Wie ein Weckruf springt das dreitönige Kopfmotiv auf und mündet in die auf- und absteigende Triolenkette mit anschließenden Freudensprüngen: die gesamte Fuge hindurch, wie man es von den Bildern der alten Meister kennt, das Schwingen des Siegesfähnleins in der Hand des Auferstandenen.56 Und mit der Dreistimmigkeit schließt sich der Kreis, der im ebenfalls – und nur hier – dreistimmigen »et incarnatus est« eröffnet wurde. Im Gegensatz zur sarabandenhaften Gemessenheit von Contrapunctus 12 ist Contrapunctus 13 eine typische Gigue – sonst tänzerischer Kehraus der barocken Suite, hier Krönung und Abschluss der mit Contrapunctus 8 begonnenen Folge von heilsgeschichtlich bzw. liturgisch orientierten Stücken. Der Kontrast von Grab und Auferstehung findet seinen Ausdruck auch in der Themengestaltung. In Contrapunctus 12 ist es das in den ruhigen Dreiertakt übersetzte schlichte Grundthema, in Contrapunctus 13 seine komplexe, in österlichen Gestus überführte Metamorphose. Und einer gewissen »Starre« durch das Beibehalten der Grundform in der Rectus-Hälfte von Contrapunctus 12 steht der in Contrapunctus 13 sogleich frei durcheinanderwirbelnde Wechsel von Umkehrungs- und Grundform gegenüber. Es ist noch zu fragen, ob Bach in den beiden Fugen dem Phänomen der Spiegelung einen außermusikalischen Sinn beigemessen hat. Eggebrecht sieht in den Spiegelfugen ein Abbild der »Gnade, jener, die in der Spiegelung das Eine ohne menschliches Zutun zu dem Anderen werden lässt.«57 Eine schöne Deutung. Womöglich aber hat Bach mit den beiden Fugen ganz einfach den Paulus-Text 1. Kor. 15,20 gemeint? Dort heißt es: »Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten und der Erstling geworden unter denen, die da schlafen. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen 56 Bei Paul Gerhardt klingt das so: »Er war ins Grab gesenket, der Feind trieb groß Geschrei, eh er’s vermeint und denket, ist Christus wieder frei und ruft Viktoria, schwingt fröhlich hier und da sein Fähnlein als ein Held, der Feld und Mut behält.« 57 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 86.

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Contrapunctus 13 »et resurrexit«

ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.« Das bedeutet: der gläubige Christ – und Bach selbst allemal – vertraut darauf, von Christus aus dem Tod ins Leben nachgezogen zu werden, gemäß dem Schriftwort: »Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen« (Joh. 12,32). In den beiden Spiegelfugen stünde Christus für die »Rectus«-Version der Fuge – das ist der Erstling –, der Gläubige wäre derjenige, dem umgekehrt (»inversus«) dasselbe geschieht: sein Tod und Auferstehen spiegelt sich im »sepultus est« und im » et resurrexit« seines Glaubensbekenntnisses.

Die Kanons

Zu den vier Kanons ist vorerst nichts mehr und nichts weniger anzumerken, als dass man sie für das nehmen kann, was ihr Name und ihre Position zwischen »Auferstehung« und »Offenbarung« besagt, nämlich als die vier »kanonischen« Schriften der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas, Johannes. Vielleicht auch deshalb hätte Bach dann die Stücke von der Bezeichnung »Contrapunctus« der gezählten vierzehn Fugen ausgenommen und »Canon« gewählt. Indessen erfordert die Vierergruppe, in Abweichung vom bisherigen Kurs, einen Umweg, der vornehmlich die andere, die »doctus«-Seite betrifft, der aber zuletzt wieder in die verlassene Spur schwenken wird. Die vier Kanons sind, wenn man einmal von den vier Duetten in Clavier-Übung III absieht, ein absoluter Sonderfall – innerhalb Bachs Gesamtwerk und speziell in der Kunst der Fuge. Da wirken sie geradezu wie ein Fremdkörper, um nicht zu sagen »Störfall« oder gar »Unfall«: sie sind nur zweistimmig; Bach hat sie, statt mit »Contrapunctus«, mit »Canon« überschrieben; er hat sie nicht in die Zählung der Fugen einbezogen und, nochmals befremdlich, er hat für die Kanongruppe die exklusive Stellung unmittelbar vor der Schluss-Quadrupelfuge bestimmt. Zu allem Unglück ist dann schließlich im Originaldruck die richtige Reihenfolge der Stücke durcheinandergeraten. Nicht ohne Grund haben sich in der Folge die Bachforschung und vor allem die Interpreten mit diesen, man muss es schon sagen, Stiefkindern des Werks schwer getan. Man hat sie ganz einfach weggelassen oder hat die Gruppe als eine Art Anhang an den Schluss verbannt. Es ist Usus geworden, die Kanons »zur Auflo-

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Die Kanons

ckerung« zwischen die Fugen zu verteilen oder sie unter allen nur denkbaren Gesichtspunkten bezüglich Form, Symmetrie, Rhythmus/Metrum, Rahmungsbedingungen, Taktzahlverhältnissen usw., einzeln, paarweise oder als Gruppe umzuschichten – kurz: sie sind die besonderen Opfer allgemeiner Rat- und Hilflosigkeit. Wenn Hans-Jörg Rechtsteiner in seiner an sich bemerkenswert scharfsinnigen, mit unerhörten Zahlenspekulationen erstellten Rekonstruktion des »Idealplans von J. S. Bachs Kunst der Fuge« die Kanons mit schwindelerregenden Taktzahlenberechnungen58 in ganz eigener Folge zwischen die Fugen 8 bis 14 schiebt, so teilt seine Begründung »Weil dabei die Kanons gegenüber den Contrapunctussätzen von geringerem Gewicht sind – im Hinblick auf Umfang, Stimmenzahl und musikalische Intensität«59 die vorherrschende Einschätzung. Bach selbst muss da ganz anders gedacht haben. Hier ist nicht der Ort, das Für und Wider aller die Kanons betreffenden Belange zu erörtern. Es mag genügen, die für das Verständnis unserer Ausführungen nötigen Fakten zu umreißen. Der entscheidende Punkt vorweg: die Reihenfolge im Originaldruck (Augmentationskanon – Oktavkanon – Dezimenkanon – Duodezimenkanon) ist falsch. Der Oktav- und der Augmentationskanon finden sich bereits im Berliner Autograph.60 Die Stücke stehen dort jedoch nicht nebeneinander, sondern rahmen die dreistimmige und die vierstimmige Tripelfuge – im Druck Contrapunctus 8 und 11 – in symmetrischer Anordnung: Oktavkanon einstimmig, darunter auf zwei Systemen zweistimmig ausgeschrieben; Augmentationskanon zweistimmig, danach einstimmig notiert. 58 Hans-Jörg Rechtsteiner, Alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht. Der Idealplan von Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, Frankfurt am Main 1995, S. 58 und weitere. 59 Ebenda, S. 54. 60 Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge, BWV 1080. Autograph, Originaldruck. Mit einer Studie hrsg. von Hans Gunter Hoke (Faksimile-Reihe Bachscher Werke und Schriftstücke, hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig, Bd. 14), Leipzig 1979.

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Schon hier geht der Oktavkanon dem komplizierteren Augmentationskanon voraus. In den erhaltenen, von Bach geschriebenen drei Blättern der Stichvorlage des Augmentationskanons mit der Seitenverteilung verso – recto – verso ist am Ende der zweiten Seite die Möglichkeit zum Umblättern vorgesehen: im Druck macht das keinen Sinn, da hier die autographe Recto- als Verso-Seite erscheint. Das belegt die vom Komponisten festgelegte Schlussposition. An der rahmenden Anordnung von Oktavkanon und Augmentationskanon kann es demnach keinen Zweifel geben. Aber wie steht es um die Abfolge der beiden mittleren Stücke? Dazu zwei Wortmeldungen von Kennern der Materie. Peter Schleuning: Die Kanons »ergeben, ihrer kontrapunktischen Technik nach, folgende Reihe … Dezimen-, Duodezimen-« Kanon.61 Hans Heinrich Eggebrecht: »was die Anordnung betrifft, so liegt es nahe, von dem kontrapunktischen Schwierigkeitsgrad auszugehen … wobei sich als Reihenfolge ergibt: … Duodezimen- (Quint-) kanon, Dezimen- (Terz-)kanon«.62 Bei gleicher Begründung zwei konträre Folgerungen. Jedoch erhärten gute Gründe das Votum Eggebrechts. 1. Nach dem aus Naturton- bzw. Obertonreihe abgeleiteten Verwandtschaftsgrad der Intervalle folgt auf den Grundton zuerst die Quinte, danach die Terz. Oktav, Quinte und Terz hat man seit alters als »vollkommene Proportionen« in der Musik verstanden. Dabei gilt Quintverwandtschaft vor Terzverwandtschaft: bei der Fuge (Dux/Comes-Folge) ebenso wie bei der klassischen Sonate (1. und 2. Thema), ja bei allen Formen und Gattungen der tonalen Musik. 2. Diese Reihenfolge hat ihre Entsprechung in den von Bach ausdrücklich als »Contrapunctus 9 alla Duodecima« und »Contrapunctus 10 alla Decima« bezeichneten Fugen. 3. Die ersten drei Töne des Grundthemas beschreiben den Dreiklang, und zwar im naturgegebenen Verwandtschaftsverhältnis Grundton – Quinte – Terz, um dann den Bogen zum Grundton 61 Schleuning, wie Anm. 10, S. 138. 62 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 99.

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zurück zu schlagen. Randnotiz: Und dieses urtümliche Notenwunder besteht, wie wir inzwischen wissen, aus den vertonbaren Buchstaben des biblischen Vaters der Musik, König David! Man fragt sich, wie es bei der Drucklegung überhaupt zur Vertauschung der Stücke hat kommen können. Hier der Versuch einer Antwort. Die Schüler und Söhne, zwar »allesamt geborene musici«, waren mit eigenen Projekten beschäftigt. Den Stapel zum Teil loser, ungeordneter Probeabzüge und Manuskriptblätter des nachgelassenen Werks ihres Meisters und Vaters wollten sie möglichst umgehend zum Druck befördern. Als sie darunter eine Gruppe von vier unnummerierten Kanons finden, stellen sie den »Canon alla Duodecima in Contrapunto (sic!) alla Quinta«, bei dem sie über den letzten Takten das Wort »Finale« lesen, einfach an den Schluss, haben aber übersehen, dass der Vermerk sich darauf bezieht, den unendlichen Kanon nach dem punktierten Doppelstrich in die drei angehängten abschließenden Takte münden zu lassen. Unbegreiflicher die Fehlplatzierung des »Canon per Augmentationem in Contrario Motu«. Doch vielleicht kam das so: Unter den autographen Blättern fand sich auch das Arbeitsmanuskript der endgültigen Fassung samt einem dazugehörigen bereits fertig gestochenen Probeabzug der vom Komponisten geschriebenen Stichvorlage. Als man beim Durchblättern des Autographs am Schluss der dreistimmigen Spiegelfuge auf den hinter einer Hinweisklammer angebrachten Vermerk Bachs »Canon al roverscio et per augmentationem« stieß, rückte man daraufhin das Stück im Anschluss an die dreistimmige Spiegelfuge an den Anfang der Vierergruppe, obwohl die Umblätterstelle im Druck jetzt auf eine Versoseite geriet.63 Blieben der Oktavkanon (ebenfalls ein unendlicher Kanon mit Schlusstakten nach dem Doppelstrich, hier aber ohne den Zusatz »Finale«) und der Dezimenkanon (mit dem Vermerk »Cadenza« 63 Vergleiche auch Wiemer, wie Anm. 2, S. 69; dort Anm. 132.

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über der Fermate im vorletzten Takt). Für beide schien, auch im Blick auf die Satzfolge bewegt – ruhig, die mittlere Position der rechte Ort zu sein. So oder so ähnlich könnte es sich zwischen Herbst 1750 und Sommer 1751 zugetragen haben, und so vermutlich sind alle vier Kanons im Originaldruck irrtümlich vertauscht und um die ihnen vom Verfasser zugedachte Stellung gebracht worden – nur ein Beispiel aus der verhängnisvollen Kette von Missverständnissen, denen das Werk von der Drucklegung bis heute ausgesetzt ist. Eines muss man den Herausgebern aber doch zugute halten: sie haben die Kanons als Gruppe belassen und diese – wenn man von der fälschlicherweise noch eingeschobenen nicht dazugehörenden zweiklavierigen Fassung der dreistimmigen Spiegelfuge absieht – korrekt vor die Schlussfuge postiert. Heinrich Rietsch hat im Bach-Jahrbuch 1926 in einer Fußnote als erster die kanonische Gruppe den vier Temperamenten zugeordnet,64 und darin ist ihm Erich Schwebsch gefolgt.65 Das Notenbild sowie eine klangliche Probe aufs Exempel lassen der Idee und der von beiden übereinstimmend getroffenen Zuordnung sofort etwas abgewinnen. Dabei genügt es, jeweils den Beginn des Stücks zu zitieren, denn dort ist mit der entsprechenden charakteristischen Veränderung des Grundthemas bzw. seiner Umkehrung die betreffende Gemütslage festgelegt. 1. »Canon alla Ottava«: Sanguiniker

Lebhafte Dreierbewegung, weite Tanzsprünge, zusätzliche Staccato­ punkte entsprechen dem sanguinischen Naturell. 64 Rietsch, wie Anm. 44, S. 16/17. 65 Schwebsch, wie Anm. 39, S. 310–323. Die von beiden gewählte Reihenfolge stimmt mit der von mir als authentisch angesehenen überein.

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2. »Canon alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta«: Choleriker

Die polternden Sextolen zu Beginn, die Synkopenbildungen, das Luftholen zwischendurch, die insistierenden dreimaligen Anläufe (mit dem Kopf durch die Wand wollen) in Takt 5–7: das sind zweifellos »cholerische Akzente«!66 3. »Canon alla Decima Contrapunto alla Terza”: Phlegmatiker

Die das Taktmaß verschleiernden Synkopierungen der großen Notenwerte und die schleppende Bewegung zu Beginn: eine fast satirische Schilderung der Gangart eines Phlegmatikers, dem am Schluss mit dem Schubs der punktierten (freilich triolisch zu spielenden) Figur der Marsch geblasen wird, bzw. dem für die folgenden Wegstrecken immer wieder Beine gemacht werden. 4. „Canon per Augmentationem in contrario Motu«: Melancholiker

Bohrende Synkopik und schmerzliches Chroma kennzeichnen die von starkem Pathos getragene Umformung des Grundthemas. Das lässt in der Tat an quälendes Selbstmitleid und Zerknirschung eines »Melancholicus« denken. 66 Ebenda, S. 313.

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In seinen Ausführungen zu den Kanons verwirft Peter Schleuning die Temperamenten-These vehement und macht sich darüber lustig. Er hält dagegen: »Wenn Bach vorhatte, die vier Temperamente zu komponieren, warum schrieb er nicht gleich alle vier, sondern begnügte sich um 1740 mit nur zweien, um erst zehn Jahre später den Rest folgen zu lassen?« Des weiteren würde die Lektüre früherer und neuerer Werke der Temperamentenlehre den Leser »schnell von der Anwendung dieser Theorie auf die Kunst der Fuge abrücken« lassen – »Und darüber hinaus: warum plötzlich zwischendurch die vier Temperamente?«67 Schleunings Einwände lassen sich leicht entkräften. Gegen Ende der 1740er Jahre hat C. P. E. Bach eine Sonate für 2 Violinen und Bass komponiert, »worinnen er einen Discour zwischen dem Melancolico und Sanguineo auszudrücken gesucht hat.«68 Der zwei Seiten lange »Vorbericht« des Komponisten beginnt so: »In dem ersten Trio hat man versuchet, durch Instrumente etwas, so viel als möglich ist, auszudrücken, wozu man sonst viel bequemer die Singstimme und Worte brauchet. Es soll gleichsam ein Gespräch zwischen einem Sanguineus und Melancholicus vorstellen, welche in dem ganzen ersten, und bis nahe ans Ende des zweyten Satzes, mit einander streiten, und sich bemühen, einer den andern auf seine Seite zu ziehen.«69 Es ist schwer vorstellbar, Sohn und Vater hätten bei ihren Zusammenkünften in Leipzig und Berlin sich nicht lebhaft darüber ausgetauscht, wie man die menschlichen Gemütsbewegungen 67 Schleuning, Anm. 10, S. 138 ff., 143–145. Dennoch bescheinigt Schleuning dem Oktavkanon, nachdem er ihn zunächst als »sanguinisch« abgelehnt hat (S. 146), später »Springlebendigkeit« (S. 152); und dem Augmentationskanon gesteht er umstandslos den Charakter der »Melancholie« zu (S. 145 oben). 68 Hans Mersmann, Ein Programmtrio Carl Philipp Emanuel Bachs. In: BachJahrbuch 1917, S. 137–170. Das Trio »für zwo Violinen und Basso«, 1749 entstanden und 1751 zusammen mit einem Trio für Querflöte, Violine und Bass in Nürnberg erschienen, wird ausführlich vorgestellt und erläutert. 69 Ebenda, S. 139.

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in der Instrumentalmusik ausdrücken könne – war dies doch ein brennendes Thema des Jahrzehnts, in dem die beginnende Periode des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit sich vom veralteten Generalbass- und Kontrapunktzeitalter zu lösen anschickte. Der zweitälteste Bachsohn wurde der in Ton und Schrift bedeutendste Repräsentant jener Epoche, und »Marpurg fordert … im dritten Band seiner ›Historisch-Kritischen Beiträge‹ eine Art von musikalischer Hermeneutik für Instrumentalkompositionen.«70 Johann Mattheson (1681–1764), der Musikpapst seiner Zeit, hat das Schaffen und Wirken des berühmten Leipziger Kollegen – er hatte ihn bei dessen vergeblichem Probespiel in Hamburg im Dezember 1720 persönlich kennengelernt71 – stets aufmerksam verfolgt und in seinen Schriften mit sowohl bewundernden wie mit kritischen Kommentaren bedacht. Umgekehrt hielt sich Bach über die Veröffentlichungen des Hamburgers auf dem laufenden.72 Gewiss war es in seinem Sinne, was Mattheson in dem 1739 (!) erschienenen Standardwerk »Der vollkommene Capellmeister« über die Darstellung von Seelenzuständen in der Musik unter Berufung auch auf die alten Griechen schrieb – aufzufinden im angehängten »Register über das Werck« unter »Temperamente, deren Lehre soll ein Componist verstehen«: »daß nehmlich ein Componist und Director … auch hauptsächlich die gereinigte Lehre von den Temperamenten wol inne habe.«73 Oder an anderer Stelle: »Die Lehre von den Temperamenten und Neigungen … leisten hier sehr gute Dienste, indem man daraus lernet, die Gemüther der Zuhörer, und die klingenden Kräffte, wie sie an jenen wircken, wol zu unterschei70 Ebenda, S. 164. 71 Bach-Dokumente II, Nr. 102 und 253. 72 Der mehrfachen Aufforderung Matthesons, für seine geplante »Musikalische Ehren-Pforte« einen biographischen Beitrag zu liefern, ist Bach nie nachgekommen. Siehe Bach-Dokumente II, Nr. 98. 73 Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739. Faksimile-Nachdruck, hrsg. von Margarete Reimann, Kassel u. Basel 1954, S. 108, § 64.

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den.«74 Und schließlich traf eine weitere Forderung den Nerv des in jenen Jahren planmäßig in Angriff genommenen großen FugenProjekts, insbesondere der darin enthaltenen eigens für das Tasteninstrument komponierten – damals noch – zwei Kanons: »Weil nun die Instrumental = Music nichts anderes ist, als eine Ton = Sprache oder Klang = Rede, so muss sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine gewisse Gemüths = Bewegung richten, welche zu erregen, der Nachdruck in den Intervallen, die gescheute Abtheilung der Sätze, die gemessene Fortschreitung u. d. g. wol in Acht genommen werden müssen.«75 Ebenso beifällig wird Bach noch die mit Beispielen gespickten Passagen über die therapeutische Wirkung der Musik aufgenommen haben. Da heißt es unter anderem: »daß die Ton-Kunst … nicht selten die Stelle der Arzney vertreten kann.«76 Und weiter, nach beiläufiger Erwähnung König Sauls, »daß es noch heutigen Tages Exempel gibt, krancken Leuten durch die Music zur Gesundheit zu helfen.«77 Es wäre merkwürdig, wenn Bach dabei nicht an David und die heilende Wirkung seines Harfenspiels auf das verfinsterte Gemüt König Sauls gedacht hätte – womit unversehens ein Bogen von den vier Kanons zurück an den Beginn des Werks, an das allererste Erklingen des David-Themas und die Contrapuncte 3 und 4 gespannt wäre! Mit Missfallen und Aufbegehren wird Bach dagegen Matthesons Geringschätzung des Kanons quittiert haben. Das Verfassen von Kanons sei zu Übungszwecken zwar zu empfehlen, so Mattheson, doch »Der eigentliche Gebrauch und besondere Nutz, welchen dergleichen Kunst-Stücke bey heutiger Music haben«, lasse sich nur »sehr geringe ansehen.«78 Ja, Mattheson geht so weit, die »teutsche« Bezeichnung »Kreis-Gesang oder Kreis-Fuge« vorzu-

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Ebenda, S. 15, § 51. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 14, § 42. Ebenda, S. 14, § 43. Ebenda, S. 394, § 6.

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ziehen, und nur »bisweilen das Wort Canon mit[zu]nehmen, weil es bekannt und gebräuchlich ist.«79 Man mache sich klar: kurz danach entstehen die Goldberg-­ Variationen, enthaltend neun Kanons, 1746 gefolgt von den »Canonischen Veränderungen« über »Vom Himmel hoch«. Ein Jahr später, unmittelbar nach dem Besuch in Berlin und Potsdam, verabreicht Bach dem königlichen Flötenspieler solch schwere Kost, freilich in homöopathisch dosierten Portionen. Und um diese Zeit wird er für den geplanten Druck der Kunst der Fuge die beiden mittleren Kanons nachkomponieren und den Augmentationskanon tiefgreifend umarbeiten. Man kann fast von einer Neukomposition sprechen: das am Schluss des autographen Konvoluts befindliche, mit Korrekturen übersäte Manuskript lässt Bachs Bestreben erkennen, durch Anreichern von Chromatik, Seufzerfiguren, Synkopierungen und Tonreibungen den Affekt des Melancholischen zu steigern. Erst jetzt hat dieser Kanon, der anfangs ganze Passagen eher verspielten Leerlaufs enthielt, die Züge eines ausgemachten »Melancholicus« angenommen, und ist der Umschwung hin zur alle vier Temperamente einschließenden Kanongruppe vollzogen. Und mehr noch: entgegen Mattheson wird Bach an der Bezeichnung »Canon« festhalten.80 Es fällt auf, dass Bach im Autograph für die beiden Kanons die Überschriften »Canon in Hypodiapason« und »Canon in Hypodiateßeron – al roversio e per augmentationem« wählt. In dem Kapitel »Von Kreis=Fugen« (gemeint sind die verschiedenen Kanonarten) überschreibt Mattheson ein kurzes Notenbeispiel von William Bird (sic!) mit »Canon à 3 Voci diverse, in Hypodiatessaron & Hypodiapason«, und als Fußnote erscheint der Begriff »Al Roverscio«. Nach der Beschreibung der Machart eines Augmentationskanons heißt es dann: »Sothane canonische Plackerey, wenn sie noch so wohl geräth, 79 Ebenda, S. 395, § 12. 80 Daher sind spätere Bezeichnungen (Graeser, Bergel u. a.) wie »kanonische Fugen«, »Contrapunctus« o. ä. abzulehnen.

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hat gemeiniglich sehr viel gezwungenes an sich, und dienet bloß zur starcken Uibung in der Harmonie: wie die höltzerne VoltigirPferde einem Schüler in der Reitkunst.«81 Lassen die im Berliner Autograph nahezu wörtlich zitierten Satzüberschriften nicht den Verdacht aufkommen, Bach habe mit seinen »sothanen canonischen Plackereyen« dem Hamburger Kanon-Verächter einen kollegialen Nasenstüber geben, wenn nicht ihn eines Besseren belehren wollen? In diesem Zusammenhang ein Seitenblick auf die GoldbergVariationen. Wirkt das um 1741 bei Balthasar Schmid in Nürnberg erschienene Werk mit dem sonderbar umständlichen Titel Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen. Denen Liebhabern zur GemüthsErgetzung verfertiget von Johann Sebastian Bach nicht erst recht wie eine alsbald erteilte Abfuhr in Richtung Hamburg? Dort hatte der »Vollkommene Capellmeister« zum Begriff »Aria« verlauten lassen: Aria … Diese Spiel=Arie … ist gemeiniglich eine kurtze, in zween Theile unterschiedene, singbare … Melodie, die … man … auf unzehlige Art kräuseln, verbrämen und verändern möge, um dadurch, wiewol mit Beibehaltung der Grund=Gänge, seine Faustfertigkeit sehen zu lassen … Zu Frobergers Zeiten, etwa vor 70 bis 80 Jahren, war dieser Partiten=Geist dermassen eingerissen, daß nicht nur auf besondere kleine Arien … wenigstens ein halb Dutzend Variationen herhalten musten … und kamen nicht ohne Brüche, krumme Sprünge und vielgeschwäntzte Noten davon. Mir ist es eine Freude, daß dieser Geschmack, sonderlich auf dem Clavier, ziemlich gefallen ist.82

Kurz nachdem die Kunst der Fuge im Druck herausgekommen war, erschien Matthesons vielzitierte Laudatio auf das Werk: Joh. Sebast. Bachs so genannte Kunst der Fuge, ein praktisches und prächtiges Werk von 70 Kupfern in Folio, wird alle französische und welsche Fugenma81 Mattheson, wie Anm. 73, S. 409. 82 Hier ist auch Gregory Butlers These zu erwähnen, die Contrapuncte 8 und 11 verdankten sich als Antwort auf Matthesons im »Vollkommenen Capellmeister« erhobene Aufforderung an den »berühmten Herrn Bach in Leipzig, der ein grosser Fugenmeister ist, … von Doppelfugen, mit dreien Subjecten … etwas dergleichen ans Licht gestellt zu sehen«. Zitiert nach Rechtsteiner, wie Anm. 58, S. 16/17.

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cher dereinst in Erstaunen setzen: dafern sie es nur recht einsehen und wol verstehen, will nicht sagen, spielen können. Wie wäre es denn, wenn ein jeder Aus- und Einländer an diese Seltenheit seinen Louis d’or wagte? Deutschland ist und bleibet doch ganz gewiß das wahre Orgel- und Fugenland.83

Ob Mattheson jedoch, soweit es die vier Kanons betrifft, Bachs postume Replik »recht eingesehen«, geschweige denn »wol verstanden« hat? Was eher zu bezweifeln, ihm aber auch nicht zu verdenken wäre. Noch fast neunzig Jahre später hat Robert Schumann in seiner eigenhändigen Klavier-Einrichtung der Kunst der Fuge zu den Kanons angemerkt: »Vermutlich sehr trocken.«84 Die »Klangrede« der vier Kanons ist von Rietsch und Schwebsch spontan richtig verstanden worden. Das zeigt: die Musik allein spricht so unmittelbar für sich, dass es eigentlich keiner weiteren Erläuterung bedürfte. So nehmen wir die vorgefundenen Anhaltspunkte lediglich als willkommene, den Sachverhalt vertiefende und mögliche Zweifel entkräftende Bestätigung. Davon abgesehen bleiben verschiedene offene Fragen. So wüsste man gern Genaueres über die Genese von Bachs Temperamenten-Idee. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum er für den Druck die beiden »Nachzügler« komponiert und den Augmentationskanon so unzweideutig in Richtung »Melancholicus« umgearbeitet hat. Natürlich war ein Johann Sebastian Bach beim Entwerfen und Komponieren weder auf Mattheson noch auf Philipp Emanuel angewiesen. Es spricht aber vieles dafür, dass die beiden, wie auch immer, involviert waren und Einfluss genommen haben. Von dem möglichen Ansporn durch Matthesons Äußerungen zu Kanon und Temperamenten war gerade die Rede. Nicht weniger spannend ist die Frage nach C. P. Emanuels Anteil. Was das Gegensatzpaar »Sanguineus-Melancholicus« betrifft, wird man auf83 Vgl. Bach-Dokumente III, Nr. 647. 84 Kolneder IV, wie Anm. 42, S. 502.

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grund des frühen Zeitpunkts das Erstrecht an der Idee – zumal an der Verknüpfung der beiden Temperamente mit der Geschichte »David vor Saul« – dem Vater zusprechen müssen. Als Mitverursacher für die kurzfristige Wende vom Kanonpaar hin zur Kanon-Vierergruppe kommen demnach der Sohn und Mattheson gleichermaßen in Betracht, letzterer aus den bereits genannten Gründen. Bei Carl Philipp Emanuel liegt der Fall anders. Gibt man dem oben schon angedeuteten Szenario einige Konturen und etwas Farbe, dann sieht man Vater und Sohn bei ihren gelegentlichen Zusammenkünften Mitte der 1740er Jahre darüber diskutieren, mit welchen kompositorischen Mitteln sich zwei gegensätzliche Empfindungen, etwa »himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt« bzw. als Temperamente »sanguinisch – melancholisch« für das Clavier einrichten ließen. Vielleicht hat der Leipziger Bach die beiden längst vorhandenen Kanons aus der Schublade geholt und sie dem Besuch aus Berlin gezeigt. Als Ergebnis einer Art interfamiliären Wettstreits lagen Ende der vierziger Jahre beider Lösungen vor: die eine 1749 in Berlin entstanden, die andere zwei Jahre später, nach dem Tod des Verfassers in Leipzig im Druck erschienen. Emanuel Bachs Sonate entspricht vollkommen dem Stilideal der jungen Generation: die Diktion leicht fasslich, empfindsam, häufiger Wechsel des Affekts innerhalb eines Satzes; hinzu kommt die zukunftsorientierte frühklassische Sonatenform, gepaart mit programmatischem Zuschnitt. Was für eine andere Welt – bei gleicher Themenstellung – die Arbeit des »alten Bach«! Er hält an einer der frühesten, selbst von Mattheson als hoffnungslos veraltet längst beiseite gelegten musikalischen Formen fest. Damit erfüllt er als Mitglied der »Mizlerschen Sozietät« deren Forderung, »die Majestät der alten Music wiederherzustellen«. Er geht auch nicht ab vom althergebrachten Gebot der Einheit des Affekts innerhalb eines Satzes und verteilt die unterschiedlichen Gemütsbewegungen, wie sich das gehört, auf die einzelnen Stücke. Zugleich überspringt er auch mit die-

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sen kleinformatigen Geschöpfen die Grenze seines Zeitalters und bringt Zukunftsmusik zu Papier, die nach 50 »Katakombenjahren« eine unvergleichliche Auferstehung erleben und einem weltumspannenden Musizieren angehören wird, »cuius regni non erit finis«. Und dann landet Bach einen Coup, mit dem er beide, den Sohn und Mattheson, ins Visier nimmt: er verlässt die zuvor mit Philipp Emanuel geteilte, auf Sanguiniker – Melancholiker beschränkte Basis und komponiert kurzerhand die beiden fehlenden Temperamente hinzu. Damit erreicht er zugleich ein Zweites: war ein passenderes Scharnier zwischen Contrapunctus 13 und der das Werk beschließenden Fuge denkbar? Die jetzt den Kanons zugewiesene vorletzte Stelle, die sogenannte »Paenultima«, entspricht dem dramaturgischen Kunstgriff des »retardierenden Moments«. Der Name sagt es: vor der Schlußsteigerung den Handlungsablauf verlangsamen, innehalten, den äußeren Aufwand zurücknehmen, das Wesentliche noch einmal aus neuer Perspektive beleuchten, Alternativen überdenken, eine andere Lösung möglich erscheinen lassen und dadurch die Spannung erhöhen. Übertragen auf die Kanongruppe: 1. Verminderung der Stimmenzahl von der vier- (Cp. 12) über die dreistimmige (Cp. 13) Spiegelfuge hin zur Zweistimmigkeit der Kanons. Genau genommen handelt es sich um nur eine Stimme, wie sie Bach im »Berliner Autograph« auch zusätzlich notiert hat. Wie ein Meister seinen Schülern hat er dort diesen Spezialfall der mehrstimmigen Musik veranschaulicht, dass nämlich im Grunde jeder Kanon einstimmig ist: erst die imitierenden Einsätze ein und derselben Stimme führen zur Mehrstimmigkeit – eine bis in die Bachzeit unter den Zunftgenossen gern geübte Geheimwissenschaft und Rätselkunst. Auf dem Haußmannschen Porträt von 1746/48 hält Bach einen Kanon in der Hand: sein Personalausweis als Meister seiner Zunft. 2. In ihrer Außenseiterrolle – nicht in die Zählung der Fugen einbezogen; exklusiv mit »Canon« betitelt – gehen die Stücke von

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einer gänzlich anderen Warte das zuvor dreizehnmal vermeintlich erschöpfend behandelte Thema erneut an und gelangen mit völlig neuen, z. T. vergleichsweise bizarren Gestalt-Metamorphosen zu vier ungewöhnlich temperament-vollen alternativen Lösungen. 3. Der Rückzug in die Zweistimmigkeit, gepaart mit schubweiser Steigerung der kontrapunktischen Künste, lässt an diesem vorletzten Ort noch einmal Hochspannung ganz eigener Art aufkommen: das Tal wird zum Gipfel – zum Gipfel vor dem Gipfel! Dabei ist die angebliche Dünnstimmigkeit der Kanons ein Problem, das sich – man denke an Bachs zweistimmige Inventionen – bei der Wiedergabe auf dem Cembalo gar nicht stellt. Die vier Kanons sind ein Nonplusultra in Bachs Klavierschaffen – und ein Unikum im gesamten Kontrapunkt-Zeitalter; Jahrhunderte hindurch findet sich nichts Vergleichbares weit und breit. Doch damit nicht genug: Diese denkbar vertracktesten musiktheoretischen Aufgaben mutieren, mit Fleisch und Blut begabt, zu beseelten, in Gemüt und Temperament unterschiedene Personen (»personare« heißt »hindurch tönen« bzw. »klingen« – der »Klangrede« mächtige Geschöpfe!). Damit geht einher, dass in ihnen das dem Werkganzen innewohnende Prinzip der Metamorphose des Grundthemas am weitesten vorangetrieben, der Grad von individuellen Zügen am stärksten ausgebildet ist: die vier Geschwister, bei gemeinsamer Abstammung dennoch grundverschieden, folgen einander im Gewand von zweistimmigen Inventionen, virtuosen tasteninstrumentalen Spielstücken, denen »sothane canonische Plackerey« der Verfertigung nicht anzuhören ist. Bach vollbringt den Spagat, die zu jener Zeit in der Musik am weitesten voneinander entfernten Pole, den uralten, als ernstzunehmende Kunstform längst verabschiedeten Kanon mit der brandneuen Ästhetik der Empfindsamkeit zu verschmelzen (Adorno würde sagen: zu »amalgamieren«), und das gleich in vierfacher Ausführung. So verwundert es nicht, dass Bach der das Werk krönenden Quadrupelfuge in weiser Entscheidung die kanonische Quadriga vorgespannt hat.

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Womit wir wieder bei den vier kanonischen Schriften der vier Evangelisten wären, die zudem ihrerseits ein- und dasselbe Thema auf jeweils eigene Art durchgeführt haben. Wie plausibel erscheint es daher, Bachs später Entschluss, die beiden fehlenden Temperamente nachzukomponieren, sei mit der Idee zusammengefallen, die Kanons den Verfassern der vier Evangelien zuzuweisen. Bleibt die Frage, ob die Evangelisten tatsächlich den vier Temperamenten zugeordnet werden können. Immerhin hat Albrecht Dürer bei seiner Darstellung des Evangelisten Markus nach allgemeiner Auffassung der Kunsthistoriker an einen Choleriker gedacht85 – ja, kaum zu glauben: da erhebt sich doch wirklich leibhaftig der Markus’sche Löwe, brüllend und die Mähne schüttelnd:

Und die gemächliche Gangart des dem Lukas zugehörenden Stieres könnte diesen als den Phlegmatiker ausweisen, während dem Schreiber des gedankentief-grüblerischen Johannes-Prologs, zudem platziert vor dem Offenbarungsbuch des Johannes, den man damals noch für denselben Verfasser hielt, das melancholische Temperament des vierten Kanons zufiele. Wäre dann schließlich Matthäus, der das Neue Testament mit der frohen Botschaft unter Verweis auf David eröffnet, Anwärter für das verbleibende Temperament des Sanguinikers? Wie schade, dass wir Bach nicht danach fragen können!

85 Siehe Lexikon der christl. Ikonographie, Bd. 7, hrsg. von Wolfgang Braunfels, Freiburg 1994, Spalte 557 f.

Contrapunctus 14 »et iterum venturus est« (Die Offenbarung des Johannes)

Seit jeher hat vor allem die Schlussfuge Anlass zu Kopfzerbrechen und Deutungen gegeben. Das beginnt bereits mit der Frage, ob sie überhaupt zum Werk gehört, eine Frage, die von Albert Schweitzer, Gustav Leonhardt und anderen verneint wurde, da das allen Stücken zugrundeliegende Hauptthema nicht darin enthalten sei. Dabei hatte Gustav Nottebohm schon Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, dass die drei Themen mit dem Grundthema kombinierbar sind,

dieses also als viertes hätte hinzutreten und zusammen mit den drei zuvor durchgeführten Themen als Quadrupelfuge den Beschluss bilden sollen – ein Optimum der Fugenkunst, das bis dato selbst bei Bach nicht zu finden ist. Von dem fehlenden Schlussteil wissen wir nur das, was C. P. E. Bach im Nekrolog auf seinen Vater überliefert hat: »Seine letzte Kranckheit, hat ihn verhindert, seinem Entwurfe nach, die vorletzte Fuge völlig zu Ende zu bringen, und die letzte, welche 4 Themata enthalten, und nachgehends in allen 4 Stimmen Note für Note umgekehret werden sollte, auszuarbeiten.«86 Aus der Formulierung wird nicht ganz klar, ob Philipp Emanuel das 3 themige Fragment tatsächlich als vorletzte Fuge angesehen hat, der eine 4 themige als letzte noch folgen sollte, oder ob er, was dem Sach86 Bach-Dokumente III, S. 86.

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Contrapunctus 14 »et iterum venturus est«

verhalt entsprechen würde und was heute im allgemeinen auch so verstanden wird, mit »Fuge« so viel wie »Teilfuge« gemeint hat. Demzufolge hat der fehlende Schlussteil an kontrapunktischer Kunstfertigkeit alles bisher Dagewesene noch übertreffen sollen. Nicht nur, dass darin vier Themen durchzuführen und miteinander zu kombinieren waren. Er sollte auch nach Art einer Spiegelfuge in allen vier Stimmen umkehrbar sein. Außerdem hätte der Rectus- mit dem Inversusteil durch eine Überleitung verbunden werden müssen, wie es Bach zuvor mit den beiden Hälften des Augmentationskanons gerade vorgeführt hatte. Wie Christoph Wolff vermutet, hat der vom Bach-Sohn so genau beschriebene vierthemige Schlussteil bei Bachs Tod vorgelegen.87 Er hätte nur an der Stelle, die nun ins Leere läuft, oder an einem möglichen weiteren Durchführungsteil angehängt werden sollen. Da die Herausgeber mit dem gesondert notierten vierthemigen Abschnitt, der keinen Anfang hatte, nichts anzufangen wussten, sei er beiseite gelegt worden und verlorengegangen. Man kann es noch genauer sagen: wahrscheinlich waren Rectus- und InversusForm des so angelegten Schlusses synoptisch notiert, wie die beiden Spiegelfugen im Autograph. Es ist anzunehmen, dass Bach sich der Durchführbarkeit der Spiegelung, also der schwierigsten Aufgabe überhaupt, frühzeitig vergewissert und diesen Schlussabschnitt zuvor gesondert ausgearbeitet hat. Doch beklagen wir nicht, was verloren ist. Wenden wir uns dem Vorhandenen zu. Schon vordergründig ist die Schlussfuge auf »Offenbarung« angelegt. Das Hauptereignis sollte die Wiederkehr des Grundthemas werden – ein wahrlich »unerhörter« Vorgang, den zu erleben uns die Verkettung unglücklicher Umstände vorenthalten hat. 87 Chr. Wolff, »The last Fugue: Unfinished?« In: »Bach’s ›Art of Fugue‹: an Examination of the Sources«, Seminar Report in »Current Musicology« Nr. 19, New York 1975, hrsg. von Richard Koprowski, S. 71–77.

Contrapunctus 14 »et iterum venturus est«83

So gerät Contrapunctus 14 zur Apotheose eines das ganze Werk durchziehenden Prozesses der Steigerung der musikalischen Mittel und der Ausweitung der verwendeten Formen (1, 2, 3, 4 Themen, zusätzlich der Gattung des Kanons). Das Grundthema, dreizehn Fugen hindurch mehr oder weniger starken Veränderungen unterworfen, sowie zuletzt in den Kanons nochmals tiefgreifend umgeformt, wäre zuallerletzt in seiner Urgestalt, das Ganze bekrönend, wiedererschienen.

Das dritte Thema von Contrapunctus 14

»Offenbarung« trifft aber ebenso auf das B-A-C-H zu. Als Partikel wie ein Ferment in allen Fugen wirksam, nimmt es in Contrapunctus 8 und 11, verfremdet noch, thematische Gestalt an, um zuletzt unumwunden, lapidar, sich zu präsentieren. Die Formulierung der dem Erstdruck beigegebenen Nachricht, von Friedrich Wilhelm Marpurg im Vorwort zur 2. Ausgabe Ostern 1752 fast wörtlich übernommen, unterstreicht den Sachverhalt: »Der selige Herr Verfasser dieses Werkes wurde durch seine Augenkrankheit und den kurz darauf erfolgten Tod ausser Stande gesetzet, die letzte Fuge, wo er sich bey Anbringung des dritten Satzes namentlich zu erkennen giebet, zu Ende zu bringen.«88 Das hat man denn auch bis heute so verstanden, dass Bach, als Verfasser und Meister des Ganzen sich offenbarend, seinen Namen wie ein Steinmetzzeichen in das Ende des großen Baus gesetzt habe. Schon immer hat das dritte, das B-A-C-H-Thema die größte Aufmerksamkeit und Anteilnahme erfahren, nicht zuletzt aufgrund C. P. Emanuels Eintrag neben der Abbruchstelle des Fragments: »NB Ueber dieser Fuge, wo der Nahme BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfaßer gestorben.« Längst hat sich der Zusatz, der den Anschein erweckt, an dieser Stelle habe der Tod dem Komponisten die Feder aus der Hand genommen, als publikumswirksame Legende erwiesen.89 Der Vermerk wurde erst Jahrzehnte nach Bachs Tod angebracht, und 88 Bach-Dokumente III, Nr. 645. 89 Hier wenigstens eine Kostprobe ihrer unausrottbaren Langlebigkeit aus der Besprechung einer Aufführung durch ein Streichquartett: »Beispielloser Augenblick: das jähe Abbrechen in der letzten Quadrupelfuge. Bach hat da gerade noch, so wie ein mittelalterlicher Maler, seinen Namen noten­

Das dritte Thema von Contrapunctus 1485

die Niederschrift des Fragments wird mittlerweile auf spätestens Herbst 1749, höchstwahrscheinlich um einiges früher, datiert.

Es verwundert nicht, dass man sich Gedanken über die ungewöhnliche Namensnennung gemacht hat. Der Deutung als Schlußsignatur steht, diametral entgegengesetzt, die in nachgerade kosmische Dimensionen vorstoßende, der anthroposophischen Geisteswissenschaft verbundene Auslegung Erich Schwebschs gegenüber. Dort liest man Sätze wie: »Das B-A-C-H-Thema  … Repräsentant  … der selbstbewußten Ichheit,90 … als Quintessenz aller Chromatik, aller zu ichhafter Bewußtheit drängender Verdichtungen91 … Das Wesen BACH wird so zu einem Kristallisationszentrum einer neu sich ordnenden ›Harmonia Mundi‹«92 und schließlich: »Selbst wenn in diesem Weltentableau eine eigentliche Erscheinung des Christus, dessen Geheimnissen er so oft seine Kunst dargebracht

getreu hineingezeichnet, hineinkomponiert, dann greift der Tod ein und bricht die Bratschenstimme kraß ab…« (Joachim Kaiser, Erlebte Musik, München/Kassel 1982, S. 17). 90 Schwebsch, wie Anm. 39, S. 354. 91 Ebenda, S. 358. 92 Ebenda, S. 362.

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hat, nicht dargestellt ist, ein durchchristetes Weltempfinden lebt doch darin.«93 Davon weit entfernt Erich Bergel, der »losgelöst von subjektiven oder programmatischen Vorstellungen94 … in der nackten Gestalt des B-A-C-H-cis-d … die Quintessenz aller chromatischen Erscheinungsformen in Bachs ›Kunst der Fuge‹«95 sieht. Nicht viel anders Schleuning, wenn er »das ganze Gedankengebäude über Bachs Selbstdarstellung unmittelbar vor seinem Tod« verwirft, um es seinerseits dabei zu belassen, »der chromatischen Schmerzenssemantik des B-A-C-H-Themas das 1. Thema [der Schlussfuge] als Darstellungsmittel für den anderen Pol gegenüber[zu]stellen.«96 Eggebrecht hat gefragt: »Was bedeutet es, daß Bach gegen Schluß der Kunst der Fuge im Verfahren der Tonbuchstabensymbolik seinen Namen nennt? Was will er damit sagen?«97 Alles Kreisen um diese Frage, alle Deutungsversuche gehen aus von einer bis heute allgemein für selbstverständlich genommenen Prämisse: »sich … namentlich zu erkennen giebet«, so Carl Philipp Emanuel im Vorwort 1751 zum Erstdruck; »Daß Bach mit den ersten vier Tönen dieses letzten Themas, genauer, mit ihren Tonnamen, den eigenen Namen meint, ist vollkommen sicher und niemals bezweifelt worden«, so Eggebrecht gut 300 Jahre später.98 Merkwürdig: Anscheinend hat noch nie jemand Anstoß daran genommen, dass Bach, ausgesprochen uneitel, wie er war, seine Person derart affirmativ und schlusswirksam hätte zur Geltung bringen wollen! Oder vielleicht doch sein Sohn Friedemann? Als man Friedemann Bach einst eine Fuge über die Töne b-a-c-h vor93 Ebenda, S. 368/69. 94 Erich Bergel, Bachs letzte Fuge, Bonn 1985, S. 230. 95 Bergel wie Anm. 28, S. 22. 96 Schleuning, wie Anm. 10, S. 154. 97 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 13. 98 Ebenda, S. 12.

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legte und ihn fragte, ob sie von seinem Vater stamme, entgegnete er, »sein Vater sei kein Narr gewesen; nur in der Kunst der Fuge habe er seinen Namen als Fugenthema benutzt.«99 Die Worte klingen unwirsch, abweisend, wie peinlich berührt, so als bewege schon das eine Mal sich an der Grenze des Schicklichen. Wusste Friedemann doch, wie sein Vater – unbeugsam beim Verfechten seiner Amtsbefugnisse – so gar kein Aufhebens um die eigene Person machte. Was aber erst, wenn dem Sohn die Omnipräsenz des b-a-c-h das ganze Werk hindurch in ihrem wirklichen Ausmaß bewusst gewesen wäre! Es gibt auch zu denken, dass Bach offenbar niemals, obwohl es so nahelag, bei einem seiner vielen Auftritte als Improvisator die Tonfolge als Thema verwendet hat. Ein solches Spektakel ist nicht einmal als Legende überliefert. Warum diese seine Zurückhaltung? Über das b-a-c-h schwieg Bach sich, soweit wir wissen, bis zuletzt aus oder er spielte es herunter, wie man der biographischen Notiz in J. G. Walthers »Musicalischem Lexicon« entnehmen kann. »Die Bachische Familie … und alle, die diesen Nahmen geführet haben, sollen so viel man weiß, der Music zugethan gewesen seyn; welches vielleicht daher kommt: daß so gar auch die Buchstaben b a c h in ihrer Ordnung melodisch sind. (Diese Remarque hat den Leipziger Hrn. Bach zum Erfinder.)«.100 Die vergleichbaren Spätwerke enthalten nirgends auch nur einen Hauch von Ichbezogenheit – es sei denn, man wolle etwa in dem Quodlibet am Schluss der Goldberg-Variationen, als Reminiszenz an den fröhlichen Brauch der Bachsippe, einen Anflug von Autobiographischem sehen. Erst in der Kunst der Fuge hat Bach seinem Geheimnis (oder war es inzwischen ein Familiengeheimnis) Gestalt gegeben – und damit in Kauf genommen, entweder überhaupt nicht verstanden oder gründlich missverstanden zu werden.   99 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Bd. II. Leipzig 1880, S. 685. 100 J. G. Walther, wie Anm. 6, S. 64.

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Von Anbeginn hat die scheinbare Signatur den Blick dafür verstellt, wie Bach das b-a-c-h in Wahrheit begriffen hat. Man darf das B-A-C-H der Schlussfuge nicht isoliert betrachten. In seiner Bach-Biographie vom Jahr 1802 bezeichnet Johann Nikolaus Forkel die Kunst der Fuge als ein Werk, bestehend »aus Variationen im Großen … Variationen, welche sämmtlich vollständige Fugen über einerley Thema sind.«101 Dass da noch ein zweites Thema vorliegt, das in immerhin drei großen Fugen abgewandelt wird, war zu der Zeit noch niemandem bewusst und ist erst nach über 150 Jahren allmählich erkannt worden. Soweit es das Grundthema betrifft, wird tatsächlich nach dem Prinzip der Variation verfahren: vom Vorgegebenen zum Abgeleiteten, vom Einfachen zum Komplexen, vom Nahen zum Entfernten. Beim B-A-C-H-Thema verläuft der Prozess in der umgekehrten Richtung: in Contrapunctus 8 kaum erkennbar, in Contrapunctus 11 schon deutlich angenähert, nimmt das Thema in Contrapunctus 14 endlich seine ursprüngliche Gestalt an. Ins Theologische übersetzt: »incarnatus« und »crucifixus« zielen auf das »iterum venturus est« – mit den Worten des Paulus: »nahm Knechtsgestalt an … ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz – Darum hat Gott ihn auch erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist« (Phil. 2). »Apokalypse« wörtlich: »weg vom Verborgenen«! Erst in der letzten thematischen B-A-C-H-Fassung zeigt sich ein Blutsmerkmal zwischen dem alttestamentlichen Herrscher Israels und dem »Rex Judaeorum« am Kreuz:

101 Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802, S. 53.

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Beide Viertonfolgen gelangen über das Erhöhungszeichen des Kreuzes (Leitton) zu ihrem gemeinsamen Ursprung (D = »Deus«?). Vermutlich war das einer der ersten Kompositionsschritte bei der Komplettierung und Feinabstimmung sowie der Sinnzuweisung der beiden vorgegebenen Kryptogramme. Man sucht vergeblich nach einer Tonfolge, die das christliche Kreuz so sinnfällig wiedergibt. Vordergründig, davon war bereits die Rede, ist es die Form des liegenden Kreuzes mit dem chromatisch-schmerzlichen Affekt. Aber das ist nicht alles. Bekanntlich verwendet man seit frühester Zeit den griechischen Buchstaben Chi = X als Zeichen für Christus, als Symbol für den Gekreuzigten und das Kreuz. Bach wusste um den christlichen Chiasmus. Schon im Orgelbüchlein finden sich Choralüberschriften, wo er anstelle »Christus« oder »Kreuz« das Kreuzeszeichen setzt:

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So auch hin und wieder in der Matthäus-Passion:

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Besonders eindrücklich das Titelblatt der Kantate »Ich will den Kreuzstab gerne tragen«:

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Da kann ihm auch die eigentliche wundersame Beschaffenheit der B-A-C-H-Tonfolge nicht verborgen geblieben sein: die zweite Hälfte, das C-H, buchstabiert »CHi = X«; das B-A dasselbe um einen Ganzton tiefer transponiert: B-A-C-H, ein doppeltes Christus-Monogramm! Und einen Ganzton höher, in der ausgezierten Kadenz verklausuliert, das »CHi« ein drittes Mal:

Wie oft wird Bach über das Mysterium nachgesonnen haben, dass in Anfang und Ende des Längsbalkens, in den Tönen b und h, dem alten »b-rotundum« und »b-quadratum« – doppelgesichtiger Drehpunkt des Dorischen – so etwas wie die Quadratur des Kreises beschlossen liegt: das Unmögliche möglich machen – die Paradoxie des christlichen Kreuzes. Nochmals ein Stück weiter gedacht: das b-a-c-h, durch und durch Kreuz, umschlossen vom »Gleitton« (»descendit«) des b-rotundum und vom »Leitton« (»ascendit«) des b-quadratum. Und wenn Bach das c1, nachdem es abwärts den Ton h erreicht hat, unmittelbar darauf durch das Kreuzeszeichen # in cis1 verwandelt, das als Leitton ins d1, Finalis der Grundtonart, aufgelöst (»erlöst«) wird, liegt die rhetorische Absicht auf der Hand. Das B-A-C-H-Cis-D: Noten-Schrift gewordenes Zeichen für »descendit de coelis« – »crucifixus« – »et resurrexit et ascendit in coelum«. Und schließlich der Ton b allein genommen: in seiner Ambivalenz (»rotundum« bzw. »quadratum«) Chiffre für das Geheimnis der göttlichen Zweifaltigkeit, des »Zwei in Eins« im »Credo in unum Deum … et in unum Dominum Jesum Christum« – ein theologischer Sachverhalt, den Bach in der h-Moll-Messe im Duett »Et in unum« durch die unterschiedliche Artikulation des gleichen Motivs ausgedrückt hat:

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Sein bekanntermaßen inniges Verhältnis zum Kreuz hinzugenommen – »Komm, süßes Kreuz« lässt er singen; »Ich will den Kreuzstab gerne tragen« stimmt er selbst an; »Christus Coronabit Crucigeros« bekennt er im Stammbucheintrag –, macht die Scheu verständlich, mit dem auf seinen Namen überschriebenen, ihm anvertrauten Tonsymbol sich zu inszenieren. Eggebrechts feinsinnige Deutung des B-A-C-H-Cis-D-Themas, »daß Bach … hier nicht hat sagen wollen: Ich, BACH, habe das komponiert, sondern daß er zu verstehen gibt: Ich, BACH, bin mit dem ›Grundton‹ verbunden, will und werde ihn erreichen. Genauer … Ich, BACH, bin – wie du es bist – das menschliche Dasein (im christlichen Verstande), der erlösungsbedürftige, im Glauben erlösungsgewisse, aus Gnaden erlöste Mensch.«102 verfehlt dennoch das Entscheidende. »Ich, BACH« und wieder »Ich, BACH«, und gar »Ich, BACH« als Vertreter des menschlichen Daseins – was hätte Bach dazu gesagt? Vielleicht dies: »Nicht ›Ich, BACH‹! Das ›Ich‹ rückwärts sprechen: ›Chi – der Gekreuzigte‹!« Bachs Name trägt buchstäblich den Namen des Gekreuzigten, er trägt das Kreuz. Umgekehrt hat der Gekreuzigte den Namen Bachs, und damit ihn, Bach, angenommen. Mit den vier Tonbuchstaben meint Bach nicht »Ich«; er will sagen »Für mich«. Doch damit nicht genug. Das Stichwort »Offenbarung« wieder aufgegriffen, führt zu einer überraschenden Lesart: mit dem dritten Thema der letzten Fuge zitiert Bach ein Bild aus der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments und der Bibel überhaupt. Das ver102 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 15.

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wundert weniger, nachdem sich herausstellen wird, dass auch dem ersten und dem zweiten Thema der Schlussfuge Textstellen der Offenbarung zugrunde liegen. Die betreffende Kernstelle Kapitel 5, Vers 12 lautet: »Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.« Es ist an die frühe Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis« (1714, BWV 21) zu erinnern, wo Bach diesen Text einst in dem prächtigen Finalsatz vertonte. In Bachs Bibliothek befand sich Caspar Heunischs Hauptschlüssel über die hohe Offenbarung St. Johannis (1684), ein Buch, das Bach offenbar geschätzt hat. Darin eingefügt war die herausklappbare »Ichnographia Templi Ezechiels«, der Bauplan des himmlischen Jerusalems und des Salomonischen Tempels.103 Zudem sei an den Eingangschor der Matthäus-Passion erinnert, der die Vision vom himmlischen Bräutigam »als wie ein Lamm« beschwört. Man muss einmal Bachs Partitur-Reinschrift der Matthäus-Passion104 vor Augen gehabt und gesehen haben, wie bei dem Zuruf »als wie ein Lamm« der Choral »O Lamm Gottes unschuldig« einsetzt: mit dicker roter Tinte und breitem Federkiel geschrieben, durchzieht die Melodie des deutschen Agnus Dei Zeile um Zeile wie eine zweifache Blutspur den doppelchörigen Klagegesang (Abb. 6 a, b). Damit stellt sich die Frage noch einmal neu nach der Bewandtnis der roten Tinte, mit der auch die Worte des Evangelisten geschrieben sind – in Bachs sonstigem oratorischen Schaffen ohne Parallele. Vielleicht genügt die bisherige Annahme nicht, er habe das Bibelwort hervorheben wollen. Warum so nur hier und sonst nirgends? Immerhin gesteht Emil Platen in seiner Einführung zur MatthäusPassion der roten Schrift des Bibeltextes und des Cantus firmus im Eingangschor eine »symbolhafte Betonung« zu. Und er verweist 103 In seinem Aufsatz Christus Kosmokrator (Musik und Kirche Jg. 1984, S. 263– 271) macht Karl Wurm glaubhaft, dass Bach der formalen Anlage seiner großen Orgelfuge C-Dur, BWV 547, diesen Bauplan zugrundegelegt hat. 104 Faksimile-Ausgabe, Leipzig 1922.

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darauf, dass Rot »in der christlichen Farbensymbolik Martyrium, aber auch himmlische Königsherrschaft bedeutete.«105 Auf wen anderes trifft nun beides besser zu als auf »das Lamm, das erwürget ist – würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob«? Hat die rote Tinte vielleicht ganz konkret etwas mit dem Blut eben dieses Lammes zu tun? Es fällt auf, dass Bach – hier offenbar nicht notgedrungen, um Platz zu sparen – den in feiner roter Schrift geschriebenen Text des dürren Secco »Da Jesus diese Rede vollendet hatte« bis »dass er gekreuziget werde« von oben nach unten entlang dem Schlussakkord des Eingangschors anbringt (Abb. 6 c): blutrot eingefärbte Randleiste für das achtfach aufgetürmte Wort »Lamm«, zugleich Initiale für den umseitig notierten Choral »Herzliebster Jesu«, und ab hier roter Faden durch die »große Passion«, wie sie in der Familie genannt wurde, vom ersten bis zum letzten Ton Zeugnis davon ablegend, was jenes Lamm Bach bedeutete – nicht anders übrigens, als wir es von den unbeschreiblich expressiven Sätzen »Qui tollis« und »Agnus Dei« der h-Moll-Messe kennen. Zurück zum »Lamm« der Quadrupelfuge. Ich begreife das Thema so:

Die ersten vier Töne: »Das Lamm«, schneeweiß wie das Lamm des Isenheimer Altars zu Füßen Johannes des Täufers – »O Lamm Gottes, unschuldig«. Die daran sich anschließende, den Grundton ansteuernde, ihn umspielende (mit dem im Manuskript über dem vorletzten Ton von Bach hinzugefügten, im Druck fehlenden Pralltriller) und ihn erreichende Kadenzklausel: »das erwürget ist« – 105 Emil Platen, Johann Sebastian Bach, Die Matthäus-Passion – Entstehung, Werkbeschreibung, Rezeption. 7. Aufl., Kassel usw. 2012, S. 31/32 u. Anm. 13.

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»am Stamm des Kreuzes geschlachtet«. Geht die Annahme zu weit, Bach habe hier sehr drastisch den Vorgang des »Erwürgens« nachzeichnen wollen? Bach versteht die Offenbarung ganz richtig nicht als »Parusie« – der theologische Begriff für »Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag« –, ein Ereignis, das in den Visionen des Sehers zwar geschaut und beschrieben wird, das aber seines Anbruchs noch harrt. In dem B-A-C-H-Thema zeigt sich das Lamm nicht als Triumphator und Weltenrichter. Die Kreuzgestalt und der schmerzliche Affekt verweisen auf den Zusatz »das erwürget ist«. Der Sinn des Themas erschließt sich erst vollständig, wenn man den zweiten, enggeführten Themeneinsatz dazu nimmt:

Auf dem 6. Ton (d1) des Dux setzt eine Quint höher der Comes ein und bildet mit seinem Kopf (f 1-e1-g1-fis1) das Kontrasubjekt zur zweiten Themenhälfte darunter. Wie köstlich Johann Gottfried Walthers Beschreibung der beiden Fachbegriffe in seinem Musicalischen Lexicon: »Dux (lat.) ist in den Fugen und Canonibus die zuerst anfahende Stimme, und also der andern Folge=Stimme ihr Führer« – »Comes (lat.) also wird die zweyte Stimme, so das thema oder den Ducem einer Fuge imitiret, genennet; weil sie dessen Gefehrde ist.«106 Ich will eine Szene entwerfen, die vielleicht dem nahekommt, was Bach beim Komponieren dieser für den Beginn einer Fuge ungewöhnlichen Engführung sich vorgestellt hat: Der Gekreuzigte – »Das Lamm« – hakt kurzerhand den ins Leben verwandelten (den transponierten, transformierten) Bach unter und geleitet ihn über dem Fundament des Geschehens auf Golgatha – »das erwürget ist« – Arm in Arm ins himmlische Reich

106 Walther, wie Anm. 6, S. 220 u. 176.

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(große Terz d-fis: Wandel vom ernsten Moll durch das Zeichen des Kreuzes in lichtes Dur). In dem anschließenden Zwischenspiel – nicht zu überhören – mehrfach wie beiläufig ansetzend die erste Choralzeile »O Haupt voll Blut und Wunden« bzw. »Wenn ich einmal soll scheiden«. Ein Wort noch zu den die Grenzen der Tonalität fast sprengenden Takten 222–226.

Die harmonischen Komplikationen werden ausgelöst durch die Umkehrungsform im Bass (hier ohne die Kadenzklausel!): die engräumige Aufeinanderfolge der im Quintenzirkel weit entfernten Tonarten A-Dur und As-Dur, dazu Chromatik und Dissonanzen (Septimen-Parallele zwischen Tenor und Sopran), ziehen den Boden unter den Füßen weg. Die Umkehrungsform erscheint schon zuvor im Alt, dort als e1-f 1-d1-es1, was problemlos über d1-cis1 zum Grundton geführt werden kann und auch wird. Dem steht die von allen Kennern des Werks als rätselhaft und außergewöhnlich emotionsgeladen empfundene Stelle gegenüber. Erich Schwebsch bezeichnet die Takte als »eine geheimnisvolle Eindunkelung, durch die man einen Augenblick in verborgen-dunkle Reiche des menschlichen Inneren hineinzulauschen meint.«107 Schwebschs Charakterisierung als »Takte der Eindunkelung«,108 später von anderen wie Bergel und Schleuning wiederholt, lässt sich gut nachvollziehen. »Sein Ziel muss es gewesen sein«, so Schleuning, »kurzfristig ein Bild des schwankenden Bodens, der Beängstigung zu erzeugen.«109 107 Schwebsch, wie Anm. 39, S. 358. 108 Ebenda S. 359. 109 Schleuning, wie Anm. 10, S. 162.

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Man möchte fragen: ist es, wie auch immer, »der Blick in den Abgrund«? Ist es das »niedergefahren zur Hölle«, wie es früher im Apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert war? Oder soll man ganz nüchtern konstatieren, Bach habe lediglich die harmonischen Möglichkeiten des Themas kurz vor Schluss noch einmal ausloten und dabei an eine äußerste Grenze gehen wollen? Und er habe möglicherweise das bisher noch fehlende – im Confiteor der h-Moll-Messe so hintersinnig angewandte – Extrem der enharmonischen Verwechslung als nochmalige Steigerung dem vierthemigen Schlussabschnitt vorbehalten gehabt? Im Kontext der »Offenbarung« scheint es am nächstliegenden, die Takte 222–226 als Abbild des satanischen Verführers mit den »zwei Hörnern gleichwie ein Lamm« (Offb. Kap. 13) zu deuten. Die umgekehrte Gestalt des Themas und die dadurch hervorgerufene harmonische Verwirrung – As-Dur-Dreiklang innerhalb d-Moll: Tritonus seit alters »Diabolus (= ›Durcheinanderwerfer‹) in musica« –, erscheinen sie nicht wie daraufhin entworfen? Die sich anschließenden Takte streben aufwärts. Über eine in Tenor und Alt synkopisch verschränkte Engführung des »LammThemas«, jeweils am Kopf um ein CHi-Glied noch verlängert, schrauben sie sich aus dem disharmonischen Inferno heraus, gewinnen zunehmend an Höhe und Strahlkraft bis hinauf zu den triumphierenden Terzparallelen im Sopran und Alt, mündend in einen mit 16 tel-Vorschlägen – von Albert Schweitzer so genannte »Freudenmotive« – versehenen Abgesang:

Ob mit dem aus dem Dominant-Halbschluss hervorquellenden Durchführungsteil (T. 233), der nach der erstmaligen Kombination

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der drei »neuen« Themen abbricht, nicht die Fortsetzung des Offenbarungstextes vom »Lamm, das erwürget ist« klingende Gestalt angenommen hätte: »ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.«? Die kurz vor dem Abbruch des Fragments anhebenden Takte scheinen unmittelbar darauf vorzubereiten. Schließlich ist man noch versucht, sich die Mitteltafel des großen Altarbilds von Lucas Cranach d. J. in der Stadtkirche zu Weimar vor Augen zu führen (Abb. 7). Es ist die Kirche, in der die Söhne Friedemann und Carl Philipp Emanuel des Weimarer Hoforganisten und herzoglichen Kammermusikus getauft wurden, und an der damals Johann Gottfried Walther, Bachs enger Freund und Kollege, als Organist wirkte. Im Zentrum des Bildes das Kreuz, der Blutstrahl des Gekreuzigten in hohem Bogen »vergossen zur Erlösung für viele«. Am Fuß des Kreuzesstammes das Lamm, daneben die Zeugnis ablegende Dreiergruppe: Luther mit aufgeschlagener Bibel, auf die Schrift deutend, der Vater Lucas Cranach d. Ä., eine mächtige Patriarchengestalt, das Haupt vom Blutstrahl getroffen, die Hände betend vor der Brust erhoben und den Blick auf den Betrachter des Bildes gerichtet, neben ihm Johannes der Täufer, mit der Rechten auf den Gekreuzigten, mit der Linken auf das Lamm weisend. Links im Bild der Auferstandene als Sieger über Tod und Teufel, den gläsernen Schaft der Siegesfahne dem Höllenscheusal ins Maul stoßend. Und wie ein rührend-kindliches Echo: das Lamm hält ebenfalls ein Fähnchen, auf dem flatternden Wimpel die Inschrift »ECCE AGNVS DEI QVI TOLLIT PECCATA MVNDI« (Joh. 1,29). Die dritte Teilfuge von Contrapunctus 14 – wirkt sie nicht wie ein spätes Echo von Bachs Begegnung mit Cranachs Altarbild? Spiegelt sie doch die Enthüllung des von Johannes dem Täufer so apostrophierten »Lammes, das der Welt Sünde trägt« als das »Lamm, das erwürget ist« und das zuletzt die Fahne des Sieges über Tod und Teufel schwingt: gleich der Textstrophe aus der frühen,

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noch vor Weimar entstandenen Kantate »Christ lag in Todesbanden«, wo es in derbem Lutherdeutsch heißt: »Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott der Tod ist worden. Halleluja.« Man kann sich gut vorstellen, was Bach durch den Kopf ging, wenn er in den Weimarer Jahren vor dem riesigen Altarbild (3,60 × 3,11 m) stand und sich in die mittlere der drei Personen versetzt hat. Was in einer Beschreibung des Bildes dem Maler Cranach in den Mund gelegt wird, das lässt sich Wort für Wort auf Bach münzen, wenn man für »meine Gemälde« »meine Musik« einsetzt: »Das Blut, das Jesus am Kreuz vergoss, hat auch für mich erlösende Bedeutung, diesen Glauben habe ich bei Martin Luther kennengelernt, und auf dieses Heil in Jesus Christus weise ich durch meine Gemälde hin, wie es Johannes der Täufer durch seine Predigt tat.«110 und, so möchte man ergänzen, mit seinem »Siehe: das Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünden der Welt.« Es wäre einer gesonderten Untersuchung wert, welche Rolle »das Lamm«, das er so ton-buchstäblich mit seinem Namen verbunden wusste, in Bachs Schaffen und in seinem Glaubensverständnis gespielt hat. Hier eine Episode, die in einer solchen Abhandlung  – neben Schwerpunkten wie Matthäus-Passion, h-Moll-Messe, Kunst der Fuge, Weimarer Altarbild – nicht fehlen dürfte. Die Spur führt von der Kunst der Fuge zurück ins Frühjahr 1723 zu Bachs Bewerbung um das Amt des Leipziger Thomaskantors. Schon dass der Sonntag Estomihi111 für die Kantoratsprobe anberaumt war, muss Bach wie ein Fingerzeig vorgekommen sein. Denn da war als Evangelientext 110 Herbert von Hintzenstern, Lucas Cranach d. Ä. – Altarbilder aus der Reformationszeit, Berlin 1972, S. 114. 111 Estomihi (Psalm Davids 31,3b »Sei mir ein starker Fels und eine Burg, daß du mir helfest«) fiel 1723 auf den 7. Februar.

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die Geschichte des Blinden von Jericho vorgegeben, der sich nicht abbringen lässt von seinem Ruf »Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein!« Und prompt bekommt Bach für die eine der beiden Kantaten, die er zu komponieren hatte, den von einem Leipziger Poeten verfassten Text zugeschickt, beginnend mit den Worten: »Du wahrer Gott und Davids Sohn«.112 Einen treffenderen Text, um sich vorzustellen und sich auszuweisen, hätte er selbst kaum finden können. Wen kann es jetzt noch verwundern, dass Bach den drei vorgegebenen, auf »Davids Sohn« bezogenen madrigalischen Abschnitten als viertes Stück eine breit angelegte Choralbearbeitung des dreistrophigen deutschen Agnus Dei von Martin Luther, »Christe, du Lamm Gottes«, hinzufügte. Und nicht genug damit: als Begleitsatz des Tenorrezitativs »Ach, gehe nicht vorüber« (2. Satz) unterlegt er eine Strophe des Chorals, die Melodie gespielt von 2 Hautbois d’Amour (!) und der 1. Violine. Und immer noch nicht genug: der anschließende Chor »Aller Augen warten, Herr, du allmächtiger Gott, auf dich« basiert auf einem Thema, das über der verzierten ersten Choralzeile des Basses das Lamm in der Kreuzesgestalt des transponierten b-a-c-h vorführt:

Wenn Bach dieses Motiv auch im Duett des Eingangssatzes vom Soprano (T. 23) und Alto (T. 52) zu den Worten »erbarm dich mein« anstimmen lässt, scheint er damit sich selbst einzubringen.

112 BWV 23; die andere Kantate: »Jesus nahm zu sich die Zwölfe«, BWV 22.

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Der Gedanke drängt sich auf, Bach habe in diesem besonderen Fall zu dem aus Leipzig verfügten »Davids Sohn« mit zielsicherem Zugriff sein zweites geheimes Losungswort eingesetzt, unter das er sich und seine Familie, sein Leben und Wirken gestellt wusste, und sich auf diese Weise des allerhöchsten Beistands versichern wollen – sozusagen eine »Anrufung des Lammes«.113 Das Lamm, zunächst verschlüsselt in den Sätzen 1 (»Aria«/Duetto), 2 (»­Recitativo a tempo«) und 3 (»Coro«), zuletzt offen im zusätzlich angehängten 4. Satz (»Choral, Adagio«): schon damals die Chiffre b-a-c-h verstanden in der mehrfachen Bedeutung als Kreuz, als C ­ Hristus, als Zeichen der Davidssohnschaft im doppelten Sinn und als »das Lamm mitten auf dem Thron« (Offb. 7,17) – eine frühe gedankliche Vorwegnahme des eigentlichen Angelpunkts der Kunst der Fuge, um nicht zu sagen, des inhaltlichen Herzstücks dieses erstaunlichen kontrapunktischen Gefüges. Soweit es die Leipziger Kantoratsprobe betrifft, führte Bachs fromme Strategie zum Ziel. Nach den zahlreichen widrigen Umständen, die seiner Wahl vorausgegangen waren, stand immerhin zwei Wochen vor dem zustimmenden Votum das vielzitierte Wort im Ratsprotokoll: »da man nun die besten nicht bekommen

113 »Daß sich Bach trotz der enormen Zeitknappheit dazu entschloß, die Kantate 23 sozusagen in letzter Minute um einen vierten Satz zu erweitern, ist erstaunlich; er muß dafür gute Gründe gehabt haben. Was ihn im einzelnen dazu bewogen hat, bleibt unbekannt.« So Christoph Wolff in Bachs Leipziger Kantoratsprobe und die Aufführungsgeschichte der Kantate »Du wahrer Gott und Davids Sohn« BWV 23, Bach-Jahrbuch 1978, S. 82. Siehe hierzu auch: Christian Ahrens, Johann Sebastian Bach, Johann Heinrich Eichentopf und die Hautbois d’amour in Leipzig, Bach-Jahrbuch 2014, S. 45–60.

Das dritte Thema von Contrapunctus 14103

könne, müße man mittlere nehmen.«114 Und wem Bach den glücklichen Ausgang seiner Bewerbung zuschrieb, verraten die beiden – wohl nicht nur floskelhaft gebrauchten – Wendungen in seinem sieben Jahre später geschriebenen Brief an den Jugendfreund Erdmann: »so fügte es Gott, daß zu hiesigem Directore Musices u. Cantore an der Thomas Schule vociret wurde.« und »daß … es in des Höchsten Namen wagete, u. mich nacher Leipzig begabe, meine Probe ablegete, u. so dann die mutation vornahme.«115 Im Blick auf sein Anklopfen später beim »Höchsten« darf man sich getrost Reiner Kunzes feinem Gedanken anschließen: ERMUTIGUNG NACH 200 JAHREN (auf dem heimweg von einem orgelkonzert)

Zu füßen gottes, wenn gott füße hat, zu füßen gottes sitzt Bach,     nicht der magistrat von Leipzig116

auch wenn wohl davon auszugehen ist, dass Bach da oben längst ein gutes Wort für seine Leipziger Ratsherren eingelegt hat!

114 Bach-Dokumente II, Nr. 127. 115 Bach-Dokumente I, Nr. 23. 116 R. Kunze, auf eigene hoffnung, Frankfurt am Main 1981, S. 21.

Das zweite Thema von Contrapunctus 14

Wirklich unverkennbar eingraviert hat Bach seinen Namen, sein »Ich«, in das zweite Thema der Schlussfuge:

Die einundvierzig Töne bedeuten zahlenalphabetisch »J. S. Bach« (9 + 18 + 2 + 1 + 3 + 8 = 41). Darin die beiden 16 tel-Figuren – ausgeschriebene Mordente f-e g-fis –, die zusammengezogen das transponierte b-a-c-h ergeben. Ob mit der zweiten Namensnennung die Generationen der »Bache«, d. h. alle Träger dieses Namens, inklusive Johann Sebastian, gemeint sind? Aber wie zurückgenommen, wie versteckt sind die Signaturen! Allein die hier geübte, seinem Wesen gemäße Verschwiegenheit hätte genügen müssen, der Auffassung zu misstrauen, Bach hätte unmittelbar darauf gleich wieder – und wie lauthals – mit dem ­B-A-C-H der dritten Teilfuge »Hier bin ich!« rufen wollen. Schon ein flüchtiger Blick auf den Notenduktus von Contrapunctus 9 zeigt:

beide Themen, das erste dort und das zweite hier, scheinen, um im Bild zu bleiben, derselben Quelle entsprungen. Die unermüd-

Das zweite Thema von Contrapunctus 14105

lichen Achtelfiguren assoziieren, hier nicht anders als dort, »fließen«, »strömen«, eben: »Wasser«. Wo nun findet sich im Offenbarungstext eine Entsprechung zum Jordanfluss? Gleich mehrere »Wasserstellen« sprudeln einem da entgegen: »Denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen.« (Offb. 7,17); »Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst.« (Offb. 21,6); »Und er zeigte mir einen Strom des lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes.« (Offb. 22,1); »Und wen dürstet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.« (Offb. 22,17). Die Analogie zwischen Taufe Jesu und den Versen der Offenbarung ist evident: das irdische Taufwasser in Contrapunctus 9 offenbart sich in der Schlussfuge als das himmlische Wasser des Lebens. Indem mit den 41 Tönen J. S. Bach im »Strom des lebendigen Wassers« untertaucht, lässt sich das als Bachs ganz persönliches »Confiteor unum baptisma« mit anschließendem »et expecto resurrectionem mortuorum et vitam venturi saeculi« verstehen – so wie es ihm seit Eisenacher und Ohrdrufer Kindheitstagen aus Luthers Katechismus vertraut war: »Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, dass der alte Adam in uns soll ersäufet werden … und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.« An dieser Stelle ist an die eher beiläufige Notiz anlässlich der Betrachtung von Contrapunctus 9 (S. 45) zu erinnern, dass nämlich der charakteristische Oktavsprung des Themenkopfs eine InitialVorlage für den Beginn des »Confiteor« der h-Moll-Messe abgegeben haben könnte.

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Das zweite Thema von Contrapunctus 14

Eine solche Überlegung erscheint inzwischen weniger spekulativ als dort noch, denn: unsere zweite Teilfuge, infolge ihrer Substanzverwandtschaft mit Contrapunctus 9 selbst Symbol für Wasser und Taufe, verweist einerseits auf das weit zurückliegende Ereignis am Jordan und das Wort des Täufers Johannes »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt«; andererseits – unmittelbar nach dem von Bach angelegten »Strom des lebendigen Wassers« – auf das vom Seher Johannes so bezeichnete »ein Lamm, wie wenn es erwürget wäre« (Offb. 5,6). Das bedeutet: Contrapunctus 9 – Contrapunctus 14, Teilfuge 2 – Contrapunctus 14, Teilfuge 3 haben ihr geschwisterliches Gegenüber in den Messesätzen »agnus Dei…« (Nr. 7/8) – „Confiteor unum baptisma« (Nr. 19) – »Agnus Dei« (Nr. 23). Erwähnt sei, dass Eggebrecht die »namentliche Eingravierung des Ichs« durch die 41 Töne des »Laufthemas« für »nicht unwahrscheinlich« hält, Schleuning dieses dagegen ausschließt. Eggebrecht: »Warum sollte es nicht möglich sein, dass Bach, bevor er im dritten Thema der Schlußfuge seinen Namen in aller Offenheit nennt, ihn nicht schon in dem vorhergehenden Fugen-

Das zweite Thema von Contrapunctus 14107

thema versteckt anbringt? Das hieße … Ich bin es, der hier läuft und lebt, das menschliche Dasein, gesehen im Bild der Bewegung und Rastlosigkeit.«117 Schleuning leicht mokant: »Außerdem: In Takt 233, bei der das Manuskript abschließenden coagmentatio aller drei Themen, beginnt das zweite Thema mit einer Drei- statt einer ZweiachtelGruppe, mit dem Ton e1 statt f1, hat also 42 statt 41 Töne.«118 Nun fällt auf, dass Bach das offenbar so gewollte 41-tönige Thema, das er ohne Not ebenso gut mit e1 f1 g1 hätte beginnen können, während der ganzen Fuge konsequent beibehält und erst bei der Zusammenführung aller drei Themen kurz vor dem Abbruch des Fragments das e1 als Anfangston voransetzt. Es ist anzunehmen, Bach könnte sich etwas dabei gedacht haben. Vielleicht das folgende: Erst durch das hinzugefügte e1 am Kopf des Themas, Beginn und Quelle des 41-tönigen Wasserstroms, entsteht eine 8-tönige Wellenfigur, die für sich genommen eine kurze vierstimmige »Kreisfuge«, einen »Canon perpetuus« bildet, einen ewig währenden Kanon:

Luthers trinitarisches deutsches Credo, sein »Wir glauben all an einen Gott«, dessen Anfang gleichfalls schon mit dem Grundthema der Kunst der Fuge in Verbindung gebracht wurde, 117 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 28. 118 Schleuning, wie Anm. 10, S. 153.

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Das zweite Thema von Contrapunctus 14

schließt so:

Das ist notengetreu unser »Canon perpetuus«, dazu passend die letzte Textzeile der dritten Strophe: »Nach diesem Elend ist bereit’ uns ein Leben in Ewigkeit.«119 Darin enthalten auch die nach dem erweiterten David-Kopf (d-a-f-d-cis-d) verbleibenden 6 Töne des Grundthemas,

wie ein verstecktes Anspiel auf die bevorstehende Wiederkunft im vierthemigen Beschluss des Ganzen. Noch einmal zurück zu unserem »perpetuum mobile«: In einem genialen, dabei fast unauffälligen Handstreich verwandelt Bach durch das Hinzufügen des einen Tons an der richtigen Stelle das Quellmotiv des »Wassertaufens« zu einem diatonisch in sich kreisenden, intern sich unablässig spiegelnden kristallklaren, gleichsam sphärenharmonischen Tonsymbol für die Quelle, die keinen Anfang und kein Ende hat, den ewig sprudelnden »Brunnen des lebendigen Wassers« (Offb. 21,6). Und das aufgespart für den Moment der erstmaligen Kombination des 2. mit dem 3. Thema. Wohlgemerkt: erst in der Vereinigung mit dem »Lamm, das erwürget ist« verwandelt Bach die irdische in die himmlische Quelle. Will er mit der um einen Ton 119 Den Hinweis verdanke ich meinem Freund Armin Schoof. Man darf davon ausgehen, dass erst recht dem Komponisten der Gleichklang von Wort, Ton und Bedeutung nicht entgangen ist.

Das zweite Thema von Contrapunctus 14109

erweiterten »Variante« die Verwandlung des »alten Adam« in die »Auferstehung eines neuen Menschen zu einem neuen Leben«, so Luther, den Zugang zum »Strom des lebendigen Wassers«, so Offenbarung 22,1, sinnfällig machen? Dass Bach sich über die Zahl 42 als Produkt von 3 × 14 im klaren war, darf man annehmen, denn dabei handelt es sich um »die mit der Ordnung von 3 × 14 Generationen festgestellte heilsgeschichtliche Bestimmung des Messias Jesus«,120 wie sie zu Beginn des Matthäus-Evangeliums so akkurat vorgerechnet wird. Mit der Erweiterung des 2. Themas um einen Ton auf 3 × 14 Töne unmittelbar vor der Wiederkunft des »David-Themas« scheint Bach noch einmal ganz bewusst die Davidssohnschaft des Gekreuzigten oder anders herum: David als das »Vorausbild Christi« – sich selbst als »Crucigerus« und »Davidssohn« inbegriffen – zahlensymbolisch in Erinnerung gebracht zu haben.

120 Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg i. Br. 2009, Sp. 442.

Das erste Thema von Contrapunctus 14

Bei der Beschreibung der Beschaffenheit des Eröffnungsthemas und der Einschätzung seiner besonderen Funktion für die Schlussfuge sind sich alle Kommentatoren einig. In dem Thema ist der »stile antico«, die Gravitas, die Majestät der alten Musik, prototypisch ausgeprägt. In seiner halbtonlosen Faktur innerhalb des unteren Quintraums bildet es den äußersten Gegensatz zum dritten, dem B-A-C-H-Cis-D-Thema, das die verbleibende Quart nach oben chromatisch ausfüllt, wobei die spätere Kombination der beiden Themen zur komplementären Deckung beider Pole führen wird. Man hat das Thema auch als die auf ihre Elementartöne reduzierte Variante des Grundthemas angesehen. Einhellig wird die Siebenzahl der Töne hervorgehoben, wie immer man sie versteht: als heilige Zahl, als göttliche Vollkommenheit, als Hälfte von 14 usf.121 Und schließlich springt die horizontale Spiegelform des Gebildes ins Auge, die, wenn überhaupt, unterschiedlich interpretiert wird: etwa als Bezugnahme auf die vorausgegangenen beiden Spiegelfugen oder auf die zu erwartende gespiegelte Anlage des verlorenen Schlussteils. Die Antworten auf die Frage nach einer möglichen symbolischen Bedeutung der Palindrom-Gestalt bewegen sich im wesentlichen in Umschreibungen wie »in sich ruhend, Repräsentation des reinen ›Seins‹«,122 »ruht ganz in sich selbst«,123 121 Vgl. Schleuning, wie Anm. 10, S. 153. 122 Eggebrecht, wie Anm. 4, S. 22. 123 Schleuning, wie Anm. 10, S. 154.

Das erste Thema von Contrapunctus 14111

oder allenfalls, so der Anthroposoph Erich Schwebsch, »melodisch eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Werden, das in sich selbst zurückkehrt.«124 Erich Bergel findet »den melodischen Ablauf … weniger interessant, obzwar sich die symmetrisch-krebsgängige Anlage seiner Melodielinie um die Mittelachse – f – graphisch auf dem Papier sehr schön ansieht« und »das Wertverhältnis der Töne vor und nach dieser Mittelachse dem Prinzip des goldenen Schnitts« entspricht.125 Zusammenfassend will sich Peter Schleuning zwar der Vermutung nicht entziehen, die Gestalt des Themas könnte außermusikalischen Absichten entsprungen sein, doch warnt er: »Alles andere, das mehr ins Einzelne der Semantik geht, führt nur in Sackgassen.«126 All den an sich zutreffenden, aber eher allgemein gehaltenen Kennzeichnungen sind nun doch einige neue Sichtweisen hinzuzufügen, die allerdings handfest »ins Einzelne der Semantik« gehen. 1. »Credo in unum Deum«127 intoniert der Bass:

– vergleichbar dem »Credo« der h-Moll-Messe und dem ersten Thema der trinitarisch angelegten dreithemigen Schlussfuge EsDur in »Clavierübung 3. Teil«,  

124 Schwebsch, wie Anm. 39, S. 344. 125 Bergel 1980, wie Anm. 28, S. 215. 126 Schleuning, wie Anm. 10, S. 155. 127 Die entgegen der korrekten Betonung »Crédo« betonte 2. Silbe braucht nicht zu irritieren. Man kann das sogar als gewollte Akzentuierung des Ich, als Unterstreichen des persönlichen Bekenntnisses ansehen.

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Das erste Thema von Contrapunctus 14

beide Anfänge gleichermaßen im feierlichen Grave des »stile antico« die Majestät Gottes, des allmächtigen Vaters, beschwörend. Dass es tatsächlich Bach selbst ist, der hier sein Credo anstimmt und es mit Umkehrungen und Engführungen in einem mächtigen Klangdom kunstvoll und nicht enden wollend durchführt,128 gibt er in dem 41-tönigen »Laufthema« der anschließenden zweiten Teilfuge zu erkennen, die in Takt 114 aus den beiden überlappenden Schlusstakten des »Credo« förmlich hervorquillt (siehe S. 104). »Credo« und »Confiteor«, in dieser Weise engstens aneinander gebunden, sind die einzigen Stücke der Messe, deren Text »Ich« sagt, und mit diesem »Ich« ist in der ersten und zweiten Teilfuge von Contrapunctus 14 unzweifelhaft »Ich, J. S. Bach« gemeint – ganz und gar, wenn nach der ersten Durchführung der zweiten Teilfuge ab Takt 149 (Quersumme 14) zu dem »Confiteor-Thema« das »Credo« des ersten Themas als beibehaltenes Kontrasubjekt hinzutritt. Umso auffälliger danach die Zäsur am Ende der zweiten Teilfuge. Nach dem mit einem Vorhalt versehenen Schlussakkord in der Subdominante ein kurzes Atemholen, bevor das dritte, das letzte der neuen Themen überhaupt, frei eintritt:

Ein Blick zurück auf Contrapunctus 8 und 11: auch dort vor dem Einsatz des – noch verfremdeten – Kreuzesthemas das gleiche Innehalten, kadenzierender, mit Vorhalt versehener Halbschluss:

128 Man höre diese Musik einmal im Pleno der Schnitger-Orgel zu Alkmaar, von Helmut Walcha gespielt! (Deutsche Grammophon, Archiv-Aufnahme 1956).

Das erste Thema von Contrapunctus 14113

Jedes Mal ein Seufzer vor dem Beginn der nächsten Teilfuge; das neue Thema in Contrapunctus 8 als Krippenholz des Stalles, in Contrapunctus 11 als Kreuzesholz auf Golgatha, in Contrapunctus 14 als das Siegeskreuz des Lammes. Und der hier seufzt, sich an die Brust schlägt: B-a-c-h! Die Analogie der drei Fugenteile zur Abfolge der Messe-Stücke »Credo« – »Confiteor« – »Agnus Dei« lässt sich nicht übersehen, und damit würde folgerichtig der fehlende vierthemige Schlussteil mit seiner Wiederkunft des »DavidThemas« der messianischen Heilserwartung des die Messe beschließenden »Dona nobis pacem« entsprechen. 2. In der Rückläufigkeit des Anfangsthemas liegt, wie eine Inhaltsangabe zum vierthemigen Ganzen, der Verweis auf das »et iterum venturus est« beschlossen. 3. Die horizontale Spiegelform des Themas lässt an das PaulusWort aus 1. Korinther 13 denken, wo es heißt: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« Das, was Bach im ersten Thema von Contrapunctus 8 und nochmals in der Schlussfloskel der vierstimmigen Spiegelfuge Contrapunctus 12 »stückweise« andeutet  – »in einem dunklen Wort«  –, fügt sich im »CredoThema« der Schlussfuge zum Ganzen, wird zum »dann aber von Angesicht zu Angesicht«:

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Das erste Thema von Contrapunctus 14

Das eine Mal wird der Bogen vom ersten Thema der Schlussfuge zum allerersten neuen Thema überhaupt gespannt. Oder anders gesagt: die zweite Hälfte des »Incarnatus«-Themas hat, in der Kadenzklausel »verklausuliert«, ihren Ursprung im Beginn von Contrapunctus 14. Gleichfalls erweist sich die Schlusswendung von Contrapunctus 12 (zuerst als Normalform im Bass, dann gespiegelt im Sopran, beide Male mit Dur-Terz) als aus dem »Credo«-Thema der Schlussfuge abgeleitet. In beiden Fällen wird erst am Anfang der Schlussfuge der Sinn der betreffenden Tonpartikel vollständig offenbar: Geburt und Tod des »Menschensohns« sind zuletzt wieder dort eingefügt und aufgehoben, von wo alles ausging. Weniger umständlich hat das Luther in der 3. Strophe seines Adventslieds »Nun komm, der Heiden Heiland« bündig und ohne Rücksicht auf die Betonung gereimt: (Cp. 8): »Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater (Cp. 12): fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.«

Luthers Verse hören sich an, als hätte er Bachs Noten vor Augen gehabt – dabei war es umgekehrt. 4. Endlich drängt sich eine weitere Deutung auf, eine Deutung, die inzwischen nicht mehr überraschen dürfte. Mit der auffällig palindromischen Tonfolge scheint Bach den gleich dreimal vorkommenden zentralen Kernsatz im Buch der Offenbarung (Kap. 1,8; 21,6; 22,13) zu zitieren: »Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende« – beim dritten Mal ist die Aussage sogar verdreifacht: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende«. Anfang und Ende der Zeit, ob vorwärts oder rückwärts gelesen, decken sich, fallen in eins zusammen: in

Das erste Thema von Contrapunctus 14115

Gott (»in unum Deum«) ist die Zeit in der Ewigkeit aufgehoben. Lässt sich eine anschaulichere musikalische Formel dafür finden? Die Siebenzahl der Töne mag an den siebenarmigen Leuchter erinnern. Viel mehr freilich stützt die massive Präsenz der Zahl 7 – sieben goldene Leuchter, sieben Sterne, sieben Engel, sieben Gemeinden, sieben Siegel usf. (insgesamt 15 mal) – die These von Bachs bewusstem Zugriff auf das letzte Buch der Bibel als Vorlage für den Abschluss seines in Altes und Neues Testament gegliederten großen Fugenwerks. Wie eine endgültige Bestätigung lesen sich die im letzten Kapitel der Offenbarung versammelten Worte: »Und er zeigte mir einen Strom des lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes« (Vers 1), »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende« (Vers 13) und schließlich »Ich, Jesus, habe gesandt meinen Engel, solches euch zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.« (Vers 16/17). Wer erkennte, die drei Textstellen zusammengenommen, darin nicht alle Protagonisten der Schlussfuge? Im Schlusskapitel der Offenbarung des Johannes, des letzten Buches der Bibel, werden sie alle noch einmal genannt, die Bach im vierthemigen Schlussteil der Schlussfuge vereinigen wollte: »das A und das O« (1. Thema), »der Strom des lebendigen Wassers« (2. Thema), »das Lamm« (3. Thema), »David, die Wurzel und das Geschlecht Jesu, des hellen Morgensterns« (das Grundthema des Werks, das nach der Abbruchstelle als viertes Thema wieder erscheinen sollte), und mitten inne der, von dem es heißt »Ich, Jesus, habe gesandt meinen Engel, solches euch zu bezeugen für die Gemeinden.« Die Kombination der vier Themen: ein sowohl kontrapunktisch wie harmonisch fein abgestimmter, in allen vier Partien singender vollkommener Tonsatz:

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Das erste Thema von Contrapunctus 14

Noch ein Letztes. Es wurde schon der Anklang der beiden Luther­ lieder »Aus tiefer Not« und »Wir glauben all an einen Gott« an das Grundthema erwähnt. Wem aber war schon bewusst, dass der Beginn des von Bach so oft vertonten Chorals »Wie schön leuchtet der Morgenstern« der Dur-Version des D-A-F-D-Themenkopfs entspricht? Im Liedtext heißt es dann »die süße Wurzel Jesse« und »Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm«.129 – die drei Wörter »Morgenstern«, »Wurzel«, »David« dem Vers 16 vom Schlußkapitel des Offenbarungsbuches unmittelbar entnommen.

Für Zahlensymboliker: Die Choralmelodie besteht aus 70 Tönen; die Summe der Töne aller vier Themen der Schlußfuge beträgt gleichfalls 70 (7 + 41 + 10 + 12) – das ergibt zusammen 140 = 10 × 14 Töne! 129 In seinem Artikel über »Wie schön leuchtet der Morgenstern« führt Joachim Stalmann aus, dass der Choral »seiner ursprünglichen Intention nach … unter die Lieder ›Zum Ende des Kirchenjahres‹ gehört: der Text leitet sich von Offb. 22,16, einer endzeitlichen Aussage … her.«, in: »Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch«, Heft 4, Göttingen 2002, S. 51 f. Dazu sei weiter angemerkt: Auch in der 7., der letzten Liedstrophe scheinen gleich drei Motive auf, die zur theologischen Bildwelt der Schlussfuge gehören: mit »das A und O, der Anfang und das Ende« der Beginn des letzten Kapitels der Offenbarung; mit »du schöne Freudenkrone« das »Christus Coronabit Crucigeros« und mit der Schlusszeile »deiner wart ich mit Verlangen« sowohl das die Offenbarung beschließende »Amen, ja komm, Herr Jesus!« wie auch die auf die Wiederkunft Christi bezogene Überschrift, die wir der Schlussfuge gegeben haben: »et iterum venturus est«.

Das erste Thema von Contrapunctus 14117

Nicht weniger verwunderlich ist freilich noch ein anderes. Es zeigte sich, dass in Takt 158 von Contrapunctus 11 die Choralstrophe »O Haupt voll Blut und Wunden« bzw. »Wenn ich einmal soll scheiden« anklingt (S. 56/57). In der im 18. und 19. Jahrhundert geläufigen Fassung von »Wie schön leuchtet der Morgenstern« lautet die dritte Melodiezeile des Stollens zu dem Text »die süße Wurzel Jesse … hast mir mein Herz besessen.«:

Das ist, vom Schlußton abgesehen, identisch mit dem Beginn von »O Haupt voll Blut und Wunden«:

Dass nun aber auch noch dem alttestamentlichen »David« des Grundthemas in seiner – per Kreuzeszeichen – nach Dur gewendeten Gestalt bei der Wiederholung des Stollens das neutestamentliche »Du Sohn Davids« gegenübersteht,

das will einem schon die Sprache verschlagen! Was kann ich da anderes lesen als »David, das Vorausbild Christi« bzw. »David, der präexistente Christus«? Wie denn, wenn Bach die vierthemige Teilfuge, nachdem darin »nachgehends in allen 4 Stimmen Note für Note umgekehret« wurde, zuletzt in den Choral »Wie schön leuchtet der Morgenstern« hätte münden lassen? Sollte der verschollene Schluss eines Tages ans Licht kommen, und es wäre wirklich an dem: mich würde es nicht wundern.

Nachlese und Ausblick

Wir stehn am Ende eines Weges, dessen Richtung von dem Moment vorgegeben war, an dem das Grundthema des Werks, genauer sein Kopf, als »David« und das vollständige Thema als Tonsymbol für »König David« begriffen wurde. Da ist es an der Zeit, auf gewisse offen gebliebene Fragen noch einzugehen, die sich im Verlauf dieser Arbeit gestellt haben. Zuvörderst könnte der aufgezeigte programmatische Einschlag befremden, um nicht den Begriff »Programmmusik« zu gebrauchen. Nicht von ungefähr ist in unserem Zusammenhang der Name »Kuhnau« gefallen. Sollte das Kapitel »Bach und Kuhnau« eines Tages geschrieben werden,130 wären darin bemerkenswerte Berührungspunkte zwischen der Kunst der Fuge und dem Schaffen von Bachs Leipziger Amtsvorgänger anzusprechen. Kuhnaus Cembalowerk Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien in 6 Sonaten, im Jahr 1700 als prächtiger Druck erschienen, war Vorbild für das zwei Jahre später vom jungen Arnstädter Organisten komponierte Capriccio auf die Abreise des geliebtesten Bruders (BWV 992), gleichfalls für Cembalo und mit kommentierenden Überschriften:131 reinste Programmmusik, eine Gattung, der Bach sich danach nie mehr zuwenden sollte. Nicht viel anders verfuhr er mit der Variationsform. Nach den unter dem 130 Von den gelegentlichen persönlichen Begegnungen der beiden ist bestens belegt die im Frühjahr 1716 gemeinsam durchgeführte dreitägige Orgelabnahme der neuerbauten großen Orgel in der Liebfrauenkirche zu Halle (vgl. Bach-Dokumente I, Nr. 85 und Bach-Dokumente II, Nr. 76). 131 Siehe Hermann Keller, Die Klavierwerke Bachs, Leipzig 1950, S. 60–62.

Nachlese und Ausblick119

Einfluss seines Lehrers Georg Böhm in Lüneburg entstandenen Choralpartiten erlosch sein Interesse an Variationen – bis er sich der Gattung im Spätwerk wieder zuwandte (Goldberg-Variationen, »Veränderungen über Vom Himmel hoch«). Nachgerade eine Steilvorlage wird dann Kuhnaus zweibändige Sammlung Neue Clavier Ubung Erster Theil (1689) und Anderer Theil (1692): daran angelehnt Bachs Großprojekt Clavier Übung, im Druck herausgebracht von 1721 bis Anfang der 1740er Jahre. Es enthält exemplarisch die wichtigsten tasteninstrumentalen Gattungen der Zeit: Partita bzw. Suite (Clavier Übung I: von 1721–1730 in sechs Einzelheften erschienen, 1731 als »OPUS 1« zu einem Band vereinigt), Italienisches Concerto und Französische Ouvertüre (Zweyter Theil der Clavier Übung, 1735), Choralbearbeitung, Präludium und Fuge (Dritter Theil der Clavier Übung für Orgel, 1739) und Variation (Clavier Übung [IV] Aria mit dreißig Veränderungen, die sog. Goldberg-Variationen, 1742). Eine Form blieb unberücksichtigt bzw. unterrepräsentiert: die Fuge. Wie naheliegend daher, dass die Kunst der Fuge als »Clavier-Übung fünfter Teil« die Reihe hätte beschließen sollen. Dafür würde auch sprechen, dass Bach den Originaldruck des Fugenwerks mit ungewöhnlichem floralem Schmuck hatte versehen lassen wie zuvor schon Kuhnau die beiden Teile seiner Clavier Ubung.132 Und wie Bach in den Goldberg-Variationen das spieltechnisch-virtuose Element und seine späte Kanonkunst mit der aus den Lüneburger Jahren herübergeholten Variationsform verknüpft, so ist es in der Kunst der Fuge die Verschränkung kompliziertester Kontrapunktik mit wiederum Variationsprinzip (»Variationen im Großen«) und mit der über den genialischen Jugendstreich von 1702 auf Kuhnau zurückgehenden biblisch ausgerichteten Metaphorik. Inzwischen möchte man fast meinen, die Spuren eines Reflexes auf die Kuhnauschen Vorgaben ausmachen zu können – so, als 132 Siehe Wiemer, Johann Heinrich Schübler, der Stecher der Kunst der Fuge. In: Bach-Jahrbuch 1979, S. 88.

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Nachlese und Ausblick

habe Bach in einer Art postumem kollegialem Wettstreit die von seinem Vorgänger angelegte Messlatte um ein Vielfaches angehoben, um seinerseits, soweit es die Kunst der Fuge betrifft, eine das Vorbild unendlich weit hinter sich lassende »Biblische Historie« in dreimal 6 Fugen und Kanons »musicalisch vorzustellen«. Was mit dem frühen vergnüglichen Capriccio seinen Anfang nahm, vollendet sich auf einer höchsten sublimierten Stufe im kontrapunktischen Vermächtnis von Bachs großem Fugenwerk. Ein ganz anderer längst fälliger möglicher Einwand soll nicht übergangen werden. Wenn wir davon ausgehen, dass sämtliche Themen von Anfang an außer auf ihre kontrapunktische Eignung zugleich auf ihren speziellen metaphorischen Gehalt hin erdacht worden sind: Wie kann dann dieser Anteil zu den beiden in Konzeption und Reihenfolge völlig verschiedenen Werkfassungen gleichermaßen passen? Im Kern ist ihr christologischer Bezug beide Male der gleiche. Er tritt in der autographen Frühfassung sogar akzentuierter hervor, indem hier – anders als im Druck – die Zusammengehörigkeit von Krippe und Kreuz im Fugenpaar 10/11 betont ist. Taufe/ Buße (5/6) und Grablegung/Auferstehung (131,2/141,2) erscheinen dann im Druck zwar anders platziert, aber wie ehedem paarweise. Bei den Kanons sieht die Sache anders aus. Da sind in der Frühfassung nur »Sanguineus« (9) und »Melancholicus« (12) vorhanden. Sie rahmen das Krippe/Kreuz-Paar (10/11). Sollte mit dem tänzerisch-beschwingten Oktavkanon das »Siehe, ich verkündige euch große Freude« des Engels gemeint gewesen sein? Und hätte der dem »Crucifixus« folgende schmerzliche Umkehrungskanon vielleicht an »O selige Gebeine, seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine.« (Matthäus-Passion Nr. 77) denken lassen sollen? Die sechs Fugen mit dem Grundthema (1–4, 7, 8), im Autograph noch ohne den für den Druck nachkomponierten Contrapunctus 4, lassen sich schon hier unverändert auf König David beziehen.

Nachlese und Ausblick121

Wenn in der Frühfassung die vierthemige Schlussfuge fehlt, dann muß dies nicht bedeuten, dass sie zu dem Zeitpunkt noch nicht konzipiert war. Im Gegenteil: es ist davon auszugehen, dass die Quadrupelfuge als Abschluss von Anbeginn eingeplant war und der Reinschrift im Entwurf, mindestens als Kombination der vier Themen, beigelegen hat. Von Anfang an müssen die vier Themen aufeinander zu entworfen gewesen sein. Darauf deutet die bewundernswerte kontrapunktisch-harmonische Feinabstimmung des seinerzeit von Gustav Nottebohm entdeckten vierthemigen Satzgefüges (vgl. S. 81). In Marpurgs Abhandlung von der Fuge ist unter den Regeln, die beim Komponieren von mehrthemigen Fugen zu beachten sind, zu lesen: »Alle die verschiedenen Sätze [= Themen], die untereinander verbunden werden sollen, müssen, bevor man sich an die Arbeit machet, erstlich nach den Regeln des doppelten Contrapuncts zusammengesetzet werden … Hiernach entwirft man den Grundriß der Wiederschläge [das sind die Themeneinsätze] in der Partitur.«133 Daher ist Christoph Wolffs Annahme kaum nachzuvollziehen, Bach sei »offenbar auf den Gedanken, eine ­Quadrupelfuge zu komponieren, erst gekommen, als die Sticharbeiten bereits begonnen hatten.«134 Und seiner Ansicht, die Frühfassung mit ihren 12 Fugen und 2 Kanons könne »als vollendet gelten, da sie das Werk in einer planvollen und in sich abgeschlossenen Form bietet«,135 wäre entgegenzuhalten: Das als Manuskript überlieferte und in die Druckausgabe übernommene Fragment der Schlussfuge ist schon der autographen Frühfassung an letzter Stelle hinzuzudenken. Immer wieder ist gefragt worden, was Bach bewogen habe, während der Druckvorbereitungen die ursprüngliche Werkanlage 133 Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge, 1.  Teil, 1753, S. 131/132; siehe auch Wiemer, wie Anm. 2, S. 69, Anm. 129. 134 Chr. Wolff, wie Anm. 23, S. 476. 135 Chr. Wolff: Bach, Die Kunst der Fuge BWV 1080, Frühere Fassung. Erstausgabe. Leipzig 1986, Vorwort S. 3.

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plötzlich umzuwerfen. Schleuning kommt zu dem Schluss: »Etwa Anfang 1749 also müßte etwas geschehen sein, das Bach elektrisiert und zur neuen Konzeption gebracht hat.«136 und »Die neue Idee müßte Ende 1748/Anfang 1749 in ihm gewachsen sein und zunächst Umstellungen, dann Fuge 4 und zwei neue Kanons, schließlich kleinere Ergänzungen bewirkt haben.«137 Die Begründungen, die Schleuning zusammenträgt und kommentiert, auch seine eigenen Argumente, beziehen sich ausnahmslos auf formale und kompositorische Aspekte. Dabei ist schwer vorstellbar, dass solche konzeptionellen Erwägungen den Komponisten blitzartig getroffen hätten. Offensichtlich entzündete sich der Funke an etwas, das jenseits kontrapunkttechnischer Erfordernisse und formgestalterischen Kalküls lag. Es betraf gleichermaßen die beiden Großprojekte, mit deren Endredaktion bzw. Druckvorbereitungen Bach zu der Zeit beschäftigt war: hier wie dort galt es – sozusagen auf den letzten Drücker – das »Crucifixus« in die zentrale Position zu rücken. Wie Bach dabei vorging, das hat seine Spuren deutlich hinterlassen. In der Messe hat er das beidseitig beschriebene Blatt mit dem wohl im Herbst 1749 erst nachkomponierten »Et incarnatus est« in die Partitur eingefügt. So ergab sich der Dreierblock der Chorsätze »Et incarnatus est« – »Crucifixus« – »Et resurrexit«, welcher das formale und inhaltliche Zentrum des »Credo« bildet. Dazu Friedrich Smend: »Den absoluten Mittelpunkt aber … bildet das eine Wort ›Crucifixus‹. Wir haben gesehen, daß dies nicht von Anfang an so war; es wurde erst zum Zentrum durch die Einschaltung des Chores ›Et incarnatus est‹ … Luthers Theologia Crucis steht vor uns.«138 Nicht anders beim großen Fugen-Zyklus: erst in der Druckfassung erhält das »Crucifixus« als Contrapunctus 11 seine zentrale Stellung innerhalb der »neutestamentlichen« Werkhälfte. Dies 136 Schleuning, wie Anm. 10, S. 102. 137 Ebenda S. 101. 138 Friedrich Smend, Bachs h-moll-Messe. Entstehung, Überlieferung, Bedeutung. In: Bach-Jahrbuch 1937, S. 54 f.

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vor allem scheint das elektrisierende »etwas« gewesen zu sein. Die »neue Idee« war Bach so wichtig, dass er den vorauszusehenden Zeitverlust in Kauf nahm – was sich hernach so verhängnisvoll auswirken sollte. Dabei ließen sich die Änderungen mit verhältnismäßig geringem Aufwand bewerkstelligen. Bach brauchte bloß den vorhandenen Bestand neu zu sortieren und ihn auf »Altes und Neues Testament« zu verteilen. Für das »Alte Testament« war, um auf die Siebenzahl zu kommen, Contrapunctus 4 neu zu komponieren. Für das »Neue Testament« waren die beiden Kanons sowie das »Portal« zu Contrapunctus 10 nachzuliefern, bei Contrapunctus 14 der vierthemige gespiegelte Schlussteil anzuhängen und das Ganze in seine an den heilsgeschichtlichen Stationen bzw. den Artikeln des Symbolum ausgerichtete Abfolge zu bringen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die beiden Großprojekte Messe und Fugenzyklus haben im gleichen Zeitrahmen der 30er und 40er Jahre allmählich Gestalt gewonnen. Etwa ab 1747 nimmt der parallel verlaufende Schaffensprozess Fahrt auf mit dem Ziel, beide Werke fertigzustellen und das eine davon im Druck herauszubringen. Dann zeitgleich das plötzliche Innehalten und, den gemeinsamen Punkt betreffend, der Eingriff im »Credo« der Messe sowie die notwendig gewordene großräumige Neugestaltung des Tastenwerks. Und schließlich, im Wettlauf mit der Zeit, die Vollendung der Partitur des großen Chorwerks auf der einen Seite; auf der anderen, gleichsam auf der Strecke geblieben, der zwar ebenfalls vollendete, aber in der auf uns gekommenen Druckfassung nicht mehr in allen Belangen Bachs Absicht wiedergebende Fugenzyklus. All das berührt die jüngst aufgekommene Frage, welches der beiden nun Bachs letztes Werk sei. Ausgehend von den Ergebnissen seiner Forschung zur Entwicklung der Spätschrift Bachs kommt Yoshitake Kobayashi zu dem Schluss: »Nunmehr ist nicht die Kunst der Fuge, sondern die h-Moll-Messe als Bachs Opus ultimum anzu-

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sehen.«139 Dagegen Anatoly P. Milka (St. Petersburg) aufgrund inzwischen neu aufgetauchter Dokumente: »Es gibt mithin Grund zu der Annahme, daß das ungefähre Datum der Vollendung der H-Moll-Messe der letzte Monat des Jahres 1749 (wahrscheinlich die Monatsmitte) ist, während die Kunst der Fuge innerhalb der ersten drei Monate des Jahres 1750 abgeschlossen wurde. Sollte dies der Fall sein, so wäre Bachs opus ultimum die Kunst der Fuge, wie es ja auch im Nekrolog behauptet wird.«140 Es hat den Anschein, als wollte sich dieser besondere Fall einer Alternativlösung entziehen und auf das hinauslaufen, was dem widersprüchlichen Befund nun einmal entspricht: h-Moll-Messe und Kunst der Fuge – beide zusammen bilden Bachs opus ultimum. Von langer Hand geplant, sind beide ungefähr zur gleichen Zeit fertig geworden, nur dass es Bach bei der Kunst der Fuge nicht vergönnt war, wie nach dem »Dona nobis pacem« der Messe, sein »Fine« mit »DSGl.«141 (»Deo Soli Gloria«: »Gott allein die Ehre«) unter den Schlussakkord zu setzen. Und beide gründen, bei gleichem wissenschaftlichem Anspruch, auf gleicher theologischer Ausrichtung. Doch wie gegensätzlich ihr Äußeres! Hier »Die große catholische Messe«142, das summum von Bachs Vokalmusik: aufwendig besetzt mit Chor, Orchester und Solisten, bei größter stilistischer und formaler Vielfalt; sein Ort der Festgottesdienst mit Hofstaat und großstädtischer Bürgerschaft. Dort »Bach’s last harpsichord work«,143 das Schlusswort seiner tasten139 Y. Kobayashi, Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs. Kompositions- und Aufführungstätigkeit von 1736 bis 1750. In: Bach-Jahrbuch 1988, S. 62. 140 A. P. Milka, Zur Datierung der H-Moll-Messe und der Kunst der Fuge. In: Bach-Jahrbuch 2010, S. 168. 141 Faksimile-Ausgabe Inselverlag Leipzig 1924. 142 So bezeichnet im Nachlassverzeichnis von C. P. E. Bach, Bach-Dokumente III, Nr. 957, S. 495. 143 Gustav Leonhardt, The Art of Fugue. Bach’s last harpsichord work, Den Hag 1952.

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instrumentalen Publikationen: beschränkt auf Fuge und Kanon, für einen begrenzten Kreis von Abnehmern bestimmt, also fürs stille Kämmerlein,144 Studierstube und Andachtsraum in einem, um sich dort lesend und spielend in die kontrapunktische Wunderwelt zu vertiefen und sich zu versenken in die darin verborgenen Mysterien rund um das »et incarnatus est« und das »crucifixus etiam pro nobis«. Doch wie weit wollte Bach überhaupt irgend jemanden an den interna der dem Werk eingeprägten Kehrseite teilhaben lassen? Vielleicht gilt hier erst recht, was Martin Jansen einst im Blick auf die symbolische Verwendung der Zahlen bei Bach erklärt hat: »Umwelt, Zunftkollegen und Schüler ließ er nicht in seine Geheimnisse blicken.«145 Andererseits konnte er seinen bibelfesten, in heute unvorstellbarem Maß im christlichen Glauben und kirchlichen Leben verwurzelten Zeitgenossen auch auf diesem Felde einiges zutrauen. Das lehrt ein Seitenblick auf den von christlich-theologischer Symbolhaftigkeit durchtränkten, »Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von dergleichen Arbeit« gewidmeten Dritten Theil der Clavier Übung. Dennoch ist die Kunst der Fuge alles andere als das verkleinerte instrumentale Abziehbild des großen Chorwerks. Bei aller Verwandtschaft besitzt der Fugenzyklus das nur ihm eigene Gen, das ihn unverwechselbar macht, und mit dem er, sowohl seinen Inhalt wie seine Genese betreffend, chronologisch viel weiter zurückgreift als die Messe. Gemeint ist das d-a-f-d, die Tonfolge, aus der das Ganze hervorwächst: gewissermaßen der Keim, in dem alles angelegt ist, was Bach dann von der »süßen Wurzel Jesse« und dem »Sohn Davids aus Jakobs Stamm« zu berichten und zu bezeugen unternimmt.

144 Alles Bedenkenswerte hinsichtlich einer – von Bach niemals intendierten – öffentlichen Darbietung des Werks findet sich in Eggebrechts Kapitel »Rezeption«, wie Anm. 4, S. 115–127. 145 M. Jansen, Bachs Zahlensymbolik, an seinen Passionen untersucht, BachJahrbuch 1937, S. 117.

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Noch ein Gedanke sei nicht zurückgehalten. Er betrifft die Bezeichnung der Fugen als »Contrapunctus« – ein Begriff, den Bach nie zuvor und auch für die Kunst der Fuge erst in der Druckfassung verwendet hat. In J. G. Walthers Musicalischem Lexicon sucht man »Contrapunctus« für eine musikalische Gattung bzw. Form vergebens. Gemeinhin wird angenommen, Bach habe mit dem in den einschlägigen Schriften von Fux und Heinichen gebrauchten Terminus den lehrhaften Zweck der Stücke betonen wollen. »Weil es sich um ein theoretisches Werk handelt, schreibt Bach die Fugen in Partitur und betitelt sie Kontrapunkte.«, so Albert Schweitzer.146 Christoph Wolff bemerkt: »Aus der Tatsache, daß er für die einzelnen Fugen den Begriff ›contrapunctus‹ verwendete, geht deutlich hervor, daß er die Stücke nicht ausschließlich als Fugen verstanden wissen wollte, sondern vielmehr als Muster kontrapunktischer Sätze.«147 Nach allem, was in der vorliegenden Arbeit zur Sprache kam, bietet sich nun doch noch eine ganz andere Erklärung an. Unter »Contrapunct« – entstanden aus dem mittelalterlichen »punctus contra punctum«=»Note gegen Note« – versteht man eine gleichberechtigte Gegenstimme zu einer Melodie oder einem Thema; man spricht auch von »Kontrasubjekt«. Wenn Bach also anstelle »Fuga« Contrapunctus schreibt: Könnte er möglicherweise damit die außermusikalische Kehrseite der Fugen gemeint, ja gar umgekehrt einen jeden dieser erstaunlichen Tonsätze als »Contrapunctus« zu dem darin beschlossenen theologischen Inhalt verstanden haben – durchaus in der Reihenfolge von Luthers Diktum »Ich gebe nach der Theologie der Musik die nächste Stelle und die höchste Ehre.«? Am Rande möchte ich die gelegentlich aufgeworfene Frage noch anschneiden: Hat Bach als Titel »Die Kunst der Fuge« vorgesehen, wie es von fremder Hand auf der ersten Seite der autogra146 A. Schweitzer, J.S. Bach, Wiesbaden 1908, S. 397. 147 Chr. Wolff, wie Anm. 23, S. 475.

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phen Frühfassung (dort »Fuga«, Abb. 8) und dann im Originaldruck geschrieben steht, oder einfach »Kunst der Fuge«? Antwort: Bach hat vermutlich als Titel »Kunst der Fuge« im Sinn gehabt. Die 12 Buchstaben (5 + 3 + 4) entsprechen den 12 Tönen bzw. Anschlägen des dem Werkganzen zugrundeliegenden Themas, bis hin zu seiner rhythmischen Faktur:

Dass Bach, nicht anders als beim »Wohltemperierten Klavier«,148 auch diesmal nichts dem Zufall überlassen und sogar die Wörter und Buchstaben auf die Goldwaage legen würde, damit war fast zu rechnen. Dass nun aber die Anzahl 5 + 3 + 4 auch noch exakt den Seitenlängen des pythagoreischen Dreiecks entspricht,

dessen Lehrsatz – »In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Quadrat der Hypotenuse« bzw. »a2 + b2 = c2« – schon der Pennäler des Ohrdrufer Gymnasiums aufsagen und anwenden mußte: lediglich eine kuriose Koinzidenz?149

148 Siehe meine Studie »Christusmonogramm und Das wohltemperirte Clavier«. Manuskript 2016. 149 Immerhin wäre an Mizlers »Sozietät der musikalischen Wissenschaften« zu erinnern, der Bach 1747 als 14. Mitglied beitrat. In deren Bestrebungen, »die Majestät der alten Musik wiederherzustellen«, spielten die alten Griechen, darunter insbesondere Pythagoras, eine herausragende Rolle.

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Eine Kleinigkeit sei noch angemerkt. Das Grundthema mit seinen 12 Tönen (David als Repräsentant der 12 Stämme Israels) sollte, nach seinen zahlreichen Metamorphosen, am Schluß der letzten Fuge in seiner Urgestalt wiedererscheinen. Nachdem ein jedes der Themen der vorausgegangenen drei Teilfugen sich auf eine bestimmte Textstelle der Offenbarung beziehen ließ: sind die zwölf Anschläge des »David-Themas« dann nicht auch als Hinweis auf das vorletzte Kapitel der Offenbarung zu verstehen, in dem das neue Jerusalem beschrieben wird? Dort heißt es im Vers 21: »Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, und ein jegliches Tor war von einer einzigen Perle.« Dass es ausgerechnet Kapitel 21,21 ist, in dem die zwölf Perlen genannt werden, wird dem Zahlenfreund Bach als sonderbar verfügte Dreingabe erschienen sein, denn: 21 + 21 = 42; das ist, wie bereits gesagt, einerseits die Anzahl der Töne, die er am Schluß der vorletzten Teilfuge dem zuvor 41-tönigen zweiten Thema gegeben hatte, andererseits das Produkt von 3 × 14 – entsprechend der zu Beginn des Matthäus-Evangeliums hervorgehobenen drei vierzehngliedrigen Geschlechterfolgen des Stammbaums Jesu. Hier schließt sich der Kreis: Die Tonfolge d-a-f-d gab den Anstoß, sich auf den Weg zu machen, um »die inhaltliche Absicht, die Bach mit dem Werk verfolgte« (Schleuning), aufzuspüren. Ob das gelungen ist, darüber mögen die Meinungen geteilt sein. Letzte Gewissheit vermöchte man nur von Bach selbst erhalten. Seine Zustimmung einmal angenommen, muss das zu einer Reihe von Konsequenzen für den künftigen Umgang mit dem Werk führen. Stichwort »harpsichord work«: Dass bei der Wiedergabe Orgel und Klavier – schließlich beides Tasteninstrumente – eine bevorzugte Stellung einnehmen, steht außer Frage. Bach wäre der letzte gewesen, der das Werk nicht auch auf der Orgel gespielt hätte. Er war sich der besonderen klanglichen Vorzüge des Instruments bewusst: gut möglich, dass er in

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jenen Jahren gelegentlich in einer Kirche manches ausprobiert und Kostproben daraus gegeben hat. Alle nur denkbaren Besetzungen, vom Streichquartett über das große Orchester bis hin zum Saxophon-Ensemble, sind inzwischen erprobt worden, nicht zu vergessen Gerd Zachers skurriles zehnteiliges Klang-Experiment »Die Kunst einer Fuge«.150 Bach selbst war schließlich ein unermüdlicher Bearbeiter – und »Verarbeiter« – seiner eigenen und fremder Kompositionen. Hier sind der Experimentierlust keine Grenzen gesetzt. Ganz anders, sobald es um die Reihenfolge der Stücke geht: da heißt’s endlich »Schluss mit lustig«! Meines Wissens ist selbst der überspannteste Regisseur unserer Tage noch nicht auf die Idee verfallen, Szenen und Akte einer Mozart-Oper nach Gutdünken umzustellen. Nichts anderes jedoch widerfährt der Kunst der Fuge, seit sie öffentlich aufgeführt wird. Die so wohldurchdachte Anlage ist, in bester Absicht zwar, jeder verstümmelnden Willkür ausgeliefert. Es ist höchst bedauerlich, wenn man in der aktuellen Ausgabe der Bach-Rowohlt-Monographie über die Kunst der Fuge lesen muss: »Insgesamt gesehen sind die Einzelstücke als Steine eines Baukastens zu betrachten, die sich unterschiedlich zusammensetzen lassen.«151 Alle bisherigen Anordnungsversuche, mein eigener von damals eingeschlossen, müssen sich von nun an den vorgelegten Befunden – wenn sie denn zutreffen – stellen.152 Es erübrigt sich fast hinzuzufügen, dass der jeweilige semantische Gehalt der Stücke Einfluss auf den Vortrag, sprich auf Dynamik, 150 G. Zacher, »Die Kunst einer Fuge« d. i. Bachs Contrapunctus I in 10 Interpretationen für Orgel, 1968/69 (CD: Wergo, 1996). 151 Martin Geck, Johann Sebastian Bach, Hamburg 1993, 6. Auflage 2011, S. 167. 152 Neuere Thesen, etwa diejenigen Butlers, die Kanons gehörten nach der Quadrupelfuge an den Schluss des Werks (Gregory Butler, Problems in J. S. Bach’s Art of Fugue Resolved, in Musical Quarterly 69, 1983), ad absurdum zu führen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dasselbe gilt für die Untersuchungsergebnisse von Rechtsteiner, wie Anm. 58.

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Tempo, Agogik und, besonders bei der Orgel, auf die Klangfarben nehmen wird. Man darf ruhig davon ausgehen, dass C. P. E. Bachs Anweisung »Aus der Seele muss man spielen und nicht wie ein abgerichteter Vogel«153 auf seinen Vater zurückgeht, dessen Unterricht er von Kindesbeinen an genossen hatte. Die Kompositionen des »alten Bach« kennzeichnet eine bis dahin nicht gekannte Emotionalität – und was heißt jenes in der »Auffrichtigen Anleitung« zu seinen Inventionen formulierte pädagogische Ziel »am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen« anderes als das Spielen »aus der Seele«! Das hatte vor 150 Jahren schon Hans von Bülow begriffen, wenn er seinen Schülern predigte: »Bei Bach muss man Klavier sprechen, nicht spielen.« Wie weit bei künftigen Darbietungen gar Wort und Bild zum Einsatz kommen könnten, das bleibe vorerst dahingestellt. Ein Wort noch zur Gestaltung des Schlusses. Ob man das Fragment mit dem Halbschlussakkord des Originaldrucks beendet oder die im Manuskript folgenden sieben Takte nach der Kombination der drei Themen ins Leere hinein abbrechen lässt, ob man den Choral anhängt oder nicht, das bleibt, nicht anders als bisher, dem Gusto des Interpreten überlassen. Wer sich für eine der hinzukomponierten Ergänzungen entscheidet oder eine eigene Version beisteuert, wird stets mit dem Beigeschmack leben müssen, dass all diesen Versuchen, so bachisch sie vielleicht klingen, die Authentizität fehlt, und dass sie vor allem das schier Unvorstellbare nicht leisten, was Bach, »seinem Entwurfe nach«, vorhatte, dass nämlich der letzte, der Quadrupelteil, »nachgehends in allen 4 Stimmen Note für Note umgekehret werden sollte.« Dem Bachfreund bleibt immerhin die vage Hoffnung auf den bislang ausstehenden Jahrhundertfund, der den Interpreten die Qual der Wahl abzunehmen, letzte Zweifel auszuräumen und der 153 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753, S. 119.

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Forschung die noch offenen Fragen zu beantworten vermöchte. Gemeint sind die verschollenen Zwischenmanuskripte samt Skizzen, Entwürfen, dem »anderen Grundplan«154 und dem synoptisch notierten Spiegelungsteil des Schlusses, der neuesten Erkenntnissen zufolge vermutlich wesentlich kürzer ausfallen und vor allem ein völlig anderes Layout, als allgemein angenommen, haben sollte – also jenes Kompositionsmaterial, das offenbar längere Zeit nach Bachs Tod noch vorhanden war, wie es das seither verlorengegangene Zettelchen bezeugt, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts dem Bibliothekar der Königlichen Bibliothek Berlin, Siegfried Wilhelm Dehn, vorgelegen hat, und auf dem, von Carl Philipp Emanuels Hand geschrieben, die Worte zu lesen waren: »Herr Hartmann hat das eigentliche.«155

154 Vgl. Wiemer, wie Anm. 2, Seite 51. 155 Vgl. Kolneder IV, wie Anm. 42, S. 510.

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Ich möchte noch einmal auf die zuvor schon berührte Frage zurückkommen, wem denn all das hat zugänglich sein sollen, was sich hinter der Schauseite des großen Fugenzyklus abspielt. Die erste Antwort lautete: das war Bachs Privatissimum, für niemanden sonst bestimmt. Die zweite Antwort: Bach hat den bibelkundigen und in christlichen Glaubensdingen beheimateten Zeitgenossen schon einiges zutrauen können. Indem ich die zweite Überlegung ein Stück weiter verfolge, zeichnet sich eine dritte mögliche Antwort ab. Vielleicht hat Bach ja erwogen, den Spielern und Lesern des Werkes mit einem verklausulierten Wink auf die Sprünge zu helfen, etwa in Form eines auf König David und den neutestamentlichen Davidssohn bezogenen »Symbolum«, mit der Aufforderung »Quaerendo invenietis«, die er schon im »Musikalischen Opfer« über einem der Rätsel­ kanons angebracht hatte. Das erscheint gar nicht so weit hergeholt, wenn man die 1974 ans Licht gekommenen Verschiedene(n) Canones über die ersteren acht Fundamental = Noten vorheriger Arie betrachtet, die Bach in seinem Handexemplar des Originaldrucks der Goldberg-Variationen auf der letzten Seite notiert hat (Abb. 9). Von den säuberlich geschriebenen und durchnummerierten 14 Kanons waren seither nur zwei bekannt: der »Canon triplex à 6« auf dem Gemälde von Elias Gottlob Haußmann (1746/48) und der »Canon duplex übers Fundament à 5« im Fuldeschen Stammbuch von 1747 (vgl. S. 53). In Christoph Wolffs Erstausgabe des Kanonzyklus heißt es im Vorwort: »Die 14 Kanons sind offensichtlich primär theoretischer Natur und enthüllen ihren besonderen Reiz in der Denkaufgabe, die Rätselnotation aufzulösen (Hinweise dafür sind in Überschrif-

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ten, Schlüsselungen und Einsatzpunkten gegeben) und damit den musikalischen Satz zu entfalten.«156 Das trifft zumindest auf den Stammbuchkanon nicht in Gänze zu, denn diesem Kanon hat Bach die Auflösung eines dem »musikalischen Satz« innewohnenden zusätzlichen inhaltlichen Rätsels beigegeben, bekenntnishaft mit der Überschrift »Symbolum« versehen: »Christus Coronabit Crucigeros«. Selbst der rechts unten angebrachte Widmungstext enthält eine nur wenig verschlüsselte Botschaft. Das vordergründige »Domino Possessori hisce notulis commendare se volebat J. S. Bach«, übersetzt »Dem Herrn Besitzer (des Stammbuchs) wollte durch diese geringen Noten sich empfehlen J. S. Bach«, gibt in dem wie wegwerfend formulierten »hisce notulis« = »durch diese Nötchen da« das Entscheidende zu verstehen (das lateinische »nota« heißt wörtlich »Zeichen«, »Geheimschrift«, »Chiffre«): in die »armseligen« Nötchen dieses Kanons hat der Kreuzträger Bach den Kern seines Glaubens, das Bekenntnis zu Christus und dem christlichen Kreuz, eingeflochten. Mit dem »Symbolum«, das diesen einen der vierzehn »Canones« begrifflich aufschließt, ist dem Rätselfreund der Zipfel des Tuches in die Hand gegeben, das die hintergründige Bedeutung der übrigen Kanons verhüllt. Er braucht es nur wegzuziehen, und siehe da: der auch den anderen Stücken, insonderheit den Sätzen 8 bis 14 eingeschriebene programmatische Gehalt liegt offen am Tage. Als erstes springt ins Auge: der Fulde-Kanon, es ist die Nr. 11 im Zyklus, bildet das kleinformatige Pendant zu Contrapunctus 11 der Kunst der Fuge. Hier der Kanon mit der expressiven Chromatik, den vielen Kreuzvorzeichen und der verbalen Inhaltsangabe, dort die das »crucifixus etiam pro nobis« schildernde Fuge. Hier der Kanon mit drei inhaltlich verschiedenen Linienzügen, dort die

156 Kassel u. Leipzig, 1984, S. 4. Soweit es die theoretisch-praktische Erschließung der Kanons betrifft, sei auf Chr. Wolffs Erstausgabe sowie die umfangreiche Arbeit von Reinhard Böß »Verschiedene Canones … von J. S. Bach (BWV 1087)«, München 1996 verwiesen.

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dreithemige Fuge. Und beide Stücke innerhalb ihrer Vierzehnerreihe an 11. Stelle! Legt man jetzt die für Contrapunctus 8 bis 14 verbindliche Leiste »Stationen der christlichen Heilsgeschichte« an die »Canones« 8 bis 14, kann die Deckungsgleichheit – bei völlig andersartigem, ganz eigenem physiognomischem Gepräge der Miniaturen – nur noch verblüffen: alle den Contrapuncten 8 bis 14 zugewiesenen Bezeichnungen von »et incarnatus est« bis »Offenbarung des Johannes« lassen sich zwanglos über den Kanons 8 bis 14 anbringen.157 Hiermit ist soeben ein ganz neues Kapitel eröffnet worden. Es an dieser Stelle weiterzuführen, würde den gesteckten Rahmen sprengen. Außerdem: Wäre es im Sinne des Erfinders, für die von ihm entworfenen Rätsel alle Auflösungen mitzuliefern? Was die Kunst der Fuge betrifft, habe ich vermutlich des Guten schon zu viel getan. Denn umgekehrt legt die Analogie zwischen den Contrapuncten 8 bis 14 und den entsprechenden Kanons den Gedanken nahe, Bach habe den Zyklus, seinen fünften und letzten Teil der »Clavierübung«, als ein einziges großangelegtes Rätselfugenwerk verstanden – wobei die Kehrseite, die »Probus-Hälfte«, die wohl am schwersten zu knackende Nuss hätte sein sollen. Oder vielleicht doch gerade nicht? Man werfe einen Blick auf das Frontispiz der Bibel, »dieses herliche Buch«, das Anna Magdalena dem zweitjüngsten Sohn Johann Christoph Friedrich am 25. Dezember 1749 mit auf den Weg nach Bückeburg gab (Abb. 10 u. 11). Wie vielsagend das »herlich« der Anna Magdalena! Wir denken auch an Bachs »herrlichen Beweiß« in seiner Calov-Bibel. Das Wort »herrlich« hat seit Bachs Zeiten einen Bedeutungswandel erfahren. Mit »herrlich« meinte man damals nicht wie heute »großartig«, »hervorragend«, »toll«, »super«, sondern man verstand darunter so viel wie »verehrungs157 W. Wiemer, »Verschiedene Canones über die ersterern acht FundamentalNoten vorheriger Arie von J. S. Bach. Versuch einer Annäherung«, 2015 (unveröffentlicht).

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würdig« – Ehrerbietung, die man nur höchsten Instanzen wie Gott, Fürsten oder hohen kommunalen Behörden gegenüber zum Ausdruck brachte. Das macht etwa der Text im Abgesang der ersten Strophe von »Wie schön leuchtet der Morgenstern« deutlich, die an Christus, den »Sohn Davids« gerichtet ist: »lieblich, freundlich, schön und herrlich, groß und ehrlich, reich an Gaben, hoch und sehr prächtig erhaben.« Es zeigt sich aber auch in den Eingaben Bachs an den Rat der Stadt Leipzig, wo es immer wieder heißt »Ew: Magnific: und Hoch Edelgebohrene Herrlichkeiten …«, zwischendurch auch »Herrligkeiten«.158 Jenes »herrlich« Anna Magdalenas und Johann Sebastians gibt für einen Moment den Blick frei in ihren vom christlichen Glauben geprägten Alltag. Das war die Welt der beiden, das waren die Kategorien, in denen Bach lebte und dachte, in denen er komponierte, musizierte und unterrichtete. Das Vorsatzblatt des »herrlichen Buches« zeigt den seit der Reformation bis in die Bachzeit hinein weit verbreiteten Bildtypus »Gesetz und Evangelium«, dem, wenn man genau hinschaut, auch Cranachs Weimarer Altartafel verpflichtet ist: drei Jahrhunderte hindurch verabreichte ikonographische Hausmannskost! Ist es zu gewagt anzunehmen, Bach habe das, was den Menschen seiner Tage in Wort und Bild allgegenwärtig war, den Musikliebhabern als Gleichnis in Tönen aufs Notenpult legen wollen? Die Kunst der Fuge klingendes Gleichnis für »Lex et Gratia«, die Antinomie von »Gesetz und Gnade« – in Luthers »BIBLIA, das ist: Die gantze Heilige Schrifft Alten und Neuen Testaments« unauflöslich zusammengefügt? Fuge und Kanon, die »Gesetzestafeln« der Musik, von Bach wie von keinem vor oder nach ihm mit Seele und neuem Geist erfüllt, als Gleichnis gar für das Wort Jesu, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen (Matth. 5,17)? Ja, dasselbe nochmals kryptographisch verdichtet, verschwiegen und vielsagend zugleich im B-A-C-H-Cis-D-Cis-H-Cis-D-Thema der Schlußfuge, in dessen auf 158 Siehe Bach-Dokumente I, Nr. 28, 29, 32, 33, 35, 39, 40, 41.

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Zugabe

das Gesetz verweisende zehn Töne der Gekreuzigte, »ein Lamm, wie wenn es erwürget wäre«, eingespannt erscheint – das Gesetz buchstäblich erfüllend? Zieht man ferner in Betracht, was die stets gerühmte »zentrale Qualität der Bachschen Musik«159 ausmacht, nämlich zum einen die Kenntnis und Anwendung der »verstecktesten Geheimnisse der Harmonie«, zum anderen, »daß die Stimmen in den Stücken dieses großen meisters in der Music wundersam durcheinander arbeiten« – beide Parameter in der Kunst der Fuge wie nirgends sonst zu einem vollkommenen Ausgleich zwischen Vertikale und Horizontale gebracht:160 muß einem dann nicht – es sei nochmals an Bachs Affinität zum Kreuz erinnert (»Komm, süßes Kreuz«, »Ich will den Kreuzstab gerne tragen«, »Christus Crucigeros Coronabit«) – das Werkganze als ein einziges Sinnbild für das aus Stamm und Querbalken gefügte Kreuz erscheinen? Und endlich, alles andere als gleichnishaft: hat Bach nicht in der Kunst der Fuge höchst real das Sakrale ins Profane hereingeholt? Hat er nicht, mit Händen zu greifen, inmitten seines kontrapunktischen opus summum die Geschichte sich ereignen lassen, die in der Stadt Davids mit dem »Fleisch geworden« – profaner geht’s nicht – ihren Anfang nahm?

159 Chr. Wolff, »Die sonderbaren Vollkommenheiten des Herrn Hofcompositeurs«, Versuch über die Eigenart der Bachschen Musik. In: BACHIANA ET ALIA MUSICOLOGICA, hrsg. von Wolfgang Rehm, Kassel etc. 1983, S. 858; dort auch die beiden Zitate aus dem Nekrolog (Bach-Dokumente III, S. 87) und aus der Verteidigungsschrift J. A. Birnbaums von 1738 (Bach-Dokumente II, S. 302). 160 Eigens im Blick auf die Kunst der Fuge verweist F. W. Marpurg in seinem Vorwort zur zweiten Auflage von 1752 auf die unübertroffene »tiefe Wissenschaft und Ausübung der Harmonie« und »daß alle Stimmen darinnen durchgehends singen, und die eine mit soviel Stärke, als die andere, ausgearbeitet ist.« (Bach-Dokumente III S. 25). Als wolle er das noch unterstreichen, fährt er fort: »Ein besonderer Vorzug dieses Werkes ist, daß alles darinnen befindliche in der Partitur stehet.«

Abbildungen

Abbildungen139

Abb. 1: Musikalisches Opfer (BWV 1079), mit Bachs Zusätzen im Widmungsexemplar für Friedrich II., König von Preußen

140

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Abb. 2: Titelblatt des ersten Bandes der »Calov-Bibel«, mit Bachs Besitzvermerk

Abbildungen141

Abb. 3: Aus »Calov-Bibel« 1. Bd., Bachs Randbemerkung

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Abbildungen

Abb. 4: Textdruck der ersten Aufführung des Weihnachts-Oratoriums

Abbildungen143

Abb. 5: Autographe Reinschrift der beiden Spiegelfugen (Contrapunctus 12 und 13)

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Abbildungen

Abb. 6a: Matthäus-Passion. Drei Seiten (a, b, c) der autographen Partitur

Abbildungen145

Abb. 6b

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Abb. 6c

Abbildungen

Abbildungen147

Abb. 7: Mitteltafel des Cranach-Altars (1555), Stadtkirche »St. Peter und Paul« (Herderkirche) zu Weimar

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Abbildungen

Abb. 8: Titelblatt des »Berliner Autographs«, geschrieben von Bachs Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol

Abbildungen149

Abb. 9: Vierzehn Kanons (BWV 1087) in Bachs Handexemplar des 4. Teils der Klavierübung (Goldberg-Variationen)

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Abb. 10: Luther-Bibel (Einbandprägung »A M B« und »1738«)

Abbildungen

Abbildungen151

Abb. 11: Widmungseintrag Anna Magdalena Bachs

Abbildungsnachweis

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv: Abb. 1 (Am. B. 73), Abb. 5 (Mus. ms. Bach P 200, S. 33 u. 36), Abb. 10 u. 11 (50 MA 43593), Abb. 8 (P 200/1), S. 85 (Mus. ms. Bach P 200/1, S. 39), S. 89 (Mus. ms. Bach P 283, S. 8 u. 27), S. 91 (Mus. ms. Bach P 118) Concordia Seminary Library, St. Louis/Mo, USA: Abb. 2 u. 3, S. 21 Bibliothèque Nationale de France, Paris: Abb. 9 (Ms. 17669) Bach-Archiv Leipzig: Abb. 4, S. 22 u. 53 Stadtarchiv Leipzig: S. 15 Verlagsarchiv: Abb. 7 Privatbesitz: Bucheinband: Bronce-Medaille (Durchmesser 10 cm) eines anonymen Künstlers – vermutlich Entwurf für das Jubiläumsjahr 1935. Vorderseite: JOHANN SEBASTIAN BACH. Rückseite: Christus als König David die Harfe spielend. Umschrift: IN CHRISTO OMNIA INSTAVRARE. Frontispiz: König David setzt Musiker zum Dienst im Tempel ein. Kupferstich von Christoph Weigel d. Ä., aus: Biblia ectypa: Bildnußen aus Heiliger Schrifft, Regensburg 1697.