Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften: Zur gerichtlichen Nachprüfung von Kommissionsentscheidungen im Vergleich zum deutschen und französischen Recht [1 ed.] 9783428480883, 9783428080885

139 42 26MB

German Pages 330 Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften: Zur gerichtlichen Nachprüfung von Kommissionsentscheidungen im Vergleich zum deutschen und französischen Recht [1 ed.]
 9783428480883, 9783428080885

Citation preview

ROLF RAUSCH

Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

Schriften zum Europäischen Recht llerausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 19

Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -Würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Zur gerichtlichen Nachprüfung von Kommissionsentscheidungen im Vergleich zum deutschen und französischen Recht

Von

Rolf Rausch

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Rausch, Rolf: Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -Würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften : zur gerichtlichen Nachprüfung von Kommissionsentscheidungen im Vergleich zum deutschen und französischen Recht I von Rolf Rausch. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 19) Zug!.: Bonn, Univ ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08088-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-08088-2

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1993 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Everling, sowohl für die Anregung zu diesem Thema als auch für die Betreuung während der Bearbeitung. Sein steter Zuspruch und seine konstruktive Kritik haben in maßgeblicher Weise zur Vollendung dieser Arbeit beigetragen. Ich danke weiter Herrn Prof. Dr. Jost Pietzcker für die Erstellung des Zweitgutachtens. Dank schulde ich auch den Herren Professoren Dr. Siegfried Magiera und Dr. Dr. Detlef Merten für die Aufnahme der Arbeit in die "Schriften zum Europäischen Recht" sowie dem Bundesministerium des Innern für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Bonn, im Mai 1994

RalfRausch

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

l.Teil Einführung

A.

Das Handeln der Kommission als materielle Verwaltungstätigkeit ............................ I. Der Begriff der Verwaltung im Gemeinschaftsrecht ............................................ 1. Der Verwaltungsbegriff im EWGV ................................................................. 2. Der Verwaltungsbegriff in der Literatur ........................................................ II. Die Kommission als Exekutivorgan der Gemeinschaft ........................................

24 24 24 25 25

B.

Die Kontrolle durch den Gerichtshof als verwaltungsgerichtliches Verfahren .........

27

C.

Anfechtungsklage und recours pour exces de pouvoir als Vergleichsmaßstäbe ........

28

D.

Weiterer Gang der Darstellung.........................................................................................

28

2. Teil Der verwaltungsgerichtliche Kontrollumfang im deutschen Recht

A.

Die historische Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland ..........

30

B.

Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben und Kontrollgrenzen ............................. I. Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben ......................................................... 1. Art. 19 IV GG als Garantie subjektiven Rechtsschutzes ............................. 2. Art. 191V i.V.m. Art. 20 I1I GG als Gewährleistung objektiver Rechtskontrolle ............................................................................................................... II. Allgemeine Kontrollgrenzen .................................................................................... 1. Keine universale Kontrolle ............................................................................... 2. Beschränkung auf Rechtskontrolle ..................................................................

32 32 32

C.

33 35 35 36

3. Beschränkung der richterlichen Kontrolle bei normativ eröffneten Entscheidungsspielräumen der Verwaltung .........................................................

36

111. Zusammenfassung ......................................................................................................

38

Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen ..................................................................... I. Recht zur unabhängigen Sachverhaltserforschung ...............................................

39 39

10

Inhaltsverzeichnis

II. III.

IV. V. D.

1. Geltung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 I VwGO) ............................. 2. Geltung des Verfügungsgrundsatzes ............................................................... 3. Analyse ...................................................................................................•............. 4. Mittel zur Sachaufklärung ................................................................................. Pflicht zur umfassenden Sachverhaltserforschung ................................................ Grenzen der Untersuchungspflicht ......................................................................... 1. Begrenzung durch Zumutbarkeit ..................................................................... 2. Begrenzung durch Mitwirkungspflichten ........................................................ 3. Grenzen der Untersuchungspflicht bei wissenschaftlich-technischen Fragekomplexen ................................................................................................. Beweislast .................................................................................................................... Zusammenfassung ......................................................................................................

Die Kontrolle der rechtlichen Würdigung von Tatsachen ............................................ I. Kontrolle im Bereich rechtlich gebundener Verwaltung ..................................... II. Die gerichtliche Nachprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe .............................. 1. Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes ................................................ a) Lehre vom Beurteilungsspielraum ........................................................... b) Vertretbarkeilslehre ................................................................................... c) Einschätzungsprärogative .......................................................................... d) Gleichsetzung mit Ermessen ..................................................................... e) Ausweitung des Beurteilungsspielraumes auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ............................................................................ 2. Grundsätzlich umfassende Überprüfbarkeil .................................................. 3. Stellungnahme ..................................................................................................... 4. Fälle bestehender Beurteilungsspielräume .................................................... a) Bewertung von Prüfungsleistungen und prüfungsähnliche Entscheidungen .......................................................................................................... b) Beamtenrechtliche Beurteilungen............................................................ c) Entscheidungen unabhängiger pluralistischer Gremien ....................... d) Verwaltungspolitische Faktoren ............................................................... e) Prognostische Einschätzungen und Risikobewertungen im Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsrechts ......................................................... 5. Kontrollumfangangesichts bestehender Beurteilungsspielräume .............. 6. Ausschluß von Beurteilungsspielräumen bei Grundrechtseingriffen ......... a) Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Prüfungsrecht .................... b) Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur lndizierung jugendgefahrdender Schriften .......................................................................................... 7. Zusammenfassung .............................................................................................. III. Die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungsermessens ........................................ 1. Ermessensüberschreitung (§ 114 1. Alt. VwGO) .......................................... 2. Ermessensnichtgebrauch/-unterschreitung .................................................... 3. Ermessensfehlgebrauch/-mißbrauch (§ 114 2. Alt. VwGO) ........................

39 40 41 42 43 45 45 46 49 50 53 54 54 55 56 56 57 57 57 58 58 59 61 61 63 64 66 66 71 78 80 82 84 85 86 87 87

Inhaltsverzeichnis 4. Verstoß gegen Grundrechte und allgemeine Verfassungs- und Vetwaltungsgrundsätze ..................................................................................................

5. Verstoß gegen allgemeine Entscheidungsanforderungen ............................ a) Tatsachenirrtümer ...................................................................................... b) Verfahrensfehler ......................................................................................... 6. Zusammenfassung .............................................................................................. IV. Die Kontrolle von Tatsachenwürdigungen im deutschen Vetwaltungsprozeß - Zusammenfassung ...................................................................................................

11 88 90 90 90 92 93

3. Teil Der verwaltungsgerichtliche Kontrollumfang im französischen Recht A.

B.

C.

Die historische Entwicklung der französischen Vetwaltungsgerichtsbarkeit im allgemeinen und des recours pour exces de pouvoir im besonderen ........................

95 95

I. Die historische Entwicklung der französischen Vetwaltungsgerichtsbarkeit ... II. Die historische Entwicklung des recours pour exces de pouvoir ........................

99

Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen ................................................................... I. Allgemeine Vorgaben ................................................................................................ 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben .....................................................................

100 100 100

2. Das Prinzip der legalite ..................................................................................... 3. Der recours pour exces de pouvoir als objektive Klageart .......................... 4. Zusammenfassung .............................................................................................. II. Die Klagegründe des recours pour exces de pouvoir ........................................... 111. Allgemeine Kontrollgrenzen .................................................................................... 1. Bindung an die konkreten Klagegründe (moyens) ....................................... 2. Beschränkung auf Rechtmäßigkeilskontrolle ................................................ 3. Beschränkung der richterlichen Kontrolle durch Ermessensspielräume der Vetwaltung ................................................................................................... 4. Beschränkung der richterlichen Kontrolle bei Vorliegen besonderer Sachkenntnisse der Vetwaltung .......................................................................

102 104 106 106 109 109 112

5. Fazit ...................................................................................................................... IV. Zusammenfassung ......................................................................................................

115 116

Die I. II. 111.

116 117 118 119 119 121 122 124 124

Kontrolle von Tatsachenfeststellungen .................................................................... Recht zur eigenständigen Sachverhaltserforschung .............................................. Pflicht zur Sachverhaltserforschung ........................................................................ Grenzen der Untersuchungspflicht ......................................................................... 1. Grundsätzliche Darlegungstasi des Klägers ................................................... 2. Anforderungen an die Mitwirkungspflicht der Vetwaltung ......................... IV. Praxis der gerichtlichen Aufklärungspflicht ........................................................... V. Beweislast .................................................................................................................... VI. Zusammenfassung ......................................................................................................

112 114

12 D.

Inhaltsverzeichnis Die Kontrolle der rechtlichen Würdigung von Tatsachen ............................................ I. Die Kontrolle der Klagegründe der legalite externe ............................................ II. Die Kontrolle des Ennessensmißbrauchs (detournement de pouvoir) ............. III. Die Kontrolle der "violation directe de Ia loi" ....................................................... IV. Die Kontrolle der "erreur de droit" ......................................................................... V. Die Kontrolle der "erreur de fait" ........................................................................... 1. Die Minimalkontrolle (contröle minimum) ................................................... a) Traditioneller Umfang des conteöle minimum ...................................... b) Einschränkung des Ennessens durch die "erreur manifeste"............... c) Zusammenfassung ...................................................................................... 2. Die Nonnalkontrolle (contröle nonnal) ......................................................... 3. Die Maximalkontrolle (contröle maximum) .................................................. a) Die Kontrolle der "adequation de Ia decision aux faits" ...................... b) Die Bilanzkontrolle (contröle du bilan) .................................................. VI. Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung-Zusammenfassung und Vergleich ...

125 126 128 129 130 134 134 134 136 139 140 141 142 143 146

4. Teil Der KontroUumfang im Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften A.

Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen ................................................................... I. Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ........................................................................ 1. Objektive Rechtmäßigkeilskontrolle ............................................................... a) Art. 164 EWGV ........................................................................................... b) Art. 173 EWGV ........................................................................................... 2. Subjektiver Individualrechtsschutz .................................................................. 3. Art. 6 EMRK ....................................................................................................... a) Sachlicher Anwendungsbereich ................................................................ b) Garantien des Art. 6 EMRK ..................................................................... 4. Grundsätzliche Möglichkeit der Kontrollbeschränkung .............................. 11. Allgemeine Kontrollgrenzen ................................................................................... 1. Bindung an die Klagegründe ............................................................................ 2. Rechtmäßigkeits-, nicht Zweckmäßigkeitskontrolle - Gewaltenteilung ..... 3. HöhereSachkompetenz ..................................................................................... 111. Zusammenfassung......................................................................................................

153 153 153 153 155 156 159 160 162 163 164 164 169 170 171

B.

Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen .................................................................... I. Recht zur unabhängigen Sachverhaltserforschung ............................................... 1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben ................................................................. a) Art. 164, 173 EWGV .................................................................................. b) Vorschriften über die Beweiserhebung (Art. 21 ff. Satzung, Art. 45 VfO) ..............................................................................................................

172 172 173 173 173

Inhaltsveneichnis 2. Literatur............................................................................................................... 3. Vergleich zum französischen Recht.................................................................

174 175

4. Vergleich zum deutschen Recht ....................................................................... 5. Stellungnahme..................................................................................................... 6. Aussagen von Gerichtshof und Generalanwälten ........................................

176 176 176 178 178 178 179 180 180 182 182 184 185 187

II. Pflicht zur Erforschung des Sachverhaltes ............................................................. 1. Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ................................................................ 2. Literatur ............................................................................................................... 3. Vergleich zum deutschen Recht ....................................................................... 4. Vergleich zum französischen Recht................................................................. 5. Übertragbarkeit auf das Gemeinschaftsrecht ................................................ 111. Praxis des Gerichtshofs ............................................................................................. 1. Ausübung der Befugnisse zur Beweiserhebung ............................................. 2. Anforderungen an die Darlegungstasi ............................................................ 3. Anforderungen an die Mitwirkungspflichten der Parteien .......................... 4. Bewertung der Kontrollpraxis .......................................................................... 5. Ermessen der Kommission bezüglich der Sachverhaltsermittlung in Ausnahmefällen ......................................................................................................... a) Freiheit hinsichtlich der Datenauswahl ................................................... b) Freiheit der Kommission, ihrer Entscheidung eine Sachverhaltsgruppe zugrunde zu legen ..........................................................................

C.

13

190 191 192

c) Freiheit globaler Feststellungen ............................................................... 6. Die Kontrollpraxis des Gerichts erster Instanz ............................................. 7. Beweislast ............................................................................................................

193 194 198

IV. Zusammenfassung ......................................................................................................

199

Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ......... I. Vorgaben des EWGV ................................................................................................ II. Exkurs: Die Vorgaben des Art. 33 I 2 EGKSV ..................................................... 1. Grundsätzliches Verbot der Nachprüfung der Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage (Art. 33 I 2 1. HS EGKSV) ............................................. a) Verbot jeder Würdigung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände . b) Verbot der Würdigung zusammenfassender Schlüsse........................... c) Stellungnahme .............................................................................................

202 203 204

aa) Wortlaut ............................................................................................ bb) Entstehungsgeschichte ................................................................... cc) Vergleich zum recours pour exces de pouvoir ........................... dd) Zielsetzung des Art. 33 EGKSV .................................................. d) Aussagen des Gerichtshofs ........................................................................ 2. Ausnahmsweise Kontrolle der Würdigung der Gesamtlage (Art. 33 I 2 2. HS EGKSV) .................................................................................................... a) Rüge desErmessensmißbrauchs/der offensichtlichen Vertragsverletzung ........................................................................................................... b) Kontrolle des Ermessensmißbrauchs .......................................................

204 205 205 205 206 207 208 209 210 211 211 212

Inhaltsverzeichnis

14

111.

IV.

V. VI.

aa) Ermessensmißbrauch als "detoumement de pouvoir" ............... bb) Objektivierungstendenzen des Gerichtshofs ............................... cc) Verfahrensmißbrauch ..................................................................... c) Offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages ......... aa) Systematische Einordnung ............................................................. bb) Der Begriff der "offensichtlichen Verkennung".......................... (1) Begriffsbestimmung durch den Gerichtshof .................... (2) Begriffsbestimmungen in der Literatur............................. (a) Besonders schwerer Verstoß ................................... (b) Evidenter Verstoß ..................................................... (c) Eindeutige Überschreitung der Ermessensgrenzen......................................................................... (3) Stellungnahme ....................................................................... d) Anwendungsbereich des Art. 33 I 2 EGKSV .......................................... 3. Zusammenfassung zu Art. 33 EGKSV ............................................................ Die Einräumung von Entscheidungsspielräumen der Kommission im Rahmen des Art. 173 EWGV ................................................................................................... 1. Unbeschränkte Letztentscheidungskompetenz der Kommission bei Würdigungen wirtschaftlicher Gesamtlagen .................................................. 2. Unbeschränkte richterliche Nachprüfungsbefugnis ...................................... 3. Gleicher bzw. im wesentlichen gleicher Kontrollumfang wie in Art. 33 EGKSV ................................................................................................................ a) Inhaltliche Gleichwertigkeittrotz struktureller Verschiedenheit ........ b) Vereinbarkeil mit der Zielsetzung des Art. 173 EWGV ...................... c) Vereinbarkeil einer Gleichwertigkeit mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum EWGV .......................................................................... aa) Frühe Rechtsprechung .................................................................... bb) Neuere Rechtsprechung ................................................................. 4. Zusammenfassung .............................................................................................. Der Umfang der Kontrolle durch den Gerichtshofangesichts bestehender Entscheidungsspielräume der Kommission ........................................................... 1. Inhaltliche Gleichwertigkeit trotz struktureller Verschiedenheit ............... 2. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungsspielräumen der Kommission ........................ a) Frühe Rechtsprechung ................................................................•.............. b) Neuere Rechtsprechung ............................................................................. aa) Auslegung des Begriffs des "offensichtlichen Irrtums" im Lichte der Zielsetzungen des Art. 173 EWGV ........................... bb) Vergleich zur "erreur manifeste"................................................... cc) Der Begriff des "offensichtlichen Irrtums" in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ........................................................... 3. Zusammenfassung .............................................................................................. Ermessen des Gerichtshofs bei der Bestimmung des Kontrollumfangs ............ Zusammenfassung und Vergleich............................................................................

212 213 214 214 214 215 215 217 217 217 217 218 222 224 225 225 227 228 228 229 231 231 235 238 238 238 239 239 240 242 243 244 246 248 250

Inhaltsverzeichnis D.

E.

Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung in der Praxis des Gerichtshofs ..................... I. Gebundene Entscheidungen (competence liee) .................................................... II. Entscheidungsspielräume der Kommission ........................................................... 1. Beispiele für Entscheidungsspielräume in EWGV und Sekundärrecht .... a) Ermessensspielräume auf der Tatbestandsseite .................................... b) Ermessensspielräume auf der Rechtsfolgenseite ................................... 2. Kontrolle der Auslegung von Rechtsbegriffen .............................................. 3. Kontrolle der Beurteilungskriterien ................................................................ a) Allgemeine Vorgabe der maßgeblichen Kriterien ................................. b) Überprüfung der konkret vetwendeten Kriterien ................................. c) Bewertung der genannten Vergehensweisen .......................................... 4. Kontrolle der Beurteilung der komplexen ökonomischen Situation .......... a) Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs ................................................... b) Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums ................................................ 5. Kontrolle der Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze ............................ a) Verhältnismäßigkeilsgrundsatz ................................................................. b) Gleichbehandlungsgrundsatz .................................................................... c) Vertrauensschutz und Rechtssicherheit .................................................. 6. Kontrolle der Form- und Verfahrensanforderungen .................................... a) Kontrolle besonderer Verfahrensanforderungen der Befugnisnorm . b) Kontrolle allgemeiner Verfahrensanforderungen ................................. 7. Einhaltung der Vertragsziele ............................................................................ 8. Zusammenfassung .............................................................................................. Weitergehende gerichtliche Kontrolle im Wettbewerbsrecht ...................................... I. Die Kontrollpraxis des Gerichthofs hinsichtlich Art. 85 I, 86 und 92 I, II EWGV ......................................................................................................................... 1. Vorliegen eines verbotenen Kartells (Art. 85 I EWGV) ............................. 2. Vorliegen eines Mißbrauchstatbestandes (Art. 86 EWGV) ........................ 3. Vorliegen einer unzulässigen Beihilfe (Art. 92 I EWGV) ........................... II. Die Kontrollpraxis des Gerichtshofs im Bereich der Ausnahmen nach Art. 85 111 und Art. 92 111 EWGV ......................................................................................... 1. Freistellungen vom Kartellverbot (Art. 85 111 EWGV) ............................... a) Ermessen auf der Tatbestandsseite ......................................................... b) Gebundene Entscheidungen auf der Rechtsfolgenseite ...................... 2. Erteilung von Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen gemäß Art. 92 111 EWGV ....................................................................................................... a) Ermessen auf der Tatbestandsseite ......................................................... b) Gebundene Entscheidungen auf der Rechtsfolgenseite ....................... 111. Gründe für die umfassende Kontrolle im Rahmen von Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV ......................................................................................................................... 1. Deklaratorischer- konstitutiver Charakter .................................................... 2. Unbeschränkte Nachprüfungaufgrund Art. 172 EWGV .............................

15 253 253 254 254 254 256 257 258 258 258 259 261 261 262 263 264 266 267 270 271 273

2n 2n 279 280 280 283 284 285 286 286 288 289 290 292 294 294 295

16

Inhaltsverzeichnis 3. Entbehrlichkeit der Vomahme komplexer Würdigungen 4. Systematik der Wettbewerbsvorschriften ....................................................... IV. Zusammenfassung ......................................................................................................

296 297 299

Ergebnisse der Untersuchung

301

Literaturverzeichnis

310

Abkürzungsverzeichnis aA.

= anderer Ansicht

Abi. AFG AJDA Alt. Anm. AöR ArchVR

= Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften = Arbeitsförderungsgesetz = Actualite juridique, droit administratif = Alternative

Art. Aufl. BauGB BayVBI BBauG BBG Bd. Bearb. BGBI. BlmSchG BK BSHG BVerfG BVerfGE BVeiWG BVeiWGE bzw.

CahDrEur CMLR CMLRev Diss.jur. DÖV DRiZ DVBI.

E EAGFL EAGV 2 Rausch

=Anmerkung = Archiv des öffentliches Rechts = Archiv des Völkerrechts =Artikel =Auflage = Baugesetzbuch = Bayerische VeiWaltungsblätter = Bundesbaugesetz = Bundesbeamtengesetz =Band = Bearbeiter = Bundesgesetzblatt = Bundesimmissionsschutzgesetz = Bonner Kommentar zum Grundgesetz = = = = = =

Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts BundesveiWaltungsgericht Entscheidungssammlung des BundesveiWaltungsgerichts beziehungsweise

= Cahiers de Droit Europeen = Common Market Law Reports = Common Market Law Review = Juristische Dissertation = Die Öffentliche VeiWaltung = Deutsche Richterzeitung = Deutsches VeiWaltungsblatt = Entscheidung = Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft = Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft

18

Abkürzungsverzeichnis

ECLR EG EGKS EGKSV EGV einseht. EMRK

= = = = = = =

European Competition Law Review Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) Vertrag zur Gründung der EGKS Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft einschließlich (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

EuGH

= = = = = = =

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte Zeitschrift European Law Review Europarecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der EWG

EuGRZ EuLRev EuR EuZW EWG EWGV f., ff. Fn. GA GastStG gern. GewO GG GJS GMBI. HS ICLQ

= folgende Seite(n) =Fußnote = Generalanwalt = Gaststättengesetz =gemäß = Gewerbeordnung

= Grundgesetz

= Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften = Gemeinsames Ministerialblatt = Halbsatz = The International and Comparative Law Quarterly

i.d.R

= in der Regel

insb. i.V.m. IWB JA JöR Jura JuS

= = = = = = =

insbesondere in Verbindung mit Internationale Wirtschaftsbriefe Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Jura/ Juristische Ausbildung Juristische Schulung

JZ KHG LBG LIEI lit. m.w.N.

= = = =

Juristenzeitung Krankenhausfinanzierungsgesetz Landesbeamtengesetz Legallssues of European Integration

NJW Nr.

= littera = mit weiteren Nachweisen = Neue Juristische Wochenschrift =Nummer

Abkünungsveneichnis NRW

= Nordrhein-Westfalen

NVwZ OVGNW

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

PBefG Po!G Prot.

RDP

= Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen = Personenbeförderungsgesetz = Polizeigesetz =Protokoll = Revue du droit public et de Ia science politique en France et ä l'etranger

Rdz. RevDrEur RevMC RIW

= Randziffer

RS

= Rechtssache(n)

Rspr.

= Rechtsprechung

= Revue de Droit Europeen = Revue du Marche Commun = Recht der Internationalen Wirtschaft

RTDE

= Revue Trimestrielle de Droit Europeen

RuStaG

= Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz

Slg.

=Seite = Amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

Str!SchV

= Strahlenschutzverordnung

u.a.

= unter anderem =Urteil

s.

Urt. V.

verb. VerwArch VfO

19

=vom = verbundene = Verwaltungsarchiv = Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

VG

= Verwaltungsgericht

VGH vgl.

= Verwaltungsgerichtshof = vergleiche

VVDStRL VwGO

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer = Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

= Verwaltungsverfahrensgesetz = Weimarer Reichsverfassung = Wirtschaft und Wettbewerb

vo

WRV WuW

= Verordnung

zrz

= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht = Zeitschrift für Beamtenrecht = Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern

zit. Zweitbearb.

= zitiert = Zweitbearbeitung

ZaöRV ZBR

Einleitung Die Frage der Entwicklung eines europäischen Verwaltungsrechtes hat in den letzten Jahren zunehmend an Interesse gewonnen. 1 Dies dürfte darauf zurückzuführen zu sein, daß diese Frage nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern auch von hoher praktischer Relevanz ist. Es geht hier um die Realität der Gemeinschaft, wie sie sich den Behörden, Unternehmen und Gerichten in der täglichen Praxis stellt.2 Kernstück jeder Verwaltungsrechtsordnung ist aber deren Effektivierung durch die Gewährung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist ein wesentlicher Teilbereich dieses Rechtsschutzes; sie befaßt sich mit dem Umfang der Kontrolle, die der Gerichtshof über das Handeln der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ausübt. Die Erörterung bezieht sich hierbei sowohl auf die gerichtliche Überprüfung des Sachverhalts, den die Kommission ihren Entscheidungen zugrunde legt, als auch auf die Kontrolle der rechtlichen Würdigung dieses Sachverhalts. Der Begriff der "Tatsachenwürdigung" ist in diesem Zusammenhang nicht

im engeren Sinne als Subsumtion des Sachverhaltes unter die tatbestand-

liehen Voraussetzungen zu verstehen.Vielmehr sollen hiermit entsprechend dem Begriff der "appreciation des faits" des französischen Verwaltungsrechts auch die Bewertungen des Sachverhalts im Hinblick auf die im konkreten Fall zu treffende Entscheidung und damit der Rechtsfolgenbereich erfaßt werden. Die Untersuchung erstreckt sich darauf, ob und inwieweit Kontrollrechte und-pflichtenbestehen und soll deren Umfang und Grenzen darstellen.

1 Vgl.

2 So

Beutler/ Bieber/ Pipkom/ Streif, S. 201 f.

bereits Everling DVBI. 1983, 649 (649).

22

Einleitung

Die Arbeit umfaßt allerdings nicht den gesamten Bereich des Kommissionshandelns. Sie beschränkt sich vielmehr auf Entscheidungen, die Gegenstand einer Klage nach Art. 173 II EWGV sein können, d.h. auf Entscheidungen im Sinne des Art. 189 IV EWGV sowie auf Entscheidungen, die als Verordnungen ergehen, aber eine natürliche bzw. juristische Person unmittelbar und individuell betreffen.3 Auch beschränkt sich die Untersuchung auf die Kontrolle dieser Entscheidungen im Rahmen des Art. 173 EWGV. Die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist aber nicht auf Aussagen begrenzt, die dieser im Rahmen von Nichtigkeitsklagen nach Art. 173 EWGV getroffen hat. Soweit der Gerichtshof zur Frage von Umfang und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Kommissionsentscheidungen im Rahmen anderer Verfahrensarten (insb. in Vertragsverletzungsverfahren gern. Art. 169 EWGV) Stellung genommen hat, sind auch diese in die vorliegende Untersuchung einbezogen worden. Eine Erörterung der gerichtlichen Verwaltungskontrolle im Gemeinschaftsrecht wäre unvollständig, wenn sie ohne nationale Querbezüge erfolgen würde. Das europäische Verwaltungsrecht erweist sich als in hohem Maße von den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten geprägt, wirkt aber auch seinerseits wieder auf die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen zurück.4 Das Gemeinschaftsrecht wird hierbei naturgemäß von den Rechtsordnungen am stärksten beeinflußt, in denen bereits eine ausgeprägte eigenständige Verwaltungsrechtsordnung besteht; an erster Stelle sind hier das deutsche und das französische Recht zu nennen. Daher soll die gerichtliche Kontrolle von Kommissionsentscheidungen in Bezug gesetzt werden zu den Verfahrensarten, die das deutsche und das französische Recht für die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten bereitstellen. Dabei soll versucht werden, anband bestehender Parallelen und Divergenzen der nationalen Rechte im Vergleich zur Vorgehensweise des Gerichtshofs die Einflüsse der jeweiligen Rechtsordnungen zu verdeutlichen.

3 Im folgenden werden beide Formen des Kommissionshandeins unterschiedslos als "Entscheidungen" bezeichnet. 4 Everling

NVwZ 1987, 1 (1 f.); Schwarze EuLRev 1991, 3 (15 ff.).

Einleitung

23

Implikationen insbesondere des deutschen Verfassungsrechts sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Die Vorgehensweise des Gerichtshofs soll aber daraufhin untersucht werden, ob sie rechtsstaatliehen Anforderungen in dem Maße genügt, daß ein Standard an inhaltlichem Grundrechtsschutz generell gewährleistet ist, der den vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Anforderungen im wesentlichen gleichzuachten ist.5 Weiterhin soll auf die Frage eingegangen werden, inwieweit trotz der eher zurückhaltenden Vorgaben der Art. 164 und 173 EWGV für den Richter verbindliche gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für die gerichtliche Verwaltungskontrolle festzustellen sind. Soweit entsprechende Vorgaben bestehen, sollen diese auf ihre Realisierung in der Praxis des Gerichtshofs untersucht werden.

5 Vgl. zu diesen Anforderungen den "Solange-li-Beschluß" des BVerfG- BVerfGE 73, 339 (385 ff.) sowieMosler, in Isensee/ Kirchhof,§ 175, Rdz. 65 f.

1. Teil

Einführung In einem ersten einführenden Teil soll zunächst auf den verwaltungsrechtlichen Charakter des zu analysierenden Kommissionshandeins sowie der entsprechenden gerichtlichen Kontrolle unter Art. 173 EWGV eingegangen werden. Weiterhin sollen die als Vergleichsmaßstab herangezogenen Klagearten des deutschen und französischen Rechts vorgestellt werden. A. Das Handeln der Kommission als materielle Verwaltungstätigkeit

Die Einordnung des Untersuchungsgegenstandes als verwaltungsrechtliche Problematik setzt voraus, daß es sich bei den zu analysierenden Entscheidungen der Kommission um materielle Verwaltungstätigkeit handelt. Zur Klärung dieser Frage ist zunächst auf den Begriff der Verwaltung im Gemeinschaftsrecht einzugehen. Weiterhin ist zu klären, ob das Kornmissionshandeln als Verwaltungstätigkeit in diesem Sinne qualifiziert werden kann. I. Der Begriff der Verwallung im Gemeinschaftsrecht

1. Der Verwaltungsbegriff im EWGV

Eine allgemeine Begriffsbestimmung der Verwaltung findet sich im EWGV nicht. Dieser nimmt lediglich in speziellen Zusammenhängen Bezug auf den Begriff der "öffentlichen Verwaltung". So bestimmt Art. 48 IV EWGV die Nichtanwendbarkeit der Freizügigkeitsregeln auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Diesen auf die öffentliche Verwaltung der Mitgliedsstaaten bezogenen Begriff hat der Gerichtshof in der Weise präzisiert, daß er die Stellen erfasse, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit

A. Kommissionshandeln als materielle Verwaltungstätigkeit

25

sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.1 Damit geht der Gerichtshof von einem funktionalen Verständnis der öffentlichen Verwaltung aus.2 Der Begriff der Verwaltung der Gemeinschaft taucht lediglich in Art. 124 EWGV auf, ohne daß hier jedoch eine begriffliche Klärung erfolgt. 2. Der Verwaltungsbegriff in der Literatur

In der Literatur hat sich ebenfalls eine funktionale Definition auch im Bezug auf die gemeinschaftsrechtliche Verwaltung durchgesetzt. Unter "öffentlicher Verwaltung" wird folglich der Vollzug der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in konkreten Situationen verstanden.3 Damit werden sowohl Einzelrechtsakte erfaßt als auch normative Regelungen, die sich auf ein bestimmtes Ereignis beziehen.4 II. Die Kommission als Exekutivorgan der Gemeinschaft

Unter Zugrundelegung des so verstandenen Verwaltungsbegriffes stellt sich das Handeln der Kommission als materielle Verwaltungstätigkeit dar, wenn diese als Exekutivorgan der Gemeinschaft zum Vollzug des Gemeinschaftsrechts im genannten Sinne berufen ist. Hierbei ist auf einen wesentlichen Unterschied zum nationalen Recht hinzuweisen. Die Verwaltung im nationalen Bereich ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ebenso wie Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmten Staatsorganen organisatorisch zugewiesen ist; zwischen diesen Organen besteht Gewaltenteilung. Auch im Gemeinschaftsrecht wird eine Funktionenteilung zur Kontrolle der Hoheitsgewalt als notwendig angesehen; die traditionelle Gewaltenteilung läßt sich aber auf die supranationale Struktur der Gemeinschaft nicht anwenden.5 1 Urt. v. 17.12.1980, RS 149/79, Kommission/ Belgien, Slg. 1980, 3881 (3900), Rdz. 10; Urt. v. 26.05.1982, RS 149/79, Kommission/ Belgien, Slg. 1982, 1845 (1851), Rdz. 7; Urt. v. 03.07. 1986, RS 66/85, Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121 (2147); Rdz. 27.

2 Schwane,

3 Everling 4

S. 21.

DVBJ. 1983, 649 (649); Rengefing, S. 8 f.; Schwane, S. 22.

Schwane, S. 22. Lenaerts CMLRev 1991, 11 (12 f.); Pescatore CahDrEur 1978, 378 (393); Zuleeg, in: v.d. Groeben, Art. 1, Rdz. 47. 5

26

1. Teil: Einführung

Vielmehr liegt hier eine der Integration adäquate, spezifisch gemeinschaftsrechtliche Funktionenordnung vor. Diese ist durch den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts geprägt und führt zu einer Einschränkung der Hoheitsgewalt insbesondere über das Instrument der begrenzten Einzelermächtigung.6 Eine Zuordnung der verschiedenen Staatsfunktionen zu bestimmten Organen der Gemeinschaft ist daher nur sehr begrenzt möglich. Ausgehend von der in Art. 4 EWGV vorgegebenen vierpoligen Organisationsstruktur der Gemeinschaft, dem "quadripartisme communautaire"?läßt sich aber eine Differenzierung in der Weise vornehmen, daß das föderative Element8 dem Rat, die Repräsentation der Volksgewalt dem Parlament und die Verwirklichung juristischer Werte dem Gerichtshof zugewiesen ist. Die Kommission ist dagegen das Gemeinschaftsorgan, das ausschließlich dem Gemeinschaftsinteresse verhaftet ist.9 Die Kompetenzen, die der Kommission zugewiesen sind, entsprechen dabei den essentiellen Aufgaben, die einer Exekutive im System der Gewaltenteilung übertragen sind.10 Eine solche Exekutivfunktion kommt der Kommission insbesondere dort zu, wo sie zum Direktvollzug des Gemeinschaftsrechts ermächtigt ist. Entsprechende Zuständigkeiten ergeben sich teilweise aus dem EWGV selbst, so im Bereich des Wettbewerbsrechts und der Beihilfenaufsicht (vgl. Art. 87, 89, 93 EWGV). Zum anderen resultieren sie aus Befugnissen, die ihr vom Rat gemäß Art. 145 tir. 3 i.V.m. Art. 155 tir. 4 EWGV übertragen worden sind, so etwa im Antidumping- und Antisubventionsrecht.U Soweit die Kommission in diesem Bereich des Direktvollzuges Entscheidungen im oben genannten Sinne trifft, handelt es sich hierbei um den Vollzug von Gemeinschaftsrecht in konkreten Situationen und damit um materielle Verwaltungstätigkeit Hinzuweisen ist allerdings darauf, daß der Direktvollzug durch die Gemeinschaftsorgane den Ausnahmefall bildet und nur dort zur Anwendung

6 Schmid-Lossberg,

S. 22 f.; Schwarze, S. 22.

7

Vgl. Pescatore CahDrEur 1978,378 (389).

8

Im Sinne der Beteiligung der Mitgliedsstaaten.

9 Pescatore 10 Lenaerts

CahDrEur 1978, 378 (393 f.).

CMLRev 1991, 11 (17 f.); Pescatore CahDrEur 1978, 378 (393). Vgl. den Überblick zu den wichtigsten Bereichen des Direktvollzugs in Schweitzerj Hummer, S. 97. 11

A. Kommissionshandeln als materielle Verwaltungstätigkeit

27

kommt, wo das Gemeinschaftsrecht dies ausdrücklich vorsieht. Regelfall ist dagegen der Vollzug durch die Mitgliedsstaaten (indirekter Vollzug).12 B. Die Kontrolle durch den Gerichtshof als verwaltungsgerichtliches Verfahren

Nach dieser Einordnung der hier zu untersuchenden Kommissionsentscheidungen als materielle Verwaltungstätigkeit verbleibt noch die Aufgabe, die gerichtliche Kontrolle dieses Kommissionshandeins als verwaltungsgerichtliches Verfahren zu qualifizieren. In der Literatur fmdet sich hierzu regelmäßig die Aussage, Streitigkeiten gemäß Art. 173 I EWGV seien verfassungsrechtlicher Art, wohingegen Klagen unter Art. 173 II EWGV als verwaltungsrechtlich einzustufen seien.U Diese Differenzierung ist aber ungenau; maßgeblich für die rechtliche Einordnung als verwaltungsrechtliches Verfahren ist nicht allein die Frage, wer die Klage initüert hat bzw. welche Anforderungen an die Klageerhebung zu stellen sind. Daher ist es grundsätzlich auch unerheblich, ob eine natürliche oder juristische Person die Klage unter Art. 173 II EWGV erhoben hat oder ob diese von einem Gemeinschaftsorgan veranlaßt wurde. Entscheidend ist vielmehr in erster Linie der materielle Gehalt der vorzunehmenden Kontrolle. Die hier zu untersuchenden Entscheidungen der Kommission sind aber als materielle Verwaltungstätigkeit einzustufen; insofern muß deren gerichtliche Kontrolle auch dann als verwaltungsgerichtlich angesehen werden, wenn die Überprüfung im Rahmen des Art. 173 I EWGV erfolgt. Daher sind auch diejenigen unter Art. 173 I EWGV erhobenen Klagen, die Entscheidungen im Sinne des Art. 173 II EWGV betreffen, als verwaltungsgerichtliche Verfahren einzustufen.14 Damit ist die gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidungen unter Art. 173 EWGV einheitlich als verwaltungsgerichtlich zu qualifizieren.

12 Beutler/ Bieberf Pipkom/ Streif, S. 223 f.; Everling DVBI. 1983, 649 (650 f.); Schwarze, S. 25, 33; Schweitzerf Hummer, S. 96 f.; Weber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, 55 (57).

13 Ipsen, in: Der Europäische Gerichtshof, 29 (34 f.); Kutscher EuGRZ 1978, 503 (505 f.); Oppermann, Rdz. 614; Schwarze, in: Fortentwicklung des Rechtsschutzes, 13 (16); Schweitzerf Hummer, S. 109; Skouris, Seminar Bettermann, 67 (70). 14 So wohl auch Brinkhorstj Schermers, S. 34 f.; ähnlich Görgmaier DÖV 1981, 360 (360).

1. Teil: Einführung

28

C. Anfechtungsklage und recours pour exces de pouvoir als Vergleichsmaßstäbe Als Vergleichsmaßstäbe für die unter Art. 173 EWGV erfolgende verwaltungsgerichtliche Kontrolle sind die Klagearten des deutschen und französischen Verwaltungsrechts heranzuziehen, die ebenfalls eine richterliche Nachprüfung von Verwaltungsakten zum Gegenstand haben. Eine entsprechende gerichtliche Verwaltungskontrolle wird im deutschen Recht durch die in den §§ 42 I, 113 VwGO normierte Anfechtungsklage gewährleistet. Im französischen Verwaltungsrecht erfolgt die Aufbebung rechtswidriger Verwaltungsakte im Rahmen der Klageart des recours pour exces de pouvoir.15 Entgegen der mißverständlichen Fassung hat diese Klageart nicht nur die Kontrolle des Befugnismißbrauchs (exces de pouvoir) zum Gegenstand, sondern unterzieht den Verwaltungsakt einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle.16 Die gerichtliche Kontrolle im Rahmen dieser Klagen soll im folgenden untersucht werden und sowohl zueinander als auch zur Vorgehensweise des Gerichtshofs unter Art. 173 EWGV in Bezug gesetzt werden. Hierbei ist der Vergleich zum recours pour exces de pouvoir insofern von besonderem Interesse, als die Nichtigkeitsklage des Art. 173 EWGV unter deutlicher Anlehnung an diese Klageart ausgestaltet worden ist. 17 D. Weiterer Gang der Darstellung Im folgenden soll zunächst der Umfang der gerichtlichen Verwaltungskontrolle erörtert werden, wie er sich im Rahmen der deutschen Anfechtungsklage und des recours pour exces de pouvoir darstellt. Dabei soll jeweils auf allgemeine Vorgaben der jeweiligen Rechtsordnung sowie auf die Kontrolle der Tatsachenfeststellung und -WÜrdigung eingegangen werden. 15 Vgl. Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 234; vgl. hierzu sowie zu den weitergehenden Anfechtungsmöglichkeiten im Rahmen des recours pour exces de pouvoir auch bereits Becker, S. 29 f. 16 Vgl.

Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 291. Vgl. Bleckmann, Rdz. 532; Boulois, S. 268; Ipsen, in: Isensee/ Kirchhof, § 181, Rdz. 83; Lagrange RTDE 1978, 1 (4 f.); Menens de Wilmars, Festschrift Kutscher, 283 (285 f.) sowie zur Parallelvorschrift des Art. 33 EGKSV Kapteynf Verloren van Themaat, S. 281; Slynn/ Lasok/ Mi/let, in: Vaughan, Nr. 252, S. 2/84. 17

D. Weiterer Gang der Darstellung

29

In entsprechender Weise sollen die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben im Bezug auf die Kontrolle von Kommissionsentscheidungen zunächst abstrakt geklärt werden. Danach ist auf die praktische Anwendung dieser Vorgaben durch den Gerichtshof sowie auf gegebenenfalls bestehende Ausnahmen und Besonderheiten einzugehen.

2. Teil

Der verwaltungsgerichtliche Kontrollumfang im deutschen Recht A. Die historische Entwick.Jung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland

Erste Ansätze einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit zeigten sich, abgesehen von der preußischen Kameraljustiz des ausgehenden 18. Jahrhunderts,1 erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen südund mitteldeutschen Staaten (z.B. Bayern, Hessen-Darmstadt, Württemberg). Hier entstand eine an das Vorbild des französischen Staatsrates (Conseil d'Etat) angelehnte Administrativjustiz, die durch ihre Zugehörigkeit zur Verwaltung und die überwiegende Besetzung mit Verwaltungsbeamten ohne richterliche Unabhängigkeit gekennzeichnet war.2 Einen weiteren Schritt zur Schaffung einer von Justiz und Verwaltung getrennten Verwaltungsgerichtsbarkeit stellte Art. 182 der Frankfurter Reichsverfassung vom 28.03.1849 dar, der besagte: "Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte." Die hierin enthaltenen Gedanken setzten sich jedoch nur teilweise durch; ab 1863 (Baden) wurden von den ordentlichen Gerichten getrennte Verwaltungsgerichte errichtet; diese waren aber nur in ihrer höchsten Instanz auch von der Verwaltung getrennt. Nur die Richter dieser letzten Instanz besaßen auch die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit.3 Die in der Folgezeit sich entwickelnde selbständige Verwaltungsgerichtsbarkeit folgte ausgehend von der zugrunde gelegten Aufgabenstellung zwei unterschiedlichen Ansätzen. Nach dem sogenannten preußischen System (Gneist, Zorn, Otto Mayer) lag das Wesen der Verwaltungsgerichtsbarkeit 1 Vgl.

dazu Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 3 f. Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 7; Ule, S. 2 f. 3 Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 9 f.; Ule, S. 3. 2

A. Historische Entwicklung

31

in der Kontrolle der Verwaltung durch verwaltungsinterne Einrichtungen, die diese Kontrolle in einem gerichtsähnlichen Verfahren ausüben sollten. Ihre Aufgabe war demnach in erster Linie die Sicherung der Rechtmäßigkeil der Verwaltung, d.h. die Einhaltung des objektiven Rechts. Der Schutz subjektiver Rechte ergab sich nur als Nebenfolge dieser objektiven Verwaltungskontrolle. Nach der sogenannten süddeutschen Lehre (v. Sarwey) war Verwaltungsgerichtsbarkeit dagegen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts mit der Aufgabe des Schutzes der subjektiven Rechte des einzelnen. In Anlehnung an diese Lehre entstand z.B. in Württemberg eine einstufige Verwaltungsgerichtsbarkeit, der die enge Verbindung mit der Verwaltung fehlte. 4 Unter der Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurde die Auffassung von der Verwaltungsgerichtsbarkeit als verwaltungsinterner Kontrolle nicht mehr vertreten. Vielmehr sah bereits Art. 107 WR V die Einrichtung von Verwaltungsgerichten zum Schutz der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden als Direktive an den Gesetzgeber vor. Auch führende Verwaltungsrechtier der Weimarer Zeit wie Fleiner und W. Jellinek knüpften an die süddeutsche Lehre an. In Verwirklichung der Gesetzgebungsdirektive des Art. 107 WRV wurden in in praktisch allen Ländern Verwaltungsgerichte errichtet. Zur Einführung einer allgemeinen Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit kam es aber nicht.5 Unter dem Grundgesetz ist eine Deutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Institution objektiver Rechtskontrolle innerhalb der Verwaltung ebenfalls ausgeschlossen; sie ist ein Teil der rechtsprechenden Gewalt und wird durch Art. 95 GG neben die übrigen Gerichtsbarkeilen gestellt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der Teil der Rechtsprechung, dem der Rechtsschutz des einzelnen gegen rechtswidrige Maßnahmen anvertraut ist.6 Dieser Rechtsschutz wird gemäß Art. 97 GG von unabhängigen Richtern ausgeübt, die nur dem Gesetz unterworfen sind.

4

5 6

Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 11; Ule, S. 3 f. Vgl. Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 16 ff.; Ule, S. 4. Badura JA 1984, 83 (91); Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 25; Ule, S. 4 ff.

32

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

B. Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben und Kontrollgrenzen I. Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben

Eine Erörterung allgemeiner Vorgaben des Grundgesetzes im Bezug auf die verwaltungsgerichtliche Kontrolle muß beim Rechtsstaatsprinzip ansetzen. Dieses ist systematisch zum einen ausgestaltet als subjektive Statusordnung, die durch die Grundrechte, grundrechtsgleiche Gewährleistungen und den Gleichheitssatz gekennzeichnet ist. Zum andern entfaltet sich das Rechtsstaatsprinzip aber auch als objektive Funktionenordnung; im Zentrum dieses objektiv-rechtsstaatliehen Elements steht der Grundsatz der Gewaltenteilung.1 Diese subjektiven und objektiven Aspekte des Rechtsstaatsprinzips unterliegen keiner strikten Trennung, sondern stehen zueinander in einem Austauschverhältnis. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich des Rechtsschutz- und Kontrollauftrages der Gerichtsbarkeit.2 1. Art. 19 W GG als Garantie subjektiven Rechtsschutzes

Die Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG bei Verletzungen in eigenen Rechten durch die öffentliche Gewalt stellt ein bestimmendes Merkmal des Rechtsstaatsprinzips dar;3 sie wird teilweise auch als dessen Krönung, als Schlußstein, bezeichnet.4 Diese Vorschrift ist als die maßgebliche verfassungsrechtliche Grundlage der gerichtlichen Verwaltungskontrolle anzusehen.5 Sie begründet in erster Linie ein subjektives Recht auf Individualrechtsschutz,6 dem Grundrechtsqualität zukommt.7 1

Schmidt-Aßmann, in: Isenseef Kirchhof, § 24, Rdz. 46; vgl. dazu auch allgemein Oeter,

266 (267 f.).

Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 46. Vgl. Hendrichs, in: v. Münch, Art. 19 IV, Rdz. 40; Papier, in: Isenseef Kirchhof, § 154, Rdz. 4; Pieroth/ Schlink, Rdz. 1093; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 15. 4 Vgl. Dürig, Gesammelte Schriften 1952-83, S. 197. 5 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 59. 6 Papier, in: Isenseef Kirchhof, § 154, Rdz. 2; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 8. 2

3

B. Allgemeine verfassung~>rechtliche Vorgaben und Kontrollgrenzen

33

Das BVerfG hat betont, daß der durch Art. 19 IV GG garantierte subjektive Indivualrechtsschutz effektiv sein muß.8 Dies bedeutet unter anderem, daß dem Rechtsschutzsuchenden keine unangemessenen verfahrensrechtlichen Hindernisse begegnen dürfen,9 das Gericht in angemessener Frist entscheiden muß10 und vorläufiger Rechtsschutz gewährleistet sein muß, wenn ohne ihn unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden.U Die wichtigste Ausprägung des Gebots effektiven Rechtsschutzes im Hinblick auf den verwaltungsgerichtlichen Kontrollumfang ist aber die Verpflichtung der Gerichte, eine vollständige Rechtskontrolle von Hoheitsakten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vorzunehmen.12 Dies erfordert eine Ausgestaltung des Rechtsweges und der Intensität der gerichtlichen Kontrolle in der Weise, daß sie der Durchsetzung des materiellen Rechts wirkungsvoll dienen, für diese Zweck also geeignet und angemessen sindP Somit muß also eine hinreichende Kontrolldichte gewährleistet sein. Daher kann festgestellt werden, daß Art. 19 IV GG insofern eine allgemeine verfassungsrechtliche Vorgabe für den verwaltungsgerichtlichen Kontrollumfang enthält, als der hierin grundrechtlich garantierte effektive subjektive Individualrechtsschutz die Gerichte zu einer vollständigen Überprüfung angefochtener Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht verpflichtet. 2. Art. 19 W i. V.m. Art. 20 III GG als Gewährleistung objektiver Rechtskontrolle Art. 19 IV GG garantiert aber nicht nur ein subjektives Recht auf Individualrechtsschutz. Er enthält vielmehr auch eine objektive Wertentscheidung 7 Hendrichs, in: v. Münch, Art. 19 IV, Rdz. 41; Papier, in: lsensee/ Kirchhof,§ 154, Rdz. 1; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 7. 8 BVerfGE 60, 253 (269); 81, 108 (129); Lorenz, Festschrift Menger, 143 (152); Pieroth/ Schlink, Rdz. 1107; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 383. 9 BVerfGE 60, 253 (269); 81108 (129); Leibholzf Rjnck, Art. 19, Rdz. 446. 10 BVerfGE 60, 253 (269); Leibholz/ Rjnck, Art. 19, Rdz. 377.

11 BVerfGE 65, 1 (70 f.); 79, 69 (74); vgl. zu weiteren Ausprägungen des Gebots effektiven RechtsschutzesPieroth/ Schlink, Rdz. 1108.

12 BVerfGE 15, 275 (282); 18, 203 (212); 35, 263 (274); 51, 304 (312); 64, 261 (279); BVerfG DVBL 1991, 801 (803); DVBI. 1991, 805 (807); Schmidt-Aßmann/ Groß NVwZ 1993, 617 (620). 13 BVerfG DVBI. 1991, 801 (803); vgl. auch BVerfGE 78, 214 (226); Schmidt-Aßmann/ Groß NVwZ 1993, 617 (619). 3 Rausch

34

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

im Hinblick auf die Gewaltenteilung, indem er in Verbindung mit den speziellen Rechtsweggarantien des Art. 14 III, 4, Art. 34, 3 GG, den verfassungsrechtlichen Kompetenzen nach Art. 93 GG und dem in Art. 100 GG vorausgesetzten richterlichen Prüfungsrecht eine umfassende Befu~nis zur gerichtlichen Kontrolle von Hoheitsakten der Exekutive konstituiert. 4 Diese objektive Wertentscheidung zugunsten einer "gerichtsgeprägten Gewaltenteilung"15 muß im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gesehen werden, der in der in Art. 20 III GG normierten Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz zum Ausdruck kommt. 16 Dieser Grundsatz ist seinerseits Ausfluß des Rechtsstaatsgedankens;17 er beinhaltet das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes, der die Bindung der Verwaltung an höherrangige Rechtsakte zum Ausdruck bringt und besagt, daß die Verwaltung keine Maßnahmen treffen darf, die einem Gesetz widersprechen würden. 18 Damit kommt dem Gesetz insofern eine Schlüsselposition zu, als es den maßgeblichen Maßstab für die Kontrolle der Gerichte über die Verwaltung darstellt.19 Indem die Gerichte Individualrechtsschutz nach Maßgabe des Art. 19 IV GG gewähren, nehmen sie damit folglich zugleich eine Kontrolle der Einhaltung von "Gesetz und Recht" und insofern auch Aufgaben objektiven Rechtsschutzes und objektiver Kontrolle wahr.Z0 Diese doppelte Aufgabenstellung bestätigt auch das BVerfG, indem es ausführt, daß die verwaltungsgerichtliche Prüfung der Kontrolle des Verwaltungshandeins in dem durch § 113 VwGO beschriebenem Umfang dient. 21 14 Henog, in: Maunz/ Dürig, Art. 20, Rdz. 59; Papier, in: lsensee/ Kirchhof, § 154, Rdz. 4 f; Schmidt-Aßmann , in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 10; ders., in: lsensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 58. 15 So Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19IV, Rdz. 10. 16 Vgl. Herzog, in: Maunz/ Dürig, Art. 20, Rdz. 32; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 87; Schmidt-Aßmann, in: lsensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 62; Schnapp, in: v. Münch, Art. 20, Rdz. 36 ff. 17 Schnapp, in: v. Münch, Art. 20, Rdz. 36 ; Schmidt-Aßmann, in: lsensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 61. 18 Maurer, § 6, Rdz. 2; Pietzcker JuS 1979, 710 (710); Schmidt-Aßmann, in: lsensee/ Kirchhof,§ 24, Rdz. 62; Schnapp, in: v. Münch, Art. 20, Rdz. 38. 19 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 59. 20 Berg, Festschrift Menger, 537 (542); Papier, in: lsenseef Kirchhof, § 154, Rdz. 2; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 87; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 9; ders., in: lsensee/ Kirchhof,§ 25, Rdz. 59; Tschiraf Schmitt G/aeser, Rdz. 1, 541. 21 BVerfGE 60, 253 (290); Hervorhebung im Original.

B. Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben und Kontrollgrenzen

35

Damit wird Art. 19 IV GG neben der ihm primär zukommenden Garantie subjektiven Rechtsschutzes auch "reflexartig" zur wichtigsten Gewährleistung objektiver Rechtskontrolle. 22 Vorrangig ist aber die Primärfunktion des Individualrechtsschutzes, die weder im Rahmen der inzidenten objektiven Kontrolle noch durch vom einfachen Gesetzgeber geschaffene objektive Rechtsschutz- und Kontrollverfahren substantiell beeinträchtigt werden darf.23 Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß die Garantie des Art. 19 IV GG die gerichtliche Verwaltungskontrolle in erster Linie als effektiven subjektiven Individualrechtsschutz garantiert. Daneben gewährleistet diese Vorschrift aber auch eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle. Damit werden die dem Rechtsstaatsprinzip innewohnenden Status- und Funktionsordnungselemente im Hinblick auf den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz miteinander verbunden. II. Allgemeine Kontrollgrenzen

Aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG lassen sich aber auch allgemeine Grenzen der gerichtlichen Verwaltungskontrolle herleiten. 1. Keine universale Kontrolle

Wie bereits dargelegt, gewährleistet Art. 19 IV GG keine umfassende objektive Rechtmäßigkeitskontrolle; daher gilt die Rechtsweggarantie nur in dem Umfang24 in dem subjektive Rechte durch die öffentliche Gewalt tangiert werden. Es steht dem einfachen Gesetzgeber aber frei, den Gerichten auch weitergehende Kompetenzen zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle zu übertragen. Diese dürfen aber die verfassungsrechtlich verbürgte Primär-

22

Vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof, § 24, Rdz. 59; Tschira/ Schmill Glae-

ser, Rdz. 537.

23 Papier, in: Isensee/ Kirchhof, § 154, Rdz. 2; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 9 24 Leibholz/ Rinck, Art. 19, Rdz. 216; Papier, in: Isensee/ Kirchhof,§ 154, Rdz. 2; SchmidtAßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 191V, Rdz. 11.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

36

funktion des Individualrechtsschutzes nicht substantiell behindern;25 msofern ist die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle eingeschränkt. 2. Beschränkung auf Rechtskontrolle

Art. 19 IV GG weist den Gerichten eine Kontrolle der anderen Gewalten am Maßstab und mit den Methoden des Rechts zu. Wirtschaftlichkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen und Maßstäbe politischer Opportunität unterliegen dagegen nicht der richterlichen Kontrolle; sie dürfen auch nicht durch überspannte Anforderungen an die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit oder vorgenommene Abwägungen in die Nachprüfung einbezogen werden.26 Das BVerfG hat hierzu im Bezug auf Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Verwaltung ausdrücklich auf den Grundsatz der Gewaltenteilung hingewiesen und ausgeführt, die Verwaltungsgerichte hätten die von den Behörden vorgenommenen Ermittlungen nur auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, nicht aber ihre eigenen Bewertungen an deren Stelle zu setzen.27 Unklar ist aber, ob diese Aussage über den konkreten Sachzusammenhang des zitierten Urteils hinaus als ein allgemeines Verbot einer Bewertungssurrogation angesehen werden kann.28 Jedenfalls kommt aber in der Aussage des BVerfG der Gewaltenteilungsaspekt zum Ausdruck, der maßgebliches Moment für die Beschränkung auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle ist. 3. Beschränkung der richterlichen Kontrolle bei nonnativ eröffneten Entscheidungsspielräumen der Verwaltung

Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG trifft keine Aussage über das Maß oder die Dichte der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt. Ihre Gewährleistung besteht darin, daß die Einhaltung bestehender rechtlicher

25

Vgl. oben 2. Teil, BI 2.

26 Schmidt-Aßmann, V

(86).

in: Maunz/ Dürig, An. 19 IV, Rdz. 12.

BVerfGE 61, 82 (114 f.); vgl. auch BVetwGE 72, 300 (317) sowie Badura JA 1984, 83

28 Vgl. Kloepfer,

§ 5, Rdz. 50.

8. Allgemeine verfassung~>rechtliche Vorgaben und Kontrollgrenzen

37

Bindungen von der rechtsprechenden Gewalt in jedem Fall kontrolliert werden kann.29 Das Maß der Bindung der öffentlichen Verwaltung bestimmt sich dabei - abgesehen von den Fällen der Grundrechte und sonstiger verfassungsmäßiger Rechte - nach den Regelungen des einfachen Rechts. Der Gesetzgeber bestimmt, unter welchen Voraussetzungen dem Bürger ein subjektives Recht zustehen und welchen Inhalt es haben soll.30 Was einer rechtlichen Regelung dagegen unzugänglich ist, kann zwar Interessen, aber keine schützenswerten subjektiven Rechte im Sinne des Art. 19 IV GG verletzen.31 Daher findet die richterliche Prüfung ihre Grenzen auch da, wo der Gesetzgeber der öffentlichen Gewalt Entscheidungsfreiräume in Form von Ermessens-, Beurteilungs- und (planerischen) Gestaltungsspielräumen normativ eröffnet.32 Auch bei einer solchen Eröffnung von Entscheidungsspielräumen hat der Gesetzgeber aber die ratio legis des Art. 19 IV GG zu beachten und darf die Rechtsschutzgarantie nicht über das materielle Recht unterlaufen oder umgehen. 33 Das BVerfG hat hierzu ausgeführt, daß unbeschadet solcher Entscheidungsfreiräume der Verwaltung eine grundsätzliche Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen seitens anderer Gewalten ausgeschlossen sei.34 Diese Aussage ist im Zusammenhang mit dem durch Art. 19 IV GG garantierten effektiven Rechtsschutz zu sehen, der eine Verpflichtung der Gerichte zu vollständiger tatsächlicher und rechtlicher Kontrolle beinhaltet und

29 BVerfGE 15, 275 (281 f.); Lorenz, Festschrift Menger, 143 (152); Papier, in: Isensee/ Kirchhof,§ 154, Rdz. 6 f.; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 287 ff. und 438. 30 BVerfGE 78, 214 (226); Herzog NJW 1992, 2601 (2601 f.); Leibholzf Rinck, Art. 19, Rdz. 216; Papier,in: lsensee/ Kirchhof, § 154, Rdz. 6; Schmidt-Aßmann, in: Festschrift Menger, 107 (115 f.); Schmidt-Aßmann/ Groß NVwZ 1993,617 (619).

31 Pieroth/

Schlink, Rdz. 1109; vgl. auch BVerfG DVBI. 1991, 801 (803).

32

BVerfGE 61,82 (111); BVerwGE 77, 75 (85); 72, 300 (317); 59, 213 (216 f.); NVwZ 1993, 666 (669); Leibholz/ Rinck, Art. 19, Rdz. 296; Papier,in: lsenseef Kirchhof,§ 154, Rdz. 7; Pieroth/ Schlink, Rdz. 1109; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 188. 33 Hendrichs,

34

in: v. Münch, Art. 19, Rdz. 52; Papier,in: Isensee/ Kirchhof, § 154, Rdz. 7.

BVerfGE 61, 82 (111); BVerfG DVBI. 1991, 801 (803).

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

38

eine hinreichende Kontrolldichte postuliert.35 Sie ist in der Weise zu interpretieren, daß eine Lockerung der Rechtsbindung durch Einräumung von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung nur dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn sie als Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der vollen gerichtlichen Kontrolle ausgestaltet bleibt; grundsätzlich muß die Befugnis zur Letztentscheidung bei den Gerichten verbleiben.36 Weitere Voraussetzung ist, daß entsprechende Spielräume der Verwaltung normativ eröffnet sein müssen. 37 111. Zusammenfassung

Faßt man die Untersuchung zu den allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Grenzen der gerichtlichen Verwaltungskontrolle zusammen, so können folgende Feststellungen getroffen werden: Allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben ergeben sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, insbesondere aus Art. 19 IV GG, der für die richterliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen von fundamentaler Bedeutung ist. Dieser garantiert in erster Linie ein grundrechtlich gesichertes subjektives Recht auf effektiven Individualrechtsschutz. Damit ist aber inzident auch eine Gewährleistung objektiver Rechtskontrolle verbunden. Eine erste allgemeine Kontrollgrenze ergibt sich daraus, daß Art. 19 IV GG keine Befugnis zur richterlichen Universalkontrolle gewährt, sondern vielmehr die Befugnis zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle an die substantiellen Grenzen des Individualrechtsschutzes bindet. Weiterhin ist die gerichtliche Nachprüfung auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt. Die richterliche Nachprüfungsbefugnis findet im übrigen ihre Grenzen dort, wo der Gesetzgeber der öffentlichen Verwaltung normative Entscheidungsfreiräume in Form von Ermessens-, Beurteilungs- und Gestaltungsspielräumen zubilligt.

35

Vgl. oben 2. Teil, B 11. NJW 1992, 2601 (2602).

36 Herzog 37 So

auch Kloepfer, § 5, Rdz. 49; Schmidt-Aßmann/ Groß NVwZ 1993,617 (621).

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

39

Der Gesetzgeber darf aber seinerseits entsprechende Entscheidungsfreiräume nur als Ausnahme von dem durch Art. 19 IV GG vorgegebenen allgemeinen Grundsatz umfassender gerichtlicher Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ausgestalten; im Grundsatz muß die Letztentscheidungskompetenz den Gerichten vorbehalten bleiben. C. Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen Vor dem Hintergrund der dargestellten allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Kontrollgrenzen stellt sich die Frage, in welchem Umfang die deutschen Verwaltungsgerichte zur Überprüfung des Sachverhalts berechtigt oder verpflichtet sind, den die Behörde ihren Verwaltungsakten zugrunde legt. I. Recht zur unabhängigen Sachverhaltserforschung

Hierbei ist zunächst zu klären, ob den Gerichten ein Recht zur unabhängigen Nachprüfung des Sachverhalts zusteht. 1. Geltung des Untersuchungsgnmdsatzes (§ 86 I VwGO)

Eine ausdrückliche Regelung der gerichtlichen Sachverhaltskontrolle findet sich in § 86 I VwGO. Danach erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Parteien nicht gebunden. Damit hat sich der Gesetzgeber für die Herrschaft des Untersuchungsgrundsatzes (Inquisitionsmaxime) im Verwaltungsprozeß ausgesprochen. 1 Gleichzeitig erteilt er damit dem im Zivilprozeß geltenden Verhandlungsoder Beibringungsgrundsatz eine Absage, nach dem die beteiligten Parteien den Tatsachenstoff, von dem das Gericht bei seiner Entscheidung auszugehen hat, durchSachvortrag und Beweisangebot festlegen. 2

1 Kopp, VwGO, § 81, Rdz. 1; Kropshofer, S. 23 f., 26; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 1; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 86; Stern, S. 194; Tschiraf Sehnlitt Glaeser, Rdz. 540 f.; Ule, S. 133; 2 Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 1; Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 541.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

40

Hierbei ist allerdings anzumerken, daß der diese beiden Maximen ursprünglich kennzeichnende echte Gegensatz heute insbesondere durch die Novellierungen der ZPO hinsichtlich der richterlichen Frage- und Aufklärungspflicht (§ 139 ZPO) und durch die von Amts wegen zulässige Anordnung des Augenscheins-, Sachverständigen- und Urkundsbeweis (§§ 142, 143, 144, 273 ZPO) und der Parteivernehmung (§ 448 ZPO) nur noch sehr eingeschränkt besteht.3 2. Geltung des Veifüguttgsgnmdsatzes

Neben dem Untersuchungsgrundsatz ist der Verwaltungsprozeß durch den Verfügungsgrundsatz (Dispositionsmaxime) gekennzeichnet.4 Dieser besagt, daß die Verfahrensbeteiligten (insbesondere der Kläger) über den Streitgegenstand und über Beginn und Beendigung des gerichtlichen Verfahrens bestimmen;5 sein Gegensatz ist nicht der Untersuchungsgrundsatz, sondern das den Strafprozeß beherrschende Offizialprinzip.6 Diese Herrschaft über das "Ob" des Verfahrens7 findet ihren positivrechtlichen Niederschlag in einer Vielzahl von Regelungen der VwGO. So wird das Gericht z.B. nur auf Antrag oder auf Klage hin tätig (vgl. §§ 42 I, 43, 47, 48, 50 I, 80 V, 80 a, 123 VwGO) und darf über das Klage- bzw. Antragsbegehren nicht hinausgehen (§ 88 VwGO). Klageänderung und -rücknahme sind nach§§ 91, 92 VwGO ebenfalls zulässig.8 Eine gewisse Abschwächung des Verfügungsgrundsatzes zeigt sich lediglich in der möglichen Beteiligung des Vertreters des öffentlichen Interesses und des Oberbundesanwaltesam Verfahren gemäߧ§ 35,36 VwG0. 9

3

Vgl. Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 1; Ule, S. 134.

4

Vgl. Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 2; Marx, S. 7; Redekerf v. Oerczen, § 86, Rdz. 2, 4; Tschiraf Schmitt G/aeser, Rdz. 538; Ule, S. 137 f. 5 Redekerf 6

v. Oenzen, § 86, Rdz. 2, 4.

Ule, S. 138.

7

Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 539.

8

Vgl. weiterhin§§ 106, 161ll, 127, 126, 140 VwGO.

9

U/e, S. 138 f.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

41

3. Analyse Analysiert man diese beiden im Verwaltungsprozeß geltenden Maximen im Hinblick auf die festgestellten allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben, so läßt sich auch hier ein Dualismus zwischen objektiver Rechtmäßigkeitskontrolle und subjektivem Individualrechtsschutz erkennen. Die durch die Untersuchungsmaxime eingeräumte Befugnis des Gerichts zur Erforschung des Sachverhalts unabhängift vom Vorbringen der Parteien ist Ausdruck der objektiven Rechtskontrolle. 0 Dagegen orientiert sich der Verfügungsgrundsatz an der durch Art. 19 IV GG primär eingeräumten Garantie effektiven Rechtsschutzes im Hinblick auf subjektive Rechtsverletzungen. Die Dispositionsmaxime beschreibt die Befugnis des Bürgers, selbstverantwortlich darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz angesichts bestehender Verletzungen subjektiv öffentlicher Rechte in Anspruch nehmen wili.U Insofern stellt der Verfügungsgrundsatz die konsequente Ausformung des verfassungsrechtlich geforderten Individualrechtsschutzes 1m Hinblick auf die Disposition über den Streitgegenstand dar. Hieraus wird teilweise die Schlußfolgerung gezogen, die auf eine objektive Rechtskontrolle ausgerichtete Geltung des Untersuchungsgrundsatzes sei mit dieser Ausprägung des Individualrechtsschutzes nur schwer bzw. nicht vereinbar. Sie lasse sich lediglich historisch aus dem früheren Zusammenhang zwischen Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeß erklären und sei nur damit zu rechtfertigen, daß die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts nicht der Willkür der Prozeßbeteiligten überlassen bleiben könne. 12 Dagegen ist jedoch zu sagen, daß das verwaltungsgerichtliche Verfahren zwar primär dem subjektiven Rechtsschutz des Betroffenen dient. Zugleich soll es aber auch eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle ermöglichen. Dieser Dualismus schlägt sich auch in den Prozeßmaximen nieder. Zwar hängt es von der freien Entscheidung des Betroffenen ab, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er im konkreten Fall gerichtlichen Rechts10

Vgl. Tschiraf Schmiu Glaeser, Rdz. 537; Ule, S. 5 f.

11

Vgl. Berg, Festschrift Menger, 537 (542); Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 82; Tschiraf Schmill Glaeser, Rdz. 537. 12

Ule, S. 5 f.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

42

schutz beansprucht. Innerhalb dieses durch das Klägerbegehren gemäß § 88 VwGO gesteckten Rahmens besteht aber ein öffentliches Interesse an der Richtigkeit der zu treffenden Entscheidung. 13 Hier kann es nicht allein den Beteiligten überlassen bleiben, die entscheidungserheblichen Tatsachen beizubringen; vielmehr muß es Aufgabe des Gerichts als dazu berufenem staatlichen Organ sein, den wahren Sachverhalt zu erforschen, weil nur auf dieser Grundlage die Chance einer richtigen und gerechten Entscheidung besteht. Darüber hinaus setzt der von Art. 19 IV GG garantierte Rechtsschutz prozessuale "Waffengleichheit" voraus. 14 Angesichts des besonderen Sachverstandes und Kenntnisvorsprunges der Behörde gegenüber dem Bürger kann eine solche aber nur durch ein gerichtliches Verfahren gewährleistet werden, das vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist. Damit ist die durch den Untersuchungsgrundsatz den Gerichten eingeräumte Befugnis nicht nur mit dem Gebot des Individualrechtsschutzes vereinbar. Sie ist vielmehr aufgrund der verfassungsrechtlich gewährleisteten objektiven Rechtskontrolle sogar zwingend geboten.15 Daher kann zusammenfassend festgestellt werden, daß es der Verfügungsgrundsatz der freien Entscheidung des Betroffenen überläßt, ob und in welchem Umfang er verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nimmt. Dagegen steht es nicht in seinem Belieben, welchen Sachverhalt er dem Gericht im Rahmen seines Begehrens zur Entscheidung unterbreitet. Hier gilt vielmehr der Untersuchungsgrundsatz mit der Folge, daß das Gericht zur eigenständigen Erforschung des Sachverhalts unabhängig vom Vorbringen der Beteiligten befugt ist. 4. Mittel zur Sachaufklärung

Dem Gericht stehen zur Aufklärung des Sachverhalts die in der VwGO vorgesehenen Mittel zur Verfügung. So können Erörterungen mit den Beteiligten gemäß Art. 86 III, 87, 87 b, 104 VwGO vorgenommen und deren VwGO, § 86, Rdz. 1; Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 541; vgl. auch Ule, S. 134. Vgl. Marx, S. 64, 224; Tschiraj Schmitt Glaeser, Rdz. 541. 15 Vgl. Berg, Festschrift Menger, 537 (542 f.); Lorenz, Festschrift Menger, 143 (153); Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 541; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 86. 13 Kopp

14

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

43

persönliches Erscheinen nach § 95 VwGO angeordnet werden. Akten, Urkunden und Auskünfte können gemäß §§ 87, 87 b und 99 VwGO beigezogen werden. Darüber hinaus stehen ihm nach § 98 VwGO die Beweismittel in gleichem Umfange wie in der ZPO zur Verfügung. Die Aufzählung des§ 96 I 2 VwGO ist nicht abschließend. 16 Das Verwaltungsgericht kann somit Augenscheins-, Zeugen-, Sachverständi~en- und Urkundsbeweis erheben sowie Parteivernehmungen durchführen. 7 Auch im übrigen sind nach§ 98 VwGO die zivilprozessualen Vorschriften über die Beweisaufnahme anzuwenden, soweit die VwGO nicht abweichende Regelungen enthält. Wesentlichste Abweichung in diesem Sinne ist die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes. 18 II. Pflicht zur umfassenden Sachverhaltserforschung

Angesichts der festgestellten Befugnis der Verwaltungsgerichte zur umfassenden Sachverhaltserforschung stellt sich die Frage, ob dieses Recht auch eine entsprechende Pflicht zur Folge hat. Hierbei ist zu beachten, daß das Gericht unter der Herrschaft des Untersuchungsgrundsatzes zur maßgeblichen Instanz wird, die im Rahmen des vom Kläger bestimmten Streitgegenstandes die entscheidungserheblichen Tatsachen zu ermitteln hat. Dieser Funktion trägt § 86 I 1 VwGO in der Weise Rechnung, daß er dem Gericht die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen überträgt. Damit begründet der in§ 86 I VwGO normierte Untersuchungsgrundsatz nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Gerichts zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts, der der behördlichen Entscheidung zugrunde liegt.19

16 Kopp, 17 Vgl.

VwGO, § 98, Rdz. 3.

dazu Redekerf v. Oenzen, § 86, Rdz. 2 ff. 18 Kopp, VwGO, § 98, Rdz. 1; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 1. 19 BVetwGE 78,285 (296); BVetwG NJW 1956,604 (604); NVwZ 1986, 37 (37); Berg, Festschrift Menger, 537 (543); Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 1; Redekerf v. Oenzen, § 86, Rdz. 8; Tschiraf Sehnlitt Glaeser, Rdz. 541; Ule, S. 134.

44

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

Die Vorgehensweise bei der Sachaufklärung liegt dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.20 Die Aufklärung des Sachverhalts darf aber nicht der Verwaltungsbehörde überlassen werden;21 sie ist vielmehr vom Gericht selbst vorzunehmen.22 Soweit die Hilfe der Parteien nicht ausreicht, um den wahren Sachverhalt zu ermitteln, ist das Gericht verpflichtet, eigene Ermittlungen anzustellen; wenn Anhaltspunkte vorliegen, kann und muß es die Erforschung auch auf Umstände ausdehnen, die nicht von den Parteien in den Prozeß eingeführt worden sind.23 Andererseits ist es unbedenklich, wenn das Gericht die von der Behörde getroffenen Tatsachenfeststellungen auch für seine Entscheidung übernimmt, soweit sie überzeugend sind und auch durch den Vortra~der Beteiligten nicht in Zweifel gezogen oder sonst "erschüttert" werden. Entsprechendes gilt für Gutachten, die von der Behörde bzw. dem Kläger eingeholt wurden, soweit deren Richtigkeit nicht substantiiert bestritten wird.25 Das Ermessen bei der Sachaufklärung wird durch konkrete Beweisantritte der Beteiligten eingeschränkt; zwar ist das Gericht gemäß § 86 I 2 VwGO nicht an diese gebunden; dennoch dürfen entsprechende Beweisanträge nicht willkürlich abgelehnt werden.26 Auch eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung ist unzulässig_27 Erfordert die Sachaufklärung eine dem Gericht fehlende Sachkunde, so bedarf es der Heranziehung eines Sachverständigen. Dieser kann dem Gericht die erforderliche Tatsachenfeststellung jedoch nicht abnehmen; viel-

20 BVerwGE 2, 135 (136); Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 236; NJW 1986, 1187 (1187); Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 1; Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 8; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 9; Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 542; U/e, S. 135. 21 BVerwGE 2, 135 (136); VGH Kassel NVwZ 1982, 136 (139); Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 8; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 8. 22 BVerwG NVwZ 1985,35 (36); Redekerf v. Oerrzen, § 86, Rdz. 8.

23 Berg, Festschrift Menger, 537 (545); Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 542; Ule, S. 134 f.; Redeleer/ von Oertzen, § 86, Rdz. 9 spricht in diesem Zusammenhang von "sich aufdrängenden Mitteln zur Sachaufklärung". 2A BVerwG DVBI. 1980, 593 (594); Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 8; vgl. auch BVerwG Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 40. 25 BVerwGE 74, 222 (223 f.); BayVBI1982, 284 (284); NVwZ 1986, 37 (37); Kopp VwGO, § 86, Rdz. 8.

26 BVerwG Buchholz 310, § 86 I, Nr. 196 und Nr. 219; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 9; Tschiraf Schmiu Glaeser, Rdz. 542. 27 BVerwG Buchholz 310, § 86 I, Nr. 229; Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 6 a; Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 542.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

45

mehr muß dieses die Überlegungen selbstverantwortlich nachvollziehen.28 Das Gericht kann auf einen Sachverständigen verzichten, wenn es selbst die erforderliche Sachkunde besitzt; in diesem Fall muß sich aber aus den Ausführungen ergeben, woraus sich diese ergibt.29 Eine Rücknahme der richterlichen Kontrolle wegen fehlender eigener Sachkompetenz unter Anerkennung eines Kenntnisvorsprungs der Behörde ist dagegen mit Art. 19 IV GG grundsätzlich nicht vereinbar. Praktische Schwierigkeiten der genannten Art sind kein Grund, den gebotenen effektiven Rechtsschutz einzuschränken; sie sind vielmehr mit Hilfe von Sachverständigen zu überwinden.30 Soweit die Hilfe der Parteien nicht ausreicht, um den wahren Sachverhalt zu ermitteln, ist das Gericht verpflichtet, eigene Ermittlungen anzustellen; wenn Anhaltspunkte vorliegen, kann und muß es diese auch auf Umstände ausdehnen, die nicht von den Parteien in den Prozeß eingeführt worden sind.31 In der Praxis zeigt sich, daß die Verwaltungsgerichte der ihnen übertragenen Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung in umfassender Weise und unter eingehender Nutzung der ihnen eingeräumten Mittel zur eigenständigen Erforschung des Sachverhaltes nachkommen.32 111. Grenzen der Untersuchungspflicht

1. Begrenzung durch Zumutbarkeit

Die gerichtliche Verpflichtung zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung besteht aber nicht uneingeschränkt. Eine allgemeine Grenze der Unter-

28 BVerwG NVwZ 1987,47 (48); Schunck/ de Clerck, § 86, Anm. 1 b) dd); Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 542. 29 BVerwG NVwZ..RR 1990,375 (376); Schunck/ de Clerck, § 86, Anm. 1 b) dd). 30 BVerfG DVBI. 1991, 801 (804 f.); DVBI. 1991, 805 (807); NVwZ 1993, 666 (669 f.); Herzog NJW 1992, 2601 (2602, 2604); Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 341; Teltinger DVBI. 1982, 421 (422). Vgl. zur Frage der Einschränkung dieses Grundsatzes im Bereich wissenschaftlich-technischer Fragekomplexe unten 3. c). 31 Berg, Festschrift Menger, 537 (545); Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 542; Ule, S. 134 f.; Redekerl v. Oertzen, § 86, Rdz. 9 spricht in diesem Zusammenhang von "sich aufdrängenden Mitteln zur Sachaufklärung". 32 Lerche, S. 249 (249, 254 ff.); Woehrling NVwZ 1985, 21 (25); vgl. auch Franssen, Festschrift Zeidler, 429 (437).

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

46

suchungspflicht besteht darin, daß das Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts nur im Rahmen des Zurnutbaren verpflichtet ist.33 So hat das OVG NW beispielsweise einen auf die Vernehmung von 20.000 Asylbewerbern gerichteten Beweisantrag w~en der Unzumutbarkeit einer solchen Zeugenvernehmung zurückgewiesen.

2. Begrenzung durch Mitwirkungspflichten Den Beteiligten im Verwaltungsprozeß obliegt zwar keine Darlegungspflicht;35 gemäß § 86 I 1 2. HS VwGO sind sie aber bei der Erforschung des Sachverhalts heranzuziehen. Hieraus ergibt sich eine entsprechende allgemeine Mitwirkungspflicht,36 derzufolge sie ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben und sich auf Anfordern des Gerichts zu den von anderen Beteiligten vorgebrachten Tatsachen zu erklären haben?7 Das Gericht hat sie hierzu heranzuziehen und bei unvollständigem oder unklarem Sachvortrag zur Ergänzung und Klarstellung aufzufordern.38 Kommen die Beteiligten dieser Pflicht nicht nach, so führt dies zu einer Verringerung der Anforderungen an die Aufklärungspflicht des Gerichts. Das BVerwG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die gerichtliche Aufklärungspflicht dort ihre Grenze findet, wo die Parteien ihrer Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts nicht nachkommen.39 Diese "Anfang-Ende- Formel" ist aber insofern wenig aussagekräftig, als sie keine Aussage über Umfang und Grenzen der Mitwirkungspflicht trifft.40 33 BVerwGE 71, 38 (41) m.w.N.; BayVBI 1984, 87 (87); BayVBI 1988, 505 (506); Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 5; Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 5; ähnlich auch BVerfG DVBI. 1991,801

(803), das von Funktionsgrenzen der Rechtsprechung spricht. 34 OVG NW DÖV 1981, 384 (384). 35 BVerwGE 77, 150 (156); Schunckf de Clerck, § 86, 1 b) bb). 36 BVerwGE 19, 87 (94); 77, 150 (156); Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 11; Martens, Verwaltungsverfahren, S. 81 f. (Rdz. 121); Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 10; Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 542. 37

BVerwGE 77,

38 Redekerf v.

BVerwGE 66, 237 (238); BVerwG NJW 1964, 786 (787); Buchholz 310, § 86 I VwGO, 122 und Nr. 181. 40 Nierhaus, S. 336; Redeker DVßl. 1981,83 (84). 39

Nr.

150 (156); Schunckf de Clerck, § 86, 1 b) bb).

Oertzen, § 86, Rdz. 10.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

47

Im übrigen wäre auch eine automatische Begrenzung der richterlichen Aufklärungspflicht bei Einsetzen der Mitwirkungspflichten der Parteien im Hinblick auf die Geltung des Untersuchungsgrundsatzs sehr bedenklich.41 Das BVerwG hat diese Formel aber in seiner weiteren Rechtsprechung in der Weise präzisiert, daß dann Beweis zu erheben sei, wenn sichtrotz der mangelhaften Darlegung eines Beteiligten aufgrundanderer Umstände eine weitere Aufklärung aufdrängen mußte.42 Dies soll dann nicht der Fall sein, wenn der Beteiligte es an einem substantiierten Vortrag rechtserheblicher konkreter Anhaltspunkte und Tatsachen fehlen läßt,43 sei es zur Begründung des eigenen Standpunktes,44 sei es zur Einlassung des Gegners.45 Damit hat das BVerwG klargestellt, daß das Gericht seine Sachverhaltsermittlung zumindest nicht in jedem Falleaufgrund der Verletzung von Mitwirkungspflichten abbrechen kann. Die Formulierung des "Sich-Aufdrängens" ist in der Literatur mit dem Argument kritisiert worden, es stelle eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes dar, wenn das Gericht angesichts der verweigerten Weitergabe von Informationen durch den Beteiligten seinerseits darauf verzichte, anderweitigen ernstlichen Möglichkeiten der Sachaufklärung nachzugehen.46 Die weitere Rechtsprechung des BVerwG macht aber deutlich, daß das Gericht den Begriff des "Sich-Aufdrängens" nicht in diesem Sinne versteht. Es hat ausgeführt, daß ein Tatsachengericht zwar im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nur dann Anlaß zu weiterer Sachverhaltsermittlung habe, wenn die betroffene Partei für die Entscheidung erhebliche Tatsachen vortrage, d.h. wenn sie in schlüssiger Form einen in sich stimmigen Sachverhalt schildere, aus dem sich - dieser als wahr unterstellt - die von ihm behauptete Rechtsfolge ergebe.47 Die Aufklärungspflicht schließe nicht ein, zugunsten eines Verfahrensbeteiligten in nicht durch entsprechendes Vorbringen oder 41

Vgl. Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 87. BVerwG DÖV 1982, 410 (411); DVBJ. 1985, 164 (164); Buchholz 310, § 861 VwGO, Nr. 100, 101 und 114. 42

43 BVerwG Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 100, 101 und 172; NVwZ 1987, 404 (404); NVwZ 1988, 159 (159); vgl. auch Kopp VwGO, § 86, Rdz. 12; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 11; Ule, S. 135. 44 BVerwG Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 76. 45 BVerwG Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 40. 46 Berg, Festschrift Menger, 537 (455); Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 3.; Kropshofer, S. 27 f.; Nierhaus, S. 337 f. 47 BVerwG Buchholz 402.24, § 28 AuslG, Nr. 44; NVwZ 1987, 404 (404).

48

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

andere konkrete Anhaltspunkte veranlaßte Nachforschungen darüber einzutreten, ob vielleicht irgendein bisher nicht entdeckter Umstand auf die Rechtmäßigkeit des zu beurteilenden Verwaltungshandeins von Einfluß sein könne.48 Insoweit finde die gerichtliche Aufklärungspflicht grundsätzlich dort ihre Grenze, wo die Beteiligten ihrer Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts nicht nachkommen.49 Ein Kläger müsse aber mit Blick auf die Frage einer weiteren Sachverhaltsermittlung durch das Gericht zuroutbar nur solche Tatsachen substantiiert aufzeigen, die in seine Sphäre bzw. in seinen Erkenntnisbereich fallen.50 Daher ist die "Anfang-Ende -Formel" des BVerwG in der Weise zu interpretieren, daß die gerichtliche Aufklärungspflicht dort endet, wo die Beteiligten in Kenntnis entscheidungsrelevanter Umstände, die für das Gericht auch bei sorgfältiger Erforschung des Sachverhalts nicht ersichtlich waren, ihre Mitwirkung unterlassen.51 Beispiele aus der gerichtlichen Praxis für die Einschränkung der Aufklärungspflicht aufgrund nicht erfüllter Mitwirkungspflichten sind z.B. verweigerte Angaben der Beteiligten bei der Erforschung innerer Vorgänge wie Gewissensentscheidungen bei Kriegsdienstverweigerern;52 ein anderes Beispiel ist die fehlende Mitwirkung bei der Durchführung medizinischer Untersuchungen.53 Auch im Asylverfahren spielt die Erfüllung von Mitwirkungspflichten eine bedeutsame Rolle. Hier fordert das BVerwG, daß der Asylbewerber zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen. Ist dies nicht der Fall, braucht das Gericht auch substantiierten Beweisanträgen zum

BVerwG Buchholz 310, § 861 VwGO, Nr. 129; NVwZ 1987, 404 (404). Vgl. BVerwG NVwZ 1987,404 (405). 50 BVerwG Buchholz 402.24, § 28 AusiG, Nr. 44; Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 109; NVwZ 1987, 404 (405) unter Bezugnahme auf BVerwGE 74, 222 (224 f.); Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 172. 48 49

51 Nierhaus, S. 341; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 87; im Ergebnis ebenso Eyermann/ Fröhler, § 86 Rdz. 3; Redekerf v. Oertzen, § 86, Rdz. 11; enger noch Redeker DVBI. 1981, 83 (85). 52 BVerwG NVwZ 1985, 195 (196).

53

BVerwG BayVBI1984, 87 (87); BayVBI1988, 505 (505 f.).

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

49

Verfolgungsgeschehen nicht nachzugehen, sondern kann die Klage ohne Beweisaufnahme abweisen.54 Zusammenfassend ist daher zu sagen, daß die Verletzung von Mitwirkungspflichten keine automatische Beschränkung der richterlichen Aufklärungspflicht zur Folge hat. Vielmehr hat das Gericht auch in diesem Fall anderweitigen ernsthaften Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich nachzugehen. Es ist aber nicht verpflichtet, eine Aufklärung von Sachumständen dort vorzunehmen, wo die entscheidungsrelevanten Umstände dem Gericht nicht erkennbar sind, sondern in den persönlichen Erkenntnisbereich eines Beteiligten fallen und dieser seiner Pflicht zur Informationsweitergabe nicht nachkommt. 3. Grenzen der Untersuchungspflicht bei wissenschaftlich-technischen Fragekomplexen

Im folgenden soll untersucht werden, ob die grundsätzlich umfassende gerichtliche Überprüfung behördlicher Tatsachenfeststellungen auch bei wissenschaftlich - technischen Fragekomplexen Bestand hat. Diese Frage stellt sich in erster Linie im Bereich des Umwelt- und Immissionsschutzrechts.55 Planung und Bau immer größerer großtechnischer Anlagen haben in den jeweiligen verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Gerichte auch vor immer schwierigere Ermittlungsprobleme gestellt und zur Einführung technischer Verwaltungsvorschriften geführt, die die Sachverhaltsaufklärung erleichtern sollen. In diesem Zusammenhang erhebt sich aber die Frage nach der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes; je höher die Verbindlichkeit der Aussagen dieser technischen Regelwerke eingestuft wird, umso weniger kann von einer eigenverantwortlichen Feststellung des Sachverhalts durch die Verwaltungsgerichte gesprochen werden.56 Das BVerwG hat die hierin begründete Problematik zunächst in der Weise zu lösen versucht, daß es entsprechende technische Regelwerke als 54

BVerwG Buchholz 310, § 86 I VwGO, Nr. 212 m.w.N.

55 Vgl. 56 So 4 Rausch

Lerche, 249 (257).

bereits Berg, Festschrift Menger, 537 (546 f.).

50

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

"antizipierte Sachverständigengutachten" qualifiziert hat. Nach dieser Konstruktion sollten Verwaltungsvorschriften mit vorwiegend technischem Charakter als vorweggenommene Sachverständigengutachten im Verwaltungsprozeß berücksichtigt werden, soweit als gesichert gelten konnte, daß sie zuverlässig und nicht durch neue Erkenntnisse überholt sind und daß im konkreten Fall kein atypischer Sachverhalt vorliegt.57 Von dieser Konstruktion hat das BVerwG aber im Wyh/-Urteil im Hinblick auf die "Allgemeine Berechnungsgrundlage" im Sinne des § 7 II Nr. 3 AtomG58 Abstand genommen und entsprechende Vorschriften als "normkonkretisierende" Verwaltungsvorschriften eingestuft, denen es im Gegensatz zu herkömmlichen "norminterpretierenden" Verwaltungsvorschriften Außenwirkung innerhalb der von der Norm gesetzten Grenzen zuspricht.59 Mit seiner Qualifizierung als "normkonkretisierend" stellt das Gericht zugleich klar, daß entsprechende technische Regelwerke die abstraktgenerelle Konkretisierung gesetzlicher Regelungen und nicht die Erforschung des konkreten Sachverhalts zum Gegenstand haben. Insofern führt die Einräumung von Entscheidungsspielräumen im Rahmen dieser technischen Regelwerke nicht zu einer Einschränkung der Untersuchungspflicht des Gerichts im Bezug auf den jeweiligen Sachverhalt; sie stellt sich vielmehr als Einschränkung der Kontrolle der rechtlichen Würdigung von Tatsachen im Sinne eines Beurteilungsspielraumes dar.60 IV. Beweislast

Auch im Verwaltungsprozeß stellt sich die Frage der Beweislast Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Verfahrensbegriffe der Behauptungslast, Beweisführungslast und Beweislast im Rahmen des Zivilprozesses entwickelt worden sind. Wer eine bestimmte Rechtsfolge im Zivilprozeß begründen will, muß einen entsprechenden Sachverhalt behaupSI Vgl. BVerwGE 55, 250 (256) - Voerde-Urteil; Berg, Festschrift Menger, 537 (547); Kloepfer, § 2, Rdz. 44; Kopp, VwGO, § 86, Rdz. 5 a.

58 Allgemeine Berechnungsgrundlage für Strahlenexpositionen bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Obernächengewässer (Richtlinie zu§ 45 StriSchV vom 15. August 1979), GMBI. 371. 59 BVerwGE 72, 300 (320 f.); vgl. auch Kloepfer, § 2, Rdz. 44; Lerche, 249 (259 f.); No/te, 278 (290). 60 Schulze.Fielitz JZ 1993, 772 (780) spricht in diesem Zusammenhang von einem "generalisierten Beurteilungsspiel raum"; vgl. dazu auch unten D II 4.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

51

ten, da er sonst diese Rechtsfolge nicht durchsetzen kann (Behauptungsbzw. Darlegungslast). Wird die Behauptung bestritten, muß er hierfür Beweis antreten (Beweisführungspflicht bzw. subjektive Beweislast). Bleiben die bestrittenen Behauptungen in der Beweisaufnahme ungeklärt, so geht dies zum Nachteil desjenigen, dessen Rechtsansicht das Vorhandensein des behaupteten Sachverhalts voraussetzt (objektive Beweislast).61 Diese Verfahrensbegriffe können aber in dieser Weise im Verwaltungsprozell mit der Herrschaft der Untersuchungsmaxime keine entsprechende Geltung beanspruchen. Vielmehr trifft die Beteiligten keine über die bereits erörterten Mitwirkungspflichten hinausgehende Behauptungs- und Beweisführungslast. 62 Auch im Verwaltungsprozell ist aber die Frage zu klären, wie bei Unaufklärbarkeit bestimmter rechtserheblicher Umstände zu entscheiden ist. Daher ist die Frage der objektiven Beweislast in Fällen des non liquet auch im Verwaltungsprozeß relevant. 63 Dabei orientieren sich Rechtsprechung und herrschende Meinung am sogenannten Normbegünstigungsprinzip. Als Grundregel gilt, daß die Nichterweislichkeil einer Tatsache zu Lasten desjenigen geht, der aus ihr ihm günstige Rechtsfolgen herleitet.64 Im neueren Schrifttum wird dagegen verstärkt Kritik an der Anwendung des Normbegünstigungsprinzips geübt.65 Dies wird damit begründet, daß sich im Verwaltungsrecht in vielen Fällen nicht feststellen lasse, welche Rechtsfolge für welchen Beteiligten günstig sei; ein einheitliches Grundprinzip der Beweislastverteilung könne daher nicht anerkannt werden. Vielmehr seien im Wege der Gesetzesauslegung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Ziele bereichsspezifische Beweislastregeln zu entwickeln.66 Da-

61

Vgl. Redekerf v. Oertzen, § 108, Rdz. 10 f.

62

BVetwGE 19, 87 (94); Eyennann/ Fröhler, § 86, Rdz. 5; Redekerf v. Oertzen , § 108, Rdz. 10 f.; Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 1, 543; Ule, S. 274. 63 Redekerf v. Oertzen, § 108, Rdz. 11; Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 89; Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 1, 544. 64 BVetwGE 18, 168 (170 f.); 47, 365 (375); 61, 176 (189); BVetwG NVwZ 1990, 65 (65); VGH Kassel NJW 1984, 73 (74); Kopp, VwGO, § 108, Rdz. 13; Redekerl v. Oenzen, § 108, Rdz. 12; Tschira/ Schmiu Glaeser, Rdz. 544; Schunck/ de Clerck, § 86 VwGO, 1 c) bb); Ule, S. 275 ff. 65 Vgl. Berg, Festschrift Menger, 537 (548 ff.); Nierhaus, S. 407 ff.; Peschau, S. 33 ff. 66 Vgl. Berg, Festschrift Menger, 537 (548 ff.).

52

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

mit würde sich die Beweislastverteilung im konkreten Fall nach den jeweils einschlägigen Rechtssätzen richten.67 Dieser Kritik ist insoweit zuzustimmen, als eine Differenzierung nach Günstigkeitsgesichtspunkten im Verwaltungsrecht, das regelmäßig nicht von auf Gleichordnung beruhenden Interessenlagen geprägt wird, problematisch ist; das von der Behörde zu verfolgende öffentliche Interesse ist häufig sehr komplex und steht auch nicht zwingend im schlichten Gegensatz zum Individualinteresse.68 Dennoch kann die "Günstigkeitsregelung" als brauchbarer Begründungsgesichtspunkt im Sinne einer Faustregel gelten. Voraussetzung hierfür ist aber, daß neben dem Normbegünstigungsprinzip auch andere Gesichtspunkte zugelassen werden und bewußt auf materielle Erwägungen insbesondere verfassungsrechtlicher Art zurückgegriffen wird.69 Die Rechtsprechung läßt aber gerade erkennen, daß sie darauf verzichtet, jeden Rechtssatz unter dem Gesichtspunkt rechtsbegründender und rechtshindernder Merkmale zu betrachten. Vielmehr sind durchaus Ansätze zu einer über das Normbegünstigungsprinzip hinausgehenden Berücksichtigung auch materieller Verteilungsgründe feststellbar, indem die Vereinbarkeit der sich aus der allgemeinen Beweislastregel ergebenden Konsequenzen im Einzelfall mit Verfassungsprinzipien, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip, dem Gebot effektiven Rechtsschutzes und dem Gleichheitssatz geprüft wird?0 Insofern bestehen hinsichtlich der grundsätzlichen Berücksichtigung des Normgünstigkeitsprinzips durch die Gerichte auch im Bereich des Verwaltungsrechts keine Bedenken. Für die Anfechtungsklage bedeutet dies, daß die grundsätzliche Beweislast für die tatbestandliehen Voraussetzunflen für den Erlaß eines belastenden Verwaltungsakts der Behörde obliegt.

67

Tschiraf Schmitt Glaeser, Rdz. 544. Peschau, S. 38 f., unter Hinweis auf die Drittinteressentenk.lagen. fß Peschau, S. 39. 68 Vgl.

70

Vgl. BVerwGE 70, 143 (147 ff.); BVerwG DVBI. 1988,404 (404 f.); NVwZ 1990, 65 (65). BVerwGE 49, 160 (169); BVerwG DVBI. 1983, 997 (1000); VGH Kassel, NJW 1984, 73 (74); Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 5; Kopp, VwGO, § 108, Rdz. 15; Redekerf v. Oertzen, § 108, Rdz. 13; Tschiraf Schmitt G/aeser, Rdz. 544; Ule, S. 276. 71

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

53

Sind diese Voraussetzungen nachgewiesen und macht der Bürger Ausnahmeumstände geltend, die den Eingriff im konkreten Fall dennoch rechtswidrig machen sollen, so trägt er hierfür die Beweislast.72 Bei Ermessensverwaltungsakten muß die beklagte Verwaltungsbehörde die Folgen der Beweislosigkeit tragen, wenn die Tatsachen im Streit sind, auf die sie ihre Ermessensentscheidung gestützt hat. Dagegen trifft den Kläger die Beweislast, wenn er behauptet, daß die Behörde beim Erlaß des Verwaltungsakts von dem ihr eingeräumten Ermessen einen fehlerhaften Gebrauch gemacht habe?3 Auch eine Beweiserleichterung in Form der Rechtsfigur des Beweises des ersten Anscheins (prima-facie-Beweis) ist im Verwaltungsprozeß anwendbar.74 V. Zusammenfassung

Faßt man die Untersuchungen zur gerichtlichen Kontrolle von Tatsachenfeststellungen im deutschen Verwaltungsprozeß zusammen, so lassen sich folgende Aussagen treffen: Der deutsche Verwaltungsprozeß ist geprägt von dem Verfügungs- und dem Untersuchungsgrundsatz. Letzterer hat seine ausdrückliche Normierung in § 86 I VwGO erfahren. Nach diesen Grundsätzen ist es der freien Entscheidung der Betroffenen überlassen, ob und in welchem Umfang sie verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz beanspruchen. Im Rahmen des so festgelegten Klägerbegehrens sind die Verwaltungsgerichte berechtigt und verpflichtet, den einer Verwaltungsentscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt einer umfassenden eigenständigen Überprüfung zu unterziehen. Die richterliche Aufklärungspflicht besteht aber nur in den Grenzen der Zumutbarkeit. Darüber hinaus wird sie auch durch die in § 86 I 1 2. HS VwGO zum Ausdruck kommenden Mitwirkungspflicht der Beteiligten dort einschränkt, wo die entscheidungsrelevanten Umstände dem Gericht nicht 72 Eyermannf Fröhler, § 86, Rdz. 6; Redekerf v. Oertzen, § 108, Rdz. 13; Tschira/ Schmitt Glaeser, Rdz. 544. 73 Eyermann / Fröhler, § 86, Rdz. 7; Ule, S. 277; vgl. auch Kopp, VwGO, § 108, Rdz. 15. 74 BVerwGE 14, 181 (184); BVerwG NVwZ 1985, 191 (191); VGH Kassel NJW 1984, 73 (75); Kopp, VwGO, § 108, Rdz. 18; Redekerf v. Oertzen, § 108, Rdz. 14; Ule, S. 278.

54

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

erkennbar sind, sondern in den persönlichen Erkenntnisbereich eines Beteiligten fallen und dieser seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt. Bei Nichterweislichkeit entscheidungserheblicher Tatsachen stellt sich auch im Verwaltungsprozeß die Frage der objektiven Beweislast Diese ist grundsätzlich nach dem Normbegünstigungsprinzip zu bestimmen. Für die Anfechtungsklage hat dies zur Konsequenz, daß die Behörde grundsätzlich die Beweislast für die tatbestandliehen Voraussetzungen eines belastenden Verwaltungsaktes trägt. Dagegen obliegt dem Kläger die Beweislast für im konkreten Fall vorliegende Ausnahmeumstände sowie für den fehlerhaften Ermessensgebrauch. D. Die Kontrolle der rechtlichen Würdigung von Tatsachen Im folgenden soll untersucht werden, in welchem Umfang eine Befugnis zur richterlichen Kontrolle über die Tatsachenfeststellung hinaus auch hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts durch die Verwaltung besteht. I. Kontrolle im Bereich rechtlich gebundener VeJWaltung

Wie bereits dargelegt, sind die Verwaltungsgerichte zur Kontrolle der Verwaltungstätigkeit auf ihre Rechtmäßigkeit berufen.1 Die bei der Ausübung dieser Verwaltungstätigkeit nach Art. 20 III GG bestehende Gesetzesbindung der Verwattuni kann dabei von unterschiedlicher Intensität sem. Unproblematisch im Bezug auf den Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle ist der Bereich der sogenannten rechtlich gebundenen Verwaltung. Hier herrscht eine strikte Gesetzesbindung in der Weise, daß die Verwaltung bei Vorliegen von bestimmten bzw. im konkreten Fall bestimmbaren Tatbestandsmerkmalen in einer vorgegebenen Weise tätig werden muß. 3

1 Vgl.

oben 2. Teil, B I 2.

Vgl. oben 2. Teil, BI 2. 3 Vgl. Maurer,§ 1, Rdz. 24. 2

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

55

In diesem Bereich findet im Rahmen der Befugnis des Gerichts zur Rechtmäßigkeitskontrolle eine umfassende Überprüfung sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite statt.4 Problematischer sind dagegen die Fälle, in denen der Verwaltung durch Einräumung von Ermessen Handlungsspielräume verbleiben oder die tatbestandliehen Voraussetzungen nur in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen normiert sind. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit diese Lockerung der Gesetzesbindung der Verwaltung auch Einfluß auf den Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle hat. Hierbei ist zu differenzieren zwischen der Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite und der Nachprüfung des Ermessens auf der Rechtsfolgenseite. II. Die gerichtliche Nachprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe

Unbestimmte Rechtsbegriffe sind gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen, denen eine eindeutige Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeil im vorgenannten Sinne fehlt. Beispiele hierfür sind etwa Begriffe wie "öffentliches Interesse,"5 "Gemeinwohl",6 "Zuverlässigkeit",7 "Eignung",8 "öffentliche Sicherheit und Ordnung",9 "wichtiger Grund", 10 der Begriff der "Angemessenheit"11 oder des "besonderen Falles".12 Will die Verwaltungsbehörde diese Begriffe anwenden, so erfordert dies Wertungen häufig prognostischer Art, bei denen zum Teil sehr unterschiedliche Gesichtspunkte berücksichtigt, bewertet und gegeneinander abgewogen werden. Insofern stellt sich ihr ein Erkenntnisproblem; 13 im Regelfall 4

Maurer, § 7, Rdz. 5.

5

Z.B. § 91 AFG.

6 Art.

14 III 1 GG, § 31 II Nr. 1 BauGB.

7

§ 4 I Nr. 1 GaststG, § 35 I GewO.

8

§ 7 I LBG NRW, § 8 I BBG, Art. 33 II GG.

9

§ 8 PoiG NRW, § 14 OBG.

10 § 11

3 NamensänderungsG.

§ 84 I BSHG.

12 §

9 III MutterschutzG.

13 Bu/1,

Rdz. 437; Maurer, § 7, Rdz. 29.

56

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

wird bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes nur eine Entscheidung rechtlich richtig sein. Die Verwaltungsbehörde muß sich zu einer ihr allein rechtmäßig erscheinenden Erkenntnis durchringen.14 Die gerichtliche Kontrolle einer solchen Verwaltungsentscheidung wirft aber über die Anwendung und Subsumtion durch die Exekutive hinaus auch ein Problem der Gewaltenteilung auf. Die Frage, ob und inwieweit die Verwaltungsgerichte befugt sind, eine auf Grund eines unbestimmten Rechtsbegriffes ergangene Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und gegebenenfalls durch eine eigene zu ersetzen, stellt sich als Problem der Funktionenverteilung zwischen vollziehender und rechtsprechender Gewalt dar. 15 Hier wird die Frage aufgeworfen, wem die Letztentscheidunfskompetenz bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zusteht. 1 Diese Frage wird in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. 1. Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes

Im Hinblick auf die verwaltungsgerichtliche Überprüfung sind in der Literatur verschiedene Ansätze entwickelt worden, die eine allgemeine Einschränkung der richterlichen Kontrolle im Bereich unbestimmter Rechtsbegriffe begründen sollen. a) Lehre vom Beurteilungsspielraum Hierbei ist zunächst auf die von Bachof entwickelte Theorie hinzuweisen; dieser hat den Begriff des Beurteilungsspielraumes geprägt. Bachof räumt der Verwaltung wegen der mit der Subsumtion unter unbestimmte Rechtsbegriffe verbundenen Schwierigkeiten einen Bereich eigener, gerichtlich nicht weiter nachprüfbarer Wertung und Entscheidung, d.h. einen Beurteilungsspielraum, ein. Die Verwaltungsgerichte haben die innerhalb dieses Bereichs liegenden Entscheidungen hinzunehmen, können aber 14

..

Maurer,§ 7, Rdz. 29; Ossenbühl DOV 1972,401 (402 f.). § 18, Rdz. 39; Bu/1, Rdz. 437.

15 Achterberg,

16 Achterberg,

§ 18, Rdz. 39; Ossenbühl DÖV 1972,401 (403).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

57

prüfen, ob die Grenzen dieses Bereichs beachtet sind, d.h. ob eine vertretbare Entscheidung getroffen wurdeY b) Vertretbarkeitslehre Eine hieran angenäherte Position vertritt die von Ule entwickelte Vertretbarkeitslehre. Danach ist dann, wenn in Grenzfällen bei Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes mehrere Lösungen vertretbar sind, die von der Verwaltung getroffene Entscheidung als rechtmäßig anzusehen, wenn sie sich im Rahmen des Vertretbaren hält. 18 c) Einschätzungsprärogative In dieselbe Richtung geht die von H. J. Wolff entwickelte Auffassung. Danach soll der Verwaltung dann eine Einschätzungsprärogative zukommen, wenn das Gericht die Gründe für die behördlichen Maßnahmen trotz Sachverständiger und anderer Beweismittel nicht nachvollziehen kann. Dies soll insbesondere bei Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen der Fall sein. 19 d) Gleichsetzung mit Ermessen Eine weitere Auffassung geht von der Annahme aus, zwischen Beurteilungsermächtigung und Ermessen bestehe kein Unterschied; die Fälle der unbestimmten Rechtsbegriffe seien in das Ermessen einbezogen. Daher bestehe ein Tatbestandsermessen, das zur Anwendung der §§ 40 VwVfG und 114 VwGO auf die unbestimmten Rechtsbegriffe führe.2°

17 Bachof JZ 1955, 97 (98 ff.); JZ 1972, 208 (208 f.); Diskussionsbeitrag, in: Götz/ Klein/ Starck, 131 (179 f.); Martens, in: Erichsen/ Martens, S. 187 f. 18 Ule, Gedächtnisschrift W. Jellinek, 309 (326); ders., VeiWArch 76 (1985), 1 (16 ff.) sowie VeiWaltungsprozeßrecht, S. 10. 19 Kopp BayVBI1983, 673 (679); Wolf!/ Bachofl, § 31 I c 4. 20 Kopp, VwGO, § 114, Rdz. 23; Kopp, VwVfG, § 40, Rdz. 30; Meyer, in: Meyer/ Borgs, § 40, Rdz. 13, 17 ff.; Obermayer, § 40, Rdz. 11 ff., 39; Schmidt NJW 1975, 1753 {1754 f.); Scholz VVDStRL 34 (1976), 145 (166 f.).

58

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

e) Ausweitung des Beurteilungsspielraumes auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe Während die bisher genannten Auffassungen einen Beurteilungsspielraum der Verwaltung auf die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe im konkreten Fall beschränken, wird eine solcher in der Literatur zum Teil darüber hinausgehend auch auf die Auslegung dieser Begriffe ausgedehnt.21 2. Grundsätzlich umfassende Überprüfbarkeil

Die Auffassung von einer nur beschränkten Überprüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen stößt in der Literatur aber auch auf Ablehnung. Es wird vorgebracht, daß diese als Rechtsbegriffe grundsätzlich einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung unterliegen müßten. 22 Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat in ihren frühen Entscheidungen Tendenzen zu einer nur beschränkten Überprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe erkennen lassen. 23 In der Folgezeit hat dann aber das BVerwG klargestellt, daß auch die unbestimmten Rechtsbegriffe grundsätzlich der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen. 24 Auch das BVerfG hat bereits zu einem frühen Zeitpunkt in einem obiter dieturn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Ansicht geäußert, daß unbestimmte Rechtsbegriffe im gesetzlichen Tatbestand Ermächtigungen zu Ermessensentscheidungen enthalten.25 Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerwG schien sich in einem Urteil vom 16.12.1971 zur Frage der Eignung zur Jugendgefährdung gemäߧ 1 I GJS 26 anzudeuten; hier verneinte der I. Senat des BVerwG eine

21 fesch AöR 82 (1975), 163 (221 ff.); Koch, Unbestimmte Rechtsbegrifre, S. 44 ff.; vgl. auch Martens, in: Erichsen/ Martens, 7. Aun., S. 192 f.; Send/er, Festschrift Ule, 337 (339 ff.). 22 Achterberg, Rdz. 43 ff.; Bult, Rdz. 452; Erichsen DVBI. 1985, 22 (26); Gram/ich, in: Stober, § 6, S. 103 f.; Maurer,§ 7, Rdz. 56; Papier, Festschrift Ule, 235 (240 ff.); Ronellenfitsch DÖV 1984, 781 (786); Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 336 ff.; Schmalz/ Hofmann, S. 137; Wolff, S. 146 f., 150. 23 Vgl. BVerwGE 4, 89 (92); 5, 153 (162 f.).

BVerwGE 15, 207 (208); 23, 194 (200 f.); 24, 60 (63 f.); 26, 65 (74 ff.); 31, 149 (152). BVerfGE 11, 168 (191 f.); vgl. auch Starck, in: Bullinger, 15 (25). 26 BVerwGE 39, 197 ff. 24

25

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

59

Letztentscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte und bejahte das Vorliegen eines BeurteilungsspielraumesP Diese Entscheidung blieb jedoch die Ausnahme; in der Folgezeit hielten nicht nur die übrigen Senate des BVerwG, sondern auch der I. Senat selbst an der bisherigen Rechtsprechung fest. 28 Insofern kann von einem Tendenzwechsel nicht die Rede sein; vielmehr stellt das genannte Urteil einen Ausnahmefall dar. 29 Die Rechtsprechung geht daher ebenfalls von einer grundsätzlich umfassenden Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe aus. 3. Stellungnahme

Eine Stellungnahme inbesondere zu den Ansichten, die der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum gewähren, muß bei der Frage ansetzen, inwieweit eine solche Auffassung mit dem durch Art. 19 IV GG gewährleisteten effektiven Rechtsschutz vereinbar ist. Wie bereits dargelegt, verlangt diese Garantie eine umfassende gerichtliche Kontrolle sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht; zwar ist die Gewährung von Entscheidungsfreiräumen der Verwaltung grundsätzlich zulässig; diese müssen jedoch die Ausnahme bleiben. Die regelmäßige Letztentscheidungskompetenz hat im Interesse einer hinreichenden Kontrolldichte bei den Gerichten zu verbleiben.30 Diese sind zur Kontrolle des Verwaltungshandeins auf seine Gesetzmäßigkeit im Sinne des Art. 20 III GG berufen; mit der ihnen insoweit im Rahmen der Gewaltenteilung übertragenen Pflicht zur Rechtskontrolle ist aber jedenfalls die Einräumung von Beurteilungsspielräumen bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht zu vereinbaren. Die Auslegung von Rechtsnormen, auch von unbestimmten Rechtsbegriffen, ist eine originäre Befugnis der Gerichte; dagegen beschränkt sich die Funktion der Verwaltung auf die Anwendung der entsprechenden Normen?1 V

BVerwGE 39, 197 (203 f.) im Gegensatz zu DVerwGE 23, 112 (114); 194 (200 f.).

28

Vgl. BVerwGE 40, 353 (356 ff.); 45, 162 (164 ff.); 55, 250 (253 f.); 56, 71 (75); 81, 12 (17).

29 Vgl. Bull, Rdz. 457; Bullinger, in: Bullinger, 131 (140 f.); von Fürstenwerth, S. 19; Maurer, § 7, Rdz. 35 m.w.N. zur Rechtsprechung des BVerwG. 30 31

Vgl. oben 2. Teil, B II 3. Vgl. Papier, Festschrift Ule, 235 (242).

60

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

Zwar ist der Gegenansicht zuzugestehen, daß eine Differenzierung zwischen Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Einzelfall zu Schwierigkeiten führen kann.32 Die Befugnis einer "letztinstanzlichen Zuständigkeit" der jeweiligen Verwaltungsbehörde für die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe würde aber zu einer nicht hinzunehmenden Gefährdung der Rechtssicherheit führen und entspräche nicht der durch Art. 19 IV GG vorgegebene Kompetenzverteilung. 33 Auch das BVerfG erteilt Bestrebungen zur Gewährung von Beurteilungsspielräumen bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe eine Absage, indem es seine Ausführungen zur Einräumung von Entscheidungsspielräumen ausdrücklich nur auf die Anwendung bezieht und Entscheidungsfreiräume nur im Bezug auf die "rechtsanwendende Behörde" für denkbar hält.34 Im übrigen stellt sich die Abgrenzung von Auslegung und Anwendung nur dann als Problem dar, wenn die "Kontrollfreiheit" der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe mit der durch Art. 19 IV GG vorgegebenen hinreichenden Kontrolldichte vereinbar ist. Dies muß aber bezweifelt werden. Das BVerfG hat betont, daß Entscheidungsspielräume der Verwaltung nur dort zulässig sind, wo eine entsprechende normative Ermächtigung besteht.35 Hierfür muß zumindest der Wille des Gesetzgebers erkennbar sein, der Verwaltung einen entsprechenden Spielraum zu gewähren.36 Allein die Tatsache des Vorliegens eines unbestimmten Rechtsbegriffes läßt aber einen solchen Willen noch nicht erkennen. Vielmehr definiert der Gesetzgeber das Handeln der Verwaltung in der Rerel deshalb vage, weil er ohne unbestimmte Rechtsbegriffe nicht auskommt.3 Im Interesse einer hinreichenden Kontrolldichte muß das Gericht daher auch in diesem Bereich grundsätzlich zur Überprüfung der Einhaltung der Gesetzesbindung befugt sem.

162 (222); Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe, S. 61 ff., 85 ff. (242); Wolf!, S. 150. 34 Vgl. BVerfG DVBI. 1991,801 (803). 32 Vgl.

fesch AöR 82 (1957),

33

Vgl. Papier, Festschrift Ule, 235

35

Vgl. oben 2. Teil, B II 3.

36 Erichsen, 37

Wolf!, S.

DVBI. 1985, 22 (26). 146; vgl. auch Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 337.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

61

Das BVerfG hat in diesem Zusammenhang betont, daß in Fällen, in denen die angefochtene Verwaltungsentscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruhe, deren Konkretisierung grundsätzlich Sache der Gerichte sei, die die Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden uneingeschränkt nachzuprüfen hätten; die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens seien auf Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht anwendbar.38 Ein Interesse an gerichtlicher Letztentscheidung ist in diesem Bereich sogar besonders dringlich, vor allem wenn die Einschränkung von Grundrechten thematisch ist.39 Daher kann eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle nur ausnahmsweise dort gegeben sein, wo ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erkennbar ist. Aus diesen Gründen ist die Einräumung von Beurteilungsspielräumen im Rahmen von unbestimmten Rechtsbegriffen im Hinblick auf die Vorgaben des Art. 19 IV GG grundsätzlich zu verneinen. Eine beschränkte Überprüfbarkeil kommt nur in Fällen in Betracht, in denen ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erkennbar ist; auch hier muß aber stets der Ausnahmecharakter entsprechender Ermächtigungen berücksichtigt werden. Insofern ist der Vorgehensweise des BVerwG zuzustimmen, das nur in eng begrenzten Ausnahmefällen einen nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum der Verwaltung annimmt. Diese Ausnahmefälle sollen im folgenden dargelegt werden.

4. Fälle bestehender Beurteilungsspielräume Die Rechtsprechung hat eine Reihe von Fallgruppen entwikkelt, in denen sie das Bestehen eines Beurteilungsspielraumes bejaht hat.40 a) Bewertung von Prüfungsleistungen und prüfungsähnliche Entscheidungen Einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum räumen die Gerichte bei der Bewertung von Prüfungsleistungen 38 BVerfG DVBI. 1991, 801 (803) unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, 129 (154), 64, 261 (279); vgl. auch Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 338. 39 Vgl. BVerfGE 49, 168 (181 f.); BVerwGE 45, 309 (324); Maurer,§ 7, Rdz. 59. 40 Vgl. im Überblick BVerwG NVwZ 1990, 268 (269).

62

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

(Abitur, Staatsexamen etc.) ein.41 Entsprechendes gilt für prüfungsähnliche Entscheidungen im Schulbereich (z.B. Noten- und Versetzungsentscheidungen).42 Der Beurteilungsspielraum umfaßt die Bewertung der Prüfungsleistung an sich sowie die unmittelbar prüfungsbezo~enen Entscheidungen wie Auswahl und Formulierung der Prüfungsfragen. 3 Das BVerfG hat aber klargestellt, daß im Hinblick auf Art. 19 IV GG ein prüfungsrechtlicher Bewertungsspielraum sich nicht auf alle fachlichen Fragen erstrecke, die den Gegenstand der Prüfung bilden; er sei vielmehr beschränkt auf prüfungsspezifische Wertungen.44 Die einschlägigen Ermächtigungsnormen enthalten zwar keine ausdrücklichen Aussagen zur Einräumung von Bewertungsspielräumen; allerdings gehört die Zuerkennung von Spielräumen in diesem Bereich so eindeutig zur eingespielten Praxis, daß eine entsprechende ausdrückliche Erklärung nicht erforderlich ist. Dennoch ist die entsprechende Ermächtigung nicht allein in faktischen Umständen wie z.B. der Einmaligkeit der Prüfungssituation zu sehen. Vielmehr ist die gesetzliche Ermächtigung in der Weise zu interpretieren, daß sich der Gesetzgeber der mit Prüfungen üblicherweise sachnotwendig verbundenen eingeschränkten rechtlichen Bindung der Bewertung bewußt war und somit der Wille zur Übertragung der Letztentscheidungskompetenz bezüglich dieser Bewertungen auf die Prüfer Bestandteil der normativen Ermächtigung ist.45 Auch das BVerfG läßt erkennen, daß Grund für die Einräumung eines Bewertungsspielraumes nicht die fehlende besondere Sachkunde des Gerichts sei; diese Schwierigkeit lasse sich mit Hilfe von Sachverständigen überwinden.46 Entscheidend sei vielmehr, daß die Prüfer bei ihrem wertenden Urteil von Einschätzungen und Erfahrungen ausgehen müßten, die sie im Laufe ihrer Praxis entwickelt haben und allgemein anwenden. Die Prüfungsnoten seien daher in einem durch die persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Prüfer beeinflußten Bezugssystem zu finden. Die einer 41 BVerwGE 45, 39 (48 f.); 57, 130 (136 f.); 70, 143 (145 f.); BVetwG DÖV 1980, 380 (380); DVBI. 1983, 591 (591); weitere Nachweise bei Maurer, § 7, Rdz. 37; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 193. 42

BVeiWGE 8, 272 (273 f.); 65, 303 (311). Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192. 44 BVerfG DVBI. 1991, 801 (803). 45 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192 unter Hinweis auf BVeiWG DVBI. 1981, 583 (584); vgl. auch Pietzcker JZ 1991, 1084 (1084). 46 BVerfG DVBI. 1991, 801 (803). 43

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

63

Prüfungsentscheidung zugrunde liegenden komplexen Erwägungen seien andererseits nicht regelhaft zu erfassen; das Gericht wäre daher im Verwaltungsprozeß gezwungen, im Hinblick auf den einzelnen Kandidaten eigene Bewertungskriterien zu entwickeln und an die Stelle derjenigen der Prüfer zu setzen. Dies beeinträchtige aber den im Prüfungsrecht herrschenden Grundsatz der Chancengleichheit.47 Damit begründet das BVerfG die Einräumung eines Beurteilungsspielraumes nicht mit faktischen Notwendigkeiten, sondern unter Bezugnahme auf rechtliche Erwägungen, die den einschlägigen Normen des Prüfungsrechts als allgemeine Grundsätze inhärent sind. Insofern ist auch ein entsprechender Wille des Gesetzgebers zur Übertragung der Letztentscheidungskompetenz auf die Prüfer zu bejahen. Daher bestehen gegen die Einräumung eines entsprechenden Spielraumes keine Bedenken. b) Beamtenrechtliche Beurteilungen Die Rechtsprechung erkennt Beurteilungsspielräume weiterhin auch an bei der Beurteilung von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung im Beamtenrecht.48 Von diesem Spielraum soll auch die zur Eignung gerechnete Verfassungstreue umfaßt sein.49 Zur Begründung wird neben den schon für Prüfungsentscheidungen geltenden Gründen angeführt, daß es sich hier um unvertretbare persönlichkeitsbezogene Akte wertender Erkenntnis handele.50 Die hierbei zu treffende Entscheidung beruht auf einem Vorstellun~sgespräch bzw. auf der Bewertung eines längeren Beobachtungszeitraums. 1 Ein solches personenbezogenes Leistungsurteil ist aber gerichtlich nur eingeschränkt nachvollziehbar. Im Bezug auf Eignungsbeurteilungen ist zudem der diesen innewohnende prognostische Charakter zu berücksichtigen. Hierzu hat das BVerwG fest47

BVerfG DVBI. 1991, 801 (804).

48

BVerwGE 60, 245 (246); 68, 109 (110); 80, 224 (225 f.); BVerwG NVwZ 1985,587 (588).

49

BVerwGE 61, 176 (185 f.); BVerwG ZBR 1976, 312 (312).

BVerwGE 68, 109 (110); Schweickhardt, Rdz. 274. Schmalz/ Hofmann, S. 137; vgl. auch BVerwGE 68, 109 (110); BVerwG NJW 1983, 1922 (1923); NVwZ 1985, 587 (588). 50

51

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

64

gestellt, daß solche auf die Persönlichkeit des Bewerbers bezogenen Eignungsprognose eine Beurteilungsermächtigung des Dienstherrn immanent sei. Das Gericht dürfe die Eignung nicht aufgrund eines eigenen prognostischen Werturteils über die Persönlichkeit des Bewerbers abweichend vom Dienstherrn selbst festlegen. 52 Daher kann auch hier von einem gesetzgeberischen Willen zur administrativen Letztentscheidungsermächtigung ausgegangen werden. c) Entscheidungen unabhängiger pluralistischer Gremien Das BVerwG erkennt einen Beurteilungsspielraum auch bei Entscheidungen wertender Art an, die durch weisungsfreie, mit Sachverständigen und/oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse getroffen werden.53 Dies wird damit begründet, daß es die Eigenart dieser Entscheidungen sei, daß sie gerade auf dem Zusammenwirken von Repräsentanten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und ihrer jeweils spezifischen Auffassungen beruhe. Dies schließe aber eine volle richterliche Kontrolle aus.54 Eine Begründung eines Beurteilungsspielraumes allein aus der pluralistischen Zusammensetzung der Entscheidungsorgane ist aber unter Rechtsschutzgesichtspunkten zumindest dann problematisch, wenn die Entscheidung nicht in einer Leistungsprüfung im vorgenannten Sinne besteht, sondern die Feststellung der besonderen Qualität eines Produktes zum Gegenstand hat. Hier müssen zumindest weitergehende Indizien auf einen entsprechenden normativen Ermächtigungswillen hindeuten.55 Dies ist aber in den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen regelmäßig der Fall.56 Eine Einschränkung hat die Rechtsprechungspraxis des BVerwG im Bereich der Indizierung jugendgefährdender Schriften durch die neuere Rechtsprechung des BVerfG erfahren.

52 BVerwG NJW 1981, 1386 (1388); ebenso Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 199; Wolf!, S. 148.

53

BVerwGE 12, 20 (28); 59, 213 (215 f.); 62, 330 (337 f.); 72, 195 (199 ff.).

54

BVerwGE 59, 213 (217 f.); 72, 195 (201).

55 Jarass

NVwZ 1987, 95 (100); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 196 f.

Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 196 f.; vgl. auch Maurer,§ 7, Rdz. 45 f. 56

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

65

Hier hatte das BVerwG in ständiger Rechtsprechung einen Beurteilungsspielraum der zuständigen Bundesprüfstelle hinsichtlich des Begriffs der Eignung zur Jugendgefährdung im Sinne des § 1 I GJS,57 aber auch hinsichtlich der Kunsteigenschaft eines Werkes im Sinne des § 1 II Nr. 2 GJS bejaht.58 Es stellte weiterhin klar, daß eine Indizierung dann ausgeschlossen sei, wenn eine jugendgefährdende Schrift auch diesem Kunstbegriff entspreche.59 Dagegen ließ das BVerwG offen, ob sich der Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle auch auf die Feststellung der besonderen Merkmale schwer jugendgefährdender Schriften gemäß § 6 GJS beziehe.60 Jedenfalls gelte hier kein der Vorschrift des§ 1 II Nr. 2 GJS entsprechender Kunstvorbehalt Vielmehr sei hier dem Jugendschutz stets eine verfassungsrechtlicher Vorrang vor der Kunstfreiheit einzuräumen.61 Diese Rechtsprechung des BVerwG hat das BVerfG dahingehend korrigiert, daß auch im Bereich des § 6 GJS die vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit sowie die ihrer Ausübung widerstreitenden Belange des Kinder- und Jugendschutzes im Einzelfall zur Konkordanz gebracht werden müssen. Auch hier komme keinem der beiden Rechtsgüter von vornherein ein Vorrang gegenüber dem anderen zu; vielmehr sei eine umfassende Abwägung dieser sich widerstreitenden Belange vorzunehmen. Diese aus Art. 5 111 1 GG abzuleitende Prüfung binde nicht nur die Bundesprüfstelle, sondern auch die Gerichte. Eine Nachprüfung der dafür maßgebenden Wirkungen sei möglich und geboten.62 Das BVerfG führt weiterhin aus: "Die Gerichte dürfen den Umfang ihrer Prüfung, ob die Indizierung mit der Kunstfreiheit vereinbar ist, nicht dadurch schmälern, daß sie der Bundesprüfstelle insoweit einen nur eingeschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumen. Dies wäre mit dem unmittelbar aus Art. 5 III 1 GG folgenden Gebot nicht zu vereinbaren, die widerstreitenden Güter von Verfassungsrang zur Konkordanz zu bringen."

57 BVeiWGE 39, 197 (203); 77, 15 (78); BVeiWG NJW 1987, 1434 (1435); NJW 1987, 1435 (1436); NJW 1988, 1864 (1864); anders noch BVeiWGE 23, 112 (114). 58

BVeiWGE 39, 197 (209); 77, 75 (84 f.).

39

BVeiWGE 39, 197 (209); 77, 75 (84).

60

BVeiWGE 77, 75 (84); BVeiWG NJW 1987, 1435 (1436).

61

BVeiWGE 77, 75 (83 f.); vgl. auch BVeiWG NJW 1987, 1435 (1436).

62

BVerfG NJW 1991, 1471 (1473 f.).

S Rausch

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

66

Es stellt aber weiterhin klar, daß hiermit nicht gesagt sei, daß der Bundesprüfstelle überhaupt kein Beurteilungsspielraum verbleiben könne. BVerwG und OVG hätten vielmehr in ihrer Entscheidung weder hinsichtlich der Jugendgefährdung noch bezüglich der Kunsteigenschaft auf einen Beurteilungsspielraum abgestellt. 63 d) Verwaltungspolitische Faktoren Das BVerwG hat Beurteilungsspielräume auch hinsichtlich verwaltungspolitischer Faktoren bejaht, die für die inhaltliche Bestimmung eines unbestimmten Rechtsbegriffes von Bedeutung sind.64 Beispiele für eine solche Prägung unbestimmter Rechtsbegriffe durch verwaltungspolitische Erwägungen hat das BVerwG z.B. im Bezug auf den Begriff der "öffentlichen Belange" des § 111 I 2 Nr. 5 BBG65 sowie den Begriff des "dienstlichen Bedürfnisses" des § 28 LBG NW für die Versetzung von Schulräten und Schulleitern66 angenommen. e) Prognostische Einschätzungen und Risikobewertungen im Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsrechts Das BVerwG hat weiterhin insbesondere auf dem Gebiet des Umweltund Wirtschaftsrechts eine nur eingeschränkte richterliche Kontrolle bei Entscheidungen angenommen, bei denen die Verwaltung prognostische Einschätzun~en und Risikobewertungen mit politischem Einschlag vorzunehmen hat. 7 So hat das Gericht einen Beurteilungsspielraum bei der Risikoermittlung und -bewertung des § 7 II Nr. 3 AtomG auch im Hinblick auf die hierbei vorzunehmenden prognostischen Wertungen bejaht. Es hat die zur Konkretisierung dieser Vorschrift erlassenen technischen Regelwerke als "normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften" einge-

63

BVerfG NJW 1991, 1471 (1474).

64

BVerwGE 26, 65 (77); 39, 291 (299); Maurer,§ 7, Rdz. 42; Wolf!, S. 149.

65

BVerwGE 39, 291 (299).

66

BVerwGE 26, 65 (77).

67 Vgl.

BVerwG NVwZ 1990, 268 (269); Maurer,§ 7, Rdz. 41.

0. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

67

stuft.68 Diese seien von den Verwaltungsgerichten nur daraufhin zu überprüfen, ob sie auf willkürfreier Ermittlungen beruhten und die Genehmigungsbehörden in Anwendung dieser Vorschriften davon ausgehen dürften, daß sie zu hinreichend konservativen Abschätzungen führe. 69 Damit räumt das BVerwG der Exekutive eine spezifische, der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogene Wertungs- und Entscheidungskompetenz ein.70 Zur Begründung verweist das Gericht auf die unbestimmte, stark konkretisierungsbedürftige Normstruktur des § 7 II Nr. 3 AtomG, der vom BVerfG als verfassungsgemäß angesehen worden ist.71 Diese Vorschrift übertrage die Verantwortung für Risikoermittlung und -bewertung der Exekutive; sie habe hierbei die Wissenschaft zu Rate zu ziehen. Insofern könne es nicht Sache der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle sein, die der Exekutive zugewiesene Wertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risikoabschätzung durch eine eigene Bewertung zu ersetzen.72 Damit hat das BVerwG letztlich den eingeräumten Beurteilungsspielraum mit der Komflexität der Fragestellungen und der größeren Sachkompetenz begründet? Zwar hat das BVerwG in der Wyh/-Entscheidung auf die Besonderheit des Regelungsgegenstandes des § 7 II Nr. 3 AtomG hingewiesen; in einer späteren Entscheidung hat es aber einen entsprechenden Spielraum der Verwaltung auch bei§ 7 II Nr. 5 AtomG anerkannt. 74 Im übrigen treffen die gemachten Aussagen nicht allein für die atomrechtliche Anlagengenehmigung zu; soweit es um komplexe Risikoabschätzungen geh~ sind sie vielmehr auch auf andere Bereiche des Umweltrechtes anwendbar. 5 68

Vgl. oben 2. Teil, C III 3.

~ BVeiWGE 72,300 (321); vgl. auch BVeiWGE 78, 177 (180 f.).

°Kloepfer, § 5, Rdz. 41; Lerche, 249 (260).

7

71

BVerfGE 49, 89 (138).

72

BVeiWGE 72, 300 (316 f.) unter Bezugnahme auf das Sasbach-Urteil des BVerfG, BVerfGE 61, 82 (114 f.). 73

Vgl. Redekerf v.Oertzen, § 114, Rdz. 23.

74

BVeiWGE 81, 185 (190 ff.)

75

Vgl. K/oepfer, § 5, Rdz. 42.

68

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

So hat das BVerwG beispielsweise im Hinblick auf die auf Grundlage des

§ 48 BlmSchG erlassene Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft

(TA Luft)76 eine entsprechende Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung angedeutet.77 Zugleich hat es jedoch klargestellt, daß sich aus dem Erlaß als Verwaltungsvorschrift noch keine Aussage über den Umfang der gerichtlichen Kontrolle herleiten lasse. Eindeutig sei aber, daß die Einhaltung der gesetzlichen Wertungen und die Frage der Überholung der festgelegten Werte durch Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik der gerichtlichen Kontrolle unterliege. 78

Eine deutlichere Aussage findet sich im Buschhaus-Beschluß des OVG Lüneburg.79 Dieses erkennt einen von den Gerichten zu respektierenden Beurteilungsbereich der Exekutive hinsichtlich von Bewertungen und Feststellungen zur Erforderlichkeit von Maßnahmen zum Schutz und zur Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen an, der mit Erlaß der TA Luft realisiert worden ist.80 Auch das BVerfG hat zu erkennen gegeben, daß es Kontrollreduzierungen der genannten Art unter bestimmten Voraussetzungen als verfassungskonform ansieht. So hat es bereits im Ka/kar-Beschluß 81 ausdrücklich offen gelassen, wo im Hinblick auf Art. 19 IV GG die Grenzen richterlicher Nachprüfungspflicht bei der Bewertung technischer Normen und Standards für die Einschätzung künftiger Schadensmöglichkeiten zu ziehen seien, und ob sich die Gerichte nicht etwa auf die Prüfung beschränken dürften, ob bei Kenntnislücken und Unsicherheiten im Bereich der naturwissenschaftlichen und technischen Feststellungen die Grenzen der sich daraus ergebenden "Bandbreite" eingehalten worden seien.82 76 Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (fechnische Anleitung zur Reinhaltung der Luft- TA Luft) vom 27.02.1986, GMBI., S. 95, ber. 202; hier handelt es sich um eine Nonnkonkretisierung des Begriffs der "schädlichen Umwelteinwirkungen• im Sinne des§ 5 BlmSchG. 77 BVerwG DVBI. 1988, 539 (539 f.). 78 BVerwG DVBI. 1988,539 (539). 79 OVG Lüneburg NVwZ 1985, 357 f. 80 OVG Lüneburg NVwZ 1985, 357 (357); vgl. auch OVG NW DVBI. 1988, 152; NWVBI. 1990, 274; vgl. zu weiteren denkbaren Ausweitungen insbesondere im Bereich planenscher und prognostischer Entscheidungen Kloep[er, § 5, Rdz. 44 f.; Lerche, 249 (257 ff.). 81 BVerfGE 49, 89 ff. 82 BVerfGE 49, 89 (136); vgl. auch allgemein zur Einräumung von Beurteilungsspielräumen im Bereich sogenannter "Risikoentscheidungen" Ossenbühl DVBI. 1993, 753 (758); ders., in Festschrift Redeker, 55 (60).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

69

In der Sasbach-Entscheidung stellt es dann klar, daß die Genehmigungsbehörde im Rahmen normativer Vorgaben und willkürfreier Ermittlungen auch Bewertungen, z.B. am Maßstab des Standes von Wissenschaft und Technik, der Erforderlichkeil der Vorsorge gegen Schäden (§ 7 II Nr. 3 AtomG) oder des Schutzes gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen zu treffen habe. Die Gerichte, so das BVerfG, hätten solche Feststellungen und Bewertungen nur auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, nicht aber ihre eigene Bewertung an deren Stelle zu setzen.83 Es stellt weiterhin klar, daß unbeschadet normativ eröffneter Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume eine grundsätzliche Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche Feststellungen seitens anderer Gewalten ausgeschlossen sei.84 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß in der Rechtsprechung des BVerwG eine Tendenz erkennbar ist, bei wissenschaftlich- technischen Fragekomplexen den hierzu erlassenen technischen Verwaltungsvorschriften ein Maß an Verbindlichkeit einzuräumen, das zu einer Einschränkung des Grundsatzes der vollen gerichtlichen Überprüfung führt. Das Gericht hat in diesen Fällen nur zu prüfen, ob die normkonkretisiserende Verwaltungsvorschrift auf willkürfreien Ermittlungen beruht und zu hinreichend konservativen Abschätzungen führt. Hieraus kann jedoch nicht auf eine generelle Einschränkung der richterlichen Kontrollbefugnisse angesichts wissenschaftlich-technischer Fragekomplexe allein aufgrund der insoweit höheren Fachkompetenz der Verwaltung geschlossen werden. Die Einräumung eines Entscheidungsspielraumes im Bereich wissenschaftlich-technischer Fragekomplexe ist vielmehr nur dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie als Ausnahme von dem durch Art. 19 IV GG postulierten allgemeinen Grundsatz der umfassenden gerichtlichen Kontrolle ausgestaltet bleibt und somit nur dort Anwendung findet, wo angesichts der Komplexität des Regelungsgegenstandes von einer gerichtlichen Entscheidung nicht die gleiche Sachqualität erwartet werden kann wie von der Verwaltungsentscheidung, an deren Stelle sie treten soll.85 Weitere Voraussetzung ist, daß die Eröffnung des Spielraumes auf normativer Grundlage erfolgt. 10

84 85

BVerfGE 61, 82 (115). BVerfGE 61, 82 (111); vgl. auch bereits oben 2. Teil, B II 2. So auch Herzog NJW 1992, 2601 (2604); vgl. auch BVerfG NVwZ 1993, 666 (670).

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

70

Insofern dürfte sich ihr Anwendungsbereich im wesentlichen auf die hier dargestellten Fälle normkonkretisierender technischer Regelwerke beschränken. Weitere von der Rechtsprechung bejahte Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Bereich prognostischer Entscheidungen bestehen hinsichtlich der Frage der Bedrohung der Funktionsfähigkeit des örtlichen Taxengewerbes nach§ 13 IV PBefG,86 der Beeinträchtigung der öffentlichen Verkehrsinteressen nach § 13 II Nr. 3 PBefG87 sowie bei der Krankenhausbedarfsplanung nach§ 8 I 4, 5 KHG.88 Das BVerwG hat aber auch hier einen allgemeinen Grundsatz, demzufolge Verwaltungsprognosen als solche gerichtlich nur begrenzt überprüfbar wären, stets abgelehnt.89 Eine allgemeine Beschränkung der richterlichen Kontrolle bestehe hier nur in der Weise, daß die Gerichte in ihrer richterlichen Nachprüfung grundsätzlich auf die ex-ante - Sicht abzustellen hätten.90 In der Literatur wird abweichend von dieser Auffassung des BVerwG eine grundsätzliche Beschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle im Bereich von Prognoseentscheidungen befürwortet.91 Dies wird mit der Verantwortung der Verwaltung für die zu treffende Prognoseentscheidung92 bzw. dem Wesen der Prognose93 begründet oder als Konsequenz aus der Anwendung der Ermessenslehre auf der Tatbestandsseite gezogen.94 Dem ist aber entgegenzuhalten, daß angesichts des weiten Anwendungsbereiches prognostischer Entscheidungen eine grundsätzliche Einschränkung der richterlichen Kontrolle mit der verfassungsrechtlich vorgegebenen Pflicht zur grundsätzlich umfassenden gerichtlichen Kontrolle nicht zu vereinbaren ist.95 Im übrigen kann allein aus dem Prognosecharakter ebenso86 ffl

BVerwGE 64, 238 (242); 79, 208 (213). BVerwG DVBI. 1990,44 (46).

88 BVerwGE 72, 38 (54). ~JJ Vgl. die Gegenbeispiele in BVeJWGE 81, 12 (17); BVeJWG DÖV 1984,557 (559); DÖV 1991, 379 (380); vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 198. 90 BVerwG DÖV 1984,557 (559). 91 Badura, Festschrift Bachof, 169 (179); Ossenbüh/ DVBI. 1974, 309 (313); Schmidl NJW 1975, 1753 (1756); Scholz WDStRL 34 (1976), 145 (184). 92 Ossenbüh/ DVBI. 1974, 309 (313). 93 Badura, Festschrift Bachof, 169 (179). 94 Schmidt NJW 1975, 1753 (1754 fL); Scholz WDStRL 34 (1976), 145 (166 ff., 184). 95 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 198.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

71

wenig wie aus dem unbestimmten Rechtsbegriff auf eine Letztverantwortung der Verwaltung und eine entsprechende Begrenzung der gerichtlichen Kontrollkompetenz geschlossen werden.96 Daher ist das allgemeine Bestehen von Beurteilungsspielräumen angesichts von Prognoseentscheidungen der Verwaltung abzulehnen.

5. Kontrollumfangangesichts bestehender Beurteilungsspielräume Im folgenden soll geprüft werden, in welchem Umfang die Gerichte in den Bereichen zur Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen befugt sind, in denen dieser nach den obigen Ausführungen eine Befugnis zur Letztentscheidung im Sinne eines Beurteilungsspielraumes zugestanden wird. Die Rechtsprechung hat die in diesem Fall anzuwendenden Kontrollmaßstäbe in ständiger Rechtsprechung ausgestaltet; demnach erstreckt sich die gerichtliche Kontrolle darauf, ob -die Verwaltung anzuwendendes Recht verkannt hat, d.h. den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen kann, unzutreffend ausgelegt hat. 97 -die Verwaltung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist;98 bei der Feststellung von Tatsachen bestehen keine Beurteilungsspielräume.99 -die Verwaltung die bei der abstrakten Auslegung sich ergebenden Grenzen und Wertmaßstäbe beachtet hat. 100 Beispiele hierfür aus dem Prüfungs-

96 Breuer, Der Staat 16 (1977), 21 (48); Jarass NVwZ 1987, 95 (99); Schenke, in: BK, Art. 19 IV (Zweitbearb.), Rdz. 338; Schmalz/ Hofmann, S. 137; Teltinger DVBI. 1982,421 (425 f.). 97 BVerwGE 39, 197 (204); 68, 330 (336); Gram/ich, in: Stober, § 6, S. 110; Kopp, VwVfG, § 40, Rdz. 39; Schmalz/ Hofmann , S. 139; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192; Wolff, S. 151. 98 BVerwGE 62, 330 (340); 68, 330 (336 f.); 70, 143 (146); 77, 75 (78); Kopp VwVfG, § 40, Rdz. 39; Schmalz/ Hofmann, S. 139; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192; Wolf!, S. 151. 99 BVerwG DÖV 1984, 557 (559); Schmalz/ Hofmann, S. 139; vgl. zur Einschränkung bei der Rezeption technischer Regelwerke oben 2. T eil, C 111 3. 100 BVerwGE 39, 197 (204); BVerwG NJW 1986, 796 (799); Kopp, VwVfG, Rdz. 39; Schmalz/ Hofmann, S. 139; Stelkensj Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 40, Rdz. 122.

72

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

recht sind die Einhaltung allgemein anerkannter Bewertungsmaßstäbe101 sowie des sich aus Art. 3 GG ergebenden Grundsatzes der Chancengleichheit bei Prüfungsentscheidungen.102 Auch die Nichtberücksichtigung entscheidungsrelevanter Gesichtspunkte wird überprüft. 103 -die Verwaltung die Verfahrensvorschriften eingehalten hat. 104 -die Verwaltung sich nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder sonst willkürlich gehandelt hat. 105 Untersucht man diese von der Rechtsprechung entwickelten Kontrollparameter, so ist zunächst festzustellen, daß die gerichtliche Überprüfung zwar in ähnlicher Weise wie bei der durch§§ 40 VwVfG, 114 VwGO vorgegebenen Kontrolle von Ermessensentscheidungen erfolgt, aber ohne systematische Anlehnung an diese Vorschriften entwickelt worden ist und auch strengere Anforderungen stellt.106 Analysiert man die inhaltliche Tragweite der Kontrolle, so ist weiterhin erkennbar, daß ein Teil der oben genannten Kriterien der bereits festgestellten Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeilskontrolle und zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung Rechnung trägt, indem das Handeln der Verwaltung auf die Verkennung des Rechts und die richtige Sachverhaltsfeststellung überprüft wird. Die Kontrolle der eigentlichen Tatsachenwürdigung erfolgt dagegen nur im Hinblick auf zwei Aspekte.

101 BVetwGE 73, 376 (378); OVG NW, E 21, 288 (293); Acluerberg, § 18, Rdz. 50; Bull, S. 155; Maurer, § 7, Rdz. 43; Schmalz/ Hofmann, S. 138; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192. 102 BVerfG DVBI. 1991, 801 (803 f.); BVetwG DVBI. 1981, 1149 (1149); Schmalz/ Hofmann, S. 138; Wolff, S. 151. 103 BVetwGE 62, 330 (334 f.), Nichtberücksichtigung von Vergleichssorten; Kopp, VwVfG, § 40, Rdz. 39. 104 BVetwG DVBI. 1981, 1149 (1149); Schmidt-Aßmann , in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192; Wolff, S. 151. 105 BVetwGE 72, 38 (54); 72, 300 (321); 81, 185 (192 f.); Maurer, § 7, Rdz. 43; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192; Wolf!, S. 151. 106 Schmalz/ Hofmann , S. 138; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 192; vgl. auch BVerfG DVBI. 1991, 801 (804); Müller-lbold, S. 216.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

73

In materieller Hinsicht wird sie einer Willkürkontrolle unterworfen.107 Zum Teil präzisiert das BVerwG den Begriff der Willkür in der Weise, daß es für bestimmte Teilbereiche klarstellt, unter welchen Voraussetzungen die Verletzung allgemeiner Wertmaßstäbe anzunehmen ist bzw. aus welchen Merkmalen auf sachfremde Erwägungen geschlossen werden kann. So hat das BVerwG etwa im Bereich des Prüfungsrechts ausgeführt, es existiere kein allgemeiner Bewertungsgrundsatz, der es verböte, Richtiges als falsch und vertretbare Ansichten als unvertretbar zu bewerten.108 Nur wenn eine Beurteilung auf einer derart eklatanten und außerhalb jedes vernünftigen Rahmens liegenden Fehleinschätzung wissenschaftlich-fachlicher Gesichtspunkte beruht, daß sich ihr Ergebnis dem Richter als gänzlich unhaltbar aufdrängen muß, soll die Willkürgrenze überschritten sein. 109 Diese vom BVerwG entwickelten Kriterien sind aber vom BVerfG relativiert worden. Dieses hat klargestellt, daß im Hinblick auf Art. 19 IV GG eine beschränkte Willkürkontrolle im Sinne des BVerwG jedenfalls dann nicht ausreichend sei, wenn die Prüfung als Berufszugangsschranke diene. Diesen Zweck dürfe sie nach Art. 12 I GG nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit verfolgen. Daher dürften zutreffende Antworten und brauchbare Lösungen im Prinzip nicht als falsch bewertet werden und zum Nichtbestehen der Prüfung führen. Soweit die Richtigkeit oder Angemessenheil von Lösungen wegen der Eigenart der Prüfungsfrage nicht eindeutig bestimmbar seien, gebühre dem Prüfer zwar ein Bewertungsspielraum; dem Prüfling müsse aber ein entsprechender angemessener Antwortspielraum zugestanden werden; eine vertretbare und folgerichtig begründete Lösung dürfe nicht als falsch gewertet werden. Weiterhin sei auch eine Einschränkung der Überprüfung von fachlichen Fragen in Ermangelung eigenen Sachverstandes hier unzulässig_l1° Das BVerwG hat in der Folge seine Rechtsprechung zur Kontrolle von Prüfungsentscheidungen im Sinne der Aussagen des BVerwG korrigiert. 111

107 Vgl. dazu BVerfG DVBI. 1991, 801 (804); BVeiWGE 72, 300 (321); 77, 75 (78); 81, 185 (192); BVeiWG DÖV 1980, 380 (380).

108

BVeiWG DÖV 1980, 380 (380); DVBI. 1983,591 (591); Buchholz 421.0 Nr. 121.

109 BVeiWG DÖV 1980, 380 (380); Buchholz 421.0 Nr. 121; vgl. auch

5.138. 110

Schmalz/ Hofmann ,

BVerfG DVBI. 1991, 801 (804 f.); Maurer,§ 7, Rdz. 43.

BVeiWG DÖV 1992, 480 (480 f.) ; NVwZ 1993, 686 (687); vgl. auch BVeiWG NVwZ 1993, 681 (683 ff.); NVwZ 1993, 689 (689 f.). lll

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

74

Soweit das BVerwG der Verwaltung Beurteilungsspielräume im Bereich von Prognoseentscheidungen einräumt, präzisiert es den Willkürbegriff häufig in der Weise, daß die Entscheidung der Verwaltung nicht "erkennbar fehlerhaft" sein darf112 bzw. daß es sich nicht um eine offensichtlich fehlerhafte Einschätzung des Verlaufs, d.h. um eine offensichtlich fehlerhafte Prognose handeln dürfe.113 In anderen Fällen beschränkt es sich auf die Floskeln der willkürfrei zustande gekommenen Bewertung bzw. des FehJens sachfremder Erwägungen. 114 Im Bereich beamtenrechtlicher Beurteilungen und Entscheidungen pluralistisch zusammengesetzter Gremien sowie bei verwaltungspolitischen Faktoren beschränkt sich das BVerwG refielmäßig auf die Aufzählung der genannten abstrakten Kontrollparameter. 15 Lediglich bei der Indizierung jugendgefährdender Schriften durch die Bundesprüfstelle verdeutlicht das BVerwG, daß die gerichtliche Kontrolle der Beurteilungsspielräume nur daraufhin zu erfolgen habe, ob sich die Behörde in den Grenzen ihres Beurteilungsspielraumes gehalten habe. 116 Dies sei dann zu bejahen, wenn die Entscheidung der Bundesprüfstelle willkürlich, also schlechthin unhaltbar sei. 117 Hiervon sei insbesondere dann auszugehen, wenn eine eklatante Fehleinschätzung vorliegeY8 Die Willkürprüfung müsse sich auch nicht auf Verstöße gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln beschränken.119 Insgesamt ist somit festzustellen, daß sich die gerichtliche Kontrolle der eigentlichen Tatsachenwürdigung in materieller Hinsicht auf eine Willkürprüfung beschränkt. Diese eingeschränkte Überprüfbarkeil wird aber in formell-rechtlicher Hinsicht dadurch in gewisser Weise kompensiert, daß die Gerichte eine umfassende Überprüfung der Einhaltung der Form- und Verfahrensvorschriften vornehmen. 112

BVerwGE 64, 238 (242).

113

BVeiWGE 79, 208 (213).

114

BVeiWGE 72, 38 (54); 72, 300 (321); 81, 185 (192).

Vgl. für beamtenrechtliche Beurteilungen BVeiWGE 80, 224 (225 f.); für Entscheidungen pluralistischer Gremien BVeiWGE 59, 213 (218); 72, 195 (201); für veiWaltungspolitische Faktoren BVerwGE 26, 65 (77). 115

116

BVerwG NJW 1988, 1864 (1864).

117

BVerwGE 77, 75 (78); BVeiWG NJW 1987, 1434 (1434); NJW 1988, 1864 (1864). BVeiWG NJW 1988, 1864 (1864).

118 119

BVeiWG NJW 1988, 1864 (1864).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

75

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Begründungspflicht. Dieser kommt eine maßgebliche Rolle bei der Ermöglichung einer effektiven gerichtlichen Kontrolle zu, indem sie sowohl dem Betroffenen als auch dem Gericht die Basis gibt, anhand derer die Richtigkeit der behördlichen Entscheidung überprüft werden kann. 120 Sie ermöglicht es dem Gericht auch gerade im Bereich von Entscheidungsfreiheiten der Exekutive, festzustellen, von welcher sachlichen Grundlage die Behörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist und aus welchen Erwägungen sie diese getroffen hat.r21 Bereits vor lokrafttreten des VwVfG war ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts anerkannt, daß alle in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifenden Verwaltungsakte einer Begründung bedürfen. 122 Dieser Grundsatz findet seine verfassungsrechtliche Absicherung zumindest im Bezug auf die darin enthaltene Rechtsschutzfunktion im Rechtsstaatsprinzip. 123 Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung hat die Begründungspflicht für Verwaltungsakte in § 39 VwVfG erfahren. Gemäß § 39 I VwVfG müssen schriftliche oder schriftlich bestätigte Verwaltungsakte begründet werden. Hierbei sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Bei Ermessensentscheidungen müssen auch die Gesichtspunkte erkennbar sein, von denen die Behörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Untersucht man diese Regelung, so ist zunächst festzustellen, daß diese eine Begründungspflicht für mündliche Verwaltungsakte nicht vorsieht. Die Bedeutung dieser Ausnahme wird jedoch dadurch relativiert, daß § 37 II 2 VwVfG dem Einzelnen ein subjektives Recht auf schriftliche Bestätigung

120 BVerfGE 69, 1 (49); BVerwG DVDI. 1982, 198 (199); Dechsling DÖV 1985, 714 (715 f.); Lücke, S. 50 ff., 88 ff.; Miiller.fbold, S. 19; Stelkens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs, § 39, Rdz.5. 121 Müller-Ibold, S. 9 ff.; vgl. auch zum Ermessen VGH Kassel NVwZ 1983, 551 (552); Redekerf v. Oertzen, § 114, Rdz. 12; die Ausführungen lassen sich aber ohne weiteres auch auf den Bereich des Beurteilungsspielraums anwenden. 122 BVerfGE 6, 32 (44 f.); BVerwGE 22,215 (217); 38,191 (194 f.); BVerwG NVwZ 1986, 374 (375); Miiller-lbold, S. 134 f. 123 BVerfGE 6, 32 (44); 40, 276 (286); 49, 24 (66 f.); BVerwG BayVBI 1987, 598 (601); Lücke, S. 52 ff., 89 ff.; Schwarze, in: Knack, § 39, Anm. 2.2; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 IV, Rdz. 253; S1elkens, in: Stelkens/ Donk/ Sachs, § 39, Rdz. 2 f.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

76

eines mündlichen Verwaltungsakts einräumt.124 Der so bestätigte Verwaltungsakt ist dann nach § 39 I VwVfG zu begründen.l25 Weiterhin stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit des§ 39 VwVfG auf Entscheidungen der Behörde innerhalb eines ihr durch unbestimmten Rechtsbegriff eingeräumten Beurteilungsspielraums. Zum Teil wird hierzu die Ansicht vertreten, solche Entscheidungen seien von der Begründungspflicht des § 39 VwVfG nicht umfaßt. Dies wird damit begründet, daß § 39 I 3 VwVfG nur von Ermessensentscheidungen spricht. Aufgrund der prinzipiell vorzunehmenden Differenzierung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff könne sich der Begründungszwang aber nur auf echte Ermessensentscheidungen beziehen.126 Dagegen ist jedoch zu sagen, daß die Nachprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich der normalen umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dieser Unterschied zur Ermessenskontrolle macht eine gesonderte Regelung für die Begründung von Verwaltungsakten mit unbestimmten Rechtsbegriffen überflüssig; diese unterfallen vielmehr der allgemeinen Begründungspflicht des§ 39 I 1, 2 VwVfG.127 Soweit der Behörde durch diese unbestimmten Rechtsbegriffe ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, ist überdies auch eine inhaltliche Vergleichbarkeit mit dem Ermessen erkennbar. In beiden Fällen wird die Kontrolldichte der Gerichte eingeschränkt; auch die hierbei verwendeten Kontrollparameter sind zumindest ähnlich. 128 Im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes kommt es daher im Bereich der Beurteilungsermächtigung ebenso wie bei Ermessensentscheidungen auf eine ausreichende Begründung an. 129 Aus diesen Gründen ist auch im Bereich der Beurteilungsermächtigungen von einer Begründungspflicht der Behörde auszugehen. Diese muß erkennen lassen, ob die Behörde den Sachverhalt zutreffend ermittelt hat, von welchen Einschätzungsprärogativen sie ausgegangen ist und welche Beurteilungsmaßstäbe sie angewandt hat.130 124 Kopp, VwVfG, § 37, Rdz. 21; Lücke, S. 135; Meyer, in: Meyer/ Borgs,§ 37, Rdz. 16; Mü/ler-lbold, S. 163. 125 Lücke, S. 135; Müller-lbo/d, S. 162; Ste/kens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs, § 39, Rdz. 7. 126 Busch, in: Knack, § 39 VwVfG, Anm. 6.3.

127 Stelkens,

in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 39, Rdz. 17; vgl. auch BVerwGE 39, 197 (204). oben 2. Teil, D II 5. 129 Müller-lbold, S. 216. 130 Ste/kens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 39, Rdz. 17; vgl. auch Ossenbüh/ DÖV 1972, 401 (405); Schmalz/ Hofmann , S. 139. 128 Vgl.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

77

Hierbei ist eine Abhängigkeit der Begründungspflicht von dem Kontrollumfang festzustellen, die ihrer Funktion als "formellem Kompensationsfaktor" entspricht. Je eingeschränkter die gerichtliche Kontrolle des Beurteilungsspielraumes in materieller Hinsicht erfolgen kann, umso höhere Anforderungen sind an die Ausführlichkeit der Begründung zu stellenP1 Hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle berufsbezogener Prüfungsentscheidungen hat das BVerwG im Anschluß an die neuere Rechtsprechung des BVerfG die Anforderungen an die Begründungspflicht präzisiert. Es hat ausgeführt, das Grundrecht auf freie Berufswahl und das Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes machten es erforderlich, daß die Prüfer die Bewertung schriftlicher Aufsichtsarbeiten schriftlich begründen. Diese Begründung müsse so beschaffen sein, daß das Recht des Prüflings zum Vorbringen von Einwänden ebenso gewährleistet sei wie die effektive gerichtliche Kontrolle der Prüfungsentscheidung unter Beachtung des verbleibenden prüfungsspezifischen Entscheidungsspielraums der Prüfer. Zur Kompensation der unvollkommenen inhaltlichen Kontrolle von Prüfungsentscheidungen sei im übrigen ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren unerläßlich, daß eine Einsichtnahme des Prüflings in die Prüfungsunterlagen ermögliche und eine Auseinandersetzung der Prüfer mit substantiierten Einwänden vorsehe.132 Liegt ein Verfahrensfehler vor, so führt dies grundsätzlich zur Aufhebung der Entscheidung, sofern nicht ausnahmsweise der Fehler nach § 45 VwVfG unbeachtlich ist bzw. nach § 46 VwVfG keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. 133 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Anwendungsbereich des § 46 VwVfG bewußt auf die gebundene Verwaltung beschränkt wurde, bei denen die Entscheidung gesetzlich vorgegeben ist. Dagegen kann bei einer Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften im Bereich einer Beurteilungsermächtigung regelmäßig eine Aufhebung verlangt werden. 134

131 VG Berlin NJW 1973, 1148 (1150); Kellner DÖV 1972, 801 (803); Ste/kens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 39, Rdz. 17. 132 BVeiWG DÖV 1993, 480 (480 ff.); NVwZ 1993, 681 (683 f.); NVwZ 1993, 686 (687); NVwZ 1993,689 (689). 133 Vgl. zum umstrittenen Begriff der "Aiternativlosigkeit" der Entscheidung den bei Stef. kensf Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 46, Rdz. 27 ff. dargestellten Streitstand. 134 Vgl. BVeiWG DVB1.1988, 402 (403); VG Köln, NVwZ 1992, 402 (403); Beuermann, Festschrift Menger, 709 (724 ff.); Kopp, VwVfG, § 46, Rdz. 25; Ste/kensf Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs, § 46, Rdz. 29 f., 33.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

78

Im Bezug auf die Begründungspflicht ist weiterhin anzumerken, daß die Möglichkeit zur nachträglichen Abgabe der Begründung gemäß § 45 VwVfG auch im Bereich des Beurteilungsspielraumes Anwendung findet. 135 6. Ausschluß von Beurteilungsspielräumen bei Grundrechtseingriffen

Wie bereits dargelegt, garantiert Art. 19 IV GG einen effektiven Grundrechtsschutz im Sinne einer wirkungsvollen Durchsetzung des materiellen Rechts. Die Rechtsschutzgarantie trifft aber keine Aussage zu Maß und Dichte der Rechtsbindung der Verwaltung; diese ist vielmehr grundsätzlich durch den Gesetzgeber vorzunehmen. In diesem Zusammenhang hat das BVerfG die Zulässigkeil normativ eröffneter Ermessens- und Beurteilungsspielräume anerkannt, soweit diese als Ausnahme vom Grundsatz der vollen gerichtlichen Kontrolle ausgestaltet bleiben. 136 In der neueren Literatur wird aber unter Berufunf auf neuere Entscheidungen des BVerfG insbesondere zum Prüfungsrecht 37 und zur Indizierung jugendgefährdender Schriften138 eine zunehmende Einschränkun~ der Zulässigkeit normativ eröffneter Beurteilungsspielräume konstatiert. 1 9 Aus den Aussagen des BVerfG wird zum Teil beschränkt auf die genannten Sachgebiete, zum Teil in allgemeiner Weise die Schlußfolgerung gezogen, ein Beurteilungsspielraum der Verwaltung sei dann ausgeschlossen, wenn sich die Verwaltungsentscheidung als Eingriff in Grundrechtspositionen darstelle. 140

Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 46, Rdz. 45. BVerfGE 59, 213 (216 f.); 61,82 (111); vgl. auch oben 2. Teil, B li 3. 137 BVerfG DVBI. 1991, 801 ff.; DVBI. 1991, 805 ff. 138 BVerfG NJW 1991, 1471 ff. 135 Stellcensj 136

139 Vgl. Geis NVwZ 1992, 25 ff.; Würkner NVwZ 1992, 1 ff. und 309 ff.; Redeker NVwZ 1992, 305 ff. verweist zudem noch auf BVerfG NVwZ 1992, 361, mißt diesem Urteil aber nach eigener Aussage nur eine begrenzte Aussagekraft zu, da es hier um die Kontrolle einer Rechtsverordnung und nicht eines Verwaltungsaktes geht (S. 307). 140 Geis NVwZ 1992, 25 (28); Redeker NVwZ 1992, 305 (308); Würkner NVwZ 1992, 309 (311).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

79

Unterzieht man die zur Begründung dieser Ansicht angeführten Urteile141 einer eingehenden Betrachtung, so ist aber festzustellen, daß diese zwar die vom BVerwG in den genannten Bereichen eröffneten Beurteilungsspielräume eingrenzen, ihnen jedoch keine generelle Tendenz zum Ausschluß von entsprechenden Spielräumen in grundrechtsrelevanten Frage entnommen werden kann. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Beeinflussung des gerichtlichen Kontrollumfanges durch Grundrechtspositionen keineswegs so überraschend ist, wie dies von den Autoren teilweise dargestellt wird.142 Der Umfang des nach Art. 19 IV GG zu gewährenden Rechtsschutzes bestimmt sich in erster Linie nach dem durch den Gesetzgeber determinierten Maß der Rechtsbindung der Verwaltung. Dieser legt fest, in welchem Umfang dem Einzelnen subjektive Rechtspositionen eingeräumt werden. Nur innerhalb des so festgelegten Umfanges besteht ein Anspruch auf effektiven Individualrechtsschutz. 143 Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, daß auch diese Entscheidungen des Gesetzgebers von grundrechtliehen Rechtspositionen becinflußt und überlagert werden. Daher werden Art und Umfang der durch die normative Ermächtigung eingeräumten individuellen Rechtspositionen auch maßgeblich durch die Grundrechte mitbestimmt. Dieser grundrechtliche Einfluß kann aber nicht ohne Auswirkungen auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle bleiben. Die nach Art. 19 IV GG geforderte hinreichende Kontrolldichte macht vielmehr die Abhängigkeit des gerichtlichen Kontrollumfangs von der Intensität des zu schützenden subjektiven Rechts deutlich. Das BVerfG hat festgestellt, daß der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz eine Verpflichtung der Gerichte begründe, der normativen Geltung der Grundrechte im jeweiligen Verfahren tatsächliche Wirksamkeit zu verschaffen. 144 Der von Art. 19 IV GG geforderte Rechtsschutz fällt umso stärker ins Gewicht, je schwerer die auferlegte Belastun§. ist und je mehr die Maßnahme der Exekutive Unabänderliches bewirkt.1 5 141 Vgl. zu den wesentlichen Aussagen der Urteile bereits oben 2. Teil, D II 4 a), 2. Teil, D II 4 c). 142 Vgl. Geis NVwZ 1992, 25 (29); Redeker NVwZ 1992, 305 (308); vgl. auch Scherzberg NVwZ 1992, 31 (32 f.).

Vgl hienu bereits oben 2. Teil, B II 3. BVerfGE 49, 252 (257); vgl. auch Leibholz/ Rinck, Art. 145 BVerfGE 37, 150 (153) m.w.N.; Stern, Staatsrecht I, § Stober, § 6, S. 106; Herzog NJW 1992, 2601 (2601 f.). 143

144

19, Rdz. 448. 20 IV 5; vgl. auch

Gram/ich, in:

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

80

Daher sind dann höhere Anforderungen an die normative Gewährung von Beurteilungsermächtigungen zu stellen, wenn es um den Schutz subjektiver Rechte geht, die in besonderem Maße grundrechtsgeschützt sind. Insofern läßt sich bereits aus der bisherigen Rechtsprechungspraxis des BVerfG eine Abhängigkeit des gerichtlichen Kontrollumfanges von der grundrechtsspezifischen "Aufladung" individueller Rechtspositionen erkennen. Nach den bisherigen Aussagen des BVerfG verbleibt aber dem Gesetzgeber auch im grundrechtsrelevanten Bereich die Entscheidungsbefugnis über die Einräumung von Beurteilungsspielräumen. Diese Befugnis findet ihre Begrenzung lediglich in der verfassungsrechtlichen Vorgabe einer hinreichenden Kontrolldichte. Eine Unzulässigkeil von Beurteilungsspielräumen kann hieraus nicht hergeleitet werden. Auch den neueren Urteilen des BVerfG kann eine hierüber hinausgehende Aussage nicht entnommen werden. a) Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Prüfungsrecht Untersucht man die neueren Entscheidungen zum Kontrollumfang im Prüfungsrecht, so ist zunächst festzustellen, daß auch hiernach die prüfungsspezifischen Wertungen weiterhin in den Beurteilungsspielraum des Prüfers fallen. Hierzu gehören insbesondere die Gewichtung der Schwierigkeit einer Aufgabe sowie der positiven und ner,ativen Aspekte der Prüfungsarbeit sowie deren abschließende Bewertung. 46 Der insoweit zugestandene Beurteilungsspielraum wird vom BVerfG in erster Linie mit dem Grundsatz der Chancengleichheit gemäß Art. 3 GG begründet, ist aber letztlich ein Ausdruck des Mangels an rechtlicher Bindung, der Bewertungen von Prüfungsleistungen begriffsnotwendig innewohnt.147 Anderes gilt jedoch im Bereich fachlicher Fragen, die den Gegenstand der Prüfung bilden. Hier weist das BVerfG darauf hin, daß Art. 19 IV GG dann erhöhte Anforderungen an die gerichtliche Kontrolldichte stellt, wenn es um Prüfungen geht, die als Berufszugangsschranke dienen. Die hier gebotene hinreichende Kontrolldichte ist dann nicht gegeben, wenn dem Prü146 Vgl.

Pielzcker JZ 1991, 1084 (1084).

147 Pietzcker

JZ 1991, 1084 (1084); vgl. auch oben 2. Teil, D II 4 a).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

81

fer ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Bewertung zutreffender Antworten und brauchbarer Lösungen als richtig oder falsch eingeräumt wird. Vielmehr dürfen solche Antworten und Lösungen im Prinzip nicht als falsch bewertet werden und zum Nichtbestehen führen. Soweit die Richtigkeit und Angemessenheil der Lösungen nicht eindeutig bestimmbar ist, soll dem Prüfling ein dem Bewertungsspielraum entsprechender Antwortspielraum zustehen. 148 Auch soll mangelnder Sachverstand kein Argument für eine eingeschränkte richterliche Kontrolle sein. 149 Damit hat das BVerfG das Bestehen eines Beurteilungsspielraumes hinsichtlich fachlicher Aspekte weitestgehend für unzulässig erklärt. Die Eröffnung eines Entscheidungsfreiraumes in diesem Bereich erscheint aber auch nicht geboten. Wie bereits dargelegt, fehlen ausdrückliche normative Bestimmungen, die einen Beurteilungsspielraum im Bereich des Prüfungsrechts zugestehen. Ein solcher ergibt sich vielmehr aus der Eigenart von Prüfungen, die auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers schließen läßt, insoweit die Letztentscheidungskompetenz auf die Prüfer zu übertragen.150 Daraus folgt aber, daß ein Beurteilungsspielraum auch nur in dem Umfang gerechtfertigt ist, wie eine solche fehlende rechtliche Bindung mit der Prüfung sachnotwendig verbunden ist. Dies ist aber im Gegensatz zu prüfungsspezifischen Wertungen dort nicht der Fall, wo es um fachliche Fragen geht. Dies zeigt sich besonders deutlich im Hinblick auf multiple-choice Prüfungen, bei denen Wertungselemente in diesem Sinne jedenfalls bei der eigentlichen Benotung keine Rolle spielen. 151 Auch in sonstigen Fällen entspricht es aber dem Sinn der Prüfung, eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch zu werten.152 Für die Einräumung eines Beurteilungsspielraumes besteht hier keine prüfungsbezogene Sachnotwendigkeit; ein entsprechender gesetzgeberischer Wille kann daher ebenfalls nicht unterstellt werden; sie kann daher auch nicht als mit Art. 19 IV GG vereinbar angesehen werden.

148

BVerfG DVBI. 1991, 801 (804).

149

BVerfG DVBJ. 1991, 801 (804 f.). Vgl. oben 2. Teil, D II 4 a). 151 Vgl. Herzog NJW 1992, 2601 (2603); Pietzcker JZ 1991, 1084 (1084). 152 Herzog NJW 1992, 2601 (2603); Pietzcker JZ 1991, 1084 (1085). 150

6 Rausch

82

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

Daher weisen die neueren Urteile des BVerfG zum Prüfungsrecht zu Recht auf die auch nach der bisherigen Dogmatik bestehende Unvereinbarkeit der gerichtlichen Kontrollpraxis mit Art. 19 IV GG hin. Eine darüber hinausgehende Aussage im Sinne einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle bei grundrechtsbezogenen Verwaltungsakten läßt sich hieraus aber nicht entnehmen.153 Dies gilt umso mehr, als das BVerfG ausdrücklich einen Beurteilungsspielraum in Form des Bewertungsspielraums zugesteht. b) Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Indizierung jugendgefährdender Schriften Analysiert man die Aussagen des BVerfG zur richterlichen Kontrolldichte im Bereich von Indizierungsentscheidungen, so ist zunächst festzuhalten, daß dieses die Unzulässigkeit eines Beurteilungsspielraumes der Bundesprüfstelle nur für die Abwägung der widerstreitenden Belange von Jugendschutz und Kunstfreiheit im Rahmen des § 6 GJS erklärt hat.154 Auch das BVerwG hat aber in seiner bisherigen Rechtsprechung immer ausdrücklich offen gelassen, ob der Bundesprüfstelle hinsichtlich des § 6 GJS ein Beurteilungsspielraum zukomme oder nicht.155 Die Besonderheit der neueren Rechtsprechung des BVerfG liegt somit lediglich darin, daß auch im Bereich des § 6 GJS dem Jugendschutz kein grundsätzlicher Vorrang vor der Kunstfreiheit zukommt, sondern beide Interessen stets einer gerichtlich voll überprüfbaren Abwägung unterliegen. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob dies tatsächlich zu einer wesentlich veränderten Kontrolldichte im Bereich der Indizierung jugendgefährdender Schriften führt; diese Frage stellt sich in erster Linie für die bisher von der Rechtsprechung eingeräumten Beurteilungsspielräume im Bezug auf die "Jugendgefährdung" und die "Kunsteigenschaft" einer Schrift. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das BVerfG selbst eine Schlußfolgerung von der uneingeschränkten Abwägungskontrolle auf eine Unzulässigkeit von Beurteilungsspielräumen auch im Bezug auf diese beiden Begriffe ausdrücklich ausschließt.156 153 154

So auch allgemein Schulze-Fielitz JZ 1993, BVerfG NJW 1991, 1471 (1474).

155 Vgl.

156

bereits oben 2. Teil, D II 4 c). BVerfG NJW 1991, 1471 (1474).

m

(776).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

83

Zwar ist zuzugeben, daß eine umfassende Kontrolle der Gesamtabwägung der kollidierenden Rechtsgüter auch deren jeweiligen Stellenwert berücksichtigen muß und somit nicht ohne Auswirkungen auf die begriffliche Bestimmung sein kann. 157 Zumindest die Frage, ob eine jugendgefährdende Schrift vorliegt und ob dieser Schrift Kunsteigenschaften zuzusprechen sind, wird aber von einer solchen Abwägungskontrolle nicht erfaßt. Ein hierüber hinausgehender Beurteilungsspielraum steht der Prüfstelle aber auch nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG nicht zu. Vielmehr erstreckt sich die allein unter § 1 GJS anerkannte Entscheidungsfreiheit ebenfalls nur auf diese beiden Aspekte; die Abwägung der widerstreitenden Belange ist dagegen nicht Gegenstand eines Beurteilungsspielraumes, sondern ist vom Gesetzgeber im Sinne eines Vorranges der Kunstfreiheit entschieden worden. Daher kann den Aussagen des BVerfG kein Hinweis auf wesentliche Einschränkungen bestehender Beurteilungsspielräume im Bereich der Indizierung jugendgefährdender Schriften entnommen werden; 158 ein vollständiger Ausschluß von Beurteilungsspielräumen ergibt sich hieraus erst recht nicht. 159 Somit ist in den Aussagen des BVerfG auch kein Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG zu sehen, sondern eine Präzisierung insbesondere im Bezug auf den Stellenwert des§ 6 GJS. 160 Aus diesen Gründen kann den Aussagen des BVerfG im Bereich von Indizierungsentscheidungen ebenso wie im Bereich der Prüfungsentscheidungen nicht eine gerichtliche Verpflichtung zu umfassender Kontrolle des Verwaltungshandeins bei grundrechtsrelevanten Verwaltungsakten entnommen werden. 161

157

Insoweit zutreffend Geis NVwZ 1992, 25 (28 f.).

158

So auch VG Köln NVwZ 1992, 402 (403); nicht rechtskräftig, Revision beim BVerwG anhängig. 159 A.A. OVG NW NVwZ 1992, 396 (397), das von eine r vollen Überprüfbarkeil ausgeht; nicht rechtskräftig; Geis NVwZ 1992, 25 (28); Redeker NVwZ 1992, 305 (308); Würkner NVwZ 1992, 1 (7). 160 So auch Gusy JZ 1991,470 (470 f.). 161 Selbst R edeker bezeichnet die als Begründung für seine anderslautende Auffassung herangezogenen Aussagen des BVerfG als "rudimentär" und "unklar" bzw. "dunkel formuliert", vgl. NVwZ 1992, 305 (308, 306); ähnlich Wiirkner NVwZ 1992, 309 (311), der von "orakelhaften Aussagen" spricht.

84

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

Zutreffend ist allerdings, daß die neuere Rechtsprechung des BVerfG eine im Vergleich zur bisherigen Praxis verschärfte gerichtliche Verwaltungskontrolle in den genannten Bereichen zur Folge hat.162 Ein grundsätzlicher Ausschluß von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung bei Grundrechtseingriffen ist aber nach wie vor abzulehnen.

7. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzustellen, daß auch im Bereich unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich eine umfassende verwaltungsgerichtliche Überprüfung stattfindet; das Vorliegen entsprechender Begriffe begründet keine Einräumung von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung mit nur eingeschränkter richterlicher Kontrolle. Beschränkt überprüfbare Beurteilungsspielräume der Verwaltung sind vielmehr nur in Ausnahmefällen zu bejahen; Voraussetzung hierfür ist, daß ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, der Verwaltung eine Letztentscheidungskompetenz zuzugestehen. Beurteilungsspielräume sind daher zu bejahen bei Prüfungsentscheidungen, beamtenrechtlichen Beurteilungen, Wertungen, die das Gesetz sachverständigen oder pluralistisch zusammengesetzten Gremien anvertraut hat sowie bei der Beurteilung verwaltungspolitischer Faktoren. Bei prognostischen Einschätzungen und Risikobewertungen im Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsrechts besteht keine grundsätzliche Einschätzungsprärogative der Verwaltung. Vielmehr muß hier ebenso wie in den sonstigen Fallgruppen der Wille des Gesetzgebers zur Einräumung eines entsprechenden Spielraums erkennbar sein. Die gerichtliche Kontrolle bestehender Beurteilungsspielräume erstreckt sich zunächst darauf, ob die Behörde das anzuwendende Recht richtig ausgelegt hat und von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist. Die Kontrolle der eigentlichen Tatsachenwürdigung erstreckt sich darauf, ob die Verwaltung die Verfahrensvorschriften eingehalten hat, allgemeine 162 So auch ausdrücklich zum Prüfungsrecht Pietzcker JZ 1991, 1084 (1084); kritisch hinsichtlich der damit verbundenen zusätzlichen Belastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit Redeker NVwZ 1992, 305 (306).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

85

Grenzen und Wertmaßstäbe berücksichtigt hat und sich nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder sonst willkürlich gehandelt hat. Insofern beschränkt sich die Nachprüfung auf eine Willkürkontrolle mit verfahrensrechtlicher Betonung. Auch diese Willkürkontrolle unterliegt aber der Bindung des durch Art. 19 IV GG vorgegebenen hinreichend effektiven Rechtsschutzes. Dabei sind auch an den Umfang einer beschränkt gerichtlichen Kontrolle dann höhere Anforderungen zu stellen, wenn das zu schützende Individualrecht einen besonders starken grundrechtliehen Schutz genießt. Eine solche Grundrechtsbezogenheil der Verwaltungsentscheidung führt aber nicht zwangsläufig zu einer Unzulässigkeil der normativen Eröffnung von Beurteilungsspielräumen. 111. Die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungsennessens

Im folgenden soll untersucht werden, in welchem Umfang Ermessenshandlungen der Verwaltung richterlich überprüfbar sind. Dazu ist zunächst der Begriff des Ermessens zu klären. Ermessen liegt dann vor, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung bei Vorliegen eines gesetzlichen Tatbestands einen Spielraum zu eigener und eigenverantwortlicher Wahl und Entscheidung verleiht. Innerhalb dieses Spielraums können mehrere unterschiedliche Handlungsalternativen in gleicher Weise rechtmäßig sein. 163 Je nach dem Inhalt der gesetzlichen Ermächtigung ist zu unterscheiden zwischen Entschließungs- und Auswahlermessen. Das Entschließungsermessen bezieht sich darauf, ob eine gesetzlich vorgesehene, aber nicht vorgeschriebene Rechtsfolge gesetzt werden soll, d.h. ob die Behörde überhaupt tätig werden soll. Beim Auswahlermessen geht es darum, welche von verschiedenen möglichen Maßnahmen getroffen werden bzw. gegen welchen Adressaten sie getroffen werden soll. 164 Das Ermessen wird durch den Gesetzgeber eingeräumt und muß sich daher im Einzelfall aus den jeweils einschlägigen Rechtsnormen ergeben. Dies 163 BVerwG NJW 1990, 787 (788); Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 14; Maurer, § 7, Rdz. 7. 164 Erichsen,

in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 14; Maurer,§ 7, Rdz. 7.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

86

erfolgt nur selten durch den ausdrücklichen Hinweis auf das Ermessen; 165 regelmäßig ist die Ermessensermächtigung erkennbar an Begriffen wie "kann", "darf", "ist befugt" etc.166 Die Ermessensausübung ist weder Handeln nach Belieben noch gar nach Willkür; sie ist vielmehr rechtlich gebunden. 167 Diese Bindung bringt § 40 VwVfG zum Ausdruck, indem er klarstellt, daß die Behörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens einzuhalten hat. Wenn die Behörde sich nicht an diese rechtlichen Bindungen hält, handelt sie ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. 168 Das verwaltungsprozessuale Pendant hierzu findet sich in § 114 VwGO; danach prüft das Gericht bei Ermessensentscheidungen der Behörde auch, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Demnach lassen sich folgende gerichtlich überprüfbare Ermessensfehler169 feststellen: 1. Ennessensüberschreitung (§ 1141. Alt. VwGO)

Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Behörde eine nicht mehr im Rahmen der Ermessensvorschrift liegende Rechtsfolge wählt. Dies ist der Fall, wenn sie den ihr verfassungsgemäß zugewiesenen Kornpelenzbereich verlassen oder den ihr gesetzlich vorgegebenen Rahmen des Ermessens überschritten hat.170 165 So

aber z.B. § 3 I PoiG.

§ 8 I RustaG; § 12 II BBG; vgl. auch Erichsen, in: Erichsen/ Manens, § 10, Rdz. 13; Maurer, § 7, Rdz. 9. 167 Erichsen, in: Erichsen/ Manens, § 10, Rdz. 16; Maurer, § 7, Rdz. 17; Wolf!/ Bachof I, § 31 II c 3 ß. 168 Maurer,§ 7, Rdz. 17. UN Im folgenden wird der "klassischen" Einteilung der Ermessensfehler gefolgt; vgl. hinsichtlich einer weitaus stärkeren DifferenzierungA/ety JZ 1986, 701 ff. mit Hinweisen zu weiteren Differenzierungsansätzen; sachlich besteht jedoch weitestgehende Übereinstimmung mit dem hier vertretenen Ansatz. 170 BVerwGE 30, 313 (318); VG Hamburg, NVwZ 1987, 829 (832); Achlerberg, § 18, Rdz. 58; Erichsen, in: Erichsen/ Manens, § 10, Rdz. 18; Maurer, § 7, Rdz. 20; Schmalz/ Hofmann, S. 133; Wolf!, S. 158; Wolf!/ Bachof I, § 31 II d 1 A. 166 Vgl.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

87

2. EmJessensnichtgebrauciJ/ -unterschreitung

Ein Ermessensnichtgebrauch liegt dann vor, wenn die Behörde von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch macht oder die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens zu eng zieht. 171 3. EmJessensfehlgebrauch/ -mißbrauch(§ 114 2. Alt. VwGO)

Die Verwaltung ist verpflichtet, sich bei ihren Entscheidungen, insbesondere auch im Ermessensbereich nur von sachlichen und zweckgerechten Erwägungen leiten zu lassen. 172 Diese Verpflichtung bezieht sich auf die innere Seite der Ermessensbetätigung, d.h. auf die Einstellung und Motive der Behörde bei Erlaß der Entscheidung; 173 sie findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage im auf Art. 3 GG beruhenden Willkürverbot. 174 Eine Verletzung dieser Pflicht und damit ein Ermessensfehlgebrauch liegt dann vor, wenn die Behörde das ihr zustehende Ermessen nicht dem Zweck der Ermächtigungsnorm entsprechend ausgeübt hat.175 Hierunter fallen zum einen die Fälle, in denen die Behörde von sachEremden Erwägungen ausgeht. 176 Die Beurteilung der Sachgemäßheil beurteilt sich hierbei nach dem Normzweck der jeweiligen Rechtsvorschrift bzw. des jeweiligen Rechtsgebietes.177 Dabei genügt die objektive Unvereinbarkeit der Maßnahme mit dem Gesetzeszweck für die Feststellung eines Ermessensfehlgebrauchs. 178 Weiterhin zählen hierzu Verstöße gegen das sogenannte Koppelungsverbot; hiernach darf die Ermessensbetätigung nicht von Erwägungen abhängig 171 BVetwGE 15, 196 (199); 37, 112 (115 f.); 68, 267 (274); BVetwG NVwZ 1986, 553 (553); VGH Kassel NVwZ 1984, 262 (262); Maurer, § 7, Rdz. 21; Schmalz/ Hofmann, S. 135; Schweickhardt, Rdz. 259; Wolf!/ Bachofl, § 31 II d 1 ß. 172 En'chsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 19. 173 Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.4.1; Wolf!/ Bachofl, § 31 II d 2. 174 Busch, in: Knack, § 40, Rdz. 9.4.1; vgl. auch BVerfGE 18, 353 (363); Leibholzj Rinck, Art. 3, Anm. 2 f. 175 BVerwGE 52, 33 (35 ff.); OVG Koblenz NVwZ 1984, 597 (597); VGH München NVwZ 1985, 207 (207 f.); Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 19; Maurer, § 7, Rdz. 22; Wolff, S.160. 176 Schmalz/ Hofmann , S. 134; Wolf!, S. 160. 177 Maurer, § 7, Rdz. 22; Wolf!, S. 160. 178 Clever, S. 101.

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

88

gemacht werden, die sich nicht im Rahmen der Zwecksetzung des betreffenden Verwaltungshandeins halten und in keinem sachlichen Zusammenhang zu diesem stehen.179 Ermessensmißbräuchlich ist weiterhin die Berücksichtigung persönlicher Motive wie Freundschaft, parteipolitische Verbundenheit, Antipathie etc.180 Die Fehlerhaftigkeit entsprechender Motivationen ist in der Regel nicht ohne weiteres aus der getroffenen Maßnahme selbst ersichtlich, sondern läßt sich erst aus der Begründung des Verwaltungsakts oder aus den Begleitumständen (Akten, Äußerungen der Beteiligten) erkennen.181 Insofern dient die in § 39 VwVfG normierte Pflicht zur Begründung der Ermessensentscheidung der Erkennbarkeil des gedanklichen Entscheidungsvorganges der Behörde.182 Ein Ermessensfehlgebrauch ist weiterhin in den Fällen des sogenannten "Heranziehungsdeflzits" gegeben, in denen die Behörde die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte nicht hinreichend in ihre Erwägungen einbezieht.183

4. Verstoß gegen Grundrechte und allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgrundsätze Die Grundrechte und die allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgrundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit sowie der Sozialstaatlichkeit, sind bei der Kontrolle von Ermessensentscheidungen in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Zum einen stellen sie objektive Schranken des Ermessens dar und sind insofern bei der Prüfung einer Ermessensüberschreitung zu berücksichtigen.184

179 BVeiWG DÖV 1988, 265 (266 f.); Busch, in: Knack, § 40, Rdz. 9.4.4.; Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 19; von Fürstenwerth, S. 32; Wolf!, S. 160.

180 Erichsen, 181 Busch,

in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 19; Maurer, § 7, Rdz. 22. in: Knack,§ 40, Rdz. 9.4.1; Schmalz/ Hofmann, S. 234.

182 Schmalz/

Hofmann, S. 134. 7, Rdz. 22; Schmalz/ Hofmann, S. 134; vgl. auch Wolf!, S. 160. 184 BVeiWGE 62, 215 (220); Maurer, § 7, Rdz. 23; Schmalz/ Hofmann, S. 133; vgl. auch Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.5; Stelkensf Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 46, Rdz. 47 ff.; Wolf!, S. 158 f. 183 Maurer,§

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

89

Zum andern sind sie aber auch im Rahmen der Ermessenserwägungen zu beachten und müssen folglich auch bei der Frage des Vorliegens eines Ermessensfehlgebrauchs herangezogen werden. 185 Hierbei hat das Sozialstaatsprinzip bisher eine eher untergeordnete Rolle gespielt.186 Von großer Bedeutung ist dagegen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der verlangt, daß das eingesetzte Mittel zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich ist und eine angemessene Mittel-Zweck - Relation erkennen läßt.187 Auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes beeinflußt die vorzunehmende Ermessensentscheidung.188 Eine besondere Bedeutung kommt auch dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG sowie den besonderen Gleichheitsbestimmungen des Grundgesetzes zu. 189 Insgesamt ist somit festzustellen, daß das Verwaltungsermessen in starkem Maße von den Vorgaben beeinllußt wird, die sich aus den Grundrechten sowie dem sonstigen Verfassungsrecht und den allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätzen ergeben. Hieraus resultiert eine deutliche Verengung des behördlichen Entscheidungsspielraums bis hin zur Möglichkeit, im Einzelfall das Vorlie~en einer Reduzierung des Ermessens auf eine Entscheidung anzunehmen, 90 so in den FäiJen der aus Art. 3 I GG hergeleiteten Selbstbindung der Verwaltung191 und der sogenannten "Ermessensreduzierung auf Null", die sich insbesondere aus der Einwirkung von Grundrechten und sonstigen Verfassungssätzen ergibt. 192 185 Busch, in: Knack, § 40, Rd;:.. 9.1; Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 20; Maurer, § 7, Rdz. 23; Schweickhardt, Rdz. 255 ff.; Wolff, S. 158 f.; Wolf[/ Bachof l, § 31 II d 2; enger Bull, Rdz. 482, der diese Parameter als allgemeine Entscheidungsanforderungen qualifiziert. 186 Vgl. aber BVerwGE 42, 248 (257); 59, 104 (109) sowie Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.5; Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 20. 187 BVeiWGE 75, 58 (61 f.); BVeiWG NJW 1986, 1186 (1187); Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 20. 188 BVerfGE 49, 168 (184); BVeiWG DVBI. 1988, 653 (653); Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 20; Kopp, VwGO, § 114, Rdz. 44.

189 Erichsen, in: Erichsen/ Martens, § 10, Rdz. 20; Schmalz/ Hofmann, S. 135; Stelkens/ Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs, § 46, Rdz. 51; Wolf[/ Bachof l, § 31 II d 2; vgl. hinsichtlich anderer Grundrechte die Beispiele bei Maurer, § 7, Rdz. 23.

Vgl. Bullinger, in: Bullinger, 131 (142). Vgl. BVeiWGE 34, 278 (280 f.); Maurer, § 7, Rdz. 23 sowie § 24, Rdz. 21; Ossenbühl, in: Erichsen/ Martens, § 7, Rdz. 48. 192 Vgl. BVerwGE 11,95 (97); Maurer, § 7, Rdz. 16. 190 191

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

90

5. Verstoß gegen allgemeine Entscheidungsanforderungen

Unter den Begriff des Ermessensfehlers werden regelmäßig auch Verstöße gegen allgemeine Entscheidungsanforderungen gefaßt, die hier ebenso wie bei der gebundenen Verwaltung und bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auftauchen können. 193 Dies ist insofern zutreffend, als auch die Ermessensausübung diesen allgemeinen Anforderungen unterliegt; allerdings handelt es sich hierbei nicht um typische Ermessensfehler.194 Fehler in diesem Sinne sind Tatsachenirrtümer und Verfahrensfehler. a) Tatsachenirrtümer Auch im Bereich der Ermessensentscheidung ist die zutreffende Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlich, weil die Behörde ansonsten nicht zwischen verschiedenen Möglichkeiten in sachgerechter Weise wählen kann. 195 Da es entscheidend auf die vollständige tatsächliche Grundlage für die Auswahlbefugnis ankommt, ist es auch unerheblich, ob die Behörde bei Kenntnis des zutreffenden Sachverhaltes dieselbe Entscheidung hätte treffen können; 196 der Ermittlungsfehler ist nur dann gemäß § 46 VwVfG unerheblich, wenn infolge Ermessensreduzierung dieselbe Entscheidung hätte ergehen müssen. 197 b) Verfahrensfehler Die Pflicht zur Einhaltung von Verfahrensvorschriften beruht ebenfalls auf dem Umstand, daß eine Auswahl zwischen verschiedenen Entscheidungssatternativen nur dann möglich ist, wenn die vorgeschriebenen äußeren Voraussetzungen vorliegen. Daher stellt auch hier eine Nichtbeachtung 193

Vgl. etwa Schmalz/ Hofmann, S. 135; Wolf!, S. 160. So auch Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.1; Wolf!, S. 160. 195 BVcrwGE 70, 143 (146); BVcrwG NVwZ 1985, 187 (188); OVG NW NWVBI. 1988, 79 (82); Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.1.1; Schmalz/ Hofmann, S. 134; Wolf!, S. 160. 196 Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.1.1. 194

197 BVerwGE 62, 108 (116); BVeiWG NVwZ 1988, 525 (526); Busch, in: Knack,§ 40, Rdz. 9.1.1; Stelkens/ Sachs, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 46, Rdz. 32 und Rdz. 15 i.V.m. § 45, Rdz. 74.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

91

der Verfahrensvorschriften ebenso wie bei gebundenen Entscheidungen einen Fehler dar, der zur Aufbebung führt. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn gemäß § 46 VwVfG keine andere Entscheidung in der Sache ergehen konnte" was bei Ermessensvorschriften regelmäßig nicht der Fall sein wird.l9!S

Den Verfahrensvorschriften kommt auch im Bereich des Ermessens eine Kompensationsfunktion im Bezug auf materiell nur eingeschränkt überprüfbare Entscheidungen zu; insofern obliegt ihnen dieselbe Aufgabe wie im Bereich des Beurteilungsspielraumes. Von besonderer Bedeutung ist auch hier die Begründungspflicht; diese findet ihre Regelung in§ 39 I 3 VwVfG, nach dem die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen soll, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Die Begründungspflicht ist von besonderer Relevanz bei der Überprüfung des Vorliegens eines Ermessensfehlgebrauchs, da die Gerichte in diesem Fall die innere Motivation der Behörde bei Erlaß der Entscheidung festzustellen haben. Der der Behörde im Rahmen des Ermessens eingeräumte Entscheidungsspielraum kann unterschiedlich groß sein; dies hat in der Literatur zum Teil zu der Ansicht geführt, bei weitem Ermessen seien auch die Anforderungen an die Begründungspflicht herabzusetzen, da in diesem Fall der Umfang der gerichtlichen Kontrolle gering sei. 199 Diese Auffassung geht insoweit von einem richtigen Ausgangspunkt aus, als sie erkennt, daß der Umfang des der Behörde eingeräumten Ermessensspielraums nicht ohne Konsequenzen für die Anforderungen an die Begründungspflicht sein kann. Sie übersieht aber, daß sowohl die Gerichte als auch die Betroffenen gerade dann auf eine Begründung des Verwaltungsakts angewiesen sind, wenn der Behörde ein weites Ermessen zugebilligt wird. Eine Zurücknahme der durch die Verfahrensvorschriften ausgeübten formellen Kontrolle in diesem Bereich wäre mit dem durch Art. 19 IV GG garantierten effektiven Rechtsschutz nicht zu vereinbaren. Vielmehr gebietet diese verfassungsrechtliche Vorgabe eine umso strengere Anwendung der Verfahrensvorschriften, je 198 Bettermann, in: Festschrift Menger, 709 (724 ff.); Busch, in: Knack, § 40, Rdz. 9.1.2; Stellcensj Sachs, in: Stelkens/ Ba nk/ Sachs,§ 46, Rdz. 30 ff.; 199 Dolzer DÖV 1985, 9 (14 ff.).

92

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

mehr die ~richtliche Kontrolle in materieller Hinsicht Einschränkungen unterliegt. Auch die Rechtsprechung folgt dieser Auffassung. Sie hat dann geringere Anforderungen an die Begründungspflicht gestellt, wenn der Entscheidungsspielraum der Behörde im Bereich des Ermessens bereits Einschränkungen unterlag. Beispiele hierfür sind Fälle, in denen die Behörde bei der Ermessensentscheidung keine Interessenabwä~ung vornehmen mußte201 und Fälle der Ermessensreduzierung auf Null. 2 2 Dagegen bestehen dann erhöhte Anforderungen an die Begründungspflicht, wenn sich die Behörde in ihrer Ermessensbetätigung schon teilweise gebunden hat, nun aber davon abweichen wi11. 203 Daher ist im Bereich der Ermessenskontrolle ebenso wie im Bereich des Beurteilungsspielraums davon auszugehen, daß an die Begründungspflicht gerade dann erhöhte Anforderungen zu stellen sind, wenn der Behörde in materieller Hinsicht besonders weitgehende Entscheidungsfreiräume zugestanden werden. 6. Zusammenfassung

Eine nur eingeschränkte richterliche Kontrolle auf der Rechtsfolgenseite findet dann statt, wenn der Behörde ein Ermessensspielraum hinsichtlich ihres Tätigwerdens in Form eines Entschließungs- oder eines Auswahlermessens durch den Gesetzgeber eingeräumt worden ist. In diesem Fall beschränkt sich die gerichtliche Nachprüfung gemäß § 114 VwGO nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern. Als ermessensspezifische Fehler kommen in Betracht die Ermessensüberschreitung, der Ermessensnichtgebrauch sowie der Ermessensfehlgebrauch. 200

Vgl. auch Mü/ler.Jbold, S. 114 f.; Stelkens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs,§ 39, Rdz. 17. BVerwG Buchholz 406.11, § 35 BBauG, Nr. 168, S. 126 (127 f.). 202 OVG NW NJW 1982, 1661 (1661); Stelkens, in: Stelkens/ ßonk/ Sachs, § 39, Rdz. 30; weitere Beispiele bei Mül/er.Jbold, S. 215. 203 .. BVerwG DOV 1982, 76 (77); Müller-lbold, S. 216. 201

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

93

Die Beachtung der Grundrechte und allgemeinen Verfassungs und Verwaltungsgrundsätze ist zum einen als objektive Ermessensschranke relevant für den Begriff der Ermessensüberschreitung. Zum anderen stellen diese zu berücksichtigende Kriterien im Rahmen des Ermessensfehlgebrauchs dar. Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie der Gleichheitssatz, aber auch der Vertrauensschutz und (in zunehmendem Maße) das Sozialstaatsprinzip. Das Gericht ist weiterhin befugt zur Kontrolle der Einhaltung allgemeiner, nicht spezifisch ermessensbezogener Ermessensanforderungen. Fehler in diesem Sinne sind die unrichtige Sachverhaltsermittlung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften. Eine besondere Bedeutung kommt der in § 39 VwVfG normierten Begründungspflicht zu, die in der Intensität ihrer Anforderungen von dem Maß der richterlichen Kontrollbeschränkung abhängt und insofern eine verfahrensrechtliche Kompensation der eingeschränkten materiellen Überprüfung gewährleistet. Die materielle Kontrolle ist hierbei insbesondere im Bereich der Kontrolle des Ermessensfehlgebrauchs vom Gedanken des in Art. 3 GG zum Ausdruck kommenden Willkürverbotes geprägt. Insofern besteht hier eine Parallele zur Kontrolle angesichts bestebender Beurteilungsspielräume. Auch die verfahrensrechtliche Kontrolle weist deutliche Ähnlichkeiten auf. IV. Die Kontrolle von Tatsachenwürdigungen im deutschen Verwaltungsprozen • Zusammenfassung

Faßt man die Untersuchungen zur Kontrolle der Gerichte im Hinblick auf die von den Behörden vorzunehmende Würdigung des Sachverhaltes und die sieb hieran anschließende Entscheidung zusammen, so sind folgende Punkte festzuhalten: Im Bereich rechtlich gebundener Verwaltung fmdet eine umfassende gerichtliche Nachprüfung sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite statt. Problemfragen entstehen erst da, wo eine Lockerung der Gesetzesbindung der Verwaltung in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite und Ermessensspielräumen auf der Rechtsfolgenseite be-

94

2. Teil: Kontrollumfang im deutschen Recht

steht. Hier stellt sich die Frage nach dem Einfluß dieser Lockerung auf den Umfang der richterlichen Kontrolle. Bezüglich der Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe steht das durch Art. 19 IV GG vorgegebene Gebot einer hinreichenden Kontrolldichte der allgemeinen Einräumung behördlicher Beurteilungsspielräume angesichts vorliegender unbestimmter Rechtsbegriffe entgegen. Ermessensspielräume dieser Art müssen vielmehr die Ausnahme bleiben und erfordern darüber hinaus eine Zuweisung der Letztentscheidungskompetenz an die Verwaltung durch den Gesetzgeber. Insofern ist der durch das BVerwG vorgenommenen Einschränkung von Beurteilungsspielräumen auf die Fallgruppen von Prüfungsentscheidungen, beamtenrechtlichen Beurteilungen, Entscheidungen pluralistischer Gremien, Beurteilungen verwaltungspolitischer Art sowie in beschränktem Umfang bei Prognoseentscheidungen mit politischem Einschlag zuzustimmen. Auch innerhalb dieser Fallgruppen ist aber das Gebot hinreichender Kontrolldichte zu beachten, wie es gerade in neueren Entscheidungen des BVerfG angesichtsgrundrechtsrelevanter Positionen betont worden ist. Die sich hieraus ergebenden Anforderungen binden auch die Entscheidung des Gesetzgebers, verlangen aber auch in Fällen grundrechtsbezogener Verwaltungsakte keine grundsätzlich umfassende gerichtliche Nachprüfungspflicht. Soweit der Verwaltung dagegen Ermessensspielräume eingeräumt werden, ist die gerichtliche Kontrolle stets nach Maßgabe der §§ 40 VwVfG, 114 VwGO eingeschränkt auf das Vorliegen von Ermessensfehlern. Soweit die gerichtliche Kontrolle Einschränkungen auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite unterliegt, ist die verbleibende Nachprüfungsbefugnis in materieller Hinsicht gekennzeichnet von dem Aspekt der Willkürkontrolle, wobei das Maß der hierbei zulässigen Kontrolle auch hier von der Intensität der betroffenen Individualrechtspositionen mitbestimmt wird. Ein weiteres allgemeines Charakteristikum der gerichtlichen Kontrolle ist die Kompensation der eingeschränkten materiellen Kontrolle in formeller Hinsicht durch die Kontrolle von Verfahrensanforderungen. An diese werden umso strengere Maßstäbe angelegt, je eingeschränkter die materielle Nachprüfung ist. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der allgemeinen Begründungspflicht zu, die ein essentielles Moment bei der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 IV GG darstellt.

3. Teil

Der venvaltungsgerichtliche Kontrollumfang im französischen Recht Die der deutschen Anfechtungsklage vergleichbare Klageart zur Aufhebung von Verwaltungsakten im französischen Verwaltungsrecht ist der recours pour exces de pouvoir.1 A. Die historische Entwicklung der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit im allgemeinen und des recours pour exces de pouvoir im besonderen 1. Die historische Entwicklung der französischen Ve.waltungsgerichtsbarkeit

Die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit kann im Vergleich zur deutschen auf eine wesentlich längere Geschichte zurückblicken. Seit dem Ende des Mittelalters und dem Anfang der Renaissance bestand bei königlichen Verordnungen regelmäßig ein Verbot an Gerichtshöfe und Tribunale, sich mit diesen zu befassen? Bereits im 15. Jahrhundert kamen entsprechende Streitigkeiten vor quasi-gerichtliche Verwaltungsorgane. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden sie auf unterer Ebene den königlichen Intendanten (intendants), auf höherer Ebene dem königlichen Rat (Conseil du Roi) zugewiesen.3 Diese Institutionen wurden nach der französischen Revolution abgeschafft.4 Ursache hierfür war neben dem grundsätzlichen Mißtrauen in die Institutionen des Ancien Regime5 vor allem das sehr pointierte Verständnis 1 Vgl.

hierzu bereits oben 1. Teil, C.

Vgl. Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (157 f.); Woehrling NVwZ 1985, 21 (22) sowie die ausführliche Darstellung bei Müller DRiZ 1983, 210 ff. 2

3 Schlette, S. 25;

Woehrling NVwZ 1985, 21 (22). Rechtsschutz, S. 224; Schlette, S. 24 f. 5 Junker, S. 50 f.; Schlette, S. 24. 4 Fromont,

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

96

der Gewaltenteilung im Sinne einer strikten Gewaltentrennung, nach der die Judikative keine Gewalt über die Exekutive besitzen sollte.6 Ausdruck dieses Verständnisses der Gewaltenteilung waren Art. 13 des zweiten Titels des Gesetzes über die Gerichtsorganisation vom 16. - 24. August 1790, Art. 3 der Verfassung von 1791 sowie ein Dekret von 1795, durch das eine gerichtliche Entscheidung in Verwaltungssachen generell für unzulässig erklärt wurde. 7 Durch Art. 52 der Konsulatsverfassung vom 13.12.1799 wurde der Staatsrat als Nachfolger des Conseil du Roi neu errichtet; Nachfolger der Intendanten wurden die Präfekturräte.8 Der Staatsrat war institutionell der Verwaltung zugeordnet. Er hatte zum einen die Funktion eines Beraters und Mitarbeiters der Regierung; zum andem war ihm auch die Entscheidung in Verwaltungsstreitsachen übertragen. Die Gerichtskompetenz war aber dadurch eingeschränkt, daß es sich um eine sogenannte "justice retenue" handelte; der Staatsrat hatte keine eigenständige Entscheidungskompetenz, sondern mußte seine Entscheidungsvorschläge dem Staatsoberhaupt unterbreiten. Dieses entschied dann den Streit in Form eines Dekrets.9 Erst mit Gesetz vom 24.05.1872 wurde diese "justice retenue" zugunsten der "justice del~uee" aufgegeben; der Staatsrat erlangte selbständige Entscheidungsgewalt.1 Seitdem ist die Struktur des Staatsrats im wesentlichen unverändert geblieben. Seine Tätigkeit beruht heute auf mehreren Verordnungen, insbesondere der Ordonnance vom 31.07. 1945 und dem Dekret vom 30.07.1963. Danach bleibt der Staatsrat sowohl Verwaltungsgericht als auch Konsulta6 Auby/ Fromont, S. 189 f.; Jarass DÖV 1981, 813 (813); Müller DRiZ 1983, 210 (212); Schwane, S. 97.

7 Wortlaut des Gesetzes vom 16. - 24. August: "Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeureront toujours separeesdes fonctions administratives; les juges ne pourront a peine de forfaiture troublcr de quelque maniere que ce soit les operants des corps administratifs, ni citer devant eux les administrateurs en raison de leurs fonctions" (zit. nach Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 102); vgl. zum inhaltlich entsprechenden Text von Verfassung und Dekret Schlette, S. 25 f., Fn. 16 f., Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 102. 8 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (158); Fromont, Festschrift Menger, 887 (888); Woehrling NVwZ 1985, 21 (22). 9

Vgl. Schielte, S. 27. Wortlaut des Art. 9: "Le Conseil d'Etat statue souverainement sur les exces de pouvoir contre les actes des diverses autorites administratives", zit. nach Auby/ Fromont, S. 223; vgl. auch Debbasch/ Ricci, Nr. 747, S. 728; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (158); Jarass DÖV 1981,813 (814); Müller DRiZ 1983, 210 (213); Schielte, S. 77, Fn. 30. 10

A. Historische Entwicklung

97

tivorgan der Regierung. Er besitzt neben der "Sektion für Streitsachen" vier "Verwaltungssektionen", die Stellungnahmen zu Gesetzes- und Verordnungsvorhaben äußern und ganz allgemein die Regierung beraten.U Damit ist er nach wie vor organisatorisch in die Verwaltung eingebunden.12 Lange Zeit war der Staatsrat das für fast alle Verwaltungsstreitsachen allein zuständige Gericht. Erst 1953 wurden die Präfekturräte in erstinstanzliche Untergerichte, die "tribunaux administratifs", umgewandelt.B Auch diesen kommt neben ihrer rechtsprechenden Tätigkeit eine beratende Funktion zu, wenn auch in geringerem Umfang. 14 1987 ist es weiterhin zur Schaffung einer zwischen tribunaux administratifs und Conseil d'Etat angesiedelten Instanz, den sogenannten Berufungsgerichtshöfen (cours administratives d'appcl) gekommens' die den Staatsrat in seiner Funktion als Berufungsinstanz entlasten sollen. 1 Insgesamt läßt sich hier, im Gegensatz zur deutschen Situation, eine Entwicklung "von oben nach unten" feststellen. 16 Die jahrzehntelange alleinige Kompetenz des Staatsrats hat es diesem ermöglicht, in maßgeblicher Weise die Entwicklung des französischen Verwaltungsrechts zu beeinflussen und damit gleichzeitig seine Eigenständigkeil zu sichern. Dies hat dazu geführt, daß das französische Verwaltungsrecht in sehr viel stärkerem Maße als das deutsche von Gerichten geschaffenes Recht ist. Diese richterliche Rechtsetzungsbefugnis (pouvoir normativ du juge) wird als anerkannte und besonders wichtige Rechtsquelle des Verwaltungsrechts angesehenY Sie findet sogar einen positiv-rechtlichen Niederschlag in Art. 4 Code Civil, der die Untätigkeit des Richters wegen Schweigens oder Unklarheit des Gesetzes als Rechtsverweigerung ansieht. 18

11 Auby/ Fromont, S. 202; Fromont, Festschrift Menger, 887 (888 f.); Gaudemet, in: Bullinger, 113 (122); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (2); Woehrling NVwZ 1985, 21 (22); vgl. auch Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (158).

12 Fromont

DVBI. 1978,89 (90); Starck, in: Bullinger, 17 (23); Ule, S. 416. Fromont, S. 203 f.; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (158); Fromont, Festschrift Menger, 887 (888); Jarass DÖV 1981, 813 (814); Schlette, S. 32. 13 Auby/

14 Degen,

Die Verwaltung 1981, 157 (158); Woehrling NVwZ 1985, 21 (22).

15 Chapus,

Nr. 60, S. 56 f.; Schlette, S. 33.

16 Schlette,

S. 34; Woehrling NVwZ 1985, 21 (21).

17 Jarass

DÖV 1981, 813 (814); Kessler, Conseil d'Etat, S. 318 f. Diese Vorschrift ist auch im Verwaltungsrecht anwendbar; vgl. Hoffinann, S. 49 f.; Kessler, Conseil d'Etat, S. 320; Schlette, S. 154 f.; Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 482 f. 18

7 Rausch

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

98

Wichtigstes Verdienst des Staatsrates bei der richterlichen Rechtsetzung ist die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze ("principes generaux du droit"), denen im französischen Recht eine fundamentale Bedeutung zukommt.19 Im Gegensatz zur ausgeprägten Entwicklung des Richterrechts finden sich gesetzliche Regelungen in der Regel nur für Teilbereiche bzw. Einzelprobleme oder kodifizieren die bisherige Rechtsprechung.20 Hieraus resultiert die dominierende Rolle des Staatsrats sowohl im Hinblick auf die sonstigen Verwaltungsgerichte als auch auf die Rechtslehre bei Aufbau und Ausprägung des französischen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit als eigenständiger Gerichtsbarkeit.21 Die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit hat allerdings trotz ihres deutlich höheren Alters nicht den Grad an Selbständigkeit von der Verwaltung erreicht, den die deutschen Verwaltungsgerichte aufweisen. Hier sind zum einen die Doppelfunktion als Gericht und Konsultativorgan der Exekutive sowie die organisatorische Einbindung in die Verwaltung zu nennen. Zum anderen sind die französischen Verwaltungsrichter Beamte.22 Die durch Art. 64 IV der französischen Verfassung garantierte Unabsetzbarkeit ("inamovibilite") findet daher auf die Verwaltungsrichter und die Mitglieder des Staatsrats keine Anwendung.23 Allerdings ist die Unabhängigkeit der Verwaltungsrichter gewohnheitsrechtlich in einer Weise abgesichert, die der Garantie der "inamovibilitC" inhaltlich entspricht.24 Dennoch ist die Trennung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltung in Frankreich deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit darf sich in die Tätigkeit der aktiven Verwaltung nicht einmischen; es ist gewohnheitsrechtlich anerkannt, daß Verwaltungsgerichtekeine Aufforderungen oder Befehle an die Verwaltung ge19

Vgl. Schielte, S. 155 ff.; Vedelf Delvo/ve, Band 1, S. 462 ff.

w Fromont DVBI. 1978, 89 (91); Jarass, DOV - 1981, 813 (814); Schwarze, S. 101. 21 Braibant/ Questiaux, S. 285 f.; Fromont DVBI. 1978, 89 (91); Kessler, Conseil d'Etat, S. 314; Schlette, S. 23; Schwarze, S. 101; Woehrling NVwZ 1985, 21 (21). 22 Fromont, Festschrift Menger, 887 (888); Rivero, Nr. 184, S. 232 f.; Schlette, S. 42; Woehrling NVwZ 1985, 21 (22). 23 Mangin, in: Luchairef Conac, S. 1144; Starck, in: Bullinger, 15 (23), Fn. 30. 2A Fromont, Festschrift Menger, 887 (888); Hoffmann , S. 40; Rivero, Nr. 185, S. 33 f.; Schlette, S. 43; Woehrling NVwZ 1985, 21 (22).

A. Historische Entwicklung

99

ben. Dies hat zur Folge, daß eine der deutschen Verpflichtungsklage entsprechende KJageart im französischen Verwaltungsprozeß nicht existiert. Die Verwaltungsgerichte können grundsätzlich nur rechtswidrige Entscheidungen der Verwaltung aufheben und dem Betroffenen eine Geldentschädigung gewähren.25 Insofern ist das Verhältnis Verwaltung - Verwaltungsgerichtsbarkeit einerseits durch eine nicht vollständig verwirklichte institutionelle Selbständigkeit, andererseits durch die strenge Anwendung der Gewaltentrennung gekennzeichnet. II. Die historische Entwicklung des recours pour exces de pouvoir

Anders als die Anfechtungsklage des deutschen Rechts beruht der recours pour exces de pouvoir nicht auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage; er stellt vielmehr eine eigenständige Schöpfung des Staatsrats dar.26 Nach seiner Einrichtung im Jahre 1799 hatte dieser über Anträge auf Aufhebung von Verwaltungsmaßnahmen zu entscheiden und verwendete dabei den Begriff des "exces de pouvoir".27 Hiermit bezeichnete der Staatsrat zunächst besonders schwerwiegende Rechtswidrigkeiten;28 im Laufe der Zeit entwickelte er aber hieraus unter Zugrundelegung der bereits gesetzlich geregelten Aufsichtsbeschwerde (recours administratif hierarchique) einen eigenen Typus der Aufhebungsklage, bei dem er Unzuständigkeit (incompetence), Formfehler (vice de forme) und Ermessensmißbrauch (detournement de pouvoir) als Aufhebungsgründe anerkannte.29 Weiterhin integrierte er eine bis dahin selbständige Klageart, den "recours contre Ia violation de Ia loi et des droits acquis" als vierten Aufhebungsgrund der "violation de Ia loi" in den recours pour exces de pouvoir.30

25 Vgl. Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (164); Jarass DÖV 1981, 813 (815); Schwarze, S. 109; Woehrling NVwZ 1985, 21 (22).

26 Kessler,

Conseil d'Etat, S. 323 f.; Sch/eue, S. 75.

v Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1073, S. 123 f.; Sch/ette, S. 75. 28 Auby/ Drago,

Band 2, Nr. 1073, S. 123. Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1973, S. 124 f.; Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (159); Schlette, S. 75 f. 30 C.E. v. 13.03. 1867, Bizet, Rec., 273 (275 ff.); Sch/ette, S. 76; Vedel/ Delvo!ve, Band 2, s. 235 ff.; 292. 29

100

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Durch Art. 9 des bereits erwähnten Gesetzes vom 24. Mai 1872 schuf der Gesetzgeber eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für den recours pour exces de pouvoir, die im wesentlichen bereits dem heute einschlägigen Art. 92 der Ordonnance vom 31.07.1945 entspricht. B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

Ebenso wie im deutschen Recht muß auch die Analyse der gerichtlichen Verwaltungskontrolle im französischen Recht bei der Frage ansetzen, inwieweit generelle Vorgaben für die gerichtliche Verwaltungskontrolle bestehen und welchen allgemeinen Grenzen diese unterliegt. I. Allgemeine Vorgaben

1. Verfassungsrechtliche Vorgaben

Untersucht man die französische Verfassung vom 04.10.1958 im Hinblick auf allgemeine Vorgaben für die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns, so ist festzustellen, daß diese keine Regelungen enthält, die eine Gesetzesbindung der Verwaltung im Sinne des Art. 20 111 GG vorgeben oder gar eine Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 IV GG enthalten. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die französische Verfassung ohnehin überwiegend Fragen des Staatsorganisationsrechts regelt und zudem der Verfassung nach französischem Rechtsverständnis nicht ein dem deutschen Grundgesetz entsprechender Stellenwert beigemessen wird. 1 Auch die durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) vorgenommene Ergänzung des Verfassungsrechts durch die Anerkennung von "principes fondamentaux reconnus par les lois de Ia Republique"2 hat bisher nicht zu einer verfassungsrechtlichen Vorgabe in dieser Hinsicht geführt. Dieser hat lediglich das Bestehen eines ungeschriebenen Verfassungsprinzips anerkannt, das das Bestehen einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit verfassungsmäßig vorbehaltenen Kompetenzen gewährlei-

1 Schlette,

S. 101 f.

2 Vgl. dazu

de Laubadere, Nr. 866, S. 524; Schleue, S. 103 f.

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

101

stet.3 Er stellt damit den Verfassungsrang der Kompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit fest für "die Aufhebung oder die Abänderung von Entscheidungen, die in der Ausübung öffentlich-rechtlicher Befugnisse durch die Behörden, ihre Beamten, Körperschaften des öffentlichen Rechts oder öffentliche Einrichtungen unter ihrer Autorität oder Kontrolle in Ausübung der vollziehenden Gewalt getroffen werden".4 Zu erwähnen ist weiterhin, daß die französische Verfassung keinen umfassenden Katalog der Grundrechte (libertes publiques) enthält. Die wichtigsten grundrechtliehen Gewährleistungen finden sich in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sowie in der Präambel der Verfassung von 1946. Die heute geltende Verfassung von 1958 bezieht sich lediglich in ihrer Präambel auf diese Gewährleistungen.5 Dieses Defizit hatte die Entwicklung zahlreicher grundrechtlicher Gewährleistungen in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen6 durch den Staatsrat zur Folge, die im wesentlichen den geschriebenen Grundrechten der genannten Quellen entsprechen.7 Erst im Jahre 1971 hat der Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) klargestellt, daß der Erklärung von 1789 und den Präambeln von 1946 und 1958 volle Verfassungskraft zukommt;8 damit hat er auch den Verfassungsrang der entsprechenden grundrechtliehen Gewährleistungen eindeutig festgestellt. Dennoch kommt den allgemeinen Rechtsgrundsätzen aufgrund dieser Entwicklung im französischen Verwaltungsrecht eine ungleich höhere Bedeutung zu als den geschriebenen Grundrechtsgewährleistungen, die aber in der Regel diesen allgemeinen Prinzipien entsprechen.9 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze übernehmen im französischen Verwaltungsrecht die 3 C.C. v. 22.07.1980, Validation d'actes administratifs, Rec., 46 (47); v. 23.01.1987, Conseil de Ia concu"ence, Rec., 8 (11), Cons. 15; v. 28.07.1989, Loi relative aux condilions de sejour et d'entree des etrangers en France, J.O. V. 01.08. 1989, 9679 (9681); de Laubadere, Nr. 433 f., S. 251; Sch/eue, S. 26. 4 C.C. v. 23.01.1987, Conseil de Ia concu"ence, Rec., 8 (11), Cons. 15; v. 28.07.1989, Loi relative aux conditions de sejour et d'entree des etrangers en France, J.O. v. 01.08. 1989, 9679 (9681). 5 Vgl. Everling NVwZ 1987, 1 (3).

6

Vgl. bereits oben 3. Teil, AI.

7 Sch/eue,

S. 103.

8

C.C. v. 16.07.1971, Liberte d 'association, Rec., 29; vgl. auch Sch/eue, S. 103.

9

Vgl. Sch/eue, S. 103, 158.

102

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Schutzfunktion, die im deutschen Recht durch das geschriebene Verfassungsrecht und insbesondere den Grundrechtskatalog wahrgenommen wird. 10 Im Bezug auf die bereits erwähnte grundsätzliche strenge Einhaltung der Gewaltenteilung ist im übrigen noch darauf hinzuweisen, daß dieser Grundsatz im Hinblick auf das Verhältnis Legislative - Exekutive eine Relativierung durch Art. 34 und 37 der französischen Verfassung erfährt, die die Beziehungen zwischen Parlament und Regierung regeln. Danach werden durch Parlamentsgesetz nur die in Art. 34 ff. enumerativ aufgeführten Materien geregelt. Für alle übrigen Materien steht der Regierung nach Art. 37 eine autonome Verordnungsbefugnis zu. 11 Damit wird der Exekutive eine verfassungsrechtlich gesicherte Befugnis zu legislativer Tätigkeit übertragen; diese hat angesichts der äußerst großen Zurückhaltung des Parlamentsgesetzgebers in der Vergangenheit zu einer besonders dominanten Stellung der Exekutive geführt.U Erst in neuerer Zeit läßt sich eine gegenläufige Tendenz zu dieser Machtverschiebung feststellen, die zu einer Stärkung des formellen Gesetzes unter deutlicher Einschränkung der Bedeutung der Verordnungsmacht nach Art. 37 geführt hatP Insgesamt ist aber festzuhalten, daß im französischen Recht allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben für die gerichtliche Kontrolle nicht ersichtlich sind. 2. Das Prinzip der /egalite

Angesichts fehlender verfassungsrechtlicher Vorgaben und weitestgehender Zurückhaltung des Gesetzgebers bei gleichzeitig dominierender Verordnungskompetenz der Exekutive kam dem Staatsrat eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung allgemeiner Grundsätze für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle zu.14 Neben der allgemein starken Stellung des Staatsrats ist hier10

Vgl. Fromont, Gerichtsschutz, 221 (246); Schlette,S. 155 f.

Im Gegensatz zur •gewöhnlichen• Verordnungsbefugnis des Art. 21; vgl. Everling NVwZ 1987, 1 (2); Hoftmann, S. 26 f.; Schwarze, S. 99 f.; Starck, in: Bullinger, 15 (21 f.). 12 Vgl. Schwarze, S. 100; Starck, in: Bullinger, 17 (23). 13 Schlette, S. 147, 151. 14 Vgl. Hoffmann, S. 41 f.; Schwarze, S. 100; Starck, in: Bullinger, 17 (23). 11

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

103

bei dessen organisatorische Einbettung in die Exekutive von besonderer Bedeutung.15 Der Conseil d'Etat hat folgerichtig in seiner Rechtsprechung das "principe de legalite" entwickelt16; dieses verpflichtet die Verwaltung, bei ihrem Handeln die bestehende Rechtsordnung zu beachten.17 Dieser Grundsatz ist ein fundamentales Prinzip des französischen Verwaltungsrechts18 gerade im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit. 19 Dennoch ist die rechtliche Absicherung denkbar schwach; das Prinzip der "legalite" hat nicht einmal den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ("principe general du droit"), sondern gilt lediglich als einfaches Richterrecht.20 "Legalite" im genannten Sinne umfaßt die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsregeln. 21 Nach dem "principe de legalite" darf die Verwaltung nicht im Widerspruch zu gesetzlichen Regelungen handeln.22 Damit kommt hier das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes zum Tragen, wie es auch im deutschen Recht als Ausdruck der durch Art. 20 111 GG vorgegebenen Gesetzesbindung der Verwaltung Geltung besitzt. Somit kann auch im französischen Verwaltungsrecht die Gesetzesbindung der Verwaltung als allgemeiner verwaltungsgerichtlich überprüfbarer Grundsatz festgestellt werden.

Hoffmann, S. 42; Starck, in: Bullinger, 15 (23). Gaudemet, in: Bullinger, 113 (121); Mertens de Wilmars, Festschrift Kutscher, 283 (285); Schlette, S. 145. 17 Schlette, S. 145; Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 443. 18 De Laubadere, Band 1, Nr. 814, S. 497. 15 Vgl. 16

Chaminade, S. 1; Loschak AJDA 1981, 387 (387 f.). S. 145. 21 De Laubadere, Band 1, Nr. 820, S. 499; Schielte, S. 145; Starck, in: Bullinger, 15 (21); vgl. im einzelnende Laubadere, Nr. 821 ff.; Schlette, S. 146 ff. 22 Schielte, S. 146. 19 Ledercq/

20 Schielte,

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

104

3. Der recours pour exces de pouvoir als objektive Klageart Eine weitere allgemeine Vorgabe für die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen ergibt sich aus der systematischen Einordnung des recours pour exces de pouvoir. Dieser gehört zu den "contentieux objectifs"23; Gegenstand des Verfahrens ist in erster Linie die Kontrolle der Verletzung objektiv-rechtlicher Normen mit dem Ziel der Wiederherstellung der "legalite generale". 24 Der recours pour exces de pouvoir bezweckt vorrangig die Vorgabe objektiver Maßstäbe für das Verwaltungshandeln. 25 Dage~en kommt dem Individualrechtsschutz nur eine nachrangige Bedeutung zu. 6 Diese objektive Ausrichtung ist sicher nicht zuletzt eine Ausprägung der Einbindung des Staatsrats in die Verwaltung und seine "Zweitfunktion" als KonsultativorganP Ausdruck dieser Zielsetzung ist der Umstand, daß die Verletzung eines subj;ktiven Rechtes keine Voraussetzung für die Begründetheil der Klage ist. Insoweit besteht ein Unterschied zur deutschen Anfechtungsklage, die gemäß § 113 I VwGO eine solche Verletzung in eigenen Rechten als Begründetheitsvoraussetzung normiert. Ebenso sind die Anforderungen an die Klagebefugnis vergleichsweise gering. Anders als in § 42 II VwGO, der die Geltendmachung einer Rechtsverletzung verlangt, genügt beim recours pour exces de pouvoir der Nachweis eines direkten und persönlichen Interesses an der Aufhebung der ge-

23 Chapus, Nr. 154, S. 132 f.; Debbasch/ Ricci, Nr. 754, S. 731 f.; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (162); Leclercq/ Chaminade, S. 92; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (4), Fn. 16; Mertens de Wilmars, Festschrift Kutscher, 283 (285).

24 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1079, S. 135 f.; Degen , Die Verwaltung 1981, 157 (159); Everling NVwZ 1987, 1 (2); Pacteau, Nr. 12, S. 26 f.; Schwane, S. 105 f., 109; Woehrling NVwZ 1985, 21 (23). 25 Everling, in: Der Europäische Gerichtshof, 137 (148); Fromont, Rechtsschutz, S. 204; Gaudemet, in: Bullinger, 113 (122); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (5); Rumpf JöR 1989, 217 (225); Schwarze DVBI. 1987, 1037 (1038).

26 Becker, S. 14 f.; Chapus, Nr. 157, S. 133; Schleue, S. 77; Schwarze, S. 109; vgl. zu subjektiven ElementenAuby/ Drago, Nr. 1079, S. 136 f. 27 So auch Gaudemet, in: Bullinger, 113 (122) 28

Schleue, S. 78.

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

105

rügten Maßnahme.29 Hierbei legt der Staatsrat den Begriff des "verletzten Interesses" sehr großzügig aus und kommt einer Popularklage sehr nahe.30 Trotz dieser vorrangig objektiven Ausrichtung des recours pour exces de pouvoir kann aber heute kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es sich hierbei um einen echten Parteiprozeß handelt. 31 Hierfür spricht bereits Art. R 100, 101 des Code des tribunaux administratifs, in dem ausdrücklich von dem "parties en cause" die Rede ist.32 Auch die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels ( o~position, tierce opposition) stellt diese Qualifizierung als Parteiprozeß klar. Insgesamt ist aber festzustellen, daß beim recours pour exces de pouvoir der Individualrechtsschutz im Gegensatz zur deutschen Anfechtungsklage nicht die vorrangige Zielsetzung des gerichtlichen Verfahrens darstellt. Vielmehr dient die richterliche Nachprüfung in erster Linie der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle. Dies hat aber nicht notwendig eine Verkürzung individueller Rechtspositionen zur Folge; vielmehr wird gerade die Kontrolle der Einhaltung der Gesetze regelmäßig als Rechtsreflex auch dem Schutz des Einzelnen dienen.34 Im übrigen ist der Zugang zu den Verwaltungsgerichten angesichts der geringen Anforderungen an die Klagebefugnis sogar erleichtert; dagegen wird die Möglichkeit der Einflußnahme des Einzelnen auf einen einmal eröffneten Rechtsstreit bei einer objektiven Klageart wie dem recours pour exces de pouvoir regelmäßig geringer sein.

29 Fromont, Festschrift Menger, 887 (892); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (4); Woehrling NVwZ 1985, 21 (23). 30 Au~y/ Drago, Band 2, Nr. 1114, S. 200; Becker, S. 31; Braibant/ Questiaux, S. 23 f., 289; Jarass DOV 1981, 813 (821); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (4 f.}; Schwarze, S. 105; Ule, S. 417; Woehrling NVwZ 1985,21 (23); vgl. z.B. C.E. v. 14.02.1958,Abisset, Rec., S. 98; C.E. v. 28.05. 1971, Damasio, Rec., S. 391 f. 31 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1079, S. 137; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (159); Schleue, S. 78; Vedelf Delvotve, Band 1, S. 242 f. 32 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (159); vgl. auch C.E. v. 24.10.1969, Gougeon, 457 (458), der ebenfalls von den "parties en cause" spricht. 33 Vgl. Art. 72 ff., 79 der Ordonnance vom 31.07.1945; vgl. auch Aubyf Drago, Band 2, Nr. 1079, S. 137; Vedelf Delvolve, Band 1, S. 242. 34 Sch/eue, S. 78.

106

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

4. Zusammenfassung

Allgemeine Vorgaben für die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandeins im Rahmen des recours pour exces de pouvoir ergeben sich weder aus der Verfassung selbst noch aus ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen. Auch das einfache Recht enthält keine einschlägigen gesetzlichen Regelungen. Grundlegend für die gerichtliche Verwaltungskontrolle ist das vom Staatsrat entwickelte, als Richterrecht geltende "principe de legalite". Der hierdurch manifestierte rechtsstaatliche Grundsatz der Gesetzesbindung der Verwaltung beinhaltet insbesondere den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes. Insofern entspricht das Legalitätsprinzip inhaltlich der Regelung des Art. 20 III GG; in seiner rechtlichen Absicherung als einfaches Richterrecht fällt es allerdings deutlich schwächer aus. Eine dem Art. 19 IV GG entsprechende Garantie effektiven Individualrechtsschutzes ist dem recours pour exces de pouvoir fremd. Er ist vielmehr vorrangig als Verfahren zur Kontrolle des Verwaltungshandeins auf seine objektive Rechtmäßigkeit ausgestaltet. Die Gerichte sollen der Verwaltung objektive Verhaltensmaßregeln vorgeben; der Schutz subjektiver Rechte ist demgegenüber von nachrangiger Bedeutung. 11. Die Klagegründe des recours pour exces de pouvoir

Vor dem Hintergrund der dargestellten allgemeinen Vorgaben soll nunmehr ein kurzer Überblick über die dem recours pour exces de pouvoir zugrunde liegende Systematik der Klagegründe gegeben werden. Wie bereits dargelegt, beruht die Unterteilung des recours pour exces de pouvoir in verschiedene abstrakte Klagegründe (cas d'ouverture) auf der historischen Entwicklung dieser Klageart Der Staatsrat hat im Laufe der Zeit die vier Klagegründe der Unzuständigkeit (incompetence), der Form- oder Verfahrensfehler (vice de forme ou de procedure), des Ermessensmißbrauchs (detournement de pouvoir) und der Rechtsverletzung (violation de Ia loi) entwickeit.35 Diese Vierteilung hat bis heute Bestand.36

35

Vgl. oben 3. Teil, A II.

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

107

Die beiden erstgenannten Klagegründe zählen hierbei zu denen der äußeren Legalität (Iegalite externe), die Klagegründe des Ermessensmißbrauchs und der Rechtsverletzung zur sogenannten inneren Legalität (legalite interne).37 Dies entspricht der deutschen Differenzierung zwischen formeller und materieller Rechtmäßigkeit. 38 Trotz dieser abschließenden Aufzählung von Klagegründen findet aber im recours pour exces de pouvoir eine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt?' Wichtigster Klagegrund ist die Rechtsverletzung (violation de Ia loi); diese bedarf noch einer weitergehenden Präzisierung. Der Klagegrund der Rechtsverletzung wird systematisch unterteilt in die "violation directe de Ia regle de droit"40 und die "illegalite relative aux motifs". Die "violation directe de Ia regle de droit" bezieht sich auf das "objet" der Verwaltungsentscheidung, d.h. auf deren eigentlichen materiellen Inhalt.41 Sie erfaßt die Fälle, in denen der Regelungsinhalt dem geltenden Recht widerspricht.42 Die "illegalite relative aux motifs" bezieht sich auf die "motifs", d.h. auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten, auf denen die Verwaltungsentscheidung beruht.43 36 Vgl. Becker, S. 32; Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (168 ff.); Junker, S. 140 f.; Schlelle, S. 87 ff.; Vedelf Delvolve, Band 2, S. 292 ff.; soweit in der neueren Literatur eine Fünfteilung vorgeschlagen wird (vgl. z.B. de Laubadere, Band 1, Nr. 707, S. 439 f.; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (2); noch weitergehend Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1132, S. 239: sieben Klagegründe), bei der die "violation de Ia loi" in zwei selbständige Klagegründe unterteilt wird, so beruht dies lediglich auf Systematisierungsgesichtspunkten; hier soll aber der klassischen Vierteilung gefolgt werden, die auch Eingang in die Nichtigkeitsklage des Gemeinschaftsrechts (Art. 33 EGKSV, 173 EWGV, 146 EAGV) gefunden hat; vgl. Everling NVwZ 1987, 1 (6). 37 Vgl. C.E. v. 20.02.1953, Societe lntercopie, Rec., S. 88; Vedelf Delvolve, Band 2, 295, 304. 38 Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (168 f.). 39 Schielte, S. 87 f.; Vedelf Delvol\•e, Band 2, S. 291. 40 Auch "illegalite relative a l'objet".

41 Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (170); Guedon AJDA 1978, 82 (86); Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 305. 42 Auby/ Fromont, S. 249 f.; Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (170); Vedelf Delvolve, Band 1, s. 305. 43 Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (170); Guedon AJDA 1978, 82 (86); Schielte, S. 131.

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

108

Sie unterteilt sich ihrerseits in die "erreur de droit" und die "erreur de fait''.44 Die "erreur de droit" erfaßt die Fälle, in denen die der Entscheidung zugrunde gelegte Rechtsnorm fehlerhaft angewendet worden ist, sei es, daß die herangezogene Norm nicht existiert oder auf die getroffene Entscheidung gar nicht anwendbar ist, sei es, daß die Verwaltung die Norm fehlerhaft ausgelegt hat.45 Die "erreur de fait" erfaßt die Fälle fehlerhafter tatsächlicher Begründung der Verwaltungsentscheidung, das heißt der Zugrundelegung unzutreffender Tatsachen oder der fehlerhaften rechtlichen Würdigung dieser Tatsachen.46 Sie bezieht sich folglich auf Sachverhaltsfeststellung und -würdigung im Sinne der deutschen Dogmatik.47 Zu beachten ist weiterhin, daß die Klagegründe gleichzeitig auch Aufhebungsgründe (cas d'annulation oder moyens d'annulation) darstellen; ist ein Klagegrund einschlägig, so kann die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden.48 Eine Ausnahme hiervon macht der Staatsrat beim Vorliegen sogenannter "moyens inoperants". Er sieht Fehler der legalite externe, des Ermessensmißbrauchs und zum Teil auch der Rechtsverletzung im Falle gebundener Entscheidungen dann als unbeachtlich an, wenn die Entscheidung aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen mit dem vorgeschriebenen Inhalt erlassen wurde.49 Hier läßt sich eine deutliche Parallele zur Möglichkeit der Heilung von Verfahrens- und Formfehlern gemäߧ 46 VwVfG feststellen,50 wobei sich die Heilungsmöglichkeiten im recours pour exd:s de pouvoir aber nicht auf die formelle Rechtmäßigkeit beschränken.

44

Auch "erreur relative aux faits".

45

Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (170 f.); Schlette, S. 190 ff.; Vedelf Delvolve, Band 1,

S. 307 ff.

46 Degen,

Die Verwaltung 1981, 157 (171); Vedelf Delvotve, Band 1, S. 307 ff.

47 Schielte, S. 131. 48 Degen,

Die Verwaltung 1981, 157 (166); Schlette, S. 87. Drago, Band 2, Nr. 1259, S. 374 f.; Schlette, S. 91 f. 50 Vgl. oben 2. Teil, D 115; 2. Teil, D III 5.

49 Aubyf

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

109

111. Allgemeine Kontrollgrenzen

Auch die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen im französischen Recht unterliegt allgemeinen Kontrollgrenzen. 1. Bindung an die konkreten Klagegründe (moyens)

Eine erste formelle Begrenzung der richterlichen Kontrolle hat ihre Ursache in der dargestellten Unterteilung in abstrakte Klagegründe (cas d' ouverture). Diese hat eine Besonderheit im Hinblick auf die Anforderungen an das Klägervorbringen zur Folge. Dieser kann sich nicht wie im deutschen Verwaltungsprozeß darauf beschränken, die zur Begründung seines Antrags dienenden Tatsachen darzulegen. Er muß vielmehr darüber hinaus gemäß Art. 40 der Ordonnance vom 31.07.1945 das Vorliegen eines Klagegrundes (moyen) dartun, der einen der abstrakten Klagegründe erfüllt.51 Das Gericht ist an diese vom Kläger zulässigerweise vorgetragenen Klagegründe gebunden; es darf die angefochtene Entscheidung grundsätzlich nur auf das Vorliegen dieser "moyens" prüfen.52 Eine Ausnahme von dieser Bindung an die Klagegründe besteht nur bei den Fällen der sogenannten "moyens d'ordre public", die der Richter von Amts wegen zu berücksichtigen hat, wenn sich deren Vorliegen aus den Akten ergibt.53 Hierzu zählen in erster Linie Fälle der Iegalite externe wie Zuständigkeitsmängel und gewisse Formfehler (z.B. fehlende Mitwirkung der Behörde).54 Auch im Bereich der Rechtsverletzung (violation de Ia loi) hat der Staatsrat aber in Einzelfällen das Vorliegen von "moyens d'ordre public" angenommen, so z.B. bei Verstößen gegen das Rückwirkungsverbot bei Verord51 Wortlaut des Art. 40 der Ordonnance vom 31.07.1945: "La requete des parlies doit contenir l'expose sommaire des faits et moyens"; vgl. auch C.E. v. 01.06.1953, Vasnier, Rec., S. 254; Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (166); Everling NVwZ 1987, 1 (6); Vedelj Delvotve, Band 2, S. 290 f.; Woehrling NVwZ 1985, 21 (24). 52 Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (167); Pacteau, Nr. 250, S. 224 f.; Vedelf Delvolve, Band 2, S. 204; Woehrling NVwZ 1985, 21 (24). 53 Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (167); Langavant/ Rouault, S. 230; Pacteau, Nr. 149, S. 224; Schlette, S. 91; Vedelj Delvolve, Band 2, S. 204. 54 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1136, S. 242; Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (167); Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 204.

110

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

nungen und bei Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm.55 Insgesamt ist die fehlende Systematik des Staatsrats bei der Beiahung solcher von Amts wegen zu prüfender Klagegründe zu bemängeln.5 Die grundsätzliche Bindung der gerichtlichen Prüfung an die vorgetragenen Klagegründe kann im Einzelfall dazu führen, daß die Klage gegen einen effektiv rechtswidrigen Verwaltungsakt abgewiesen werden muß, weil sich der Kläger nicht auf den zutreffenden Klagegrund berufen hat.57 Dieses Ergebnis widerspricht aber eigentlich der Funktion des recours pour exces de pouvoir als Verfahren zur Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen. Die hiernach bestehende Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle müßte zumindest nach deutschem Rechtsverständnis zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle führen.58 Dagegen begründet die französische Literatur die Beschränkung der richterlichen Kontrolle mit dem Grundsatz des "ne ultra petita"; der Richter dürfe nicht über das hinausgehen, was von ihm verlangt werde.59 Daher sei im französischen Verwaltungsprozeßrecht prinzipiell keine andere Lösung denkbar.60 Hierzu ist zunächst zu sagen, daß der Grundsatz des "ne ultra petita" ein Verbot des Richters beinhaltet, über die Anträge der Parteien und den hierdurch bestimmten Streitgegenstand hinauszugehen.61 Der Streitgegenstand (cause juridique) wird aber im französischen Recht nicht wie im deutschen Recht allein durch Antrag und zugrunde liegenden Sachverhalt be-

55 Vgl. dazu Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1136, S. 242 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Conseil d'Etat. 56 So auch Guedon AJDA 1978, 82 (88); Schleue, S. 91. S7 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (167); Woehrling NVwZ 1985, 21 (24). 58 Vgl. Braibant/ Questiaux, S. 287; Everling NVwZ 1987, 1 (6); Schleue, S. 91; vgl. auch allgemein Ule, S. 5. 59 Auby, Melanges Waline, II, 267 (274); Braibantj Questiaux, S. 287; Langavantj Rouault, S. 230; Pacteau, Nr. 249, S. 224; Vedel/ DelvoM, Band 2, S. 203 f.

Pacteau, Nr. 249, S. 224; Schleue, S. 91. Braibant/ Questiaux, S. 287; diese Regelung hat in § 88 VwGO ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden; vgl. Redekerf v. Oertzen, § 88, Rdz. 1; Kopp VwGO, § 88, Rdz. 1. 60

61

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

111

stimmt;62 vielmehr wird er darüber hinaus dadurch festgelegt, daß der Kläger Klagegründe der legalite externe bzw. der legalite interne vorbringt.63 Damit geht der recours pour exces de pouvoir von einem engeren Streitgegenstandsbegriff aus, der auch durch die vom Kläger vorgebrachten externen bzw. internen Klagegründe bestimmt wird.64 Innerhalb dieser beiden Gruppen formeller bzw. materieller Mängel wäre aber eine umfassende rechtliche Überprüfung auch nach dem "ne ultra petita" - Grundsatz durchaus denkbar, so daß die Bindung an einzelne "moyens" sich keineswegs zwingend aus diesem Prinzip ergibt. Nach französischem Rechtsverständnis wird die gerichtliche Kontrolle aber nicht allein durch die so bestimmten "causes juridique" beschränkt. Vielmehr wird der "ne ultra pctita" - Grundsatz in der Weise interpretiert, daß er das Gericht an die vom Kläger "cause de demande", das heißt an das in den konkreten Klagegründen spezifizierte Klagebegehren, bindet.65 Die über die "causes juridiques" hinausgehende Eingrenzung der richterlichen Kontrolle auf die jeweiligen konkreten Klagegründe läßt sich nur auf die historische Tradition des recours pour exces de pouvoir zurückführen, der sich erst im Laufe der Zeit von der Beschränkung auf einzelne Kl~egründe zur heute umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle entwickelt hat.6 Diese historische Entwicklung scheint die Ursache dafür zu sein, daß das Klägerbegehren über den Steilgegenstand hinaus zusätzlich durch die jeweils vorgebrachten moyens bestimmt wird. Bei einem solchen Verständnis ist dann allerdings die Bindung an die Klagegründe in der Tat durch den Grundsatz "ne ultra petita" zwingend vorgegeben. Insgesamt bleibt festzuhaltcn, daß das von den Gerichten zu prüfende Klägerbegehren sich grundsätzlich auf die zulässigerweise vorgetragenen Klagegründe (moyens) beschränkt. Hieraus ergibt sich eine allgemeine Grenze der richterlichen Kontrollbefugnis. 62 Vgl. hierzu BVeiWGE 70, 110 (112); Eyermann/ Fröhler, § 82, Rdz. 3; Kopp, VwGO, § 90, Rdz. 7. 63 C.E. v. 01.06.1953, Vasnier, Rec., 254 (254 f.); C.E. v. 20.02.1953, Societe Intercopie, Rec., 88 (88); C.E. v. 01.07.1955, Brenier, Rec., 376 (376); C.E. v. 23.03.1956, Dame veuve Ginestel, Rec., 141, (141 f.); Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (166); Pacteau, Nr. 188, S. 174 f.; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 170.

64 Pacteau,

Nr. 188, S. 174 f.; Vedel/ Delvo/ve, Band 2, S. 170. Melanges Waline, II, 267 (274); Pacteau, Nr. 250, S. 224 f.

65 Vgl.Auby, 66

Börner, S. 145; Degen, Die VeJWaltung 1981, 157 (167).

112

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

2. Beschränkung auf Rechtmäßigkeitskontrolle Die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsbandelos stellt zugleich eine allgemeine Schranke des Kontrollumfangs dar; außerrechtliche Erwägungen sind der richterlichen Nachprüfung entzogen. Daher geht der Staatsrat davon aus, daß der Richter nicht befugt sei, die Zweckmäßigkeit (opportunite) des Verwaltungsbandelos zu übe~rüfen; deren Beurteilung müsse allein der Verwaltung überlassen bleiben. Diese Formel ist dahingehend zu präzisieren, daß die Zweckmäßigkeit zwar eine unübersteigbare, nicht aber eine unverrückbare Grenze der gerichtlichen Kontrolle darstellt.68 Vielmehr ist diese der gerichtlichen Überprüfung insoweit nicht entzogen, als sie Bestandteil der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme ist.69 Charakteristisches Bei~iel hierfür ist die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme. Nur die Zweckmäßigkeit im engeren Sinne, die nicht in diesem Sinne gesetzlich determiniert ist, ist der gerichtlichen Kontrolle entzogen.71

3. Beschränkung der richterlichen Kontrolle durch Ermessensspielräume der Verwaltung Die auf Rechtmäßigkeitsgesichtspunkte beschränkte gerichtliche Kontrolle begründet unter dem Aspekt der Gewaltenteilung eine weitere allgemeine Einschränkung der richterlichen Nachprüfungsbefugnis. Das "principe de legalite" und die hierauf beruhende richterliche Verwaltungskontrollefinden ihre Grenzen dort, wo der Verwaltung ein Ermessen (pouvoir discretionnaire) zusteht.72 Das Gericht darf seine Entschei-

67 C.E. v. 15.10.1975., Raveau, Rec. 514 (515); Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1291, S. 407; Fromont, Gerichtsschutz, S. 255; w.N. bei Schlette, S. 162, Fn. 412 f. 68 Schlette, S. 165 f. ~ Fromont, Gerichtsschutz, 221 (258 f.); Long/ Weil, S. 182; Pasbecq RDP 1980, 803 (848); Steindorff, S. 65; Vedelf Delvolve, Band 1, S. 528 f. 70 Vgl. Schlette, S. 165. 71 Vgl. Hoffmann, S. 107 f.; Schielte, S. 166. 72 Eisenmann, Band 2, S 300; Fromont, Gerichtsschutz, S. 254 f.; Gaudemet, in: Bullinger, 113 (126 f.); de Laubadere, Nr. 890, S. 536; Nr. 897, S. 540; Rivero, Nr. 8.3, S. 84 f.; Starck, in: Bullinger, 15 (27); Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 524 f.; Band 2, S. 310.

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

113

dung nicht an die Stelle der Verwaltungsentscheidung setzen.73 Die hierin zum Ausdruck kommende Betonung der Gewaltenteilung ist in dem Sinne zu verstehen, daß die Verwaltungsgerichte nicht den Inhalt des eigentlichen Ermessens zu prüfen haben, sondern nur befugt sind, die Einhaltung der Ermessensgrenzen zu kontrollieren. 74 Hierbei sind im Vergleich zum deutschen Recht zwei Besonderheiten zu beachten. Zum einen stellt sich der Grundsatz der absoluten Ermessensfreiheit der Verwaltung in Frankreich als historischer "Urzustand" dar. Dies hat seine Ursache in der durch die französische Revolution eingeführten strengen Gewaltentrennung mit dem Verbot der richterlichen Verwaltungskontrolle und der sich hieraus ergebenden starken, autonomen Stellung der Exekutive, die erst allmählich durch gesetzliche Regelungen und insbesondere durch die Tätigkeit des Staatsrats Beschränkungen erfahren hat.75 Auch heute verfügt die Verwaltung noch über große Bereiche, in denen ihr aufgeund fehlender oder unvollständiger gesetzlicher Vorgaben Handlungsspielräume verbleiben.76 Dies führt Gaudemet zu der Schlußfolgerung, der pouvoir discn!tionnaire der Verwaltung sei kein Produkt des Gesetzes; er stelle sich vielmehr als nicht einschränkbare historische Gegebenheit dar, die niemals wirklich unterbrochen worden sei. Die Entwicklung der "lt!galite administrative" durch den selbst in die Verwaltung eingebundenen Staatsrat habe sich unter Respektierung dieser Tradition vollzogen.77 Die Ermessensverwaltung stellt sich in Frankreich auch heute noch als Regelfall dar. 78 Mit dieser historisch gewachsenen Bedeutung des Verwaltungsermessens verbindet sich auch ein von der deutschen Auffassung abweichendes Verständnis. Hiernach stellt die Einräumung weitgehender Handlungsspielräume ein konstituierendes Element einer guten Verwaltung dar; 79 sie wird als unverzichtbar angesehen, um ein Funktionieren der Exekutive zu garan-

73

Debbasch/ Ricci, Nr. 837, S. 833; Gaudemet, in: Bullinger, 113 (126 f.); Vedel/ Delvolve,

Band 1, S. 527.

Schlette, S. 188; Venezia, S. 137. Vgl. oben 3. Teil, A I sowie Gaudemet, in: Bullinger, 113 (118 f.); Schleue, S. 95 ff. 76 Schleue, S. 99 f.

74 75

77 Gaudemet, in: Bullinger, 113 (122 f.); vgl. auch Schwarze, in: gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsvetwaltungs- und Umwelt recht, 203 (205 f.). 78 Jarass 79

DÖV 1981, 813 (815); Schleue, S. 99; Schwarze, S. 668. Gaudemet, in: Bullinger, 113 (113).

8 Rausch

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

114

tieren und das institutionelle Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.80 Damit kommt dem Ermessen sowohl von seiner Funktion her als auch im Hinblick auf die praktische Relevanz ein deutlich höherer Stellenwert als im deutschen Recht zu. Hiermit verbunden ist auch die zweite Besonderheit des Verwaltungsermessens im französischen Recht. Der Begriff des Verwaltungsermessens wird im französischen Recht nicht auf die Rechtsfolgenseite beschränkt. Neben dem Handlungs- und Auswahlermessen im Sinne des deutschen Rechts räumt die französische Ermessenslehre entsprechende Handlungsspielräume unterschiedslos auch auf der Tatbestandsseite im Bereich der Subsumtion von Tatsachen (qualification des faits) unter unbestimmte Rechtsbegriffe ein.81 Eine der deutschen Dogmatik entsprechende Differenzierung in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite ist dem französischen Recht sowohl im Hinblick auf den Begriff des Ermessens als auch als grundsätzliches Unterscheidungsmerkmal unbekannt.82 4. Beschränkung der richterlichen Kontrolle bei Vorliegen besonderer Sachkenntnisse der Venvaltung

Im Zusammenhang mit den allgemeinen Grenzen der richterlichen Kontrolle ist eine weitere Besonderheit des französischen Verwaltungsprozeßrechts zu erwähnen, die Ausdruck der strengen Gewaltenteilung zwischen Judikative und Exekutive ist. In Fällen, in denen die Verwaltungsentscheidung besondere Sachkenntnisse insbesondere wissenschaftlicher und technischer Art erfordert, schränken die französischen Gerichte ihre Kontrolle aufgrund des insoweit bestehenden Kenntnisvorsprungs ein.83 So hat es der Staatsrat beispielsweise abgelehnt, die Qualifizierung eines Haarwassers als "giftig" nachzuprüfen.84 Andere Beispiele sind die Beurtei80 Gaudemet, in: Bullinger, 113 (113); Grote NVwZ 1986, 269 (270); de Laubadere, Nr. 896, S. 540; Starck, in: Bullinger, 15 (22).

81 Grote NVwZ 1986, 269 (270); Jarass DÖV 1981, 813 (815); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (9); Schlette, S. 118 ff.; Starck, in: Bullinger, 15 (27 f.).

82 Vgl. Schlette,

S. 119.

Drago, Band 2, Nr. 1281, S. 396 f.; Debbasch, Band 2, S. 629 f.; Debbasch/ Rkci, Nr. 836, S. 830; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (172); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (11 f.); Long/ Weil, S. 175; Vedel/ Delvotve, Band 2, S. 315. 84 C.E. v. 27.04.1951, Societe Toni, Rec., 236. &3 Auby/

B. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

115

lung des therapeutischen Werts eines pharmazeutischen Artikels85 , die Qualifizierung eines Weines als appellation contrölee86 bzw. die Beurteilung eines Medikaments.87 Insofern besteht ein deutlicher Widerspruch zum deutschen Verwaltungsprozeß, in dem die größere Sachkenntnis allein auch im Bereich komplexer technischer und wirtschaftlicher Fragen keine Einschränkung der richterlichen Kontrolle bewirkt, sondern mit Hilfe von Sachverständigen kompensiert werden muß. Abweichungen hiervon sind nur ausnahmsweise und nur bei Vorliegen entsprechender gesetzlicher Ermächtigungen möglich.88 Der Richter des recours pour exces de pouvoir nimmt dagegen den Kenntnisvorsprung der Verwaltung zum Anlaß, seine Kontrolle insoweit einzuschränken.

5. Fazit Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen im Rahmen des recours pour exces de pouvoir unterliegt allgemeinen Grenzen. Zum einen muß sich das Gericht bei der Überprüfung grundsätzlich auf die vom Kläger vorgebrachten konkreten Klagegründe (moyens) beschränken. Eine Ausnahme hiervon besteht nur im Bezug auf die sogenannten "moyens d'ordre public", die von Amts wegen zu prüfen sind. Den Gerichten ist es weiterhin verwehrt, die Entscheidung der Verwaltung auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte hin zu untersuchen, es sei denn, diese sind als gesetzliche Entscheidungsvoraussetzungen ausgestaltet. Auch das Bestehen von Ermessensspielräumen begrenzt die Befugnis zur richterlichen Nachprüfung. Im Gegensatz zur deutschen Rechtslage bestehen Ermessensspielräume unterschiedslos sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite. Auch insgesamt kommt dem Verwaltungsermessen eine deutlich größere Bedeutung zu.

85

C.E. v. 24.05.1949, Fergant, Rec., 239.

86

C.E. v. 14.10.1960, Syndicat agricole et viticole de Lalande, Rec., 529 (533).

'ifl

88

C.E. v. 20.05.1988, Societe laboratoires de thCrapeutique moderne, Rec., 198 (199 f.). Vgl. oben 2. Teil, C IIl 3.

116

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht IV. Zusammenfassung

Die Untersuchungen zu den allgemeinen Vorgaben und Kontrollgrenzen im recours pour exces de pouvoir lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die maßgebliche Vorgabe für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle ergibt sich aus dem vom Staatsrat entwickelten "principe de legalite". Dieser Grundsatz begründet die Gesetzesbindung der Verwaltung. Die Einhaltung des hierin zum Ausdruck kommenden Vorranges des Gesetzes wird durch den recours pour exces de pouvoir in einem Verfahren durchgeführt, das in erster Linie der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle dient. Der Individualrechtsschutz ist demgegenüber von nachrangiger Bedeutung. Die Befugnis zur objektiven Rechtmäßigkeilskontrolle wird zum einen eingeschränkt durch die Bindung an die vom Kläger vorgetragenen konkreten Klagegründe (moyens). Weitere Beschränkungen ergeben sich aus dem Verbot der Kontrolle "reiner" Zweckmäßigkeitserwägungen wie aus dem Bestehen von Ermessensspielräumen auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite. Auch die besondere Sachkompetenz der Verwaltung kann insbesondere bei Fragen wissenschaftlicher und technischer Art zu einer Begrenzung der richterlichen Kontrolle führen . C. Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen Vor dem Hintergrund der dargestellten allgemeinen Vorgaben und Kontrollgrenzen stellt sich die weitergehende Frage, in welchem Umfang eine Berechtigung bzw. Verpflichtung der Gerichte zur eigenständigen Erforschung des Sachverhaltes besteht, den die Verwaltung ihren Entscheidungen zugrunde legt. Diese Frage hat ihren systematischen Standort bei der Kontrolle der "erreur de fait" und wird dort unter dem Begriff der "contröle de Ia materialite des faits" abgehandelt. 1 1 Vgl. nur Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 313; zum Teil auch "exactitude materielle des faits" genannt; vgl. zur Systematik auch oben 2. Teil, B II.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

117

I. Recht zur eigenständigen Sachverhaltserforschung

Die Frage, ob den Gerichten bei der Kontrolle von Verwaltungsakten ein Recht zur Kontrolle des zugrunde liegenden Sachverhaltes zusteht, wurde vom Staatsrat zunächst verneint.2 Man begründete dies damit, daß es sich bei dem Tatsachenmaterial, das die Verwaltung ihren Entscheidungen zugrunde legt, um keine Beurteilung von Rechtsfragen handele, so daß der Richter, der nur die Rechtswidrigkeit sanktionieren könne, die Entscheidung der Verwaltung insofern als souverän akzeptieren müsse. 3 Von dieser Auffassung ist aber der Staatsrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Urteilen Camino4 und Trepont5 abgerückt. Im Urteil Camino hatte der Staatsrat über die Absetzung eines Bürgermeisters zu befinden, die mit einem Dienstvergehen begründet wurde, das in Wirklichkeit nicht vorlag. In seinem Urteil hob der Staatsrat die Entscheidung auf und stellte fest, daß zumindest in den Fällen, in denen eine Begründungspflicht der Verwaltung bestehe oder es sich um eine gebundene Entscheidung handele, der Staatsrat befugt sei, die der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.6 Diese Befugnis ergebe sich aus der Verpflichtung der Verwaltung, sich bei Bestehen einer Begründungspflicht nur auf zutreffende Tatsachen zu stützen bzw. bei gebundenen Entscheidungen die vor~egebene Entscheidung auf der Grundlage richtiger Tatsachen zu treffen. Den entscheidenden Schritt tat der Staatsrat im Urteil Trepont. Hier annulierte der Staatsrat die Beurlaubung eines Präfekten, die auf einen angeblichen Antrag desselben erfolgt war, der tatsächlich nicht existierte. Die Besonderheit lag darin, daß der Staatsrat in diesem Fall ebenfalls die Befugnis zur Kontrolle des Sachverhaltes konstatierte, obwohl keine Begründungspflicht bestand und der Regierung ein Ermessensspielraum zustand. Er begründete eine richterrechtliche Regel des Inhalts, daß die Verwaltung sich 2

Vgl. C.E. v. 18.03.1910, Hubersen, Rec., 259, zit. nach Long/ Weil, S. 179.

3 Auby/ Drago,

Band 2, Nr. 1255, S. 368; Vedelf Delvolve, Band 2, S. 310.

4

C.E. v. 14.01.1916, Rec., 15; GA Nr. 33, S. 178.

5

C.E. v. 20.01.1922, Rec., 65.

C.E. v. 14.01.1916, Camino, GA Nr. 33, S. 178; vgl. auch Long/ Weil, S. 180; Vedelf Delvo/ve, Band 2, S. 311. 7 Vedelf Delvotve, Band 2, S. 311. 6

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

118

bei ihrer Entscheidung nicht auf Tatsachen stützen darf, die unzutreffend sind.8 Damit machte der Staatsrat die "materialite des faits" zur allgemeinen Rechtmäßigkeitsbedingung, die gerichtlich grundsätzlich überprüft werden kann.9 Spätestens seit der Bestätigung dieser Rechtsprechung im Urteil BareP0 ist unbestritten, daß die Gerichte auch bei bestehenden Ermessensspielräumen stets befugt sind, die Richtigkeit des Sachverhaltes selbständig zu überprüfen.U Den Gerichten steht somit die Befugnis zur umfassenden Erforschung des Sachverhalts zu. Bei der Aufklärung des Sachverhaltes dürfen die tribunaux administratifs gemäß Art. R 117 ff. des Code des Tribunaux Administratifs Sachverständigen-, Augenscheins- und Zeugenbeweise erheben sowie Parteivernehmungen und Schriftvergleiche durchführen. 12 Der Staatsrat ist dagegen nicht an bestimmte Beweismittel gebunden. 13 II. Pflicht zur Sachverhaltserforschung

Die Frage, ob dieser Befugnis zur eigenständigen Sachverhaltserforschung auch eine Pflicht entspricht, wird weder in der Literatur noch vom Staatsrat ausdrücklich erörtert; vielmehr findet sich nur regelmäßig der Hinweis auf die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes (procedure inquisitoire) im französischen Verwaltungsprozeß. 14 Lediglich Vedel/ Delvolve 8 C.E. v. 20.01.1922, Trepont, Rec., 65 ("cause juridique inexistante"); Schielte, S. 207; Vedelj Delvolve, Band 2, S. 311 f.

9 De Laubadere, Band 1, Nr. 738, S. 450 f.; Longj Weil, S. 180; Schielte, S. 208; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 311 f. 10 C.E. v. 28.05.1954, Bare/, Rec., 308.

11 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1278, S. 393 f.; Braibant, S. 229; Debbaschj Ricci, Nr. 831, S. 822 f.; Degen, Die Vetwaltung 1981, 157 (172); Long/ Weil, S. 180; Vedel/ Delvo/ve, Band 2, s. 310. 12 Vgl.

zu den einzelnen Beweismitteln Pacteau, Nr. 223 ff., S. 204 ff.

13 Becker,

S. 42 ff.; Degen, Die Vetwaltung 1981, 157 (172); Vedelj Delvotve, Band 2, S. 200.

Auby, Melanges Waline, 267 (278); Auby/ Drago, Band 1, Nr. 702, S. 865; Degen, Die Vetwaltung 1981, 157 (159); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (5); Schwarze, S. 106; Vedel/ De/volve, Band 2, S. 192; Woehrling NVwZ 1985, 21 (24). 14

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

119

führen beiläufig aus, der Richter des recours pour exces de pouvoir könne und müsse die Richtigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen überprüfen.15 Diese Zurückhaltung erscheint aber in Zusammenhang mit den vorhergehenden Erörterungen wenig überraschend. Nachdem der Staatsrat eine allgemeine Rechtsregel des Inhalts aufgestellt hat, daß die Verwaltung sich niemals auf unrichtige Tatsachen stützen darf, 16 ergibt sich aus der Verpflichtung der Gerichte zur Kontrolle der "Iegalite generale" auch die Pflicht zur Nachprüfung der Einhaltung dieser RechtsregeL Insofern ist die Verpflichtung zur Kontrolle mit der entsprechenden Befugnis zwangsläufig untrennbar verbunden. III. Grenzen der Untersuchungspflicht

Angesichts der bestehenden Aufklärungspflicht des Staatsrates stellt sich die Frage nach deren Grenzen. Ebenso wie auch im deutschen Recht ist maßgeblicher Anknüpfungspunkt hierfür, ob und in welchem Umfang Mitwirkungspflichten der Parteien bestehen. 1. Grundsätzliche Darlegungslast des Klägers

Der recours pour exces de pouvoir wird ebenso wie der französische Zivilprozeß von der Geltung des Grundsatzes "actori incumbit probatio" bestimmtP Danach hat der Kläger grundsätzlich die umfassende Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen zu tragen, die die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründen.18 Er muß sein Begehren in der Weise sub-

15 Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 312; deutlicher noch Clrapus, Nr. 749, S. 545 f., der von einem Recht der Parteien auf Aufklärung und einer entsprechenden Verpflichtung des Richters spricht.

16 Vgl.

hierzu bereits oben C II 1.

Drago, Band 1, Nr. 702, S. 866; Band 2, Nr. 1437, S. 542; Pacteau, Nr. 219, S. 199; Schielte, S. 53 f. 18 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (163); de Laubadere, Band 1, Nr. 635, S. 389; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (5); Pacteau, Nr. 219, S. 199; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 195. 17 Auby/

120

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

stantiieren, daß hieraus auf die Begründetheit der Klage geschlossen werden kann. 19 Erst wenn der Kläger seiner Darlegungspflicht insoweit nachgekommen ist, besteht für das Gericht die Verpflichtunff, eigene Aufklärungsmaßnahmen ("mesures d'instruction") vorzunehmen.2 Diese Ausgangssituation weist insoweit eine gewisse Ähnlichkeit zur deutschen Rechtslage auf, als auch hier die Untersuchungspflicht durch die Mitwirkungspflicht des Klägers begrenzt wird.21 Ansonsten bestehen aber deutliche Gegensätze. Zum einen wird im deutschen Verwaltungsprozeß das Bestehen einer über die Mitwirkungspflicht hinausgehenden Darlegungslast unter Hinweis auf die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes abgelehnt. 22 Ein weiterer, wesentlich gravierenderer Unterschied besteht aber darin, daß dem Kläger die Darlegungslast im recours pour exces de pouvoir einseitig auferlegt wird, wohingegen die Konzeption des § 86 VwGO von der Mitwirkungspflicht beider Parteien ausgeht. Diese Einseitigkeit wurde aber auch nach französischem Rechtsverständnis aus zwei Gründen als untragbar empfunden. Zum einem stand dem Adressaten eines Verwaltungsakts im französischem Verwaltungsrecht lange Zeit kein Recht auf Akteneinsicht zu; die Verwaltung war ihrerseits aber auch nicht grundsätzlich zur Begründung ihrer Entscheidungen verpflichtet. Hieraus resultierten erhebliche Darlegungsschwierigkeiten des Klägers.23 Zum anderen wäre aber eine solch einseitige Verteilung der Mitwirkungspflichten mit dem im recours pour exces de pouvoir geltenden Untersuchungsgrundsatz schwerlich zu vereinbaren.24 Um den insoweit bestehenden Gegensatz zu überwinden, kommt daher nach französischem Rechtsverständnis dem Richter im Rahmen seiner Untersuchungspflicht vorrangig die Aufgabe zu, den verwaltungsinternen Hin19 C.E. v. 24.03.1950, Etablissements R.Aye, Rec., 184; v. 26.04.1963, Soutier , Rec., 254 (255); v. 07.03. 1969, Ville de Lilie, Rec., 149 (150); v. 12.02.1971, Rebatel, Rec., 123; v. 08.02.1982, Lambert, Rec., 17 (18); Pacteau, Nr. 219, S. 199; Auby/ Drago, Band 1, Nr. 702, S. 866 spricht von einem"Anfangsbeweis ("commencement de preuve"). 20 Long/ 21

Weil, S. 527; vgl. auch Becker, S. 43.

Vgl. dazu oben 2. Teil, C 111 2.

22 Vgl. dazu oben 2. Teil, C 111 2.; vgl. auch 23 Auby/

s. 196 f.

24 De

Scluette, S. 54, Fn. 226. Drago, Band 2, Nr. 1437, S. 542; Pacteau, Nr. 219, S. 200; Vedelf Delvolve, Band 2,

Laubadere, Band 1, Nr. 635, S. 389; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 196.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

121

tergrund der Entscheidung aufzuklären, indem er die Verwaltung anhält, alle entscheidungserheblichen Umstände darzulegen bzw. entsprechende Unterlagen zur Verfügung zu stellen.25 Ausgehend hiervon hat der Staatsrat Anforderungen an die Mitwirkungspflicht der Verwaltung bei der Sachverhaltsaufklärung entwickelt. 2. Anforderungen an die Mitwirkungspflicht der Verwaltung

Einen ersten wesentlichen Schritt im Hinblick auf die Begründung allgemeiner Mitwirkungspflichten der Verwaltung stellte das Urteil BareP6 dar. Hier begründete der Staatsrat den Grundsatz, daß selbst angesichts bestehender Ermessensspielräume bei Vorliegen eines hinreichend substantiierten Klägervortrages die Verwaltung verpflichtet sei, auf Anforderung des Gerichts alle Unterlagen zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen, die das streitige Rechtsverhältnis betreffen. Ein substantiierter Klägervortrag in diesem Sinne liege vor, wenn der Kläger sich auf präzise Umstände und Fakten stütze, die die ernsthafte Vermutung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung begründen.27 Die damit verbundenen Anforderungen an die Mitwirkung der Verwaltung wurden durch das Urteil Societe Maison GenestaP8 in doppelter Hinsicht verstärkt. Zum einen machte der Staatsrat eine Beteiligung der Verwaltung nicht mehr von einem in der beschriebenen Weise qualifizierten Klägervortrag abhängig. Zum anderen stellte er eine Verpflichtung der Verwaltung nicht nur zur Vorlage ihrer Unterlagen, sondern zur substantiierten Darlegung ihrer Entscheidungsgründe (raisons de fait et de droit) fest. 29 Diese richterrechtliche Entwicklung ist durch den Gesetzgeber weiter ausgebaut worden. Durch das Gesetz Nr. 78-753 vom 17. Juli 1978 ist das gesetzliche Recht auf Einsicht in die Verwaltungsdokumente eingeführt 25 De Laubadere, 26

Band 1, Nr. 633, S. 388; Long/ Weil, S. 527.

C.E. v. 28.05.1954, GA Nr. 90; Rec., 308.

V "des circonstances et des faits constituant des presomptions serieuses•, vgl. C.E. v. 28.05. 1954, Barel, GA Nr. 90. 524 f.; Rec., 308 (309) sowie Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (163); Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 198; vgl. auch C.E. v. 23.12.1966, Jaunes, Rec. 690 {691): "presomptions serieuses, precises et concordantes". 28

C.E. v. 26.01.1968, GA Nr. 105, S. 642.

C.E. v. 26.01.1968, GA Nr. 105, S. 642.; Auby/ Dargo, Band 2, Nr. 1437, S. 544 f.; Long/ Weil, S. 528, 644; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 198 f. 29

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

122

worden.30 Das Gesetz Nr. 79-587 vom 11. Juli 1979 hat weiterhin eine allgemeine Begründungspflicht für den Adressaten ungünstiger ("defavorables") Verwaltungsentscheidungen begründet.31 Damit gilt der Grundsatz "actori incumbit probatio" in Bezug auf die Beteiligung der Parteien an der Sachverhaltsaufklärung nur noch mit deutlichen Einschränkungen.32 Vielmehr kann, ebenso wie im deutschen Recht, von einer Verteilung der Mitwirkungspflichten ausgegangen werden.33 Ein Unterschied besteht allerdings insoweit, als die Mitwirkungspflicht des Klägers im Sinne einer Darlegungslast ausgestaltet ist. Genügt er den sich hieraus ergebenden Anforderungen nicht, so wird die Klage zurückgewiesen.34 Anderenfalls besteht eine Verpflichtung des Gerichts zur weiteren Sachaufklärung insbesondere hinsichtlich des Hintergrundes der Verwaltungsentscheidung. Kommt die Verwaltung ihrer Begründungspflicht nicht nach, so führt dies zur Aufhebung der Verwaltungsentscheidung wegen Formmangels? Bei unzureichender Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung geht das Gericht von der Richtigkeit des Klägervortrages aus.36 Eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung findet in diesem Fall nicht mehr statt. regelmäß~

Insofern wird im recours pour exces de pouvoir ebenso wie im deutschen Verwaltungsprozeß die richterliche Aufklärungspflicht durch die Mitwirkungspflichten der Parteien eingeschränkt. IV. Praxis der gerichtlichen Aufklärungspflicht

Trotz der dem deutschen Recht vergleichbaren Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im recours pour exces de pouvoir ist in der Praxis der französischen Verwaltungsgerichte die Tendenz festzustellen, die ihnen übertragenen Befugnisse zur eigenständigen Sachverhaltsaufklärung nur 30 SchJette, S. 54. 31

SchJette, S. 54, 177; Vedel/ Delvotve, S. 199. In diesem Sinne auch Calogeropoulos, S. '22;7. 33 V'l).Aubyf Drago, Band 2, Nr. 1437, S. 542; Pacteau, Nr. 218, S. 199. 32

34

C.E. v. 09.07.1954, Cordelet, Rec., 439 (440); Longf Weil, S. 527.

35 S chJette, S. 36

178 ff.

C.E. v. '22;.05.1954, Bare/, GA Nr. 90, 524 (525); Rec., 308 (309); Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1439, S. 545.

C. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

123

sehr zurückhaltend und weit weniger systematisch als im deutschen Recht zu verwenden.37 Dies zeigt sich an der großen Diskrepanz zwischen der Häufigkeit, mit der Verwaltungsentscheidungen wegen unzutreffender Tatsachenfeststellung (inexactitude materielle des faits) aufgehoben werden,38 und der im Gegensatz hierzu sehr seltenen Durchführung eigener gerichtlicher Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung.39 Diese zurückhaltende Sachverhaltserforschung beruht zum einen auf der Sicht der Gerichte als "Herrinnen des Beweisverfahrens", denen eine weitgehende Freiheit bei der Sachverhaltsaufklärung zukommt.40 Ein Indiz hierfür ist auch die fehlende Bindung des Staatsrats an bestimmte Beweismittel. Maßgeblich für die richterliche Zurückhaltung ist aber wohl in erster Linie der im französischen Verwaltungsprozeß geltende Schriftlichkeilsgrundsatz (caractere ecrit)4 1, der eine regelmäßige Beweiswürdigun~ aufgrund der in den Gerichtsakten enthaltenen Dokumente zur Folge hat. 2 Ein weiterer Grund für die restriktive Durchführung eigenständiger Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung dürfte in der objektiven Zielsetzung des recours pour exces de pouvoir liegen, der in erster Linie der Vorgabe allgemeiner Handlungsmaximen für die Verwaltung dient.43

37 Vgl. Adam, S. 228; Fromont, Gerichtsschutz, S. 262; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (6); Nolte, 278 (279); Woehrling NVwZ 1985, 21 (25). 38 Vgl. z.B. C.E. v. 26.01.1977, Ministre de Ia Sante , Rec., 45; v. 09.06.1978, Centre psychotherapique de Ia Haute-Vienne, RDP 1979, 288; v. 23.03.1979, Valentini, Rec., 133 f.; v. 17.10. 1984, lud/in , Rec., 332 f.; v. 25.02.1987, Ministre de Ia Culmre, RDP 1987, 1387 f.; w. N. bei Auby/ Drago, Band w, Nr. 1278, S. 393 f.; Schleue, S. 207, Fn. 237; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 314. 39 So z.B. C.E. v. 18.01.1957, Mamega, Rec., 46 ff. (Sachverständigen-Gutachten); v. 23.03. 1945, Ville de Paris, Rec., 62 (Zeugenvcrnehmung); v. 19.05.1882, Darolle , Rec., 492 ff. (Ortsbesichtigung); soweit ersichtlich, sind Parteivernehmungen noch nie vorge nommen worden, vgl.Auby/ Drago, Band 2, Nr. 938, S. 28. 40 Vgl. Long/ Weil, S. 527; Pacteau, Nr. 223, S. 204; vgl. auch Aubyf Drago, Band 1, Nr. 702, S. 866, Band 2, Nr. 1438, 543; de Laubadere, Band 1, Nr. 633, S. 388. 41 Vgl. Becker, S. 42 f.; Peiser, S. 91; Vedelf De/vo/ve, Band 2, S. 195. 42 Vgl. hierzu Chapus, Nr. 732, S. 534 sowie unten 3. Teil, C V. 43 Vgl. Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (7).

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

124

V. Beweislast

Ebenso wie im deutschen Recht stellt sich auch beim recours pour exces de pouvoir die Frage nach der Beweislast bei Nichterweislichkeit von Tatsachen. Nach dem Grundsatz "actori incumbit probatio" liegt auch diese objektive Beweislast grundsätzlich beim Kläger; dieser hat die Umstände zu beweisen, die die Rechtswidrigkeit der Verwaltungsentscheidung begründen. Dies gilt umso mehr, als die Verwaltungsakte die Vermutung der Rechtmäßigkeit für sich haben.44 Der Verwaltunf obliegt aber die Beweislast für Gegennormen und Rechtfertigungsgründe.4 Insofern besteht hier eine Beweislastverteilung, die derjenigen des deutschen Verwaltungsprozesses diametral entgegensteht.46 Interessanterweise folgt das französische Recht damit einer Beweislastverteilung, wie sie auch in der frühen Rechtsprechung des BVerwG vertreten worden ist.47 Bei der Beweiswürdigung stützt sich das Gericht in erster Linie auf die in den Gerichtsakten enthaltenen Dokumente,48 denen aufgrund des im französischen Verwaltungsprozeß geltenden Schriftlicb.keitsgrundsatzes ( caractere ecrit) eine besondere Bedeutung zukommt. Der Beweis kann sich aber ebenso auf Umstände stützen, die erst die Sachverhaltsaufklärung erbracht hat.49 Auch gelten nicht bestrittene Behauptungen des Klägers als zugestanden.50 VI. Zusammenfassung

Zur Frage des gerichtlichen Kontrollumfangs im Bezug auf den der Verwaltungsentscheidungzugrunde liegenden Sachverhalt (materialite des faits) kann zusammenfassend festgestellt werden, daß im recours pour exces de 44 Pacteau,

45 Pacteau,

46 Vgl.

Nr. 219, S. 199. Nr. 219, S. 199.

oben 2. Teil, C IV.

47

Vgl. BVerwGE 3, 245 (250); diese Rechtsprechung wurde aber wegen der Zufälligkeit der Verteilung der Parteistellung bereits frühzeitig in Zweifel gezogen (BVerwGE 7, 242 (250) und findet heute keine Anwendung mehr; vgl. z.B. Eyermannj Fröhler, § 86, Rdz. 5; Schunck/ de Clerck, § 86, Anm. 1 c) bb). 48 Vgl.

C.E. v. 20.01.1922, Trepont, Rec., 65 (66);Au!Jyj Drago, Band 2, Nr. 1280, S. 395.

49

C.E. v. 28.01.1948, Masson, Rec., 38,Au!Jy/ Drago, Band 2, Nr. 1280, S. 395.

50

C.E. v. 23.12.1966,lannes, Rec., 690 (691);Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1180, S. 395.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

125

pouvoir den Gerichten ebenso wie im Rahmen der deutschen Anfechtungsklage das Recht und die Pflicht zur eigenständigen Sachverhaltserforschung zusteht. Der Untersuchungsgrundsatz gilt hier ebenso wie im deutschen Verwaltungsprozeß. Auch im recours pour exces de pouvoir wird die richterliche Aufklärungspflicht durch die Mitwirkungspflichten der Parteien eingeschränkt. Im Gegensatz zum deutschen Recht werden aber an die Mitwirkungspflicht des Klägers deutlich höhere Anforderungen im Sinne einer Darlegungslast gestellt, die aus der Geltung des Grundsatzes "actori incumbit probatio" resultiert. Aufgrund der Geltung der Inquisitionsmaxime ist aber auch die Verwaltung zur Mitwirkung verpflichtet, indem sie ihre Entscheidung zu begründen und entscheidungserhebliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen hat. Die eigenständige Sachverhaltserforschung durch die Gerichte erfolgt deutlich zurückhaltender als im deutschen Recht. Maßgeblich hierfür ist in erster Linie die wesentlich stärker objektivierte Funktion des recours pour exces de pouvoir. Die Verteilung der objektiven Beweislast erfolgt im Gegensatz zum deutschen Verwaltungsprozeß nicht unter Zugrundelegung des Normgünstigkeitsprinzips; vielmehr trägt der Kläger grundsätzlich die Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, während die Behörde hinsichtlich des Vorliegens von Gegennormen und Rechtfertigungsgründen beweisbelastet ist. D. Die Kontrolle der rechtlichen Würdigung von Tatsachen

Im folgenden soll der Umfang der gerichtlichen Verwaltungskontrolle hinsichtlich der Tatsachenwürdigung, d.h. der Subsumtion der festgestellten Tatsachen sowie der sich hieran anschließenden Entscheidung, erörtert werden. Vorab ist hierzu zu bemerken, daß die französische Kontrollsystematik hier im Gegensatz zum deutschen Verwaltungsprozeß nicht in erster Linie von dem Gegensatz zwischen gebundenen Entscheidungen (competences liees) und Ermessensbefugnissen (pouvoir discrelionnaires) geprägt ist. 1

1 Vgl.

Schlette, S. 233.

126

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Wie bereits dargelegt, kommt der Ermessensverwaltung in Frankreich ein deutlich höherer Stellenwert zu als in Deutschland. Die competence liee stellt eher den Ausnahmefall dar, während Ermessensbefugnisse ausgehend von der historischen Entwicklung auch heute noch den Regelfall repräsentieren.2 Daher wird die Kontrolldichte in Frankreich unter dem Gesichtspunkt erörtert, in welchem Umfang die Gerichte im Rahmen ihrer Legalitätskontrolle befugt sind, die Verwaltungsentscheidung insbesondere im Bereich von Ermessensbefugnissen auf das Vorliegen von Aufhebunisgründen im Sinne der bereits dargestellten Systematik der Klagegründe zu überprüfen.4 Dieser Systematik soll im Verlauf der weiteren Untersuchung gefolgt werden; die Klage- und Aufhebungsgründe des recours pour exces de pouvoir sollen daraufhin erörtert werden, in welchem Umfang die Gerichte ihre Beachtung überprüfen dürfen. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der "erreur de fait", in deren Bereich der Staatsrat eine Differenzierung in formelle Kontrolldichtestandards entwickelt hat.

I. Die Kontrolle der Klagegründe der h!galite externe

Die Klagegründe der legalite externe (Unzuständigkeit, Form- und Verfahrensfehler) unterliegen sowohl im Bereich der gebundenen Verwaltung als auch bei Ermessensbefugnissen der umfassenden gerichtlichen Überprüfung.5 Unterschiede bestehen lediglich im Hinblick auf die Folgen des Vorliegenseiner der genannten Fehler. Die Unzuständigkeit ist im Bereich der gebundenen Entscheidung regelmäßig als "moyen inoperant"6 unbeachtlich; 7 dagegen führt sie bei Ermessensentscheidungen grundsätzlich zur Aufhebung.8

2

Vgl. oben 3. Teil, B III 3.

3

Vgl. oben 3. Teil, B II.

4

Vgl. Braibant/ Questiaux, S.

5

283 f.; Vedelf Delvotve, ßand 2, S. 336 ff.

Vgl. nur Vedelf Delvolve, Band 2, S. 336.

6 Vgl.

zu diesem Begriff bereits oben 3. Teil, ß II.

C.E. v. 26.05.1950, Dirat, Rec., 322 (322 f.); C.E. v. Aubyf Drago, Band 2, Nr. 1259, S. 374, Sclllette, S. 177. 8 Schlette, S. 177. 7

26.02.1971, Roze, Rec., 165 (166 f.);

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

127

Im Gegensatz hierzu erfolgt eine Annullierung wegen Form- und Verfahrensfehlern auch im Bezug auf Ermessensakte nur dann, wenn es sich um wesentliche Fehler (formalites substantielles) handelt.9 Diese Beschränkung ist aber insofern nur von bedingter Tragweite, als der Staatsrat die Wesentlichkeit immer dann bejaht, wenn das Gesetz dem Erfordernis eine bestimmte Bedeutung zumißt oder nicht auszuschließen ist, daß die Entscheidung bei Beachtung der Vorschrift anders ausgefallen wäre. 10 In neuerer Zeit ist eine Tendenz des Staatsrats festzustellen, den Formund Verfahrensvorschriften gerade im Bereich von Ermessensentscheidungen eine besondere Bedeutung beizumessen. Eine herausragende Rolle kommt hierbei, ebenso wie im deutschen Recht, der Begründungspflicht zu, deren effektive Erfüllung vom Staatsrat in zunehmendem Maße überprüft wird.U Die Einhaltung von Verfahrensvorschriften spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Zu erwähnen sind hier insbesondere der Anspruch des Bürgers auf Anhörung vor dem Erlaß belastender Maßnahmen ( droit de Ia defense) sowie die Beachtung von Beteiligungsrechten anderer Behörden.12 Aber auch die vom Staatsrat entwickelte Regel, daß die Verwaltung eine Ermessensentscheidung nur aufgrund sorgfältiger Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles treffen darf, 13 ("examen particulier des circonstances de l'affaire") wird teilweise unter dem Gesichtspunkt des Verfahrensfehlers geprüft. 14

9 C.E. v. 28.07.1905, Boitel de Dieuval, Rec. 690; Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1165, S. 301; Becker, S. 33; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (168); Rumpf JöR 1989, 217 (235); Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 303 f. 10 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1165, S. 301; 11 C.E. v. 18.12.1987, SalMe, Rec., 420 (420 f.); C.E. v. 13.01.1988, Albina, Rec., 5 (6); Schleue, S. 180. 12 Auby/ Fromont, S. 244; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (169); Vedelj Delvotve, Band 2,

s. 303. 13

Vgl. dazu Moreau, Nr. 102, S. 141; Schlelle, S. 194.

14

C.E. v. 24.01.1986, Centre interdepartmemal, RFDA 1987, 234; v. 18.03.1949, Societe des Etablissements Cote, Rec., 139 (140); vgl. auch Auby/ Fromont, S. 244; Schlelle, S. 178; regelmäßig qualifiziert der C.E. diese Fälle aber als "erreur dc droit", vgl. unten 3. Teil, D IV.

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

128

II. Die Kontrolle des Ermessensmißbrauchs (detournement de pouvoir)

Der Klagegrund des Ermessensmißbrauchs betrifft die Fälle, in denen die Verwaltung ihre Befugnisse bewußt und gewollt zu einem anderen Zweck als demjenigen verwendet, für den ihr diese Befugnis übertragen worden ist.15 Er unterteilt sich in drei Anwendungsfälle. Ein Ermessensmißbrauch liegt dann vor, wenn der Beamte mit der Entüberhaupt keine im öffentlichen Interesse liegenden Ziele verfolgt hat. 6 Er ist aber auch dann gegeben, wenn die Verwaltung zwar ein öffentliches Interesse verfolgt, dieses aber für die konkrete Entscheidung nicht zu berücksichtigen warY Der dritte Unterfall des Ermessensmißbrauchs ist der sogenannte Verfahrensmißbrauch (detournement de procedure), bei dem die Verwaltung von einem Verfahren in einem anderen Sinn und zu einem anderen Zweck als dem im Gesetz vorgesehenen Gebrauch macht. 18 scheidun~

Damit ist der Ermessensmißbrauch in allen seinen Fallgruppen gekennzeichnet durch eine Ausrichtung der Kontrolle an den "buts de l'acte", das heißt an den subjektiven Intentionen, die die Behörde zum Erlaß des Verwaltungaktes inspiriert haben. 19 Folglich kommt er als Aufhebungsgrund nur bei Ermessensentscheidungen zum Tragen; im Bereich der gebundenen Entscheidungen scheidet dagegen eine Annullierung wegen fehlerhafter Motivation bei Erlaß der Entscheidung als "moyen inoperant" grundsätzlich aus.20 Hinsichtlich dieser Beschränkung auf den Ermessensbereich ist somit eine Parallele zum Begriff des Ermessensfehlgebrauchs im Sinne des § 114 VwGO erkennbar. Unterschiede bestehen aber insofern, als der "detournement de pouvoir" sich ausschließlich auf die Kontrolle der inneren 15 C.E. v. 26.11.1875, Pariset, GA Nr. 4, 38; Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1295, S. 411; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (169); Vedelj Delvolve, Band 2, S. 323. 16 Becker, S. 36; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (169); Longj Weil, S. 39; Vedelj Delvotve, Band 2, S. 328. 17 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (169); Longj Weil, S. 40; Vedelj Delvolve, Band 2, S. 328. 18 Becker, S. 37; Longj Weil, S. 42; Schleue, S. 206; Vedelj Delvo/ve, Band 2, S. 332; vgl. zu Beispielen aus der Rechtsprechung für alle drei Anwendungsfälle Longj Weil, S. 39 ff. 19 Aubyj Fromont, S. 250; Vedelj Delvolve, Band 2, S. 323 f. 20 C.E. v. 13.07.1963, Meyer, Rec., 426 (427); v. 18.06.1965, Bellet, Rec., 370; C.E. v. 17.03.1976, Moreau, Rec., 1071; Rumpf JöR 1989, 217 (245); Sch/eue, S. 183 f.; Vedelj Delvotve, Band 2, S. 337.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

129

Motivation des handelnden Beamten bezieht und im Gegensatz zum Ermessensfehlgebrauch des deutschen Recht nicht auf objektive Kriterien zurückgreift, die sich aus dem Akt selbst oder aus anderen Indizien ergeben.21 Diese rein subjektive Orientierung des Ermessensmißbrauchs stellt den Kläger vor ganz erhebliche Beweisschwierigkeiten bei dem Nachweis des Vorliegens solcher innerer Tatsachen. Aus diesem Grund ist auch die praktische Bedeutung des Klagegrundes des Ermessensmißbrauchs im Gegensatz zum Ermessensfehlgebrauch des deutschen Rechts relativ gering. 22 Allerdings ist das Gericht immer zu einer Kontrolle von Ermessensentscheidungen auf das Vorliegen eines detournement de pouvoir befugt, sofern ein entsprechender Fehler vom Kläger qualifiziert gerügt wird.23 111. Die Kontrolle der "violation directe de Ia Ioi"

Im Rahmen des Klagegrundes der Rechtsverletzung (violation de Ia loi) soll zunächst die Kontrolle der Tatsachenwürdigung auf das Vorliegen einer "violation directe de Ia loi" untersucht werden. Wie bereits dargelegt, bezieht sich dieser Unterfall der Rechtsverletzung auf den Regelungsinhalt (objet) der Verwaltungsentscheidung; sie liegt dann vor, wenn dieser Inhalt dem geltenden Recht widerspricht. 24 Eine direkte Rechtsverletzung dieser Art kann in positiver Hinsicht darin bestehen, daß der Inhalt des Verwaltungsaktes gegen die anzuwendenden geschriebenen Normen bzw. gegen Richterrecht verstößt. 25 Dieser Fehler kann sich sowohl auf die gebundene Verwaltung als auch auf Ermessensentscheidungen beziehen; im Bezug auf die Ermessenskontrolle erfaßt er hierbei Fälle, die nach deutschem Rechtsverständnis unter den Begriff der Ermessensüberschreitung gefaßt werden. 26

21

Vgl. bereits Clever, S. 72 ff., 100 f.; vgl. auch Becker, S. 40.

22

Vgl. Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (169); Schlelle, S. 185 ff.; Vedel/ De/votve, Band 2,

23

Vgl. Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (9); Moreau, S. 141; Vedel/ De/volve, Band 2, S.

s. 325 f. 325 f. 24

Vgl. zur Systematik bereits oben 3. Teil, B II.

25 Becker,

S. 34; Vedel/ De/vo/ve, Band 2, S. 305. Schleue, S. 189; vgl. zu Fällen der Aufhebung von VeiWaltungsakten wegen einer "violation directe de Ia loi" Vedelf De/1'0/ve, Band 2, S. 306. 26

9 Rausch

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

130

Dagegen kann die negative Variante der direkten Rechtsverletzung schon begrifflich nur Fälle der gebundenen Verwaltung erfassen. Sie liegt vor, wenn die Verwaltun9 sich weigert, eine Norm anzuwenden, obwohl sie diese gebrauchen müßte.2 Angesichts der bereits erwähnten Seltenheit des Vorliegens gebundener Verwaltung im französischen Recht ist aber diese Variante der direkten Rechtsverletzung nur von untergeordneter Bedeutung.28 IV. Die Kontrolle der "erreur de droit"

Nunmehr soll auf die gerichtliche Kontrolle der "motifs"29 eingegangen werden, die ebenfalls einen Unterfall der Rechtsverletzung darstellt. Hierbei ist zunächst die Kontrolle der "motifs de droit", d.h. der einer Entscheidung zugrunde liegenden rechtlichen Gegebenheiten, im Rahmen der sogenannten "erreur de droit" zu erörtern. Diese erfaßt zunächst den Fall, daß die zum Erlaß der Entscheidung herangezogene Rechtsgrundlage inexistent oder unwirksam ist (sog. "defaut de base legale").30In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, daß dem Vorbehalt des Gesetzes im französischen Verwaltungsrecht eine geringere Bedeutung zukommt, als dies im deutschen Recht der Fall ist. Die "base legale" ist nicht auf formelle Gesetze beschränkt; sie kann vielmehr auch in einer Verordnung, in Richterrecht oder auch in einem Einzelakt bestehen.31 Auch für belastende Maßnahmen ist nicht in jedem Fall eine formellgesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich. 2 Ein Rechtsfehler im Sinne eines "defaut de base legale" liegt dann vor, wenn die Verwaltung einen bestehenden Gesetzesvorbehalt nicht beachtet hat bzw. sich dezidiert auf eine unwirksame oder inexistente Norm als Rechtsgrundlage ihrer Entscheidung beruft.33 Zweiter Anwendungsfall der "erreur de droit" ist die Zugrundelegung einer existierenden Rechtsnorm, die aber die Situation, auf die sie die Ver27 Degen,

Die VeiWaltung 1981, 157 (170); Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 306.

28 Schlette, 29

S. 189.

Vgl. zum Begriff oben 3. Teil, B II.

30 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1266, S. 382; Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (171); Schmitz, S. 175; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 309. 31 Auby/

Drago, Band 2, Nr. 1267, S. 383; Sch/eue, S. 190 f. Schlette, S. 191. 33 Schlette, S. 190 f. 32

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

131

waltung angewendet hat, nicht abdeckt (sog. "acte pris en dehors du champ d'application de Ia loi").34 Dieser Rechtswidrigkeilsgrund weist die Besonderheit auf, daß er als "moyen d'ordre public" von Amts wegen zu berücksichtigen ist.35 Wichtigster Rechtswidrigkeilsgrund im Rahmen der "erreur de droit" ist aber die fehlerhafte Auslegung einer Rechtsnorm (fausse interpretation de Ia loi).36 Dieser Fehler findet ebenso wie die vorgenannten Rechtswidrigkeilsgründe grundsätzlich Anwendung sowohl bei Ermessensentscheidungen als auch im Bereich der gebundenen Verwaltung.37 Einige Sonderfälle der "fausse interpretation" beziehen sich aber speziell auf die Ermessensverwaltung. Hierzu gehört der Fall, daß die Verwaltung irrtümlich vom Vorliegen einer gebundenen Entscheidung ausgeht, obwohl ihr ein Ermessensspielraum zusteht.38 Dies entspricht dem in Deutschland unter dem Begriff der Ermessensunterschreitung erörterten Ermessensfehler .39 Ein weiterer Fall ist der Grundsatz des "examen particulier des circonstances de l'affaire", der die Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles vorschreibt. Eine Verletzung dieser Regel wird vom Staatsrat im allgemeinen als "erreur de droit" qualifiziert.40 Dieser Grundsatz weist eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Begriff des "Heranziehungsdefizits" auf, der im deutschen Recht als Unterfall des Ermessensfehlgebrauchs eingeordnet wird.41 Allerdings stellt der Staatsrat an die Einhaltung dieser Re§el deutlich höhere Anforderungen im Hinblick auf den konkreten Fallbezug. 2

Drago, Band 2, Nr. 1264, S. 380; Schleue, S. 191. Drago, Band 2, Nr. 1264, S. 381; Schleue, S. 192. 36 Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1271, S. 387; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (171); Vedel/ Delvo/ve, Band 2, S. 307; vgl. auch die stets zitierten Entscheidungen C.E. v. 25.06.1948 und 14.10.1970, Societe d 'e.xploitation des Eaux et Thermes d'Enghien, Rec. 1948, 301, Rec. 1970, 580. 37 V gl. Schlette, S. 193. 38 Vgl. C.E. v. 18.04.1958, Guern, Rec., 214; v. 25.03.1987, Mme Eil, Rec., 105 (105 f.); Schlette, S. 193; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 307 f. 39 Vgl. Schleue, S. 193. 40 C.E. v. 24.07.1942, Piron, Rec., 233 (234); v. 04.05.1945, Le Her, Rec., 90; C.E. v. 06.12. 1974, Entreprise Pillard, Rec., 617; vgl. zum Begriff sowie zur Qualifizierung als Verfahrensfehler oben 3. Teil, D I. 41 Vgl. Schleue, S. 351 sowie oben 2. Teil, D III 3. 42 Vgl. insbesondere zum Verhältnis zum Grundsatz einer Selbstbindung der Verwaltung unten 3. Teil, D IV. 34 Auby/

35 Auby/

132

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Im Rahmen der "erreur de droit" erfolgt auch die Überprüfung von Ermessensentscheidungen auf eine Vereinbarkeil mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (principes gem!raux du droit).43 Wie bereits dargelegt, kommt diesen Prinzipien bedingt durch die historische Entwicklung und das Schweigen der Verfassung von 1958 die maßgebliche Rolle bei der gerichtlichen Kontrolle der Einhaltung insbesondere grundrechtlicher Gewährleistungen zu.44 Ein klassisches Beispiel für die Kontrolle von Ermessensentscheidungen auf die Beachtung allgemeiner Rechtsprinzipien ist der bereits erwähnte Fall Bare/.45 Angesichts der Nichtzulassung von Angehörigen der Kommunistischen Partei zur Aufnahmeprüfung der französischen Eliteschule E.NA. (Ecole nationale d'administration) wies der Staatsrat darauf hin, daß der zuständige Minister trotz des bestehenden erheblichen Ermessensspielraumes an das allgemeine Rechtsprinzip der Gleichheit des Zuganges aller Franzosen zum öffentlichen Dienst (principe de l'egalite de l'acces de tous les Fran!;ais aux emplois et fonctions publiques) hin. Dies verbiete die Nichtzulassung allein aufgrund der politischen Überzeugung des Kandidaten.46 Eine entsprechende Motivation sah der Staatsrat im vorliegenden Fall als gegeben an und hob die Entscheidung wegen Vorliegens einer "erreur de droit" auf.47 Dieser Fall verdeutlicht die Kontrolle des Verwaltungsermessens im Hinblick auf die Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze; er zeigt weiterhin die fundamentale Bedeutung der "principes generaux"; diese gewähren eine Effektivität des Rechtsschutzes, die im deutschen Recht über das geschriebene Verfassungsrecht gewährleistet wird.48 So könnte sich ein deutsches Verwaltungsgericht etwa in einem vergleichbaren Fall neben speziellen Regelungen des Beamtenrechts auf den speziellen Gleichheitssatz des Art. 33 II, 111 GG berufen, der den Zugang zum öffentlichen Dienst in vergleichbarer Weise garantiert.

43

Becker, S. 39 f.; Schlette, S. 197.

44

Vgl. oben 3. Teil, B I 1.

45

C.E. v. 28.05.1954, Bare/, Rec. 308; GA Nr. 90, S. 524 ff.

46

C.E. v. 28.05.1954, Bare/, Rec. 308 (309).

47

C.E. v. 28.05.1954, Bare/, Rec. 308 (309); vgl. auch Braibant, S. 240.

Vgl. bereits oben 3. Teil, B I 1.; bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß diese allgemeinen Rechtsgrundsätze in der französischen Literatur ebenso als "Schlußstein" bzw. "Krönung• des französischen Verwaltungsrechts bezeichnet werden, wie dies im deutschen Recht im Hinblick auf Art. 19 IV GG der Fall ist; vgl. Loschak, Röle politique, S. 85. 48

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

133

Gerade im Hinblick auf den Gleichheitssatz läßt sich im französischen Recht aber auch eine deutliche Einschränkung feststellen. Im Gegensatz zur Rechtslage in Deutschland ist ein sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ableitendes Prinzip der "Selbstbindung der Verwaltung" in Frankreich unbekannt.49 Dies hat seine Ursache in der weiten Ausdehnung der Regel des "examen particulier";50 der Gleichheitssatz (principe d'egalite) wird im französischen Verwaltungsrecht im Sinne eines grundsätzlichen Diskriminierungsverbotes verstanden, bei dem aber Diskriminierungen in weitem Umfang durch öffentliche Interessen gerechtfertigt sein können.51 Lediglich bei Verwaltungsrichtlinien im Bereich der ungebundenen Verwaltung, die zur verwaltungsinternen Festlegung der Ermessensausübung dienen (sog. "directives") hat der Staatsrat eine gewisse Bindung der Verwaltung anerkannt. In seiner Grundsatzentscheidung Credit Foneier de France52 hat er eine Selbstbindung der Verwaltung in der Weise bejaht, daß diese bei Abweichen von einer "directive" entsprechende Gründe des öffentlichen Wohls oder Besonderheiten des Einzelfalles zu benennen hat.53 Eine darüber hinausgehende Kontrolle erfolgt aber nicht; insbesondere der Erlaß einer "directive" ist nach wie vor in das freie Ermessen der Verwaltung gestellt.54 Insofern besteht eine "Selbstbindung" der Verwaltung nur in sehr beschränktem Umfang. In dieser Hinsicht besteht ein deutlicher Unterschied zum deutschen Recht, in dem diesem Institut eine wesentlich größere Bedeutung bei der Kontrolle von Ermessensentscheidungen zukommt.55 Abschließend ist noch anzumerken, daß das Vorliegen einer "erreur de droit" von den Gerichten in allen Fällen umfassend überprüft wird.56

49 Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (17); Pacteau Rec. Dalloz 1977, 552 (554); Schlette, S. 227; Wemer AJDA 1987, 435 (435). 50 Vgl. Lang/ Weil, S. 648; Schlette, S. 195 f. 51 Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 465 f.; Werner AJDA 1987, 435 (438). 52 V. 11.12.1970, Rec., 750; GA Nr. 106, S. 646. 53 C.E. v. 11.12.1970, Credit Foneier de France, Rec., 750 (751); GA Nr. 106, S. 646; vgl. auch Sch/eue" S. 239. 54 Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (16); vgl. auch Braibant, S. 231 f. 55 Vgl. bereits oben 2. Teil, D lll4. 56 Degen, Die Vetwaltung 1981, 157 (172); Lerche, Landesbericht Frankreich, 3 (9); Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 528.

134

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht V. Die Kontrolle der "erreur de fait"

Die bisher dargestellten Kontrollparameter im Rahmen des recours pour exces de pouvoir können von den Gerichten stets auf ihre Beachtung durch die Verwaltung überprüft werden, sofern eine entsprechende Rüge des Klägers vorliegt und sich nicht aus der Qualifizierung als gebundener Entscheidung oder Ermessensentscheidung etwas anderes ergibt. Abweichend hiervon ist die Frage von Umfang und Intensität der gerichtlichen Verwaltungskontrolle jedoch dann durchaus nicht einheitlich zu beantworten, wenn es sich um die Kontrolle der Tatsachenwürdigung im Rahmen der "erreur de fait" handelt, die systematisch ebenso wie die "materialite des faits" einen Unterfall der "motifs de fait" darstellt, die ihrerseits als Unterfall der Rechtsverletzung (violation de Ia loi) eingeordnet werden.57 Im Rahmen der Kontrolle der "erreur de fait" kennt das französische Verwaltungsrecht drei unterschiedliche formelle Kontrolldichtestandards; es unterscheidet zwischen Bereichen minimaler, normaler und maximaler Kontrolle (contröle minimum oder restreint, normal und maximum). Auf diese soll im folgenden eingegangen werden. 1. Die Minimolkontrolle (controle minimum)

Den weitestgehenden Einschränkungen unterliegt die Kontrolle der "erreur de fait" dann, wenn ein Fall des contröle minimumgegeben ist. a) Traditioneller Umfang des contröle minimum Der contröle minimum umfaßt nach traditioneller Rechtsprechung des Staatsrats neben den bereits dargestellten Rechtswidrigkeilsgründen eine Überprüfung der "erreur de fait" nur im Hinblick auf die sogenannte "materialite des faits", d.h. auf die Richtigkeit der einer Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachengrundlage.58

57

Vgl. zur Systematik oben 3. Teil, B Il. Die Verwaltung 1981, 157 (172); de Laubadere, Band 1, Nr. 738, S. 452; Lerche, Landesbericht Frankreich, 3 (9); Moreau, Nr. 102, S. 141; Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 528, Band 2, S. 336 f. 58 Degen,

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

135

Dagegen erfaßt die Minimalkontrolle weder die Subsumtion des Sachverhaltes unter die tatbestandliehen Voraussetzungen (sog. "qualification juridique des faits"), noch überprüft sie, ob die von der Behörde im Hinblick auf die konkrete Sachlage getroffene Entscheidung ausreichend angepaßt und daher richtig war (adequation de Ia decision aux faits).59 Insofern findet eine Kontrolle der eigentlichen Tatsachenwürdigung nicht statt. Der contröle minimumfindet grundsätzlich dann Anwendung, wenn eine Verwaltungsentscheidung gesteigerte technische oder wissenschaftliche Fachkompetenz erfordert oder aber einen spezifisch politischen Inhalt hat.60 Hierzu zählen zum einen die bereits erwähnten Fälle, in denen das Gericht einen Kenntnisvorsprung der Verwaltung in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht anerkennt und aus diesem Grund seine richterliche Kontrolle einschränkt.61 Beispiele für Verwaltungsentscheidungen mit spezifisch politischem Inhalt finden sich insbesondere im Bereich der sogenannten "mesures de baute police", d.h. im Ausländerpolizeirecht, im Grenzpolizeirecht (Paßverweigerung) sowie bei ausländischen Veröffentlichungen.62 Hier weigert sich der Staatsrat beispielsweise, die Qualifizierung eines Sachverhaltes als Gefahr für die öffentliche Ordnung ( danger pour !'ordre public) zu überprüfen. 63 In den Bereich der contröle minimum fallen weiterhin die Beurteilung der fachlichen Eignung (aptitude professionelle) eines Beamten sowie die Gleichwertigkeit ( equivalence) zweier Dienstposten.64

59 Vgl. de Laubadere, Band 1, Nr. 739, S. 453; Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 313 ff., Band 2, S. 337; vgl. auch Genevois, Schlußanträge zu C.E. v. 09.06.1978, Lebon, Rec., 574 mit Nachweisen zur traditionellen Rechtsprechung. 60 Mosset, Schlußanträge zu C.E. v. 05.12.1956, Thibault, Rec. Dalloz 1957, 21 (22); Debbasch, Band 2, S. 629; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (172); de Laubadere, Band I, Nr. 738, S. 451; Lerche, Landesbericht Frankreich, I (11). 61 Vgl. bereits oben 3. Teil, B III 4.; vgl. auch dort zu den Gegensätzen zum deutschen Recht. 62 Mosset, Schlußanträge zu C.E. v. 05.12.1956, Thibault, Rec. Dalloz 1957, 21 (22); Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1281, S. 396; Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (172); de Laubadere, Band I, Nr. 738, S. 451; Long/ Weil, S. 175; Vedelj Delvolve, Band 2, S. 315. 63 C.E. v. 13.06.1952, Meyer, Rec., 312 (313), Ausweisung von Ausländern; v. 21.11.1952, Marcon, Rec., 525 (526), Einreise; v. 02.11.1973 und 30.11.1980, Societe Librairie Maspero, Rec. 1952, 611 (612) und Rec. 1980, 53 (54), ausländische Veröffentlichungen; weitere Nachweise bei Long/ Weil, S. 175. 64 C.E. v. 27.11.1970, Anisset, Rec., 717 (717); v. 27.04.1051, Melamede, Rec., 226 (227); Schielte, S. 212.

136

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Damit steht der Verwaltung im Bereich der Tatsachenwürdigung in Fällen der Minimalkontrolle ein sehr weitgehendes Ermessen sowohl bei der Subsumtion auf der Tatbestandsseite als auch im Bereich des Eingriffs- und Auswahlermessens auf der Rechtsfolgenseite zu.65 b) Einschränkung des Ermessens durch die "erreur manifeste" Diese sehr weitgehende Entscheidungsfreiheit der Verwaltung im Bereich des contröle minimum ist aber durch die vom Staatsrat entwickelte Rechtsfigur des offensichtlichen Beurteilungsfehlers ( erreur manifeste d'appreciation) einer deutlichen Einschränkung unterworfen worden. Die Entwicklung der "erreur manifeste" nahm ihren Ausgang im wesentlichen zu Beginn der sechziger Jahre;66 sie entwickelte sich zunächst in der Weise, daß der Staatsrat die Befugnis der Verwaltungsgerichte begründete, in den Fällen, in denen dem Richter eine Kontrolle der "qualification des faits" versagt war, diese dennoch eingeschränkt auf das Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums hin zu überprüfen.67 Diese "Spielart" des offensichtlichen Beurteilungsfehlers ist seit 1973 endgültig anerkannt.68 Daneben hat der Staatsrat seit 1978 aber die Kontrolle einer "erreur manifeste" auch auf die Rechtsfolgenseite hin ausgedehnt, wenn dem Gericht eine Kontrolle der Richtigkeit der im konkreten Fall getroffenen Entscheidung grundsätzlich verwehrt ist.69 Beide Kriterien werden heute vom Staatsrat in ständiger Rechtsprechung verwendet. 70

65 Lerche,

Landesbericht Frankreich, 1 (9).

66

Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 318. 67 C.E. v. 13.11.1953, Denizet, Rec., 489; C.E. v. 15.02.1961, Lagrange, Rec., 121 (122); vgl. auch Lagasse, Nr. 120 f., S. 192 ff.; Vedel/ Delvolve, Band 1, S. 319; Schleue, S. 274, bezeichnet dies als "erreur manifeste de qualification". 68 C.E. v. 02.11.1973, Societe Anonyme «Librairie Fram;ois Maspero», Rec., 611 (612); Lerche, Landesbe richt Frankreich, 1 (9 f.). (JJ C.E. v. 09.06.1978, Lebon, Rec., 245 (246) sowie Genevois, Schlußanträge, AJDA 1978, 573 (575 f.); C.E. v. 26.07.1978, Vinolay, Rec., 315 (316); de Laubadere, Band 1, Nr. 740, S. 454; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (10); Schleue, S. 274, bezeichnet diesen Fall als "erreur manifeste d'adequation".

70 Vgl. die Nachweise bei Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 319; vgl. auch Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1282, S. 399; Lagasse, Nr. 131, S. 219; Nr. 233, S. 392 f.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

137

Uneinigkeit besteht aber nach wie vor darüber, was unter einem "offensichtlichen Fehler" im Sinne der Rechtsprechung zu verstehen ist. Die französische Rechtslehre definiert die "erreur manifeste" überwiegend sehr eng; ein solcher Fehler soll dann vorliegen, wenn die Fehleinschätzung der Behörde so schwerwiegend ist, daß sie auch einem durchschnittlichen Bürger auf den ersten Blick ins Auge springt.71 Diese Orientierung des Offensichtlichkeitsbegriffes an einer Evidenzkontrolle, die zusätzlich noch ein Schwerekriterium beinhaltet, entspricht aber nicht der Ausprägung, die der Staatsrat der "erreur manifeste" gegeben hat. Zwar hat dieser in einer Reihe von Urteilen einen offensichtlichen Irrtum in Fällen bejaht, die auch nach der dargestellten Auffassung als "erreur manifeste" anzusehen wären. 72 Er begrenzt aber das Vorliegen einer "erreur manifeste" nicht auf solche krassen Fehler. Vielmehr stellt er hieran deutlich geringere Anforderungen.73 Dies zeigt sich daran, daß er das Vorliegen eines offensichtlichen Fehlers nicht auf die Fälle beschränkt, in denen ein entsprechender Fehler auf den ersten Blick erkennbar ist. Vielmehr gelangt er häufig erst nach eingehenden Untersuchungen des konkreten Falles zur Bejahung eines solchen offensichtlichen Fehlers, wobei er teilweise trotz der üblichen lakonischen Kürze seiner Urteile74 sogar auf die Einzelumstände des Falles und die erhobenen Beweise ausdrücklich eingeht.75 Auch die Regierungskommissare 71 Baudoin, Schlußanträge zu C.E. v. 06.11.1970, Guye , RDP 1971, 517 (524); Braibant, Schlußanträge zu C.E. v. 13.11.1970, Lambert, AJDA 1971, 35; ders., S. 240; ähnlich Genevois, Schlußanträge zu C.E. v. 09.06.1978, Lebon, Rec., AJDA 1978, 573 (576); Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1283, S. 401; de Laubadere, Band 1, Nr. 740, S. 453. 72 Vgl. C.E. v. 05.02.1975, Pardov, Rec., 83; (Ausweisung eines Ausländers ohne Vorliegen eines Grundes); v. 22.11.1985, Doucet, Rec., 331 (Entlassung eines Polizisten wegen Erteilung der Erlaubnis an seine Untergebenen, bei Vorbeizug einer Demonstration das "kepi" abzunehmen; weitere Nachweise bei Schleue, S. 286. 73 Bourgois, S. 235; Fromont, Festschrift Menger, 887 (893); Pasbecq, RDP 1980, 803 (834); Schlette, S. 287. 74 Vgl. dazu bereits Everling WuW 1989, 877 (885). 75 C.E. v. 17.01.1979, Ben Abdesslam, RDP 1979, 1766; v. 19.10.1979, Association pour Ia sauvegarde du pays de Rhuys, Rec., 379 (380); v. 19.10.1986, Societe Smanor, Rec., 260 (262); 28.09.1987, Laurent, Rec. 565 f.; Bourgois, S. 237; Lagasse, Nr. 271, S. 449; Nr. 310, S. 508, Fn. 48; Schlette, S. 288 f., beide m.w.N.

138

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

machen regelmäßig detaillierte Ausführungen zur Frage des Vorliegens einer "erreur manifeste".76 Der Staatsrat nimmt teilweise auch dann einen offensichtlichen Fehler an, wenn die Vorinstanz bzw. die Regierungskommissare einen solchen verneint haben.77 Diese Vorgehensweise zeigt, daß der Staatsrat nicht von dem engen Offensichtlichkeitsbegriff der Literatur ausgeht. Er beschränkt die "erreur manifeste" nicht auf prima facie "ins Auge springende" Fehlbeurteilungen, sondern erweitert diesen Begriff auch auf Fehler, die sich erst im Rahmen einer gründlichen Prüfung erkennen lassen.78 Mit der Systematik des recours pour exces de pouvoir schwerlich zu vereinbaren ist aber der hieraus teilweise gezogene Schluß, der Staatsrat stütze sich folglich allein auf ein nicht allzu eng verstandenes Schwerekriterium.79 Wie bereits dargelegt, ist der recours pour exces de pouvoir als Verfahren zur objektiven Rechtskontrolle ausgelegt; er sanktioniert im Gegensatz zur deutschen Anfechtungsklage nicht nur Fälle der Verletzung subjektiver Rechte, sondern nimmt eine umfassende Überprüfung der "legalite generale" vor. 80 Damit läßt sich aber eine Ausrichtung der gerichtlichen Kontrolle an der Schwere des Fehlers der Verwaltung nicht vereinbaren. Das Offensichtlichkeitskriterium ist vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung zu interpretieren; die Gerichte sollen sich nicht an die Stelle der Verwaltung setzen, sondern sich angesichts bestehender Ermessensspielräume auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit beschränken. Hierzu gehört nach französischem Rechtsverständnis gerade im Bereich des contröle minimum auch die Anerkennung eines Kenntnisvorsprungs der Verwaltung.

76 Vgl. trotzihrer anderslautenden Begriffsbestimmung Baudoin, Schlußanträge zu C.E. v. 06.11.1970, Guye , RDP 1971, 517 (525 ff.); Braiballl, Schlußanträge zu C.E. v. 13.11.1970, Lambert, AJDA 1971, 33 (35); Genevois, Schlußanträge zu C.E. v. 09.06.1978, Lebon, Rec., AJDA 1978,573 (575 f.); vgl. auch Vught, Schlußanträge zu C.E. v. 29.03.1968, Societe du lotissement de Pampelonne, RDP 1969, 320 (331). 77 C.E. v. 17.04.1985, Societe Les Mitions des Archers, Rec., 100; C.E. v. 26.05.1986, S.A. Charvo, RFDA 1987, 117. 78 Schielte, S. 289. 79 So Schleue, S. 289. 80 Vgl. oben 3. Teil, B I 3.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

139

Ausgehend hiervon kann ein Verstoß der Verwaltung gegen das Legalitätsprinzip nur dort vorliegen, wo sich auch ohne gesteigerte Sachkenntnis erkennen läßt, daß die Entscheidung über die Schwelle des ihr eingeräumten Ermessensspielraumes hinausgeht. Hierbei sind sowohl die Schwere des Fehlers als auch dessen Erkennbarkeil auf den ersten Blick ohne Belang. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Beurteilung so eindeutig außerhalb des Normalen liegt, daß sie sich als willkürlich ( arbitraire) erweist.81 c) Zusammenfassung Insgesamt läßt sich die Kontrolle der "erreur de fait" im Rahmen der Minimalkontrolle in der Weise charakterisieren, daß die Gerichte zur Kontrolle der Richtigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen (materialite des faits) befugt sind. Der im Rahmen dieser Prüfung verbleibende besonders weite Ermessensspielraum sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite wird regelmäßig durch die Kontrolle desVorliegenseiner "erreur manifeste" eingegrenzt. Eine solche liegt vor, wenn die Verwaltung bei ihrer Beurteilung der Tatsachenlage die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens so eindeutig überschritten hat, daß die Bewertung sich auch ohne gesteigerten Sachverstand als willkürlich darstellt. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß der Staatsrat in Einzelfällen auf die Überprüfung der "erreur manifeste" im Bereich des "contröle minimum" nach wie vor verzichtet.82 Hier zeigt sich erneut das bereits im Rahmen der Untersuchungspflicht83 angesprochene Phänomen, daß den Gerichten nach französischem Verständnis eine weitgehende Entscheidungsfreiheit hinsichtlich Art und Umfang der gerichtlichen Kontrolle zukommt, die deutliche Ansätze eines echten Ermessens trägt und zu einer sehr flexiblen Vorgehensweise gerade im Bereich der formellen Kontrolldichtestandards führt. 84 81 In diesem Sinne auch Vedelj Delvolve, Band 2, S. 320; vgl. auch Grote NVwZ 1986, 269 (274). 82 Schleue, S. 294; Vedelj Delvo/ve, Band 2, S. 318. &3 Vgl. oben 3. Teil, C IV. 84 Vgl. Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (9); Schielte, S. 290; vgl. auch bereits die unterschiedliche Einordnung des "examen particulier" oben 3. Teil, D I und IV.

140

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

2. Die Normalkontrolle (controle normal)

Die von den Gerichten im Normalfall vorgenommene Überprüfung der Verwaltungsentscheidung beschränkt sich nicht auf die Kontrolle der "materialite des faits". Sie erfaßt darüber hinaus auch die sogenannte "qualification des faits", d.h. die Subsumtion des Sachverhalts unter die tatbestandliehen Voraussetzungen (conditions legales).85 Zu beachten ist hierbei, daß die tatbestandliehen Voraussetzungen nicht ausschließlich vom Gesetzgeber vorgegeben werden. Die Gerichte nehmen hierauf ebenfalls in maßgeblicher Weise Einfluß, indem sie zum einen unbestimmte Rechtsbegriffe präzisieren und zum anderen eigene "conditions legales" richterrechtlich "entdecken".86 Ausgangspunkt dieses "normalen Kontrollstandards" war die Entscheidung Gomel.87 Bis zu dieser Entscheidung war das französische Verwaltungsrecht von der Auffassung geprägt, die Würdigung von Tatsachen im Wege der Subsumtion sei eine Tatsachenfrage und werde daher von der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gerichte grundsätzlich nicht erfaßt.88 Insofern bestand hier dieselbe Ausgangssituation wie im Bezug auf die "materialite des faits". 89 Im Fall Gomel hatte der Staatsrat nunmehr zu entscheiden, ob eine Baugenehmigung am Pariser Place Beauveau zu Recht versagt worden war, weil das Bauvorhaben eine sogenannte "perspective monumentale"90 beeinträchtige, was nach den einschlägigen Städteplanerischen Vorschriften eine Verweigerung rechtfertigte. Sowohl die Frage des Vorliegens einer solchen "perspective monumentale" als auch die Feststellung der Beeinträchtigung derselben erforderten aber eine Subsumtion des Sachverhalts unter diese Begriffe im Sinne einer "qualification des faits". 91 Abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung stellte der Staatsrat fest, daß ihm die Überprüfung beider Fragen zukomme. Er verneinte im 85 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (173); L erche, Landesbericht Frankreich, 1 (11); Vedel/ Delvotve, Band 2, S. 314 f. 86 Vgl. Auby/ Drago, Band 2, Nr. 1287 ff., S. 405 f. m.N. aus der Rechtsprechung sowie Fromont, Gerichtsschutz, S. 255. lfl C.E. v. 04.04.1914, GA Nr. 32, S. 170 ff. 88 Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 310; vgl. auch Long/ Weil, S. 171. ~ Vgl. oben 3. Teil, CI. 90 Mit diesem Begriff ist ein spezielles, von Baudenkmälern geprägtes Ortsbild gemeint, vgl. Schiette, S. 209. 91 Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 311.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

141

folgenden das Vorliegen einer "perspective monumentale" und hob die Versagung der Baugenehmigung auf.92 In der Folgezeit weitete der Staatsrat die Kontrolle der "qualification des faits" auf immer mehr Bereiche aus; 93 sie gehört heute zum üblicherweise von den Gerichten verwendeten Kontrollstandard; hieraus erklärt sich auch die Bezeichnung als "contröle normal".94 Eine Eingrenzung des Anwendungsbereichs nach Fallgruppen ist nicht möglich; dem "contröle normal" unterliegen vielmehr alle diejenigen Fälle, die weder dem "contröle minimum" noch dem "contröle maximum" zugeordnet werden können. Auch im Bereich der Normalkontrolle bleibt dem Gericht aber grundsätzlich die Kontrolle der Frage entzogen, ob die Entscheidung in ihrer konkreten Ausformung nach Umfang und Schwere gerechtfertigt war. 95 Diese auf der Rechtsfolgenseite angesiedelte Frage ist hier ebenso wie im Bereich der contröle minimum nur auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler hin überprüfbar.96 Insgesamt läßt sich aber im Bereich der Normalkontrolle bereits eine im Vergleich zur contröle minimum deutlich erweiterte Kontrolldichte feststellen, die sich insbesondere auf der Tatbestandsseite auswirkt. 3. Die Maximalkontrolle (controle maximum)

In einigen Sachgebieten geht die Rechtsprechung über die normale Kontrolldichte hinaus, indem sie neben der "materialite des faits" und der "qualification des faits" auch die Angemessenheil der getroffenen Entscheidung im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls in die Nachprüfung einbezieht. Diese Erweiterung der gerichtlichen Kontrolle auf der Rechtsfolgenseite vollzieht sich in zwei unterschiedlichen Vorgehensweisen. Der Staatsrat hat zum einen in seiner traditionellen Rechtsprechung eine über das Normal92 93

314.

Vgl. C.E. v. 04.04.1914, Gomel, GA Nr. 32, 170 (170). Vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Longf Weil, S. 172; Vedelf Delvolve, Band 2, S.

94 Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 315; vgl. auch Schleue, S. 210 mit detaillierter AufschlüsseJung der Rechtsprechungspraxis, S. 211 ff. 95 Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (173). 96 Lagasse, Nr. 233, S. 392 f.; Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (11); Schlette, S. 294 f.; wohl auch Vedelf Delvotve, Band 2, S. 318 f.

142

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

maß hinausgehende "contröle maximum" begründet, indem er die sogenannte "adequation de Ia decision aux faits" überprüft. Eine zweite Variante der Maximalkontrolle resultiert aus der in der neueren Rechtsprechung entwickelten Rechtsfigur der Bilanzkontrolle (contröle du bilan). a) Die Kontrolle der "adequation de Ia decision aux faits" Die Möglichkeit einer über die Normalkontrolle hinausgehenden Prüfung der Angemessenheil einer Entscheidung im Hinblick auf die zugrunde liegenden Tatsachen ("adequation de Ia decision aux faits") wurde vom Staatsrat erstmals in dem Urteil Benjamin 91 ausdrücklich festgestellt. In diesem Fall hatte er über das Verbot einer Versammlung zu befinden, das der Bürgermeister von Nevers erlassen hatte, weil er Störungen der öffentlichen Ordnung befürchtete. Der Staatsrat führte hierzu aus, der Bürgermeister habe seine Befugnisse zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mit der Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit in Einklang zu bringen.Im vorliegenden Fall seien keine derart schweren Gefahren für die öffentliche Ordnung zu besorgen gewesen, daß deren Aufrechterhaltung nicht auch mit milderen Maßnahmen ohne ein Versammlungsverbot möglich gewesen wäre. Er hob daher das Verbot auf.98 Diese grundlegende Entscheidung zur Kontrolle der "adequation de Ia decision aux faits" zeigt gleichzeitig den wichtigsten Anwendungsfall der so erweiterten gerichtlichen Kontrolle auf. Sie wird in erster Linie dort verwendet, wo intensiv in Grundrechte (libertes publiques) eingegriffen wird und sich daher die Frage nach einem Interessenausgleich zwischen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnun.f und den betroffenen Grundrechtspositionen in besonderem Maße stellt.9 Die Kontrolle der "adequation de Ia decision aux faits" ist vom Staatsrat nach dem Urteil Benjamin nach und nach auf den gesamten Bereich des Polizeirechts ausgedehnt wordenYJO Heute kann die allgemeine Aussage getroffen werden, daß Eingriffe in die "libertes publiques" im Bereich des 97

C.E. v. 19.05.1933, Rec., 541; GA Nr. 52, S. 286 ff.

98

C.E. v. 19.05.1933, Benjamin, Rec. GA Nr. 562, S. 286 ff. Degen, Die Verwaltung 1981, 157 (173); Long/ Weil, S.290; Vedel/ Delvolve, Band 2, S.

99

316.

100

Vgl. die Nachweise bei Long/ Weil, S. 289 ff.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

143

Polizeirechts nur dann zulässig sind, wenn sie sowohl notwendig als auch angemessen sind;101 Eine angemessene Entscheidung in diesem Sinne liegt vor, wenn sie unter Berücksichtigung der konkreten Umstände und der widerstreitenden Interessen von "liberte" und "ordre public" in der vorliegenden Form getroffen werden durfte. 102 Die von den Gerichten ausgeübte Kontrolle entspricht damit weitgehend der Verhältnismäßigkeitskontrolle des deutschen Rechts. 103 Unter Umständen ermöglicht sie durch den dargestellten konkreten Bezu~auf den jeweiligen Einzelfall sogar eine inhaltlich weitergehende Prüfung. Eine Systematisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Sinne der deutschen Differenzierung in Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist dagegen nicht erkennbar. 105 Im übrigen kann darauf hingewiesen werden, daß die dargestellte Kontrolle der Notwendigkeit und Angemessenheit einen typischen Fall darstellt, in dem die "opportunite" einer Maßnahme Bestandteil der legalite ist. 106 b) Die Bilanzkontrolle (contröle du bilan) In seiner neueren Rechtsprechung hat der Staatsrat eine weitere Möglichkeit einer erweiterten gerichtlichen Kontrolle in Form der sogenannten "contröle du bilan" entwickelt. Diese Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung ist gekennzeichnet durch eine Abwä§ung der Vor- und Nachteile einer Maßnahme in Form einer Bilanzierung.1 7 Ausgangspunkt und wichtigster Anwendungsbereich der Bilanzierungsrechtsprechung ist das Enteignungsrecht Ein Enteignungsbeschluß (declaration d'utilite publique) setzt voraus, daß die Enteignung tatsächlich der "utilite publique", d.h. der Gemeinnüt101

Degen, Die VeiWaltung 1981, 157 (173); Schlette, S. 220. Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 312, 315 f. 103 Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (12 f.); auch Langavant/ Rouault, S. 240 bezeichnen diese Kontrolle ausdrücklich als •contröle de Ia proportionnalite". 102

104

Vgl. Schlette, S. 221. Schlette, S. 220 f.; Schmitz, S. 243. 106 Vgl. Schlette, S. 222 sowie oben 3. Teil, b III 2. 107 Schlette, S. 300; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 317. 105

144

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

zigkeit dient. In seiner früheren Rechtsprechung beschränkte sich der Staatsrat darauf, das Vorliegen der Gemeinnützigkeit einer Enteignungsmaßnahme zu überprüfen; lag ein Projekt (etwa der Bau einer Autobahn oder eines Flughafens) im Interesse der Allgemeinheit, so bejahte er die Rechtmäßigkeit der Enteignungsmaßnahme, ohne daß auf die konkreten Umstände des Einzelfalles weiter eingegangen wurde.108 Diese Kontrollpraxis führte zu einer Verringerung der Effektivität der gerichtlichen Kontrolle, zumal der Begriff der "utilite publique" zunehmend extensiv ausgelegt wurde und gleichzeitig die Durchführung von Enteignungsmaßnahmen deutlich zunahm. 109 Vor diesem Hintergrund hatte der Staatsrat den Fall Vi/le Nouve/le Est110 zu entscheiden, in dem es um die Klage von Grundstückseigentümern gegen Enteignungsbeschlüsse ging, die erlassen worden waren, um die Errichtung eines neuen Stadtteils am östlichen Stadtrand von Lilie zu ermöglichen. Er begnügte sich in seiner Entscheidung nicht wie in den vorhergehenden Fällen mit der abstrakten Prüfung, ob die Errichtung dieses Stadtteils im Interesse der Allgemeinheit liege. Vielmehr stellte er klar, daß eine Maßnahme nur dann rechtmäßig als gemeinnützig angesehen werden kann, wenn die mit ihr verbundenen Beeinträchtigungen des Privateigentums, die finanziellen Kosten und eventuelle soziale Nachteile im Verfleich zu den Vorteilen, die sie bietet, nicht als übermäßig erscheinen.U Ein solches Überwiegen der Nachteile wurde aber im konkreten Fall verneint. Die erste Aufhebung eines Enteignungsbeschlusses wegen Verstoßes gegen den Bilanzierungsgrundsatz erfolgte im Urteil Societe civi/e Sainte-Marie de l'Assomption. 112 In dieser Entscheidung erweiterte der Staatsrat auch die im Rahmen der Bilanzierung zu berücksichtigenden Nachteile durch die Einbeziehung der "Beeinträchtigung sonstiger öffentlicher Belange".113 108 Vgl. C.E. v. 30.06.1961, Graupemem de defense des riverains de Ia raute de l'interieur, Rec., 452 (453); v. 13.05.1964, Malby et Bedauet, Rec., AJDA 1965, 35 (35); Lang/ Weil, S. 660f. 109 Vgl. Lang/ Weil, S. 661; Sch/eue, S. 301 ff. 110

C.E. v. 28.05.1971, Ville Nauvelle Est, Rec., GA Nr. 107, S. 657 ff.; Rec. 409.

"Cons. qu'une Operation ne peut eire legalement declaree d'utilite publique que Si )es atteintes a Ia propriete privee, le cout financier et eventuellement les inconvenients d'ordre social qu'elle comporte ne sont pas excessifs eu egard l'interet qu'elle presente•; C.E. v. 28. 05.1971, Ville Nouvelle Est, Rec., GA Nr. 107, S. 657 (659). 111

a

112

C.E. v. 20.10.1972, Rec., 657 ff.

113 • •••

ou l'atteinte

a d'autres interets publics..."; C.E. V. 20.10.1972, Societe civile Sainte-

Marie de I'Assamption, Rec., 657 (658).

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

145

Untersucht man den materiellen Gehalt der so definierten richterlichen Kontrolle, so lassen sich hier ebenso wie im Bereich der "adequation de Ia decision aux faits" deutliche Parallelen zum deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, insbesondere in seiner engeren Ausprägung als angemessene Mittel-Zweck - Relation, feststellen.ll 4 Dieser Eindruck verstärkt sich noch angesichts der Tatsache, daß der Staatsrat eine Enteignung auch dann für unzulässig hält, wenn das Vorhaben auf Grundstücken des Staates bzw. der Gemeinde hätte verwirklicht werden können.U5 Damit hat er auch hier ein Kriterium der Erforderlichkeil geschaffen.ll6 Diese Verhältnismäßigkeilskontrolle ist aber in doppelter Hinsicht eingeschränkt. Zum einen liegt eine Rechtswidrigkeit nur bei deutlichem Überwiegen der Nachteile ("atteintes excessives") vor; dies führt zu einer entsprechend restriktiven Beurteilung der Unverhältnismäßigkeil einer Maßnahme durch den Staatsrat.117 Zum anderen bezieht dieser seine Verhältnismäßigkeitsprüfung grundsätzlich nur auf die konkret vorgelegte raumplanerische Situation; die eventuell bestehende objektiv bessere Eignung eines Alternativgrundstückes zur Verwirklichung des Raumordnungsprojektes ist der gerichtlichen Kontrolle entzogen. 118 Insofern führt die "controle du bilan" zu einer deutlich geringeren Einschränkung des Verwaltungsermessens, als dies im Bereich der "adequation de Ia decision aux faits" der Fall ist. Hinzuweisen ist noch darauf, daß die Bilanzkontrolle sich in der heutigen Rechtsprechung nicht mehr ausschließlich auf das Enteignungsrecht bezieht, wennileich dieses nach wie vor seinen wichtigsten Anwendungsbereich darstellt. 19 Der Staatsrat hat seine Rechtsprechung vielmehr auf zwei weitere Anwendungsbereiche ausgedehnt. Sie wird zum einen im Bereich der Städteplanung angewendet, wenn es um die Befreiung von baurechtliehen Vor114 Vgl. Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (13 f.); Vedelf De/vo/ve, Band 2, S. 317 spricht ebenfalls von einem "principe de proportionnalite"; vgl. auch Braibant, S. 241, de Laubadere, Band 1, Nr. 741, S. 455. 115

121.

Vgl. C.E. v. 16.04.1980, Moliar et Meyer, Rec., 756 (756 f.); v. 03.04.1987, Metayer, Rec.,

116 Lerche,

Landesbericht Frankreich, 1 (14); Schlette, S. 310.

117 Lerche,

Landesbericht Frankreich, 1 (13 f.); Sc:hlette, S. 320 ff.

C.E. v. 13.12.1978, Syndicat intercommunal de distribution d'eau de Ia Corniehe des Maures, Rec., 506 (507); Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (14); Schlette, S. 308 f. 118 119

Vgl. zu Nachweisen aus der Rechtsprechung Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 317.

10 Rausch

146

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

schriften (derogation) geht. 120 Ein weiterer Anwendungsfall der Bilanzierungsrechtsprechung findet sich im Arbeitsrecht, wenn es um die Zustimmung der Verwaltungsbehörde121 zur Entlassung besonders geschützter Arbeitnehmer (salaries proteges) 122 geht. 123 Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß eine über den Bereich der Normalkontrolle hinausgehende Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen nur in begrenzten Ausnahmebereichen erfolgt. Sie findet dort Anwendung, wo in besonderem Maße in Freiheit und Eigentum des Einzelnen eingegriffen wird. 124 In diesen Fällen findet eine der deutschen Verhältnismäßigkeitskontrolle deutlich angenäherte Überprüfung des Verwaltungsaktes statt. Eine besonders intensive Variante der Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt durch die "contröle de l' adequation de Ia decision aux faits"; diese findet vornehmlich im Polizeirecht Anwendung. Eine Verhältnismäßigkeitskontrolle in Form einer Bilanzierung der Vor und Nachteile einer Maßnahme durch die sogenannte "contröle du bilan" findet in erster Linie im Enteignungsrecht statt; die hier vorgenommene Überprüfung ist allerdings von geringerer Intensität als die Kontrolle der "adequation aux faits". Insgesamt zeigt sich an den Anwendungsbereichen der "contröle maximum", daß der recours pour exces de pouvoir zwar in erster Linie der objektiven Rechtskontrolle dient, aber durchaus auch Elemente eines subjektiven Individualrechtsschutzes aufweist, indem gerade bei Eingriffen in besonders geschützte Rechtspositionen eine über das Normalmaß hinausgehende richterliche Kontrolle erfolgt. VI. Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung • Zusammenfassung und Vergleich

Faßt man die Untersuchungen zur Kontrolle der Tatsachenwürdigung im recours pour exces de pouvoir zusammen, so ist zunächst auf einen im Ver120 C.E. v. 18.07.1973, Ville de Limoges, Rec., 530 (531); de Laubadere, Nr. 741, S. 455; Vedel/ Delvolve, Band 2, S. 317. 121 Genauer des Arbeitsinspektors (inspecteur du travail).

122 Hierunter fallen Betriebsratsmitglieder, Gewerkschafts- und andere Belegschaftsvertreter, vgl. Schleue, S. 314 f. 123 C.E. v. 05.05.1976, SA.F.R. d'Auvergne c. Berneue, Rec., 232; GA Nr. 109, 679 (680). 124 So auch ausdrücklich de Laubadere, Band 1, Nr. 738; S. 452.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

147

gleich zum deutschen Recht bestehenden strukturellen Unterschied hinzuweisen. Der deutsche Verwaltungsprozeß orientiert sich bei der Kontrolle der Tatsachenwürdigung maßgeblich an dem Gegensatz zwischen gebundener Verwaltung und Fällen, in denen der Verwaltung ein Ermessens- bzw. in Ausnahmefällen auch ein Beurteilungsspielraum normativ eröffnet worden ist. Dagegen geht das französische Verwaltungsrecht von dem historisch begründeten Grundsatz der Ermessensfreiheit der Verwaltung aus, wobei ein solches Ermessen unterschiedslos auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite bestehen kann. Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung beurteilt sich folglich danach, in welchem Umfang der Richter des recours pour exces de pouvoir befugt ist, im Rahmen seiner Legalitätskontrolle die Entscheidungsfreiheit der Verwaltung einzuschränken. Hierbei orientiert sich das französische Recht an der differenzierten Einteilung der Rechtswidrigkeilsgründe im Rahmen der Klagegründe des recours pour exces dc pouvoir. Analysiert man vor diesem Hintergrund die Kontrolle der Tatsachenwürdigung in materieller Hinsicht, d.h. im Hinblick auf die Klagegründe der "legalite interne", so finden sich hier eine Reihe von Fehlern, die einer gerichtlichen Überprüfung stets zugänglich sind, soweit sich nicht aus der Bindung an die konkreten Klagegründe etwas anderes ergibt. Hierzu gehören der Klagegrund des Ermessensmißbrauchs (detournement de pouvoir) sowie aus dem Bereich des Klagegrundes der violation de Ia loi die Rechtswidrigkeilsgründe der "violation directe de Ia loi" und der "erreur de droit". Die hierbei erfolgende inhaltliche Kontrolle weist einen Umfang auf, der in vielen Aspekten der Kontrolldichte im deutschen Verwaltungsprozeß, insbesondere im Bereich der Ermessenskontrolle, entspricht. So kennt auch der recours pour exd:s de pouvoir die Kontrolle der Ermessensüberschreitung und des Ermessensnichtgebrauchs. Die Figur des Ermessensfehlgebrauchs wegen sachfremder Erwägungen findet im Grundsatz seine Entsprechung im Begriff des "dctournement de pouvoir"; allerdings ist der Ermessensmißbrauch des recours pour exces de pouvoir durch seine ausschließlich subjektive Ausrichtung inhaltlich stärker eingeschränkt als sein deutsches "Pendant" und aufgrund der bestehenden Beweisschwierigkeiten auch von sehr viel geringerer praktischer Bedeutung. Dagegen findet der Ermessensfehlgebrauch in Form des "Heranziehungsdefizits" eine wesentlich effektivere Ausprägung in dem Grundsatz des "examen particulier des circonstances de l'affaire".

148

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Die Kontrolle des Verwaltungsermessens im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit Grundrechten und sonstigen allgemeinen Verfassungsgrundsätzen findet im recours pour exces de pouvoir keine direkte Entsprechung. Das insoweit bestehende Kontrolldefizit wird aber dadurch im Grundsatz kompensiert, daß die Gerichte die Einhaltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze (principes generaux de droit) überprüfen, die im französischen Verwaltungsrecht eine Schutzfunktion übernehmen, die im deutschen Recht dem geschriebenen Verfassungsrecht und insbesondere den Grundrechten zukommt. Von diesem im Grundsatz vergleichbaren Schutzumfang sind aber zwei wesentliche Ausnahmen zu erwähnen. Zum einen kennt das französische Verwaltungsrecht keinen allgemein anwendbaren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der jede Ermessensausübung begrenzt. Zum zweiten ist auch ein aus dem allgemeinen Gleichheitssatz hergeleiteter Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung grundsätzlich unbekannt. Eine solche Rechtsfigur wird vom Staatsrat nur in sehr eingeschränkter Weise im Bereich ermessensleitender Verwaltungsvorschriften (directives) anerkannt. Im Hinblick auf diese beiden im deutschen Recht besonders wichtigen Kontrollparameter besteht daher ein deutliches Defizit im Rahmen des recours pour exces de pouvoir. Im Gegensatz zu diesen bei allen Verwaltungsentscheidungen überprüfbaren Rechtswidrigkeilsgründen bestehen deutliche Unterschiede bezüglich Umfang und Intensität der gerichtlichen Verwaltungskontrolle im Bereich des Rechtswidrigkeilsgrundes der "erreur de fait". Hier kommt die Differenzierung in die formellen Kontrolldichtestandards der "contröle minimum", der "contröle normal" und der "contröle maximum" zum Tragen. Die weitestgehende Entscheidungsfreiheit der Verwaltung besteht im Bereich der Minimalkontrolle; hier ist die eigentliche Tatsachenbewertung der richterlichen Kontrolle grundsätzlich entzogen; der Richter überprüft nur die Richtigkeit der zugrunde gelegten Tatsachengrundlage (materialite des faits). Das insoweit bestehende Ermessen der Verwaltung sowohl im Hinblick auf die Subsumtion des Sachverhalts unter die tatbestandliehen Voraussetzungen als auch bezüglich der im konkreten Fall zu treffenden Entscheidung ist aber vom Staatsrat durch die Rechtsfigur des offensichtlichen Beurteilungsfehlers (erreur manifeste d'appreciation) deutlich emgeschränkt worden. Eine solche "erreur manifeste" liegt dann vor, wenn die Verwaltung bei ihrer Beurteilung der Tatsachenlage die Grenzen des ihr eingeräumten Er-

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

149

messens so eindeutig überschritten hat, daß die Bewertung sich auch ohne gesteigerten Sachverstand als willkürlich darstellt. Der so verstandene Begriff der "erreur manifeste" weist von seiner Konzeption her eine deutliche Ähnlichkeit zu dem Maß inhaltlicher Kontrolle auf, das die deutsche Verwaltungsrechtsprechu~ den Gerichten angesichts bestehender Beurteilungsspielräume zugesteht. 1 Nicht zu übersehen ist auch eine Affinität zum Begriff des Ermessensfehlgebrauchs, der seine Grundlage ebenfalls im Willkürverbot hat; die deutliche Ausrichtung an dem allgemeinen Gleichheitssatz ist jedoch der erreur manifeste im Gegensatz zum Ermessensfehlgebrauch fremd. Auffällig ist, daß sich die sachlichen Anwendungsbereiche der Minimalkontrolle sehr deutlich von den Fällen unterscheiden, in denen das BVerwG ausnahmsweise das Vorliegen eines Beurteilungsspielraumes anerkennt. Nur vereinzelt finden sich Übereinstimmungen, wie etwa bei der Beurteilung von Beamten.126 Dagegen unterfällt beispielsweise die Beurteilung des Vorliegens jugendgefährdender Schriften nach französischem Verständnis der "contröle normal", 127 wo~egen die deutschen Gerichte hier einen Beurteilungsspielraum bejahen. 12 Andererseits ist die Gewährung eines Beurteilungsspielraumes etwa im Bereich des Ausländerrechts dem deutschen Recht fremd. Diese Inkongruenz dürfte im wesentlichen darin begründet liegen, daß maßgeblicher Gesichtspunkt für die Zuordnung einer Maßnahme zum Bereich der "contröle minimum" nicht wie im deutschen Recht eine entsprechende Intention des Gesetzgebers ist. Vielmehr orientiert sich die gerichtliche Kontrolle in erster Linie an dem streng angewendeten Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Die Gerichte nehmen ihre Kontrolle dort besonders weit zurück, wo der Verwaltung besondere technische bzw. wissenschaftliche Fachkompetenz zukommt oder die Entscheidung einen nach französischem Verständnis besonders hohen Grad an politischer Prägung aufweist (z.B. bei den "mesures de baute police").

125 Vgl. bereits Fromont DVBI. 1978, 89 (93); ebenso Schlette, S. 352, der allerdings den Begriff der "erreur manifeste" etwas anders versteht; vgl. oben 3. Teil, D V I b). 126 V gl. oben 2. Teil, D II 4 b ). 127 Vgl. C.E. v. 05.12.1956, Thibault, Rec., 463; Lerche, Landesbericht Frankreich, I (12). 128 Vgl. oben 2. Teil, D II 4 c).

150

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

Im Gegensatz zu dieser Minimalkontrolle erfolgt die gerichtliche Verwaltungskontrolle im Regelfall der "contröle normal" in weitergehender Weise. Hier prüft der Richter auch die "qualification des faits", d.h. die Subsumtion des Sachverhalts unter die tatbestandliehen Voraussetzungen. Dagegen verbleibt es hinsichtlich der Kontrolle der Richtigkeit der zu treffenden Entscheidung bei der Beschränkung auf offensichtliche Fehler. In Einzelbereichen geht die gerichtliche Prüfung über dieses Maß der Normalkontrolle hinaus. Dies ist in der Regel dort der Fall, wo die Verwaltungsentscheidung in besonderem Maße in Freiheit und Eigentum der Betroffenen eingreift. Vorrangige Anwendungsbereiche dieser Maximalkontrolle sind das Polizeirecht und das Enteignungsrecht. Hier wird die Verwaltungsentscheidung auch auf die Richtigkeit der getroffenen Maßnahme überprüft, indem das Gericht diese einer Kontrolle der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit in engerem Sinne unterzieht. Diese Verhältnismäßigkeilskontrolle vollzieht sich unter Anwendungzweier unterschiedlicher Rechtsfiguren, die insbesondere in der Intensität ihrer Kontrolle deutlich voneinander abweichen. Im Bereich des Polizeirechts führt das Gericht eine Prüfung der "adequation de Ia decision aux faits" durch. Diese erstreckt sich neben der Kontrolle der Erforderlichkeil darauf, ob die Entscheidung angemessen war, d.h. ob sie in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen von "ordre public" und "liberte" in der vorliegenden Form getroffen werden durfte. Die damit verbundene Verhältnismäßigkeitsprüfung entspricht inhaltlich weitgehend ihrem deutschen Gegenstück; in ihrem konkreten Fallbezug geht sie wohl sogar noch über die Anforderungen des deutschen Übermaßverbotes hinaus. Die zweite Variante einer weitergehenden Prüfung ist die "contröle du bilan". Sie findet ihren Hauptanwendungsbereich im Enteignungsrecht und beinhaltet neben einem Notwendigkeilserfordernis eine Abwägung der Vorund Nachteile einer Maßnahme in Form einer Bilanzierung. Die Tragweite dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist aber dadurch begrenzt, daß die Gerichte ihre Kontrolle ausschließlich auf die konkrete Maßnahme beziehen und eine Aufhebung nur dann vornahmen, wenn die Bilanzierung einen eindeutig negativen Saldo aufwies. Aus diesen Gründen bleibt die mit der Bilanzkontrolle durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung deutlich hinter der "contröle de l'adequation de Ia decision aux faits" zurück.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung

151

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Kontrolle von Tatsachenwürdigungen im Hinblick auf ihre materielle Rechtmäßigkeit im Rahmen des recours pour exces de pouvoir in vielen Aspekten der Kontrolle im Bereich der Anfechtungsklage entspricht, aber in zwei wesentlichen Punkten hinter der Kontrolldichte im deutschen Recht zurückbleibt. Hier ist zum einen das Fehlen eines allgemeinen Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung zu nennen; zum andern ist auf die nur in Einzelbereichen durchgeführte Verhältnismäßigkeitskontrolle hinzuweisen, die darüber hinaus nur im Falle der "adequation de Ia decision aux faits" eine der deutschen Kontrolldichte vergleichbare Intensität aufweist. Angesichts der insoweit bestehenden weitreichenden Entscheidungsfreiräume der Verwaltung stellt sich hier erst recht die Frage der Kompensation dieses "materiellen Prüfungsdefizits" durch formelle Kontrollparameter. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß einem Großteil der Rechtswidrigkeilsgründe der legalite externe bereits dadurch eine besondere Bedeutung zukommt, daß sie als "moyens d'ordre public" von dem Grundsatz der Bindung an die Klagegründe ausgenommen sind und somit auch ohne eine entsprechende Rüge des Klägers von Amts wegen zu prüfen sind. Eine besondere Bedeutung kommt den Form- und Verfahrensfehlern (vice de forme et de procedure) zu; zu erwähnen sind hier insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie die für belastende Verwaltungsakte geltende allgemeine Begründungspflicht In der neueren Rechtsprechung des Staatsrats findet sich im übrigen ebenso wie im deutschen Verwaltungsprozeß eine Tendenz, die Einhaltung von Form- und Verfahrensvorschriften gerade dann einer besonders intensiven gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, wenn diese in materieller Hinsicht besonders schwach ausgeprägt ist. Untersucht man die Einhaltung der dargestellten Systematik gerichtlicher Kontrolle im Bereich der Tatsachenwürdigung in der Praxis, so ist festzustellen, daß der Staatsrat die dargestellten Grundsätze nicht in allen Fällen stringent anwendet. Er läßt vielmehr eine große Flexibilität bei der richterlichen Nachprüfung insbesondere im Bereich der "erreur de fait" erkennen.129 So prüft er auch im Bereich der "contröle minimum" das Vorliegen einer "erreur manifeste" nicht in allen Fällen nach; auch die Intensität der Kontrolle auf offensichtliche Beurteilungsfehler ist durchaus nicht immer

152

3. Teil: Kontrollumfang im französischen Recht

einheitlich. Im übrigen kommt dem Staatsrat auch insoweit eine Kompetenz zur Bestimmung des einschlägigen Standards zu, als er zur richterrechtlichen Entwicklung von tatbestandliehen Voraussetzungen (conditions legales) befugt ist und damit selbst Fälle der "contröle normal" schaffen kann. Der dem Richter insgesamt nach französischem Rechtsverständnis zukommende weitgehende Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Vorgehensweise bei der gerichtlichen Verwaltungskontrolle trägt deutliche Züge eines "richterlichen Ermessens". 130 Sie dürfte im wesentlichen auf die historische Entwicklung der Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen im französischen Recht zurückzuführen sein. Angesichts weitergehender legislativer Defizite kam der Judikative die maßgebliche Rolle bei der Eingrenzung der Ermessensfreiheit der Verwaltung durch die Entwicklung richterrechtlicher Grundsätze zu. Diese Ausweitung der richterlichen Befugnisse über den eigentlichen Rechtsprechungsbereich hinaus führt aber zwangsläufig auch zu einer Erweiterung der Entscheidungsfreiheit insofern, als das Gericht die normativen Vorgaben seiner richterlichen Tätigkeit selbst setzt. Eine in dieser Weise erweiterte richterliche Kompetenz ist dem deutschen Verwaltungsrecht fremd; sie entbindet aber auch den französischen Verwaltungsrichter nicht von der Beachtung der von ihm selbst geschaffenen normativen Vorgaben. Insofern wäre eine stringentere Ausrichtung der Verwaltungsrechtsprechung an den dargestellten Grundsätzen der richterlichen Kontrolle insbesondere im Bereich der Kontrolle der Tatsachenwürdigung wünschenswert.

129 So Lerche, Landesbericht Frankreich, 1 (12); besonders kritisch hierzu auch Fromont, Gerichtsschutz, S. 256 mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 130

Vgl. hierzu sowie allgemein Guedon AJDA 1978, 82 (86 f.).

4. Teil

Der Kontrollumfang im Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Im folgenden soll auf Umfang und Grenzen der richterlichen Nachprüfung des Kommissionshandeins durch den Gerichtshof im Rahmen der Nichtigkeitsklage des Art. 173 EWGV eingegangen werden. A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

Zunächst ist zu untersuchen, inwieweit sich bereits aus den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts allgemeine Vorgaben und Grenzen für die richterliche Kontrolle des Kommissionshandeins ergeben. I. Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

In einem ersten Schritt soll festgestellt werden, welche allgemeinen Rahmenvorgaben das Gemeinschaftsrecht enthält; hierbei stellt sich ebenso wie in den nationalen Rechtsmdnungen die Frage, ob die Nichtigkeitsklage vorrangig die Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit bezweckt oder aber der Durchsetzung subjektiver Rechte gegenüber der Gemeinschaft dient. 1. Objektive Rechtmäßigkeitskontrolle

a) Art. 164 EWGV Eine erste allgemeine Aussage zur gerichtlichen Kontrolle findet sich in Art. 164 EWGV. Danach sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechtes bei der Auslegung und Anwendung des EWG-Vertrages. Entsprechende Formulierungen enthalten Art. 31 EGKSV und Art. 136 EAGV. Dieser Auftrag zur Rechtskontrolle ist Ausdruck des der Gemeinschaft als Grundprinzip zugrunde liegenden Rechtsstaatsprinzips.1

154

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Aus dieser Berechtigung und Verpflichtung des Gerichtshofs zur Rechtskontrolle wird teilweise bereits auf den Charakter der Nichtigkeitsklage als einer im wesentlichen objektiven Klage geschlossen.2 Dagegen ist jedoch zu sagen, daß der Wortlaut des Art. 164 EWGV nicht die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Klagen ausschließt, die der Durchsetzung subjektiver Rechte gegen die Gemeinschaft dienen. Daß solche subjektiven Klagen unter die vom Gerichtshof ausgeübte Rechtskontrolle fallen, zeigt sieb bereits an der durch Art. 178 EWGV eingeräumten Zuständigkeit für Schadensersatzklagen nach Art. 215 li EWGV.3 Die allgemeine Aufgabenzuweisung des Art. 164 EWGV trifft daher noch keine Aussage über die Reichweite der Kontrollbefugnisse des Gerichtshofes; diese ergibt sich erst aus den Bestimmungen über die Klagearten sowie aus etwaigen Regelungen in den materiellen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts.4 Auch der Gerichtshof hat in einer Entscheidung zum EGKSV klargestellt, daß seine Kontrollbefugnisse nicht aus der allgemeinen Aufgabenzuweisung (in diesem Fall Art. 31 EGKSV), sondern aus den einschlägigen Bestimmungen über die Klagearten (im vorliegenden Fall Art. 38 EGKSV) herzuleiten sind.5 Aus diesen Gründeo ist auch bei der gerichtlichen Kontrolle des Kommissionshandelns auf diese Vorschriften zurückzugreifen.

1 Brown/ Jacobs, S. 323; Grabitz NJW 1989, 1TI6 (1TI8); Waelbroek, Art. 164, S. 1; vgl. auch Urt. v. 23.04. 1986, RS 294/83, Les Verts, Slg. 1986, 1339 (1364 f.), Rdz. 21 f.; Urt. v. 22.05.1990, RS C-70/88, Parlament/ Rat, Slg. 1990-1, 2041 (2072 f.), Rdz. 22 f. sowie allgemein zum Rechtsstaatsprinzip Urt. v. 13.02.1979, RS 101/78, Granaria, Slg. 1979, 623 (637), Rdz. 5; vgl. auch Bleckmann, Festschrift Kutscher, 25 (28); Zuleeg, in: v.d. Groeben, Art. 1, Rdz. 47. 2 Fromont, Rechtsschutz, S. 205. 3

Vgl. dazu Koch, S. 218. Brown/ Jacobs, S. 15; Herdegenf Richter, 209 (209 f.); Kovar, RevMC 1974, 345 (357); Waelbroek, Art. 164, S. 6 f. 5 Urt. v. 17.02.19TI, RS 66/76, CFDTjRat, Slg. 1977, 305 (309 f.), Rdz. 4/ 7 ff; vgl. auch Wyattj Dashwood, S. 109. 4

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

155

b) Art. 173 EWGV Die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Kommission ist in Art. 173 EWGV geregelt. Nach Art. 173 I 1 EWGV überwacht der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit des Handeins der Kommission. Gemäß Art. 173 I 2, II EWGV ist er zu diesem Zweck zuständig für Klagen, die wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhoben werden. Ist die Klage begründet, so erklärt der Gerichtshof die angefochtene Handlung gern. Art. 174 I EWGV für nichtig. Voraussetzung für die Begründetheil einer Klage ist somit das tatsächliche Vorliegen eines der geltend gemachten Klagegründe. Im Gegensatz zur Regelung des § 113 I 1 VwGO ist es dagegen nicht erforderlich, daß der Kläger durch den angegriffenen Akt in eigenen Rechten verletzt ist.6 Entscheidendes Kriterium für die Begründetheil einer Nichtigkeitsklage ist somit die objektive Rechtswidrigkeit des angegriffenen Aktes; insofern weist die gerichtliche Kontrolle unter Art. 173 EWGV ebenso wie der französische recours pour exces de pouvoir7 die charakteristischen Züge eines Verfahrens auf, das eine objektive Rechtmäßigkeilskontrolle zum Gegenstand hat.8 Der objektive Charakter wird aber auch durch die Zulässigkeilsanforderungen des Art. 173 EWGV bestätigt. Dies zeigt sich besonders deutlich im Bezug auf die Regelung der Klagebefugnis von Mitgliedsstaaten, Rat und Kommission in Art. 173 I 2 EWGV. Die Klage eines dieser Gemeinschaftsorgane ist ohne Nachweis eines irgendwie gearteten Interesses zulässig; die Verletzung subjektiver Rechte ist auch für die Zulässigkeil der Klage in keiner Weise erforderlich.9 Für die Klage natürlicher oder juristischer Personen ist demgegenüber insoweit ein subjektives Element von Bedeutung, als diese nach Art. 173 II 6 Bleckmann, Rdz. 546; Junker, S. 234; Mertens de Wilmars, Festschrift Kutscher, 283 (285); Nicolaysen, in: Stober, § 20, S. 364 f.

Vgl. oben 3. Teil, BI 3. Rechtsschutz, S. 205; Waelbroek, Art. 173, S. 85 f. 9 Vgl. hienu auch Constantinesco, S. 851; Koch, S. 220. 7

8 Fromont,

156

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

EWGV eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit durch den angegriffenen Rechtsakt dartun müssen. Ebenso wie im recours pour exces de pouvoir10 ist dieses subjektive Erfordernis aber nur relevant im Bereich der Zulässigkeit; es dient der Einschränkung des Klägerkreises zur Vermeidun~ einer Popularklage, nicht dagegen der Durchsetzung subjektiver Rechte.1 Die hierauf beschränkte Funktion wird auch dadurch verdeutlicht, daß die Begründetheilsprüfung bei Klagen natürlicher und juristischer Personen gern. Art. 173 II EWGV "unter den gleichen Voraussetzungen" erfolgt wie bei Klagen der Gemeinschaftsorgane. Im übrigen weist das Kriterium der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit des Art. 173 II EWGV auch eine deutlich geringere subjektive Ausprägung auf, als dies im Rahmen der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO der Fall ist. Dies zeigt sich bereits daran, daß eine Einbeziehung des Klägers in den Schutzbereich der verletzten Norm im Gegensatz zum deutschen Recht keine Voraussetzung für die Bejahung der Klagebefugnis im Sinne des Art. 173 II ist.12 Aus diesen Gründen ist davon auszugehen, daß die Nichtigkeitsklage des Art. 173 EWGV ebenso wie ihr französisches Vorbild als Klage ausgestaltet ist, die der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle dient.B Somit ergibt sich aus Art. 164 i.V.m. Art. 173 EWGV die Verpflichtung des Gerichtshofs zur Kontrolle des Kommissionshandeins auf dessen objektive Rechtmäßigkeit

2. Subjektiver Individualrechtsschutz Im EWGV findet sich dagegen keine dem Art. 19 IV GG entsprechende Gewährleistung des subjektiven Individualrechtsschutzes. Das Fehlen einer entsprechenden Vorgabe hat aber nicht notwendig eine Verkürzung individueller Rechtspositionen zur Folge; ebenso wie im französischen Verwaltungsprozeß ist auch hier darauf hinzuweisen, daß die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle regelmäßig auch dem Schutz individueller

10

Vgl. oben 3. Teil, BI 3 sowie Constaminesco, S. 851, Koch, S. 219 f. Constanlinesco, S. 851; Koch, S. 220. 12 Junker, S. 234. 13 So auch Bleckmann, Rdz. 543, 546; Fromont, Rechtsschutz, S. 205.

11

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

157

Rechtspositionen dient; dies gilt insbesondere dann, wenn die Anforderungen an die Klageerhebung vergleichsweise gering sind.14 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß auch in einem an der objektiven Rechtskontrolle orientierten Klageverfahren subjektive Rechtspositionen insofern von Bedeutung sind, als sie über Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze Eingang in die gerichtliche Überprüfung fmden. Dieses bereits im recours pour exces de pouvoir dargestellte Phänomen15 ist auch im Gemeinschaftsrecht festzustellen. Auch der Gerichtshof hat in Entsprechung zur Vorgehensweise des Staatsrats angesichts fehlender allgemeiner Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ein ganzes Netz allgemeiner Rechtsgrundsätze entwickelt, die neben rechtsstaatliehen Grundsätzen vor allem grundrechtliche Rechtspositionen garantieren16 und bei der gerichtlichen Kontrolle Berücksichtigung fmdenP Diese rechtsschöpferische Tätigkeit des Gerichtshofs hat ihre Rechtfertigung in dessen Pflicht zur Auslegung und Anwendung des Vertrages gemäß Art. 164 EWGV und fmdet ihre Grundlage in den Sach- und Rechtsstrukturen des Vertragssystems.18 Den so geschaffenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen kommt ebenso wie den "principes generaux du droit" des französischen Verwaltungsrechts19 die Aufgabe der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes zu, wie er im deutschen Recht durch das geschriebene Verfassungsrecht garantiert wird.20 Dies gilt im Gemeinschaftsrecht umso mehr, als sich die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze insbesondere im Bereich der Grundrechte als in wesentlichem Maße von deutscher Rechtsvorstellungen beeinflußt zeigt.21

Vgl. oben 3. Teil, BI 3. oben 3. Teil, D IV; 3. Teil, D V 3 b). 16 Vgl. Urt. v. 12.11.1969, RS 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419 (425), Rdz. 7; Urt. v. 17.12.1970, RS 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 (1135), Rdz. 4; Urt. v. 14.05.1974, RS 4/73, Nold, Slg. 1974, 491 (507), Rdz. 13; Everling DVBI. 1983, 649 (652); ders., NVwZ 1987, 1 (8); Schwarze EuLRev 1991, 3 (4 ff.); ders., Zeitschrift für Verwaltung 1993, 1 (2 ff.); Schweitzerf Hummer, S. 198 ff.; vgl. insbesondere auch die zusammenfassende Darstellung bei Grabitz NJW 1989, 1776 (1779) sowie zum Grundrechtsschutz inderneueren Rechtsprechung des Gerichtshofs auch Everling EuR 1990, 195 (207 ff.). 14

15 Vgl.

17 Mertens

de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (8 ff.); vgl. hierzu auch im 4. Teil,§ 4 II 5.

NVwZ 1987, 1 (8); Grabitz NJW 1989, 1776 (1778). Vgl. bereits oben 3. Teil, BI I sowie Schwarze EuLRev 1991, 3 (5). 20 Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (170 ff.); Hailbronner JuS 1990,439 (443). 21 Vgl. Everling NVwZ 1987, 1 (8); Ipsen, in: der Europäische Gerichtshof, 29 (37). 18 Everling

19

158

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Insofern kann auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts nicht von der fehlenden Garantie des Individualrechtsschutzes im EWGV auf einen unzureichenden Schutz individueller Rechtspositionen geschlossen werden. Der Gerichtshof hat im Gegenteil das Erfordernis der Gewährleistung umfassenden Rechtsschutzes gerade in den Fällen betont, in denen Individualrechtspositionen wie etwa das Recht auf freien Zugang zur Beschäftiguni2 oder der GleichbehandlungsgrundsatC3 betroffen waren. 24 Hier muß eine effektive gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts bereits durch die nationalen Gerichte sichergestellt werden. 25 Aber auch gerade für das Verfahren vor dem Gerichtshof wird die Notwendigkeit der Gewährung umfassenden und effektiven Rechtsschutzes betont. Diese beruht zum einen auf der rechtsstaatliehen Verpflichtung des Gerichtshofs, über die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung zu wachen und damit das institutionelle Gleichgewicht aufrecht zu erhalten.26 Der Gerichtshof betont aber darüber hinaus auch, daß gerade die Notwendigkeit des Schutzes natürlicher und juristischer Personen gegen Handlungen, die diese nicht gern. Art. 173 II EWGV anfechten können, ein umfassendes Rechtsschutzsystem erforderlich macheP Ausfluß dieses Gebots vollständigen Rechtsschutzes sind beispielsweise die vom Gerichtshof über den Wortlaut des Art. 173 EWGV hinaus geschaffene Möglichkeit einer direkten Klage auch gegen Handlungen des Parlaments28 sowie die Einräumung einer (wenn auch eingeschränkten) Aktivlegitimation des Parlaments.29 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß zwar eine dem Art. 19 IV GG entsprechende Gewährleistung des subjektiven Individualrechtsschutzes im EWGV fehlt. Dies wird aber vom Gerichtshof dadurch Urt. v. 15.10.1987, RS 222/86, UNECTEF/ Heylens, Slg. 1987,4097 ff. Urt. v. 15.05.1986, RS 222/84,lohnston, Slg. 1986, 1651 ff. 24 Vgl. dazu auch Schwane, Zeitschrift für Verwaltung 1993, 1 (5 f.). 22 23

25 Urt. v. 15.05.1986, RS 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651 (1682 f.), Rdz. 18 ff.; Urt. v. 15. 10.1987, RS 222/86, UNECTEF/ Heylens, Slg. 1987, 4097 (4117 f.), Rdz. 14 ff. 26 Urt. v. 23.04.1986, RS 294/83, Les Veru, Slg. 1986, 1339 (1364 f.) , Rdz. 22; Urt. v. 22.05. 1990, RS C-70/88, Parlament/ Rat, Slg. 1990-1, 2041 (2072 f.), Rdz. 21 ff. Tl Urt. v. 23.04.1986, RS 294/83, Les Veru, Slg. 1986, 1339 (1365), Rdz. 23. 28 Urt. v. 23.04.1986, RS 294/83, Les Veru, Slg. 1986, 1339 (1364 ff.), Rdz. 20 ff. 29 Urt. v. 22.05.1990, RS C-70/88, Parlament/ Rat, Slg. 1990-1, 2041 (2071 ff.), Rdz. 11 ff.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

159

kompensiert, daß er das Erfordernis des Schutzes individueller Rechtspositionen zum Anlaß nimmt, dem Gebot effektiven Rechtsschutzes besonderen Nachdruck zu verleihen. 3. Art. 6 EMRK

Fraglich ist, ob sich allgemeine gemeinschaftsrechtliche Vorgaben hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle von Kommissionsentscheidungen aus dem in Art. 6 I EMRK verbürgten Recht auf einen Richter herleiten lassen. Der Gerichtshof hat zwar die Überprüfung nationalen Rechts am Maßstab der EMRK abgelehnt. 30 Er hat aber klargestellt, daß die Konvention als Anknüpfungspunkt für einen ungeschriebenen Standard mitgliedsstaatlieber Grundrechte dient, der für die Konkretisierung ungeschriebener Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts von besonderer Bedeutung ist.31 In der Folgezeit hat er dann auf die EMRK als Prüfungsmaßstab zurückgegriffen.32 Allerdings ist nach wie vor unklar, ob die EMRK in ihrem konkreten Normbestand zu berücksichtigen ist oder aber nur Leitlinien für die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze enthält.33 Der Gerichtshof bat hierzu lediglieb ausgeführt, daß die leitenden Grundsätze der EMRK im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien.34 In der Gemeinschaft könnten keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden, die mit der Beachtung der durch die EMRK

30 Urt. v. 11.07.1985, verb. RS 60 u. 61/84, Cinetlleque, Slg. 1985, 2605 (2627), Rdz. 26; Urt. v. 30.09.1987, RS 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719 (3754), Rdz. 28; Urt. v. 18.06.1991, RS C. 260/89, ERT, Slg. 1990-1, 2925 (2964), Rdz. 42; Beutler, in: v.d. Groeben, Grundrechtsschutz, Rdz. 49; Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 168 (170). 31 Vgl. bereits Urt. v. 14.05.1974, RS 4/73, Nold, Slg. 1974,491 (507), Rdz. 13; Urt. v. 21.09. 1989, verb. RS 46/87 u. 227/88, Höchst/ Kommission, Slg. 1989, 2859 (2923), Rdz. 13; Beutler, in: v.d. Groeben, Grundrechtsschutz, Rdz. 49; Clapham, S. 57; Lecourt, in: Festschrift für Wiarda, 335 (335 ff.). 32 So erstmals Urt. v. 28.10.1975, RS 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1219 (1232), Rdz. 32; vgl. auch Urt. v. 13.12.1979, RS 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727 (3745 ff.), Rdz. 18 ff. 33 Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 168 (178 f.). 34 Vgl. Urt. v. 15.05.1986, RS 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1663 (1682), Rdz. 18; vgl. auch GA Slynn, Schlußantrag v. 20.03.1985, verb. RS 60 u. 61/84, Cinetheque, Slg. 1985, 2606 (2616); GA da Cruz Vilafa, Schlußantrag. v. 05.02.1987, RS 257/85, Dufay, Slg. 1987, 1566 (1568).

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

160

anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar seien.35 Damit scheint er zu letzterer Deutung zu tendieren.36 Allerdings hat er im Bezug auf Art. 6 EMRK klargestellt, daß der hierin vorgeschriebene Rechtsschutz Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sei, der der Verfassungstradition aller Mitgliedsstaaten zugrunde liege.37 a) Sachlicher Anwendungsbereich Untersucht man vor diesem Hintergrund die Gewährleistung des Art. 6 I EMRK zunächst auf ihren sachlichen Anwendungsbereich, so ist festzustellen, daß dieser nach seinem Wortlaut nur für Verfahren gilt, in denen über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden ist. Daher stellt sich die Frage, ob die verwaltungsgerichtliche Kontrolle des Kommissionshandeins unter Art. 173 EWGV überhaupt in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK fällt. Dies wäre dann zu bejahen, wenn dieses gerichtliche Verfahren als "Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" angesehen werden kann. Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Fall König'8 ausgeführt, daß dieser Begriff nicht nach innerstaatlichem Recht, sondern autonom unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der EMRK sowie der vorherrschenden Auffassungen in den Rechtssystemen aller Vertragsstaaten zu bestimmen sei?9 Hieraus gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß Art. 6 EMRK auch dann Anwendung finden könne, wenn die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes in Streit stehe. Voraussetzung hierfür sei

33

Urt. v. 18.06.1991, RS C-260/89, ERT, Slg. 1990-1, 2925 (2963 f.), Rdz. 42.

hierzu Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 168 (178 f.); Geiger, Art. 164 EGV, Rdz. 33; gleicher Ansicht wohl auch Streinz, Rdz. 358, der von einer "Bindung an den materiellen Mindeststandard der EMRK" spricht; kritisch zur unklaren Formulierung des Gerichtshofs Tomuschat EuR 1990, 340 (356 f.). 36 Vgl.

37

Urt. v. 15.05.1986, RS 222/84,lohnston, Slg. 1986, 1663 (1682), Rdz. 18.

38

Urt. V. 28.06.1978, GH 27.

39

GH 27, 30 Ziff. 86 ff.; vgl. auch Urt. v. 27.02.1980, Deweer, GH 35, 22 Ziff. 42; Urt. v. 29.05.1986, Deumeland, GH 100, 22, Ziff. 60; Bemhardt, in: 40 Jahre Grundgesetz, 197 (198); Cohen-Jonathan, S. 396 f.; Frowein, in: lsensee/ Kirchhof, § 180, Rdz. 48; Peukert, in: Frowein/ Peukert, Art. 6 EMRK, Rdz. 7.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

161

aber, daß die Entscheidung dieses Streites unmittelbare Auswirkungen auf private Rechte habe.40 Inwieweit diese Voraussetzung auf die hier untersuchte Kontrolle des Kommissionshandeins unter Art. 173 EWG V zutrifft, ist bislang noch völlig ungeklärt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine Definition der "zivilrechtlichen Ansprüche" im Sinne des Art. 6 I EMRK ausdrücklich vermieden und hierzu jeweils nur im konkreten Einzelfall Stellung bezogen.41 Am naheliegendsten erscheint jedoch eine solche unmittelbare Auswirkung der Entscheidung eines Rechtsstreits auf private Rechte im Bereich der Art. 85 ff. EWGV. Folgerichtig ist in diesem Bereich bereits des öfteren eine Verletzung von Art. 6 I EMRK gerügt worden.42 Auch die Kommission hat eingeräumt, daß angesichts der Auslegung der Wendung "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte davon auszugehen sei, daß Art. 6 I EMRK für die sich aus der Anwendung von Art. 85 EWGV ergebenden Ansprüche gelte. Die Anwendung dieser Bestimmung könne nämlich unter anderem dazu führen, daß geschäftliche Vereinbarungen zwischen Unternehmen für nichtig erklärt würden.43 Der Gerichtshof hat zu dieser Frage bislang nicht Stellung bezogen; im konkreten Fall wurde eine Verletzung von Art. 6 EMRK wegen des fehlenden Gerichtscharakters der Kommission abgelehnt.44 Aus der inhaltlichen Stellungnahme zu Art. 6 EMRK, mit der der Gerichtshof der Aussage der Kommission zu diesem Punkt folgt, 45 könnte aber die Schlußfolgerung ge40 GH 27, 33 ff. Ziff. 92 ff.; in diesem Fall ging es um den Entzug der Approbation und die damit verbundene Untersagung des Betriebes einer Privatklinik und einer Arztpraxis, die beide privatrechtlich ausgestaltet waren; vgl. auch Peuken, in: Frowein/ Peukert, Art. 6 EMRK, Rdz. 12, 39.

41 Vgl. Urt. v. 29.05. 1986, Deumeland, GH 100, 22, Ziff. 61; Bemhardt, in: 40 Jahre Grundgesetz, 197 (198). 42 Vgl. Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215 u. 218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3248), Rdz. 79 ff; Urt. v. 07.06.1983, verb. RS 100-103/80, Pioneer, Slg. 1983, 1825 (1880 f.), Rdz. 6 ff. 43 Vgl. Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215 u. 218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3160).

44 Vgl. Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215 u. 218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3248), Rdz. 81; Clapham, S. 58, läßt die Frage ebenfalls offen, kritisiert aber die Begründung des Gerichtshofs hinsichtlich der fehlenden Einschlägigkeil des Art. 6 EMRK. 45 Vgl. Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215 u. 218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3160 f.). II Rausch

162

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

zogen werden, daß er der Ansicht der Kommission auch bezüglich der Anwendbarkeit folgen will. Eine allgemeine Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf die gerichtliche Verwaltungskontrolle unter Art. 173 EWGV scheidet aber jedenfalls aus, zumal auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte trotz der extensiven Interpretation des Art. 6 EMRK diesen nicht im Sinne einer umfassenden Rechtsschutzgarantie versteht.46 b) Garantien des Art. 6 EMRK Untersucht man die Garantien des Art. 6 EMRK im Hinblick auf Vorgaben für die gerichtliche Kontrolle des Kommissionshandelns, so ist festzustellen, daß diese Vorschrift den Anspruch auf ein faires öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Richter mit einer Entscheidung in angemessener Frist garantiert. Hierbei ist insbesondere das Gebot einer raschen Entscheidung von entscheidender Bedeutung für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes.47 Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Frage des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ist der Grundsatz der Fairness im Verfahren. Die hierin zum Ausdruck kommenden Ansprüche auf rechtliches Gehör48 sowie auf "Waffengleichheit" der Parteien49 müssen auch vom Gerichtshof beachtet werden. Hinsichtlich des Grundsatzes der "Waffengleichheit" ist aber darauf hinzuweisen, daß Fragen der Beweislast, der Verwertbarkeit von Beweismitteln und deren Erheblichkeit und Beweiswert sowie überhaupt die Ermittlung des Sachverhalts nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen sind und lediglich einer Mißbrauchskontrolle unterliegen.50 Insofern enthält Art. 6 EMRK keine konkreten Vorgaben im Bezug auf die Intensität der gerichtlichen Tatsachenkontrolle. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat lediglich klargestellt, daß eine Gerichtskontrolle, die ausschließlich auf

in: 40 Jahre Grundgesetz, 197 (199). Bemhardt, in: 40 Jahre Grundgesetz, 197 (199); Frowein , in: Isensee/ Kirchhof, § 180, Rdz. 3. 46 Bemhardt, 47

48 Miehlser/

49 Miehlser/ 50 Peukert,

Vogler, in: Golsong, Art. 6 EMRK, Rdz. 347 ff. Vogler, in: Golsong, Art. 6 EMRK, Rdz. 353 ff.

in: Frowein/ Peukert, Art. 6 EMRK, Rdz. 71.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

163

Rechtsfragen beschränkt ist, den Anforderungen des Art. 6 EMRK nicht genügt.51 Folglich kann aus den dargestellten Garantien hinsichtlich der Frage des gerichtlichen Kontrollumfanges nur eine grundlegende Aussage dahingehend hergeleitet werden, daß eine Überprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erfolgen muß. Konkrete Anforderungen an die Intensität der vorzunehmenden Kontrolle werden durch Art. 6 EMRK dagegen nicht vorgegeben. Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich Art. 6 EMRK allgemeine Vorgaben für die Kontrolle des Kommissionshandeins durch den Gerichtshof nur in sehr eingeschränktem Maße entnehmen lassen. 4. Grundsätzliche Möglichkeit der Kontrollbeschränkung

Angesichts der Pflicht des Gerichtshofs zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle als grundlegender allgemeiner Vorgabe für die gerichtliche Überprüfung des Kommissionshandeins im Rahmen des Art. 173 EWGV stellt sich die Frage, ob sich hieraus eine Verpflichtung ergibt, die Entscheidungen der Kommission auch in den Bereichen umfassend zu überprüfen, in denen ein Ermessen besteht. Art. 172 EWGV52 sieht für die dort genannte Fälle die Befugnis zur unbeschränkten Ermessensüberprüfung vor. Diese dem französischen contentieux de pleine jurisdiction nachgebildete Form der umfassenden gerichtlichen Nachprüfun~3, die in Art. 172 EWGV als Ausnahme ausgestaltet ist, macht zugleich deutlich, daß in sonstigen Fällen eine Beschränkung erfolgen kann.54 Richtiger wäre es wohl, angesichts der nur äußerst eingeschränkt übertragenen umfassenden Kontrollbefugnis von einer Verpflichtung des Gerichtshofs zur eingeschränkten Kontrolle unter Berücksichtigung des Ermessens der Gemeinschaftsorgane zu sprechen.55 51 Vgl. Urt. v. 29.04.1988, Be/i/os, GH 132, 31, Ziff. 70; Bernhardl, in: 40 Jahre Grundgesetz, 197 (200).

52

Entsprechende Vorschriften: Art. 36 II EGKSV und Art. 144 EAGV.

Vgl. Daig, in: v.d.Groeben, 3. Aun., Art. 72, Rdz. 3. 54 Schwarze, S. 284.

53

55 Schwarze,

S. 284.

164

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Zusammenfassend ist also festzustellen, daß das Gemeinschaftsrecht eine Kontrolle des Gerichtshofs über das Handeln der Kommission vorsieht, die sich in erster Linie auf die Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit bezieht. Diese Kontrolle verpflichtet den Gerichtshof aber nicht zu einer uneingeschränkten Ermessensüberprüfung; vielmehr ist eine Beschränkung der richterlichen Nachprüfungsbefugnis angesichts bestehender Ermessensspielräume der Kommission mit der Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle grundsätzlich vereinbar. II. Allgemeine Kontrollgrenzen

Auch die gerichtliche Kontrolle von Kommissionsentscheidungen unterliegt allgemeinen Kontrollgrenzen. 1. Bindung an die Klagegründe

Ebenso wie im französischen recours pour exces de pouvoir sieht auch Art. 173 EWGV bestimmte abstrakte Klagegründe (cas d'ouverture) vor, anband derer die Überprüfung der angefochtenen Rechtsakte zu erfolgen hat. Es genügt nicht, daß der KJäger unter Darlegung der Tatsachen die Aufhebung des Verwaltungsakts beantragt. Vielmehr bestimmt Art. 19 I des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften i.V.m. Art. 38 § 1 lit. b) der Verfahrensordnung (Vfüj, daß die Klageschrift eine kurze Darstellung der konkreten Klagegründe5 enthalten muß. Dies bedeutet ebenso wie im französischen recours pour exces de pouvoir, daß der Kläger die rechtlichen Gesichtspunkte angeben muß, mit denen das Vorliegen eines der abstrakten KJagegründe begründet wird.57 Diese vom Kläger vorgetragenen konkreten Klagegründe (moyens) stellen eine erste allgemeine verfahrensrechtliche Beschränkung der richterlichen Kontrolle dar. Der Gerichtshof prüft die materiellen Klagegründe der Vertragsverletzung und des Ermessensmißbrauchs nur in dem Maße, wie

56 Französischer Wortlaut: •...expose sommaire des moyens invoques ..." 57 Vgl. König, S. 30 f.; vgl. im übrigen die fast identische Regelung in Art. 40 der Ordonnance vom 31.07. 1945: • ...Ia requete doit contenir l'expose sommaire des faits et moyens..."; vgl. oben 3. Teil, B 111 1.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

165

entsprechende konkrete Klagegründe vom Kläger zulässigerweise vorgetragen worden sind.58 Nur die formellen Rügen der Unzuständigkeit und des Vorliegens von Form- und Verfahrensfehlern werden als "moyens d'office (moyens d'ordre public) von Amts wegen auch ohne entsprechende Darlegung durch den Kläger einer gerichtlichen Nachprüfung unterzogen.59 Diese Vorgehensweise entspricht im Grundsatz der im recours pour exces de pouvoir bestehenden Bindung des Gerichts an die vom Kläger vorgetragenen Klagegründe. Unterschiede sind insofern festzustellen, als der Gerichtshof sich nicht an der wenig systematischen Bejahung von "moyens d'ordre public" durch den Staatsrat orientiert hat,60 sondern diese einheitlich im Bereich der legalite externe ansiedelt. Er verlangt auch keine formalistische Bezugnahme auf die enumerativ aufgeführten Klagegründe; vielmehr ist ausreichend, daß das Klägervorbrin~en seinem Inhalt nach den Klagegrund hinreichend deutlich erkennen läßt.6 Die Bindung an die konkreten Klagegründe zeigt sich besonders charakteristisch in den sogenannten "Farbstoffällen", in denen es um die Klage verschiedener farbstoffherstellender Unternehmen ging, die von der Kommission nach Erhöhungen der Farbstoffpreise mit Bußgeldern wegen Verstoßes gegen Art. 85 EWGV belegt worden waren. 62 Diese Unternehmen rügten zum Teil nur das Vorliegen von Verfahrensfehlern und behaupteten das Nichtvorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise im Sinne des Art. 85 I EWGV. Andere brachten darüber hinaus vor, die Kommission sei nicht zuständig für die Vornahme der Entscheidung gewesen, die betreffenden Preiserhöhungen hätten nicht zu einer Handelsbeeinträchtigung geführt bzw. die Kommission habe ermessensmißbräuchlich gehandelt. In den Entscheidungsgründen ging der Gerichtshof jeweils nur auf diejenigen Klagegründe ein, die das jeweilige Unternehmen vorgebracht hatte. Sonstige, nicht gerügte materielle Klagegründe wurden vom Gerichtshof

58 Everling WuW 1989, 877 (894); Herdegenf Richter, 209 (218 r.) m.w.N.; Waelbroek, Art. 173, S. 125; vgl. auch Toth, S. 70 f; unzutreffend insofern Bleckmann, Rdz. 548.

59

Waelbroek, Art. 173, S. 125 (Rdz. 30); vgl. auch Becker, S. 136; Bömer, S. 147 ff.

60

V gl. dazu bereits oben 3. Teil, B lll 1.

61 Urt. v. 15.12.1961,verb. RS 19 u. 21/60, 2 u. 3/61, Fives Lilie Cail, Slg. 1961, 611 (644); Toth, S. 70; Vandersandenf Barav, S. 187 f. 62 Vgl. Urteile vom 14.07.1972, RS 48 bis 57/69, /.C.I., BA.S.F., Bayer, Geigy, Sandoz, Franco/ar, Casse/la, Hoechst undAzienda Colori Nazionali/ Kommission, Slg. 1972, S. 619 ff.

166

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

nicht untersucht. Auch das Gericht erster Instanz geht in entsprechender Weise vor. 63 Die Konsequenzen einer solchen Vorgehensweise verdeutlichen bereits die frühen Entscheidungen des Gerichtshofs. So führt bereits Generalanwalt Lagrange in seinem Schlußantrag in der Rechtssache Geitling64 aus: "In diesem Fall sind die Klagen abzuweisen, denn die Angriffs- und Verteidigungsmittel, aufgrundderen ich zum Ergebnis gelangt bin, daß die Entscheidung für nichtig zu erklären ist,65 ( ...) wurden ( ...) nicht geltend gemacht und können zweifellos auch nicht von Amts wegen berücksichtigt werden."66 Die Bedeutung der Bindung an die Klagegründe zeigt sich aber auch darin, daß der Gerichtshof Rechtsausführungen und Angriffsmittel dann nicht berücksichtigt, wenn diese nicht Inhalt der Klageschrift sind, sondern lediglich in einem Schriftsatz enthalten sind, auf den die Klägerin Bezug nimmt.67 Andererseits hat der Gerichtshof eine Entscheidung der Hohen Behörde dann nicht auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs überprüft, wenn dieser zwar zunächst gerügt, später aber fallengelassen wurde.68 Analysiert man diese Bindung an die vorgetragenen Klagegründe, so ist hier ein deutlicher Unterschied zur Konzeption des deutschen Verwaltungsprozeßrechts festzustellen. Auch dort gilt die Dispositionsmaxime in der Weise, daß Rechtsschutz nur gewährt wird, wenn, soweit und solange er verlangt wird. Das Verfahren kommt nur auf Klage hin in Gan~; auch bestimmt die klagende Partei Inhalt und Umfang des Rechtsschutzes. 9 Der so bestimmte Streitgegenstand wird aber unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt geprüft. Diese umfassende rechtliche Prüfung wird als Ausfluß der Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle verstanden. 70 Vgl. Urt. v. 10.07.1990, RS T-51/89, Tetra Pak, Slg. 1990-11, 309 (352 f.), Rdz. 11 ff. Schlußantrag v. 24.05.1960, verb. RS 36-38 u. 40/59, Geilfing I, Slg. 1960, 895 ff. 65 Generalanwalt Lagrange hatte im vorliegenden Fall das Vorliegen einer Vertragsverletzung geprüft. 66 Schlußantrag v. 24.05.1960, verb. RS 36-38 u. 40/59, Geilfing I, Slg. 1960, 895 (964); vgl. auch Urt. v. 17.12.1959, RS 14/59, Societe des Fonderies, Slg. 1958-59,465 (494). 67 So z.B. Urt. v. 21.01.1965, RS 108/63, Merlini, Slg. 1962, 1 (13). 68 Vgl. Urt. v. 18.05.1962, RS 13/60, Geilfing II, Slg. 1962, 177 (211). (f} Vgl. oben 2. Teil, CI 2. 63 64

70

Vgl. oben 2. Teil, CI 3.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

167

Daher stellt sich im Gemeinschaftsrecht ebenso wie im recours pour exces de pouvoir die Frage, ob der Grundsatz der Bindung an die konkreten Klagegründe sich mit der die Nichtigkeitsklage des Art. 173 EWGV dominierenden Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle vereinbaren läßt.71 Entsprechend der Argumentation im französischen Verwaltungsrecht72 wird auch im Rahmen der Nichtigkeitsklage die Bindung an die Klagegründe mit dem Grundsatz des "ne ultra petita" begründet. Im Gegensatz zum deutschen Verwaltungsprozeß werde die Dispositionsmaxime noch stärker ausgeweitet. Hier erstrecke sich der Grundsatz "ne ultra petita" nicht nur auf den Streitgegenstand im oben beschriebenen Sinne; vielmehr unterliegt es auch der Disposition des Klägers, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt die Klage gewürdigt werden soll.73 Auch der Gerichtshof hat zu erkennen gegeben, daß er die Bindung an die Klagegründe als Anwendungsfall der Dispositionsmaxime ansieht. In dem Urteil Meroni hat er ausgeführt, daß nach Art. 22 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der EGKS sowie nach Art. 38 § 1 VfO die Klageschrift den Streitgegenstand bezeichnen und die Anträge des Klägers enthalten müsse. Es obliege daher dem Kläger, die genauen Tatsachen anzugeben, auf die er seine Klage stütze, und seine Anträge in eindeutiger Weise zu formulieren. Unterbleibe dies, so laufe der Gerichtshof Gefahr, entweder "ultra petita" zu entscheiden oder einzelne Punkte der Klageanträge zu übergehen.14 Damit läßt er erkennen, daß die Bindung an die vom Kläger vorgetragenen Klagegründe Ausdruck des Grundsatzes "ne ultra petita" und damit Ausfluß der Dispositionsmaxime ist.15 Weiterhin begrenzt er den Streitgegenstand auf die vorgetragenen Klagegründe. Nur innerhalb dieser "moyens" soll der Gerichtshof zu einer umfassenden rechtlichen Prüfung befugt sein. Insofern geht der Gerichtshof von einem im Vergleich zum deutschen Verwaltungsprozeßrecht engeren Streitgegenstandsbegriff aus, der dem des

71 Bedenken in dieser Hinsicht äußert z.B. Everling NVwZ 1987, 1 (6), der auf den Widerspruch zum Legalitätsprinzip hinweist.

72 Vgl.

dazu oben 3. Teil, A III 1.

73 König,

S. 52; Matthies, Prozeßmaximen, 136 (137); Toth, S. 71.

74

Urt. v. 14.12.1962, verb. RS 46 u. 47/ 59, Meroni, Slg. 1965, 835 (854).

75

Im Ergebnis ebenso König, S. 106 ff.

168

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

französischen Verwaltungsrechts deutlich angenähert ist.76 Ein so verstandener Streitgegenstand führt im Gegensatz zum französischen Verständnis der "cause juridique" in der Tat zu dem Ergebnis, daß eine andere Lösung als die Bindung an die konkreten Klagegründe kaum denkbar ist.77 Dies entbindet aber nicht von der Erörterung der Frage, ob eine solche Begrenzung der richterlichen Kontrolle auf vorgegebene rechtliche Gesichtspunkte mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren ist. Dies wäre dann zu verneinen, wenn die Bindung an die Klagegründe eine unzulässige Verkürzung des Rechtsschutzes darstellen würde. Hierbei ist zu beachten, daß die Bindung des Gerichts an die in der Klageschrift enthaltenen Klagegründe ihr Pendant in der materiellen Rechtskraft findet. Maßgeblich für den Umfang der Rechtskraft ist der Streitgegenstand. Dieser wird aber durch die vom Kläger vorgetragenen Klagegründe bestimmt. Insofern erwachsen auch nur diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen in Rechtskraft, die tatsächlich Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung waren.78 Somit bleibt es dem Kläger unbenommen, sich in einem späteren Verfahren auf andere Klagegründe zu stützen. Aus diesem Grund liegt auch keine unzulässige Beeinträchtigung des gerichtlichen Rechtsschutzes vor. Daher ist festzustellen, daß zwar eine umfassende rechtliche Erörterung auch im Gemeinschaftsrecht angesichts der bestehenden Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle vorzugswürdig wäre. Die Bindung an die Klagegründe als allgemeine verfahrensrechtliche Grenze der richterlichen Kontrolle ist aber unter rechtsstaatliehen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Die praktische Relevanz dieser Bindung an die Klagegründe ist ohnehin eher gering. Abgesehen von den zitierten frühen Urteilen sind keine Entscheidungen ersichtlich, in denen der Gerichtshof eine Klage wegen unzureichend vorgetragener Klagegründe abgewiesen hat. Hierbei mag dahinste76 Vgl.

oben 3. Teil, B III.

77 Vgl.

zur wesentlich problematischeren Lage im französischen Recht bereits oben 3. Teil,

B III.

78 Vgl. Urt. v. 19.02.1991, RS C-281/89, Italien/ Kommission , Slg. 1991-1, 347 (363), Rdz. 14; vgl. auch das instruktive Beispiel bei Matthies, Prozeßmaximen, 136 (139) sowie zur entsprechenden französischen Rechtslage in ZaöRV 1955/56 (Bd. 16), 427 (433, 435).

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

169

hen, ob dieser Umstand auf einer großzügigeren Praxis des Gerichtshofs oder einer sorgfältigeren Abfassung der Klageschriften beruht. 2. Rechtmäßigkeits-, nicht Zweckmäßigkeitskontrolle - Gewaltenteilung

Die sich aus Art. 164 i.V.m. Art. 173 EWGV ergebende Befugnis des Gerichtshofes zur Rechtmäßigkeitskontrolle beinhaltet gleichzeitig eine erste allgemeine materielle Kontrollgrenze. Eine Überprüfung von Handlungen der Gemeinschaftsorgane darf nur auf Rechtmäßigkeitsgesichtspunkte hin erfolgen; andere zulässige außerrechtliche Erwägungen, die für die Entscheidung maßgeblich waren (Zweckmäßigkeit, politische Opportunität) liegen außerhalb der richterlichen Nachprüfungsbefugnis?9 Diese Beschränkung auf Rechtmäßigkeilserwägungen wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofes oft unter Bezugnahme auf Aspekte der Gewaltenteilung verdeutlicht, indem der EuGH klarstellt, daß er bei der richterlichen Kontrolle sein Ermessen nicht an die Stelle des Verwaltungsermessens stellen darf. 80 Diese Aussage findet sich auch bereits in den Begründungserwägungen zu Art. 33 EGKSV.81 Zweckmäßigkeitserwägungen sind aber dort gerichtlich übeq:~rüfbar, wo die Zweckmäßigkeit ein Bestandteil der Rechtmässigkeit ist.82 Beispiel hierfür ist die Prüfung der Mittel-Zweck - Relation im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung.83 Allerdings ist zu beachten, daß es sich bei einer solchen Nachprüfung ohnehin schon begrifflich nicht mehr um eine Zweckmäßigkeitskontrolle im engeren Sinn handelt. 79 Zu Art. 33 EGKSV: Urt. v. 12.02.1960, verb. RS 15 und 29/59, Knutange, Slg. VI, 9 (27 f.); GA Capotoni, Schlußantrag. v. 05.12.1979, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907, 1035 (1041); Daig, S. 211; Schwarze, S. 283; Wenig, in: Grabitz, Art. 173, Rdz. 1, 38.

80 Urt. v. 18. 03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975, 421 (431); vgl. auch Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fediol, Slg. 1983, 2913 (2935 f.), Rdz. 30; Urt. v. 20.03.1985, RS 264/82, Timexj Rat, Slg. 1985, 849 (866), Rdz. 16; Bebr, Prozeßmaximen, 77 (98); Boulois, S. 276; Daig, S. 211; EhJe, Art. 164, Rdz. 22; Toth, S. 79; Wenig, in: Grabitz, Art. 173, Rdz. 38; vgl. auch allgemein zum institutionellen Gleichgewicht Urt. v. 11.11.1981, RS 60/81, IBM, Slg. 1981, 2639 (2654), Rdz. 20 sowie Bernhard, S. 145 ff.; Schwarze EuLRev 1991, 3 (8). 81 Baumann, S. 104; vgl. auch GA Roemer, Schlußantrag v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 241(258 f.) 82 Schwarze, S. 283, Fn. 13; wohl auch Bebr, Prozeßmaximen, 77 (115). &3 Vgl. hierzu im einzelnen unten 4. Teil, D II 5 a).

170

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf Rechtmäßigkeilserwägungen findet sich in entsprechender Ausprägung auch in den Vorgaben sowohl des deutschen als auch des französischen Verwaltungsprozesses.84 Die im Vergleich zum deutschen Recht stärkere Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes zeigt sich aber im Gemeinschaftsrecht daran, daß der Gerichtshof gern. Art. 174 I EWGV auf die Aufhebung der Verwaltungsentscheidung beschränkt ist und die Kommission nicht durch Urteil zur Vornahme einer bestimmten Entscheidung verpflichten kann.85 Insofern besteht auch hier eine Parallele zum recours pour exces de pouvoir. 3. Höhere Sachkompetenz

Auch die größere Sachkompetenz anderer Gemeinschaftsorgane ist für den Gerichtshof ein Grund, seine eigene richterliche Kontrolle einzuschränken.86 So erkennt der Gerichtshof beispielsweise bei Fragen hoher Technizität häufig einen Kenntnisvorsprung der Kommission an und weigert sich aus diesem Grund, die entsprechende Wertung nachzuprüfen.87 Dieser Kornpelenzvorsprung wird selbst dann berücksichtigt, wenn der Kommission selbst die entsprechende Sachkunde fehlt und diese daher ihrerseits zur Einschaltung von Sachverständigen gezwungen ist.88 Diese Anerkennung einer höheren fachlichen Kompetenz der Verwaltungsbehörden als Grund für eine eingeschränkte richterliche Kontrolle hat ihre Parallele im französischen Recht. Auch hier hat der Staatsrat in Fällen, in denen die Verwaltungsentscheidung besondere Sachkenntnisse technischer bzw. wissenschaftlicher Art erfordert, diesen Kenntnisvorsprung als Grund für eine eingeschränkte Überprüfung im Sinne der contröle minimum gesehen.89 Vgl. oben 2. Teil, B II 2. Boulois, S. 276 f.; vgl. auch Mos/er, Festschrift Hallstein, 355 (377), der darauf hinweist, daß diesbezüglich bereits Einigkeit bei den Verhandlungen über den Schuman-Pian bestand. 86 Bebr, Prozeßmaximen, 77 (99); Daig, S. 163; Schwarze, S. 283. 87 Vgl. zur Frage der Gleichwertigkeit wissenschaftlicher Geräte Urt. v. 27.09.1983, RS 216/82, Universität Hamburg, Slg. 1983, 2771 (2789), Rdz. 14; Urt. v. 15.03.1989, RS C-303/87, Universität Stuugan, Slg. 1989, 705 (720), Rdz. 20. 84

85

88 Vgl. Urt. v. 21.11.1991, RS 269/90, Technische Universität München, EuZW 1992, 90 (90 f.), Rdz. 13. Voraussetzung hierfür muß aber die ordnungsgemäße fachliche Besetzung des Sachverständigengremiums sein, vgl. Rdz. 14, 22. aJ Vgl. oben 3. Teil, B 1114.

A. Allgemeine Vorgaben und Kontrollgrenzen

171

Dagegen sind nach deutschem Rechtsverständnis die höhere Fachkompetenz der Verwaltung bzw. die mangelnden Kenntnisse des Gerichts regelmäßig kein Grund für eine Zurücknahme der Kontrolldichte. Vielmehr geht man davon aus, daß eine Überwindung dieses Kenntnisvorsprungs mit Hilfe von Sachverständigen möglich ist.90 Eine Grenze der richterlichen Kontrolle ergibt sich allenfalls dann, wenn wegen der Komplexität des unbestimmten Rechtsbegriffes die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt.91 Dies bedeutet, daß nach deutschem Rechtsverständnis die Grenze der richterlichen Kontrolle nicht bei der höheren Fachkompetenz der Behörde beginnt, sondern allenfalls dort, wo eine der Kenntnis der Verwaltungsbehörden gleichwertige Kompetenz durch das Gericht nicht bzw. nur unter unzumutbarem Aufwand zu erlangen ist. Daher hat das BVerwG eine höhere fachliche Kompetenz der Behörden lediglich im Bereich der Rezeption technischer Regelwerke angesichts wissenschaftlich-technischer Fragenkomplexe in sehr beschränktem Umfang anerkannt. Selbst hier genügt aber die höhere Sachkompetenz allein nicht; vielmehr muß auch in diesem Fall die Letztentscheidungskompetenz der Behörde normativ übertragen worden sein.92 Insofern besteht ein deutlicher Unterschied sowohl zum französischen als auch zum Gemeinschaftsrecht, bei denen eine solche höhere Sachkompetenz der Verwaltung bereits den maßgeblichen Grund für eine Rücknahme der richterlichen Kontrolle darstellen kann. 111. Zusammenfassung

Die Untersuchung der allgemeinen Vorgaben hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Kommission im Rahmen des Art. 173 EWGV hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Aus Art. 164 i.V.m. Art. 173 EWGV ergibt sich eine Verpflichtung des Gerichtshofs zur Kontrolle des Handeins der Kommission auf dessen objektive Rechtmäßigkeit Eine dem Art. 19 IV GG entsprechende Gewährleistung subjektiven Individualrechtsschutzes findet sich im EWGV dagegen nicht. Der Gerichtshof trägt dem Schutz individueller Rechtspositionen aber dadurch Rechnung daß er dem Gebot effektiven Rechtsschutzes gerade dort Vgl. oben 2. Teil, C II. BVerfG DVBI. 1991, 801 (803) läßt offen. 92 Vgl. oben 2. Teil, C 113. 90

91

172

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

besonderen Nachdruck verleiht, wo entsprechende Rechte der Gemeinschaftsbürger betroffen sind. Bei der Nachprüfung des Handeins der Kommission unterliegt der Gerichtshof allgemeinen Kontrollgrenzen. Eine allgemeine Kontrollgrenze verfahrensrechtlicher Art besteht hinsichtlich der Nachprüfung der materiellen abstrakten Klagegründe (cas d'ouverture). Die richterliche Nachprüfung ist hier ebenso wie im recours pour exces de pouvoir beschränkt auf die konkreten Klagegründe (moyens), die der Kläger in zulässiger Weise vorgetragen hat. Weitere materielle Kontrollgrenzen ergeben sich daraus, daß der Gerichtshof sein Ermessen nicht an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen darf und nicht zu einer Zweckmäßigkeitskontrolle befugt ist. Er hat sich vielmehr auf eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit zu beschränken. Im Gegensatz zum deutschen Verwaltungsprozeßrecht stellt auch die höhere Sachkompetenz der Kommission eine vom Gerichtshof zu beachtende Schranke seiner richterlichen Nachprüfungsbefugnis dar. B. Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

Im folgenden soll die Frage des Umfanges der richterlichen Nachprüfungsbefugnis im Rahmen der dargestellten allgemeinen Vorgaben erörtert werden. Hierbei ist zunächst zu untersuchen, wie weit die Kontrolle des Gerichtshofs im Bezug auf den der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt geht. I. Recht zur unabhängigen Sachverhaltserforschung

Die Befugnis des Gerichtshofs zur Überprüfung des Handeins der Kommission auf seine Rechtmäßigkeit wirft ebenso wie in den nationalen Rechtsordnungen auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die Frage auf, ob eine solche Rechtmäßigkeilskontrolle auch die selbständige Erforschung des zugrunde liegenden Sachverhaltes umfaßt, ohne daß der Gerichtshof hierbei an das Parteivorbringen gebunden ist.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

173

1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben

a) Art. 164, 173 EWGV Die für die gerichtliche Kontrolle von Kommissionsentscheidungen maßgeblichen Vorschriften der Art. 164 und 173 EWGV enthalten keine ausdrückliche Aussage hinsichtlich der Kontrolle des Tatsachenstoffes auf seine Richtigkeit. b) Vorschriften über die Beweiserhebung (Art. 21 ff. Satzung, Art. 45 ff. VfO) Aussagekräftige Anhaltspunkte lassen sich dagegen aus den Vorschriften über die vom Gerichtshof durchzuführenden Beweiserhebungen herleiten. Die grundlegenden Vorschriften hierzu sind in Art. 21 bis 23 des Protokolls über die Satzunf des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Satzung) geregelt. Diese Vorschriften werden ergänzt und ausgestaltet durch Art. 45 ff. der Verfahrensordnung (Vf0). 2 Art. 45 § 2 VfO führt die zulässigen Beweismittel auf: die Anhörung von Parteien, die Einholung von Auskünften, die Vorlage von Urkunden, die Vernehmung von Zeugen, Sachverständigengutachten und Augenscheinseinnahmen. Diese Beweismittel entsprechen weitestgehend denen des deutschen und des französischen Prozeßrechts. Eine dem Verfahren vor dem Staatsrat vergleichbare freie Wahl der Beweismittel3 ist dem Verfahren vor dem Gerichtshof dagegen fremd. Die einzelnen Befugnisse des Gerichtshofs sind in Art. 21 ff. i.V.m. Art. 47 ff. VfO geregelt. Danach steht dem Gerichtshof gern. Art. 21 der Satzung das Recht zu, von den Parteien die Vorlage aller Urkunden und die Erteilung aller Auskünfte zu verlangen, die er für wünschenswert hält. Weiterhin ist er befugt, von den Mitgliedsstaaten und den Organen, die nicht Parteien in einem Rechtsstreit sind, alle Auskünfte zu verlangen, die er für die Regelung des Rechtsstreites als erforderlich erachtet.

1 BGBI.

1957 II, S. 1166 ff. Die VfO ist vom Gerichtshof (im wesentlichen auf der Grundlage des Art. 188 Ili EWGV i.V.m. Art. 44 der Satzung) erlassen worden; sie regelt die Details des Verfahrens und ergänzt die Satzung; vgl. Klinke, Rdz. 25. 3 Vgl. oben 3. Teil, CI. 2

174

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Eine Bindung dieser Einholung von Auskünften und Urkunden an entsprechende Anträge der Parteien ist nicht vorgesehen. Gemäß Art. 22 der Satzung i.V.m. Art. 49 § 1 VfO ist der Gerichtshof jederzeit berechtigt, Sachverständigengutachten einzuholen. Auch hier sehen die entsprechenden Vorschriften keine Bindung an Parteianträge vor. Art. 23 der Satzung i.V.m. Art. 47 ff. VfO räumt das Recht ein, Zeugen über bestimmte Tatsachen zu vernehmen. Hierzu stellt Art. 47 § 1 VfO ausdrücklich klar, daß eine solche Zeugenvernehmung sowohl auf Antrag der Parteien als auch von Amts wegen angeordnet werden kann. Insgesamt zeigt sich also, daß bei der Beweiserhebung die Initiative der Parteien sehr stark zugunsten des Gerichtshofes zurückgedrängt ist. Dieser ist befugt, selbst die in der Praxis wichtigsten Beweismittel zur Sachverhaltsaufklärung- Zeugen und Sachverständige - nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Dagegen ist eine Zeugenvernehmung auf Antrag der Parteien sogar noch an eine Mitwirkungspflicht (Anhörung) des Generalanwaltes gebunden. 2. Literatur

Auch in der Lehre herrscht Übereinstimmung dahingehend, daß der Gerichtshof im Rahmen der Kontrolle nach Art. 173 EWGV eine umfassende Prüfung der Frage vornehmen kann, ob die der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen umfassend und zutreffend von der Kommission festgestellt worden sind.4 Zum Teil wird ausgeführt, die Nachprüfung der Tatsachengrundlage falle von vornherein in die Zuständigkeit der Gerichte, soweit diese nicht als reine Rechtsinstanzen ausgestaltet seien.5 Der Gerichtshof ist aber nicht nur

4 Bebr, S. 113 ff., 225 ff.; Daig, Rdz. 213; ders., in: v.d. Grocben, Art. 173, Rdz. 9; Herdegenf Richter, 209 (217 f.); König, S. 101 f.; Lasok, ECLR 1983, 85 (89 ff.); dcrs., S. 199; Mertens de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (7); van der Esch, S. 72; Waelbroek, Art. 173, S. 144; vgl. auch zu Art. 33 EGKSV Baumann, S. 26; Clever, S. 110 f.; Rupprechl, S. 29; Steindorff, S. 131 ff., 142 f.; die Aussage von Beutler/ Bieber/Pipkomf Streit, es finde eine Überprüfung der Tatsachenfeststellung auf offensichtliche Fehler statt (S. 267), dürfte auf einem redaktionellen Versehen beruhen; gemeint sind hier wohl offensichtliche Fehler bei der Tatsachenwürdigung. 5 Daig, Rdz. 21.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

175

Rechtsinstanz, sondern auch Tatsachengericht,6 so daß er diese Voraussetzung erfüllt. Andere stützen diese Aussage auf die in Art. 190 EWGV normierte allgemeine und umfassende Begründungspflicht.7 Eine solche mache nur dann Sinn, wenn sie nicht nur als formelle Verfahrensvoraussetzung ausgestaltet sei, sondern auch der materiellen Überprüfung unterliege.8 Insbesondere in den Fällen, in denen die Ausübung von Befugnissen das Vorliegen einer wirtschaftlichen Situation voraussetze, deren Feststellung eine Wertbeurteilung erfordere, müsse auch der Gerichtshof prüfen, ob die erforderlichen Voraussetzungen, die den Akt rechtfertigten, tatsächlich existieren.9

3. Vergleich zum französischen Recht Vergleicht man diese Auffassungen in der Literatur mit der Vorgehensweise im französischen Recht, so zeigen sich hier deutliche Parallelen. Auch der Conseil d'Etat hatte zunächst die Befugnis der Gerichte zur umfassenden Sachverhaltskontrolle unter anderem darauf gestützt, daß der Verwaltung eine Begründungspflicht hinsichtlich der getroffenen Entscheidung oblag. 10 In späteren Entscheidungen hat er aber die allgemeine Kontrollbefugnis hinsichtlich des einer Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts damit begründet, daß die materielle Richtigkeit dieser Tatsachen eine allgemeine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes darstelle. Hieraus lasse sich die Rechtsregel ableiten, daß sich die Verwaltung niemals auf unrichtige Tatsachen stützen dürfe. Um die Einhaltung dieser Regel zu gewährleisten, müsse der Richter daher befugt sein, im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle auch die bei der Entscheidung zugunde gelegten Tatsachen unabhängig vom Parteivorbringen zu überprüfen. 1

6 Herdegenf RiciUer, 209 (212); dies ergibt sich bereits als arg. e contrario aus der in Art. 168 a EWGV vorgesehenen Beschränkung auf Rechtsfragen bei der Tätigkeit als Rechtsmittelinstanz gegen Urteile des Gerichts erster Instanz; vgl. dazu auch Rabe NJW 1989, 3041 (3046 f.). 7 Vgl. Bebr, S. 113 f.

8 Bebr, 9

S. 114.

Bebr, S. 114.

10 Arrret

11

Camino, vgl. oben 3. Teil, CI. Arret Trepont, vgl. oben 3. Teil, C I.

176

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Folglich macht der Conseil d'Etat das Recht zur unabhängigen Tatsachenermittlung nicht mehr von dem Vorliegen einer Begründungspflicht abhängig, sondern sieht diese Befugnis als eine notwendige Konsequenz der gerichtlichen Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle an. 4. Vergleich zum deutschen Recht

Diese Argumentation findet ihre Entsprechung im deutschen Verwaltungsprozeß. Nach deutschem Rechtsverständnis gebietet der in § 86 VwGO normierte Untersuchungsgrundsatz die Befugnis zur umfassenden Überprüfung des Sachverhalts unabhängig vom Parteivorbringen.U Der Untersuchungsgrundsatz ist seinerseits aber ebenfalls wieder Ausfluß der in Art. 20 III GG zum Ausdruck kommenden Pflicht der Gerichte zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle. 13

5. Stellungnahme Überträgt man die nationalen Rechtsauffassungen auf das Gemeinschaftsrecht, so ist festzustellen, daß auch hier die in Art. 164, 173 EWGV normierte Befugnis zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle ein Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips ist, das auch dem Gemeinschaftsrecht zugrunde liegt. 14 Eine Verwaltungsentscheidung ist aber nur dann rechtmäßig, wenn der Sachverhalt, den die Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat, seinerseits zutreffend ist. Daher ergibt sich eine Befugnis des Gerichtshofs zur Kontrolle des zugrunde gelegten Sachverhaltes bereits aus seinem Recht zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle. 6. Aussagen von Gerichtshof und Generalanwälten

Auch nach Auffassung des Gerichtshofs und seiner Generalanwälte umfaßt die gerichtliche Kontrolle unverzichtbar eine Prüfung des Sachverhalts auf seine Richtigkeit. 12

Vgl. oben 2. Teil, CI 1.

13

Vgl. oben 2. Teil, CI 3.

14

Vgl. oben 4. Teil, CI 1.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

177

So hat bereits Generalanwalt Roemer in der Rechtssache BRD/ Kommission im Bezug auf Ermessensentscheidungen ausgeführt, es unterliege keinem Zweifel, daß eine Ermessensentscheidung in tatsächlicher Hinsicht der gerichtlichen Überprüfung nicht entzogen sei. Dabei sei nicht nur zu denken an das tatsächliche Vorliegen der in einer Rechtsnorm vorgesehenen Handlungsvoraussetzungen, sondern an den gesamten Tatsachenhintergrund, der für Ermessensentscheidungen bestimmend und kennzeichnend sei. 15 Diese Ansicht hat auch der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Bereits im Urteil Niederlande/ Hohe Behörde hat er angesichts der Überprüfung einer Entscheidung der Hohen Behörde auf ihre Vereinbarkeil mit Art. 61 I EGKSV klargestellt, daß bei der Überprüfung zu unterscheiden sei zwischen der Feststellung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände, die der Entscheidung zugrunde liegen, und den Schlußfolgerungen, die die Hohe Behörde hieraus bei Würdigung der Gesamtlage zieht. 16 Nach ausführlichem Eingehen auf die von der Hohen Behörde zugrunde gelegten Tatsachen stellt er anschließend fest, daß die Würdigung der sich aus diesen Tatsachen ergebenden Gesamtlage seiner Nachprüfung weitgehend entzogen seiP Hieraus läßt sich ersehen, daß der Gerichtshof bereits in dieser Entscheidung von seiner Befugnis zur eigenständigen Kontrolle des zugrunde liegenden Sachverhalts ausging. Diese Annahme bestätigt sich in der weiteren Rechtsprechung, in der der Gerichtshof auch angesichts vorliegender Ermessensspielräume stets davon ausgegangen ist, daß er befugt sei, die Entscheidungen auch auf die Richtigkeit der ihnen zugrunde gelegten Tatsachen zu überprüfen. 18

15 GA Roemer, Schlußantrag v. 28.05.63, RS 34/62, BRD/ Kommission, Slg. 1963, 327 (335); vgl. auch GA Lagrange, Schlußantrag v. 28.05.63, RS 13/63, Italien/ Kommission, Slg. 1963, 389 (396). 16 Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (235).

Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Holle Behörde, Slg. 1954-55, 213 (236). Vgl. z.B. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396); Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyo/ Rat, Slg. 1987, 1809 (1854), Rdz. 19; Urt. v. 07.05.1987, RS 255/84, Nachi Fujikoshi/ Rat, Slg. 1987, 1861 (1890), Rdz. 21; Urt. v. 07.05.1987, RS 256/84, Nippon Seiko/ Rat, Slg. 1987, 1923 (1964), Rdz. 21. 17

18

12 Rausch

178

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Somit ist festzuhalten, daß dem Gerichtshof die Befugnis zur unabhängigen Nachprüfung des einer Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes zusteht, ohne daß er insoweit an das Vorbringen der Parteien gebunden ist. 11. Pflicht zur Erforschung des Sachverhaltes

Die Berechtigung des Gerichtshofs zur unabhängigen Erforschung des Sachverhaltes wirft aber die weitergehende Frage auf, ob dieser auch verpflichtet ist, den einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt auf seine Richtigkeit zu überprüfen. 1. Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

Aus Art. 164 und 173 EWGV lassen sich auch hierzu keine ausdrücklichen Aussagen herleiten. Untersucht man die durch Satzung und VfO eingeräumten Befugnisse des Gerichtshofes zur Beweiserhebung, so ist festzustellen, daß diese als "Kann" - Bestimmungen ausgestaltet sind. Zwar ist davon auszugehen, daß diese "Kann" - Vorschriften nicht im Sinne einer eingeräumten Beurteilungsermächtigung zu verstehen sind, sondern dem EuGH vielmehr als Befugnisnormen die entsprechenden Rechte einräumen wollen. Hierfür spricht bereits Art. 46 § 1 VfO, der von den "dem Gerichtshof gemäß Artikel 45 und 47 bis 53 zustehenden Befugnisse(n)" spricht.19 Hieraus kann jedoch nicht auf eine entsprechende Verpflichtung des Gerichtshofes geschlossen werden. 2. Literatur

In der Literatur sind Stellungnahmen zu einer Pflicht des Gerichtshofes zur unabhängigen Sachverhaltsaufklärung und damit zur Geltung des Untersuchungsgrundsatzes selten. Teilweise wird aus den wenig aussagekräftigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Satzung und der VfO, der Schluß gezogen, 19 Hervorhebung durch Verfasser; vgl. auch die (inoffiZielle) Überschrift zu Art. 21 der Satzung, die von dem "Recht zur Einholung von Auskünften und Urkunden" spricht.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

179

die Geltung der Untersuchungsmaxime lasse sich mangels hinreichender Hinweise nicht nachweisen20 bzw. bestehe nur in einer Verbindung mit dem Beibringungsgrundsatz in der Weise, daß der Gebrauch der Untersuchungsmaxime im Ermessen des Gerichts stehe.21 Andere begnügen sich mit der Aussage, der Richter habe zu prüfen, ob die einzelnen Tatbestände oder Umstände, die von dem beklagten Organ als feststehend angenommen wurden, der Realität entsprechen22 oder behaupten, der Gerichtshof müsse prüfen, ob die erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen.23 Abgesehen davon, daß diese Äußerungen einer Begründung entbehren, muß auch bezweifelt werden, ob diese eher beiläufigen Aussagen tatsächlich im Sinne der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes verstanden werden können. Andererseits erscheint es jedoch nicht tragbar, die Frage des Bestehens einer Untersuchungspflicht allein unter Hinweis auf eine fehlende ausdrückliche Regelung im Gemeinschaftsrecht zu verneinen. Eine solche Regelung wäre auch angesichts der Verschiedenartigkeit der Verfahrensarten vor dem Gerichtshof kaum denkbar, da sich auch die Frage der Anwendbarkeit des Untersuchungsgrundsatzes hier sehr unterschiedlich stellen kann. Daher soll im folgenden untersucht werden, ob sich die Frage der Geltung der Untersuchungsmaxime durch einen Vergleich der nationalen Rechtsordnungen Deutschlands und Frankreichs zur Rechtsnatur der gerichtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof eindeutig beantworten läßt. 3. Vergleich zum deutschen Recht

Im Gegensatz zum Gemeinschaftsrecht findet sich im deutschen Verwaltungsprozeßrecht eine ausdrückliche Regelung der Frage der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes in § 86 I VwGO. Hiernach erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen ohne Bindung an Vorbringen und Beweisanträge der Beteiligten. 20 So 21

z.B. König, S. 106 ff.

Matthies, Prozeßmaximen, 136 (136); ähnlich auch Lasok, S. 199. 22 So Daig, in: v.d. Groeben, 3. Aun., Art. 173, Rdz. 9. 23 So Bebr, S. 114.

180

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Einigkeit besteht darüber, daß diese Regelung eine grundsätzliche AufkJärungspflicht der Verwaltungsgerichte begründet.24 Dies wird damit begründet, daß der die AufkJärungspflicht konstituierende Untersuchungsgrundsatz seine Rechtfertigung darin habe, daß im Verwaltungsprozeß die Pflicht zur o~ektiven Rechtmäßigkeitskontrolle in besonderem Maße ausgestaltet sei.

4. Vergleich zum französischen Recht Wie bereits dargelegt, ist der recours pour exces de pouvoir ohnehin gekennzeichnet von einer im Vergleich zum deutschen Recht wesentlich ausgeprägtereD Tendenz zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle; dagegen ist der Individualrechtsschutz von geringerer Bedeutung.26 Insofern stellt sich für den Conseil d'Etat vorrangig die Frage, ob die Kontrolle des zugrunde liegenden Sachverhalts überhaupt als Rechtmäßigkeitskontrolle anzusehen istP Nachdem der Conseil d'Etat aber eine Rechtspflicht der Verwaltung festgestellt hat, sich nur auf zutreffende Tatsachen zu stützen,28 führt dies ohne weitere Erörterungen zu dem Schluß, daß das Gericht diese Kontrolle ausüben darf und muß.29

5. Übertragbarkeit auf das Gemeinschaftsrecht Vergleicht man die rechtliche Situation in Deutschland und Frankreich mit der Rechtsnatur der gerichtlichen Kontrolle nach Art. 164, 173 EWGV, so lassen sich deutliche Übereinstimmungen feststellen. Auch das Verfahren vor dem Gerichtshof ist gekennzeichnet durch eine vorrangige Ausrichtung an der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle. Insofern läßt sich eine Übereinstimmung insbesondere mit dem recours pour

24 25

Vgl. oben 2. Teil, C II. Vgl. oben 2. Teil, CI 3.

Vgl. oben 3. Teil, 8 I 3. Vgl. oben 3. Teil, 8 I 3. 28 Vgl. oben 3. Teil, CI. 19 Vgl. oben 3. Teil, C II.

26

7:7

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

181

exces de pouvoir, in beschränktem Maße aber auch mit der deutschen Anfechtungsklage30 feststellen. Auf der anderen Seite ist auch die Kommission an das dem Gemeinschaftsrecht zugrunde liegende Rechtsstaatsprinzip31 und den sich hieraus herleitenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung32 gebunden. Aus diesem Grunde darf sie ihre Entscheidungen nur auf zutreffende tatsächliche Umstände stützen. Ausdruck dieser Verpflichtung ist die in Art. 190 EWGV normierte allgemeine Begründungspflicht Diese beruht nicht nur auf formalen Erwägungen, sondern soll darüber hinaus zum einen die Gemeinschaftsbehörden zur Selbstkontrolle anhalten,33 zum anderen aber auch den Parteien die Wahrnehmung ihrer Rechte und dem Gerichtshof die Ausübung seiner Rechtskontrolle ermöglichen.34 Folgerichtig bat der Gerichtshof im Bereich des Antisubventionsrechts ausdrücklich festgestellt, daß die Kommission die Pflicht habe, in aller Objektivität den Sachverhalt festzustellen, aus dem sich das zu prüfende Tatbestandsmerkmal (im vorliegenden Fall: das Vorliegen von Subventionspraktiken) ergebe.35 In seiner Entscheidung Leeuwardener Papieifabriek läßt er weiterhin erkennen, daß diese Verpflichtung sich auf die umfassende Prüfung aller wesentlichen Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art erstreckt, deren Berücksichtiiung zur Bejahung der Voraussetzungen einer Befugnisnorm führen kann. Im Rahmen seiner Verpflichtung zur objektiven Rechtmäßigkeilskontrolle ist der Gerichtshof gehalten, die Einhaltung dieser Rechtspflicht zu überprüfen. Aus diesem Grunde begründet die sich aus Art. 164, 173 Vgl. oben 2. Teil, BI 2. Vgl. Un. v. 13.02.1979, RS 101/78, Granaria, Slg. 1979, 623 (637), Rdz. 5; vgl. auch Bleckmann, Festschrift für Kutscher, 25 (28); Zuleeg, in: v.d. Groeben, Art. 1, Rdz. 47. 30

31

32 Vgl. Urt. v. 22.03.1961, verb. RS 42 u. 49/59, SNUPAT, Slg. 1961, 109 (172); vgl. auch Schwarze NJW 1992, 1065 (1069); Zuleeg, in: v.d. Groeben, Art. 1, Rdz. 47. 33 Jpsen, S. 517; Schmidt, in: v.d. Groeben, An. 190, Rdz. 4. 34 Un. V. 20.03.1959, RS 18/57, Nold/ Hohe Behörde, Slg. 1958/59, 89 (114); un. V. 17.03.1983, RS 294/81, Contra/ Data, Slg. 1983, 911 (928), Rdz. 14; Urt. v. 14.02.1990, RS C350/88, Delacre, Slg. 1990-1, 395 (422); Urt. v. 11.07.1990, RS C-323/88, Sennes, Slg. 1990-1, 3027 (3055), Rdz. 38; Schermersf Waelbroek, § 352 f.; Schmidt, in: v.d.Groeben, Art. 190 , Rdz. 5; vgl. auch die ähnliche Argumentation des Conseil d'Etat im Arret Camio vgl. oben 3. Teil, Cl.

35 Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2934), Rdz. 26; Urt. v. 14.07.1988, RS 188/85, Fediol 111, Slg. 1988, 4193 (4223 f.), Rdz. 6; vgl. auch Urt. v. 10.03.1992, verb. RS T68, 77 und 78//89, Vetro, Rdz. 158 ff., noch nicht in Slg. 36 Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 2% u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (825), Rdz. 25.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

182

EWGV herleitenden Verpflichtung des Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeitskontrolle auch dessen Verpflichtung zur umfassenden, parteiunabhängigen Kontrolle des Sachverhaltes, den die Kommission ihren Entscheidungen zugrunde legt. Somit ist die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Rahmen der Kontrolle von Kommissionsentscheidungen gemäß Art. 164, 173 EWGV zu bejahen. 111. Praxis des Gerichtshofs

Angesichts der Verpflichtung des Gerichtshofs zur selbständigen Sachverhaltsaufklärung soll im folgenden untersucht werden, wie der Gerichtshof diese Pflicht in der Praxis handhabt. 1. Ausübung der Befugnisse zur Beweiserhebung

Beweisaufnahmen werden durch entsprechenden Beschluß des Gerichtshofs auf der Grundlage des Vorberichts des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwaltes vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung durchgeführt.37 Analysiert man die Vorgehensweise des Gerichtshofes hinsichtlich der Durchführung eigenständiger Beweiserhebungen, so ist festzustellen, daß er die ihm insoweit zugewiesenen Befugnisse zur Aufklärung des Sachverhaltes nur äußerst sparsam einsetzt.38 So nimmt er zwar gelegentlich Anhörungen der Parteien vor39 oder erhebt Augenscheinsbeweise.40 Auch Zeugenvernehmungen werden teilweise durchgeführt.41 Ein eindrucksvolles Beispiel für eine ausführliche Sachverhaltsaufklärung durch den Gerichtshof zeigt sich in den sogenannten 37 Klinke, 38 Klinke,

Rdz. 140, 143; Wyatt/ Dashwood, S. 106 f. Rdz. 144.

39

Urt. v. 15.07.1960, verb.RS 36-38, 40/59, Präsident, Slg. 1960, 885 (919).

40

Urt. v. 27.03.1961, verb. RS 42 u. 49/59, Snupat II, Slg. 1961, 109 (153).

41

Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 4Q..48,50,54-56,111,113 u. 114/73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (1697); Urt. v. 27.11.1984, RS 232/81, Agricola Commerciale, Slg. 1984, 3881 (3891); Urt. v. 07. 06.1985, verb. RS 100-103/80, Pioneer, Slg. 1983, 1825 (1837); Urt. v. 07.11.1985, RS 145/83, Adams, Slg. 1985, 3539 (3564); Urt. v. 23.09.1986, RS 5/85, Akzo Chemie, Slg. 1986, 2585 (2589);

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

183

"Farbstoffällen".42 In diesen Fällen hat der Gerichtshof nicht nur eine umfangreiche Zeugenvernehmung durchgeführt, sondern darüber hinaus auch ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Im Rahmen der jeweiligen Urteile finden sich dann auch die entsprechenden Aussagen zur Beweiswürdigung, die eine umfangreiche Aufklärungsarbeit des Gerichtshofes dokumentieren. Diese Vorgehensweise ist jedoch die Ausnahme; im Regelfall hält sich der Gerichtshof an die tatsächlichen Angaben der Parteien, ohne selbst Nachprüfungen anzustellen.43 Häufig legt er seinen rechtlichen Erörterungen den durch die Kommission vorgetragenen Sachverhalt mit der Formel "aus den Akten ergibt sich, daß ... " zugrunde.44 Andererseits sieht er aber teilweise auch den klägerischen Vortrag unter Hinweis auf die Aktenlage als maßgeblich an.45 Diese formelhafte Bezugnahme auf die Akten, die sich in ähnlicher Weise auch im französischen Prozeßrecht findet, dürfte auf die beiden Klagen zu.ßrunde liegende besondere Bedeutung des schriftlichen Verfahrens zurückzuführen sein. Diese intensivere Ausgestaltung des schriftlichen Vorverfahrens führt bereits in vielen Fällen zur Entscheidungsreife, ohne daß eine Beweiserhebung erforderlich wird.47 Allerdings scheint der Gerichtshof teilweise zu einer grundsätzlichen Annahme der Richtigkeit des Tatsachenvortrages der Kommission zu tendieren;48 dies zeigt sich daran, daß er selbst im Falle eines von der Gegenpartei vorgetragenen, von der Darstellung der Kommission abweichenden Sachverhaltes nicht immer in eine eigene Sachverhaltsaufklärung eintritt, son42 Urteile vom 14.07.1972, RS 48 bis 57/69, l.C.I., B.A.S.F., Bayer, Geigy, Sandoz, Francolar, Cassella, Hoechst und Azienda Colori Nazionali/ Kommission, Slg. 1972, S. 619 ff. 43 Adam, S. 227 ff.; Korsch, Prozeßmaximen, 122 (129) mit kritischen Anmerkungen zur Rechtsprechung des Gerichtshofs; vgl. auch Mi/let ICLQ 1989, 81l (831). 44 Urt. v. 23.l1.1971, RS 62/70, Bock, Slg. 1971, 897 (909), Rdz. 14; vgl. z.B. Urt. v. 31.05. 1979, RS 22/78, Hugin, Slg. 1979, 1869 (1899), Rdz. 19; Urt. v. 05.07.1988, RS 291/86, Centrallmport, Slg. 1988, 3679 (3709), Rdz. 26; Urt. v. 13.07.1988, RS 102/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1988, 4067 (4088), Rdz. 24; Urt. v. 05.10.1988, verb. RS 277 u. 300/85, Canon, Slg. 1988, 5731 (5802), Rdz. 24.

22.

45

Vgl. Urt. v. 19.02.1991, RS C-281/89, Italien/ Kommission, Slg. 1991-1, 347 (365), Rdz.

46 Vgl. Art. 18 Satzung und Art. 37 ff. VfO sowie für Frankreich oben 3. Teil, C V, für das Gemeinschaftsrecht Becker, S. 83 f.; Hartley, S. 60; Vandersandenj Barav, S. 27. 47 Everling WuW 1989, 877 (886). 48 Lasok,

S. 199 f.

184

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

dern sieb mit der Feststellung begnügt, daß sieb aus dem Klägervorbringen keine Zweifel an der Richtigkeit des von der Kommission vorgetragenen Sachverhaltes ergeben.49 Fraglieb ist, ob ein solches Vorgeben mit der konstatierten Geltung der Untersuchungsmaxime zu vereinbaren ist. Dabei ist zunächst zu untersuchen, inwieweit der Untersuchungspflicht zulässige Grenzen durch die vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen an Darlegungslasten und Mitwirkungspflichten der Parteien gezogen sind. 2. Anfordenmgen an die Darlegungslast

Der Gerichtshof stellt im Verfahren nach Art. 173 EWGV hohe Anforderungen an beide Parteien hinsichtlich der Darlegungslast. Eine diesbezügliche Verpflichtung der Kommission ergibt sich bereits aus der in Art. 190 EWGV normierten allgemeinen Begründungspflicht Der Gerichtshof hat klargestellt, daß die Begründung einer Maßnahme in klarer und schlüssiger Weise die maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände darzulegen hat, auf denen die Entscheidung beruht.50 Bei Entscheidungen verlangt er darüber hinaus, daß alle Tatsachen enthalten sind, von denen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme abhän~t, sowie die Erwägungen, die zum Erlaß der Entscheidung veranlaßt haben. 1 Kommt die Kommission dieser Verpflichtung nicht bzw. nicht in ausreichendem Maße nach, so stellt dies einen Formfehler dar, der zur Aufhebung der Entscheidung führen kann.52 Auch die Gegenpartei trifft eine Darlegungslast in der Form eines substantiierten Bestreitens, wenn sie die Richtigkeit der einer Kommissionsent49 Vgl. z.B. Urt. v. 14.03.1973, RS 52/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (339 f.), Rdz. 11, 15; Urt. v. 23.11.1978, RS 56/77, Agence Europeenne, Slg. 1978, 2215 (2235, 2237), Rdz. 11/23, 38/40; Urt. v. 12.04.1984, RS 245/82, Wünsche, Slg. 1984, 1995 (2012 f.), Rdz. 16, 19, 21. 50

Urt. v. 04.07.1963, RS 24/62, BRD/ Kommission, Slg. 1963, 143 (155).

Urt. v. 15.07.1970, RS 41/69, Chemicfarma, Slg. 1970, 661 (693), Rdz. 78; Urt. v. 29.10. 1980, verb. RS 209-215/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3244), Rdz. 66; Urt. v. 11.07.1989, RS 246/86, Belasco, Slg. 1989, 2117(2194), Rdz. 55; weitere Nachweise bei Schmidt, in: v.d. Groeben, Art. 190, Fn. 33. 51

52 Vgl. z.B. Urt. v. 21.02.1973, RS 6/72, Continenta/ Can, Slg. 1973, 215 (250), Rdz. 36 f.; Urt. v. 14.02.1978, RS 27/76, United Brands, Slg. 1978, 207 (306 f.), Rdz. 261/266, 306; Urt. v. 14.11.1984, RS 323/82, lntermills, Slg. 1984, 3809 (3828 ff.), Rdz. 23 ff.; Urt. v. 14.10.1987, RS 248/84, BRD/ Kommission, Slg. 1987,4013 (4042 f.), Rdz. 20 ff; Ipsen, S. 537.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

185

scheidung zugrunde liegenden Tatsachenlage in Zweifel zieht bzw. Umstände vorträgt, die einen Grund für die Erteilung einer Ausnahme von der zu treffenden Entscheidung darstellen.53 Im Rahmen der Prüfung eines substantüerten Klägerverbringens prüft der Gerichtshof auch, ob dieses in sich schlüssig ist; stellt sich heraus, daß der klägerische Vortrag bereits von unzutreffenden Voraussetzungen ausgeht, so weist er die Rüge schon aus diesem Grunde zurück.54 Eine der Substantiierungspflicht des Klägers entsprechende DarlegungsIast trifft auch Drittkläger, die den Nichterlaß einer Kommissionsentscheidung rügen.55 Diese Vergehensweise entspricht weitgehend derjenigen im französischen Verwaltungsprozeß. Auch dort existiert für belastende Verwaltungsakte eine umfassende Begründungspflicht; insoweit besteht auch Übereinstimmung mit der deutschen Rechtslage. Unterschiede ergeben sich aber hinsichtlich der Anforderungen an das klägerische Vorbringen. Während das deutsche Prozeßrecht eine über die Mitwirkungspflicht des § 86 I 1 VwGO hinausgehende Darlegungslast verneint,56 wird ein entsprechender substantüerter Vortrag sowohl im recours pour exces de pouvoir als auch im Verfahren vor dem Gerichtshof als erforderlich angesehen. Damit sind die Anforderungen an den Klägervortrag in beiden Rechtsordnungen deutlich höher als im deutschen Verwaltungsprozeß.

3. Anfordernngen an die Mitwirkungspflichten der Parteien Eine weitere vom Gerichtshof gezogene Grenze seiner richterlichen Nachprüfung ergibt sich aus der Verletzung von Mitwirkungspflichten der Parteien. Hierbei handelt es sich in der Regel um die nicht ausreichende Erteilung von Auskünften durch die Parteien.

53 Everling WuW 1989, 8n (884); ders., NVwZ 1987, 1 (6) unter Hinweis auf Urt. V. 07.06. 1983, verb. RS 100.103/80, Pioneer, Slg. 1983, 1825 ff.; Lasok ECLR 1983, 85 (89 ff.); Herdegen/ Richter, 209 (213 ff.); Manhies, Prozeßmaximen, 136 (138). 54

Vgl. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (397). Vgl. hierzu Urt. v. 22.10.1986, RS 75/84, Metro II, Slg. 1986,3021 (3095), Rdz. 89 ff. 56 Vgl. oben 2. Teil, C IV. 55

186

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

So hat der Gerichtshof es in der Rechtssache Kommission/ Griechenland als einen Verstoß gegen Art. 5 EWGV angesehen, daß die Griechische Republik dem Auskunftsverlangen der Kommission hinsichtlich der Verwaltungspraxis bei der Einfuhr von Olivenöl nicht ausreichend nachgekommen ist. Der Gerichtshof führt weiter aus, diese fehlende Kooperationsbereitschaft wiege umso schwerer, als sie auch im gerichtlichen Verfahren fortgeführt worden sei, da dies die dem Gerichtshof obliegende Aufgabe zur Rechtskontrolle nach Art. 164 EWGV beeinträchtige.57 Eine solche Pflichtverletzung schränkt die gerichtliche Nachprüfung nicht nur dann ein, wenn sie vor dem Gerichtshof selbst erfolgt;58 vielmehr tritt dieser auch dann nicht mehr in eine eigene Sachverhaltsaufklärung ein, wenn eine entsprechende Mitwirkungspflicht im Verfahren vor der Kommission verletzt worden ist. So hat der Gerichtshof z.B. in der Rechtssache Frankreich/ Kommission die Rüge der Klägerin, die Kommission habe ihrer Entscheidung einen unrichtigen Marktzinssatz zugrunde gelegt, mit der Begründung zurückgewiesen, diesen Umstand habe die Klägerin im Verwaltungsverfahren niemals vorgelegt. Aufgrund dieser Weigerung zur loyalen Zusammenarbeit könne sie die Unrichtigkeit jetzt nicht mehr geltend machen.59 In einer Entscheidung zum Antidumpingrecht hat er ausgeführt, daß ein Unternehmen, das seine Verpflichtungserklärung kündige, verpflichtet sei, der Kommission mitzuteilen, daß neue Tatsachen vorliegen, die für eine Freistellung von Antidumpingzöllen sprächen.60 Aufgrund dieser nichterfüllten Mitteilungspflicht prüfte der Gerichtshof diese behauptete Tatsache nicht nach, sondern wies die Klage zurück. Vergleicht man diese Vorgehensweise mit derjenigen in den nationalen Rechtsordnungen, so läßt sich hier eine deutliche Ausweitung der Mitwirkungspflichten auch in das vorgerichtliche Verfahren erkennen. S7 Urt. v. 22.09.1988, RS 272/86, Griechenland/ Kommission, Slg. 1988, 4875 (4903), Rdz. 31. 58 Vgl. für einen solchen Fall z.B. Urt. v. 01.02.1978, RS 19/77, Miller, Slg. 1978, 131 (152), Rdz. 20 f. 59 Urt. v. 13.07.1988, RS 102/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1988,4067 (4028 f.), Rdz. 22 ff. 27. 60 Urt. v. 21.02.1984, verb. RS 239 u. 275/82, Al/ied Corporation/ Kommission, Slg. 1984, 1005 (1033), Rdz. 22 ff.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

187

Diese "verstärkte Pflichtenbindung" läßt sich aber zumindest hinsichtlich der Mitgliedsstaaten damit rechtfertigen, daß diese nach Art. 5 EWGV einer besonderen Treuepflicht unterliegen, die eine Berufung auf im Verwaltungsverfahren verweigerte Informationen als rechtsmißbräuchlich erscheinen lassen würde. Die Eingrenzung der Untersuchungspflicht durch Mitwirkungspflichten der Parteien begegnet somit keinen grundlegenden Bedenken. 4. Bewertung der Kontrollpraxis

Beurteilt man die oben dargestellte Kontrollpraxis auf der Grundlage der zulässigen Beschränkungen der Untersuchungspflicht des Gerichtshofs, so ist erkennbar, daß sich die Durchführung umfangreicher eigener Aufklärungsmaßnahmen angesichts der dargestellten hohen Anforderungen an die Beteiligung der Prozeßparteien oft erübrigt.61 Soweit es der Gerichtshof auch in dem verbleibendem Bereich mit dem Hinweis auf nicht bestehende Zweifel an der Richtigkeit des Kommissionsvortrages bewenden läßt, ist auf die Rechtslage im deutschen Verwaltungsprozeß hinzuweisen. Auch dort wird es als mit dem Untersuchungsgrundsatz vereinbar angesehen, wenn das Gericht die von der Behörde getroffenen Tatsachenfeststellungen insoweit übernimmt, als diese überzeugend sind und auch durch den Vortrag der Beteiligten nicht in Zweifel gezogen oder sonst erschüttert wcrden.62 Soweit das Klägervorbringen die Richtigkeit des von der Kommission vorgetragenen Sachverhaltes nicht zu erschüttern vermag, ist auch im Verfahren vor dem Gerichtshof die Zugrundelegung der sich hieraus ergebenden Tatsachenlage im Hinblick auf die Untersuchungsmaxime unbedenklich. Kritisch zu beanstanden ist jedoch, daß der Gerichtshof teilweise recht hohe Anforderungen an das Entstehen eines Zweifels im genannten Sinne stellt.

61 62

So auch Everling WuW 1989, 877 (886); Herdegenf Richter, 209 (213). Vgl. oben 2. Teil, C II.

188

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist der Fall Wünsche.63 In diesem Fall war der Klägerin der Import von Champignonkonserven aus der Volksrepublik China ohne Zahlung eines Zusatzbetrages unter Berufung auf die Kommissionsverordnung Nr. 3429/8064 abgelehnt worden. Die Klägerin machte geltend, bei Erlaß dieser Verordnung sei die Kommission irrigerweise davon ausgegangen, die Lagerbestände für Champignonkonserven seien in der Gemeinschaft deutlich höher als im Vorjahr, so daß eine Störung entgegen der Auffassung der Kommission nicht drohe. Hierzu legte sie umfangreiche statistische Angaben vor. Dagegen behauptete die Kommission, die Lagerbestände seien außergewöhnlich hoch. Sie stützte sich dabei auf Statistiken der niederländischen Landwirtschaftsministeriums. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Kommission zu Recht eine drohende Störung angenommen hatte, bezog sich der Gerichtshof zunächst auf die von der Kommission vorgelegten Statistiken und stellte fest, daß hiernach die Lagerbestände im fraglichen Zeitraum anomal hoch gewesen seien.65 Er begnügte sich im folgenden mit der Aussage: "Zwar hat die Firma Wünsche diese Zahlen bestritten, doch ist festzustellen, daß die Kommission sich zu Recht auf Statistiken gestützt hat, die nach ihren Erklärungen unmittelbar aus dem niederländischen Landwirtschaftsministerium herrühren und die darüber hinaus auf Fernschreiben hin, mit denen die Kommission ausdrücklich eine Bestätigung verlangt hatte, von diesem Ministerium bestätigt worden sind."66 Hier liegt nach eigenem Bekunden des Gerichtshofs ein Fall des substantiierten Bestreitens einer Tatsache vor; dennoch unterzieht er die Frage der vorhandenen Lagerbestände keiner eigenständigen Aufklärung. Er mißt vielmehr der amtlichen Statistik des niederländischen Ministeriums ein solches Gewicht zu, daß er eine darüber hinausgehende Beweisaufnahme für überflüssig hält. Zwar darf einer solchen amtlichen Statistik eine höhere Glaubhaftigkeit zugebilligt werden, als dies bei sonstigen Statistiken der Fall ist, zumal wenn diese ausdrücklich bestätigt worden sind. Hier sind jedoch angesichts der von der Klägerin vorgebrachten eigenen umfangreichen Statistiken Bedenken angebracht, ob ein solcher Hinweis auf die "bestätigte Amtlichkeit" aus63

Urt. v. 12.04.1984, RS 345/82, Wünsche, Slg. 1984, 1995 ff.

64

ABI. 1980, Nr.L 358/66.

65

Urt. v. 12.04.1984, RS 345/82, Wünsche, Slg. 1984, 1995 (2010), Rdz. 14 f.

66

Urt. v. 12.04.1984, RS 345/82, Wünsche, Slg. 1984, 1995 (2010), Rdz. 16.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

189

reicht, um jeden vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit auszuräumen, selbst wenn ein substantiierter Gegenvortrag vorliegt. In diesem Zusammenhang kann auf die Vorgehensweise im deutschen Recht verwiesen werden, nach der ein Richter selbst im Falle eines von der Behörde eingeholten Sachverständigengutachtens dieses seiner Entscheidung dann nicht ohne weiteres zugrunde legen darf, wenn dessen Richtigkeit substantiiert bestritten worden ist.67 Vor diesem Hintergrund hätten sich dem Gerichtshof auch im Fall Wünsche weitere Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung aufdrängen müssen; die hier geübte Zurückhaltung dürfte zu weit gehen und mit dem Untersuchungsgrundsatz nicht mehr in Einklang zu bringen sein. Der Fall Wünsche stellt zugegebenermaßen einen Extremfall dar; eine intensivere Ausschöpfung der Befugnisse zur Sachverhaltserforschung wäre aber häufig wünschenswert. Auch der Gerichtshof scheint sich der teilweise zu großen Zurückhaltung bezüglich der eigenständigen Sachverhaltsaufklärung bewußt zu sein. Jedenfalls ist festzustellen, daß der Gerichtshof in vielen Fällen, in denen er keine Zweifel an der Richtigkeit des Kommissionsvortrages konstatiert, dennoch rechtliche Ausführungen zum abweichenden Tatsachenvortrag des Klägers anstellt und zu dem Schluß gelangt, selbst wenn man diesen zugrunde lege, rechtfertige das keine andere Beurteilung.68 Diese Vorgehensweise ist im Bezug auf die Untersuchungsmaxime unbedenklich; bemerkenswert ist aber, daß nach Aussage des Generalanwalts Lagrange eine solche Überprüfung auf die Rechtfertigung auch unter veränderter Tatsachenlage erst dann zu erfolgen hat, wenn der Gerichtshof "auf eine unrichtige Tatsachenfeststellung stößt".69 Die Tatsache, daß der Gerichtshof diese Vorgehensweise auch bei "zweifelsfreier" Tatsachenlage häufig verwendet, läßt zumindest Bedenken hinsichtlich der eigenen Praxis hinsichtlich der Sachverhaltsaufklärung erkennen.

67

Vgl. oben 2. Teil, C II.

Urt. v. 14.03.1973, RS 52/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (340), Rdz. 15; Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (31), Rdz. 11; Urt. v. 23.11.1978, RS 56/77, Agence Europeenne, Slg. 1978, 2215 (2237), Rdz. 38/40; Urt. v. 05.07.1988, RS 291/86, Central-lmport, Slg. 1988, 3679 (3709), Rdz. 29. fFJ GA Lagrange, Schlußantrag. v. 28.05.1963, RS 13/63, Italien/ Kommission, Slg. 1963, 389 (396). 68

190

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Andererseits ist aber auch zu beachten, daß sich die Frage der Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes nicht auf die Intensität der richterlichen Nachprüfung beschränkt. Vielmehr ist auch die Durchführung des gerichtlichen Verfahrens in angemessener Frist ein essentielles Element dieses rechtsstaatliehen Grundsatzes?0 Angesichts der bestehenden Arbeitsbelastung des Gerichtshofs71 ist dieser geradezu gezwungen, einen Kompromiß zwischen diesen beiden Vorgaben zu fmden, zumalsich die Verfahrensdauer im Bereich besonders komplexer Verfahren wie etwa im Antidumpingrecht bereits heute an der Grenze der rechtsstaatliehen Erträglichkeit bewegt.72 Im übrigen führt die beschriebene richterliche Zurückhaltung auch nicht zwangsläufig zur Verkürzung individueller Rechtspositionen; bei unsorgfältiger Ermittlung des Tatsachenmaterials durch die Kommission wird der Gerichtshof die Entscheidung ohnehin aufheben.73 Im Ergebnis wäre somit eine weitergehende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung zwar wünschenswert; die Praxis des Gerichtshofs ist aber unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht grundsätzlich zu beanstanden. 5. Ennessen der Kommission bezüglich der Sachverha/tsennittlung in Ausnahmefällen

Wie bereits dargestellt, besteht eine Pflicht des Gerichtshofs zur eigenständ*en Erforschung des einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts.

70

Vgl. Braibant, in: European Union, 427 (449); Everling NVwZ 1987, 1 (8).

Vgl. dazu Braibant, in: European Union, 427 (449); Everling NVwZ 1987, 1 (8); ders., in: Fortentwicklung des Rechtsschutzes, 39 (40 f.); Herdegenf Richter, 209 (213); Lasok, S. 199 f.; Lasokf Bridge, S. 319. 72 Auf diese Entwicklung hat Everling bereits in seiner Abschiedsrede vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hingewiesen, vgl. EuR 1988, 343 (344); bereits 1989 betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Direktklagen 24 Monate, vgl. Mitlet ICLQ 1989, 811 (812); vgl. auch Müller-Huschlee EuGRZ 1989, 213 (214). 71

73

Urt. v. 08.04.1976, RS 29f75, Kaufhof, Slg. 1976, 431 (443), Rdz. 6; Urt. v. 04.10.1983, RS 191f82, Fediol, Slg. 1983, 2913 (2934 f.), Rdz. 26; Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318f82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (825), Rdz. 25; Herdegenf Richler, 209 (213); vgl. dazu auch unten 4. Teil, B III 4. 74

Vgl. oben 4. Teil, B II.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

191

Dennoch wird in der Literatur die Auffassung vertreten, der Gerichtshof gestehe den Gemeinschaftsorganen in Ausnahmefällen einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Tatsachenfeststellung zu und übe nur eine beschränkte Überprüfung aus?5 Die in diesem Zusammenhang genannten Fälle lassen sich in bestimmte Fallgruppen einteilen, die im folgenden darauibin analysiert werden sollen, ob sie der Kommission tatsächlich ein Ermessen im genannten Sinne einräumen. a) Freiheit hinsichtlich der Datenauswahl Die erste Fallgruppe betrifft Sachverhalte, in denen der Gerichtshof der Kommission eine Freiheit hinsichtlich der Daten einräumt, die in die Bewertung der Kommission einbezogen werden. Ein klassischer Beispielsfall für eine solche Vorgehensweise ist die Entscheidung in der Rechtssache Beus.76 In diesem Fall klagte die Firma Beus gegen die Erhebung einer Währungsausgleichsabgabe auf importierte Tafeltrauben aus Bulgarien. Sie war der Ansicht, die Kommission habe bei der Berechnung des Referenzpreises unzulässigerweise die Notierungen einer italienischen Sorte berücksichtigt, die im Vergleich zur einzigen anderen italienischen Sorte keine Bedeutung habe. Der Gerichtshof stellte daraufhin klar, daß der Referenzpreis auf der Grundlage von Sorten zu berechnen sei, die einen "wesentlichen Teil der Erzeugung" darstellen. Dieser Ausdruck gewähre der Kommission einen Entscheidungsspielraum, der nur eingeschränkt daraufl1in überprüfbar sei, ob die vorgenommene Auswahl willkürlich sei. Nach umfassender Prüfung gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, die hier zugrunde gelegte Traubensorte gehöre zu den wichtigsten späten Sorten; daher sei zumindest die Berücksichtigung in den hier maßgeblichen Monaten Oktober und November nicht willkürlich gewesen.77 75 So z.B. Waelbroek, Art. 173, S. 146 f.; Wenig, in: Grabitz, Art. 173, Rdz. 38; Bedenken auch bei Bleckmann, Rdz. 558. 76

Urt. v. 13.03.1968, RS 5/67, Beus, Slg. 1968, 127 ff.

77

Urt. v. 13.03.1968, RS 5/67, Beus, Slg. 1968, 127 (145).

192

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Analysiert man die Vorgehensweise des Gerichtshofs, so ist festzustellen, daß sich das hler eingeräumte Ermessen nicht auf die Tatsachenfeststellung bezieht (d.h. auf die Frage, in welchem Umfang die einzelnen Sorten am Markt vertreten sind), sondern auf die Subsumtion des Sachverhalts unter den unbestimmten Rechtsbegriff des "wesentlichen Teils der Erzeugung". Der Gerichtshof gewährt der Kommission somit einen Entscheidungsspielraum hinsichtlich der ökonomischen Beurteilung der Frage, was unter einem wesentlichen Teil im genannten Sinne zu verstehen sei. Die Kontrolle der Richtigkeit des zugrunde gelegten Tatsachenmaterials wird werdurch jedoch in keiner Weise eingeschränkt. b) Freiheit der Kommission, ihrer Entscheidung eine Sachverhaltsgruppe zugrunde zu legen Eine zweite Fallgruppe umfaßt Sachverhalte, in denen der Gerichtshof der Kommission die Freiheit einräumt, ihre Entscheidung nicht auf der Grundlage des konkreten Sachverhaltes, sondern aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sachverhaltsgruppe zu treffen. Ein Beispiel hlerfür ist das Urteil Balkan-Import,18 in dem es um die Rechtmäßigkeit der Erhebung einer Ausgleichsabgabe auf den Import bulgarischen Schafskäses ging. Die Kommission hatte in diesem Zusammenhang das Vorliegen einer "Störung des Warenverkehrs mit Agrarerzeugnissen" im Sinne der einschlägigen VO des Rates Nr. 974/7179 bejaht, da die Einfuhr von Milchprodukten grundsätzlich geeignet sei, eine Störung herbeizuführen. Daher sei ein Ausgleichsbetrag zu erheben gewesen. Der Gerichtshof räumt der Kommission hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens einer Störung einen Ermessensspielraum ein und gesteht ihr in diesem Zusammenhang auch das Recht zu, auf pauschale Beurteilungen zurückzugreifen und auf Gruppen von Erzeugnissen abzustellen, die derselben Tarifnummer angehören und derselben Abschöpfungsregelung unterliegen.so Diese Vorgehensweise räumt der Kommission in der Tat einen Entscheidungsfreiraum bezüglich der Sachverhaltsermittlung in der Weise ein, daß 78

Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 ff. In der Fassung der VO 2746/72 des Rates ,ABI. 1972, Nr. L 291. 80 Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 8f.

79

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

193

diese aus der Zugehörigkeit eines Produktes zu einer bestimmten Sachverhaltsgruppe auf die Erfüllung bestimmter tatsächlicher Voraussetzungen schliessen darf. Ein solcher Freiraum wäre bedenklich und mit dem Untersuchungsgrundsatz nicht zu vereinbaren, wenn er in dieser Absolutheit gelten würde und der Nachweis eines atypischen, die allgemeinen tatsächlichen Voraussetzungen nicht erfüllenden Sachverhaltes keine Berücksichtigung finden würde. Die Entscheidung des Gerichtshofs zeigt aber, daß dies gerade nicht der Fall ist. Die Zulässigkeil pauschalisierender Betrachtungen soll nur dort gerechtfertigt sein, wo zwingende, mit der Praktikabilität der Ausgleichsbeträge zusammenhängende Gründe eine solche erfordern.81 Im übrigen geht der Gerichtshof auch im Fall Balkan-Import auf den von der Klägerin behaupteten Sachverhalt ein und führt aus, selbst wenn dieser dargetan wäre, habe die Kommission dennoch ermessensfehlerfrei das Vorliegen einer Störung annehmen können.82 Insofern erweist sich die Pauschalisierungsbefugnis als eine "Praktikabilitätshilfe" für die Kommission, nicht aber als eine Einschränkung des Untersuchungsgrundsatzes. c) Freiheit globaler Feststellungen Eine dritte Fallgruppe umfaßt Sachverhalte, in denen der Kommission die Freiheit eingeräumt wird, sich bei der Ermittlung der ihren Entscheidungen zugrunde gelegten Daten auf globale Feststellungen zu stützen. Ein Beispielsfall hierfür ist die Rechtssache Italien/ Rat,83 die eine Klage gegen die Gewährung einer Prämie an die Hersteller von Kartoffelstärke betrifft. Ziel dieser Maßnahme war die Sicherung des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Stärkeherstellern. Die Klägerin ist der Ansicht, der Rat habe bei seiner Entscheidung die gestiegenen Kosten für Maisstärke nicht berücksichtigt. 81 Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 9; vgl. auch Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842 f.), Rdz. 21/23.

82

Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 9.

Urt. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2757 ff.; vgl. für die entsprechende Fallgruppe bei Kommissionsentscheidungen Urt. v. 24.10.1973, RS 43/72, Merkur, Slg. 1973, 3611055 ff. 83

13 Rausch

194

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Hierzu führt der Gerichtshof aus, nicht alle Elemente der zu beurteilenden komplexen wirtschaftlieben Situation seien nach objektiven Kriterien ermittelbar. Daher erstrecke sieb das Ermessen bis zu einem gewissen Grade auch auf die Ermittlung der zugrunde liegenden Daten; insbesondere stehe es dem Rat frei, sieb auf globale Daten zu stützen.84 Der Gerichtshof räumt hier also tatsächlich einen Ermessensspielraum auch binsichtlieb der Sachverhaltsermittlung ein; dieser ist aber eng begrenzt auf Fälle der faktischen Unmöglichkeit. weitergehender Untersuchungen. In anderen Urteilen hat der Gerichtshof klargestellt, daß insbesondere das Erfordernis dringlicher, kurzfristiger Entscheidungen einen solchen Ermessensfreiraum begründen kann. 85 Diese Grenze der Undurchführbarkeit weiterer Sachverhaltsaufklärungen wird vom Gerichtshof überprüft; beruft sich die Kommission unberechtigt auf die Notwendigkeit einer globalen Feststellung, so führt dies zur Aufhebung der Entscheidung.86 Insofern ist festzustellen, daß die Befugnis zur Vornahme globaler Feststellungen zwar einen Ermessensspielraum der Exekutive hinsichtlich der Sachverhaltsermittlung einräumt. Dieser ist aber auf Fälle der tatsächlichen Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit weitergehender Aufklärung beschränkt. Aus diesem Grund ist auch in dieser Vorgehensweise des Gerichtshofs kein Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz zu sehen. 6. Die Kontrollpraxis des Gerichts erster Instanz

Die Ausführungen zur Kontrollpraxis des Gerichtshofs haben erkennen lassen, daß die teilweise Zurückhaltung im Bezug auf die gerichtliche Kontrolle des zugrunde liegenden Sachverhaltes im wesentlichen auf die hohe Arbeitsbelastung zurückzuführen ist. Daher wurden in der Literatur Erwartungen an eine diesbezügliche Effektivierung des Rechtsschutzes durch die Errichtung eines Gerichts erster Instanz (im folgenden: Gericht) geknüpft.87

Urt. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2757 (2599), Rdz. 14. Urt. v. 24.10.1973, RS 43/72, Merkur, Slg. 1973, 1055 (1074), Rdz. 24; Urt. v. 29.10.1980, RS 138/79, Roqueue, Slg. 1980, 3333 (3359), Rdz. 27. 86 Urt. v. 09.03.1976, RS 95/75, Effem, Slg. 1976, 361 (368), Rdz. 5 ff. Pf7 Vgl. bereits Everling, in: Fortentwicklung des Rechtsschutzes, 39 (39 ff.); ders., NVwZ 1987, 1 (8); Herdegenf Richter, 209 (213); Mi/let ICLQ 1989, 811 (831). 84

&5

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

195

Nachdem dieses Gericht am 31.10.1989 seine Arbeit aufgenommen hat,88 soll nunmehr untersucht werden, inwieweit sich die Erwartungen an eine effektivere Sachverhaltskontrolle bestätigt haben. Die Analyse soll sich hierbei auf die im Bereich des Wettbewerbsrechtes übertragenen Zuständigkeiten beschränken.89 Vorab ist zu bemerken, daß erst auf eine relativ geringe Anzahl aussagekräftiger Urteile zurückgegriffen werden kann. Das erste Sachurteil zum Wettbewerbsrecht erging erst am 10.07.1990.90 Dennoch läßt die bisherige Rechtsprechungspraxis bereits eindeutige Tendenzen erkennen. Zunächst ist festzustellen, daß auch das Gericht bisher selten eine eigene Beweisaufnahme durchgeführt hat. Im Gegensatz zu Urteilen des Gerichtshofs findet sich aber stets ein ausdrücklicher Hinweis auf die Entbehrlichkeit einer solchen Beweisaufnahme, indem das Gericht ausführt, es habe beschlossen.; die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. 1 Dies läßt allerdings nicht den Schluß auf eine Zurückhaltung bei der Sachaufklärung zu. Vielmehr läßt das Gericht regelmäßig erkennen, daß es eine Beweisaufnahme deshalb nicht für erforderlich hält, weil eine Entscheidungsreife bereits durch das schriftliche Verfahren herbeigeführt worden ist. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die dem Gericht nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung ausdrücklich eröffnete Befugnis zur Durchführung sogenannter "prozeßleitender Maßnahmen". Hiernach können Fragen an die Parteien oder Dritte gerichtet werden; auch die Anordnung der Vorlage von Unterlagen und die Ladung zu informellen Erörterungsterminen ist möglich.92 Das Gericht macht von diesen prozeßleitenden Maßnahmen intensiven Gebrauch. So findet sich sehr häufig die Aussage, aufgrund der von den Parteien gegebenen Antworten auf die Fragen des Gerichts erübrige sich

88

Vgl. hienu und zur Entstehungsgeschichte Rabe NJW 1983, 3041 (3042 f.).

Vgl. zu den Zuständigkeiten Jung EuR 1992, 246 (247) sowie Rabe NJW 1989, 3041 (3042 f.); zur E rweiterung der Zuständigkeiten ab dem 01.08.1993 vgl. Niemeyer EuZW 1993, 529 ff. 89

Urt. v. 10.07.1990, RS T-51/89, Tetra Pak, Slg. 1990-11, S. 309 ff. Vgl. z.B. Urt. v. 10.07.1991, RS T-69/89, Radio Telefis Eireann, Rdz. 15; Urt. v. 12.12. 1991, RS T-30/90, Hilti, Rdz. 22; Urt. v. 12.12.1991, RS T-39/90, NV Samenwerkende, Rdz. 14; alle noch nicht in Slg. 90

91

92 vgl.

hienu im einzelnen Jung EuR 1992, 247 (251 f.).

196

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

eine Beweisaufnahme.93 In anderen Fällen hält das Gericht eine Beweisaufnahme zwar für entbehrlich, verlan~ aber dennoch die Vorlage bestimmter Dokumente durch die Kommission. Lassen sich auf diese Weise Unklarheiten und Unstimmigkeiten nicht aufklären, so scheut das Gericht aber auch nicht vor der Durchführung weiterer Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung zurück. So hat das Gericht bei widersprüchlichem Parteivorbringen die Kommission aufgefordert, ein in Bezug genommenes Sitzungsprotokoll und den vom Kommissionskollegium angenommen Entscheidungstext vorzulegen.95 In einem anderen Fall hat das Gericht den Berichterstatter mit einer weiteren Sachverhaltsaufklärung und der Erstellung eines von den Parteien akzeptierten gemeinsamen Dossiers beauftragt, um die Sachverhaltsaufklärung zu erleichtern. Der Berichterstatter arbeitete in der Folge ein entsprechendes Dossier aus, dem er an die Parteien zur Stellungnahme ausfegebene Sitzungsberichte und Befragungen der Parteien zugrunde legte.9 Diese Beispiele zeigen, daß das Gericht um eine möglichst vollständige Sachverhaltsaufklärung bemüht ist und in den Fällen, in denen das schriftliche Verfahren nicht zur Entscheidungsreife geführt hat, auch eigenständige Erforschungsmaßnahmen (mesures d'instruction) vornimmt. Die im Vergleich zum Gerichtshof deutlich intensivere Auseinandersetzung mit dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zeigt sich aber auch in besonderem Maße im Bereich der Beweiswürdigung. Das Gericht nimmt eine wesentlich umfangreichere Würdigung des vorliegenden Beweismaterials vor und geht oft minutiös auf die Überzeugungskraft der vorgebrachten Dokumente und sonstigen Beweismittel ein.97 Hierbei geht es im Rahmen der Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen Wettbewerbsvorschriften in einem eigenen Prüfungspunkt auf die vorgebrachten tatsächlichen Feststellungen ein. Im Rahmen seiner Untersuchun93 Vgl. z. B. Urteile v. 17.12.1991, RS T4, T-5 und T-7/89, BASF, Enichem und SA Hercules, Rdz. 25 f.; Urteile v. 10.03.1992, RS T-9, T-10, T-11 und T-12/89, Hüls, Höchst, Shel~ Solway, Rdz. 25 f.; Urt. v. 05.06.1992, RS T-26/89, Finsider, Rdz. 34 f. 94 Vgl. Urt. v. 27.02.1992, RS T-19/88, Vichy, Rdz. 7. 95 Urt. v. 27.02.1992, verb. RS T-79,84-86,89,91,92,94, 96,98,102 und 104/89, BASF, Rdz. 17, 25. 96 Urt. v. 10.03.1992, verb. RS T -68, 77 und 78//89, Vetro, Rdz. 40 ff. 97 Ein Indiz hierfür ist bereits die intensivere Auseinandersetzung mit den allgtmeinen Fragen der Beweiswürdigung bei GA Vesterdoif, Schlußantrag v. 10.07. 1991, RS T-1 bis T-4 und T-6 bis T-15/89, Rhfme Poulenc SA u.a., S. 135 ff.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

197

gen erörtert das Gericht dann eingehend die Aussage- und Überzeugungskraft der vorgebrachten Beweismittel.98 Hierbei ist auch nicht ersichtlich, daß das Gericht dem Vortrag der Kommission eine zu weitgehende Überzeugungskraft beimißt. Stellt sich vielmehr heraus, daß die vorgetragenen Dokumente den der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt nicht bzw. nicht in vollem Umfang zu beweisen vermögen, so führt dies zur vollständigen bzw. teilweisen Annullierung der Entscheidung.99 Auch einer von der Kommission behaupteten Entbehrlichkeit der Beweisführung wegen offensichtlichen Vorliegens eines Umstandes hat das Gericht eine Absage erteilt, indem es auf die Pflicht zur ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung hinweist. 100 Das Gericht hat auch klargestellt, daß es nur solche Beweismittel der Kommission in seine Beweiswürdigung einbezieht, die auch der Gegenpartei mitgeteilt worden sind.101 Zusammenfassend läßt sich somit in der Rechtsprechungspraxis des Gerichts erster Instanz eine deutlich intensivere Auseinandersetzung mit dem den Kommissionsentscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalt feststellen.102 Die hiermit verbundene Effektivierung des Rechtsschutzes würde eine Ausweitung der Zuständigkeiten dieses Gerichts auf das Antidumping- und Antisubventionsrecht begrüßenswert erscheinen lassen,103 da auch gerade in diesem Bereich den Entscheidungen regelmäßig sehr komplexe Sachver-

98 Vgl. z.B. Urt. v. 24.10.1991, RS T-1/89, RMne Poulenc SA, Rdz. 33 ff.; Urt. v. 17.12.1991, RS T-7/89, SA Hercules, Rdz. 60 ff.; Urt. v. 17.12.1991, RS T-8/89, DMS NV, Rdz. 52 ff.; Urt. v. 10.03.1992, RS T-9/89, Hüls, Rdz. 92 ff.; Urt. v. 10.03.1992, RS T-15/89, Chemie Linz, Rdz. 89 ff. 99 Vgl. Urt. v. 24.10.1991, RS T-2/89, Petrofina, Tätigkeitsbericht 18/81, S. 14 ff.; Urt. v. 10. 03.1992, RS T-9/89, Hüls, Rdz. 96 ff. (102), 114 ff. (129), 166 er. (138); Urt. V. 10.03.1992, RS T-11/89, She/1, Rdz. 173 ff. (190), 255 ff. (269); Urt. v. 10.03.1992, verb. RS T-68, 77 und 78//89, Vetro, Rdz. 172 ff. (250), 251 ff. (281 f.), 283 ff. (313). 100 Urt. v. 10.03.1992, verb. RS T-68, 77 und 78//89, Vetro, Rdz. 158 ff. 101 Vgl. Urt. v. 27.02.1992, verb. RS T-79,84-86,89,91, 92,94,96,98,102 und 104/89, BASF, Rdz. 25; vgl. auch GA Vesterdorf, Schlußantrag v. 10.07.1991, RS T-1 bis T-4 und T-6 bisT15/89, RMne Poulenc SA u.a., S. 136. 102 Vgl dazu auch Jung EuR 1992, 246 (251); insofern haben sich die von Everling WuW 1989, 877 (893) geäußerten E!Wllrtungen erfüllt. 103 Vgl. auch hienu bereits Everling WuW 1989,877 (892), der eine solche Ausdehnung der Kompetenzen sogar für zwingend erforderlich hält; ebenso Lasokf Bridge, S. 320; Prieß JuS 1991, 629 (633); Rabe/ Schütte CMLRev 1989, 642 (648 f.).

198

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

halte zugrunde liegenYl4 Insofern ist zu bemängeln, daß auch die vom Rat am 08.06.1993 beschlossene Erweiterung der Zuständigkeiten des Gerichts105 den Bereich des Antidumping- und Antisubventionsrechts ausdrücklich ausklammert.

7. Beweislast Erst dann, wenn sich die entscheidungserhebliche Tatsachenlage auch nach erfolgter richterlichen Untersuchung nicht aufklären läßt, stellt sich die Frage nach der Beweislast. 106 Hier folgt der Gerichtshof dem aus dem deutschen Recht vertrauten Grundsatz, daß jede Partei die für sie günstigen Umstände zu beweisen hat.t07 Dies hat die Konsequenz, daß die Kommission die Beweislast für die Tatsachen trägt, die sie ihrer Entscheidung zugrunde legt. 108 Begehrt der Kläger dagegen eine Freistellung von einem rechtmäßig festgestellten Verbot, so trifft ihn hierfür die Beweislast. 109 Gleiches gilt, wenn er die Fehlerhaftigkeit einer Ermessensentscheidung der Kommission

104 Müller-Huschke EuGRZ 1989, 213 (214); allerdings dürfte aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes die von van Bael/ Bellis, S. 220 f., geäußerte Erwartung unzutreffend sein, das Gericht werde dann auch eine Überprüfung grundlegender technischer Fragen vornehmen. 105 Beschluß des Rates 93/350/ Euratom, EGKS, EWG vom 8. Juni 1993 zur Änderung des Beschlusses 88/591/ EGKS, EWG, Euratom zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Abi. 1993, Nr. L 144/21 ff. 106 Vgl. Lasok ECLR 1983, 85 (90 f.) 107 Vgl. Lasok, S. 256 sowie oben 4. Teil, B 111 6. 108 Vgl. Urt. v. 08.02.1966, RS 8/65, Pugliesi, Slg. 1966, 1 (11); Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 40-48,50,54-56,111,113 u. 114/73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (2005), Rdz. 205/206; Urt. v. 14. 02.1978, RS 27/76, United Brands, Slg. 1978, 207 (307); Urt. v. 25.10.1983, RS 107/82, AEG, Slg. 1983, 3151 (3207, 3214, 3219), Rdz. 86, 115, 134; Urt. v. 21.02.1984, RS 86/82, Hasse/b/ad, Slg. 1984, 883 (905 f.), Rdz. 34 f.; Urt. v. 07.06.1988, RS 57/86, Griechenland/ Kommission, Slg. 1988, 2855 (2873), Rdz. 14 ff.; Urt. v. 19.02.1991, RS C-281/89, Italien/ Kommission, Slg. 19911, 347 (365), Rdz. 19; vgl. auch GA Vesterdorf, Schlußantrag v. 10.07.1991, RS T-1 bis T-4 und T-6 bis T-15/89, Rhfme Poulenc SA u.a., S. 136, noch nicht in Slg. 109 Vgl. hinsichtlich Art. 92 I, 111 EWGV GA Dam1on, Schlußantrag v. 16.12.1986, RS 248/84, BRD/ Kommission, Slg. 1987, 4025 (4032); GA Capotoni, Schlußantrag v. 18.06.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2693 (2702) sowie Urt. v. 17.09.1980, 2671 (2690), Rdz. 18; insofern ist die Ansicht Lasoks, ECLR 1983, 85,(91 f.), die Beweislast liege stets bei der Kommission, unzutreffend.

199

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

rügt.U0 Auch insoweit besteht eine Übereinstimmung zum deutschen Verwaltungsprozeß.111 Damit folgt die Regelung nicht dem französischen Grundsatz "actori incumbit probatio", die dem Kläger die grundsätzliche Beweislast auferlegt. 112 Diese Anwendung des Normgünstigkeitsprinzips macht deutlich, daß der Gerichtshof gerade in der für den Ausgang des Rechtsstreits besonders bedeutsamen Frage der Beweislastverteilung trotz der betonten Einhaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes um die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes auch im Bezug auf individuelle Interessen bemüht istY 3 Teilweise finden sich sogar Anzeichen eines Beweises des ersten Anscheins (prima-facie-Beweis),114 wie er im deutschen Prozeßrecht ebenfalls üblich ist. 115 Besonderheiten sind insofern nicht festzustellen. IV. Zusammenfassung

Unterzieht man die Untersuchungen zur Kontrolle von Tatsachenfeststellungen einer abschließenden Betrachtung, so ist zunächst festzuhalten, daß das Verfahren vor dem Gerichtshof unter Art. 173 EWGV von der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes geprägt ist. Der Gerichtshof ist berechtigt und verpflichtet, den einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt eigenständig und umfassend nachzuprüfen, ohne hierbei an das Vorbringen der Parteien gebunden zu sein. Eine Analyse der Praxis des Gerichtshofs zeigt weiterhin, daß dieser den Parteien hinsichtlich Darlegungslast und Mitwirkungspflichten hohe Anforderungen auferlegt. Insbesondere das entsprechend dem recours pour exces de pouvoir ausgestaltete Erfordernis einer substantiierten Darlegungspflicht des Klägers stellt wesentlich höhere Anforderungen als im deutschen Verwaltungsprozeß. Auf diese Weise gelangt der Gerichtshof häufig bereits zur 110 Urt. v. 29.03.1979, RS 119/77, Seiko, Slg. 1979, 1303 (1333), Rdz. 32; Urt. v. RS 187/85, Fediol II, Slg. 1988,4155 (4189), Rdz. 16; vgl. auch Adam, S. 105, 107.

111

14.07.1988,

Vgl. oben 2. Teil, C IV.

112

Vgl. oben 3. Teil, C V. 113 Vgl. dazu Everling NVwZ 1987, 1 (5). 114 Urt. v. 12.12.1956, RS 10/55, Mirossevitsch, Slg. 1955-56, 387 (404); vgl. auch Urt. v. 09.1988, RS 272/86, Kommission/ Griechenland, Slg. 1988,4875 (4900 f.), Rdz. 20 f. 115 Vgl. oben 2. Teil, C IV.

22.

200

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Entscheidungsreife, ohne eine eigenständige Sachverhaltserforschung vornehmen zu müssen. Auch in dem verbleibenden "Pflichtbereich" findet eine eigenständige Untersuchung und Nachprüfung des Sachverhaltes in wesentlich eingeschränkterem Maße und weit weniger systematisch statt als im deutschen Verwaltungsprozeß. Insofern läßt sich eine Parallele zur französischen Verwaltungsgerichtspraxis feststellen; während diese Praxis im französischen Verwaltungsprozeß vor allem auf die historisch gewachsene Stellung der Verwaltungsgerichte, insbesondere des Staatsrats, zurückzuführen ist, dürfte die Ursache beim Gerichtshof in erster Linie in der Arbeitsbelastung zu suchen sein. Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, daß die Mehrheit der Richter des Gerichtshofs der romanischen Verwaltungsrechtstradition verhaftet ist; aufgrundder hieraus resultierenden Vertrautheit mit den Begriffen und Regelungen insbesondere des französischen Verwaltungsrechts erfolgt auch die Vorgehensweise im Verfahren vor dem Gerichtshof vielfach in Anlehnung an das französische Recht. 116 Auch hierin dürfte ein Grund für die restriktivere Praxis im Bereich der Sachverhaltserforschung liegen. Kennzeichnend für die Vorgehensweise des Gerichtshofs ist insbesondere der hohe Grad an Richtigkeitsgewähr, der Aussagen der Kommission gerade im Bezug auf Tatsachenfragen beigemessen wird. In diesem Bereich wäre ein intensiverer Gebrauch der Befugnisse zur Vornahme von Beweisaufnahmen auf Initiative des Gerichtshofs sowie eine differenziertere Beweiswürdigung wünschenswert. Die teilweise festzustellende Zurückhaltung bei der Sachverhaltsaufklärung zugunsten eines raschen und insofern effektiven Rechtsschutzes geht jedoch nicht so weit, daß sich hieraus durchgreifende rechtliche Bedenken ergeben. Zwar gehen die vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen an Darlegungslast und Mitwirkungspflichten der Parteien über das hinaus, was nach deutschen Rechtsverständnis im Rahmen der von Art. 19 IV GG geforderten Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes zulässig ist. Andererseits werden aber auch im Verfahren vor dem Gerichtshof den Beteiligten keine unzumutbaren Belastungen auferlegt.

116

Vgl. hierzu auch Becker, S. 141 f.

B. Kontrolle von Tatsachenfeststellungen

201

Hierbei ist zum einen zu beachten, daß die dargestellten Anforderungen an Darlegungslast und Mitwirkungspflichten nicht einseitig dem Kläger auferlegt werden, sondern auch die erlassende Behörde gleichermaßen treffen. Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes trotz der genannten Beteiligungspflichten wird des weiteren dadurch gesichert, daß das Normgünstigkeitsprinzip Anwendung findet. Dies hat zur Folge, daß die Kommission die Beweislast für die Tatsachen trägt, die sie ihrer Entscheidung zugrunde legt. Bestehende Beweisschwierigkeiten wirken sich insofern nicht zuungunsten des Klägers aus. Auch die häufig festzustellende Praxis des Gerichtshofs, den Kommissionsvortrag unter Hinweis auf nicht bestehende Zweifel zu übernehmen, ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Eine entsprechende Praxis ist auch nach deutschem Rechtsverständnis unbedenklich, soweit der behördliche Vortrag überzeugend ist und nicht durch sonstige Feststellungen erschüttert wird. Im übrigen ist der Gerichtshof bei Grenzfällen regelmäßig um eine alternative Begründung seiner Entscheidung auf der Grundlage des K.lägervorbringens bemüht. Weiterhin ist zu beachten, daß die beschriebene richterliche Zurückhaltung auch nicht zwangsläufig zur Verkürzung individueller Rechtspositionen führt, denn bei mangelhafter Ermittlung des Tatsachenmaterials wird der Gerichtshof ohnehin die Entscheidung der Kommission aufheben. Zudem darf nicht übersehen werden, daß sich die Frage der Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes nicht auf die Intensität der richterlichen Nachprüfung beschränkt. Vielmehr ist auch die Durchführung des Verfahrens in angemessener Frist ein elementarer Grundsatz des Gebotes effektiven Rechtsschutzes. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs ist dieser geradezu gezwungen, einen angemessenen Kompromiß zwischen einem möglichst umfassenden und einem rechtzeitigen Rechtsschutz zu finden. Auch eine Einräumung echter Ermessensspielräume hinsichtlich der Sachverhaltsermittlung durch die Kommission ist nicht festzustellen. Lediglich im Bereich kurzfristiger, dringlicher Entscheidungen gesteht der Gerichtshof der Kommission eng begrenzte Entscheidungsfreiräume zu. Diese Freiräume finden jedoch ihre Rechtfertigung in der Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit weitergehender Untersuchungen des Sachverhaltes durch die Kommission; insofern läßt sich hieraus keine grundsätzliche Bereitschaft

202

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

des Gerichtshofes zur Gewährung eines nur eingeschränkt justitiableu Ermessens hinsichtlich der Sachverhaltserforschung ersehen. Insgesamt ist daher festzustellen, daß die Sachverhaltsaufklärung durch den Gerichtshof zwar nicht in jeder Beziehung das Maß an Intensität erreicht, wie sie durch Art. 19 IV GG für das deutsche Recht vorgegeben wird. Die Vorgehensweise des Gerichtshofs gewährleistet aber durchaus ein hinreichendes Maß an Effektivität und genügt jedenfalls den Anforderungen des vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes, wie er nach der Rechtsprechung des BVerfG im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften zu gewährleisten ist. 117 Aus diesen Gründen ist die Vorgehensweise des Gerichtshofs in der Praxis nicht zu beanstanden. Vergleicht man die Vorgehensweise des Gerichtshofs allerdings mit der Kontrollpraxis des 1989 eingerichteten Gerichts erster Instanz, so ist festzustellen, daß dieses eine wesentlich höhere Kontrollintensität im Bezug auf den zugrunde liegenden Sachverhalt erkennen läßt. Dies zeigt sich sowohl an der höheren Bereitschaft zur Durchführung eigenständiger Aufklärungsmaßnahmen als auch an der wesentlich intensiveren und differenzierteren Beweiswürdigung. Der insoweit effektiver gewährleistete Rechtsschutz läßt eine Ausweitung der Zuständigkeiten des Gerichts erster Instanz auf den durch hohe Sachverhaltskomplexität gekennzeichneten Bereich des Antidumping- und Antisubventionsrechts als wünschenswert erscheinen. C. Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung Vorgaben des Gemeinschaftsrechts Im folgenden soll untersucht werden, in welchem Umfang der Gerichtshof befugt ist, auch die von der Kommission durchgeführten Tatsachenwürdigungen einer gerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen. Es soll dabei insbesondere festgestellt werden, wie weit die richterliche Kontrolle angesichts bestehender Entscheidungsspielräume reicht. Hierbei ist zu beachten, daß der Gerichtshof keine Differenzierung zwischen Einschätzungsspielräumen der Kommission auf Tatbestands und 117 Vgl.

BVerfGE 73, 339 (385 ff.)- "Solange Ir - Beschluß.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Vorgaben

203

Rechtsfolgenseite vornimmt, sondern beide einheitlich unter den Begriff des Ermessens faßt. 1 Ausgehend von dieser Vorgehensweise soll im folgenden ebenfalls der Begriff "Ermessen" sowohl für Entscheidungsspielräume auf der Tatbestandsseite (d.h. im Bereich "unbestimmter Rechtsbegriffe" nach deutschem Rechtsverständnis) als auch auf der Rechtsfolgenseite (d.h. im Bereich des "eigentlichen" Rechtsfolgenermessens) verwendet werden. I. Vorgaben des EWGV

Untersucht man die Regelungen des EWGV, insbesondere die Art. 164, 173 EWGV, im Hinblick auf eine Aussage über den Umfang der Kontrolle der Würdigung eines festgestellten Sachverhaltes, so finden sich keine aussagekräftigen Hinweise. Art. 173 EWGV sagt lediglich aus, daß es dem Gerichtshof obliegt, die Rechtmäßigkeit des Handeins der Kommission zu prüfen. Umfang und Grenzen dieser Rechtmäßigkeitskontrolle werden aber nicht näher dargelegt. Insofern besteht ein Unterschied zur Regelung der Nichtigkeitsklage im EGKSV. Hier nimmt Art. 33 I 2 EGKSV ausdrücklich Stellung zum Umfang der richterlichen Nachprüfungsbefugnis. Angesichts der ansonsten bestehenden weitgehenden Übereinstimmung zwischen Art. 33 EGKSV und Art. 173 EWGV und des von den vertragsschließenden Parteien allgemein bezweckten Modellcharakters des EGKSV für weitere Einigungswcrke2 und damit auch für den EWGV soll zunächst in einem Exkurs die inhaltliche Aussage des Art. 33 I 2 EGKSV dargestellt werden. Anschließend ist zu erörtern, wie vor diesem Hintergrund Umfang und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle des Kommissionshandeins unter Art. 173 EWGV zu beurteilen sind. 1 Everling WuW 1989, 877 (881) unter Bezugnahme auf Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842 f.), Rdz. 19 f.; vgl. auch Bleckmann, Rdz. 557; Grabitz NJW 1989, 1776 (1778); Herdegenf Richler, 209 (210 f.); Nicolaysen , in: Stober, § 20, S. 369; Screinz, Rdz. 525; kritisch zu dieser nicht bestrittenen Vorgehensweise des Gerichtshofs Mertens de Wilmars, LIEI 1982/1, 1 (3 ff.), der eine Differenzierung zwischen "power of appraisal" auf der Tatbestands- und "discretionary powers" auf der Rechtsfolgenseite für sinnvoll hält, aber auch einräumen muß, daß sich eine solche Einteilung häufig nicht durchhalten läßt (vgl. S. 7); unzutreffend insofern Ehle, Art. 164, Rdz. 24. 2 Mosler, Festschrift Hallstein, 355 (359) unter Bezugnahme auf das gemeinsame Kommunique zum Schuman-Plan vom 03.Juni 1950.

204

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH II. Exkurs: Die Vorgaben des Art. 33 I 2 EGKSV

Gemäß Art. 33 I 2 1. HS EGKSV darf sich die Nachprüfung durch den Gerichtshof nicht auf die Würdigung der sich aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebenden Gesamtlage erstrecken, die zu den angefochtenen Entscheidungen geführt hat. Eine Ausnahme hiervon sollen nach Art. 33 I 2 2. HS EGKSV die Fälle bilden, in denen der Kläger einen Ermessensmißbrauch bzw. eine offensichtliche Verkennung des Vertrages durch die Hohe Behörde rügt. Diese Regelung läßt in ihrer Konzeption bereits einen grundlegenden Unterschied zum französischen Verwaltungsrecht erkennen. Sie ist nicht wie dieses von einer historisch gewachsenen grundsätzlichen Ermessensfreiheit der Verwaltung geprägt, der durch die Legalitätskontrolle der Gerichte gewisse Schranken gesetzt werden? Vielmehr geht Art. 33 I 2 EGKSV von der grundsätzlichen Nachprüfungskompetenz des Gerichtshofs aus; lediglich in den Fällen der Würdigung einer Gesamtlage soll ein Ermessen der Verwaltung bestehen, das der gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich entzogen ist. Folglich stellt das Verwaltungsermessen von der Grundkonzeption des Art. 33 EGKSV nicht den Regelfall, sondern die Ausnahme dar. Insofern besteht eine Übereinstimmung mit dem deutschen Verwaltungsrecht, das ebenfalls von der umfassenden gerichtlichen Kontrolle als Grundsatz ausgeht. Damit ist allerdings noch keine Aussage über Intensität und Umfang von Ermessensspielräumen der Verwaltung getroffen. Eine solche ist vielmehr davon abhängig, welcher Inhalt dem Kontrollverbot des Art. 33 I 2 EGKSV und seinen Ausnahmen beizumessen ist. 1. Grundsätzliches Verbot der Nachprüfung der Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage (Art. 33 I 2 1. HS EGKSV)

Art. 33 I 2 1. HS EGKSV entzieht dem Gerichtshof die Nachprüfung der Würdigung der aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage. Die Tragweite des hierin zum Ausdruck kommenden

3

Vgl. dazu bereits oben 3. Teil, B 1113.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

205

Kontrollverbots hängt somit im wesentlichen davon ab, welche inhaltliche Bedeutung diesem Begriff der wirtschaftlichen Gesamtlage beizumessen ist. a) Verbot jeder Würdigung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände Zum Teil wird aus der Formulierung des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV die Schlußfolgerung gezogen, jede Würdigung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände sei der Kontrolle des Gerichtshofs grundsätzlich entzogen.4 Dies wird damit begründet, daß auch die Bewertung wirtschaftlicher Fakten der Kommission ein Ermessen einräume; dieses dürfe !edoch nicht einer unzulässigen Kontrolle durch den Gerichtshof unterliegen. b) Verbot der Würdigung zusammenfassender Schlüsse Nach anderer Ansicht ergibt sich aus Art. 33 I 2 1. HS EGKSV keine Beschränkung der Nachprüfung hinsichtlich der Würdigung einzelner Tatsachen und Umstände.6 Von einer Kontrolle grundsätzlich ausgeschlossen seien dagegen die zusammenfassenden Schlüsse, die aus der Fülle von Einzeldaten und -umständen zu ziehen seien und insofern die Bewertung einer komplexen ökonomischen Situation in einer diagnostischen und häufig prognostischen Gesamtschau erfordern? c) Stellungnahme Zur Beurteilung der Frage, welcher der beiden Ansichten der Vorzug zu geben ist, muß zunächst auf den Wortlaut des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV eingegangen werden. 4 Boulois, S. 276; Jerusalem, S. 51; Lasok ECLR 1983, 85 (87); ders., S. 210; Rupprecht, S. 33 ff.; Schermers/ Waelbroek, § 310; Toth, S. 80; U/e DVBI. 1952, 65 (69); vgl. auch Bebr, S. 125.

5 Rupprecht,

S. 34; wohl auch Lasok, S. 208.

6

C.E.CA., S. 225; Daig, in: v.d. Groeben, 3. Aufl., Art. 173, Rdz. 9; Delvaux, S. 24; Steindorf!, Nichtigkeitsklage, S. 131; vgl. auch Clever, S. 114 f., der allerdings von einer freiwilligen Selbstbeschränkung des Gerichtshofs hinsichtlich einzelner Tatsachen und Umstände spricht. 7 Schlußantrag GA Lagrange, RS 3/54, Assider, Slg. 1954-55, 151 (180 f.); Baumann, S. 120 f.; Becker, S. 71 f.; Daig, in: v.d. Groeben, 3. Aufl., Art. 173, Rdz. 9; Krück, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 106; Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 136 f., 154; Vandersanden/ Barav, S. 204.

206

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

aa) Wortlaut

Untersucht man die deutsche Fassung des Art. 33 EGKSV, so ist aus der Formel "Würdigung der aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebende Gesamtlage" keine eindeutige Entscheidung hinsichtlich einer der genannten Auffassungen zu ersehen. Die Verwendung des Begriffs "Gesamtlage" läßt nicht erkennen, ob wirtschaftliche Wertungen grundsätzlich eine solche Gesamtlage zum Gegenstand haben oder aber nur besonders komplexe Würdigungen in diesem Bereich erfaßt werden sollen.8 Aufschlußreicher ist dagegen die französische Fassung; hierbei ist auch die besondere Bedeutung dieser Fassung für die Interpretation des EGKSV zu beachten. Gemäß Art. 100 I EGKSV ist der EGKSV in einem einzigen Exemplar verfaßt; für diese Fassung hat man die französische Fassung verwendet. Auch die nationalen Ratifizierungsgesetze beziehen sich auf den EGKSV in seiner französischen Fassung. Aus diesen Umständen wird allgemein die Schlußfolgerung hergeleitet, allein die französische Fassung des EGKSV sei als maßgeblich anzusehen.9 Untersucht man vor diesem Hintergrund den französischen Wortlaut des Art. 33 I 2 EGKSV, so ist festzustellen, daß dieser von der "appreciation de Ia Situation decoulant des faits ou circonstances economiques" spricht. Die Tatsache, daß nicht die "appreciation des faits ou circonstances economiques" in ihrer Gesamtheit der richterlichen Nachprüfung entzogen werden soll, sondern nur die "situation", die sich aus diesen Tatsachen ergibt, macht deutlich, daß dem grundsätzlichen Nachprüfungsverbot nur die Lage unterfallen soll, die sich aus einer Gesamtheit von wirtschaftlichen Einzeltatsachen und -umständen zusammensetzt.10 Einen vergleichbaren Befund liefert die englische Fassung, die von der "evaluation of the situation, resulting from economic facts or circumstances" spricht und somit ebenfalls eine klare Differenzierung zwischen einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und der sich hieraus ergebenden Gesamtschau vornimmt.U 8 Aus diesem Grunde hält Daig, Rdz. 214, auch die Formulierung "Gesamtwürdigung der Lage" für vorzugswürdig. 9 Schlußantrag GA Lagrange, RS 3/ 54, Assider, Slg. 1954-55, 151 (178); Baumann, S. 58; Steindorff, S. 137; Wegmann, S.20; im übrigen wurden auch die vorhergehenden Vertragsverhandlungen auf der Grundlage eines französischen Arbeitsdokumentes geführt; vgl. Mosler, Festschrift Hallstein, 355 (367 f.). 10 In diesem Sinne auch Baumann, S. 60 f. 11 Selbst Rupprecht, S. 34, erkennt den insoweit deutlichen Wortlaut an.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

207

bb) Entstehungsgeschichte

Untersucht man weiterhin die Entstehungsgeschichte des Art. 33 EGKSV, so zeigt sich, daß diese Norm Ausdruck des den institutionellen Teil des Vertrages beherrschenden Gewaltenteilungsprinzips ist. Sie beruht auf einem Kompromiß zwischen den Wünschen der Vertragspartner, die Tätigkeit der Hohen Behörde einer rechtlichen Kontrolle zu unterziehen und der Sorge, durch eine allzu starke gerichtliche Kontrolle die Hohe Behörde in der Verfolgung der Vertragsziele zu behindern. 12 Bedenken hinsichtlich der Nachprüfungsbefugnis des Gerichtshofs im Bezug auf Tatsachenwürdigungen hatten ihre Ursache vor allem in der damaligen neueren Rechtsprechung des Conseil d' Etat, der im Bereich der sogenannten contröle maximum eine sehr weitreichende Überprüfung der Tatsachenwürdigung (appreciation des faits) im Rahmen des Tatsachenirrtums (erreur de fait) entwickelt hatteP Diese Bedenken finden ihren Ausdruck auch in der deutschen amtlichen Begründung des EGKS-Vertragsentwurfs14 sowie in dem Bericht der französischen Delegation,15 auf die bereits Generalanwalt Roemer in der Rechtssache Niederlande/ Hohe Behörde Bezug genommen hat. 16 In der deutschen Begründung wird ausgefÜhrt: "Die den institutionellen Teil beherrschende Gewaltenteilung verlangte, daß die richterliche Kontrolle des Gerichtshofes ihn nicht an Stelle der Hohen Behörde zum höchsten Willensorgan der Gemeinschaft machen durfte." 17 Die französische Delegation präzisiert diesen Aspekt der Gewaltenteilung, indem sie ausführt: 12 Vgl. Baumann, S. 104; Delvaux, S. 24; Mosler, Festschrift Hallstein, 355 (370); Schermers/ Waelbroek, § 310; Schlochauer ArchVR 1959, 385 (386 f.). 13 Vgl. Schlochauer ArchVR 1952, 385 (403); Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 131 sowie oben 3. Teil, D V 1 b ). 14 E ntwurf eines Gesetzes über die Gründung der EGKS vom 18. April 1951, Begründung des Vertragswerkes, Anlage 3 zur Drucksache Nr. 2401, Deutscher Bundestag, Erste Wahlperiode 1949- 1953. 15 Rapport de Ia delegation franr,;aise sur le traite et Ia convention signes a Paris le 18 avril 1951, zit. nach Baumann, S. 86. 16 GA Roemer, SA v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 241 (258 f.). 17 Vgl. s. 15, zit. nach Baumann, S. 85.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

208

" L'action de Ia Haute Autorite pouvait se trauver paralysee par un contröle total de Ia Cour, qui eut abouti a une complete confusion des pouvoirs."18 Daher dürfe das Handeln der Hohen Behörde nicht behindert werden "dans un domaine ou les considerations economiques, politiques ou sociales exigent une constante appreciation de circonstances de fait ou d'opportunite echappant normalement a Ia competence d'un juge."19 Diese Aussage zeigt noch deutlicher als die deutsche Fassung, daß die Einschränkung der richterlichen Kontrolle ihre Rechtfertigung in dem Grundprinzip des institutionellen Gleichgewichts innerhalb der Gemeinschaften sieht. Diesem würde es widersprechen, wenn der Gerichtshof zum höchsten Entscheidungsorgan gemacht würde, indem er unter dem Deckmantel der gerichtlichen Kontrolle dazu ermächtigt würde, die Ansichten der Exekutive von den von den Gemeinschaften zu verfolgenden Wirtschaftspolitiken durch seine eigene Meinung zu ersetzen.20 Die Stellungnahme macht aber andererseits auch deutlich, daß nur derjenige Bereich einer Nachprüfung entzogen sein soll, der normalerweise der Kontrolle des Richters nicht unterliegt. Beachtet man in diesem Zusammenhang, daß Art. 33 EGKSV in enger Anlehnung an den recours pour exces de pouvoir ausgestaltet worden ist,21 so bietet sich insofern ein Vergleich zur normalen richterlichen Kontrolle im französischen Verwaltungsprozeß an. Ein solcher Vergleich liegt insbesondere aus dem Grunde nahe, weil auch hier der Gewaltenteilungsaspekt eine maßgebliche Rolle spielt.22

cc) Vergleich zum recours pour exces de pouvoir Im recours pour exces de pouvoir umfaßt die vom Richter üblicherweise ausgeübte Kontrolle (contröle normal) auch die Subsumtion des Tatsachenmaterials unter die tatbestandliehen Voraussetzungen ( qualification des faits). Nur ausnahmsweise wird in Bereichen hoher Technizität, bei Fragen wissenschaftlicher Art oder ökonomischer Komplexität diese Nachprüfung eingeschränkt (contröle minim um). 18

Zit. nach GA Roemer, SA v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-

55, 241 (258 f.). 19

20

Zit. nach Baumann, S. 86.

Vgl. Daig, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 9; Toth, S. 79. 21 Schlußantrag GA Lagrange, RS 3/54,Assider, Slg. 1954-55, 151 (157 f.); Herdegenf Richter, 209 (217); Matthies ZaöRV 1955/56 (Bd. 16), 427 (432); Steindorff, S. 53 f. 22 Vgl. oben 3. Teil, AI sowie 3. Teil,§ 2 111 3.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

209

Die von den Verwaltungsgerichten üblicherweise vorgenommene Kontrolle umfaßt aber auch die Subsumtion des Sachverhalts unter die tatbestandliehen Voraussetzungen (qualification des faits). 23 Vergleicht man diese Normalkontrolle mit der nach Ansicht der französischen Delegation auch im Rahmen des Art. 33 I 2 EGKSV auszuübenden Normalkontrolle, so spricht dies dafür, daß auch in diesem Rahmen die Würdigung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt und erst Fragen gesteigerter Komplexität der Nachprüfung entzogen sind. dd) Zielsetzung des Alt. 33 EGKSV

Würde man dem Gerichtshof, der überwiegend mit Fragen wirtschaftlicher Natur beschäftigt ist, bereits bei der einfachen Würdigung ökonomischer Fakten eine Nachprüfungsbefugnis grundsätzlich absprechen, so hätte dies eine grundsätzliche "Verschiebung des Kontrollumfanges" zur Folge. Im Gemeinschaftsrecht würde die Minimalkontrolle des französischen recours pour exccs de pouvoir zum Normalstandard. Ein solches Ergebnis wäre aber mit der sich aus Art. 31, 33 EGKSV ergebenden Pflicht des Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeitskontrolle24 kaum vereinbar und dürfte auch über die mit Art. 33 EGKSV verknüpften Intentionen hinausgehen.25 Das mit dieser Vorschrift angestrebte institutionelle Gleichgewicht zwischen Gerichtshof und Hoher Behörde ist dann am besten gewährleistet, wenn der Gerichtshof im Rahmen seiner Befugnisse zur Rechtmäßigkeitskontrolle grundsätzlich auch die rechtliche Würdigung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände überprüfen darf. Ein Eingriff in den Funktionsbereich der Hohen Behörde liegt erst dann vor, wenn auch die Gesamtabwägung aller im Bereich einer Entscheidung berücksichtigenswerter Umstände einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterzogen würde. Diese Gesamtbewertung der komplexen ökonomischen Situation fällt schon aufgrund der höheren Sachkenntnisse in den Bereich der Letztentscheidungskompetenz der Hohen Behörde, der einer richterlichen Überprüfung grundsätzlich nicht offensteht

Z3

Vgl. oben 3. Teil, D V 2.

Insoweit kann auf die Ausführungen zu Art. 164, 173 EWGV verwiesen werden; vgl. oben 4. Teil, AI 1 a). 25 Vgl. in diesem Zusammenhang selbst Rupprechl, S. 36, der von einer nicht recht einleuchtenden Begrenzung der richterlichen Kontrolle im Sinne eines verschärften Prinzips der reinen Rechtskontrolle spricht und damit letztlich seine eigene Auffassung in Frage stellt. 2A

14 Rausch

210

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Aus diesen Gründen ist Art. 33 I 2 1. HS EGKSV in der Weise auszulegen, daß es dem Gerichtshof nicht verwehrt ist, Entscheidungen der Hohen Behörde daraufhin zu überprüfen, ob einzelne wirtschaftliche Tatsachen oder Umstände korrekt unter die anzuwendende Norm subsumiert worden sind. Von der richterlichen Kontrolle grundsätzlich ausgeschlossen sind dagegen die zusammenfassenden Schlüsse, die die Hohe Behörde aus der Fülle der Einzeldaten zieht und die eine Bewertung der komplexen ökonomischen Situation erfordern. d) Aussagen des Gerichtshofs Untersucht man die Aussagen des Gerichtshofs zum Umfang des in Art. 33 I 2 1. HS EGKSV enthaltenen Nachprüfungsverbotes, so ist festzustellen, daß dieser bereits in der Rechtssache Niederlande/ Holte Behörde klargestellt hat, eingeschränkt überprüfbar im Sinne dieser Vorschrift seien die Schlußfolgerungen, die die Hohe Behörde aus den festgestellten Tatsachen und Umständen bei der Würdigung der Gesamtlage ziehe. 26 Diese Formel bat einen wesentlich eindeutigeren Aussagegehalt als die deutsche Fassung des Art. 33 EGKSV. Sie läßt erkennen, daß Gegenstand des Nachprüfungsverbots die abschließende Bewertung der Hohen Behörde auf der Grundlage einer Vielzahl einzelner wirtschaftlicher Daten sein soll. Eine noch deutlichere Aussage findet sich im Urteil Knutange; hier führt der Gerichtshof aus, die Würdigung der komplexen Marktlage überschreite die Grenzen der Rechtskontrolle, die der Vertrag dem Gerichtshof zuerkannt habe. Für eine solche Würdigung sei dieser nur nach Maßgabe des Art. 33 I 2 EGKSV zuständigP In einem späteren Urteil hat er klargestellt, daß der Sinn dieser Vorschrift in dem Bestreben liege, die Kontrollbefugnis des Gerichtshofs bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Kommission zu beschränken.28 Diese Aussagen machen deutlich, daß der Gerichtshof nicht jede Würdigung einzelner wirtschaftlicher Fakten dem Kontrollverbot des Art. 33 I 2 26 Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (235,236); vgl. auch GA Capotoni, Schlußantrag v. 05.12.1979, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 1035 (1040 f.).

27

Urt. v. 12.02.1960, verb. RS 15 u. 29/59, Knutange, Slg. 1960, 9 (28). Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (992), Rdz. 11 im Anschluß an GA Capotoni, Schlußantrag v. 05.12.1979, 1035 (1040 f.). 28

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

211

EGKSV unterwerfen will; vielmehr sollen nur die Entscheidungen der gerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen sein, die wirtschaftspolitische Entscheidungen erfordern. Der Gerichtshof soll sich nicht zu einer höheren Instanz der Wirtschaftsverwaltung machen; 29 er hat vielmehr einen wirtschaftspolitischen Entscheidungsspielraum der Hohen Behörde anzuerkennen. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß dem Gerichtshof die Befugnis zusteht, die von der Hohen Behörde vorgenommenen Tatsachenwürdigungen auch im Hinblick auf wirtschaftliche Tatsachen oder Umstände einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Lediglich die zusammenfassenden Schlüsse, die diese aus der Vielzahl einzelner Fakten zieht, sind aufgrund der Komplexität der hierbei vorzunehmenden Bewertungen der richterlichen Nachprüfung gemäß Art. 33 I 2 1. HS EGKSV grundsätzlich entzogen. 2. Ausnahmsweise Kontrolle der Würdigung der Gesamtlage

(Art. 33 I 2 2. HS EGKSV)

Nach Art. 33 I 2 2. HS EGKSV darf sich die Nachprüfung durch den Gerichtshof ausnahmsweise auch auf die Würdigung der Gesamtlage erstrecken, wenn der Hohen Behörde der Vorwurf gemacht wird, sie habe ihr Ermessen mißbraucht oder die Bestimmungen des Vertrages oder irgend einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm offensichtlich verkannt. a) Rüge desErmessensmißbrauchs/der offensichtlichen Vertragsverletzung Untersucht man Art. 33 I 2 2. HS EGKSV, so ist zunächst festzustellen, daß die Würdigung der Gesamtlage nicht von Amts wegen geprüft wird, sondern vielmehr einer der genannten Fehlergründe der Hohen Behörde zum Vorwurf gemacht werden muß. Insofern enthält die Vorschrift einen positivrechtlichen Ausdruck des im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundsatzes der Bindung des Gerichtshofs an die vom Kläger qualifiziert dargelegten Klagegründe.

29 Daig,

in: v.d. Groeben, 3. Aufl., Rdz. 9.

212

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Eine formelhafte Berufung auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs bzw. einer offensichtlichen Verkennung des Vertrages genügt für eine solche Rüge nicht;30 andererseits ist aber auch ein Beweis des Vorliegens eines der genannten Klagegründe nicht erforderlich.31 Der Gerichtshof hat vielmehr klargestellt, daß der Kläger seine Rüge auf "ernsthafte Anhaltspunkte" stützen müsse; er habe einen qualifizierten Verstoß in der Weise darzulegen, daß die Rüge sich auf Indizien stütze, die sie als möglicherweise begründet erscheinen lasse.32 Dieses Erfordernis der Darlegung eines qualifizierten Anfechtungsgrundes zeigt einmal mehr die Anlehnung an den recours pour exces de pouvoir mit seiner Bindung des Gerichts an die vorgetragenen Klagegründe. b) Kontrolle des Ermessensmißbrauchs Im Falle der qualifizierten Darlegung eines Verstoßes ist der Gerichtshof befugt, die Würdigung der sich aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebenden Gesamtlage daraufhin zu überprüfen, ob die Hohe Behörde ihr Ermessen mißbraucht hat. aa) Ennessensmißbrauch als "detoumement de pouvoir"

Ein Ermessensmißbrauch im Sinne des Art. 33 EGKSV liegt vor, wenn eine Befugnis zu einem anderen Zweck ausgeübt wird als zu demjenigen, für den der Exekutive diese Befugnis gewährt worden ist.33 Dies ist der Fall, wenn die Hohe Behörde mit der angefochtenen Entscheidung ein anderes Ziel verfolgt hat, als sie rechtmäßigerweise verfolgen durfte. 34

30 Daig,

Rdz. 417; Toth, S. 80. Vgl. Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (237); Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (992), Rdz. 11. 32 Urt. v. 12.02.1960, verb. RS 15 u. 29/59, Knutange, Slg. 1960, 9 (28). 31

33 Vgl. Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (239); vgl. auch GA Roemer, Schlußantrag v. 04.02.1955, 241 (269); C.E.C.A., S. 225; Lasok, S. 210; Schwarze, in: gerichtliche Kontrolle im WirtschaftsveiWaltungs- und Umweltrecht, 203 (211). 34 Urt. v. 12.06.1958, RS 2/57, Haws Fornaux, Slg. 1958, 131 (151 f.}; Urt. v. 14.06.1989, RS 219/87, Hoogovens, Slg. 1989, 1711 (1734), Rdz. 9; weitere Nachweise bei Clever, S. 120, Fn. 17.

C.

Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

213

Diese Formel zei~t deutlich die Übernahme der Konzeption des detournement de pouvoir.J Auch in der praktischen Anwendung zeigt die Rechtsprechung deutliche Parallelen zur Kontrollpraxis der französischen Verwaltungsgerichte im Bezug auf den detournement de pouvoir.36 Ebenso wie dieser orientiert sich auch der Ermessensmißbrauch im Sinne des Art. 33 EGKSV grundsätzlich an der Intention der Verwaltungsbehörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes und stellt damit auf einen rein subjektiven Rechtsverstoß ab. 37

bb) Objektivienmgstendenzen des Gerichtshofs Insbesondere in der jüngeren Judikatur sind aber auch verstärkt Tendenzen zu einer Objektivierung des Begriffes des Ermessensmißbrauchs erkennbar, die an die objektive Eignung zur Zielerreichung anknüpfcn.38 Danach soll ein Ermessensmißbrauch auch dann gegeben sein, wenn das handelnde Organ objektiv, infolge schwerwiegenden Mangels an Voraussicht oder Umsicht, was einer Verkennung des gesetzlichen Zweckes gleichkäme, andere Ziele als diejenigen verfolgt, zu deren Erreichung ihm die streitige Befugnis übertragen wurde.39 Eine solche "finalite objective" ist in der französischen Literatur zwar verschiedentlich gefordert, aber vom Conseil d'Etat nicht angewendet worden.40 Die Vorgehensweise des Gerichtshofs läßt insofern eher eine Parallele zum deutschen Verwaltungsrecht erkennen; auch hier prüft das Gericht, ob ein Ermessensmißbrauch in Form sachfremder Erwägungen vorliegt, weil die Maßnahme objektiv nicht mit dem Gesetzeszweck vereinbar ist.41 35 Vgl. Hecker, S. 72; Bleckmann, Rdz. 568; Clever, S. 119 ff; Smit, in: Smitf Herzog, Art. 173, Anm. 173.12, S. 5-387 f.; Vandersandenf Barav, S. 206. 36 Bleckmann, Rdz. 573; Clever, S. 120 ff; Weber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, 55 (68). 37 Herdegenf Richter, 209 (219); Schwarze, S. 316 ff.; Toth, S. 69; Vandersandenf Barav, s. 207. 38 Clever, S. 132 ff.; Herdegenf Richter, 209 (219 f.); Nicolaysen, S. 193; Vandersandenf Barav, S. 207. 39 Vgl. Urt. v. 29.09.1987, verb. RS 351 u. 360f85, Fabrique de Fer de Charleroi, Slg. 1987, 3639 (3674 f.), Rdz. 17 ff.; vgl. auch bereits Urt. v. 29.11.1956, RS 8f55, FCderation Charbonniere, Slg. 1955-56, 297 (317 f.). 4°Clever, S. 132; vgl. auch Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 79 ff. 41 Vgl. oben 2. Teil, D III 3.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

214

cc) Verfahrensmißbrauch

Ein Verfahrensmißbrauch liegt vor, wenn die konkrete Maßnahme zwar mit den allgemeinen Zielen des Gemeinschaftsrechts übereinstimmt, zur Verwirklichung dieser Ziele jedoch ein unzulässiges Verfahren gewählt wird.42 Der Verfahrensmißbrauch wird vom Gerichtshof als Unterfall des Ermessensmißbrauchs angesehen.43 Auch dieser Fehler entspricht sowohl nach seinem Inhalt als auch nach der systematischen Einordnu~ dem "detournement de procedure" des recours pour exces de pouvoir. Dagegen ist dem deutschen Verwaltungsrecht ein Verfahrensmißbrauch als Unterfall des Ermessensfehlgebrauchs unbekannt; hier wird die Einhaltung der Verfahrensvorschriften nur im Rahmen der allgemeinen Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung vorgenommen. c) Offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages Von deutlich größerer Bedeutung als der sehr eng gefaßte Ermessensmißbrauch ist dagegen die Überprüfung von Würdigungen der Gesamtlage daraufhin, ob die Hohe Behörde hierbei die Bestimmungen des Vertrages oder irgend einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm offensichtlich verkannt hat. aa) Systematische Einordnung

Die Literatur qualifiziert die offensichtliche Verkennung nicht als eigenen Klagegrund, sondern sieht sie als einen Unterfall des Klagegrundes der Vertragsverletzung an.45 Auch Generalanwalt Roemer hat bereits in der Rechtssache Niederlande/ Hohe Behörde ausgeführt, bei der offensichtlichen Verkennung von Rdz. 227; Herdegenf Richter, 209 (220). Ständige Rechtsprechung; vgl. Urt. v. 14.07.1988, verb. RS 33,44,110,226 u. 285f86, Stahlwerke Peine-Salzgitter, Slg. 1988, 4309 (4338), Rdz. 23; Urt. v. 21.06.1988, verb. RS 32,52 u. 57f87, ISA/ Kommission, Slg. 1988, 3305 (3327), Rdz. 8 m.w.N. 44 Vgl. oben 3. Teil, D II; aA. noch im Bezug auf die systematische Einordnung Clever, 42 Daig, 43

s. 131.

45 Bebr, S. 128; Daig, Rdz. 217; Herdegenf Richter, 209 (220 f.); T01h, S. 80; vgl. auch Bouloisf Chevallier, S. 396.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

215

Vertragsnormen handele es sich um keinen besonderen Klagegrund. Sie sei vielmehr der Grad einer Vertragsverletzung, der allein bei einer Gesamtwürdigung der in Art. 33 I 2 EGKSV genannten Art festgestellt werden könne. Bei einer solchen Gesamtwürdigung erstrecke sich die Kontrolle des Gerichtshofes wegen Vertragsverletzung nur darauf, ob diese eine offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages darstelle. Die Prüfung auf offensichtliche Verkennung sei die durch Art. 33 I 2 EGKSV in den dortigen Fällen beschränkte Prüfung auf Vertragsverletzungen und daher in deren Rahmen vorzunehmen.46 Im Anschluß an diese Ansicht stellt der Gerichtshof fest, daß die Klägerin die offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages nicht als besonderen Anfechtungsgrund (moyen d'annulation separe) geltend mache, sondern nur, um den Gerichtshof zur Prüfung der Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage zu veranlassen.47 Im Urteil Geitling stellt er darüber hinaus klar, daß dieser nicht eigenständige Klagegrund als Unterfall der Vertragsverletzung anzusehen sei. In dieser Entscheidung nimmt er Bezug auf die von den Klägerinnen erhobene Rüge der unrichtigen Auslegung und Anwendung des Vertrages und führt dazu aus: "Sie verstärken die ( ...) Rüge noch dadurch, daß sie eine offensichtliche Verkennung der Vertragsvorschriften behaupten.48 Daher ist festzuhalten, daß auch der Gerichtshof die offensichtliche Verkennung von Vertragsbestimmungen im Sinne des Art. 33 I 2 EGKSV systematisch als Unterfall des Klagegrundes der Vertragsverletzung einordnet. bb) Der Begriff der "offensichtlichen Verkennung"

(1) Begriffsbestimmung durch den Gerichtshof Der Gerichtshof hat sich in seiner Rechtsprechung nur selten mit dem Begriff der "offensichtlichen Verkennung" im Sinne des Art. 33 I 2 EGKSV auseinandergesetzt

46 GA Roemer, Schlußantrag. v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 195455, 241 (249 f.); Hervorhebung durch Generalanwalt. 47 Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (237). 48 Urt. v. 18.05.1962, RS 13/60, Geitfing li, Slg. 1962, 177 (212).

216

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Lediglich in dem Urteil Niederlande/ Hohe Behörde finden sich Aussagen zum Inhalt dieses Begriffes. Der Gerichtshof führt in seiner Entscheidung aus, der Begriff "offensichtlich" setze voraus, daß die Verkennung der Bestimmungen "einen gewissen Grad" erreiche. Sie müsse in einer Beurteilung der der Entscheidung zugrunde liegenden wirtschaftlichen Lage bestehen, die, an den Bestimmungen des Vertrages gemessen, offensichtlich irrig sei. Im Bezug auf die im vorliegenden Fall in Rede stehende offensichtliche Verkennung des Art. 61 lit. a EGKSV bekundet der Gerichtshof, daß eine solche nur dann gegeben sei, wenn der Gerichtshof das Bestehen einer wirtschaftlichen Lage festgestellt habe, aus der "auf den ersten Blick" hervorgehe, daß die angefochtene Entscheidung zur Erreichung der in Art. 3 des Vertrages( ...) genannten Ziele nicht erforderlich gewesen sei.49 Im Rahmen seiner weiteren Ausführungen gelangt er zu dem Ergebnis, die Würdigung der Hohen Behörde verstoße "a priori" weder gegen den Wortlaut noch gegen den Sinn des Art. 61lit. a) EGKSV. Er stellt weiterhin fest, die Ausführungen der Klägerin könnten nicht "prima facie" die mangelnde Notwendigkeit der Festsetzung von Höchstpreisen dartun.50 Analysiert man diese Ausführungen, so ist festzustellen, daß diese keine klare Bestimmung des Begriffes der "offensichtlichen Verkennung" gestatten, sondern vielmehr zu widersprüchlichen Deutungen Anlaß geben können. Die Aussage, die Verkennung der Vertragsbestimmungen müsse einen gewissen Grad erreichen, scheint darauf hinzudeuten, daß der Gerichtshof die "offensichtliche Verkennung" im Sinne einer besonderen Schwere des Verstoßes interpretiert. Andererseits scheinen die nachfolgenden Erörterungen eher darauf abzustellen, ob der Verstoß auf den ersten Blick eine Verletzung der Vertragsbestimmungen erkennen läßt. Insofern deuten diese Aussagen eher auf eine Form der Evidenzkontrolle hin.

49

Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (218, 237).

50

Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (238).

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Vorgaben

217

(2) Begriffsbestimmungen in der Literatur In der Literatur sind die Ausführungen des Gerichtshofs ausdrücklich bzw. inzident aufgenommen und zum Gegenstand unterschiedlichster Versuche einer Begriffsbestimmung der "offensichtlichen Verkennung" geworden. (a) Besonders schwerer Verstoß So wird dieser Begriff zum Teil in der Weise interpretiert, daß dieser einen besonders schweren Verstoß gegen die Bestimmungen des EGKSV zum Gegenstand haben müsse.51 Durch den Verstoß müsse der Bestand der Montanunion gefährdet sein.52 (b) Evidenter Verstoß Teilweise wird auch die Evidenz des Verstoßes als entscheidend angesehen. Der Richter muß nach dieser Ansicht die Verletzung ohne weiteres auf den ersten Blick erkennen können.53 (c) Eindeutige Überschreitung der Ermessensgrenzen Die überwiegende Auffassung im Schrifttum versteht unter der "offensichtlichen Verkennung" dagegen die eindeutige Überschreitung der Grenzen des der Hohen Behörde eingeräumten Ermessens.54 51

Toth, S. 80; Vandersandenf Barav, S. 205; wohl auch Becker, S. 72; Lasok, S. 210. Ule DVBI. 1952, 65 (70). 53 Bouloisf Chevallier, 2. Aufl., S. 397; ähnlich auch Ule DVBI. 1952, 65 (69 f.), der dieses Kriterium kumulativ zu dem der besonderen Schwere postuliert; wohl auch Jerusalem, S. 53 f., der von "augenscheinlicher Verkennung" spricht. 52

54 Daig, Rdz. 219; Matthies ZaöRV 1955/56 (Bd. 16), 427 (449); Rupprechl, S. 65 f.; Schermersf Waelbroek, § 311; Schwarze, S. 322 f.; Steindorff, S. 139; wohl auch van der Esch, S. 33, der den Begriff als "discordance trop flagrante entre cette opportunite objective et l'opportunite de Ia mesure contestee" qualifiziert; unklar Baumann , S. 119, der von der "bei der Rechtskontrolle erkennbaren Verkennung von Vertragsbestimmungen" spricht.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

218

(3) Stellungnahme Gegen die Auslegung des Begriffs der "offensichtlichen Verkennung" im Sinne eines besonders schweren Verstoßes spricht bereits, daß dem Aussagegehalt des Wortes "offensichtlich" kein Hinweis auf eine besondere Schwere entnommen werden kann.55 Im übrigen würde eine gerichtliche Nachprüfung nur auf besonders schwere Verstöße zu einer fragwürdigen Abgrenzung zwischen "schweren" und "leichten" Verstößen gegen die Bestimmungen des Vertrages führen.56 Eine solche Differenzierung zwischen leichten und schweren Rechtsverstößen als Grund für eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolldichte ist dem Gemeinschaftsrecht aber fremd; sie wäre im übrigen auch mit der Pflicht des Gerichtshofes zur Rechtmäßigkeitskontrolle nicht zu vereinbaren. Auch die zitierte Aussage des Gerichtshofes, die Verkennung der Vertragsbestimmungen müsse "einen gewissen Grad" erreichen, kann nicht in der Weise interpretiert werden, daß damit eine besondere Schwere des Verstoßes zum maßgeblichen Merkmal erhoben werden soll. Der Gerichtshof hat vielmehr insofern eine Formulierung aus dem Schlußantrag des Generalanwalts Roemer übernommen. Dieser hatte seinerseits von einem gewissen Grad der Verkennung gesprochen, um klarzustellen, daß es sich bei der offensichtlichen Verkennung nicht um einen eigenständigen Klagegrund handele.57 Im Rahmen seiner Ausführungen zum Begriff der offensichtlichen Verkennung findet sich ein entsprechender Hinweis dagegen nicht; vielmehr setzt sich Roemer hier lediglich mit der von Steindorff vorgenommenen Qualifikation als "grober" Abweichung von der Verwaltungsentscheidung auseinander, die inhaltlich der überwiegenden Ansicht entspricht.58 Im übrigen stellt er klar, daß eine abschließende Bestimmung des Begriffs der "offensichtlichen Verkennung" zur Entscheidung des vorliegenden Falles nicht erforderlich sei und der allmählichen Herausbildung in der weiteren Praxis überlassen bleiben solle.59

55

Vgl. auch Daig, Rdz. 218.

56 Daig, 57

Rdz. 218.

GA Roemer, Schlußantrag. v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 195455, 241 (249 f.). 58 GA Roemer, Schlußantrag. v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 195455, 241 (159 f.). 59 GA Roemer, Schlußantrag. v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 195455, 241 (260).

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Vorgaben

219

Insofern ist eine Auslegung im Sinne eines besonders schweren Verstoßes gegen die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts abzulehnen. Fraglich ist aber, ob eine Qualifizierung in der Weise vorgenommen werden kann, daß nur evidente, d.h. auf den ersten Blick erkennbare Verstöße gegen die Bestimmungen des EGKSV der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen sollen. Gegen eine solche Auslegung wird im Schrifttum teilweise der Wortlaut der maßgeblichen französischen Fassung des Art. 33 I 2 EGKSV angeführt. Diese spricht von einer Verkennung "d'une maniere patente", wogegen man in einem früheren Entwurf die Bezeichnung "manifeste" vorgesehen hatte. 60 Bezugnehmend auf diesen Umstand wird argumentiert, dem Wort "patente" sei eine schwächere Bedeutung zuzumessen als dem Ausdruck "manifeste"; schon aus diesem Grund könne der Begriff der "offensichtlichen Verkennung"" nicht im Sinne eines evidenten, auf den ersten Blick erkennbaren Verstoßes qualifiziert werden.61 Es muß jedoch bezweifelt werden, ob dem Wort "patente" tatsächlich eine grundlegend andere Bedeutung beigemessen werden kann als dem Begriff "manifeste".62 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß die englische Fassung des EGKSV von "manifest failures" spricht, obwohl auch im englischen Sprachgebrauch der Begriff offensichtlich sowohl mit "manifest" als auch mit "patent" übersetzt werden kann. Auch in der englischen Fassung von Urteilen des Gerichtshofs zum EWGV werden beide Begriffe nebeneinander verwendet, ohne daß inhaltliche Unterschiede erkennbar sind.63 Untersucht man die französische Fassungneuerer Urteile zum EGKSV, so ist festzustellen, daß die Diktion auch hier nicht immer einheitlich ist. Zwar spricht der Gerichtshof in Anlehnung an die französische Fassung des 60 GA Roemer, Schlußantrag. v. 04.02.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 195455, 241 (260); Rupprecht, S. 63; Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 137 f. 61 Rupprecht, S. 63; Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 137 f. 62 Vgl. hierzu Baumann, S. 63 f., der nach ausführlicher Analyse möglicher Übersetzungen zu dem Ergebnis gelangt, Unterschiede bestünden allenfalls in Nuancen.

63 Vgl. z.B.Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuko. , CMLR 1975 II, S. 28 ff., Rdz. 9: "... whether the evaluation ( ...) contains a patent error or constitutes a misuse of power"; dagegen Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balko.n-lmport, EuLRev 1978, 299f.: "...whether it contains a manifest error or constitutes a misuse of power"; ebenso Urt. v. 14.03.1990, RS C-156/87, Gestetner Holdings, CMLR 1990, 820 (850), Rdz. 63: "...whether there has been a manifest error or a misuse of powers".

220

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Art. 33 I 2 EGKSV regelmäßig von der "meconnaissance patente";64 eine Abweichung hiervon zeigt sich jedoch im Urteil Valsabbia vom 18.03.1980. Hier verwendet der Gerichtshof im Rahmen seiner allgemeinen Ausführungen zu Art. 33 EGKSV ebenfalls den Begriff der "meconnaissance patente".65 Bei der Erörterung von Art. 36 III EGKSV, der auf Art. 33 I EGKSV verweist, spricht er dagegen von einer gerichtlichen Kontrolle der Würdigung des wirtschaftlichen Sachverhalts nur bei einer "violation manifeste de Ia norme juridique".66 Insofern zeigt sich auch hier, daß den Begriffen "patente" und "manifeste" keine grundlegend unterschiedliche Bedeutung zuzumessen ist. Aus diesem Grund spricht der französische Wortlaut des Art. 33 I 2 EGKSV nicht gegen eine Auslegung als "evidente Verkennung". Andererseits vermag aber auch der Vergleich der "meconnaissance patente" mit dem Begriff der Offenkundigkeil im Rahmen der Nichtigkeit von Verwaltungsakten im deutschen Verwaltungsrecht nicht zu überzeugen.67 Hintergrund des Offenkundigkeilserfordernisses bei nichtigen Verwaltungsakten ist die Überlegung, daß nur solche Verwaltungsakte von vornherein ohne Rechtswirkung sein sollen, die einen besonders schweren Rechtsverstoß beinhalten, der nach außen ohne weiteres erkennbar ist.68 Diese Überlegung liegt auch dem Begriff des inexistenten Verwaltungsakts im Gemeinschaftsrecht zugrunde.69 Dagegen beruht das grundsätzliche Nachprüfungsverbot des Art. 33 I 2 EGKSV auf der Qualifizierung der Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage als Ermessenshandlung; der insoweit eingeräumte Entscheidungsspielraum ist seinerseits auf das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts 64 Urt. v. 12.02.1960, verb. RS 15 u. 29/59, Knutange, Rec. 1960, 9 (28); Urt. v. 16.12.1960, verb.RS 41 u. 50/59, Hambomer Bergbau, Rec. 1960, 989 (1060 ff.); Urt. v. 18.05.1962, RS 13/60, Geilling, Rec. 1962, 177 (199).

65 Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228, 264/78, Valsabbia, Rec. 1980, 907 (992), Rdz. 10 f. 66 Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228, 264/78, Valsabbia, Rec. 1980, 907 (1007) Rdz. 70.

67

So aber Ule DVBI. 1952, 68 (69 f.).

Klappstein, in: Knack, § 44, Anm. 4.2.; Kopp, VwVfG, § 44, Rdz. 9; Maurer, § 10, Rdz. 31. 68

(f) Vgl. Urt. v. 26.02.1982, RS 15/85, Consonio Cooperative d~bruzzo, Slg. 1987, 1005 (1036), Rdz. 10; Urt. v. 30.06.1988, RS 226/87, Kommission/ Griechenland, Slg. 1988, 3611 (3624), Rdz. 16; Urt. v. 27.02.1992, verb. RS T-79, 84-86,89,91,92,94,96, 98,102 und 104/89, BASF, Rdz. 100, noch nicht in Slg.; Krück, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 4.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

221

zurückzuführen, nach dem der Gerichtshof seine Entscheidung nicht an die Stelle der Entscheidung der Hohen Behörde setzen darf.70 Diese Ermessensbetätigung soll nur insoweit überprüfbar sein, als sie eine offensichtliche Verkennung der Rechtslage erkennen läßt. Maßgeblicher Gesichtspunkt hierfür kann aber nur sein, ob die von der Hohen Behörde vorgenommene Würdigung der Gesamtlage eine so deutliche Verkennung der Rechtslage erkennen läßt, daß der Gerichtshof eine Rechtsverletzung trotz des bestehenden Ermessensspielraumes zweifelsfrei feststellen kann. In diesem Zusammenhang ist es nicht einsichtig, warum eine erweiterte Nachprüfungsbefugnis ausgerechnet dann zulässig sein soll, wenn die Vertragsverletzun~ so eklatant ist, daß sie bereits bei flüchtigem Hinsehen ins Auge springt. 1 Vielmehr kann es gerade in komplizierten, schwer durchsehaubaren Fällen notwendig sein, die Lagebeurteilung der Hohen Behörde einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Entscheidend ist vielmehr, ob die untersuchte Wertung der Hohen Behörde eine Rechtsverletzung eindeutig erkennen läßt, d.h. zweifelsfrei über die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens hinausgehLDamit läuft die vom Gerichtshof vorgenommene Kontrolle letztendlich auf eine Willkürprüfung hinaus. 72 Für eine Auslegung im genannten Sinne sprechen auch die vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen an die Rüge einer offensichtlichen Verkennung. Würde man nur die auf den ersten Blick erkennbare Verkennung der Rechtslage der gerichtlichen Kontrolle unterwerfen, so würde sich die .ßeforderte qualifizierte Darlegung eines entsprechenden Rechtsverstoßes erübrigen. Der Gerichtshof hat aber im Fall Valsabbia vom 18.03.1980 klargestellt, daß die vorgetragenen Indizien zumindest die Rüge auf den ersten Blick als möglicherweise begründet erscheinen lassen müssen. Er läßt weiterhin erkennen, daß er eine entsprechende Darlegung nur aufgrund der Schwierigkeit der Erörterung der vorgebrachten Rügen im konkreten Fall als ausreichend ansieht. 74 Damit stellt er schon hinsichtlich der Darlegungslast Anforderungen, die im Falle einer reinen Evidenzkontrolle überflüssig wären. Weiterhin weist er auf die vorzunehmende schwierige Erörte70

Vgl. oben 4. Teil, C II 1 c) bb) sowie Nicolaysen, S. 179.

71

Vgl. Daig, Rdz. 218 und Fn. 605.

72 Rupprechl,

73

S. 66.

Vgl. oben 4. Teil, C II 1 d).

74 Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228, 264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (992 f.), Rdz. 12.

222

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

rung hin und läßt auch in dieser Hinsicht keinen Hinweis auf eine reine Überprüfung auf "auf den ersten Blick erkennbare" Fehler erkennen. Gegen eine solche Auslegung spricht auch, daß Fälle einer solchen evidenten Verkennung der Bestimmungen des EGKSV in der Praxis wohl kaum denkbar wären, so daß Art. 33 I 2 EGKSV in diesem Falle die ihm zugedachte Funktion der Wahrung eines institutionellen Gleichgewichts zwischen Gerichtshof und Hoher Behörde nur höchst unzureichend erfüllen würde. Aus diesen Gründen ist der Begriff der "offensichtlichen Verkennung" der Vertragsbestimmungen in Anlehnung an die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs heute in der Weise auszulegen, daß er diejenigen Fälle erfaßt, in denen die von der Hohen Behörde vorgenommene Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage die Grenzen des ihr gezogenen Ermessens in so eindeutiger Weise überschreitet, daß deren Feststellung keines gesteigerten ökonomischen Sachverstandes bedarf. d) Anwendungsbereich des Art. 33 I 2 EGKSV Vor dem Hintergrund der festgestellten inhaltlichen Aussagen des Art. 33 I 2 EGKSV stellt sich die Frage nach dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Hierzu wird teilweise die Ansicht vertreten, die durch Art. 33 I 2 EGKSV vorgegebene Einschränkung der richterlichen Nachprüfung beziehe sich nur auf die Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe. Dagegen ergebe sich kein Anhaltspunkt dafür, daß auch das Handlungsermessen im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts umfaßt sei. Für eine ausdrückliche Einschränkung der gerichtlichen Nachprüfung habe dort auch keine Veranlassung bestanden, da das Ermessen nach übereinstimmender Auffassung der Mitgliedsstaaten verwaltungsrechtlich ohnehin nur sehr beschränkt kontrolliert werden könne?5 Gegen eine solche Argumentation spricht aber die einheitliche Konzeption des Ermessensbegriffes, den der Gerichtshof seiner Rechtsprechung zugrunde legt. Eine Differenzierung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite und Ermessen auf der Rechtsfolgenseite findet

75

Baumann , S. 121.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

223

ebenso wie im französischen Recht nicht statt?6 Beide unterfallen vielmehr einheitlichen Regelungen. In diesem Zusammenhang kann auch auf die hieraus in Frankreich gezogene Konsequenz der Anwendung der erreur manifeste auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite hingewiesen werden?7 Art. 33 I 2 EGKSV enthält insofern eine ausdrückliche Regelung der Frage, unter welchen Voraussetzungen das Vorliegen eines grundsätzlich nicht nachprüfbaren Ermessensspielraumes der Hohen Behörde zu bejahen ist. Er gibt weiterhin die Grenzen vor, innerhalb derer auch die Ermessensentscheidungen der Hohen Behörde einer eingeschränkten richterlichen Kontrolle unterworfen werden können. Gerade hinsichtlich der Überprüfbarkeit von Ermessensbetätigungen auf der Rechtsfolgenseite bestehen aber in den nationalen Rechten keine übereinstimmenden Regelungen;78 daher besteht auf Gemeinschaftsebene durchaus ein Regelungsbedürfnis hinsichtlich dieser Frage. Im übrigen kann auch gerade auf der Rechtsfolgenseite die Frage, ob bzw. in welcher Weise die Verwaltung einzugreifen hat, komplexe Bewertungen der unterschiedlichsten wirtschaftlichen Faktoren erfordern.79 Insofern ist nicht ersichtlich, warum die Regelung des Art. 33 I 2 EGKSV sich allein auf die Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe erstrecken sollte.80 Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs läßt nicht erkennen, daß die Kontrolle von Entscheidungen der Hohen Behörde neben der durch Art. 33 I 2 EGKSV vorgegebenen Einschränkung noch weiteren allgemeinen Schranken auf der Rechtsfolgenseite unterliegt. Vielmehr zeigt sich der allgemeine Charakter der durch Art. 33 I 2 EGKSV gezogenen Schranken gerade daran, daß der Gerichtshof Ausführungen zur Auslegung dieser Vorschrift seinen entsprechenden Erörterungen in abstrakter Weise voranstellt81 bzw. diese im Rahmen einleitender Bemerkungen erörtert.82 Aus diesen Gründen ist davon auszugehen, daß der Anwendungsbereich des Art. 33 I 2 EGKSV das der Hohen Behörde eingeräumte Ermessen in 76 Vgl.

oben 4. Teil, B 111 c). oben 3. Teil, D V 1 b). 78 Vgl. die oben dargelegten Situation in Deutschland und Frankreich, 2. Teil, D 111; 3. Teil,D. 79 Vgl. dazu auch Mertens de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (7). 80 In diesem Sinne auch Clever, S. 110 f.; Rupprechl, S. 64. 81 Urt. v. 21.03.1955, RS 6/54, Niederlande/ Hohe Behörde, Slg. 1954-55, 213 (237). 82 Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228, 264/78, Valsabbia, Rec. 1980, 907 (990), Rdz. 7 ff. 77 Vgl.

224

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

seiner Gesamtheit, d.h. sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite erfaßt. 3. Zusammenfassung zu Art. 33 EGKSV

Faßt man die vorgenommenen Untersuchungen hinsichtlich der Frage zusammen, inwieweit Art. 33 EGKSV gemeinschaftsrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Kontrolle der Sachverhaltswürdigung zu entnehmen sind, so lassen sich folgende Aussagen treffen: aa) Art. 33 I 2 1. HS EGKSV entzieht die zusammenfassenden Schlüsse, die die Hohe Behörde aus der Vielzahl einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände zieht, grundsätzlich der gerichtlichen Nachprüfung durch den Gerichtshof. Dieser Kontrollausschluß hat seine Begründung darin, daß die hier zu treffenden Entscheidungen die Bewertung einer komplexen ökonomischen Situation in einer diagnostischen und häufig prognostischen Gesamtschau erfordern und der Hohen Behörde aus diesem Grunde ein gerichtlich nicht überprüfbarer Ermessensspielraum einzuräumen ist. Dagegen entzieht Art. 33 I 2 1. HS EGKSV dem Gerichtshof nicht die Befugnis, die von der Hohen Behörde vorgenommene Bewertung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. bb) Art. 33 I 2 2. HS EGKSV gestattet eine richterliche Kontrolle des grundsätzlich nachprüfungsfreien Ermessensspielraumes der Hohen Behörde auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs bzw. einer offensichtlichen Verkennung der Vertragsbestimmungen, sofern diese vom Kläger qualifiziert gerügt werden. Der Begriff des Ermessensmißbrauchs entspricht trotz erkennbarer Objektivierungstendenzen weitgehend dem des detournement de pouvoir im französischen recours pour exces de pouvoir. Er liegt dann vor, wenn die Hohe Behörde mit der angefochtenen Entscheidung ein anderes Ziel verfolgt hat, als sie aufgrund der ihr übertragenen Befugnisse rechtmäßigerweise verfolgen durfte. Einen Unterfall des Ermessensmißbrauchs stellt der Verfahrensmißbrauch, d.h. die Wahl eines unzulässigen Verfahrens zur Verwirklichung zulässiger Ziele, dar. Auch der Verfahrensmißbrauch entspricht damit seinem französischen Vorbild, dem detournement de procedure.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

225

Die "offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages" stellt systematisch einen Unterfall der Vertragsverletzung dar. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung dieses Begriffes lassen die frühen Entscheidungen des Gerichtshofs noch keine eindeutige Interpretation zu. Aus heutiger Sicht kann aber festgestellt werden, daß er die Fälle erfaßt, in denen die von der Hohen Behörde getroffene Entscheidung die Grenzen des ihr gezogenen Ermessens in so eindeutiger Weise überschreitet, daß die Feststellung einer Rechtsverletzung auch ohne gesteigerten ökonomischen Sachverstand möglich ist. Dieser Verstoß muß weder auf den ersten Blick erkennbar sein noch eine besondere Schwere erreichen. 111. Die Einräumung von Entscheidungsspielräumen der Kommission im Rahmen des Art. 173 EWGV

Im folgenden soll auf Umfang und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle des Kommissionshandeins unter Art. 173 EWGV eingegangen werden. Hierbei ist zunächst zu erörtern, inwieweit im Rahmen dieses Verfahrens Entscheidungsspielräume der Kommission bestehen, die einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich nicht zugänglich sind. Vor dem Hintergrund der dargestellten Vorgaben des Art. 33 I 2 EGKSV stellt sich insbesondere die Frage, welche Folgerungen aus dem Umstand zu ziehen sind, daß eine dem Art. 33 I 2 1. HS EGKSV entsprechende Regelung, die die Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage einer gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich entzieht, in Art. 173 EWGV nicht vorgesehen ist. 1. Unbeschränkte Letztentscheidungskompetenz der Kommission bei Würdigungen wirtschaftlicher Gesamtlagen

Aus dem strukturellen Unterschied von Art. 33 EGKSV und Art. 173 EWGV könnte zunächst der Schluß gezogen werden, damit sei dem Gerichtshof die Befugnis zur Nachprüfung der Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen umfassend verwehrt. Dies hätte eine uneingeschränkte Letztentscheidungskompetenz der Kommission in diesem Bereich zur Folge. Tatsächlich ist in der Literatur diese Folgerung vereinzelt gezogen worden.83 Diese Ansicht wird damit begründet, daß nach allgemeinen Grundsätzen den Gemeinschaftsorganen nur die Befugnisse zustehen, die ihnen 15 Rausch

226

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

ausdrücklich übertragen worden sind.84 In Art. 173 EWGV fehle aber eine Aussage hinsichtlich der Kontrolle wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände durch den Gerichtshof, obwohl über die ausnahmsweise unbeschränkte Ermessensnachprüfung (pleine juridiction) eine ausdrückliche Regelung getroffen worden sei. Das Fehlen einer entsprechenden Befugnisübertragung im Falle der Nachprüfung der Würdigung der Gesamtlage sei daher in der Weise zu verstehen, daß dem Gerichtshof eine solche Befugnis nicht zustehe.&S Diese Auffassung ist von ihrem Ausgangspunkt insoweit zutreffend, als sie auf den Grundsatz der enumerativen Einzelermächtigung86 verweist. Bereits aus Art. 4 I EWGV ergibt sich, daß die Organe der Gemeinschaft nur "nach Maßgabe der ihnen in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse" handeln. Aus diesem Grund ist auch die gerichtliche Nachprüfung des Kommissionshandelns nur im Rahmen der Kontrollbefugnisse statthaft, die dem Gerichtshof durch den EWGV zugewiesen sind. Wie bereits dargelegt, weisen aber schon Art. 164 und Art. 173 I EWGV dem Gerichtshof die Befugnis zur objektiven Rechtmäßigkeilskontrolle zu. Art. 173 I EWGV sieht im übrigen sowohl die Vertragsverletzung als auch den Ermessensmißbrauch ausdrücklich als Klagegründe vor.87 Folglich leitet sich die grundsätzliche Befugnis zur Kontrolle auch der Würdigung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände bereits aus der Befugnis zur Rechtmäßigkeitskontrolle her. Eine entsprechende Regelung findet sich auch in Art. 31, 33 I 1 EGKSV. Art. 33 I 2 EGKSV hat demgegenüber die Aufgabe, klarzustellen, daß es sich bei der Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen um eine grundsätzlich nicht überprüfbare Ermessensentscheidung handelt, und gleichzeitig aufzuzeigen, innerhalb welcher Grenzen auch diese Ermessensbetätigung der Rechtmäßigkeitskontrolle im Rahmen der zulässigen Klagegründe unterliegt.

83 Valentine, S. 293 f.; vgl. auch Asso RTDE 1976, 21 (26) und Neri RevMC 1967, 452 (454 f.), die zumindest von einer deutlichen Einschränkung der richterlichen Nachprüfungsbefugnis ausgehen.

84

Valentine, S. 239; vgl. auch Neri RevMC 1967, 452 (454). Valentine, S. 239. 86 Vgl. dazu Beutler/ Bieber/Pipkom/ Streit, S. 82. tr1 Vgl. dazu auch Baumann, S. 124.

85

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

227

Insofern hat Art. 33 I 2 EGKSV lediglich klarstellende Funktion und kann nicht im Sinne einer die Nachprüfungskompetenz des Gerichtshofs erweiternden Befugnisnorm interpretiert werden. Aus diesem Grunde kann aus der Nichtaufnahme der entsprechenden Regelung in den EWGV auch nicht die Folgerung gezogen werden, dies führe zu einem umfassenden Verbot der richterlichen Nachprüfung hinsichtlich der Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen. 2. Unbeschränkte richterliche Nachprüfungsbefugnis

Nach dem zuvor Gesagten könnte aber die Nichtübernahme des Art. 33 EGKSV in den EWGV auch in der Weise interpretiert werden, daß der Wegfall dieser "Schranke" zu einer Befugnis des Gerichtshofs führt, die von der Exekutive vorgenommenen wirtschaftlichen Würdigungen umfassend zu überprüfen und durch eigene Würdigungen zu ersetzen. Eine entsprechende Auffassung ist in der früheren Literatur in der Tat vertreten worden.88 Gegen eine solche Schlußfolgerung spricht aber bereits, daß Art. 33 I 2 EGKSV eben nicht im Sinne einer Beschränkung der richterlichen Kontrolle zu verstehen ist, sondern klarstellende Funktion hinsichtlich der Grenzen der richterlichen Nachprüfungsbefugnis hat. Wie bereits dargelegt, besteht zudem eine allgemeine Grenze der gerichtlichen Kontrolle darin, daß der Gerichtshof Entscheidungen der Kommission nur auf ihre Rechtmäßigkeit, nicht aber auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte überprüfen darf.89 Bei der Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen steht aber der Hohen Behörde gerade ein Ermessensspielraum zu, der durch die hohe Komplexität und den wirtschaftspolitischen Charakter der vorzunehmenden Beurteilungen geprägt ist. Im Rahmen der Wertungen, die die Hohe Behörde hierbei vorzunehmen hat, spielen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grunde würde eine umfassende Nachprüfung dieser Gesamtwürdigun!jgn die dem Gerichtshof gesetzte Grenze der Rechtskontrolle überschreiten. 88 Vgl. die Nachweise bei Baumann, S. 123, Fn. 2 sowie Rupprechl, S. 98 ff., der zumindest eine weitgehende Prüfung auf der Tatbestandsseite bejaht. IN Vgl. oben 4. Teil, A II 2. 90 In diesem Sinne auch Baumann, S. 124; Rupprechl, S. 98 f.

228

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Insofern kann aus den strukturellen Unterschieden zwischen Art. 33 EGKSV und Art. 173 EWGV auch nicht auf eine unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis des Gerichtshofs geschlossen werden. 3. Gleicher bzw. im wesentlichen gleicher Kontrollumfang wie in Art. 33 EGKSV

Nach überwiegender Auffassung ist der Gerichtshof im Rahmen des Art. 173 EWGV in gleichem Umfang zur Kontrolle befugt wie im EGKSV.91 Demnach bestünde auch im Rahmen des Verfahrens nach Art. 173 EWGV ein nur eingeschränkt überprüfbarer Entscheidungsspielraum der Kommission hinsichtlich der zusammenfassenden Bewertungen der Gesamtlage, die auf der Grundlage einer Vielzahl einzelner wirtschaftlicher Fakten erfolgen. Diese Auffassung soll im folgenden zunächst daraufhin untersucht werden, ob sich aus der strukturellen Verschiedenheit Bedenken gegen die Annahme einer Vergleichbarkeit ergeben. Anschließend ist zu prüfen, ob sich die Einräumung eines entsprechenden Entscheidungsspielraumes der Kommission mit der Zielsetzung des Art. 173 EWGV vereinbaren läßt. In einem dritten Schritt soll diese Ansicht daraufbin untersucht werden, ob sie mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des Art. 173 EWGV in Einklang gebracht werden kann. a) Inhaltliche Gleichwertigkeittrotz struktureller Verschiedenheit Untersucht werden soll zunächst, ob die strukturelle Verschiedenheit von Art. 33 EGKSV und Art. 173 EWGV einer inhaltlichen Gleichwertigkeit dieser Vorschriftenapriori entgegensteht.

91 Adam, S. 155; Baumann, S. 122 ff.; Bebr, S. 127; Bleclanann, Rdz. 558; Daig, in: v.d. Groeben, 3. Aun., Art. 173, Rdz. 10; ders., Rdz. 220; Hartley, S. 429; Krück, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 107; Lasok, S. 208; Nicolaysen, in: Stober, § 20, S. 371; Toth, S. 80 f.; Waelbroek, Art. 173, S. 145; Weber, in: Europäisches VeiWllltungsrecht, 55 (68); Wenig, in: Grabitz, Art. 173, Rdz. 38, 51; wohl auch GA Roemer, Schlußantrag v. 28.05.1963, RS 34/62, BRD/ Kommission, Slg. 1963, 327 (334 f.).

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

229

Eine solche Inhaltsgleichheit wäre wohl dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, wenn der Gesetzgeber den Gesetzeswortlaut des EWGV im Vergleich zum EWGV aktiv umgestaltet hätte. Eine derartige aktive Umgestaltung würde für den Willen des Gesetzgebers sprechen, der Vorschrift des EWGV einen anderen Gehalt zuzumessen als denjenigen, der ihr im Rahmen des EGKSV zukam. Eine solche Vorgehensweise des Gesetzgebers ist z.B. bei der Abfassung des Art. 173 II EWGV zu beobachten. Dieser enthält insofern eine aktive inhaltliche Umgestaltung im Vergleich zu Art. 33 II EGKSV, als er einerseits den Kreis der Klageberechtigten erweitert, andererseits aber die Zulässigkeit von Individualklagen im EWGV an wesentlich strengere Maßstäbe anknüpft als im EGKSV, indem er den Begriff der zu rügenden Entscheidungen präzisiert und eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit verlangt. Diese Umgestaltung läßt erkennen, daß der Gesetzgeber eine inhaltliche Gleichwertigkeit mit der Regelung des Art. 33 II EGKSV verhindern wollte.92 Im Gegensatz dazu liegt aber hinsichtlich Art. 173 I EWGV eine inhaltliche Änderung in diesem Sinne nicht vor; vielmehr hat der Gesetzgeber die Formel des Art. 33 I 2 EGKSV entfallen lassen. Eine solche "Vereinfachung" gesetzlicher Regelungen ist aber auch hinsichtlich anderer Vorschriften vorgenommen worden, ohne daß sich deren Inhalt geändert hätte. Ein Beispiel hierfür ist die Regelung des Art. 164 EWGV, die im Gegensatz zu Art. 31 EGKSV keinen Hinweis mehr auf die Durchführungsvorschriften enthält, ohne daß sich die inhaltliche Aussage verändert hätte.93 Daher spricht die Nichtaufnahme des Art. 33 I 2 EGKSV in Art. 173 EWGV zumindest nicht gegen eine inhaltliche Vergleichbarkeit. b) Vereinbarkeit mit der Zielsetzung des Art. 173 EWGV Die Einräumung eines nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraumes der Kommission bezüglich der Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen setzt aber voraus, daß sich eine solche Regelung mit der Zielsetzung des Art. 173 EWGV vereinbaren läßt.

92 Vgl. hienu Boulois/ Chevallier, S. 367 f. sowie Asso RTDE 1976, 21 (26); Krück, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 85 f., 104.

93

Simmonds, Art. 164, Anm. 8 10-369.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

230

Wie bereits dargelegt, liegt sowohl dem EGKSV als auch dem EWGV der Gewaltenteilungsgrundsatz zugrunde. Dies hat zur Folge, daß bei der richterlichen Kontrolle der Exekutive sowohl im Rahmen des Art. 33 EGKSV als auch nach Art. 173 EWGV ein institutionelles Gleichgewicht in der Weise herrschen muß, daß der Gerichtshof nur zur Rechtmäßigkeitskontrolle befugt ist und seine Entscheidung nicht an die Stelle der Verwaltungsentscheidung setzen darf. 94 Zur Gewährleistung dieses Gleichgewichts trägt Art. 33 I 2 EGKSV bei, indem er klarstellt, daß die Würdigungen, die die Exekutive angesichts komplexer wirtschaftlicher Situationen in einer diagnostischen und zum Teil prognostischen Gesamtschau vornehmen muß, in den Bereich des Verwaltungsermessens fallen. Auch im EWGV existieren aber zahlreiche Vorschriften, die solche Würdigungen komplexer ökonomischer Situationen erfordern.95 Insbesondere der Begriff der drohenden Störung des Marktes, der ein besonders deutliches Beispiel für die Erforderlichkeil einer umfassenden prognostischen Vorausschau darstellt, 96 ist ein im EWGV sehr häufig verwendeter Begriff.97 Insofern stellt sich auch hier die Frage, inwieweit die hierbei vorzunehmenden Entscheidungen der Exekutive einer umfassenden Nachprüfung durch den Gerichtshof entzogen sind. Ebenso wie im Rahmen des Art. 33 EGKSV98 ist auch im Bezug auf Art. 173 EWGV festzustellen, daß das mit dieser Vorschrift intendierte institutionelle Gleichgewicht zwischen Gerichtshof und Kommission nur dann hinreichend gewährleistet ist, wenn der Gerichtshof im Rahmen seiner Befugnisse auch die rechtliche Bewertung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände überprüfen darf. Dagegen würde sich eine umfassende gerichtliche Kontrolle auch der Gesamtbewertung aller im Bereich einer Entscheidung zu berücksichtigenden Umstände als Eingriff in den Funktionsbereich der Kommission darstellen und somit der Intention des Art. 173 EWGV widersprechen. Damit kann festgestellt werden, daß die Zielsetzung des Art. 173 EWGV für die Einräumung eines nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraumes der Kommission hinsichtlich der Würdigung wirtschaftlicher

94

95

Vgl. hierzu bereits oben 4.Teil, A li 2. Vgl. die Hinweise bei Baumann, S. 125, Fn. 6.

Baumann, S. 112. Vgl. hierzu unten 4. Teil, D II 1 a). 98 Vgl. dazu oben 4. Teil, C ll1 c) dd). 96 Vgl. 97

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

231

Gesamtlagen spricht, die mit der Regelung des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV inhaltlich übereinstimmt. c) Vereinbarkeit einer Gleichwertigkeit mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum EWGV Im folgenden soll untersucht werden, ob eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Art. 33 EGKSV und Art. 173 EWGV hinsichtlich der Einräumung von Entscheidungsspielräumen der Kommission auch EWGV ihren Niederschlag in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefunden hat. aa) Frühe Rechtsprechung

Untersucht man die frühe Rechtsprechung zur Frage der Einräumung von Ermessensspielräumen der Gemeinschaftsorgane, so ist festzustellen, daß der Gerichtshof die Einräumung entsprechender Entscheidungsfreiräume jeweils auf konkrete Vorschriften des Vertrages bezieht, die Gegenstand des Rechtsstreites sind; hierbei vermeidet er allgemeingültige Aussagen und stellt regelmäßig auch die Gründe für die Einräumung eines Ermessensspielraumes nur unter Bezugnahme auf den Einzelfall dar. So führt der Gerichtshof z.B. in der Rechtssache Italien/ Kommission aus, der Vertrag räume der Kommission bei der Genehmigung von Tarifen im Sinne des Art. 80 I EWGV einen weiten Entscheidungsspielraum sowohl hinsichtlich der zu genehmigenden Tarife als auch hinsichtlich der Modalitäten der zu erteilenden Genehmigung ein. Er begründet dies mit dem Hinweis auf die gemäß Art. 80 II EWGV bei der Prüfung zu berücksichtigenden Erfordernisse und Bedürfnisse, die im übrigen keine abschließende Aufzählung enthalten.99 In dem genannten Fall hatte die Kommission darüber zu entscheiden, ob die geänderten Tarife der italienischen Eisenbahnen als Frachten und Beförderungsbedingungen anzusehen seien, die in irgendeiner Weise der Unterstützung oder dem Schutz eines oder mehrerer bestimmter Unternehmen oder Industrien diene. Bei der Entscheidung dieser Frage hatte die Kommission nach Art. 80 II EWGV insbesondere zu berücksichtigen: die Erfordernisse einer angemessenen Standortpolitik, die Bedürfnisse der unterentwickelten Gebiete und die Probleme der durch politische Umstände schwer 99

Urt. v. 09.07.1969, RS 1/69, ltalienj Kommission, Slg. 1969,277 (284).

232

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

betroffenen Gebiete sowie die Auswirkungen dieser Frachten und Beförderungsbedingungen auf den Wettbewerb zwischen den Verkehrsarten. Diese nicht abschließende Aufzählung zu berücksichtigender Umstände, die zum Teil auch politische Erwägungen beinhalten, machen bereits die Komplexität der hier zu beurteilenden ökonomischen Situation deutlich. Insofern entspricht die Einräumung eines Entscheidungsspielraumes angesichts der vorzunehmenden diagnostischen Bewertung dieser komplexen Lage durchaus dem in Art. 33 EGKSV vorgegebenen Ermessensspielraum bei Würdigungen der wirtschaftlichen Gesamtlage. Festzustellen ist weiterhin, daß der Gerichtshof hier einen Entscheidungsspielraum sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite einräumt. In der Entscheidung Westzucker100 hatte sich der Gerichtshof mit der Frage zu beschäftigen, ob die von der Kommission vorgenommene Festsetzung der Denaturierungsprämie für Weißzucker auf Null rechtmäßig gewesen sei. Der Gerichtshof räumt in seiner Entscheidung der Kommission eine weitgehende Entscheidungsfreiheit hinsichtlich Zeitpunkt und Modalitäten der Beseitigung etwaiger Zuckerüberschüsse ein, die jeden Automatismus ausschließe. 101 Er begründet dies damit, daß sich nur ein Teil der für die Festsetzung der Denaturierungsprämie maßgeblichen Kriterien objektiv bestimmen lasse; andere könnten dagegen nur pauschal oder durch Schätzung bestimmt werden. Zudem seien auch Prognosen insbesondere hinsichtlich der in der Gemeinschaft insgesamt verfügbaren Zuckerüberschüsse erforderlich. Schließlich habe die Kommission bei der Wahl des Zeitpunktes und der zeitlichen Staffelung ihrer Maßnahmen die Entwicklungen und Tendenzen des Marktes sowie die Auswirkungen der eigenen Maßnahmen zu berücksichtigen.102 Auch die Untersuchung dieser Ausführungen zeigt, daß der Grund der Einräumung eines Entscheidungsspielraumes der Kommission auf der Komplexität der zu bewertenden Situation beruht, die in diesem Falle auch deutliche prognostische Züge trägt. Insofern entspricht die Vorgehensweise des Gerichtshofes auch hier den inhaltlichen Vorgaben des Art. 33 EGKSV. Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 ff. Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973,321 (340), Rdz. 14 f. 102 Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (339 f.), Rdz. 12 f. 100 101

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

233

Eine entsprechende Einräumung von Entscheidungsspielräumen angesichts prognostischer Wertungen der Kommission findet sich auch in den Urteilen Deuka I und Deuka 11.103 In diesen Entscheidungen hatte der Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit von Änderungen der Denaturierungsprämie für Weichweizen zu befmden, die die Kommission im Hinblick auf ihrer Ansicht nach drohende Störungen auf dem gemeinschaftlichen Getreidemarkt vorgenommen hatte. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, daß die Kommission eine weitgehende Entscheidungsfreiheit sowohl hinsichtlich der Berücksichtigung etwaiger Störfaktoren als auch hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Behebung solcher Störungen genieße. 104 Dies wird hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer Störung damit begründet, daß die Beurteilung dieser Frage eine verständige Einschätzung sowohl der zukünftigen Entwicklung auf dem Brotgetreidemarkt als auch der Auswirkung der Denaturierun.fsmaßnahmen auf die Entwicklung des Futtergetreidemarktes erfordere.10 Bezüglich der Wahl der Mittel zur Belebung solcher Störungen weist er auf die Vielzahl der denkbaren Mittel zur Steuerung der Marktentwicklung hin: Änderung des Grundbetrages der Denaturierungsprämie, Änderung oder Streichung der Prämienerhöhungen, Einschränkung oder Sperrung der Weizenlieferungen oder Änderung der Bedingungen für den Handel mit Drittländern.106 Analysiert man diese Begründung, so ist zunächst anzumerken, daß der Gerichtshof auch hier einen Entscheidungsspielraum sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite einräumt. Auf der Tatbestandsseite ist dieser Spielraum im wesentlichen mit dem Prognosecharakter zu begründen, der der Frage des Vorlie.pens einer "drohenden Störung des Gemeinsamen Marktes" innewohnt. 10 Der Entscheidungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite findet dagegen seine Rechtfertigung in der Vielzahl der Möglichkeiten, einer solchen Störung zu be-

103 Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975, 421 ff.; Urt. v. 26.06.1975, RS 5/75, Deuka Il, Slg. 1975, 759 ff. 104 Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975, 421 (431) Rdz. 8; Urt. v. 26.06.1975, RS 5/75, Deuka II, Slg. 1975, 759 (769), Rdz. 4. 105 Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka / , Slg. 1975, 421 (431) Rdz. 7. 106 Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975,421 (431) Rdz. 7. 107 Vgl. oben 4. Teil, C III 3 b).

234

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

gegnen. Die Entscheidung, welches dieser Mittel eingesetzt werden soll, ist nicht zuletzt auch wirtschaftspolitischer Art. Darüber hinaus erfordert die Auswahl eines "wirksamen Gegenmittels" eine umfassende Bewertung der wirtschaftlichen Gesamtlage im Hinblick auf die Effizienz des eingesetzten Steuerungsmittels. Beide Aspekte sind aber auch typisch für die unter Art. 33 I 21. HS EGKSV vorzunehmende Würdigung der Gesamtlage. Zieht man eine Zwischenbilanz hinsichtlich der frühen Urteile des Gerichtshofes zum EWGV, so ist bereits hier festzustellen, daß dieser der Kommission Entscheidungsspielräume dann einräumt, wenn diese zur Bewertung einer komplexen ökonomischen Situation gezwungen ist. Insbesondere die Notwendigkeit prognostischer Beurteilungen begründet solche Spielräume der Kommission. Daher läßt sich hier eine deutliche inhaltliche Kongruenz zu dem Begriff der "Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage" des Art. 33 I 2 EGKSV feststellen. Bezüglich der Terminologie ist anzumerken, daß der Gerichtshof von "weitgehenden Entscheidungsspielräumen" (libertes d'apppreciation importantes), nicht aber von Ermessensspielräumen spricht. Angesichts der Tatsache, daß diese Freiheiten der Kommission aber ebenso wie in Art. 33 EGKSV108 sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite eingeräumt werden, kann aber von der inhaltlichen Gleichwertigkeit dieser Formulierung mit dem Begriff des Ermessensspielraumes ausgegangen werden. Als Besonderheit ist zu konstatieren, daß die Begründung für die Einräumung von Ermessensspielräumen in den frühen Urteilen des Gerichtshofs regelmäßig unter Bezugnahme auf die im konkreten Fall vorzunehmenden schwierigen Wertungen erfolgt, ohne daß diese Würdigung der komplexen ökonomischen Gesamtlage ausdrücklich als Ursache der eingeräumten Entscheidungsfreiheit genannt wird. Eine Ausnahme von dieser fallbezogenen Argumentation läßt sich aber bereits in dem Urteil Consten, Grundig erkennen. In dieser Entscheidung gesteht der Gerichtshof der Kommission bei der Erteilung von Freistellungen nach Art. 85 111 EWGV einen Entscheidungsspielraum zu und begründet diesen damit, daß die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Aufga-

108

Der im übrigen ebenfalls nicht ausdrücklich von Ermessen spricht.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

235

ben zu schwierigen Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte gezwungen sei.109

In dieser Formulierung findet sich bereits ein deutlicher Anklang des Inhaltes, der dem Begriff der "Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage" des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV zu entnehmen ist. bb) Neuere Rechtsprechung

Im Gegensatz zu dieser frühen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser in neueren Urteilen dazu übergegangen, die der Kommission eingeräumten Entscheidungsspielräume auf eine einheitliche allgemeine Begründung zurückzuführen. Ein frühes Beispiel für eine solche Vorgehensweise ist das Urteil Schröder.110 In diesem Verfahren hatte der Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit

eines von der Kommission eingeführten Mindestpreissystems für die Einfuhr von Tomatenkonzentraten zu entscheiden. Diese hatte das Vorliegen einer drohenden ernstlichen Störung für den entsprechenden Markt im Sinne der einschlägigen Ratsverordnung Nr. 1428/71111 bejaht, für Griechenland aber im Gegensatz zu anderen Drittländern keine Kontingentierung, sondern ein Mindestpreissystem vorgesehen.

Der Gerichtshof untersucht zunächst, ob die Kommission zu Recht von dem Vorliegen einer drohenden Störung ausgegangen ist. Hierzu bedient er sich noch der aus den frühen Urteilen bekannten Vorgehensweise; er räum~ der Kommission hinsichtlich des Vorliegens "einer ernstlichen Störung" bzw. des "Drohens einer ernstlichen Störung" einen "Beurteilungsspielraum" ein.112 Die Begründung für diesen Entscheidungsspielraum ergibt sich hier inzident aus dem Eingehen auf den konkreten Fall; die Kommission hatte eine Bewertung unter Berücksichtigung des Umfanges der voraussichtlichen bzw. getätigten Einfuhren, der verfügbaren Mengen der Erzeugnisse auf dem Markt sowie der Preise für einheimische und eingeführte Erzeugnisse vorzunehmen. Aufgrund der hierbei erforderlichen, teilweise prognostischen 109

Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396).

no Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder/ Deutschland, Slg. 1973, 125 (142), Rdz. 14. lll ll 2

Abi. 1971, Nr. L 151/6.

Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder/ Deutschland, Slg. 1973, 125 (142), Rdz. 14; hinsichtlich der terminologischen VeiWendung des Begriffs "Beurteilungsspielraum" gilt auch hier das oben, 4. Teil, C III 3 c) aa), Gesagte (vgl. Rdz. 11, 14, 18).

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

236

Bewertung der komplexen wirtschaftlichen Situation bestehen gegen die Einräumung eines Ermessensspielraumes hier keine Bedenken. Bei der Überprüfung der Frage, ob die Kommission zur Abwendung dieser Störung eine Mindestpreisfestsetzung vornehmen durfte, stellt der Gerichtshof ebenso wie in vorhergehenden Fällen das Bestehen eines weiten Entscheidungsspielraumes hinsichtlich der Wahl des Mittels zur Abwehr einer drohenden Störung fest. 113 Hinsichtlich der Begründung dieses Ermessensspielraumes stellt er aber nicht mehr allein auf die im konkreten Fall vorzunehmenden Erwägungen der Kommission ab; vielmehr rechtfertigt er den Ermessensspielraum der Kommission mit der Komplexität der wirtschaftlichen Maßnahmen, die die Kommission zu beurteilen habeY4 Damit übernimmt er das allgemeine Kriterium, das bereits im Hinblick auf die Würdigung wirtschaftlicher Gesamtlagen unter Art. 33 I 2 EGKSV herausgearbeitet wurde. 115 In der Folgezeit hat sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs die allgemeine Formulierung durchgesetzt, die Kommission verfüge dann über einen nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraum, wenn sie komplexe wirtschaftliche Sachverhalte zu überprüfen habe. Diese Formel hat eine besondere Bedeutung im Bereich wirtschaftslenkender Maßnahmen für den Agrarmarkt. Hier spielt sie eine bedeutsame Rolle bei der Kontrolle der Frage, ob eine drohende Störung des W arenverkehrs mit Agrarerzeugnissen die Erhebung bzw. Gewährung eines Währungsausgleichbetrages erfordert; 116 sie findet aber auch bei anderen Fragestellungen des Agrarmarktes Anwendung; Beispiele hierfür sind sonstige Interventionsmaßnahmen der Kommission117 sowie die Beurteilung des Bestehens eines angemessenen Gleichgewichts zwischen konkurrierenden Erzeugnissen.118

113

Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder/ Deutschland, Slg. 1973, 125 (142), Rdz. 14.

114

Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder/ Deutschland, Slg. 1973, 125 (142), Rdz. 14. Vgl. oben 4. Teil, C II 1 c).

1!S

116 Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 8; Urt. v. 20.10. 1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842), Rdz. 19 f; Urt. v. 25.05.1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, 1245 (1256), Rdz. 4; Urt. v. 25.05.1978, RS 98/78, Racke, Slg. 1979, 69 (81), Rdz. 5.; vgl. hierzu sowie allgemein Schmid-Lossberg, S. 50 f.

117

Urt. v. 08.06.1989, RS 167j88,A.G.B.S., Slg. 1989, 1653 (1685), Rdz. 29.

Urt. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2575 (2599), Rdz. 14; Urt. v. 14.01. 1981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 1981, 45 (62), Rdz. 25 ("angemessenes Verhältnis" zwischen Magermilch und Magermilchpulver). 118

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

237

Der Gerichtshof verwendet diese Formel aber auch im Antidumping- und Antisubventionsrecht119 sowie im Wettbewerbsrecht. 120 Es ist daher festzustellen, daß die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Kommission dann Ermessensspielräume zugesteht, wenn diese komplexe wirtschaftliche Sachverhalte zu beurteilen hat. Die terminologische Verwendung des Wortes "Ermessensspielraum" begründet keine inhaltlich andere Aussage als die zuvor verwendeten Begriffe des "Entscheidungs-" bzw. "Beurteilungsspielraums"; vielmehr sind hiervon nach wie vor Entscheidungsfreiheiten der Kommission auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite erfaßt. Analysiert man diese neuere Formel im Hinblick auf die Aussagen des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV, so kann hier eine Parallelität in doppelter Hinsicht konstatiert werden. Zum einen entspricht der Begriff der Beurteilung komplexer ökonomischer Sachverhalte dem Aussagegehalt, der dem Begriff der Würdigung einer wirtschaftlichen ökonomischen Gesamtlage beizumessen ist. Beide Begriffe entziehen die zusammenfassenden Schlüsse, die die Exekutive aus der Vielzahl einzelner wirtschaftlicher Tatsachen in einer diagnostischen und oft prognostischen Gesamtschau zu treffen hat, grundsätzlich der richterlichen Nachprüfungsbefugnis durch den Gerichtshof. Aus der Tatsache, daß der Gerichtshof den Ermessensspielraum auf die Beurteilung komplexer Sachverhalte beschränkt, läßt sich aber noch eine weitere Parallele zu Art. 33 I 2 EGKSV ziehen. Die vom Gerichtshof ge· wählte Formulierung zeigt, daß die Würdigung einzelner Tatsachen und Umstände der gerichtlichen Kontrolle gerade nicht entzogen sein soll. Insofern ist die Kontrollbefugnis des Gerichtshofs hier ebenso wie unter Art. 33 EGKSV unbeschränkt.

119 Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyo, Slg. 1987, 1809 (1854), Rdz. 13; Urt. v. 07.05.1987, RS 255/84, Nachi Fujikoshi, Slg. 1987, 1861 (1890), Rdz. 21; Urt. v. 07.05.1987, RS 260/84, Mineba, Slg. 1987, 1975 (2005), Rdz. 15; Urt. v. 14.03.1990, RS C-156/87, Gesretner Holdings, Slg. 1990-1, 781 (843), Rdz. 63; vgl. dazu auch Hailbronner/ von Heydebrand u.d. Lasa RIW 1986, 889 (894); Prieß JuS 1991, 629 (632). 120 Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 (2575), Rdz. 34; Urt. v. 17.11.1987, verb. RS 142 u. 156/84, BAT/ Reynolds, Slg. 1987, 4487 (4583), Rdz. 62; allerdings nicht bei Art. 85 111 und Art. 92 111 EWGV; vgl. dazu unten 4. Teil, E 111 a), E II 2 a).

238

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

4. Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Kommission im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung nach Art. 173 EWGV dort Entscheidungsspielräume eingeräumt sind, wo diese komplexe ökonomische Sachverhalte zu beurteilen hat. Hier sind die zusammenhängenden Schlüsse, die auf der Grundlage einer Vielzahl einzelner Fakten zu treffen sind, der umfassenden richterlichen Nachprüfungsbefugnis entzogen. Insofern entspricht der Umfang der Kontrolle unter Art. 173 EWGV trotz seiner strukturellen Verschiedenheit den Aussagen des Art. 33 I 2 1. HSEGKSV. IV. Der Umfang der Kontrolle durch den Gerichtshof angesicbts bestehender Entscheidungsspielräume der Kommission

Im folgenden soll untersucht werden, in welchem Maße bestehende Entscheidungsspielräume der Kommission einer gerichtlichen Nachprüfung durch den Gerichtshof zugänglich sind. Auch insoweit ist der Frage nachzugehen, inwieweit der Umfang der gerichtlichen Kontrolle dem entspricht, was durch Art. 33 I 2 2. HS EGKSV für die Nichtigkeitsklage des EGKSV vorgegeben wird, obwohl eine entsprechende Regelung in Art. 173 EWGV fehlt. 1. Inhaltliche Gleichwertigkeit trotz strnktureller Verschiedenheit

Auch hier gilt die zur Einräumung von Entscheidungsspielräumen getroffene Aussage, daß die strukturelle Verschiedenheit der beiden Vorschriften nicht gegen eine inhaltliche Gleichwertigkeit spricht.121 Hinsichtlich der Analyse des Kontrollumfangs im Rahmen des Art. 173 EWGV ergibt sich aber die Besonderheit, daß weder der Wortlaut des Art. 33 I 2 2. HS noch die frühe Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Vorschrift eine eindeutige Beantwortung der Frage ermöglichen, nach welchen Kriterien die Überprüfung bestehender Entscheidungsspielräume zu erfolgen hat. Insbesondere fehlt es an einer Bestimmung des zentralen Begriffes der "offensichtlichen Verkennung" der Vertragsbestimmungen.122 121

Vgl. oben 4.Teil, C 111 3 a).

122

V gl. dazu bereits oben 4.Teil, C II 2 c bb).

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

239

Angesichts des insofern unklaren Aussagegehalts des Art. 33 I 2 2. HS EGKSV ist davon auszugehen, daß dessen Einfluß auf Art. 173 EWGV von eher untergeordneter Bedeutung geblieben ist. Vielmehr war der Gerichtshof gezwungen, eigenständig die Kontrollparameter zu entwickeln, anband derer die Überprüfung von Entscheidungsspielräumen der Kommission erfolgen sollte. Daher soll im folgenden auf diese Rechtsprechung eingegangen werden. 2. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungsspielräumen der Kommission

a) Frühe Rechtsprechung In der frühen Rechtsprechung zur Einräumung von Entscheidungsspielräumen und deren gerichtlicher Kontrolle sind die Aussagen des Gerichtshofs noch zu unbestimmt, um hieraus konkrete Rückschlüsse auf anzuwendende Kontrollparameter bzw. auf Übereinstimmungen mit der Regelung des Art. 33 I 2 EGKSV treffen zu können. So führt dieser in seinem Urteil Consten, Grundig aus, die gerichtliche Nachprüfung habe sich auf die Richtigkeit der zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts zu beschränken.123 Soweit hier auf die Kontrolle des Tatsachenmaterials Bezug genommen wird, ergibt sich die Befugnis zur gerichtlichen Nachprüfung ohnehin schon aus der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes. 124 Hinsichtlich der Tatsachenwürdigung bleibt aber unklar, in welchem Ausmaß eine Kontrolle der Subsumtion erfolgen darf. Daß sie keiner umfassenden Nachprüfung unterliegt, hat der Gerichtshof in der Rechtssache Beus 125 klargestellt, indem er darauf hinweist, daß die von der Kommission getroffene Bewertung nur daraufhin zu untersuchen

123

12A

Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396). Vgl. oben 2. Teil, B.

125

Urt. v. 13.03.1968, RS 5/67, Beus, Slg. 1968, 127 (145).

240

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

sei, ob diese willkürlich sei.126 Eindeutige Schlußfolgerungen hinsichtlich des Kontrollumfangs lassen sich aber auch hieraus nicht entnehmen. b) Neuere Rechtsprechung Die neuere Rechtsprechung ist dagegen durch wesentlich aussagekräftigere Äußerungen zu der Frage gekennzeichnet, in welchem Umfang Ermessensspielräume der Kommission der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Zunächst wird eindeutig festgestellt, daß der Richter die Entscheidungsfreiräume der Kommission daraufhin untersuchen kann, ob dieser ein Ermessensmißbrauch unterlaufen sei.127 Insoweit besteht Identität mit der in Art. 33 I 2 2. HS EGKSV getroffenen Aussage. Uneinheitlicher ist die Terminologie dagegen hinsichtlich der Frage, wie weit die gerichtliche Nachprüfung im Rahmen des Klagegrundes der Vertragsverletzung geht. Zum Teil wird die Formel verwendet, es sei zu prüfen, ob die Beurteilungen der Kommission offensichtlich irrig seien 128 bzw. ob diese offensichtliche Fehler bei der Würdigung des Sachverhalts begangen habe. 129

126 Urt. v. 13.03.1968, RS 5/67, Beus, Slg. 1968, 127 (145); vgl. auch Urt. v. 24.10.1973, RS 43/72, Merkur, Slg. 1973, 1055 (1074), Rdz. 23. 117 Ständige Rechtsprechung; vgl. nur Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (340), Rdz. 14; Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Impon, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 8. 128 Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (340), Rdz. 14; Urt. v. 18.03. 1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975,421 (432) Rdz. 9; Urt. v. 26.06.1975, RS 5/75, Deuka ll, Slg. 1975, 759 (770), Rdz. 4. 129 Urt. v. 4.10.1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2935), Rdz. 30; Urt. v. 07.05.1987, RS 258/84, Nippon Seiko, Slg. 1987, 1923 (2006), Rdz. 21; Urt. v. 14.07.1985, RS 188/85, Fediol I/I, Slg. 1988,4193 (4223), Rdz. 6; Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 (2575), Rdz. 34; Urt. v. 17.11.1987, verb. RS 142 u. 156/84, BAT/ Reynolds, Slg. 1987,4487 (4583), Rdz. 62; Urt. v. 08.06.1989, RS 167/88, A.G.B.S., Slg. 1989, 1653 (1685), Rdz. 29; Die in der deutschen Fassung des Urt. v. 27.09.1983, RS 216/82, Universität Hamburg, Slg. 1983, 2771 (2789), Rdz. 14 benutzte mißverständliche Formulierung "offensichtlicher Rechts- oder Tatsachenirrtum" beruht auf einer ungenauen, da wörtlichen Übersetzung der französischen Fassung "erreur manifeste de fait ou de droit"; ihr kommt aber keine anderslautende Bedeutung zu; vgl. auch Urt. v. 25.10.1984, RS 185/83, Rijksuniversiteit Groningen, Slg. 1984, 3683 (3636), Rdz. 14 f.; mißverständlich insoweit auch Beutler/ Bieber/Pipkomj Streit, S. 267, die von einer Kontrolle auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler bei der Tatsachenfeststellung sprechen.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

241

Zum andern wird auch ausgeführt, der Gerichtshof dürfe prüfen, ob der Behörde kein offensichtlicher Irrtum unterlaufen sei oder ob sie die Grenzen ihres Ermessensspielraumes nicht offensichtlich überschritten habe. 130 Beide Formeln gehen somit übereinstimmend von einer Kontrolle bestehender Entscheidungsspielräume der Verwaltung auf das Vorliegen offensichtlicher Irrtümer (erreurs manifestes) aus. Insofern stellt sich die Frage nach dem inhaltlichen Aussagegehalt des Begriffs des "offensichtlichen Irrtums". Zunächst zeigt sich hier eine Ähnlichkeit zu dem Begriff der "offensichtlichen Verkennung" (meconnaisssance patente) des Art. 33 I 2 2. HS EGKSV, der aber zum Zeitpunkt der Entwicklung der genannten Formeln noch keine begriffliche Klärung durch den Gerichtshof erfahren hatte und somit zur inhaltlichen Bestimmung kaum beitragen konnte. Weitaus aussagekräftiger erscheint jedoch die wörtliche Übereinstimmung mit dem Begriff der "erreur manifeste" des französischen Verwaltungsrechts. Ein Vergleich des "offensichtlichen Irrtums" in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur "erreur manifeste" bietet sich aus zwei Gründen an. Zum einen hat der Conseil d'Etat die "erreur manifeste" gerade als Kontrollparameter für die Fälle entwickelt, in denen der Verwaltung besonders weitgehende Entscheidungsspielräume eingeräumt sind.131 Zum anderen erfolgte die Entwicklung dieser Rechtsfigur seit Beginn der sechziger Jahre bis zur endgültigen Anerkennung in den siebziger JahrenP2 Aufgrund des insoweit bestehenden zeitlichen Zusammenhanges zwischen der Entwicklung der beiden Begriffe erscheint eine Beeinflussung durch das französische Vorbild nicht ausgeschlossen. Dies gilt umso mehr, als die Mehrzahl der Richter des Gerichtshofs der romanischen Verwaltungsrechtstradition in besonderem Maße verhaftet ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, daß hier eine - bewußte oder unbewußte - Übernahme des Begriffes der "erreur manifeste" und seiner inhaltlichen Ausgestaltung erfolgt ist. 133 Eine entsprechende Anlehnung 130 Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, I9 (30), Rdz. 8; Urt. v. 20.IO.I9n, RS 29/77, Roquette, Slg. I977, I835 (I842), Rdz. I9 f; Urt. v. 25.05.1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, I245 (I256), Rdz. 4; Urt. v. I4.01.I981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 198I, 45 (62), Rdz. 25. 131 Vgl. oben 3. Teil, D V I b). 132 Vgl. oben 3.Teil, D V I b). 133 Vgl zum Einfluß französischer Rechtsfiguren auf das Gemeinschaftsrecht auch allgemein Becker, S. I4I. 16 Rausch

242

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

mag sich auch deshalb aufgedrängt haben, weil bereits der Begriff der "offensichtlichen Verkennung" des Art. 33 EGKSV eine deutliche Ähnlichkeit zur Rechtsfigur der "erreur manifeste" aufweist. Im folgenden soll daher zunächst eine Analyse des Begriffs des "offensichtlichen Irrtums" im Lichte der Zielsetzungen des Art. 173 EWGV vorgenommen werden. Diese sollen dann zum Begriff der "erreur manifeste" des französischen Verwaltungsrechts und den Aussagen des Gerichtshofs in Bezug gesetzt werden. aa) Auslegung des Begriffs des "offensichtlichen Irrtums" im Lichte der Zielsetzungen des Art. 173 EWGV

Wie bereits dargelegt, beruht die Einräumung eines nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraumes der Kommission auf der mit der richterlichen Kontrolle unter Art. 173 EWGV verbundenen Zielsetzung, ein institutionelles Gleichgewicht zwischen den Organen zu gewährleisten. Wesentlicher Inhalt dieses Grundsatzes ist die Vorgabe, daß der Gerichtshof seine Entscheidung nicht an die Stelle der Entscheidung der Verwaltung setzen darf.134 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll der Entscheidungsspielraum der Kommission nur insoweit überprüfbar sein, als er einen offensichtlichen Irrtum erkennen läßt. Maßgeblicher Gesichtspunkt hierfür kann aber nur sein, ob die von der Hohen Behörde vorgenommene Würdigung der Gesamtlage eine so deutliche Verkennung der Rechtslage erkennen läßt, daß der Gerichtshof eine Rechtsverletzung trotz des bestehenden Ermessensspielraumes zweifelsfrei feststellen kann. Nur in solchen Fällen einer eindeutigen Überschreitung der Ermessensgrenzen ist der Gerichtshof in der Lage, die getroffene Kommissionsentscheidung zu sanktionieren, ohne sich an die Stelle der Exekutive zu setzen. Damit läuft die vom Gerichtshof vorgenommene Kontrolle letztendlich auf eine Willkürprüfung hinaus.135 Der Begriff des "offensichtlichen Irrtums" ist folglich im Lichte der Zielsetzungen des Art. 173 EWGV in der Weise auszulegen, daß er diejenigen Fälle erfaßt, in denen die von der Kommission vorgenommene Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage die Grenzen des ihr gezogenen Ermessens 134

Vgl. hierzu oben 4. Teil, A II 2.

135 Rupprecht, S. 66.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

243

in so eindeutiger Weise überschreitet, daß deren Feststellung keines gesteigerten Sachverstandes bedarf. bb) Vergleich zur "e"eur manifeste"

Vergleicht man dieses Ergebnis mit der vom Conseil d'Etat entwickelten Rechtsfigur der "erreur manifeste", so lassen sich deutliche Übereinstimmungen verzeichnen. Zunächst zeigt sich bereits eine Parallele in der systematischen Einordnung; auch im recours pour exces de pouvoir stellt sich die Kontrolle der erreur manifeste nicht als eigenständiger Klagegrund dar, sondern ist systematisch der Rechtsverletzung (violation de Ia loi) und hier der erreur de fait zugeordnet. Ebenso wie im Gemeinschaftsrecht dient auch die erreur manifeste zur Kontrolle von Entscheidungen gesteigerter Komplexität, die der richterlichen Kontrolle hinsichtlich der Tatsachenwürdigung im Bezug auf die Subsumtion von Tatsachen unter die tatbestandliehen Voraussetzungen (qualification des faits) bzw. hinsichtlich der im konkreten Fall getroffenen Entscheidung grundsätzlich entzogen sind. Auch die inhaltliche Ausgestaltung weist deutliche Parallelen auf. So entspricht die hier vorgenommene Begriffsbestimmung zwar nicht der Interpretation der "erreur manifeste", wie sie von der französischen Literatur überwiegend vorgenommen wirdP6 Sie kann sich dafür aber auf eine weitgehende Übereinstimmung mit der Vorgehensweise des Staatsrats bei der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler berufen. 137 Die Deutung der "offensichtlichen Verkennung" als eindeutiger Überschreitung der Ermessensgrenzen ist weiterhin identisch mit der Interpretation, die der erreur manifeste vor dem Hintergrund der Systematik des recours pour exces de pouvoir und der Geltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes gegeben wurde. 138

136 Vgl. 137

oben 3. Teil, D V 1 c). Vgl. oben 3. Teil, D V 1 c).

138 Vgl.

oben 3. Teil, D V 1 c).

244

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Weiterhin ist auf den sowohl der "offensichtlichen Verkennung" als auch der "erreur manifeste" zugrunde liegenden Gedanken des Willkürverbotes hinzuweisen, der auch Ähnlichkeiten zum deutschen Recht insbesondere im Bereich ausnahmsweise vorliegender Beurteilungsermächtigungen aufweist.139 cc) Der Begriff des "offensichtlichen Irrtums" in der Rechtsprechung des Gerichtshofs

Analysiert man die Aussagen des Gerichtshofs zur Kontrolle von Entscheidungsspielräumen der Kommission auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler, so ist zunächst festzustellen, daß dieser der bereits erwähnten Zielsetzung der Gewährleistung des institutionellen Gleichgewichts eine maßgebliche Rolle bei der Bestimmmung des gerichtlichen Kontrollumfanges beimißt. Eine besonders deutliche Bezugnahme auf den Gewaltenteilungsaspekt fmdet sich im Urteil Fedio/ I. Hier spricht der Gerichtshof von der Kontrolle auf offensichtliche Fehler bei der Würdigung des Sachverhalts und führt des weiteren aus: "Insofern ist dem Richter die Ausübung derjenigen Kontrolle übertragen, die ihm gewöhnlich angesichts eines Ermessensspielraumes der öffentlichen Gewalt zusteht, ohne daß er dabei allerdings in die Würdigung eingreifen kann, die (aufgrund der genannten Verordnung) den Gemeinschaftsbehörden vorbehalten ist." 140 Damit stellt der Gerichtshof die Bedeutung des institutionellen Gleichgewichts heraus und macht zugleich deutlich, daß angesichts von Ermessensspielräumen eine einheitliche gerichtliche Kontrolle in der beschriebenen Weise zu erfolgen habe. Er läßt weiterhin erkennen, daß der Begriff des "offensichtlichen Irrtums" hier ebenso wie unter Art. 33 EGKSV nicht als evidente bzw. besonders schwere Verletzung zu verstehen ist, sondern dann vorliegt, wenn die Kommission die ihr eingeräumten Ermessensbefugnisse in eindeutiger Weise überschreitet.

139 140

Vgl. hierzu bereits oben 2. Teil, D 115; 3. Teil, D V 1 c). Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2935 f.), Rdz. 30.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

245

Ein prägnantes Beispiel für ein entsprechendes Verständnis ist das Urteil

Roquette vom 15.10.1980. 141 In diesem Urteil stellt der Gerichtshof ebenso wie in anderen Entscheidungen das Bestehen eines Ermessensspielraumes der Kommission bei der Erhebung von Währungsausgleichsabgaben fest. 142 Hinsichtlich der Grenzen dieser Ermessensbefugnisse stellt er klar, daß die von der Kommission gewählte Vorgehensweise nicht zur Folge haben darf, daß die Verarbeitungserzeugnisse systematisch Währungsausgleichbeträgen unterworfen werden. In diesem Fall sei die Zielsetzung der Neutralisation von Währungsschwankungen nicht mehr gegeben; die Kommission handele daher nicht mehr im Rahmen der ihr eingeräumten Befugnisse.143 Damit läßt er erkennen, daß er den Begriff des "offensichtlichen Irrtums" als eindeutige Überschreitung der Ermessensgrenzen durch die Kommission qualifiziert. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Gerichtshof den Begriff des "offensichtlichen Irrtums" anders als das französische Recht als eine besonders schwere Rechtsverletzung interpretiert. Lediglich im Urteil Faust spricht er von einer "offensichtlichen und erheblichen Überschreitung" ( depassement manifeste et grave) des Ermessensspielraumes.144 Hier wird aber die Erheblichkeit erkennbar auf das Maß der Nichteinhaltung der Ermessensgrenzen bezogen; insofern kann diese Formulierung nicht als Hinweis auf eine Interpretation der "erreur manifeste" als besonders schwerem Verstoß angesehen werden. 145 Zu klären bleibt somit lediglich die Frage, ob sich aus der unterschiedlichen sprachlichen Fassung der beiden vom Gerichtshof verwendeten Formeln146 inhaltliche Divergenzen ergeben. Dies ist dann zu verneinen, wenn der in beiden Formeln enthaltene Begriff des "offensichtlichen Irrtums" einheitlich, d.h. als eindeutige Ermessensüberschreitung, auszulegen ist. In diesem Fall hat die weitergehende Formulierung "offensichtliche Überschreitung der Grenzen des Ermessensspielraums" nur klarstellenden Charakter, aber keine darüber hinausgehende eigenständige Bedeutung. RS 145/79, Slg. 1980, 2917 ff. Urt. v. 15.10.1980, RS 145/79, Roquette, Slg. 4. Teil, C III 3 c) bb). 141

142

1980, 2917 (2937), Rdz. 13; vgl. auch oben

Urt. v. 15.10.1980, RS 145/79, Roquette, Slg. 1980, 2917 (2937), Rdz. 14. Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982/ Rec. 1982, 3745 (3758), Rdz. 145 So auch Daig, Rdz. 616. 146 Vgl. dazu oben 4. Teil, C IV 1 b ). 143

144

9.

246

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Für eine solche Auslegung des Begriffes des offensichtlichen Irrtums spricht bereits ein Blick auf die französische Fassung der entsprechenden Urteile. Soweit diese sich mit dem Hinweis auf offensichtliche Irrtümer begnügen, beziehen die Urteile die "erreur manifeste" auf die "appreciation".147 Verwendet der Gerichtshof dagegen die weitergehende Formel, so spricht er zunächst allgemein von der "erreur manifeste" und stellt dann in einem weiteren Punkt klar, es sei zu prüfen, "si cette autorite n'a pas manifestement depasse les limites de son pouvoir d'appreciation." 148 Verwendet der Gerichtshof also die kürzere Formel, so spricht er von "erreurs manifestes d'appreciation"; benutzt er dagegen die weitergehende Formel, spricht er von "erreurs manifestes" und "depassements manifestes des limites du pouvoir d'appreciation". Berücksichtigt man aber, daß die Rechtsfigur der erreur manifeste dem französischen Recht entnommen ist und sich stets auf die "appreciation", d.h. auf die Tatsachenwürdigung bezieht, 149 so ist nicht ersichtlich, daß den unterschiedlichen Formulierungen ein voneinander abweichender Inhalt beigemessen werden soll. Daher sind die Aussagen des Gerichtshofs zur gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungsspielräumen einheitlich in der Weise zu interpretieren, daß dieser überprüfen darf, ob ein Ermessensmißbrauch vorliegt oder die Kommission bei ihrer Entscheidung die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens so eindeutig überschritten hat, daß es zur Feststellung eines Rechtsverstoßes keines gesteigerten Sachverstandes bedarf. 3. Zusammenfassung

Soweit Entscheidungsspielräume der Kommission bestehen, werden diese vom Gerichtshof zum einen auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs hin überprüft.

147

Vgl. z.B. Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Rec. 1973, 321 (340), Rdz. 14. z.B. Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-lmpon, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 8 149 "erreur manifeste d'appreciation", vgl. oben 3. Teil, D V 1 b). 148 Vgl.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

247

Darüber hinaus erstreckt sich die gerichtliche Nachprüfung auch auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler (erreurs manifestes) bei der Würdigung des Sachverhalts. Ein offensichtlicher Fehler in diesem Sinne liegt dann vor, wenn die Kommission die Grenzen des ihr eingeräumten Entscheidungsspielraumes so eindeutig überschritten hat, daß es zur Feststellung eines Rechtsverstoßes keines gesteigerten Sachverstandes bedarf. Insofern entsprechen die Kontrollparameter denjenigen, die auch im Rahmen des Art. 33 EGKSV anzuwenden sind. Eine Abweichung ist lediglich in formaler Hinsicht festzustellen; die Kontrolle des Vorliegens einer offensichtlichen Vertragsverletzung hängt nicht mehr davon ab, ob sich der Kläger auf eine solche beruft; vielmehr reicht die qualifizierte Darlegung einer Vertragsverletzung aus. 150 Des weiteren ist im Bezug auf den Begriff des "offensichtlichen Irrtums" anzumerken, daß dieser sich in seiner inhaltlichen Ausgestaltung nicht auf den Begriff der "offensichtlichen Verkennung" des Art. 33 I 2 2. HS EGKSV zurückführen läßt. Vielmehr weist der "offensichtliche Irrtum" in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein hohes Maß an Übereinstimmung mit der Rechtsfigur der "erreur manifeste" des recours pour exces de pouvoir auf; Konvergenzen bestehen hierbei sowohl im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung als auch bezüglich der zeitlichen Entwicklung. Daher liegt der Schluß nahe, daß der Gerichtshof sich bei der Entwicklung des "offensichtlichen Irrtums" von der "erreur manifeste" des französischen Verwaltungsrechts hat inspirieren lassen. Diese Überzeugung drängt sich insbesondere auch aufgrund der Tatsache auf, daß die überwiegende Zahl der Richter des Gerichtshofs der romanischen Verwaltungstradition und in besonderem Maße dem französischen Verwaltungsrecht verhaftet ist. Der Begriff der "offensichtlichen Verkennung" des Art. 33 EGKSV mag eine Bezugnahme auf die "erreur manifeste" nahe gelegt haben. Eine weitergehende Einflußnahme auf die inhaltliche Ausgestaltung des "offensichtlichen Irrtums" ist aber auszuschließen, da die frühe Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 33 I 2 EGKSV noch keine eindeutige Begriffsbestimmung vorgenommen hatte. 150

Vgl. Daig, Rdz. 220; ders, in: v.d. Groeben, 3. Aun., Art. 173, Rdz. 10.

248

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Es läßt sich im Gegenteil feststellen, daß der Gerichtshof den Regelungsgehalt des Art. 33 I 2 2. HS EGKSV in seiner neueren Rechtsprechung den Vorgaben angeglichen hat, die er im Rahmen des Art. 173 EWGV entwikkelt hat.151 Insofern ist hier eine Beeinflussung des Aussagegehalts des Art. 33 EGKSV durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 173 EWGV feststellbar. V. Ermessen des Gerichtshofs bei der Bestimmung des Kontrollumfangs

In der Literatur wird zum Teil die Auffassung vertreten, die dargestellten Grenzen des Kontrollumfangs seien für den Gerichtshof nicht bindend; vielmehr nehme dieser eine "freiwillige Beschränkung des Kontrollumfangs" vor; 152 andere sprechen von der Freiheit des Richters in der Abgrenzung von überprüfbaren und unüberprüfbaren Entscheidungselementen im Rahmen des richterlichen Takts und der allgemeinen Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Rechtsprechung. 153 Die Einräumung eines diesbezüglichen Freiraums würde der Rechtsprechungspraxis im französischen recours pour exces de pouvoir entsprechen, in dem der Richter die Grenzen seiner Kontrollbefugnisse weitgehend eigenständig festlegt. 154 Ein solches Vorgehen wäre aber mit der sich aus Art. 164 EWGV i.V.m. Art. 173 EWGV ergebenden Pflicht des Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeitskontrolle nicht vereinbar. 155 Dieser hat vielmehr die Entscheidungen der Kommission einer umfassenden Rechtmäßigkeilskontrolle zu unterziehen; auch die beschränkte Überprüfbarkeil von Ermessensentscheidungen modifiziert diesen Grundsatz nicht, sondern zeigt lediglich die Grenzen einer solchen Kontrolle auf. Eine freiwillige Beschränkung der richterlichen Kontrolle würde aber einer Rechtsverweigerung im Bezug auf den Kläger gleichkommen. 156 151

Vgl. dazu bereits oben 4. Teil, C II 2 c) bb) (3).

Waelbroek, Art. 173, S. 145. Rdz. 214; ähnlich auch Bebr, S. 126. 154 Vgl. oben 3. Teil, D VI. 152

153 Daig, 155

156

In diesem Sinne bereits zu Art. 33 EGKSV Clever, S. 110.

Vgl. Herdegenf Richter, 209 (225) unter Bezugnahme auf Urt. v. 12.07.1957, verb. RS 7/ 56 u. 3-1/51,Aigera, Slg. 1957,83 (118).

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

249

Im Gegensatz zum Staatsrat157 kann sich der Gerichtshof bei der Durchführung seiner Kontrolle auch nicht auf eine entsprechende historische Entwicklung berufen. Der Gerichtshof hat im übrigen klargestellt, daß dem Kläger nach dem Sinngehalt der Grundsätze, auf denen die Art. 164 und 173 EWGV beruhen, das Recht zusteht, sowohl hinsichtlich der Beurteilung des Sachverhalts als auch hinsichtlich der Durchführung von Maßnahmen eine gerichtliche Kontrolle in Anspruch zu nehmen, die der Natur der auf diesem Gebiet den Organen der Gemeinschaft vorbehaltenen Befugnisse Rechnung trägt. 158 Ein entsprechender Anspruch beinhaltet aber auch notwendigerweise eine rechtliche Gebundenheit des "Anspruchsgegners", d.h. des Gerichtes. Im übrigen läßt die Kontrolle des Gerichtshofs ein deutlich systematischeres Vorgehen erkennen, als dies im recours pour exces de pouvoir der Fall ist. Beispiele hierfür sind die klare systematische Einordnung der "moyens d'ordre public" sowie die stringente Begründung der Bindung an die Klagegründe durch den "ne ultra petita" - Grundsatz. Auch die einheitliche Kontrolle aller Ermessensspielräume auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler zeigt, daß der Gerichtshof sich hier keine Entscheidungsspielräume anmaßt. Die insoweit unterschiedliche Kontrollpraxis des Gerichtshofs im Vergleich zu den französischen Verwaltungsgerichten zeigt sich auch daran, daß der Gerichtshof nicht die vom Conseil d'Etat verwendeten formellen Kontrollstandards übernommen hat. Vielmehr nimmt er jeweils eine Untersuchung der entscheidungserheblichen Befugnisse daraufhin vor, ob diese der Kommission einen Ermessensspielraum aufgrund der vorzunehmenden komplexen ökonomischen Wertungen einräumen. Diese Vorgehensweise zeigt sich besonders deutlich im Antidumping-/ Antisubventionsrecht; hier hat der Gerichtshof jeweils eigene Untersuchungen angestellt, um das Vorliegen eines Kommissionsermessens hinsichtlich der Einleitung159 bzw. der Einstellung eines Antidumpingverfahrens/60 des Vorliegenseiner Schädigung bzw eines Gemeinschaftsinteresses161 oder der 157 Vgl.

dazu oben 3. Teil, D VI.

158

Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fedioll, Slg. 1983, 2913 (2935), Rdz. 29.

159

Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fedioll, Slg. 1983, 2913 (2934 f.), Rdz. 25 f. Urt. v. 14.07.1988, RS 187/85, Fediol II, Slg. 1988,4155 (4186 f.), Rdz. 6.

160

161

Urt. v. 22.06.1989, RS 70/87, Fediol!V, Slg. 1989, 1781 (1829 f.), Rdz. 14 ff.

250

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Wahl der Berechnungsmethode162 zu bejahen. Dagegen hat er sich geweigert, nicht streitgegenständliche Befujnisse auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle hin zu untersuchen.16 Diese eingehende Auseinandersetzung mit der Frage des Vorliegens eines Ermessensspielraumes im jeweiligen Einzelfall zeigt, daß der Gerichtshof seiner Verpflichtung zur Rechtmäßigkeitskontrolle umfassend nachkommt. Er entscheidet zwar letztlich in eigener Regie, ob die konkrete Befugnis einen Ermessensspielraum einräumt oder nicht. Auch das Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums wird vom Gerichtshof in eigener Kompetenz festgestellt; eine Entscheidungsfreiheit im Sinne eines Ermessens steht ihm dabei aber nicht zu. VI. Zusammenfassung und Vergleich

Faßt man die Untersuchungen zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für die Kontrolle der Tatsachenwürdigung der Kommission durch den Gerichtshof im Rahmen des Art. 173 EWGV zusammen, so sind folgende Punkte festzuhalten: 1. Der EWGV selbst, insbesondere die Art. 164 und Art. 173 EWGV, beinhaltet keine ausdrücklichen Aussagen hinsichtlich der Kontrolle der Tatsachenwürdigung.

2. Im Gegensatz hierzu enthält die Regelung der Nichtigkeitsklage in Art. 33 EGKSV konkrete Vorgaben für die richterliche Nachprüfung von Entscheidungen der Exekutive. a) Gemäß Art. 33 I 2 1. HS EGKSV räumen die von der Hohen Behörde vorzunehmenden Bewertungen komplexer ökonomischer Situationen dieser einen Entscheidungsspielraum ein, der grundsätzlich gerichtlich nicht überprüfbar ist. Die Würdigung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände unterliegt dagegen der umfassenden gerichtlichen Kontrolle. b) Nach Art. 33 I 2 2. HS EGKSV ist auch der Ermessensspielraum der Hohen Behörde im Falle einer qualifizierten Rüge eingeschränkt überprüfbar auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauches bzw. einer offensichtlichen Verkennung der Bestimmungen des Vertrages. 162

163

Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyoj Rat, Slg. 1987, 1809 (1854), Rdz. 19. Urt. v. 22.06.1989, RS 70/87, Fediol IV, Slg. 1989, 1781 (1830), Rdz. 15 f.

C. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Vorgaben

251

3. Die Einräumung von Entscheidungsspielräumen der Kommission im Rahmen des Art. 173 EWGV folgttrotzstruktureller Unterschiede der Regelung des Art. 33 I 2 1. HS EGKSV. Demnach sind der Kommission dort Entscheidungsspielräume eingeräumt, wo diese komplexe ökonomische Situationen zu beurteilen hat. 4. Soweit Entscheidungsspielräume im genannten Sinne bestehen, können diese vom Gerichtshof nur eingeschränkt auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs bzw. eines "offensichtlichen Irrtums" (erreur manifeste) bei der Würdigung des Sachverhalts überprüft werden. Der Begriff des "offensichtlichen Irrtums" zeigt sich hierbei in hohem Maße von der Rechtsfigur der "erreur manifeste" des französischen Verwaltungsrechts beeinflußt. Er umfaßt die Fälle, in denen die Kommission die Grenzen des ihr eingeräumten Entscheidungsspielraumes in so eindeutiger Weise überschreitet, daß es zur Feststellung eines Rechtsverstoßes keines gesteigerten Sachverstandes bedarf. 5. Der im Rahmen des Art. 173 EWGV entwickelte Begriff des "offensichtlichen Irrtums" hat auch die Interpretation des bis dahin nicht eindeutig geklärten Begriffes der "offensichtlichen Verkennung" des Art. 33 I 2 2. HS EGKSV beeinflußt und zu einer inhaltlichen Angleichung an Art. 173 EWGV geführt. Ein Unterschied verbleibt nur insofern, als der Kläger unter Art. 173 EWGV nicht das Vorliegen einer offensichtlichen Vertragsverletzung rügen muß, sondern lediglich an die allgemeine Anforderung der qualifizierten Darlegung der Klagegründe gebunden ist. 6. Die Festlegung des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle steht nicht im Ermessen des Gerichtshofs; dieser unterliegt bei der Einräumung von Ermessensspielräumen und deren richterlicher Kontrolle den strengen Bindungen des Legalitätsprinzips. 7. Vergleicht man diese Kontrolle mit der Rechtslage in Deutschland und Frankreich, so ist zunächst festzuhalten, daß die Konzeption des Art. 173 EWGV ebenso wie die des deutschen Verwaltungsprozeßrechts von der umfassenden gerichtlichen Verwaltungskontrolle als Regelfall ausgeht. Ermessensspielräume sollen von der Grundkonzeption her nur ausnahmsweise dann vorliegen, wenn die Kommission komplexe ökonomische Situationen zu bewerten hat. Die insoweit festzustellende Einräumung eines Ermessens gerade in Fällen eines bestehenden Kenntnisvorsprungs der Verwaltung entspricht dage-

252

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

gen eher der Konzeption des recours pour exces de pouvoir, der in Fällen besonderer Sachkompetenz der Verwaltung seine Nachprüfung auf eine Minimalkontrolle (contröle minim um) reduziert. Hier zeigt sich auch der deutlichste Unterschied zum deutschen Verwaltungsrecht. Nach deutschem Rechtsverständnis begründet das Bestehen eine Kenntnisvorsprungs der Verwaltung oder die Notwendigkeit der Vornahme eine komplexen Prognoseentscheidung für sich genommen noch keinen Entscheidungsfreiraum der Verwaltung. Vielmehr soll Art. 19 IV GG auch in diesen Fällen die Letztentscheidungskompetenz im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich beim Richter verbleiben. Ein Beurteilungsspielraum soll auch hier nur in eng begrenzten Ausnahmefällen bestehen und muß auf einer entsprechenden normativen Ermächtigungsgrundlage beruhen. Insofern ist die Kontrollintensität 1m Verfahren vor deutschen Verwaltungsgerichten höher als im Verfahren vor dem Gerichtshof. Andererseits ist aber anzumerken, daß auch die Kontrolle des Kommissionshandeins durch den Gerichtshof einen hinreichend effektiven Rechtsschutz garantiert. Auch der Gerichtshof geht vom Grundsatz der umfassenden gerichtlichen Verwaltungskontrolle aus und schränkt die richterliche Nachprüfungsbefugnis nur ausnahmsweise dort ein, wo eine Bewertung komplexer ökonomischer Situationen erforderlich ist. Eine gerichtliche Entscheidungsfreiheit im Sinne der französischen Dogmatik besteht hierbei nicht; vielmehr unterliegt der Gerichtshof bei seiner Kontolle ebenso wie die deutschen Verwaltungsgerichte den strengen Bindungen des Legalitätsprinzips. Wenn auch der Kontrollumfang im Verfahren vor dem Gerichtshof nicht in jeder Hinsicht dem entspricht, was nach deutschem Rechtsverständnis durch Art. 19 IV GG geboten ist, so entspricht er doch den grundlegenden Leitlinien dieser Garantie. Daher ergeben sich aus den dargestellten Abweichungen auch keine Bedenken im Hinblick auf die hinreichende Gewährleistung grundrechtlieber Positionen durch den Gerichtshof. 164

164 so auch Beutler/ Bieber/ Pipkom/ Streit, S. 267; aA. zumindest im Hinblick auf die Kontrolle des Kommissionshandeins im Währungsausgleichsrecht Schmid-Lossberg, S. 432 ff.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

253

8. Eine weitere Parallele zum französischen Verwaltungsrecht zeigt sich in der nur eingeschränkten Kontrolle von Ermessenshandlungen auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs bzw. eines offensichtlichen Fehlers bei der Tatsachenwürdigung. Diese entspricht sowohl systematisch als auch inhaltlich weitgehend der Prüfung der "erreur manifeste" durch die französischen Verwaltungsgerichte. Die Kontrolle des Vorliegens offensichtlicher Irrtümer weist aber auch deutliche Ähnlichkeiten zu der von deutschen Gerichten angesichts bestehender Entscheidungsspielräume vorgenommenen Willkürprüfung auf. D. Die Kontrolle der Tatsachenwürdigung in der Praxis des Gerichtshofs

Vor dem Hintergrund der dargestellten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Kontrolle des Kommissionshandeins soll nunmehr untersucht werden, wie der Gerichtshof die ihm übertragenen Kontrollbefugnisse in der Praxis ausübt. I. Gebundene Entscheidungen (competence liee)

Soweit das Gemeinschaftsrecht genaue, eindeutig bestimmte Vorgaben für das Tätigwerden enthält, die von der Kommission keine komplexen ökonomischen Bewertungen erfordern, prüft der Gerichtshof die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften in vollem Umfang nach. 1 Auch die Entscheidung darüber, ob ein Fall einer gebundenen Entscheidung vorliegt oder aber der Kommission ein Ermessen eingeräumt wird, obliegt dem Gerichtshof selbst. Die Entscheidung wird hierbei immer für die im konkreten Fall einschlägigen Befugnisse der Kommission getroffen. Eine Orientierung der Kontrolldichte an formal abgrenzbaren Sachbereichen im Sinne der Kontrollstandards des französischen Verwaltungsrechts findet nicht statt. Stellt der Gerichtshof fest, daß der Kommission kein Ermessen eingeräumt ist, so findet eine umfassende gerichtliche Kontrolle statt.2

1 Vgl. Mmens de Wilmars

LIE11982/1, 1 (2). Vgl. Urt. v. 03.10.1985, RS 46/84, Nordgetreide, Slg. 1985, 3127 (3142 f.), Rdz. 24; Urt. v. 23.05.1989, RS 378/87, Top Hit, Slg. 1989, 1359 (1384 ff.), Rdz. 18 ff. unter Bezugnahme auf Urt. v. 22.10.1987, RS 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987,4199 (4234), Rdz. 27; Urt. v. 02.02.1988, RS 61/86, Großbritannien/ Kommission, Slg. 1988,431 (461 ff.), Rdz. 7 ff. 2

254

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Bewertet man diese Vorgehensweise des Gerichtshofs, so ist festzustellen, daß es sich bei der Frage, inwieweit der Kommission durch das Gemeinschaftsrecht Ermessensspielräume eingeräumt werden, um eine Frage der Auslegung der entsprechenden Befugnisnormen und damit um reine Rechtsfragen handelt. Aufgrund der Befugnis und Verpflichtung des Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeitskontrolle ist eine entsprechende "Auslegungsprärogative" nicht nur zulässig, sondern rechtlich geboten. Auch die Kontrolle der rechtlichen Würdigung ist im Bereich gebundener Entscheidungen der Kommission Ausdruck der normalen Rechtmäßigkeitskontrolle und begegnet somit keinen Bedenken. II. Entscheidungsspielräume der Kommission

Häufig liegen aber keine solchen eindeutig bestimmten Befugnisnormen vor, die der Kommission eine bestimmte Entscheidung vorgeben. Das Gemeinschaftsrecht ist vielmehr vorrangig Wirtschaftsrecht und als solches gekennzeichnet von der Notwendigkeit, diagnostische Bewertungen wirtschaftlicher Situationen vorzunehmen, die häufig ein hohes Maß an Komplexität aufweisen und eine große Flexibilität erfordern.3 Zum andern sind oft Einschätzungen prognostischer Art hinsichtlich der Entwicklung bestimmter ökonomischer Faktoren vonnöten. Dies hat zur Folge, daß unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand der Ermächtigungsnormen und Entscheidungsfreiheiten auf der Rechtsfolgenseile im Gemeinschaftsrecht eher die Regel darstellen. Insofern besteht eine tatsächliche Parallele zum französischen Verwaltungsrecht;4 allerdings ist dieses Phänomen im Gemeinschaftsrecht nicht historisch bedingt, sondern beruht auf der Natur der im EWGV geregelten Materien. 1. Beispiele für Entscheidungsspielräume in EWGV und Sekundä"echt a) Ermessensspielräume auf der Tatbestandsseite Das moderne Wirtschaftsrecht im allgemeinen und damit auch die wirtschaftlich geprägten Regelungen des EWGV sind dadurch gekennzeichnet, daß die tatbestandliehen Voraussetzungen des Verwaltungshandeins häufig 3 4

Toth, S. 79. Vgl. oben 3. Teil, B 111 3.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Praxis

255

nur in Form allgemeiner bzw. unbestimmter gesetzlicher Vorgaben geregelt sind und somit der handelnden Behörde einen Entscheidungsspielraum einräumen.5 Ein besonders prägnantes Beispiel für einen solchen Entscheidungsspielraum ist der Begriff der Störung.6 Dieser unbestimmte Rechtsbegriff findet sich sowohl im Primär- als auch im Sekundärrecht sehr häufig, so z.B. als "schwerwiegende Störung" des Marktes im Rahmen des Art. 25 111 EWGV7, als den Gemeinsamen Markt am wenigsten störende Maßnahme im Sinne des Art. 115 111 bzw. Art. 226 111 EWGV,8 aber auch als Störung des Warenverkehrs mit Agrarerzeugnissen im Bereich des Währungsausglcichsrcchts9 bzw. bei der Gewährung von Denaturierungsprämien.10 Ein anderes Beispiel eines unbestimmten Rechtsbegriffes aus dem Agrarrecht ist die Beurteilung des Vorliegens eines "angemessenen Verhältnisses" zwischen zwei AgrarproduktcoP Weitere Beispiele finden sich im Antidumping-/ Antisubventionsrech1 wenn das Vorlie§en von Dumping12 bzw. eine Schädigung der Wirtschaft1 festzustellen ist. 1

s Mertens de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (2 f.); Schmid-Lossberg, S. 38. 6

V gl. dazu bereits oben 4. Teil, C III 3 b ).

7

Urt. v. 04.07.1963, RS 24/63, BRD/ Kommission, Slg. 1963, 141 (155); Urt. v. 15.07.1963, RS 34/62, BRD/ Kommission, Slg. 1963. 287 (316 f.). 8

Urt. v. 31.11.1971, RS 62/70, Bock, Slg. 1971, 897 (909 f.), Rdz. 12 ff.

Urt. v. 22.01.1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 8; Urt. v. 08.04.1976, RS 29/75, Kaufhof, Slg. 1976, 431 (442 f.), Rdz. 5 f; Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842), Rdz. 19 f. 9

10 Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975, 421 (431 f.), Rdz. 7 ff.; Urt. v. 26.06. 1975, RS 5/75, Deuka II, Slg. 1975, 759 (769 f.), Rdz. 4. 11

Urt. v. 14.01.1981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 1981,45 (61 f.), Rdz. 19 ff.

12

Vgl. z.B. für die Berechnung der Dumpingspanne Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyo, Slg. 1987, 1809 (1854), Rdz. 18 f.; Urt. v. 07.05.1987, RS 258/84, Nippon Seiko, Slg. 1987, 1923 (2005), Rdz. 17. 13 Vgl. auch Urt. v. 21.02.1984, verb. RS 239 u. 275/82, Allied Corporation, Slg. 1984, 1005 (1035), Rdz. 30. 14 vgl. dazu auch Adam, S. 103; Schwarze, in: gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsvetwaltungs- und Umweltrecht, 203 (211).

256

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Auch Begriffe wie die "Gleichwertigkeit" wissenschaftlicher Geräte, die einen hohen Grad an Technizität aufweisen, begründen einen Ermessensspielraum der Kommission. 15 b) Ermessensspielräume auf der Rechtsfolgenseite Entsprechendes gilt auf der Rechtsfolgenseite; hier spielt sich die Ermessensbetätigung in der Weise ab, daß die Kommission bei Vorliegen bestimmter tatbestandlieber Voraussetzungen zu entscheiden hat, ob und gegebenenfalls wie sie tätig werden soll. Ein Eingriffsermessen der Kommission im genannten Sinne besteht zum Beispiel hinsichtlich der Frage, ob die Interessen der Gemeinschaft ein Tätigwerden der Kommission erfordern16 bzw. zu welchem Zeitpunkt diese eingreifen sollY Hinsichtlich der Modalitäten eines Tätigwerdens der Kommission bestehen beispielsweise dann Entscheidungsspielräume, wenn es darum geht, nach Maßgabe der Interessen der Gemeinschaft die notwendigen Maßnahmen zu treffen, 18 zwischen verschiedenen Maßnahmen zur Behebung einer Störung zu wählen19 bzw. hinsichtlich der Annahme von Ver~flichtungsan­ geboten im Bereich des Antidumping-/ Antisubventionsrechts. 0 Auch die in diesem Bereich vorzunehmenden Entscheidungen erfordern Bewertungen auf der Grundlage einer Vielzahl einzelner Faktoren und weisen damit einen Grad an Komplexität auf, der dem der unbestimmten Rechtsbegriffe im Tatbestand vergleichbar ist.

15 Un. v. 27.09.1983, RS 216/82, Universität Hamburg, Slg. 1983, 2771 (2789), Rdz. 14; Un. v. 25.10.1984, RS 185/83, Rijksuniversiteit Groningen, Slg. 1984, 3623 (3636), Rdz. 14 f.; Un. v. 15.03.1989, RS 303/87, Universität Stuttgan, Slg. 1989, 705 (720), Rdz. 20; Un. v. 21.11.1991, RS C-269/90, TU München, EuZW 1992,90, Rdz. 13. vgl. dazu auch Adam, S. 103. 16 Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2934 f.), Rdz. 26 bezüglich der Einleitung eines Antidumpingverfahrens. 17 Un. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (340), Rdz. 14 bezüglich eines Eingreifens durch Erhebung einer Denaturierungsprämie. 18 Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2934 f.), Rdz. 26; Un. v. 14.07. 1988, RS 188/85, Fediol 111, Slg. 1988,4193 (4231), Rdz. 40.; vgl. auch Adam, S. 103. 19

Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuko I, Slg. 1975, 421 (431 f.) , Rdz. 8.

Urt. v. 07.05.1987, RS 256/84, Koyo Seiko, Slg. 1987, 1899 (1918), Rdz. 26; Urt. v. 05.10. 1988, RS 294/86 u. 77/87, Technointorg, Slg. 1988, 6077 (6117 f.), Rdz. 48 f.; vgl. dazu auch allgemein Schmid-Lossberg, S. 38 f. 20

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Praxis

257

Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die Vorschriften des EWGV in einem hohen Maße von Ermessensspielräumen geprägt sind. Daher ist von besonderer Bedeutung, nach welchen Gesichtspunkten diese Entscheidungsfreiräume einer gerichtlichen Überprüfung durch den Gerichtshof unterzogen werden.

2. Kontrolle der Auslegung von Rechtsbegriffen Im Rahmen seiner Pflicht zur Rechtmäßigkeitskontrolle ist der Gerichtshof nach Art. 164 EWGV zur Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung des Vertrags berufen. Hieraus ergibt sich seine Befugnis zur Definition ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe sowie der Kontrolle des Handeins der Kommissions daraufhin, ob diese sich bei ihren Entscheidungen im Rahmen dieser Begriffsbestimmungen gehalten hat. Läßt die Kommission die fehlerhafte Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffes erkennen, so stellt dies einen Rechtsfehler dar, der als Vertragsverletzung im Sinne des Art. 173 EWGV zu qualifizieren ist.21 Beispiele für solche Begriffsbestimmungen sind z.B. die Definition des Vorliegenseiner "Subvention" im Sinne des Antisubventionsrechts,22 die Bestimmung des Begriffs der "unerlaubten Handelspraktiken"23 bzw. der "Gleichheit" oder "Gleichwertigkeit" einer Ware.24 Der Gerichtshof nimmt aber nicht nur Begriffsbestimmungen vor, sondern klärt auch sonstige allgemeine Rechtsfragen im Bezug auf Befugnisnormen und die hierin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe. So stellt er beispielsweise klar, daß die Befugnisnorm des Art. 115 III EWGV als Ausnahmevorschrift einer engen Auslegung und Anwendung unterliegt.25 Auch bei Ermessensausübungen auf der Rechtsfolgenseite nimmt der Gerichtshof eine Auslegung der einschlägigen Befugnisnormen vor. So be-

21

Urt. v. 04.02.1988, RS 256/85, Italien/ Kommission, Slg. 1988,521 (543 f.), Rdz. 15 ff. Urt. v. 14.07.1988, RS 187/85, Fediol II, Slg. 1988, 4155 (4188), Rdz. 11; vgl. auch Urt. v. 14.07.1988, RS 188/85, Fediol JJJ, Slg. 1988,4193 (4225, 4228), Rdz. 12, 27 f. 23 Vgt. im Hinblick auf die Berufung auf Bestimmungen des GATT Urt. v. 22.06.1989, RS 70f87,Fediol W, Slg. 1989, 1781 (1830 f.), Rdz. 18 fr. 24 Urt. v. 05.10.1988, verb. RS 277 u. 300/85, Canon, Slg. 1988, 5731 (5802), Rdz. 28; vgl. auch Urt. v. 05.10.1988, RS 260/88, TEC/ Rat, Slg. 1988,5855 (5917), Rdz. 14. 25 Urt. v. 31.11.1971, RS 62/70, Bock, Slg. 1971, 897 (909), Rdz. 14. 22

17 Rausch

258

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

stimmt er beispielsweise das Rangverhältnis mehrerer zur Wahl stehender Eingriffsmittel zur Beseitigung von Störungen.26 3. Kontrolle der Beurteilungskriterien

Der Gerichtshof beschränkt sich aber nicht auf eine solche Klärung reiner Rechtsfragen. Er führt vielmehr auch eine Kontrolle der Kriterien durch, anhand derer die Kommission die Bewertung der jeweils gegebenen komplexen ökonomischen Situation im Rahmen ihrer Ermessensausübung vorgenommen hat. Hierbei bedient er sich zweier verschiedener Vorgehensweisen. a) Allgemeine Vorgaben der maßgeblichen Kriterien Zum Teil gibt er in allgemeiner Weise die Kriterien vor, die für die jeweils vorzunehmende Beurteilung maßgeblich sind. In einem zweiten Schritt überprüft er dann, ob die Kommission diese Kriterien bei der von ihr vorgenommenen Ermessensausübung berücksichtigt hatP In Bereichen, wo Abwägungskriterien bereits normativ vorgegeben sind, nimmt er Präzisierungen dieser Kriterien im Hinblick auf die hierbei zu berücksichtigenden Umstände vor.28 b) Überprüfung der konkret verwendeten Kriterien Die zweite weitaus häufiger angewendete Vorgehensweise des Gerichtshofs besteht darin, daß dieser die von der Kommission bei der Vornahme ihrer Ermessensausübung herangezogenen Beurteilungskriterien daraufhin

26

Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (339), Rdz. 10. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (397); Urt. v. 22.01.1976, RS 55j75,Balkan-lmpon, Slg. 1976, 19 (30), Rdz. 9 f.; Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842 ff.), Rdz. 19 ff.; Urt. v. 14.01.1981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 1981, 45 (59 f.), Rdz. 12 ff. 28 Urt. v. 14.01.1981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 1981,45 (61), Rdz. 20 f. Z7

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Praxis

259

überprüft, ob es sich bei diesen Kriterien um diejenigen handelt, die für die vorzunehmende Bewertung maßgeblich sind.29 c) Bewertung der genannten Vorgehensweisen Unterzieht man die beiden Vorgehensweisen einer Bewertung, so ist zunächst festzustellen, daß die Auswahl der Kriterien, die für die Beurteilung einer komplexen Situation maßgeblich sein sollen, nicht mehr als eine reine Rechtsfrage qualifiziert werden kann. Vielmehr erfolgt hier bereits eine systematische Vorauswahl der für die vorzunehmende Beurteilung zu berücksichtigenden Tatsachen und Umstände. Aus diesem Grund stellt sich die Auswahl der maßgeblichen Bewertungskriterien als erster Schritt der Sachverhaltswürdigung dar, in dem eine Anzahl ausgesuchter Fakten als grundsätzlich geeignet zur Ausfüllung der vorzunehmenden Wertungen qualifiziert wird. Die Vorgabe dieser Kriterien durch den Gerichtshof bzw. die richterliche Nachprüfung der von der Kommission verwendeten Kriterien ist somit als gerichtliche Kontrolle der Tatsachenwürdigung zu qualifizieren. Wie bereits dargelegt, ist der Gerichtshof zu einer umfassenden Kontrolle der Würdigung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände befugt. Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolle bestehen nur hinsichtlich der zusammenfassenden Schlüsse, die die Kommission aus der Vielzahl der zu berücksichtigenden Einzelumstände zieht. Die Bestimmung eines Umstandes als relevantem Beurteilungskriterium stellt eine solche zulässige Einzelwürdigung dar. Aus diesem Grund ist es auch grundsätzlich unbedenklich, wenn der Gerichtshof der Kommission die maßgeblichen Abwägungskriterien vorgibt bzw. die verwendeten Kriterien auf ihre Richtigkeit überprüft.

~ Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842), Rdz. 13/18; Urt. v. 23.11. 1978, RS 56/77, Agence Europeenne, Slg. 1978, 2215 (2235 ff.), Rdz. 25 ff.; Urt. v. 25.05.1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, 1245 (1256), Rdz. 5; Urt. v. 25.01.1979, RS 98/78, Racke, Slg. 1979, 69 (82 f.), Rdz. 8 ff.; Urt. v. 17.03.1983, RS 294/81, Contra/ Data, Slg. 1983, 911 (931 ff.), Rdz. 26, 31; Urt. v. 21.01.1987, RS 13/84, Contra/ Data, Slg. 1987, 307 (312), Rdz. 16 f.; Urt. v. 05.10.1988, RS 260/88, TEC/ Rat, Slg. 1988, 5855 (5918 f.), Rdz. 24 f.; vgl. auch zum EGKSV Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (1000 ff.), Rdz. 44 ff.; Urt. v. 14.07.1988, RS 103/85, Stahlwerke Peine-Salzgitter, Slg. 1988, 4131 (4150 f.), Rdz. 17 f.

260

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Die Grenze dieser gerichtlichen Kontrolle muß aber dort gezogen werden, wo der Gerichtshof nicht nur die verwendeten Kriterien prüft, sondern auch die Gesamtschau dieser Kriterien einer eigenständigen Bewertung unterzieht. Dies bedeutet z.B. für den Begriff der "Störung", daß der Gerichtshof der Kommission die Kriterien vorgeben darf, die bei der Beurteilung der Frage des VorSiegens einer solchen Störung zu berücksichtigen sind. Er ist auch befugt, die von der Kommission vorgenommene Entscheidung über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen einer Störung daraufhin zu untersuchen, ob die bei der Beurteilung zugrunde gelegten Kriterien die für diese Bewertung maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigen. Die aus der Gesamtheit dieser Kriterien zu ziehende Schlußfolgerung hinsichtlich desVorliegenseiner Störung beruht dagegen auf der Bewertung der zu berücksichtigenden vielfältigen Umstände in einer Gesamtschau. Diese ist als komplexe ökonomische Entscheidung nur eingeschränkt daraufhin überprüfbar, ob die Kommission bei ihrer Entscheidung das ihr insoweit eingeräumte Ermessen mißbraucht bzw. die Grenzen dieses Ermessens eindeutig überschritten hat. Diese Differenzierung zwischen voll überprüfbarer Würdigung von Einzeltatsachen und eingeschränkt kontrollierbaren Gesamtwürdigungen ist in der Praxis oft mit Schwierigkeiten verbunden. Abgrenzungsprobleme ergeben sich weniger in dem Bereich, in dem der Gerichtshof die maßgeblichen Kriterien in abstrakter Weise vorgibt. Untersucht der Gerichtshof dagegen die konkret verwendeten Kriterien der Kommission auf ihre Zulässigkeit, so wird es oft schwerfallen, die Grenzen des erlaubten Kontrollumfanges einzuhalten. In der Praxis zeigt sich, daß sich auch der Gerichtshof dieser Schwierigkeit bewußt ist und gerade dann sehr vorsichtig agiert, wenn er eine solche konkrete Überprüfung der verwendeten Kriterien vornimmt. Teilweise finden sich bereits hier Formulierungen, die auf die eingeschränkte richterliche Kontrolle angesichts von Ermessensspielräumen der Kommission hinweisen.30

30 Urt. v. 25.05.1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, 1245 (1256), Rdz. 5; vgl. auch Urt. v. 18. 03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (1002), Rdz. 50 zum

EGKSV; in beiden Fällen weist der Gerichtshof bereits bei der Kontrolle der Beurteilungskriterien auf die auf offensichtliche Fehler und Ermessensmißbrauch beschränkte Kontrolle hin.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

261

4. Kontrolle der Beurteilung der komplexen ökonomischen Situation Wie bereits dargelegt, erstreckt sich die Kontrolle des Gerichtshofs bei der Nachprüfung der Beurteilung komplexer ökonomischer Situationen auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs bzw. einer eindeutigen Überschreitung der Ermessensgrenzen. a) Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs Rügt der Kläger das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs, so wird die von der Kommission vorgenommene Beurteilung auf einen entsprechenden Verstoß hin untersucht. Hierbei beschränkt sich die Kontrolle unter Art. 173 EWGV ebenso wie unter Art. 33 EGKSV auf die Prüfung der Frage, ob mit den Mitteln des Gemeinschaftsrechts subjektiv rechtswidrige Ziele oder Zwecke verfolgt werden.31 Wird die Entscheidung dagegen auf objektive Erwägungen gestützt, so stellt dies keinen Fall des Ermessensmißbrauchs dar.32 Insofern orientiert sich der Begriff des Ermessensmißbrauchs auch hier an dem des detournement de pouvoir des französischen Verwaltungsrechts.33 Damit sind dem Begriff des Ermessensmißbrauchs enge Grenzen gesetzt. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß den Kläger auch hier die bereits dargestellten hohen Anforderungen an die Darlegungslast treffen. Er muß schlüssige Indizien in hinreichender Zahl beibringen, die auf einen Ermessensmißbrauch schließen lassen.34 Darüber hinaus ist der Beweis subjektiver Absichten nur sehr schwer zu führen; ein solcher wird in der Regel nur dann gelingen, wenn sich eine un31 Bleckmann, Rdz. 568; Krück, in: v.d. Groeben, Art. 173, Rdz. 92; vgl. auch zum Dienstrecht Urt. v. 05. 05.1966, verb. RS 18 u. 35/65, Gum~ann, Slg. 1966, 154 (176); Urt. v. 25.11. 1976, RS 123/75, Küster, Slg. 1976, 1701 (1710), Rdz. 15/17; Urt. v. 21.06. 1984, RS 69/83, Lux, Slg. 1984, 2447 (2465), Rdz. 30; Urt. v. 11.07.1990, RS C-323/88, Sermes, Slg. 1990-1, 3027 (3054), Rdz. 33. 32 Urt. v. 12.01.1984, RS 226/82, Turner, Slg. 1984, 1 (13), Rdz. 19. 33 Geiger, Art. 173 EGV, Rdz. 34; vgl. hierzu sowie zu erkennbaren Objektivierungstendenzen auch bereits oben 4. Teil, C II 2 b ). 34 Vgl. bereits zu Art. 33 EGKSV Urt. v. 18.03.1980, verb. RS 154,205,206,226-228,264/78, Valsabbia, Slg. 1980, 907 (1019 f.), Rdz. 129 f.; Schwarze, S. 321, sieht hier sogar den Fall einer Nachweispllicht. Dies ist aber ungenau; Grundlage der Entscheidung des Gerichtshofs ist auch hier nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. oben 4. Teil, B III 2) nur der von den Parteien qualifiziert dargelegte Sachverhalt, der bewiesen ist. Insofern besteht keine einseitige Verlagerung der Beweislast zu Lasten des Klägers.

262

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

zulässige Zielsetzung bereits aus den Akten, insbesondere aus dem eigenen Vorbringen der Kommission ergibt.35 Daher ist die praktische Relevanz der Kontrolle des Ermessensmißbrauchs äußerst gering.36 b) Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums Von wesentlich größerer Bedeutung ist die Überprüfung der Ermessensbetätigung der Kommission auf das Vorliegen eines offensichtlichen Irrtums bei der Beurteilung des Sachverhalts, d.h. einer eindeutigen Überschreitung der Grenzen des der Kommission eingeräumten Ermessens. Bei der Überprüfung von Kommissionsentscheidungen auf einen solchen Verstoß geht der Gerichtshof in der Weise vor, daß er die Argumentation der Kommission in einer Art Schlüssigkeitsprüfung nachvollzieht; hierbei stützt er sich regelmäßig auf die Begründung der Entscheidung durch die Kommission.37 Der Gerichtshof ist aber bei seiner richterlichen Nachprüfung nicht auf diese Begründung beschränkt; er hat vielmehr klargestellt, daß die gerichtliche Kontrolle sich nur "in erster Linie" auf die Begründung der Entscheidungen stützen muß.38 Infolgedessen geht er bei der Durchführung seiner richterlichen Kontrolle zum Teil auch gerade über die Begründung der Kommission hinaus und prüft, ob diese es nicht unterlassen hat, maßgebliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen.39 Bezugspunkt für die Beantwortung der Frage, ob die in dieser Weise "nachvollzogene" Beurteilung der Kommission die ihr gesetzten Ermessensgrenzen eindeutig überschritten hat, sind neben den Vorgaben und Zielset35 So in den wenigen Fällen einer erfolgreichen Anfechtung wegen Ermessensmißbrauchs, vgl. Urt. v. 21.02. 1984, verb. RS 140,146,221, u. 226/82, Walzstahl, Slg. 1984, 951 (984 f.), Rdz. 22 ff.; vgl. auch Urt. v. 29.09.1976, RS 105/75, Giuffridaj Rat, Slg. 1976, 1395 (1402 f.), Rdz. 4 ff.; für den Fall des Verfahrensmißbrauchs Urt. v. 22.09.1988, RS 148/87, Fryendah/, Slg. 1988, 4993 (5010), Rdz. 10 ff.; vgl. zur Beweisführung auch Schlußantrag GA Lagrange, RS 3/54, Assider, Slg. 1954/55, 151 (161) sowie Junker, S. 234. 36 Daig, in: v.d. Groeben, 3. Aun., Art. 173, Rdz. 65, Fn. 92; Schermersf Waelbroek, § 383; Schwarze, S. 320. 37 Vgl. zu dieser Vergehensweise Urt. v. 14.01.1981, RS 35/80, Denkavit, Slg. 1981, 45 (61 f.), Rdz. 22 ff; Urt. v. 14.07.1988, RS 188/85, Fediol lll, Slg. 1988, 4193 (4223 ff.), Rdz. 6 ff.; Urt. v. 14.03.1990, RS C-156/87, Gestetner Holdings, Slg. 1990-1, 781 (843 f.), Rdz. 64 ff. 38 Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396). 39 Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (825), Rdz. 26.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung-Praxis

263

zungen der konkreten Befugnisnorm insbesondere die allgemeinen Vertragsziele.40 Abhängig von der Intensität der sich hieraus ergebenden Vorgaben sind auch die Grenzen des der Kommission zustehenden Ermessensspielraumes enger oder weiter gefaßt.41 Die Überprüfung geht dahin, ob die Argumentation der Kommission logische Fehler aufweist, gegen allgemeine Erfahrungssätze verstößt oder in sonstiger Weise klare Überschreitungen der Kompetenzen erkennen läßt, die der Kommission durch die im Lichte der Vertragsziele ausgelegten Befugnisnormen eingeräumt worden sind.42 Diese Kontrolle nimmt der Gerichtshof regelmäßig unter der Fragestellung vor, ob die Kommission angesichts der ihr übertragenen Befugnisse die im konkreten Fall in Frage stehende Entscheidung treffen konnte bzw. durfte.43 Ergibt die im Einzelfall zum Teil sehr eingehende Nachvollziehung der Argumentation eine eindeutige Überschreitun!L der Ermessensbefugnisse, so führt dies zur Aufhebung der Entscheidung. 5. Kontrolle der Einhaltung allgemeiner Rechtsgnmdsätze

Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung die Geltung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht anerkannt.45 Diese spielen bei der Kontrolle von Kommissionsentscheidungen insofern eine maßgebliche Rolle, als der Gerichtshof ihre Einhaltung auch angesichts bestehender Ermessensspielräume überprüft.46

40 Vgl. Urt. v. 15.07.1963, RS 34/62, BRD/ Kommission, Slg. 1963. 287 (316 f.); Urt. v. 09. 07.1969, RS 1/69, Italien/ Kommission, Slg. 1969, 277 (284), Rdz. 4 f.; Urt. v. 14.03.1973, RS 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321 (340), Rdz. 14; Urt. v. 26.06.1975, RS 5/75, Deuka II, Slg. 1975, 759 (770), Rdz. 5.

Mertens de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (4 f.). in: v.d. Groeben, 3. Aun., Art. 173, Rdz. 9; Schermersj Waelbroek, § 310. 43 Vgl. Urt. v. 09.07.1969, RS 1/69, Italien/ Kommission, Slg. 1969, 277 (285), Rdz. 6 f.; Urt. v. 18.03.1975, RS 78/74, Deuka I, Slg. 1975, 421 (432), Rdz. 9; Urt. v. 26.06.1975, RS 5/75, Deuka ll, Slg. 1975, 759 (770), Rdz. 5; Urt. v. 23.11.1978, RS 56/77, Agence Europeenne, Slg. 1978. 2215 (2235 ff.), Rdz. 25 ff., 38/40. 41

42 Daig,

44 Urt. v. 15.10.1980, RS 145/79, Roqueue, Slg. 1980, 2917 (2938 ff.und 2941), Rdz. 18 ff. und 27 ff. 45 Vgl. oben 4. Teil, AI 2. 46

Vgl. Mertens de Wilmars, LIEI 1982/1, 1 (8 ff.); van der Esch, S. 72.

264

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Gerichtshof hatte bereits sehr früh auf die Bedeutung dieses Grundsatzes als allgemein anerkanntem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts hingewiesen.47 Dieser wurde zunächst vorrangig im Bereich der Grundfreiheiten, insbesondere im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, angewendet. Hier führte der Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt der "Notwendigkeit" eine Überprüfung der nach Art. 36 EWGV zulässigen Einschränkungen der Warenverkehrsfreiheit auf ihre Verhältnismäßigkeit durch.48 Der Gerichtshof hat darüber hinaus weiterhin klargestellt, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch bei Grundrechtseingriffen greift.49 Der Gerichtshof beschränkt das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedoch im Gegensatz zum deutschen Recht nicht auf Eingriffe in Grundrechte. Er geht vielmehr darüber hinaus und wendet diesen Grundsatz auch bei Eingriffen in tatsächliche Interessen der Marktbürger an.50 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine zunehmend stärkere Betonung erfahren; er stellt heute einen allgemein verwendeten Kontrollparameter hinsichtlich der Ermessensbetätigung der Kommission dar.51 Eine Beschränkung der Verhältnismäßigkeitskontrolle auf bestimmte Sachbereiche im Sinne einer Ausrichtung an formellen Kontrolldichtestandards ist im Gemeinschaftsrecht nicht ersichtlich. Damit geht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht auch über die Regelung im recours pour exces de pouvoir hinaus, bei der Urt. v. 16.07.1956, RS 8/55, Federation Clulrbonniere, Slg. 1955-56, 197 (311); Amull, S. 4. Ständige Rspr.; vgl. Urt. v. 15.12.1976, RS 35/76, Simmentlull, Slg. 1976, 1871 (1885), Rdz. 18 f.; Urt. v. 12.07.1979, RS 153/78,/(ommissionj Deutschland, Slg. 1979, 2555 (2564), Rdz. 5; Müller-Graff, in: v.d. Groeben, Art. 36, Rdz. 69; Schweitzerf Hummer, S. 258; vgl. auch Amull, S. 4. 49 Urt. v. 17.12.1970, RS 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1135 (1134 f.), Rdz. 2 ff.; Urt. v. 17.12.1970, RS 25/70, Köster, Slg. 1970, 1161 (1175 f.), Rdz. 20 ff.; Urt. v. 13.12.1979, RS 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727 (3747), Rdz. 23; Bleckmann, Festschrift Kutscher, 47

48

25 (32). 50

Vgl. Bleckmann, Festschrift Kutscher, 25 (32).

Vgl. Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder, Slg. 1973, 125 (143 f.), Rdz. 15 ff.; Urt. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2575 (2601), Rdz. 22 ff.; Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982, 3745 (3762), Rdz. 21 ff.; Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyo, Slg. 1987, 1809 (1858), Rdz. 36 ff.; Urt. v. 07.05.1987, RS 255/84, Nachi Fujikoshi, Slg. 1987, 1861 (1899 ff.), Rdz. 37 ff.; vgl. auch Brownf Jacobs, S. 296 f.; Pernice NVwZ 1989, 332 (334); Schwarze, S. 838; Weber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, 55 (75 f.). 51

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

265

eine Verhältnismäßigkeilsprüfung nur im Rahmen der contröle maximum erfolgt.52 Hinsichtlich der inhaltlichen Anforderungen an den Verhällnismäßigkeitsgrundsatz ist festzustellen, daß sich die Prüfung des Gerichtshofs häufig auf die Geeignetheil und Erforderlichkeil einer Maßnahme beschränkt.53 Auffällig ist jedoch, daß der Gerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung gerade dann eine über die genannten Kriterien hinausgehende Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt, wenn durch durch die angefochtene Maßnahme geschützte Rechtspositionen der Gemeinschaftsbürger betroffen sind.54 So hat der Gerichtshof beispielsweise ausgeführt, daß bei Beschränkungen des Eigentumsrechts zu prüfen sei, ob diese Einschränkungen tatsächlich dem allgemeinen Wohl dienenden Zwecken der Gemeinschaft entsprechen und ob sie nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet.55 Ein weiteres Beispiel sind die sogenannten "Kaulionsfälle". Hier hat der Gerichtshof im Bezug auf Kautionen für die Erteilung von Einfuhrlizenzen klargestellt, daß sich die Regelung des Verfalls dieser Kautionen im Rahmen der Erforderlichkeil und Angemessenheil halten müsse.56 Insbesondere sei eine Regelung als unverhältnismäßig anzusehen, die einen Verfall der gesamten Kaution vorsehe, ohne nach dem Ausmaß der Nichterfüllung der Vertragspflichten oder der Schwere des Verstoßes gegen diese Pflichten zu differenzieren.57 Diese exemplarischen Entscheidungen machen deutlich, daß der Gerichtshof den Verhältnismäßigkeilsgrundsatz gerade in den Fällen, in denen 52

Vgl. oben 3. Teil, D V 3. Vgl. Urt. v. 24.09.1985, RS 181/84, Man Sugar, Slg. 1985, 2889 (2903), Rdz. 20; Urt. v. 22.01.1986, RS 266/84, Denkavil, Slg. 1986, 149 (168), Rdz. 17; Urt. v. 30.06.1987, RS 47/86, Roquette, Slg. 1987, 2889 (2914 f.), Rdz. 18 f.; Urt. v. 14.02.1990, RS C-350/88, Defacre, Slg. 1990-1, 395 (423 fL), Rdz. 22 ff. 54 Vgl. zur Tendenz einer zunehmend stärkeren Betonung des Verhältnismäßigkeilsgrundsatzes bereits Everfing NVwZ 1987, 1 (8). 53

55 56

Urt. v. 13.12.1979, RS 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727 (3747), Rdz. 23. Urt. v. 20.02.1979, RS 122/78, Builoni, Slg. 1979, 677 (684 f.), Rdz. 16/18;

57 Urt. v. 20.02.1979, RS 122/78, Builoni, Slg. 1979, 677 (685), Rdz. 19 ff.; Urt. v. 21.06.1979, RS 240/78, Atafama, Slg. 1979, 2137 (2150 f.), Rdz. 15; Urt. v. 24.09.1985, RS 181/84, Man Sugar, Slg. 1985, 2889 (2905 f.); Rdz. 29 f.

266

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Individualinteressen betroffen sind, als Einzelfallkorrektiv verwendet, indem er in eine Prüfung der Angemessenheit der angefochtenen Maßnahme eintritt.58 Die hierbei vorgenommene Abwägung zwischen dem Nutzen einer Maßnahme für die Allgemeinheit und den betroffenen Interessen der Gemeinschaftsbürger gewährleistet gleichzeitig eine Berücksichtigung grundrechtlicher Rechtspositionen gegenüber den Gemeinwohlzielen der Gemeinschaff9 im Sinne des vom Gerichtshof postulierten besonders umfassenden und effektiven Rechtsschutzes im Bereich der Einschränkung von Individualrechtspositionen.60 In seiner neueren Rechtsprechung hat der Gerichtshof inzwischen klargestellt, daß neben der Prüfung der Geeignetheil und Erforderlichkeil einer Maßnahme auch die Angemessenheil der auferlegten Belastungen im Verhältnis zu den angestrebten Zielen ein allgemeiner Kontrollparameter des Verhältnismäßigkeilsgrundsatzes ist.61 Damit hat sich die Intensität der hier vorgenommenen gerichtlichen Kontrolle in hohem Maße dem deutschen Recht angenähert.62 b) Gleichbehandlungsgrundsatz Von Bedeutung ist auch der Gleichbehandlungsgrundsatz, der bei der Kontrolle von Ermessensakten sowohl in seiner Auspr~ung als sich aus Art. 7 EWGV ergebender allgemeiner Rechtsgrundsatz als auch in der Form ausdrücklich normierter besonderer Diskriminierungsverbote64 Anwendung findet. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß das Gemeinschaftsrecht einen aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz hergeleiteten Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung nur in sehr eingeschränktem Maße anerkennt. 58

Vgl. Schwarze, S. 841.

Vgl. hienu auch Kutscher, in: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 89 (94); Ress, in: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 5 (37 f.); Schwarze, S. 841. 60 Vgl. hienu bereits oben 4. Teil, AI 2. 61 Urt. v. 11.07.1989, RS 256/87, Schräder, Slg. 1989,2237 (2269), Rdz. 21. 62 Vgl. zu Ausnahmen im Bezug auf die Ermessenskontrolle unten 4. Teil, D II 5 c). 63 So z.B. Urt. v. 24.10.1973, RS 43/72, Merkur, Slg. 1973, 1055 (1073 f.), Rdz. 18 ff.; Urt. v. 22.01. 1976, RS 55/75, Balkan-Import, Slg. 1976, 19 (31 f.), Rdz. 13 ff.; Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982, 3745 (3761 f.), Rdz. 24 f.; Urt. v. 23.03. 1983, RS 162/82, Cousin, Slg. 1983, 1101 (1121), Rdz. 19 ff.; Urt. v. 14.02.1990, RS C-350/88, Delacre, Slg. 1990-1, 395 (427 f.), Rdz. 19 ff. 64 So z.B. Art. 40 III Unterabs. 2 EWGV; Urt. v. 25.05. 1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, 1245 (1256 f.), Rdz. 6 f.; vgl. hienu auch Weber, in: Europäisches VeiWaltungsrecht, 55 (76 ff.). !1J

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

267

So hat der Gerichtshof zwar ähnlich wie die französischen Verwaltungsgerichte anerkannt, daß innerdienstliche Richtlinien eine Bindung der Verwaltung in der Weise bewirken65daß ein Abweichen hiervon nicht ohne Angabe von Gründen zulässig ist. Dagegen hat er eine Bindung an eine frühere Verwaltungspraxis im Gegensatz zur deutschen Rechtslage abgelehnt.66 Auch insofern besteht eine Parallele zum recours pour exces de pouvoir. Allerdings hat der Gerichtshof das Abweichen von einer ständigen Entscheidungspraxis zumindest an erhöhte Anforderungen im Bezug auf die Begründungspflicht geknüpft. Während die Entscheidung, die eine Entscheidungspraxis fortsetzt, nur summarisch begründet werden muß, hat die Kommission im Falle des Abweichens den zugrunde gelegte Gedankengang ausdrücklich darzulegen.67 Mit diesen erhöhten Anforderungen an die Begründungspflicht beim Abweichen von einer ständigen Verwaltungspraxis hat der Gerichtshof ein Instrument geschaffen, welches das Fehlen einer Selbstbindung der Verwaltung zumindest in Ansätzen kompensiert. c) Vertrauensschutz und Rechtssicherheit Eine wichtige Rolle bei der gerichtlichen Kontrolle von Ermessensentscheidungen spielen auch die Grundsätze des Vertrauensschutzes68 und der Rechtssicherheit.69 Diese Grundsätze sind gerade im Bereich des direkten 65 Urt. v. 30.01.1974, RS 148/73, Louwage, Slg. 1974, 81 (89), Rdz. 11/18; Urt. v. 16.11.1983, RS 188/82, Thyssen, Slg. 1983, 3721 (3734), Rdz. 9; Schwarze, S. 1044 f.; vgl. zur Rechtslage in Frankreich oben 3. Teil, D IV. 66 Urt. v. 15.12.1961, verb. RS 19 u. 21/60, 2 u. 3/61, Societe Fives Lilie/ Hohe Behörde, Slg. 1961, 611 (642 f.); Urt. v. 13.07.1962, RS 19/61, Mannesmannj Hohe Behörde, Slg. 1962, 659 (666, 688 f.); Schwarze, S. 1045 f.; GA Trabucchi, Schlußantrag v. 26.02.1976, RS 47/75, BRD/ Kommission, Slg. 1976, 582 (589); Weber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, 55 (77). 67 Urt. v. 14.02.1990, RS C-350/88, Delacre, Slg. 1990-1, 395 (422), Rdz. 15; Urt. v. 26.11.1975, RS 73/74, Groupements des Fabricants, Slg. 1975, 1491 (1515), Rdz. 33.

68 Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982, 3745 (3762), Rdz. 26 f.; Urt. v. 28.04.1988, RS 120/86, Mulder, Slg. 1988, 2321 (2352 f.), Rdz. 22 ff.; Urt. v. 28.04.1988, RS 170/86, van Deetzen, Slg. 1988, 2368 (2372 f.), Rdz. 12 ff.; Urt. v. 14.02.1990, RS C-350/88, Delacre, Slg. 1990-1, 395 (425 ff.), Rdz. 32 ff.; Urt. v. 26.06.1990, RS C-152/88, Sofrimpon, Slg. 1990-1, 2477 (2509), Rdz. 16 ff. fiJ Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder, Slg. 1973, 125 (143 f.), Rdz. 15 ff.; Urt. v. 05.10. 1988, RS 250/85, Brother, Slg. 1988, 5683 (5725), Rdz. 28 ff.; vgl. zu beiden Grundsätzen auch Menens de Wilmars LIEI 1982/1, 1 (14 ff.) sowie die ausführliche Darstellung bei Schwarze, s. 843 ff.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

268

Verwaltungsvollzugs von besonderer Bedeutung. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Fälle des Widerrufs bzw. der Rücknahme von Verwaltungsakten und der Rückforderung von auf der Basis des Gemeinschaftsrechts zu Unrecht gezahlten Leistungen?0 Untersucht man die vom Gerichtshof durchgeführte Kontrolle der Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze, so ist festzustellen, daß dieser in der Regel nicht erkennen läßt, ob er diese als eigenständige Kontrollparameter einer umfassenden Prüfung unterzieht oder aber diese als einen weiteren Bezugspunkt für das Vorliegen einer offensichtlichen Vertragsverletzung ansieht. Für die erste Lösung könnte sprechen, daß die Prüfung der Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze regelmäßig unter einem eigenen Prüfungspunkt erfolgt. Diese Feststellung ist aber insofern nur von bedingter Aussagekraft, als der Gerichtshof seine rechtliche Prüfung an den vorgetragenen Klagegründen orientiert und die Kläger die Verletzung allgemeiner Rechtsgrundsätze regelmäßig als eigenen Klagegrund anführen. Daher können aus der Systematik der rechtlichen Prüfung keine materiellen Aussagen hergeleitet werden. Vielmehr ist zu beachten, daß die Einräumung eines Ermessensspielraumes ihre Ursache gerade im Gewaltenteilungsprinzip hat; der Gerichtshof soll sich bei der Beurteilung komplexer ökonomischer Fragen nicht an die Stelle der Exekutive setzen. Diese richterliche Zurückhaltung muß aber bei der Überprüfung der Würdigung dieser komplexen Gesamtlage im Hinblick auf alle rechtlichen Kontrollparameter bestehen. Aus diesem Grunde spricht der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts dafür, daß die Überprüfung des Kommissionshandeins in der Weise zu erfolgen hat, daß der Gerichtshof prüft, ob sich im Hinblick auf die Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze eine eindeutige Überschreitung des Kommissionsermessens feststellen läßt. Für eine solche Interpretation sprechen auch Aussagen des Gerichtshofs, die dieser im Bezug auf die Kontrolle allgemeiner Rechtsgrundsätze macht. So analysiert er beispielsweise im Urteil Schröder71 im Rahmen der Überprüfung einer Maßnahme der Kommission auf ihre Verhältnismäßig70 Everling 71

NVwZ 1987, 1 (8); Schwarze, S. 915.

Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder, Slg. 1973, 125 ff.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

269

keit die vorgenommene Interessenahwägung und kommt zu dem Ergebnis, daß die Kommission die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums nicht überschritten habe.72 Eine noch deutlichere Aussage findet sich in demselben Urteil hinsichtlich der Überprüfung der Eignung einer Maßnahme zur Behebung einer Störung; hier nimmt der Gerichtshof ausdrücklich Bezug auf seine eingeschränkte Kontrollbefugnis angesichts der Komplexität der vorzunehmenden Bewertung der Kommission.73 Die eindeutigste Aussage zur eingeschränkten Intensität der Verhältnismäßigkeilskontrolle im Bereich von Entscheidungsspielräumen der Kommission findet sich im Urteil Schräder?4 Hier stellt der Gerichtshof zunächst fest, daß sich die von ihm vorzunehmende Verhältnismäßigkeilskontrolle auf Eignung, Erforderlichkeil und Angemessenheil der angefochtenen Maßnahme erstrecke.75 Angesichts des bestehenden Ermessensspielraumes der Kommission sei die richterliche Nachprüfung aber auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler beschränkt.76 Auch im Bezug auf den Gleichbehandlungsgrundsatz weist der Gerichtshof auf den offensichtlichen Widers.fruch in der Beurteilung hin, der sich aus der Ungleichbehandlung ergibt? Eine ähnliche Aussage ist dem Urteil Faust78 im Bezug auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes zu entnehmen. Auch hier verweist der Gerichtshof bei der Prüfung der Verletzung dieses Grundsatzes auf den Ermessensspielraum der Exekutive hinsichtlich der streitigen Maßnahme.79 Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, daß der Gerichtshof die Einhaltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Weise zur Kontrolle komplexer Würdigungen heranzieht, daß er die Beachtung dieser Grundsätze als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage verwendet, ob sich hieraus eine eindeutige Überschreitung der Ermessensgrenzen ersehen läßt.

72 73

Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder, Slg. 1973, 125 (143), Rdz. 18. Urt. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schröder, Slg. 1973, 125 (142), Rdz 14.

Urt. v. 11.07.1989, RS 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237 ff. Urt. v. 11.07.1989, RS 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237 (2269), Rdz. 21. 76 Urt. v. 11.07.1989, RS 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237 (2270), Rdz. 22 ff. 77 Urt. v. 23.03.1983, RS 162/82, Cousin, Slg. 1983, 1101 (1121), Rdz. 19. 78 Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982, 3745 ff. 79 Urt. v. 28.10.1982, RS 52/81, Faust, Slg. 1982, 3745 (3762 f.), Rdz. 26 f. 74

75

270

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Insofern entspricht die Vorgehensweise des Gerichtshofs derjenigen, die er im Bezug auf die Beachtung konkreter Normvorgaben und -ziele sowie der allgemeinen Vertragsziele verwendet. Vergleicht man diese Vorgehensweise mit der umfassenden Kontrolle der Einhaltung von Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen im deutschen Recht, so bleibt die Kontrolle des Gerichtshofs hinter dieser zurück. Auch der recours pour exces de pouvoir nimmt zumindest im Bezug auf die Verhältnismäßigkeilsprüfung im Rahmen der "adequation de Ia decision aux faits" eine deutlich intensivere Nachprüfung vor, wobei allerdings eine solche weitergehende Kontrolle auf wenige Sachbereiche beschränkt bleibt. Dagegen wird der Verhältnismäßigkeilsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht als allgemeiner Kontrollparameter verwendet; gerade dann, wenn individuelle Rechtspositionen betroffen sind, erfährt dieser Grundsatz vor dem Hintergrund des Gebots umfassenden Rechtsschutzes eine besondere Betonung. Der Gerichtshof verwendet ihn hier in zunehmendem Maße als Korrektiv zur Gewährleistung einer Einzelfallgerechtigkeit, indem er eine Abwägung der Gemeinwohlinteressen insbesondere mit betroffenen Grundrechtspositionen der Gemeinschaftsbürger vornimmt. Hier zeigt sich eine deutliche Annäherung an das deutsche Recht, die allerdings ihre Grenzen in der dargestellten eingeschränkten Kontrollintensität findet. Insofern eröffnet sich dem Gerichtshof auch im Bereich der Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze nur eine vergleichsweise eingeschränkte Kontrollbefugnis im Bezug auf Ermessensspielräume der Verwaltung. 6. Kontrolle der Fomt- und Verfaltrensanfordenmgen

Angesichts dieser "uneingeschränkt beschränkten" Kontrolldichte hinsichtlich des Kommissionsermessens in materieller Hinsicht kommt der Einhaltung der Form- und Verfahrensregeln eine besondere Bedeutung zu_so 80 Schmid-Lossberg, S. 31, weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß gerade in komplexen Regelungsmaterien die Kontrolle der Einhaltung von Verfahrensrechten unter Umständen einen effektiveren Rechtsschutz gewährleistet als eine nachträgliche materielle Überprüfung.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung- Praxis

271

Diese Bedeutung wird noch dadurch verstärkt, daß Verfahrensfehler als moyens d'ordre public nicht nur im Falle eines entsprechenden qualifizierten Klägervorbringens überprüft werden können, sondern vom Gerichtshof von Amts wegen untersucht werden.81 a) Kontrolle besonderer Verfahrensanforderungen der Befugnisnorm Teilweise finden sich besondere Verfahrensvorschriften bereits in den Befugnisnormen, die die Kommission zum Tätigwerden ermächtigen. Sie finden sich insbesondere in Verwaltungsverfahren, die schon aufgrund der Natur der Sache ein besonderes Maß an Komplexität aufweisen. Ein typisches Beispiel hierfür sind die Verfahrensvorschriften im Bereich des Antidumpingrechtes.82 In diesen Verfahren hat die Kommission festzustellen, ob ein Fall des Dumpings einer Ware vorliegt. Hierzu muß sie Berechnungen hinsichtlich des Ausfuhrpreises und des Normalwerts der betreffenden Ware anstellen und die Dumpingspanne ermitteln. Weiterhin hat sie zu untersuchen, ob die gedumpte Ware die bedeutende Schädigung eines Wirtschaftszweiges verursacht hat und ob die Interessen der Gemeinschaft ein Eingreifen erfordern.83 Bereits diese Aufzählung der von der Kommission zu treffenden Entscheidungen zeigt die hohe Komplexität der in diesem Bereich vorzunehmenden Wertungen. Gleichsam als "ausgleichendes Korrelat" hierzu enthält die Antidumpingverordnung aber auch umfangreiche Verfahrensvorschriften hinsichtlich der Zuständigkeit der Behörden, Einleitung des Verfahrens, Durchführung der Untersuchungen durch die Kommission, Erhebung vorläufiger Zölle, Been-

Vgl. oben 4. Teil, A II 1. Entsprechendes gilt im Antisubventionsrecht sowie im Bereich unerlaubter Handelspraktiken; zu besonderen Verfahrensanforderungen im Bereich des Wettbewerbsrechts vgl. unten 4. Teil, E II 1 a) und b) sowie Hailbronnerf von Heydebrand u.d. Lasa, RIW 1986, 889 (894); vgl. zu weiteren besonderen Verfahrensregelungen Grabitz NJW 1989, 1776 (1719). 83 Vgl. hierzu Art. 2, 4, 11, 12 und 13 der Verordnung Nr. 2423/88 des Rates vom 11.07. 1988 über den Schutz gegen gedumpte oder subventionierte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehörenden Ländern, Abi. 1988, Nr. L 209/ 1 ff. 81

82

272

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

digung des Verfahrens und Durchführung des Überprüfungs- und Rückerstattungsverfahrens.84 Die besondere Bedeutung dieser Verfahrensregeln für die gerichtliche Kontrolle zeigt sich bereits darin, daß der Gerichtshof die ansonsten übliche Formel angesichts vorliegender Ermessensspielräume modifiziert. Er weist ausdrücklich darauf hin, daß die eingeschränkte gerichtliche Überprüfung sich auch darauf zu erstrecken habe, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden seien,85 obwohl er ohnehin zu einer solchen Kontrolle unbeschränkt befugt ist. Insofern läßt sich hier eine Vorgehensweise erkennen, die der der deutschen Gerichte im Bezug auf die Kontrolle von Beurteilungsspielräumen entspricht; auch hier betonen die Gerichte ausdrücklich die Befugnis der Gerichte zur Kontrolle des zugrunde liegenden Sachverhaltes und der Verfahrensvorschriften, obwohl auch hier diesen Ausführungen kein eigenständiger Aussagegehalt zukommt.86 Die Einhaltung dieser Verfahrensregeln wird vom Gerichtshof in umfassender Weise nachgeprüft.87 Diese nehmen eine sehr starke Stellung ein; die Aufhebung einer Kommissionsentscheidung wegen Verfahrensfehlern kann selbst dann erfolgen, wenn der Einhaltung der Verfahrensvorschriften anderweitige Interessen entgegenstehen. So hat der Gerichtshof im Fall Timex88 die Erhebung eines Antidumpingzolls aufgehoben, weil dieser unter Verletzung des in Art. 7 IV lit. a) der Antidumpingverordnung normierten Einsichtsrechtes festgesetzt worden war. Damit setzte sich der Gerichtshof über den von der Kommission geltend gemachten Einwand der Vertraulichkeit der Unterlagen hinweg.89

84 Vgl. zu diesen Verfahrensfragen die ausführliche Darstellung von Austmann, IWB Nr. 19 v. 10.10.1988, 5, Gruppe 4, S. 19 (26 ff.). &S Urt. v. 07.05.1987, RS 240/84, Toyo, Slg. 1987, 1809 (1854), Rdz. 19; Urt. v. 07.05.1987, RS 255/84, Nachi Fujikoshi, Slg. 1987, 1861 (1890), Rdz. 21; Urt. v. 07.05.1987, RS 258/84, Nippon SeiJw, Slg. 1987, 1923 (1964), Rdz. 21; vgl. auch Lux RJW 1992, 34 (41); Rabe/ Schütte, CMLRev 1989, 643 (648); der teilweise verwendeten Formulierung "Verfahrensgarantien• ist dieselbe Bedeutung zuzumessen, vgl. Urt. v. 04.10.1983, RS 191/82, Fedioll, Slg. 1983, 2913 (2935), Rdz. 30. 86 Vgl. oben 2. Teil, D II 5.

K7 Vgl. z.B. Urt. v. 29.03.1979, RS 118/77, !.S.O., Slg. 1979, 1277 (1293 ff.), Rdz. 28 ff.; Urt. v. 11.07.1990, RS C-323/88, Sennes, Slg. 1990-1, 3027 (3055 f.) Rdz. 41 ff.; vgl. auch Adam, S. 101. 88 Urt. v. 20.03.1985, RS 264/82, Timex, Slg. 1985, 849 ff. 89 Urt. v. 20.03.1985, RS 264/82, Timex, Slg. 1985, 849 (867 ff.), Rdz. 19 ff.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung-Praxis

273

Die besondere Bedeutung, die der Gerichtshof den Verfahrensregeln zumißt, zeigt sich aber auch darin, daß er diesen teilweise eine so starke Stellung beimißt, daß sich hieraus sogar materiell-rechtliche Konsequenzen ergeben. Ein Beispiel hierfür findet sich in den Entscheidungen Toyo 90 und I.S.0.91 In beiden Fällen hatten die Klägerinnen sich verpflichtet, ihre Preise zu ändern, um die Festsetzung eines Antidumpingzolls zu verhindern. Diese Verpflichtungserklärung wurde von der Kommission angenommen; dennoch führte der Rat einen endgültigen Antidumpingzoll ein. Der Gerichtshof führt hierzu aus, daß die Annahme des Verpflichtungsangebotes gemäß Art. 14 der einschlägigen Verordnung Nr. 459/6892 den Abschluß des Antidumpingverfahrens zur Folge gehabt habe. Daher habe das Verfahren auch nicht mehr bis zum Verfahrensstadium des Art. 17, d.h. zur Vorlage beim Rat, fortgesetzt werden dürfen. Hieraus zieht der Gerichtshof die Schlußfolgerung, daß der Rat auch nicht befugt gewesen sei, in diesem Verfahren noch die Erhebung eines endgültigen Antidumpingzolls zu beschließen.93 Damit führt die nicht ordnungsgemäße Durchführung des Antidumpingverfahrens in letzter Konsequenz zum Ausschluß der Ausübung von Befugnissen des Rates. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Gerichtshof die nur eingeschränkte materiellrechtliche Überprüfungskompetenz angesichts komplexer ökonomischer Sachverhalte dadurch kompensiert, daß er die Einhaltung besonderer Verfahrensvorschriften in den einschlägigen Befugnisnormen einer umfassenden Kontrolle unterzieht und der Verletzung dieser Vorschriften weitreichende Konsequenzen beimißt b) Kontrolle allgemeiner Verfahrensanforderungen Neben diesen besonderen Verfahrensvorschriften kommt aber auch den allgemeinen Verfahrensanforderungen gerade angesichts bestehender Entscheidungsspielräume eine besondere Bedeutung zu. 90

Urt. v. 29.03.1979, RS 113/77, Toyo, Slg. 1979, 1185 ff.

91

Urt. V. 29.03.1979, RS 118/77, /.S.O.• Slg. 1979, 1277 ff.

Grundverordnung Nr. 459/68 in der Fassung der Verordmmg Nr. 2011/73 des Rates vom 24.07.1973, Abi. 1973, Nr. L 206/ 3. 93 Urt. v. 29.03.1979, RS 113/77, Toyo , Slg. 1979, 1185 (1205 ff.), Rdz. 13 ff., insbes. 19 ff.; Urt. v. 29.03.1979, RS 118/77, /.S.O. , Slg. 1979, 1277 (1294 ff.), Rdz. 28 ff., insbes. 39-41. 92

18 Rausch

274

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Die wichtigste Verfahrensregelung in diesem Zusammenhang ist die in Art. 190 EWGV normierte Begründungspflicht.94 Die Bedeutung gerade dieser Vorschrift zeigt sich bereits an der Häufigkeit, mit der der Gerichtshof die Einhaltung dieser Regel ~erade bei der Kontrolle komplexer ökonomischer Sachverhalte überprüft; 5 auch in den Fällen, in denen die Kläger eine entsprechende Verletzung nicht rügen, macht der Gerichtshof von seinem Recht zur Prüfung von Amts wegen Gebrauch und prüft die Einhaltung der Begründungspflicht gegebenenfalls in eigener Regie nach.96 Bei der Überprüfung stellt er häufig umfangreiche Untersuchungen an. Dabei ist der Gerichtshof durchaus bereit, der allgemeinen Begründungspflicht auch Vorrang vor entgegenstehenden anderweitigen Rechtspflichten einzuräumen. So hat er zum Beispiel in dem Urteil Leeuwardener Papierfabriek97 nach ausführlicher Erörterung eine Entscheidung der Kommission wegen Verstoßes gegen die Begründungspflicht aufgehoben, obwohl sich die Kommission auf ihre Verpflichtung zur Wahrung des Berufsgeheimnisses berufen konnte.98 Der Gerichtshof läßt weiterhin erkennen, daß er gerade dann hohe Anforderungen an die Begründungspflicht stellt, wenn er angesichts eines weiten Ermessensspielraumes nur zu einer besonderes eingeschränkten materiellen Kontrolle befugt ist. So hat er bereits in der Rechtssache Präsident99 angesichts eines besonders weiten Ermessens der Hohen Behörde bei der Beurteilung der Genehmigungsvoraussetzungen für ein Verkaufskartell für Ruhrkohle ausgeführt, daß wegen dieser Begrenzung der richterlichen Nachprüfung und mit Rücksicht darauf, daß die Genehmigung von der Feststellung der Hohen Behörde abhängig sei, und daß sämtliche in Art. 65 § 2 genannte VoraussetVgl. zur Bedeutung bereits oben, 4. Teil, B II 5 sowie van der Esch, S. 72. Vgl. z.B. Urt. v. 09.07.1969, RS 1/69, Italien/ Kommission , Slg. 1969, 277 (285), Rdz. 8 f.; Urt. v. 25.05.1978, RS 136/77, Racke, Slg. 1978, 1245 (1257), Rdz. 8 f.; Urt. v. 14.03.1990, RS C156/87, Gestetner Holdings, Slg. 1990-1, 781 (844 f.), Rdz. 68 ff.; vgl. zu den Bereichen des Antidumping- und Wettbewerbsrechts auch Adam, S. 102, 153 f. 94

95

96 Vgl. z.B. Urt. v. 20.10.1977, RS 29/77, Roquette, Slg. 1977, 1835 (1842), Rdz. 13/18; Urt. v. 23.05.1985, RS 53/83,A//ied Corporation, Slg. 1985, 1640 (1659), Rdz. 18 f. 97 Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 ff. 98 Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (822 ff.), Rdz. 22 ff., 26 ff. 99 Urt. v. 15.07.1960, verb. RS 36-38,40/59, Präsident, Slg. 1960, 885 ff.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Praxis

275

zungen erfüllt seien, eine substantiierte Begründung unerläßlich sei und dieses Gebot unbedingt beachtet werden müsseYlO In neueren Entscheidungen findet sich die allgemeinere Aussage, daß dort, wo die Kommission über einen Ermessensspielraum verfüge, der Beachtung der Verfahrensgarantien eine umso größere Bedeutung zukomme.101 Damit kommt auch hier der Grundsatz zum Ausdruck, daß die begrenzte materielle Rechtskontrolle durch eine intensivere Nachprüfun~ der formalen Entscheidungsvoraussetzungen kompensiert werden kann. 10 Neben der Begründungspflicht des Art. 190 EWGV ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs von besonderer Bedeutung; dieser stellt einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch im Verwaltungsverfahren beachtet werden m uß. 103 Er ist gerade dann von besonderer Relevanz, wenn der Gerichtshof schwierige wirtschaftliche Sachverhalte zu kontrollieren hat und die Adressaten einer Entscheidung durch diese in ihren Interessen spürbar beeinträchtigt werden. 104 In diesem Fall muß ihnen Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt gebührend darzulegen; hierzu ist eine rechtzeitige Information erforderlich, die ein Vorbringen der eigenen Bemerkungen ermöglicht. 105 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist gerade dann von besonderer Bedeutunfd wenn es für eine Entscheidung keine einschlägigen Verfahrensregeln gibt. 6 100 Urt. v. 15.07.1960, verb. RS 36-38, 40/59, Präsident, Slg. 1960, 885 (921 f.); GA Roemer, Schlußantrag v. 27.04.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 401 (442 f.); vgl. dazu auch Becker, S. 119 f.

Urt. v. 21.11.1991, RS C-269/90, TU München, EuZW 1990, 90 (90), Rdz. 14. Adam, S. 223; Daig, Rdz. 182; Fromont, S. 250; Lauwaars, in: Smit/ Herzog, Art. 190.05,5. 5-629; Müller-/bold, S. 100; Schwarze, Zeitschrift für VeJWaltung 1993, 1 (6); vgl. auch Schermersf Waelbroek, § 364; Waelbroek, Art. 190, Anm. 5, S. 504. 103 Urt. v. 13.02.1979, RS 85/76, Hoffmann-LaRoche, Slg. 1979, 461 (511); Urt. v. 10.o7. 1986, RS 40/85, Belgien/ Kommission, Slg. 1986, 2321 (2348 f.), Rdz. 28; Urt. v. 21.09.1989, verb. RS 46/87 u. 277/88, Höchst, Slg. 1989, 2859 (2923), Rdz. 14; Urt. v. 21.03.1990, RS C142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1016), Rdz. 46; vgl. auch Weber, in: Europäisches VeJWaltungsrecht, 55 (78 f.) sowie Hilf/ Ciesla/ Pache, in: European Union, 454 (463 ff.) mit ausführlicher Darstellung des Schutzumfanges und Nachweisen zur Rechtsprechung. 104 Vgl. bereits Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (386 f.) sowie Urt. v. 15.07.1970, RS 45/69, Boehringer, Slg. 1970, 769 (800 f.), Rdz. 12 ff.; Urt. v. 13.02.1979, RS 85/76, Hoffmann-La Roche, Slg. 1979,461 (510 ff.), Rdz. 7 ff. 101

102

105 Urt. v. 25.10.1983, RS 107/82, AEG/ Kommission, Slg. 1983, 3151 (3193), Rdz. 27; Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985,809 (822 ff.), Rdz. 22 ff., 26 ff.; vgl. auch Schwarze EuLRev 1991, 3 (9 f.). 106 Urt. v. 23.10.1974, RS 17/74, T.O.M.P., Slg. 1974, 1063 (1080 f.), Rdz. 15; Urt. v. 21.03. 1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1016), Rdz. 46.

276

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Der Gerichtshof prüft darüber hinaus auch, ob die Kommission ihrer Verpflichtung zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Verwaltungsverfahrens unter Aufklärung aller für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte107 nachgekommen ist. 108 Liegt ein Verfahrensfehler im genannten Sinne vor, so führt dies zur Aufhebung der Kommissionsentscheidung, es sei denn, das Verfahren hätte auch ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften zu demselben Ergebnis geführt. 109 Insgesamt ist festzustellen, daß der Gerichtshof auch den allgemeinen Verfahrensanforderungen gerade im Bereich der Kontrolle komplexer ökonomischer Bewertungen der Kommission einen besonderen Stellenwert als "formalem Kontrollparameter" zumißt. Vergleicht man diese Aussage mit der Rechtslage im deutschen Verwaltungsprozeß, so lassen sich deutliche Parallelen feststellen. Auch die deutschen Gerichte stellen dann erhöhte Anforderungen an die Einhaltung der Verfahrensvorschriften, wenn ihnen eine umfassende materielle Kontrolle aufgrund vorliegender Ermessensspielräume bzw. Beurteilungsermächtigungen der Verwaltung verwehrt ist. 110 Auch die Aufhebung nur bei entscheidungserheblichen Verfahrensfehlern entspricht im wesentlichen der Regelung des§ 46 VwVfG. Soweit in der neueren Rechtsprechung des Conseil d'Etat ebenfalls eine Tendenz zu einer verstärkten Kontrolle von Form- und Verfahrensvorschriften im Bereich von Ermessensentscheidungen festzustellen ist,111 dürfte diese Vorgehensweise von der entsprechenden Praxis sowohl im Gemeinschaftsrecht als auch im deutschen Recht zumindest inspiriert worden sem.

107 Vgl. dazu oben 4. Teil, B II 5; Urt. v. 04.10. 1983, RS 191/82, Fediol I, Slg. 1983, 2913 (2934 f.), Rdz. 26; Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (825), Rdz. 25. 108 Z.B. Urt. v. 08.04.1976, RS 29/75, Kaufhof, Slg. 1976, 431 (443), Rdz. 6, in dem der Gerichtshof eine Kommissionsentscheidung aufgehoben hat, weil die Kommission die von dem betroffenen Mitgliedsstaat vorgebrachten Gründe zur Rechtfertigung seines Handeins nicht geprüft hatte. 109 Urt. v. 21.03.1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1016), Rdz. 48; Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (359), Rdz. 31; Bechlhold EuR 1992, 34 (50). uo Vgl. oben 2. Teil, D 115 sowie D 1115 b). Ill Vgl. oben 3. Teil, D I.

D. Kontrolle der Tatsachenwürdigung - Praxis

277

7. Einhaltung der Vertragsziele Im folgenden soll noch einmal auf die allgemeine Bedeutung der Vertragsziele bei der gerichtlichen Kontrolle von Ermessensentscheidungen eingegangen werden. Wie bereits erörtert, stellen sie Rechtmäßigkeitsanforderungen dar, die einen maßgeblichen Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer eindeutigen Ermessensüberschreitung durch die Kommission bilden. 112 Die Vertragsziele spielen aber eine darüber hinausgehende Rolle bei der gerichtlichen Verwaltungskontrolle. So sind zum einen die im konkreten Fall maßgeblichen Beurteilungskriterien in hohem Maße davon abhängig, inwieweit sie den konkreten Normzielen, aber auch den allgemeinen Vertragszielen entsprechen. 113 Diese Vertragsziele können aber auch bereits Bedeutung erlangen für die Beurteilung der Frage, ob eine komplexe ökonomische Situation und damit ein Grund für die Einräumung eines Ermessensspielraums überhaupt vorliegt.114 Darüber hinaus stellen sie auch einen wesentlichen Abwägungslfesichtspunkt bei der Frage der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme dar. 1 5 Insgesamt kommt ihnen daher ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von Ermessensspielräumen zu, die der Bedeutung von Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Bereich der Ermessenskontrolle nahe kommt. 8. Zusammenfassung

Faßt man die Untersuchungen zur Kontrollpraxis des Gerichtshofs zusammen, so lassen sich folgende Aussagen treffen:

112 Vgl. 113

oben 4. Teil, D II 5.

Vgt. z.B. hinsichtlich der Kriterien für das Vorliegen einer "Störung" Un. v. 07.02.1973, RS 40/72, Schrödu, Slg. 1973, 125 (141), Rdz. 9. 114 Un. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2575 (2599), Rdz. 14. 115 Un. v. 12.07.1979, RS 166/78, Italien/ Rat, Slg. 1979, 2575 (2601), Rdz. 22.

278

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

a) Im Bereich gebundener Entscheidungen (competence liee) findet eine umfassende Nachprüfung der von der Kommission vorgenommenen Talsachenwürdigungen durch den Gerichtshof statt. Gebundene Entscheidungen in diesem Sinne bilden aber im EWGV eher die Ausnahme. b) Das Gemeinschaftsrecht ist vielmehr aufgrundseiner wirtschaftsrechtlichen Ausprägung gekennzeichnet durch ein durchweg hohes Maß an Komplexität und dem Erfordernis kurzfristiger, flexibler Entscheidungen. Dies schlägt sich in einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite und Entscheidungsmodalitäten auf der Rechtsfolgenseite nieder, die ihrerseits komplexe ökonomische Wertungen erfordern. Insofern stellt die Einräumung von Ermessensspielräumen der Kommission sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite eher die Regel als den Ausnahmefall dar. c) Diese Ermessensspielräume werden vom Gerichtshof zunächst auf reine Rechtsfragen hin überprüft. Hierbei nimmt er Auslegungen ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe vor, klärt Rechtsfragen hinsichtlich der Entscheidungsmodalitäten und überprüft das Handeln der Kommission auf die Richtigkeit der insoweit vorgenommenen Auslegung und Anwendung des Rechts. d) Weiterhin kontrolliert er die Beurteilungskriterien, die die Kommission bei ihren Bewertungen komplexer ökonomischer Situationen heranzieht. Hierbei gibt er entweder die maßgeblichen Kriterien vor und überprüft deren Beachtung durch die Kommission, oder er überprüft die konkret verwendeten Kriterien auf ihre Zulässigkeil und Richtigkeit. Diese Nachprüfung der maßgeblichen Beurteilungskriterien geht bereits über reine Rechtsfragen hinaus; sie ist als Kontrolle der Tatsachenwürdigung einzustufen. Die hierbei vorgenommene Überprüfung fällt aber in den Bereich der Würdigung einzelner wirtschaftlicher Tatsachen, so daß die Kontrolle durch den Gerichtshof uneingeschränkt zulässig ist. e) Die eigentliche Bewertung der komplexen ökonomischen Situation wird auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs sowie auf offensichtliche Fehler bei der Tatsachenwürdigung hin überprüft. Hierbei ist der Ermessensmißbrauch aufgrund seiner subjektiven Ausgestaltung und der hieraus resultierenden Beweisschwierigkeiten nur von geringer Bedeutung.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

279

Die Kontrolle auf das Vorliegen offensichtlicher Irrtümer wird vom Gerichtshof in der Weise vorgenommen, daß er die Argumentation der Kommission einer Art Schlüssigkeilsprüfung unterzieht und untersucht, ob diese angesichts der Vorgaben der Befugnisnorm eine Entscheidung der vorliegenden Art treffen durfte oder ob hierin eine eindeutige Überschreitung der Ermessensgrenzen zu sehen ist.

t) Bezugspunkte für diese Prüfung sind neben den konkreten Normvorgaben vor allem auch die allgemeinen Vertragsziele sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die insbesondere in ihren Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Vertrauensschutzgedankens von Relevanz sind. Gerade die Verhältnismäßigkeitsprüfung gewinnt hier zunehmende Bedeutung als Einzelfallkorrektiv bei Eingriffen in subjektive Individualrechtspositionen. g) Die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle im materiellen Bereich wird vom Gerichtshof dadurch kompensiert, daß er gesteigerten Wert auf die Einhaltung der Verfahrensregeln legt. Dies zeigt sich sowohl bei konkreten verfahrensrechtlichen Vorgaben der einschlägigen Befugnisnormen als auch bei der Frage der Einhaltung allgemeiner Verfahrensgrundsätze. h) Eine große Bedeutung kommt auch den allgemeinen Vertragszielen zu, die nicht nur als Bezugspunkt für das Vorliegen eindeutiger Ermessensüberschreitungen herangezogen werden, sondern auch die Maßgeblichkeil von Beurteilungskriterien und sogar das grundsätzliche Bestehen von Ermessensspielräumen mitbestimmen. Darüber hinaus stellen sie auch einen Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen der Verhältnismäßigkeilsprüfung dar. E. Weitergehende gerichtliche Kontrolle im Wettbewerbsrecht Abweichungen von der dargestellten Kontrollpraxis des Gerichtshofs bestehen aber im Bereich der Nachprüfung von Kommissionsentscheidungen, die im Rahmen der Art. 85,86 und 92 EWGV erlassen werden. Im folgenden soll zunächst die Vorgehensweise des Gerichtshofs in den genannten Bereichen dargestellt werden. Im Anschluß hieran soll versucht werden, Gründe für bestehende Abweichungen von der normalen Kontrollpraxis aufzuzeigen.

280

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

I. Die Kontrollpraxis des Gerichtshofs biosiebtlieb Art. 85 I, 86 und 92 I, II EWGV Untersucht man die Vorgehensweise des Gerichtshofs bei der Kontrolle des Vorliegens eines verbotenen Kartells nach Art. 85 I, eines Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 86 oder einer verboteneo Beihilfe nach Art. 92 I, II EWGV, so ist festzustellen, daß der Umfang der gerichtlichen Nachprüfung hier deutlieb von der bisher dargestellten "normalen" Kontrollpraxis abweicht. 1. Vorliegen eines verbotenen Kartells (Art. 85 I EWGV)

Unter das Kartellverbot des Art. 85 I EWGV fallen Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken und zur Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedsstaaten geeignet sind. Die genannten tatbestandliehen Voraussetzungen stellen unbestimmte Rechtsbegriffe dar, die eine Würdigung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte erfordern,1 die der Beurteilung in anderen Bereichen, wie etwa im Antidumpingrecht, in nichts nachsteht. Auch der Gerichtshof bat bereits in seiner Entscheidung Cimenteries C.B.R. 2 klargestellt, daß Art. 85 I ebenso wie Art. 85 III EWGV die Würdigung wirtschaftlicher und rechtlicher Zusammenhänge erfordere, aus denen sich in mancher Hinsicht Streitfragen ergeben können.3 Infolgedessen läge die Schlußfolgerung nahe, daß der Gerichtshof auch im Bereich des Art. 85 I EWGV der Kommission einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Beurteilung dieser Tatbestandsmerkmale einräumt. Eine Analyse der Kontrollpraxis des Gerichtshofs zeigt aber, daß dies nicht der Fall ist. Erster Punkt der rechtlichen Prüfung von Kommissionsentscheidungen im Rahmen von Art. 85 I EWGV ist die Auslegung und Präzisierung des Tatbestandes. Hierbei nimmt der Gerichtshof Begriffsbestimmungen vor.

So auch Herdegenf Richter, 209 (229 f.). Urt. v. 15.03.1967, verb. RS 8-11/66, Cimenteries C.B.R/ Kommission, Slg. 1967, 99 ff. 3 Urt. v. 15.03.1967, verb. RS 8-11/66, Cimenteries C.B.R/ Kommission, Slg. 1967,99 (123). 1

2

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

281

Auch hier sind abstrakte Definitionen selten.4 Vielmehr zeichnet der Gerichtshof regelmäßig nur die Grundlinien des jeweils einschlägigen Tatbestandsmerkmales vor und bestimmt die Kriterien, die für die Beurteilung maßgeblich sind. So stellt er beispielsweise fest, daß das Vorliegen einer Vereinbarung einen quasirechtlichen Bindungswillen erfordere,5 aber sowohl horizontale als auch vertikale Absprachen beinhalte.6 Hinsichtlich des Begriffs der abgestimmten Verhaltensweise gibt er die wesentlichen Merkmale vor;7 bezüglich der Frage der Wettbewerbsbeeinträchtigung stellt er klar, daß geschützter Wettbewerb nur der redliche, unverfälschte und wirksame Wettbewerb sein kann.8 Er legt weiterhin fest, daß die Frage der Beeinträchtigung durch einen Vergleich der Wettbewerbssituation mit und ohne Absprache9 mit Hinblick auf eine Änderung der Marktverhältnisse zu klären ist.10

Neben dieser Präzisierung vorgegebener Tatbestandsmerkmale stellt der Gerichtshof aber auch zusätzliche tatbestandliehe Voraussetzungen auf. So hat er bezüglich der Wettbewerbsbeeinträchtigung und der Handelsbeeinträchtigung das weitere Merkmal aufgestellt, daß diese zumindest spürbar sein müssen.11 Dieses Tätigwerden fällt ebenso wie die begriffliche Ausdeutung der einschlägigen Rechtsnormen unter die Verpflichtung zur Aus-

4 So aber z.B. zum Begriff der Handelsbeeinträchtigung Urt. v. 30.06.1966, RS 56/65, Societe Miniere/ Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281 (303); Urt. v. 31.05.1979, RS 22/78, Hugin, Slg. 1979, 1869 (1899), Rdz. 17; Urt. v. 25.03.1981, RS 61/80, Coöperative Stremsel en Kleurselfabriek, Slg. 1981, 851 (867), Rdz. 14. 5 Vgl. Urt. v. 15.07.1970, RS 41/69, ACF Chemiefarma, Slg. 1970, 661 (696), Rdz. 110/114; Urt. v. 15.07.1970, RS 44/69, Buch/er, Slg. 1970, 733 (757), Rdz. 25; Urt. v. 15.07.1970, RS 45/69, Boehringer, Slg. 1970, 769 (803), Rdz. 28. 6 Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (386 ff.); Urt. v. 30.06.1966, RS 56/65, Societe Miniere/ Maschinenbau Ulm , Slg. 1966, 281 (302 f.).

7 Urt.v. 14.07.1972, RS 48/69, l.C.l./ Kommission, Slg. 1972, S. 619 (658 f.), Rdz. 64/67; Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 40-48,50,54-56,111,113 u. 114/73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (1942), Rdz. 26/28; Urt. v. 14.07.1981, RS 172/80, Züchner, Slg. 1981, 2021 (2031), Rdz. 12 f. 8 Urt. v. 13.07.1966, RS 32/65, Italien/ Rat, Slg. 1966, 457 (483); Urt. v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1905), Rdz. 20. 9 Urt. v. 30.06.1966, RS 56/65, Societe Miniere/ Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281 (303); Urt. v. 25.11.1971, RS 22/71, Beguelin, Slg. 1971, 949 (960), Rdz. 16/18; Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 (2571), Rdz. 18.

10 Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 40-48,50,54-56,111,113 u. 114/ 73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (1942), Rdz. 26/28. 11 Urt. v. 25.11.1971, RS 22/71, Beguelin, Slg. 1971, 949 (960), Rdz. 16/18; Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3272 f.), Rdz. 165.

282

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

legung des Gemeinschaftsrechts, die dem Gerichtshof nach Art. 164 EWGV zugewiesen ist. Insofern unterscheidet sich sein Vorgehen nicht von anderen Bereichen, in denen die Kommission Würdigungen komplexer Sachverhalte vornimmt. Eine abweichende Kontrollpraxis ist erst dort festzustellen, wo der Gerichtshof die vorgenommene Subsumtion unter den Tatbestand des Art. 85 I EWGV nachprüft. Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, er habe zu prüfen, ob die Kommission die jeweiligen Sachverhaltsvorgaben im Hinblick auf die Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit des Verbots des Art. 85 I EWGV zutreffend subsumiert habe; falls der Sachverhalt unter das Verbot falle und die Kommission eine Freistellung erteilt habe, sei zu prüfen, ob die Kommission diese Bestimmung richtig angewendet habeP Bereits diese von der regelmäßigen Praxis abweichende Formulierung13 läßt erkennen, daß der Gerichtshof im Bereich des Art. 85 I EWGV nicht von den sonst üblichen Kontrollmaßstäben ausgeht. Er stellt vielmehr klar, daß trotz der auch im Rahmen dieser Vorschrift vorzunehmenden Würdigungen schwieriger wirtschaftlicher Umstände ein Beurteilungsspielraum der Kommission nur im Bereich der Freistellungsentscheidungen nach Art. 85 III EWGV anzunehmen ist. 14 Dies bestätigt sich auch in der praktischen Vorgehensweise des Gerichtshofs. Er vollzieht die Subsumtion der Kommission in vollem Umfang nach und nimmt eine abschließende eigenständige Beurteilung vor, ob das jeweilige Tatbestandsmerkmal vorliegt oder nicht. So bejaht er z.B. nach umfassender Subsumtion das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise, 15 dieBewirkungund Bezweckung einer spür-

12 Urt.

v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1908), Rdz. 25. Vgl. zur sonst üblichen "Standard-Formel" oben 4. Teil, C III3 c) bb); C IV 2 b). 14 Vgl. hierzu Urt. v. 15.03.1967, verb. RS 8-11/66, Cimenreries C.B.R.j Kommission, Slg. 1967, 99 (123). 15 Urt.v. 14.07.1972, RS 48/69, J.C.J.j Kommission, Slg. 1972, S. 619 (659 ff. und 664), Rdz. 115/119; Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 40-48,50,54-56,111,113 u. 114/73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (1965 ff. und 1969), Rdz. 198. 13

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

283

baren Beschränkung des Wettbewerbs16 bzw. das Vorliegen einer spürbaren Handelsbeeinträchtigung. 17 Damit nimmt er hinsichtlich des Tatbestandes des Art. 85 I EWGV eine Überprüfung der Kommissionsentscheidung vor, die im Vergleich zur regelmäßigen Vorgehensweise des Gerichtshofs ein deutlich gesteigertes Maß an Intensität aufweist. 2. Vorliegen eines Mißbrauchstatbestandes (Art. 86 EWGV)

Art. 86 EWGV verbietet den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt, soweit dies zu einer Handelsbeeinträchtigung führen kann. Auch hier stellen die Tatbestandsmerkmale "beherrschende Stellung", "Mißbrauch" und "Handelsbeeinträchtigung" unbestimmte Rechtsbegriffe dar, die komplexe ökonomische Wertungen erfordern. Dennoch erfolgt die Kontrolle von Kommissionsentscheidungen in einer dem Vorgehen bei Art. 85 I EWGV vergleichbaren Weise. Der Gerichtshof bestimmt die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung desVorliegenseiner beherrschenden Stellung,18 des Mißbrauchs einer solchen Stellung19 bzw. desVorliegenseiner Handelsbeeinträchtigung.20

16 Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3267), Rdz. 146; Urt. v. 09.06.1982, RS 258/78, Nungesser, Slg. 1982, 2015 (2071), Rdz. 64 f.; Urt. v. 13.07. 1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (391 f.); Urt. v. 28.03.1984, verb. RS 29 u. 30/83, CRAM, Rheinzink, Slg. 1984, 1679 (1704), Rdz. 28, 30; Urt. v. 25.03.1981, RS 61/80, Coöperative Stremsel- en Kleurselfabriek, Slg. 1981, 851 (867), Rdz. 12 f.; Urt. v. 11.07. 1989, RS 246/86, Belasco, Slg. 1989, 2117 (2184 ff.), Rdz. 10 ff. 17 Urt. v. 25.11.1971, RS 22/71, Beguelin, Slg. 1971, 949 (960), Rdz. 16/18; Urt. v. 29.10. 1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3272 f.), Rdz. 165; RS 246/86, Belasco, Slg. 1989, 2117 (2189 ff.), Rdz. 32 ff. vgl. auch Adam, S. 156 f.; Soweit dieser darüber hinaus zur Begründung der Kontrollpraxis auf eine Verankerung der "rule of reason" als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in Art. 85 I EWGV verweist, ist dem zu entgegnen, daß der Gerichtshof in diesem Falle auch diese tatbestandliehe Voraussetzung uneingeschränkt hätte überprüfen müssen (so auch Adam selbst, vgl. S. 158 f.).

18 Urt. v. 14.02.1978, RS 27/76, United Brands, Slg. 1978, 207 (286 f.), Rdz. 63/66; Urt. v. 13.02.1979, RS 85/76, Hoffmann-LaRoche, Slg. 1979, 461 (520 f.), Rdz. 40 ff. 19 Urt. v. 11.12.1980, RS 31/80, I'Oreal, Slg. 1980, 3775 (3794), Rdz. 30; Urt. v. 13.02.1979, RS 85/76, Hoffmann-LaRoche, Slg. 1979, 461 (541), Rdz. 91.; vgl. auch Urt. v. 21.02.1973, RS 6/72, Continental Can, Slg. 1973, 215 (246), Rdz. 26 f. und (247), Rdz. 29.

284

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Auch im Bereich des Art. 86 EWGV räumt der Gerichtshof der Kommission folglich keinen nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraum em. 3. Vorliegen einer unzulässigen Beihilfe (Art. 92 I EWGV)

Nach Art. 92 I EWGV sind staatliche Beihilfen unzulässig, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinträchtigen. Auch diese Tatbestandsmerkmale stellen unbestimmte Rechtsbegriffe dar,21 die eine Wertung komplexer Gegebenheiten erfordern und somit im Normalfall nur einer eingeschränkten Kontrolle unterliegen würden. Der Gerichtshof hat aber in seiner Entscheidung Philip Morris 22 bereits zu erkennen gegeben, daß der Kommission jedenfalls hinsichtlich der in Art. 92 II EWGV genannten Ausnahmen vom Beihilfentatbestand des Art. 92 I EWGV im Gegensatz zu Art. 92 III EWGV kein Ermessen eingeräumt werde. 23 Auch hinsichtlich der Kontrolle der Merkmale des Art. 92 I EWGV läßt der Gerichtshof bei seinen Entscheidungen keine Einschränkung der Kontrolldichte zugunsten eines Ermessens der Kommission erkennen. Die rechtliche Kontrolle beginnt mit der Präzisierung und begrifflichen Ausdeutung der Tatbestandsmerkmale. So gibt der EuGH die maßgeblichen Kriterien für das Vorliegen einer Beihilfe vor24 bzw. kontrolliert die von der Kommission verwendeten Kriterien auf ihre Relevanz und Richtig-

20 Urt. v. 13.02.1979, RS 85/76, Hoffmann-LaRoche, Slg. 1979,461 (552 f.), Rdz. 127.; Urt. v. 16.12.1975, verb. RS 4048,50,54-56,111,113 u. 114/73, Suiker Unie, Slg. 1975, 1663 (2004), Rdz. 401; vgl. dazu auch Schwarze, in: gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, 203 (2264 f.). 21

Vgl. Grabitz, Gemeinsamer Markt und nationale Subventionen, 95 (107). Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 ff. 23 Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2690), Rdz. 17. 22

24 Vgl. zu Art. 4 c EGKSV Urt. v. 23.02.1961, RS 30/59, De Gezamlijke Steenkolenmijnen in Limburg/ Hohe Behörde, Slg. 1961, 1 (42 ff.); diese Entscheidung ist auch für Art. 92 EWGV von grundsätzlicher Bedeutung, vgl. Wenig, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 4; Präzisierung in Urt. v. 14.01.1981, RS 61/79, Denkavit, Slg. 1980, 1205 (1228), Rdz. 31.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

28S

keit.25 Auch hierbei besteht die Neigung zur Begriffsbestimmung im Einzelfall.26 Hieran schließt sich eine umfassende Nachprüfung der Kommissionsentscheidung an, im Verlauf derer der Gerichtshof eine eigene abschließende Bewertung des Sachverhaltes im Bezug auf das Vorliegen des jeweiligen Tatbestandsmerkmales vornimmt.27 Teilweise finden sich auch zurückhaltendere Schlußergebnisse, die lediglich die Richtigkeit der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen bestätigen.28 Angesichts der Tatsache, daß der Gerichtshof in keinem seiner Urteile ausdrücklich von der Einräumung eines Ermessens spricht und auch eine Beschränkung auf offensichtlich fehlerhafte Beurteilungen nicht erkennen läßt, ist dieser Formulierung aber der gleiche Gehalt beizumessen wie den vorgenannten Fällen. Daher findet auch im Rahmen des Art. 92 I EWGV eine im Vergleich zur regelmäßigen Praxis des Gerichtshofs deutlich intensivere Kontrolle statt. 11. Die Kontrollpraxis des Gerichtshofs im Bereich der Ausnahmen nach Art. 85 111 und Art. 92 111 EWGV

Im Gegensatz zur dargestellten Kontrollpraxis hinsichtlich Art. 85 I, 86 und 92 I, li EWGV bewegt sich die Vorgehensweise bei der Nachprüfung von Freistellungen vom Kartellverbot nach Art. 85 III EWGV und der Erteilung von Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen nach Art. 92 III

25

Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (361), Rdz. 39. Schwarze, S. 351 unter Hinweis auf Urt. v. 22.03.1977, RS 78/76, Steinike und Weinüg/Deutschland, Slg. 1977,595 (612 f.), Rdz. 21 f. X1 Vgl. zum Begriff der 'Beihilfe' Urt. v. 21.03.1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1011), Rdz. 27 rr.; zur 'Handelsbeeinträchtigung' Urt. V. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Moms, Slg. 1980, 2671 ( 2688 f.), Rdz. 11; Urt. v. 02.02.1988, verb. RS 67, 68 u. 70/85, van der Kooy, Slg. 1988, 219 (276), Rdz. 56 ff.; Urt. v. 13.07.1988, RS 102/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1988, 4076 (4087 f.), Rdz. 21; zur 'Wettbewerbsverfälschung' Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Moms, Slg. 1980, 2671 (2689), Rdz. 12; Urt. v. 02.02.1988, verb. RS 67, 68 u. 70/85, van der Kooy, Slg. 1988, 219 (276 f.), Rdz. 59 ff. 26

28 Urt. v. 10.07.1986, RS 243/84 und RS 50/85, Belgien/ Kommission, Slg. 1986, 2263 (2284 ff.), Rdz. 9 ff. und 231 (2344 ff.), Rdz. 9 ff.; Urt. v. 24.02.1987, RS 310/85, Deufi/, Slg. 1987, 901 (925), Rdz. 12; Urt. v. 02.02.1988, verb. RS 67, 68 u. 70/85, van der Kooy, Slg. 1988, 219 (276 f.), Rdz. 59 f.; vgl. dazu auch Schwarze, in: gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsund Umweltrecht, 203 (267).

286

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

EWGV im Rahmen des bereits dargestellten üblichen gerichtlichen Kontrollumfanges. 1. Freistellungen vom Kartellverbot (Art. 85 //I EWGV)

Nach Art. 85 III EWGV können Maßnahmen, die unter das Kartellverbot des Art. 85 I EWGV fallen, von diesem Verbot freigestellt werden, wenn sie einen Beitrag zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -Verteilung leisten oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen und den Verbraucher angemessen am Gewinn beteiligen. Weitere Voraussetzung ist, daß die Wettbewerbsbeschränkung für die Verwirklichung dieser Ziele unerläßlich ist und keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren zur Folge hat. a) Ermessen auf der Tatbestandsseite Die genannten Voraussetzungen für eine Freistellung stellen unbestimmte Rechtsbegriffe dar/9 die zu komplexen Bewertungen wirtschaftlicher Sachverhalte zwingen. Infolgedessen muß die Kommission hier über einen nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraum verfügen.30 Dem hat der Gerichtshof bereits in seiner Entscheidung Consten, G1Un-

dig'1 Rechnung getragen und klargestellt, daß die schwierige Wertung wirt-

schaftlicher Sachverhalte im Bereich des Art. 85 III EWGV zu einer eingeschränkten wirtschaftlichen Kontrolle führen muß, die sich auf die Richtigkeit der zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts zu beschränken hat.32 Was unter dieser eingeschränkten Kontrolle zu verstehen ist, hat der Gerichtshof in seiner weiteren Entscheidungspraxis präzisiert.

19

Vgl. Koch, in: Grabitz, Art. 85, Rdz. 157; Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 85, Rdz. 201.

30

G/eissf Hirsch, Art. 85, Rdz. 470; Mai/änder, in: GK. Art. 85, Rdz. 53; Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 85, Rdz. 201; Thiesing, in: v.d.Groeben, 2Aufl., Art. 85, Rdz. 91. 31

Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 ff. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396); vgl. auch Urt. v. 23.10.1974, RS 17/74, T.O.M.P., Slg. 1974, 1063 (1081), Rdz. 16. 32

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

'}fl,7

Er nimmt zum einen Begriffsbestimmungen der unbestimmten Tatbestandsmerkmale vor. Dies erfolgt in der Weise, daß er die maßgeblichen Kriterien des Rechtsbegriffes vorzeichnet33 und vorgibt, anband welcher Maßstäbe die Subsumtion zu erfolgen hat. 34 Die sich anschließende Kontrolle der Subsumtion des Sachverhaltes unter das jeweilige Merkmal erfolgt auch hier in der Weise, daß der Gerichtshof nur das Vorliegen offensichtlicher Fehlbeurteilung untersucht und zu dem Ergebnis gelangt, daß eine offensichtliche Fehlbeurteilung bzw. Überschreitung des Ermessensspielraumes vorliegt bzw. nicht vorliegt.35 Weiterhin werden die Entscheidungen der Kommission auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs hin untersucht.36 Insgesamt ist festzustellen, daß der Gerichtshof bei der Überprüfung der tatbestandliehen Voraussetzungen von Freistellungsentscheidungen nach Art. 85 III EWGV in der gleichen Weise verfährt wie in anderen Fällen komplexer ökonomischer Entscheidungen. Lediglich in formaler Hinsicht ist anzumerken, daß der Gerichtshof hier nicht ausdrücklich auf die sonst üblicherweise verwendete "Standard-Formel" zurückgreift. Bezeichnend ist auch hier die Kompensation der eingeschränkten materiellen Kontrolle durch eine intensive Nachprüfung der Einhaltung der Verfahrensvorschriften.37 In diesem Zusammenhang spielt insbesondere die Kontrolle der Verfahrensvorschriften, die durch die VO Nr. 17 des Rates38 33 Vgl. z.B. zum Merkmal der Verbesserung der Warenerzeugung Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (396 f.); Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3278 f.), Rdz. 184; zum Begriff der "Unerläßlichkeit" vgl. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (397). 34 So gibt der Gerichtshof z.B. die Beurteilung des Vorliegens von "Verbesserungen" anhand objektiver Kriterien vor, vgl. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (397). 35 Vgl. zu den Merkmalen "Beitrag zur Verbesserung der Warenerzeugung• und "angemessene Verbraucherbeteiligung" Urt. v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1915, 1917), Rdz. 48, 50; zum Merkmal der "Unerläßlichkeit" Urt. v. 22.10.1986, RS 75/84, Metro II, Slg. 1986, 3021 (3090), Rdz. 67; allgemeiner Un. v. 15.05.1975, RS 71/74, Frubo/ Kommission, Slg. 1975, 563 (585), Rdz. 43: angesichts des Beurteilungsspielraums nicht unzutreffende Begründung der Entscheidung. 36 Vgl. z.B. zum Merkmal der "Unerläßlichkeit" Urt. v. 22.10.1986, RS 75/84, Metro II, Slg. 1986, 3021 (3089 f.), Rdz. 60 ff. 37 Vgl. als typisches Beispiel Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3232 ff.), Rdz. 16 ff. sowie allgemein zum Verwaltungsverfahren in Kartellsachen Sedemund, in: Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, S. 45 ff. 38 V. 06.02.1962, Abi. 1962, Nr. L 204/ 2; vgl. dazu Urt. v. 23.19.1974, RS 17/74, T.O.M.P., Slg. 1974, 1063 (1078 ff.), Rdz. 5 ff.; Urt. v. 11.07.1989, RS 246/ 86, Belasco/ Kommission, Slg. 1989,2117 (2191), Rdz. 39 ff.

288

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

vorgegeben sind, eine herausragende Rolle. Von Bedeutung sind weiterhin die Einhaltung der Begründungspflicht39 sowie die Beachtung des rechtlichen Gehörs,40 deren Verletzung zur vollständigen bzw. teilweisen Aufhebung der Entscheidung führen können.41 Auffällig ist jedoch, daß der Gerichtshof seiner Entscheidung über das Vorliegen eines Fehlers oft sehr umfangreiche eigene Erörterun~en zur Subsumtion unter das jeweilige Tatbestandsmerkmal voranstellt. 2 Dies führt in Einzelfällen so weit, daß er im Rahmen seiner Untersuchungen zu einem eigenen Ergebnis gelangt, um dann formelhaft auszuführen, offensichtliche Fehlbeurteilungen lägen nicht vor.43 Teilweise kommt der Gerichtshof auch zum Ergebnis, die Kommission habe eine Beurteilung "zu Recht" vorgenommen, ohne daß er hierbei Bezug auf das Nichtvorliegen einer offensichtlichen Fehlbeurteilung nimmt.44 Insgesamt läßt der Gerichtshof aber durchweg erkennen, daß der Kommission bei Freistellungsentscheidungen nach Art. 85 111 EWGV ein Ermessensspielraum hinsichtlich der im Tatbestand vorliegenden unbestimmten Rechtsbegriffe zusteht, der nach den allgemeinen Grundsätzen nur auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler bzw. eines Ermessensmißbrauchs hin überprüft wird. b) Gebundene Entscheidungen auf der Rechtsfolgenseite Dagegen läßt die Rechtsprechung einen entsprechenden Spielraum der Kommission auf der Rechtsfolgenseite, d.h. bei der Erteilung der Freistellung, nicht mehr erkennen. Vielmehr bezieht er die Einräumung eines Kommissionsermessens stets auf die Beurteilung der Tatbestandsmerkmale des Art. 85 III EWGV.

39

49 ff.

Vgl. Un. v. 11.07.1989, RS 246/86, Belascoj Kommission, Slg. 1989, 2117 (2193 ff.), Rdz.

40 Vgl. bereits Un. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (332 ff.).

41

Vgl. z.B. Un. v. 23.19.1974, RS 17/74, T.O.MP., Slg. 1974, 1063 (1081 f.), Rdz. 16 ff.

42

Vgl. z.B. Un. v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1926 f.), Rdz. 44 ff.; Urt. 22.10.1986, RS 75/84, Metro II, Slg. 1986, 3021 (3090), Rdz. 65 ff.; un. V. 29.10.1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980, 3125 (3276 ff.), Rdz. 177 ff.

V.

43 44

So z.B. Un. v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1915), Rdz. 43 und 50.

Un. v. 25.03.1981, RS 61/80, Coöperative Stremsel- en Kleurselfabriek, Slg. 1981, 851 (868), Rdz. 18.; Adam, S. 165.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

289

Aus diesem Grunde geht die herrschende Lehre davon aus, daß es sich bei der Freistellung nach Art. 85 III EWGV um eine gebundene Entscheidung in der Weise handele, daß bei Bejahung der tatbestandliehen Voraussetzungen die Freistellung erteilt werden muß.45 Soweit dies verneint wird,46 ist dem entgegenzuhalten, daß bereits der Gerichtshof selbst anklingen läßt, daß eine Befreiung bei Vorliegen des Tatbestandes zu erteilen "ist".47 Auch sind keine Abwägungsgesichtspunkte erkennbar, die über die tatbestandliehe Beurteilung hinaus auch auf der Rechtsfolgenseite noch komplexe ökonomische Wertungen erfordern würden. Insofern kann auch auf die deutsche Rechtsprechungspraxis zu den sogenannten Koppelungsvorschriften verwiesen werden. Auch hier wird von einem Ermessensschwund dann ausgegangen, wenn bereits bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes alle auch für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. In diesen Fällen ist bei Bejahung des Tatbestandes die zulässige Entscheidung zu treffen, ohne daß insoweit ein Ermessen besteht.48 Somit ist mit der herrschenden Meinung davon auszugehen, daß ein Ermessen der Kommission nur auf der Tatbestandsseite, nicht aber auf der Rechtsfolgenseite besteht. 2. Erteilung von Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen gemäß Art. 92 I/I EWGV

Ein vergleichbares Bild zeigt sich bei der Kontrolle von Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen, die die Kommission nach Art. 92 III EWGV erteilt. Gemäß Art. 92 III EWGV können Beihilfen als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden, die dazu dienen, unterentwickelte Gebiete zu fördern (lit. a), Vorhaben von gemeinsamem europäischen Inter45 Bechtlwld EuR 1992,41 (43); Gleiss/ Hirsch, Art. 85, Rdz. 470; Megret, Art. 85, Anm. 47; Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 85, Rdz. 90; Thiesing, in: v.d. Groeben, 2. Auf!., Art. 85, Rdz.

90.

46

Cerexhe, in: Ganslwfvan der Meersch, Les novelles, Nr. 2061. Urt. v. 13.07.1966, verb. RS 56 u. 58/64, Consten, Grundig, Slg. 1966, 321 (399); Urt. v. 27.01.1987, RS 45/85, Verband der Sachversicherer, Slg. 1987,405 (462), Rdz. 62. 48 Vgl. BVerwGE 18, 247 (250 f.); 15, 207 (211 f.); Maurer,§ 7, Rdz. 26. 47

19 Rausch

290

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

esse zu fördern oder eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben zu beheben (lit. b) bzw. gewisse Wirtschaftszweige oder -gebiete zu entwickeln

(lit. c).

a) Ermessen auf der Tatbestandsseite Auch diese Tatbestandsmerkmale enthalten eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe,49 die schwierige Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte erfordern. Der Gerichtshof hat folgerichtig ausgeführt, im Rahmen des Art. 92 III EWGV seien komplexe ökonomische und soziale Gegebenheiten zu berücksichtigen.50 Bei der Beurteilung stehe der Kommission ein Ermessen zu, welches sie nach Maßgabe wirtschaftlicher und sozialer Wertungen auszuüben habe, die auf die Gemeinschaft als Ganzes zu beziehen seien.51 Die Überprüfung dieser Beurteilung durch den Gerichtshof erfolgt in einer Weise, die der Kontrolle im Rahmen von Art. 85 III EWGV weitgehend entspricht. Eine allgemeine Aussage zu den Kontrollbefugnissen des Gerichtshofs im Bezug auf Art. 92 III EWGV findet sich in dem Schlußantra~ des Generalanwalts Slynn in der Rechtssache Deutscltland/ Kommission. Hier führt Slynn aus, daß der Gerichtshof die Entscheidung der Kommission neben der Richtigkeit des zugrunde liegenden Tatsachenmaterials daraufhin überprüfen dürfe, ob ein Ermessensmißbrauch oder ein offensichtlicher Fehler vorliege, einschließlich des Falles einer eindeutigen Ermessensüberschreitung entgegen Zielsetzung und Absicht der Rechtsvorschrif-

Vgl. Grabitz, Gemeinsamer Markt und nationale Subventionen, 95 (108 f.). Urt. v. 22.03.1977, RS 78/76, Steinike und Weinlig/ Deutschland, Slg. 1977, 595 (609 f.), Rdz. 8; Urt. v. 22.09.1977, RS 74/76, Ianellij Meroni, Slg. 1977, 557 (575), Rdz. 11 f.; Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2691), Rdz. 24, 26. 49

50

51 Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2691), Rdz. 24; Urt. v. 24.02. 1987, RS 310/85, Deufil , Slg. 1987, 921 (926), Rdz. 18; Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission , Slg. 1990-1, 307 (363), Rdz. 49; Urt. v. 21.03.1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1018), Rdz. 56; vgl. auch Grabitz, Gemeinsamer Markt und Subventionen, 95 (108 f.); Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 40. 52 V. 20.03.1984, RS 84/82, Deutschland/ Kommission, Slg. 1984, 1451 ff.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

291

ten.53 Diese Aussage entspricht der allgemeinen Aussage des Gerichtshofs zur Kontrolldichte bei Vorliegen von Ermessensspielräumen der Verwaltung. Dieser Eindruck bestätigt sich bei der Untersuchung der Kontrollpraxis des Gerichtshofs. Auch im Bereich des Art. 92 III EWGV nimmt dieser Begriffsbestimmungen regelmäßig nicht abstrakt vor; es finden sich allenfalls Definitionen von Einzelmerkmalen, die für den konkreten Fall relevant sind.54 Im Regelfall werden dagegen nur die maßgeblichen Kriterien für die Bejahung der tatbestandliehen Voraussetzungen aufgezeigt.55 Die sich hieran anschließende Kontrolle der Tatsachenwürdigung'i6 gelangt regelmäßig zu dem Ergebnis, daß die Beurteilung des Sachverhalts durch die Kommission keine offensichtlichen Fehler aufweise57 bzw. die Grenzen des Ermessens nicht überschritten habe.58 Gelegentlich wird auch hier die Kontrolle unter der Fragestellung vor~enommen, ob die Kommission die gewählte Auffassung vertreten durfte,5 wobei der Gerichtshof aber keinen Zweifel an seinen eingeschränkten Kontrollbefugnissen läßt.60 Diese eingeschränkte Kontrolldichte des Gerichtshofs wird dadurch in gewisser Weise auf materieller Ebene "korrigiert", daß dieser ähnlich dem 53 GA Slynn, Schlußantrag v. 25.01.1984, RS 84/82, Demschland/ Kommission, Slg. 1984, 1451 (1500); die Übersetzung wurde nach der englischen Fassung des Schlußantrages vorgenommen, in der der Schlußantrag erarbeitet und verlesen worden sein dürfte (vgl. dazu Klinke, Rdz. 249), da sowohl die französische als auch die deutsche Fassung hier ungenau und irreführend sind (die nach Art. 31 VfO hier eigentlich maßgebliche deutsche Fassung spricht beispielsweise von "Amtsmißbrauch"). 54 So z.B. hinsichtlich des Begriffs der außergewöhnlichen Niedrigkeit der Lebenshaltung und Erheblichkeil der Unterbeschäftigung; vgl. Urt. v. 14.10.1987, RS 248/84, BIW/ Kommission, Slg. 1987,4036 (4047), Rdz. 19. 55 Vgl. Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/ 87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (364), Rdz. 50 f.

56 Vgl. z.B. Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (365), Rdz. 54 f. zu Art. 92 111 lit. a) EWGV; Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Mo"is, Slg. 1980, 2671 (2691 f.), Rdz. 25 zu Art. 92111 lit. b) EWGV. 57 Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Executif Regional Wal/on , Slg. 1988, 1573 (1595 und 1597), Rdz. 23 und 34 (Art. 93 111 lit. b) und c) EWGV. 58 Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (364, 365), Rdz. 50, 57 (Art. 92111 lit a) und c) EWGV); Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Exicutif Regional Wal/on, Slg. 1988, 1573 (1597), Rdz. 34 (Art. 93 111 lit. b) und c) EWGV. 59 So z.B. Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Mo"is, Slg. 1980, 2671 (2691 f.), Rdz. 25 (Art. 92 111 lit. b) EWGV). 60

Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Mo"is, Slg. 1980, 2671 (2691), Rdz. 24.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

292

Begriff der "Unerläßlichkeit" in Art. 85 III EWGV die Eignung und Erforderlichkeil der Subvention zur Erreichung der in Art. 92 III EWGV genannten Ziele verlangt61 und damit die Zulässigkeil der Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch staatliche Beihilfen im Sinne des Art. 92 I EWGV einer Verhältnismäßigkeilsprüfung unterwirft. Daneben findet auch hier, ebenso wie im Rahmen des Kartellverbotes, eine umfangreiche Verfahrensprüfung statt. Diese erstreckt sich insbesondere auf das Verfahren nach Art. 93 EWGV, auf die EinhaltunS der Begründungspflicht62 sowie auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und die Einhaltung der Rechtssicherheit.64 Verfahrensfehler führen auch hier grundsätzlich zur Aufhebung der Entscheidung,65 es sei denn, bei Einhaltung des Verfahrens wäre keine andere Entscheidung getroffen worden.66 Auch im Rahmen des Art. 92 111 EWGV räumt der Gerichtshof der Kommission somit hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen einen Ermessensspielraum ein, den er nur eingeschränkt auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler überprüft. Ebenso wie unter Art. 85 III EWGV nimmt der Gerichtshof aber auch hier keinen Bezug auf die ansonsten verwendete "Standard-Formel". b) Gebundene Entscheidungen auf der Rechtsfolgenseite Für die Einräumung eines Ermessens auf der Rechtsfolgenseite finden sich keine Anhaltspunkte in der Rechtsprechung; vielmehr beziehen sich die Aussagen des Gerichtshofs jeweils ausdrücklich auf Tatbestandsmerkmale.67 61

Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2690), Rdz. 16 f.

Urt. V. 13.03.19&5, vero. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabriek, Slg. 19&5, 809 (822 ff.), Rdz. 22 ff.; Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Komm ission, Slg. 1990-1, 307 (357 ff. ), Rdz. 25 ff. 62

63

Urt. v. 21.03.1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission , Slg. 1990-1, 959 (1016), Rdz. 45 ff.

m.w.N. 64

25 ff.

ff.

Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission , Slg. 1990-1, 307 (357 ff.), Rdz.

65 Vgl. Urt. v. 14.10.1987, RS 284/84, BRD/ Kommission , Slg. 1987, 4036 (4040 f.), Rdz. 14

Urt. v. 14.02.1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission , Slg. 1990-1, 307 (359), Rdz. 31. Vgl. z.B. Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2691), Rdz. 24; aA. zu diesem Urteil Wenig, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 40, Fn. 189. 66

67

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

293

Für einen Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite könnte lediglich sprechen, daß der Gerichtshof das Vorliegen eines Spielraums mit dem im Wortlaut des Art. 92 III EWGV verwendeten Begriff "können" begründet.68 Dies würde nach deutschem Rechtsverständnis für die durch den Gesetzgeber gewollte Einräumung eines Ermessensspielraumes auf der Rechtsfolgenseite sprechen. Folglich geht auch eine Literaturmeinung von einem Ermessensspielraum sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite aus.69 Dem ist aber entgegenzuhalten, daß der Gerichtshof in keinem seiner Urteile zu Art. 92 EWGV eine, wenn auch eingeschränkte, Kontrolle eines Rechtsfolgeermessens erkennen läßt. Vielmehr beziehen sich seine Aussagen sowohl nach ihrem Inhalt als auch nach ihrer Systematik ausschließlich auf die Beurteilung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Art. 92 III EWGV?0 Dieser Befund zeigt sich besonders deutlich in der französischen Fassung des Urteils Executif Regional Wal/on.71 Hier räumt der Gerichtshof der Kommission aufgrund der Formulierung "peuvent" einen "pouvoir d'appreciation", d.h. einen Beurteilungsspielraum, ein.72 In der sich anschließenden Prüfung offensichtlicher Fehleinschätzungen ("erreurs manifeste d'appreciation") bezieht er sich aber ausschließlich auf das Tatbestandsmerkmal des Art. 92 III lit. b) EWGV?3 Auch der Verbotscharakter des Art. 92 I EWGV kann kein Argument für einen Ermessensspielraum sein;74 der Gerichtshof hat in Übereinstimmung 68 Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2690), Rdz. 17; vgl. auch Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Executif Regional Wal/on , Slg. 1988, 1573 (1595), Rdz. 21. fn V. Wallenberg, in: Grabitz, Art. 92, Rdz. 46; Wenig, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 40, 38; vgl. auch Grabitz, Gemeinsamer Markt und nationale Subventionen, 95 (108). 70 Insofern ähnlich die Argumentation der von Grabitz, Gemeinsamer Markt und nationale Subventionen, der aber hieraus lediglich den Schluß zieht, der Gerichtshof räume neben dem "eindeutig eingeräumten Rechtsfolgeermessen auch ein Tatbestandsermessen ein, vgl. S. 95 (108, 109). 71 Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Executif Regional Wal/on, Rec. 1988, 1573 ff.; vgl. dazu Herdegenf Richter, 209 (235). 72 Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Executif Regional Wal/on, Rec. 1988, 1573 (1595) Rdz. 21. 73 Urt. v. 08.03.1988, verb. RS 62 u. 72/87, Executif Regional Wal/on, Rec. 1988, 1573 (1595) Rdz. 22 ff.; vgl. auch die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 92 lli lit. b), c) EWGV in Rdz. 34 (S. 1597). 74 So aber v. Wallenberg, in: Grabitz, Art. 92, Rdz. 46.

294

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

mit der ganz herrschenden Meinung Art. 85 111 EWGV als gebundene Entscheidung qualifiziert, obwohl Art. 85 I EWGV ebenfalls ein ausdrückliches Verbot statuiert. Im übrigen ist auch hier nicht ersichtlich, daß über die im Rahmen der Tatbestandsmerkmale des Art. 92 III EWGV hinausgehenden Ermessenserwägungen noch weitere Beurteilungsgesichtspunkte auf der Rechtsfolgenseite von Bedeutung sein könnten. Infolgedessen ist hier von einer "Verlagerung" des Ermessensspielraumes ausschließlich auf die Tatbestandsseite auszugehen. Bei Vorliegen der tatbestandliehen Voraussetzungen des Art. 92 111 EWGV hat die Kommission folglich eine Ausnahme von Art. 92 I EWGV zu erteilen.75 Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Kontrolle des Gerichtshofs im Hinblick auf Art. 85 III und Art. 92 III EWGV derjenigen entspricht, die auch in anderen Bereichen mit Ermessensspielräumen der Kommission Anwendung findet. Hierbei ist lediglich zu beachten, daß ein entsprechendes Kommissionsermessen nur auf der Tatbestandsseite vorliegt; auf der Rechtsfolgenseite liegen dagegen in beiden Fällen gebundene Entscheidungen vor. 111. Gründe für die umfassende Kontrolle im Rahmen von Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV

Angesichts der von der normalen Vorgehensweise des Gerichtshofs abweichenden Kontrollpraxis bei der Nachprüfung von Entscheidungen nach Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV stellt sich die Frage nach den Gründen dieser auffälligen Inkongruenz zur sonst üblichen Kontrollpraxis. 1. Dek/aratorischer - konstitutiver Charakter

In der Literatur wird zumindest im Hinblick auf Art. 85 EWGV der Versuch unternommen, die Kontrollpraxis des Gerichtshofs damit zu begründen, daß der Verbotstatbestand (Art. 85 I EWGV) ipso-iure - Wirkungen zeitige und somit die Entscheidung der Kommission rein deklaratorischen Charakter habe. Dagegen sei die Entscheidung im Bezug auf die Freistel75 In diesem Sinne auch Herdegenf Richter, 209 (234 f.); wohl auch Everling, in: Wohlfahrt/ Everling/ Glaesner/ Sprung, Art. 92, Anm. 11.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

295

lung (Art. 85 III EWGV) konstitutiver Natur. Ein Beurteilungsspielraum der Kommission setze aber begriffsnotwendig eine eigene Entscheidungszuständigkeit vorau~ so daß ein solcher im Rahmen des Art. 85 I EWGV nicht vorliegen könne. 7 Dieser Begründungsversuch kann jedoch von vornherein nur insoweit überzeugen, als die Entscheidungen der Kommission deklaratorischer Natur sind. Im Bezug auf Art. 85 I EWGV ist mittlerweile klargestellt, daß dieser als Verbotstatbestand in der Weise zu qualifizieren ist, daß sich jedermann vor nationalen Gerichten hierauf berufen kann; 77 die förmliche Feststellung durch behördliche Entscheidung hat insofern rein deklaratorischen Charakter?8 Gleiches gilt für Art. 86 EWGV.79 Dagegen hat der Gerichtshof Art. 92 I EWGV zwar ebenfalls als Verbotstalbestand qualifiziert, dabei aber klargestellt, daß dieses Verbot weder absolut noch unbedingt ist.80 Infolgedessen kommt der Kommissionsentscheidung hier im Gegensatz zu Art. 85 I EWGV kein deklaratorischer Charakter zu. Daher vermag der genannte Begründungsversuch jedenfalls im Bereich des Art. 92 I EWGV nicht zu überzeugen.81 2. Unbeschränkte Nachprüfung aufgnmd Art. 172 EWGV

Zum Teil wird die umfassende gerichtliche Kontrolle im Bereich der Art. 85 I und 86 EWGV auch damit begründet, daß dem Gerichtshof nach Art. 172 EWGV i.V.m. Art. 17 der Kartellverordnung Nr. 17 die Befugnis zu un76 Herdegenf

Richter, 209 (231 f.); so auch Adam, S. 155 f.

Urt. v. 30.01.1974, RS 127f73, BRT I, Slg. 1974, 51 (62), Rdz. 15f17; Urt. v. 10.07.1980, RS 37f79, Estee Lauder, Slg. 1980, 2481 (2500), Rdz. 13. 77

78 Herdegenf

Richter, 209 (232); Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 24.

79

Urt. v. 30.04.1974, RS 155f73, Sacchi, Slg. 1974, 409 (431), Rdz. 18; Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 85, Rdz. 24; Art. 86, Rdz. 28 f. 80 Urt. v. 22.03.1977, RS 78f76, Steinilce und Weinligj Deutschland, Slg. 1977, 595 (609 f.), Rdz. 8. 81 Vgl. hierzu auch Herdegenf Richter, 209 (233 f.), die diese Unstimmigkeit selbst aufzeigen.

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

296

beschränkter Nachprüfung der Entscheidung der Kommission zusteht, m denen eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt wird. Das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 85 bzw. Art. 86 EWGV sei aber Vorbedingung für die Erhebung eines solchen Zwangsgeldes und sei daher ebenfalls umfassend zu überprüfen.82 Dieser Auffassung steht jedoch bereits der Wortlaut sowohl des Art. 172 EWGV als auch des Art. 127 der Verordnung Nr. 17 entgegen, die die unbeschränkte richterliche Kontrolle auf die Festsetzung des Zwangsgeldes bzw. der Geldbuße beschränken.83 Im übrigen müßte in diesem Fall eine Einräumung von Ermessensspielräumen in Art. 85 und 86 EWGV umfassend ausgeschlossen sein. Der Gerichtshof hat aber klargestellt, daß er im Hinblick auf Art. 85 111 EWGV nur eine Befugnis zu eingeschränkter richterlicher Kontrolle besitze.84 Auch im Bereich des Art. 85 I EWGV hat er in Einzelfällen einen Ermessensspielraum der Kommission anerkannt.85 Aus diesen Gründen ist eine Ausweitung der unbeschränkten richterlichen Nachprüfungsbefugnis auf Art. 85 I und 86 EWGV nicht ersichtlich und kann daher auch nicht als Begründung für eine weitergehende Kontrolldichte in diesem Bereich dienen. 3. Entbehrlichkeit der Vomahme komplexer Würdigungen

Im Bezug auf Art. 92 I EWGV wird von Grabitz die Erklärung angedeutet, dieser sei möglicherweise in dem Sinne zu verstehen, daß die komplexen Begriffe der Wettbewerbsverfälschung und der Handelsbeeinträchtigung als feststehende Folgen der Gewährung einer Beihilfe zu qualifizieren seien. Daher erübrige sich eine komplexe Prüfung der einzelnen Merkmale.86

EuLRev. 1987, 315 (324). Vgl. auch Lasok ECLR 1989, 85 (87).

82 Joshua

83

84

Vgl. oben 4. Teil, E 111 a). Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 (2575), Rdz. 34; Urt. v. 11.07.1987, verb. RS 142 u. 156/84, BAT/Reynolds, Slg. 1987,4487 (4583), Rdz. 62. 86 Grabilz, Gemeinsamer Markt und nationale Subventionen, 95 (107 f.) unter Hinweis auf GA Capotorti, Schlußantrag v. 18.06.1980, RS 730/79, Philip MoiTis, Slg. 1980, 2693 (2698). 85

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

297

Eine solche "per-se" - Wirkung der Gewährun9 einer Beihilfe ist aber vom Gerichtshof ausdrücklich abgelehnt worden.8 Daher kann von einer Entbehrlichkeit komplexer Würdigungen nicht ausgegangen werden. 4. Systematik der Wettbewerbsvorschriften

Eine Begründung für die Vorgehensweise des Gerichtshofs könnte aber in der Systematik der Wettbewerbsvorschriften gesehen werden. Ziel der Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV ist es, die Wettbewerbsfreiheit möglichst umfassend zu gewährleisten und einschränkende Maßnahmen zu unterbinden. Bei der Überprüfung des Vorliegens dieser Verbotstatbestände verfolgt die Kommission eine strikte und dogmatische Vorgehensweise.88 Dagegen eröffnen die Ausnahmevorschriften des Art. 85 III und 92 111 EWGV wesentlich weitere Entscheidungsspiclräume. So hat auch der Gerichtshof zu Art. 85 III EWGV klargestellt, daß die Kommission bei der vorzunehmenden Abwägung das Erfordernis der Auerechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs mit der Wahrung andersartiger Ziele in Einklang bringen müsse.89 Im Bezug auf Art. 92 III EWGV stellt er klar, daß die Kommission hier wirtschaftliche und soziale Wertungen vorzunehmen habe, die auf die Gemeinschaft als Ganzes zu beziehen seien.90 An diesen Aussagen zeigt sich, daß der Gerichtshof den Kommissionsentscheidungen in diesen Bereichen eine wesentlich höhere Komplexität zumißt als den Beurteilungen der Verbotstatbestände.

lf7 Urt. v. 13.03.1985, verb. RS 296 u. 318/82, L eeuwardener Papierfabriek, Slg. 1985, 809 (824), Rdz. 22 ff.

88 Vgl.

zu Art. 85 I EWGV van Bael, 173 (177).

Urt. v. 25.10.1977, RS 26/76, Metro I, Slg. 1977, 1875 (1906), Rdz. 21; Urt. v. 29.10.1980, verb. RS 209-215,218/78, van Landewyck, Slg. 1980,3125 (3276), Rdz. 176; vgl. auch van Bael 19

173 (177).

90 Urt. v. 17.09.1980, RS 730/79, Philip Morris, Slg. 1980, 2671 (2691), Rdz. 24; Urt. v. 14.02. 1990, RS C-301/87, Frankreich/ Kommission, Slg. 1990-1, 307 (363), Rdz. 49; Urt. v. 21.03.1990, RS C-142/87, Belgien/ Kommission, Slg. 1990-1, 959 (1018), Rdz. 56.

298

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

Weiterhin hat der EuGH ausgeführt, daß Verbots- und Ausnahmetatbestand sowohl bei Art. 85 als auch bei Art. 92 EWGV eine systematische und sachliche Einheit bilden und daher stets gemeinsam zu prüfen sind.91 Daher scheint der Gerichtshof den Ermessensspielraum der Kommission bei den deutlich komplexeren Würdigungen im Rahmen der Ausnahmen nach Art. 85 Ill, 92 Ill EWGV ansiedeln zu wollen, wohingegen er die wesentlich weniger komplexen Fragen im Rahmen des Art. 85 I, 92 I EWGV selbst umfassend kontrolliert. Zwar erfordern auch diese Tatbestände die Beurteilung schwieriger wirtschaftlicher Sachverhalte. Hierbei ist aber zu beachten, daß sich der Gerichtshof auch im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWGV häufig mit der Auslegung der einschlägigen Tatbestandsmerkmale beschäftigen muß, ohne daß vorher die Kommission damit betraut war. Zwar hat der Gerichtshof hier nur abstrakte Rechtsfragen zu beantworten; es zeigt sich jedoch in der Praxis, daß er auch hier zum Teil sehr umfangreiche Erörterungen vornehmen muß. 92 Aus der insoweit gesteigerten fachlichen Kompetenz könnte die fehlende Bereitschaft resultieren, der Kommission auch im Bereich der Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV ein Ermessen einzuräumen. Wesentlich gewichtiger erscheint aber der Umstand, daß die Einräumung eines Ermessens sowohl im Verbotstatbestand als auch bezüglich der Ausnahmen im Rahmen der Art. 85 und 92 EWGV zu einer zu weitgehenden Verlagerung des institutionellen Gleichgewichts zugunsten der Kommission führen würde. Angesichts der im Wettbewerbsrecht regelmäßig betroffenen Individualrechtspositionen würde eine grundsätzliche Beschränkung der richterlichen Kontrolle auch im Bereich der Verbotstatbestände nach den sonst üblichen Grundsätzen nicht den vom Gerichtshof geforderten möglichst effektiven Rechtsschutz gewährleisten. Daher erscheint eine Beschränkung des Verwaltungsermessens auf die Ausnahmetatbestände zumindest für den Regelfall gerechtfertigt, in dem 91 Vgl. zu Art. 85 EWGV Urt. v. 06.04.1962, RS 13/61, Bosch, Slg. 1962, 104 (112 f.); Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 85, Rdz. 201; zu Art. 92 Urt. v. 22.03.1977, RS 78/76, Steinike und Weinlig/ Deutschland, Slg. 1977, 595 (609 f.), Rdz. 8; Schröter, in: v.d. Groeben, Art. 92, Rdz. 2. 92 Urt. v. 18.02.1971, RS 40/70, Sirenaj Eda, Slg. 1971, 69 (82 ff.), Rdz. 9 ff.; vgl. auch Urt. v. 09.07. 1962, RS 5/69, Völk/ Vervaecke, Slg. 1969, 295 (302), Rdz. 5 ff.; Urt. v. 10.07.1980, RS 99/79, Lancömej Etos, 1980, 2511 (2535 ff.), Rdz. 19 ff.; Urt. v. 22.03.1977, RS 74/76, Janelli/ Meroni, Slg. 1977,557 (575 f.), Rdz. 11 ff.

E. Weitergehende Kontrolle im Wettbewerbsrecht

299

das Vorliegen des entsprechenden Verbotstatbestandes ein vergleichsweise geringes Maß an Komplexität aufweist. Eine solche Rechtfertigung der Vorgehensweise des Gerichtshofs mit der unterschiedlichen Komplexität der vorzunehmenden Entscheidungen, die im Interesse der Gewaltenteilung ein Ermessen nur im Bereich der komplexeren Elemente der einheitlich zu treffenden Entscheidungen begründet, würde auch die Fälle erklären, in denen der Gerichtshof ausnahmsweise von der umfassenden Prüfung der Grundtatbestände abgesehen hat. Er nimmt nämlich dann eine nur eingeschränkte Überprüfung in diesem Bereich vor, wenn auch im Verbotstatbestand ausnahmsweise ein über das Normalmaß hinausgehender Grad an Komplexität erreicht wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Prognosen hinsichtlich der Frage anzustellen sind, wie lange ein Kartellverbot aufrechterhalten werden muß93 bzw. wenn die Frage zu beantworten ist, ob eine zusammenfassende Gesamtschau für sich nicht verbotener Einzelaspekte die Voraussetzungen des Art. 85 I EWGV erfüllt.94 Bei Vorliegen solcher Fragen "gesteigerter Komplexität" hat der Gerichtshof der Kommission ein Ermessen zugestanden und seine Kontrolle darauf beschränkt, ob die Begründung ausreichend ist, der Sachverhalt zutreffend festgestellt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts bzw. ein Ermessensmißbrauch vorliegt.95 Damit greift er hier wieder auf die auch sonst üblicherweise verwendeten Kontrollparameter im Bereich von Ermessensspielräumen der Kommission zurück. IV. Zusammenfassung

Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß der Gerichtshof die Freistellungs- bzw. Ausnahmeentscheidungen der Kommission nach Art. 85 Ill, 92 Ill EWGV angesichts eines bestehenden Ermessensspielraumes nur ei-

93

Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 ff.

Urt. v. 17.11.1987, verb. RS 142 u. 156j84,BAT/ Reynolds, Slg. 1987, 4487 ff. 95 Urt. v. 11.07.1985, RS 42/84, Remia, Slg. 1985, 2545 (2575), Rdz. 34; Urt. v. 17.11.1987, verb. RS 142 u. 156/84, BAT/ Reynolds, Slg. 1987,4487 (4583), Rdz. 62. 94

300

4. Teil: Kontrollumfang im Verfahren vor dem EuGH

ner eingeschränkten Kontrolle unterwirft, die dem üblichen Kontrollstandard bei Vorlage komplexer wirtschaftlicher Entscheidungen entspricht. Dagegen gesteht der Gerichtshof der Kommission im Rahmen der Verbotstalbestände des Art. 85 I, 86 und 92 I EWGV grundsätzlich keine Ermessensspielräume zu. Lediglich dann, wenn die Beurteilung des Sachverhalts einen über das Normalmaß hinausgehenden Grad an Komplexität erreicht, räumt der Gerichtshof auch hier einen Entscheidungsfreiraum der Kommission ein, der dann nach den üblichen Grundsätzen überprüft wird. Diese im Vergleich zur sonstigen Vorgehensweise des Gerichtshofs weitergehende richterliche Nachprüfung findet ihre Rechtfertigung in dem das Verfahren der gerichtlichen Verwaltungskontrolle dominierenden Grundsatz der Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts zwischen Exekutive und Judikative. Insofern kann jedenfalls von einer systemwidrigen Abweichung des Gerichtshofs von seinen sonstigen Kontrollgrundsätzen nicht die Rede sein.

Ergebnisse der Untersuchung Die vorgenommene Untersuchung hat zu folgenden Ergebnissen geführt: I. Hinsichtlich der allgemeinen Vorgaben und Kontrollgrenzen ist die Kontrolle des Kommissionshandeins durch den Gerichtshof unter Art. 173 EWGV in hohem Maße seinem französischen Vorbild, dem recours pour exces de pouvoir, angenähert. 1. Beide Klagen sind vorrangig als Verfahren zur Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit ausgestaltet. In dieser Hinsicht besteht ein deutlicher Unterschied zur Anfechtungsklage des deutschen Rechts, der durch die Gewährleistung des Art. 19 IV GG vorrangig die Aufgabe zukommt, einen effektiven Individualrechtsschutz zu gewährleisten. Erst in zweiter Linie kommt ihr auch die Funktion der objektiven Rechtskontrolle zu.

Diese untergeordnete Bedeutung des Individualrechtsschutzes hat aber nicht zwangsläufig eine Verkürzung des Schutzes subjektiver Rechtspositionen zur Folge; vielmehr bewirkt die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle regelmäßig reflexartig auch den Schutz individueller Rechte. Darüber hinaus betont der Gerichtshof aber auch das Erfordernis eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes gerade für die Fälle, in denen Individualrechtspositionen beeinträchtigt werden. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Orientierung an der objektiven Rechtskontrolle auch eine Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten zur Folge hat. Sowohl der recours pour exces de pouvoir als auch die Nichtigkeitsklage des Art. 173 EWGV stellen an die Klagebefugnis geringere Anforderungen, als dies unter § 42 II VwGO der Fall ist. Auch ist die Begründetheit der Klage im Gegensatz zu § 113 I 1 VwGO nicht von einer Verletzung in eigenen Rechten abhängig. 2. Auch hinsichtlich der allgemeinen Grenzen richterlicher Kontrolle finden sich deutliche Übereinstimmungen zwischen Nichtigkeitsklage und recours pour exces de pouvoir.

302

Ergebnisse der Untersuchung

a) Dies zeigt sich bereits an der in beiden Klageverfahren bestehenden Bindung des Gerichts an die vom Kläger vorgetragenen konkreten Klagegründe (moyens), sofern diese nicht ausnahmsweise als "moyens d'ordre public" von Amts wegen zu prüfen sind. Eine solche Begrenzung der richterlichen Kontrolle ist dem deutschen Recht fremd. Sie findet ihre Rechtfertigung darin, daß sowohl das französische als auch das Gemeinschaftsrecht von einem engeren Begriff des durch das Klagebegehren bestimmten Streitgegenstandes (cause juridique) ausgehen, der in stringenter Anwendung des "ne ultra petita" - Grundsatzes eine solche Bindung zumindest im Gemeinschaftsrecht zwangsläufig zur Folge hat. Insgesamt läßt der Gerichtshof bei der Frage der Bindung an die Klagegründe eine deutlich systematischere Vorgehensweise erkennen, als dies bei dem Conseil d'Etat der Fall ist. b) Allen verglichenen Rechtsordnungen gemeinsam ist die grundsätzliche Beschränkung der Gerichte auf die Rechtmäßigkeitskontrolle. Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte sind der richterlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen; eine Ausnahme besteht lediglich in den Fällen, in denen die Zweckmäßigkeit wie etwa bei der Frage der Verhältnismäßigkeit konstituierender Bestandteil der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme ist. c) Die gerichtliche Kontrolle findet ihre Grenzen auch dort, wo der Verwaltung Ermessensspielräume eingeräumt sind. Hier geht der Gerichtshof ebenso wie der Conseil d'Etat von einem einheitlichen Ermessensbegriff auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite aus. Eine dem deutschen Recht entsprechende Differenzierung in Ermessensspielräume auf der Rechtsfolgenseite und grundsätzlich voll überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite ist dem Gemeinschaftsrecht fremd. Ein weiterer grundlegender Unterschied zum deutschen Verwaltungsprozeßrecht besteht darin, daß das Vorliegen P:ines Entscheidungsspielraumes der Verwaltung nicht zwingend von einer entsprechenden normativen Ermächtigung abhängig ist. Vielmehr kann bereits das Vorliegen einer höheren Sachkompetenz der Verwaltung in technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen eine Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte zur Folge haben. Auch insoweit ist eine Parallele zum recours pour exces de pouvoir zu erkennen.

Ergebnisse der Untersuchung

303

II. Im Bezug auf die Kontrolle des einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes gilt in allen verglichenen Rechtsordnungen der Untersuchungsgrundsatz. Die Gerichte sind daher zur eigenständigen Sachverhaltsaufklärung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Auch die den Gerichten zur Verfügung stehenden Beweismittel entsprechen einander weitgehend. Eine Ausnahme besteht hinsichtlich des Conseil d'Etat nur insofern, als dieser nicht an bestimmte Beweismittel gebunden ist. Die Durchführung dieser Untersuchungspflicht gestaltet sich jedoch nicht einheitlich. Dies ist bedingt durch die unterschiedlichen Anforderungen, die an die Beteiligung der Parteien bei der Sachaufklärung gestellt werden. 1. Übereinstimmung besteht hier nur im Bezug auf die Begründungspflicht, die der Behörde bei den hier untersuchten belastenden Verwaltungsakten obliegt.

2. Hinsichtlich der darüber hinausgehenden Anforderungen an die Beteiligung der Parteien bestehen dagegen deutliche Unterschiede. So geht das deutsche Recht von einer umfassenden Aufklärungspflicht aus, die ihre Grenzen abgesehen von Fällen der Unzumutbarkeit nur dort fmdet, wo die entscheidungsrelevanten Umstände dem Gericht nicht erkennbar sind, sondern in den persönlichen Erkenntnisbereich eines Beteiligten fallen und dieser seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt; eine Darlegungslast des Klägers ist dem deutschen Verwaltungsprozeßrecht fremd. Im Gegensatz zu dieser sehr eingeschränkten Beteiligungsverpflichtung gehen sowohl die französischen Verwaltungsgerichte als auch der Gerichtshof über das Bestehen solcher Mitwirkungspflichten hinaus von einer Pflicht des Klägers zur substantiierten Darlegung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts aus, die ihrerseits erst die weitergehende Aufklärung auslöst. Damit eröffnet sich der gerichtlichen Untersuchungspflicht ein deutlich geringerer Anwendungsbereich als im deutschen Verwaltungsprozeß. 3. Auch im Bereich bestehender Untersuchungspflichten bleibt der Gerichtshof in Intensität und Systematik der Ausschöpfung seiner Befugnisse zur Sachverhaltsaufklärung hinter der Vorgehensweise deutscher Gerichte zurück. Insoweit besteht auch hier eine Parallele zur Vorgehensweise des Conseil d'Etat.

304

Ergebnisse der Untersuchung

Bei diesem ist die richterliche Zurückhaltung auf die historisch gewachsene Zielsetzung des recours pour exces de pouvoir zurückzuführen, der vorrangig der Vorgabe allgemeiner Handlungsmaximen für die Verwaltung dient. Dagegen dürfte die entsprechende Vorgehensweise des Gerichtshofs in erster Linie auf die bestehende Arbeitsbelastung zurückzuführen sein, die eine Zurückhaltung zugunsten eines rechtzeitigen Rechtsschutzes notwendig macht. Der Gerichtshof schwächt aber die sich hieraus ergebenden Defizite dadurch ab, daß er häufig eine Alternativprüfung auf der Grundlage des klägerischen Gegenvortrages durchführt. Vergleicht man die Kontrollpraxis des Gerichtshofs mit der Sachverhaltserforschung durch das Gericht erster Instanz, so ist festzustellen, daß dieses eine deutlich höhere Kontrollintensität im Bezug auf den zugrunde liegenden Sachverhalt erkennen läßt. Der insoweit effektiver gewährleistete Rechtsschutz würde eine Ausweitung der Zuständigkeiten des Gerichts erster Instanz auf die durch hohe Sachverhaltskomplexität gekennzeichneten Bereiche des Antidumping- und Antisubventionsrechts wünschenswert machen. 4. Im Falle der Nichterweislichkeit von Tatsachen orientiert sich der Gerichtshof bei der Verteilung der objektiven Beweislast ebenso wie die deutschen Gerichte an dem Normgünstigkeitsprinzip. Daher obliegt der Kommission grundsätzlich die Beweislast für die Tatsachen, die sie ihrer Entscheidung zugrunde legt. Dagegen hat der Kläger den Beweis für das Vorliegen von Ausnahmeumständen zu führen. Eine Vermutung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes mit einer grundsätzlichen Beweisbelastung des Klägers nach dem Grundsatz "actori incumbit probatio" ist dem Gemeinschaftsrecht im Gegensatz zum französischen Recht fremd. Allerdings mißt der Gerichtshof den Ausführungen der Kommission regelmäßig einen hohen Grad an Richtigkeilsgewähr zu. Auch insoweit zeichnet sich das Gericht erster Instanz durch eine differenziertere und skeptischere Vorgehensweise aus. 5. Insgesamt ist festzustellen, daß die Vorgehensweise des Gerichtshofs bei der Sachverhaltsaufklärung nicht in jeder Hinsicht den Anforderungen entspricht, die nach deutschem Rechtsverständnis durch Art. 19 IV GG vorgegeben werden. Insbesondere stellt der Gerichtshof vergleichsweise geringe Anforderungen an die Beteiligungspflicht der Parteien und übt eine

Ergebnisse der Untersuchung

305

relativ große Zurückhaltung im Bezug auf eingene Maßnahmen zur Sachverhaltserforschung. Andererseits werden die hierduch entstehenden Belastungen gleichmäßig allen Beteiligten auferlegt; im übrigen gilt das Normgünstigkeitsprinzip, so daß Beweisschierigkeiten regelmäßig zu Lasten der Kommission gehen. Berücksichtigt man zudem, daß der Gerichtshof durch das Gebot effektiven Rechtsschutzes auch zur Durchführung des Verfahrens in angemessener Zeit verpflichtet wird, so ist festzustellen, daß das Verfahren vor dem Gerichtshof diesem Grundsatz durchaus in einem dem deutschen Recht im wesentlichen vergleichbaren Umfang nachkommt. III. Die Untersuchung der gerichtlichen Nachprüfung im Bereich der Tatsachenwürdigung hat zu folgenden Ergebnissen geführt: 1. In der strukturellen Ausgestaltung der Kontrolle der Tatsachenwürdigung ist das Verfahren dem deutschen Verwaltungsprozeß wesentlich stärker angenähert, als dies der erste Eindruck vermuten läßt. So orientiert sich zwar das Verfahren des Art. 173 EWGV ebenso wie der recours pour exces de pouvoir an der Einteilung in Klagegründe; dennoch richtet der Gerichtshof die Kontrolle der Tatsachenwürdigung in deutlich geringerem Maße an einer differenzierten Einteilung m Klagegründe aus, als dies im französischen Recht der Fall ist. Vielmehr erscheint die gerichtliche Kontrolle als in erster Linie von dem Gegensatz zwischen gebundener Verwaltung (competence liee) und Ermessensverwaltung geprägt und weist somit deutliche Parallelen zur deutschen Systematik auf. Bemerkenswert ist weiterhin, daß Art. 173 EWGV in inhaltlicher Übereinstimmung mit Art. 33 EGKSV nicht von der Grundkonzeption einer Ermessensfreiheit der Verwaltung ausgeht. Vielmehr erscheint die umfassende gerichtliche Verwaltungskontrolle als Regelfall, der seine Ausnahmen dort findet, wo angesichts vorzunehmender Beurteilungen komplexer ökonomischer Situationen ein Ermessensspielraum der Verwaltung besteht. Diese Grundkonzeption zeigt deutliche Übereinstimmungen mit dem deutschen Verwaltungsprozeßrecht, in dem ebenfalls von der umfassenden gerichtlichen Kontrolle als Regelfall ausgegangen wird.

20 Rausch

306

Ergebnisse der Untersuchung

Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, daß das Vorliegen von Ermessensspielräumen im Gemeinschaftsrecht abhängig ist von der Notwendigkeit der Beurteilung komplexer ökonomischer Situationen und damit von dem Vorliegen einer besonderen fachlichen Kompetenz der Verwaltung. Dieser Kenntnisvorsprung führt unter Gewaltenteilungsaspekten zur Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle. Eine solche Vorgehensweise findet ihre Entsprechung im französischen Verwaltungsrecht; dagegen ist die Einräumung einer solchen Letztentscheidungskompetenz der Verwaltung im deutschen Verwaltungsprozeß stets von einer entsprechenden normativen Ermächtigung abhängig. Grundsätzlich erkennt der Gerichtshof einen Ermessensspielraum der Verwaltung immer dann an, wenn diese Würdigungen komplexer Sachverhalte vorzunehmen hat. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes findet sich im Bereich des Wettbewerbsrechtes. Hier gesteht der Gerichtshof angesichts der sowohl in den Verbotstatbeständen (Art. 85 I, 86, 92 I, II EWGV) als auch in den Ausnahmetatbeständen (Art. 85 III, 92 III EWGV) vorzunehmenden komplexen Beurteilungen einen Ermessensspielraum nur dort zu, wo die Entscheidung ein Maß "gesteigerter Komplexität" erfordert. Dies ist regelmäßig nur im Bereich der Ausnahmetatbestände der Fall. Nur dann, wenn auch die Bewertung der Verbotstatbestände ein besonderes Maß an Komplexität aufweist, ist auch hier vom Grundsatz der umfassenden Prüfung abzuweichen. Diese Abweichung findet ihre Rechtfertigung in dem das gerichtliche Verfahren dominierenden Grundsatz der Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts zwischen Exekutive und Judikative. Weiterhin ist festzustellen, daß das Vorliegen von Ermessensspielräumen im Gemeinschaftsrecht trotz des konzeptionellen Ausnahmecharakters eher den Regelfall darstellt. Dies ist bedingt durch die vorrangig wirtschaftsrechtliche Prägung des Gemeinschaftsrechts, die häufig eine Beurteilung komplexer ökonomischer Situationen erfordert und insofern Entscheidungsspielräume der Kommission notwendig impliziert. Damit ist eine faktische Übereinstimmung mit dem französischen Recht festzustellen, die neben der Eigenart der Regelungsgegenstände auch darin begründet liegt, daß die überwiegende Zahl der Richter des Gerichtshofs in hohem Maße von der französischen Verwaltungsrechtstradition geprägt ist.

Ergebnisse der Untersuchung

307

2. Soweit gebundene Entscheidungen vorliegen, findet eine umfassende Nachprüfung der von der Kommission vorgenommenen Tatsachenwürdigungen statt. 3. Ermessensspielräume der Verwaltung werden vom Gerichtshof zunächst auf das Vorliegen reiner Rechtsfragen hin untersucht. Weiterhin kontrolliert dieser die Einhaltung der für die Entscheidung maßgeblichen Beurteilungskriterien. Dies erfolgt in der Weise, daß der Gerichtshof entweder die maßgeblichen Kriterien vorgibt und deren Beachtung durch die Kommission überprüft oder aber die verwendeten Kriterien auf ihre Zulässigkeil und Richtigkeit überprüft. 4. Die eigentliche Bewertung der komplexen ökonomischen Situation wird zunächst auf das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs hin untersucht. Dieser entspricht in seiner grundsätzlichen inhaltlichen Ausgestaltung dem "detournement de pouvoir" des recours pour exces de pouvoir. Allerdings zeigen sich in der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs Objektivierungstendenzen, die auf eine Annäherung an den Begriff des Ermessensfehlgebrauchs wegen sachfremder Erwägungen im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts hindeuten. Insgesamt ist die praktische Bedeutung dieses Kontrollparameters aber gering. 5. Von wesentlich größerer Relevanz ist die Kontrolle des Vorliegens eines offensichtlichen Fehlers bei der Tatsachenwürdigung. Der Begriff des "offensichtlichen Fehlers" entspricht dem der "erreur manifeste" des recours pour exces de pouvoir; ebenso wie diese findet er dann Anwendung, wenn die Kontrolle der Tatsachenwürdigung dem Gericht grundsätzlich entzogen ist. Ein offensichtlicher Fehler in diesem Sinne liegt dann vor, wenn die getroffene Entscheidung die ihr gesetzten Ermessensgrenzen so eindeutig überschreitet, daß diese sich auch ohne gesteigerten Sachverstand als willkürlich darstellt. Die Offensichtlichkeitsprüfung wird dabei vom Gerichtshof in der Weise vorgenommen, daß er die Argumentation der Kommission einer Schlüssigkeitskontrolle unterzieht und untersucht, ob diese eine Entscheidung der vorliegenden Art treffen durfte. Bezugspunkte für diese Prüfung sind neben den konkreten Normvorgaben auch die allgemeinen Vertragsziele. Auch die Einhaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze wird in diesem Zusammenhang stets kontrolliert. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem der Verhält-

308

Ergebnisse der Untersuchung

nismäßigkeitsgrundsatz, der im Gegensatz zum französischen Verwaltungsrecht immer geprüft wird und durch seine Anwendung auch bei Eingriffen in bloße Interessen der Marktbürger auch einen weiteren Anwendungsbereich als im deutschen Recht hat. Die hierbei vorgenommene Prüfung der Angemessenheil einer Maßnahme im Hinblick auf die Beeinträchtigung individueller Rechtspositionen trägt in hohem Maße zur Gewährung des vom Gerichtshof postulierten umfassenden und effektiven Rechtsschutz bei und stellt ein wirksames Einzelfallkorrektiv dar. Von Bedeutung sind weiterhin der Vertrauensschutzgedanke und der Gleichbehandlungsgrundsatz, wobei allerdings eine dem deutschen Recht vergleichbare Selbstbindung der Verwaltung dem Gemeinschaftsrecht fremd ist. 6. Ebenso wie im deutschen Recht wird auch im Gemeinschaftsrecht die eingeschränkte materielle Kontrolle dadurch kompensiert, daß gesteigerter Wert auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften gelegt wird. Dabei mißt der Gerichtshof sowohl den konkreten verfahrensrechtlichen Vorgaben der jeweiligen Befugnisnorm als auch den allgemeinen Verfahrensanforderungen und insbesondere der Begründungspflicht eine besondere Bedeutung zu. 7. Weiterhin ist die besondere Bedeutung der allgemeinen Vertragsziele zu betonen. Diese werden nicht nur als Bezugspunkt für das Vorliegen offensichtlicher Fehler herangezogen, sondern spielen auch eine wesentlichen Rolle bei der Feststellung der Maßgeblichkeil von Beurteilungskriterien sowie als Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Auch für die Frage des grundsätzlichen Bestehens von Ermessensspielräumen sind sie von Bedeutung. 8. Bei der Durchführung der gerichtlichen Verwaltungskontrolle wird dem Gerichtshof kein Entscheidungsspielraum im Sinne eines "gerichtlichen Ermessens" eingeräumt. Vielmehr unterliegt er den strengen Bindungen der Legalitätskontrolle. 9. Insgesamt kann daher im Bezug auf die Kontrolle der Tatsachenwürdigung festgestellt werden, daß der Gerichtshof eine im Vergleich zum deutschen Recht höhere Bereitschaft zur Übertragung von Letztentscheidungskompetenzen auf die Kommission erkennen läßt.

Ergebni55e der Untersuchung

309

Auch der Gerichtshof geht aber vom Grundsatz der umfassenden Verwaltungskontrolle aus und betont die grundsätzliche Verpflichtung zur Gewährung umfassenden und effektiven Rechtsschutzes gerade dort, wo Individualinteressen betroffen sind. Auch die angesichts bestehender Entscheidungsspielräume vorgenommene Kontrolle entspricht weitgehend der Vorgehensweise deutscher Verwaltungsgerichte im Bereich von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der Verwaltung. In beiden Rechtsordnungen wird die Entscheidung in materieller Hinsicht einer Willkürprüfung unterzogen; die hierbei bestehenden KontrolldefiZite werden durch erhöhte Anforderungen an Form- und Verfahrenserfordernisse zumindest teilweise kompensiert. Insofern trägt der Gerichtshof dem Erfordernis der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in hinreichendem Maße Rechnung und garantiert einen Rechtsschutzstandard, der den grundlegenden Vorgaben des Art. 19 IV GG entspricht.

Literaturverzeichnis Achlerberg, Norbert: Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aun., Heidelberg 1986 Adam, Winfried Anselm: Die Kontrolldichte - Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte, Baden-Baden 1993 Alay, Robert: Ermessensfehler, in: JZ 1986, S. 701 ff.

Amull, Anthony: The General Principles of EEC Law and the Individual, London, Leicester 1990 Asso, Bernard: Le contröle de l'opportunite de Ia decision economique devant Ia Cour europeenne de justice, in: RTDE 1976/1, S. 21 ff., RTDE 1976/2, S. 2 ff. Auby, Jean Marie: L'